Anton Pelinka: Demokratie: Österreich 1900 – Österreich · PDF fileschen...

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    Anton Pelinka

    Demokratie: sterreich 1900 sterreich 2000

    Das sterreich des Jahres 1900 war keine Demokratie. sterreich um 1900 also die cisleithanische Reichshlfte sterreich-Ungarns war ein politischesSystem mit bestimmten demokratischen Bausteinen. Diese mischten sich mitden vordemokratischen Strukturelementen, die den Beginn des Verfassungs-staates das Jahr 1867 berdauert hatten. Dieses Mischverhltnis ndertenichts Entscheidendes am autokratischen, jedenfalls vor- bzw. halb-demokratischen Charakter Habsburg-sterreichs.

    Die demokratischen Elemente sterreichs wurden in der Ersten Republikweiterentwickelt ein Proze, der 1933/34 rckgngig gemacht wurde. Derautoritre Stndestaat und das totalitre Regime des Nationalsozialismus unter-brachen den Entwicklungsproze sterreichischer Demokratie.

    Die Zweite Republik war zunchst durch eine auf den demokratischen Struk-turen der Ersten aufbauende spezifische Demokratiequalitt bestimmt. DieseQualitt einer ausgeprgten Konkordanzdemokratie begann in den letzten Jahr-zehnten des Jahrhunderts viele ihrer spezifischen Eigenheiten einzuben imSinne einer Annherung an die Durchschnittsmerkmale westeuropischer De-mokratien.

    Im Jahre 2000 ist sterreich eine Demokratie. Das politische System derRepublik sterreich entspricht grundstzlich den Kriterien, die den liberalen(westlichen) Systemen die Qualitt einer Demokratie garantieren: die Verbin-dung von offenem politischen Wettbewerb und individuellen Grundfreiheiten.Allerdings sind in diese Demokratie zahlreiche Komponenten miteingeschlossen,die als vor-, un- oder nichtdemokratisch zu charakterisieren sind.

    Die Entwicklung der Demokratie in sterreich ist im 20. Jahrhundert durchdie Transformation einer hchst unfertigen zu einer normalen Demokratiegekennzeichnet, wobei dieser Wandel ganz wesentlich durch die tiefen Brchebestimmt war, fr die die Jahre 1918/20, 1933/34, 1938 und 1945 stehen. De-mokratie in sterreich war und ist gerade in den Perioden der Wende zum undder Wende vom 20. Jahrhundert nicht durch ein Entweder Oder zu charak-terisieren, sondern durch ein Mehr oder Weniger, wobei ganz eindeutig 1900weniger und 2000 mehr Demokratie zu verzeichnen sind.

    Um diesen Wandel zu verdeutlichen, soll Demokratie anhand bestimmterKriterien gemessen werden: Inklusivitt: Wie gro ist der Anteil der Menschen, die grundstzlich am

    politischen Proze beteiligt waren (sind), an der Gesamtbevlkerung? Reprsentativitt: In welchem Mae wurde (wird) Regieren von demokrati-

    schen Bestellungsvorgngen beeinflut?

    Onlinequelle: Demokratiezentrum Wien - www.demokratiezentrum.orgPrintquelle: Grtner, Reinhold (Hg.): Blitzlichter, Innsbruck/Wien 1999, S. 9-25

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    Dimensionalitt: Wie erfate (erfat) Demokratie gesellschaftliche Berei-che jeneseits des Staates, also des politischen Systems im engeren Sinn?

    Komparativitt: Wieweit entsprach (entspricht) der Zustand der sterreichi-schen Demokratie der Demokratieentwicklung anderer europischer Staa-ten?

    1900: Demokratie als Stckwerk

    Das politische System der sterreichischen Reichshlfte baute auf der Grundla-ge des Staatsgrundgesetzes von 1867. Diese Verfassung sah ein Parlament vor,fr das bis 1907 ein beschrnktes, also nicht gleiches (wenn auch ab 1896 allge-meines) Mnnerwahlrecht vorgesehen war. Dieses Kurienwahlrecht, das dasStimmgewicht an die Steuerleistung (also den Wohlstand) der Mnner band,machte 1907 dem allgemeinen und gleichen Mnnerwahlrecht Platz. Damit wardie Koppelung politischer Rechte an konomische Kriterien aufgehoben.

    Nicht aufgehoben war der Ausschlu von Frauen. Das Abgeordnetenhausdes sterreichischen Reichtsrates war ein Parlament, in dem ausschlielichMnner ausschlielich mnnliche Whler vertraten. Frauen blieb der Zugangzu politischen Positionen verwehrt.

    Nicht aufgehoben war auch die unterschiedliche Gewichtung der einzelnenNationalitten. Die Wahlkreiseinteilung, die fr die Reichsratswahlen 1907 und1911 galt, benachteiligte bestimmte Nationalitten am strksten die Ruthenen.Durch diese nach den Kriterien eines Ethno-Nationalismus selektive Gewich-tung politischer Inklusion sollte faktisch die politische Dominanz der Deut-schen abgesichert werden (Kann; Mommsen).

    Diese indirekte Bercksichtigung eines ethno-nationalistischen Faktors be-grndete eine sterreichische Besonderheit: Dadurch ist die Konstitutierung einesLagers und einer Parteientradition zu erklren, die sich aus der Verteidigungethno-nationalistischer Prrogative entwickelten; dadurch lt sich auch diegebrochene und versptete Identittsbildung verstndlich machen, die ster-reich bis 1918 nur als bernationale und ab 1918 zunchst nur als Bindestrich-Kategorie, als Deutsch-sterreich akzeptierte.

    Nochmals gebrochen wurde die in der spezifisch ethno-nationalen Exklusi-vitt zum Ausdruck kommende Haltung im sterreichischen Antisemitismus,der um 1900 bereits voll ausgeprgt war. Der skularisierte, auf den Biologismusdes Vulgrdarwinismus gekommene Antisemitismus des deutschnationalenLagers stand mit dem traditionell religis argumentierenden, in der Praxis aberebenfalls biologisierenden Antisemitismus des christlich-konservativen Lagersin Konkurrenz (Pulzer; Pauley 1992).

    Unbeschadet davon, ob sie auf der Grundlage ihrer Sprache als Deut-sche oder Tschechen oder Polen oder Ungarn galten, waren Juden de facto vonzwei der drei politisch-weltanschaulichen Lagern ausgeschlossen, und zwar zu-nehmend nicht auf der Grundlage ihrer politischen oder religisen berzeu-gung, sondern auf der Grundlage ihrer Abstammung. Diese nicht formal, son-

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    dern sozial begrndete Exklusion von Juden und Judentum sollte die Realittder sterreichischen Demokratie das ganze Jahrhundert hindurch beeinflussen.

    Die Defizite der Inklusivitt fanden um 1900 eine Entsprechung in den De-fiziten der Reprsentativitt. Das von Mnnern gewhlte Abgeordnetenhaus,bei dessen Wahl deutsche gegenber nicht-deutschen Whlern gnstigere Vor-aussetzungen hatten, besa keine direkte Mglichkeit, die Regierung zu beein-flussen. Die sterreichische Regierung, an deren Spitze der Ministerprsident,wurde vom Kaiser ernannt und war nur diesem politisch verantwortlich. DemAbgeordnetenhaus gegenber war die Regierung nur rechtlich verantwort-lich eine parlamentarische Bindung, die (etwa dem US-amerikanischenimpeachment entsprechend) nur im Extremfall kriminellen Verhaltens der Re-gierung zum Tragen kommen konnte und in der Realverfassung der Monarchiekeine Bedeutung hatte.

    Die Gestaltungskraft des Abgeordnetenhauses war auch dadurch wesent-lich eingeschrnkt, da der Kaiser und seine Regierung ein extensives Not-verordnungsrecht besaen und auch nutzten. Dadurch war die Gesetzgebungs-kompetenz des Parlaments entscheidend beschnitten: Erhielten Kaiser und Re-gierung vom Reichsrat nicht die Gesetze, die sie verlangten, so wurden Notver-ordnungen erlassen.

    Da Kaiser und Regierung auch die Freiheit besaen, das Abgeordneten-haus gar nicht einzuberufen und so jede parlamentarische Ttigkeit von vorn-herein zu unterbinden, unterstreicht nur das geringe Ma an Reprsentativittdes Regierens: Die Monarchie hatte zwar, als Resultat ihrer innen- und auen-politischen Schwchungen (1859, 1866), eine Verfassung und auch ein Parla-ment zugestehen mssen. Doch die Mglichkeiten dieses demokratisch bestell-ten Parlaments, das Regieren zu beeinflussen, waren ganz wesentlich beschrnkt.

    Ein weiterer Aspekt mangelnder Reprsentativitt war von Bedeutung: Diegemeinsamen Kompetenzen der beiden Reichshlften waren von der parlamenta-rischen Kontrolle, die der Reichsrat gegenber der sterreichischen Regierungauszuben in der Lage war, vollstndig frei. Die Auen-, Finanz- und Verteidi-gungspolitik sterreich-Ungarns wurde von Ministern gestaltet, denen berhauptkein Parlament und sei es mit noch so geringen Kontrollrechten gegenberge-standen wre. Die Regierung sterreich-Ungarns war nur durch das von beidenReichshlften gestaltete Budget in einer hchst indirekten Form mit den beidenParlamenten (dem sterreichischen und dem ungarischen) verbunden.

    Dadurch ist auch das auffallende Merkmal erklrbar, da sterreich-Un-garn 1914 Serbien den Krieg erklrte, ohne da ein demokratisch bestelltesOrgan in irgendeiner Weise daran beteiligt gewesen wre. Der Kaiser und K-nig, im Zusammenspiel mit den von ihm ernannten k.u.k. Ministern, handelteohne jede Mitsprachemglichkeit eines parlamentarischen Gremiums.

    Der formal und real nur ansatzweise demokratischen Verfassung sterreichsstand ein breites Feld an zivilgesellschaftlicher Demokratie gegenber. DerParlamentarismus war versptet und schwach aber das Parteiensystem wardicht organisiert und in vielen Sektoren der Gesellschaft prsent. In den letzten20 Jahren des 19. Jahrhunderts hatten sich moderne Parteien entwickelt, die das

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    Resultat bestimmter Konfliktlinien (cleavages) waren, und die nicht nur eineRekrutierungsfunktion fr das politische System erfllten. Diese gesamt-gesellschaftlich orientierten Lager, die eine starke ideologische Komponenteaufwiesen, spiegelten die politisch wirksamsten Widersprche der sterreichi-schen Gesellschaft des fin de sicle (Johnston; Schorske; Boyer):

    den Gegensatz zwischen dem Brgertum, das sich auf Resultate der (kapita-listischen) Wirtschaftsentwicklung sttzte, und einem Proletariat, das eben-falls in Folge der konomischen Entwicklung immer mehr quantitativ anGewicht zunahm und sich als Arbeiterbewegung formierte;

    den Gegensatz zwischen Skularisierung und den traditionellen Ansprchender Katholischen Kirche, die sich durch liberale und sozialistische Tenden-zen herausgefordert fhlte und mit einer neuen Form des Politischen Ka-tholizismus antwortete, der sich auf eine Massenbasis sttzen konnte;

    den Gegensatz zwischen den Nationalitten, der im Gebiet der spteren Re-publik sterreich (und bestimmten Regionen Bhmens und Mhrens) ei-nen Deutschnationalismus h