APuZ - Bundeszentrale für politische BildungAPuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 47/2009 · 16....

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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 47/2009 · 16. November 2009 Soziale Gerechtigkeit Stefan Liebig · Meike May Dimensionen sozialer Gerechtigkeit Frank Nullmeier Soziale Gerechtigkeit – ein politischer „Kampfbegriff“? Wolfgang Glatzer Gefühlte (Un)Gerechtigkeit Jürgen Gerhards · Holger Lengfeld Europäisierung von Gerechtigkeit aus Sicht der Bürger Mike S. Schäfer · Andreas Schmidt · Teresa Zeckau Transnationale soziale Ungleichheit in den Medien Max Fuchs Sozialer Zusammenhalt und kulturelle Bildung Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

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APuZAus Politik und Zeitgeschichte

47/2009 · 16. November 2009

Soziale Gerechtigkeit

Stefan Liebig · Meike MayDimensionen sozialer Gerechtigkeit

Frank NullmeierSoziale Gerechtigkeit – ein politischer „Kampfbegriff“?

Wolfgang GlatzerGefühlte (Un)Gerechtigkeit

Jürgen Gerhards · Holger LengfeldEuropäisierung von Gerechtigkeit aus Sicht der Bürger

Mike S. Schäfer · Andreas Schmidt · Teresa ZeckauTransnationale soziale Ungleichheit in den Medien

Max FuchsSozialer Zusammenhalt und kulturelle Bildung

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

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EditorialJede neue Regierung tritt mit dem Versprechen an, für mehr

„soziale Gerechtigkeit“ zu sorgen. Auch wenn der Begriff im Ko-alitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP explizit gar nichtvorkommt – die Rede ist von „Generationen-“ „Leistungs-“ und„Beitragsgerechtigkeit“ –, so schwingt er doch an vielen Stellen„zwischen den Zeilen“ mit. Die angekündigten steuerlichen Ent-lastungen etwa versprechen den Bürgerinnen und Bürgern aufden ersten Blick viel, doch sind sie deswegen auch „sozial ge-recht“?

Gerechtigkeit ist keine objektive, messbare Größe. Was ge-recht ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters bzw. anden Maßstäben, die er oder sie anlegt. Ist also die erbrachte Leis-tung die entscheidende Kategorie oder der Bedarf? Selbst hieraufwerden Viele antworten: „Je nachdem“. Tatsächlich ist es nichtungewöhnlich, dass für verschiedene Bereiche unterschiedliche,mitunter sogar widersprüchliche Gerechtigkeitsprinzipien zu-grunde gelegt werden. So haben auch die politischen Parteien di-vergierende Konzepte von sozialer Gerechtigkeit und führenden Terminus zuweilen als „Kampfbegriff“ ins Feld. Es ist kaummöglich, mit einer derart aufgeladenen Vokabel Politik sachlichzu bewerten.

Unabhängig vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden sindwachsende Ungleichheiten in der Gesellschaft empirisch und ob-jektiv nachweisbar – der Abstand zwischen Arm und Reich wirdin Deutschland immer größer. Dies ist nicht automatisch mit„mehr Ungerechtigkeit“ gleichzusetzen – doch für den sozialenFrieden ist es von großer Bedeutung, wie die Bevölkerung so-ziale Ungleichheiten wahrnimmt. Vor dem Hintergrund der fort-schreitenden Integration der EU ist dies ein Thema, das auch aufeuropäischer Ebene eine größere Rolle spielen und die Sozialpo-litik der einzelnen Staaten zunehmend beeinflussen wird.

Johannes Piepenbrink

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Stefan Liebig · Meike May

Dimensionensozialer

Gerechtigkeit

In den vergangenen Jahren ist in Deutsch-land ein deutlicher Anstieg der Einkom-

mens- und Vermögensungleichheiten zu ver-zeichnen. Einerseitsmüssen die unterenzehn Prozent derEinkommensbezieherstagnierende oder garrückläufige Reallöhnehinnehmen und eswächst der Anteilderer, die trotz Er-werbstätigkeit nichtin der Lage sind,ihren Lebensunterhaltselbst zu decken. 1

Andererseits verdie-nen die oberen zehnProzent der Einkom-mensbezieher zuneh-mend besser und ver-

fügen mittlerweile über fast zwei Drittel desGesamtvermögens. Für Viele spiegelt sich indieser Entwicklung nicht nur eine „sozialeSchieflage“ wider, sondern sehen in ihr einenAusdruck zunehmender sozialer Ungerech-tigkeiten: Ungleichheiten im Steuersystem,ungleiche Bildungschancen, Ungleichheitenin der medizinischen Versorgung etc. Handeltes sich in all diesen Fällen tatsächlich um Bei-spiele sozialer Ungerechtigkeit?

Nicht notwendigerweise! Denn es gibtzum einen unterschiedliche Vorstellungendarüber, was als gerecht oder ungerecht zubezeichnen ist. So sind hohe Einkommens-ungleichheiten nur dann ungerecht, wennman soziale Gerechtigkeit als Ergebnisgleich-heit versteht, also jeder das Gleiche bekom-men sollte. Einkommensungleichheiten kön-nen aber auch sozial gerecht sein, wenn mander Ansicht ist, dass die Einkommensvertei-lung in einer Gesellschaft die individuelleLeistungsfähigkeit widerspiegeln sollte. In

beiden Fällen beruft man sich auf Gerechtig-keit, kommt aber jeweils zu einem anderenUrteil.

Zum anderen kann der Standpunkt ver-treten werden, dass bestimmte Ungleich-heiten überhaupt nicht Gegenstand vonGerechtigkeitserwägungen sein können.Dies gilt etwa für die Verteilung von Ein-kommen und Vermögen in einer Markt-wirtschaft. Da hier Preise das Ergebnisvon Markttransaktionen sind, die sich je-weils aus den Bedingungen von Angebotund Nachfrage ergeben, werden sie wederdurch eine zentrale Instanz festgelegt nochkann man Ansprüche auf ein bestimmtesPreisniveau geltend machen. Beides, dieMöglichkeit Verantwortung zuschreibenund Ansprüche geltend machen zu kön-nen, sind jedoch Voraussetzungen für eineAnwendung des Maßstabs der Gerechtig-keit. Wenn dies nicht möglich ist, könnendie resultierenden Verteilungen weder ge-recht noch ungerecht sein, es ist dann al-lenfalls Unglück, wenn man auf denMärkten nicht die erhofften Gewinne er-zielt.

Ungleichheiten sind somit nicht per se un-gerecht und auch nicht immer im Namen dersozialen Gerechtigkeit zu korrigieren. Werherausfinden will, wann etwas gerecht oderungerecht ist, kann grundsätzlich zwei Wegegehen: einen normativen und einen empiri-schen. Wählt man den normativen Weg, sosucht man Antworten darauf, was wir tunsollen, was die Gerechtigkeit fordert und wasvon einem moralischen Standpunkt aus ge-recht oder ungerecht ist. Dies ist Gegenstandder Philosophie und der politischen Theorie.Wählt man hingegen den empirischen Weg,will man wissen, was tatsächlich in einer Ge-sellschaft als gerecht oder ungerecht gilt,warum Menschen bestimmte Gerechtigkeits-vorstellungen haben und was daraus in ihremVerhalten folgt. Dies ist Gegenstand der em-pirischen Gerechtigkeitsforschung.

Dieser Beitrag stellt aus Sicht der empiri-schen Gerechtigkeitsforschung dar, welcheVorstellungen sich mit dem Begriff der sozia-len Gerechtigkeit verbinden. Dazu werden ei-

Stefan LiebigDr. rer. soc., geb. 1962; Profes-

sor für Soziale Ungleichheit undSozialstrukturanalyse an

der Fakultät für Soziologie derUniversität Bielefeld, Postfach

100131, 33501 [email protected]

Meike MayM. A., geb. 1979; wissen-

schaftliche Mitarbeiterin ander Fakultät für Soziologie der

Universität Bielefeld (s. o.)[email protected]

1 Vgl. Olaf Groh-Samberg, Armut in Deutschlandverfestigt sich, in: DIW Wochenbericht, (2007) 12,S. 177–182.

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nige zentrale begriffliche Unterscheidungenund empirische Befunde vorgestellt. Ab-schließend wird auf mögliche gesellschaftli-che Ursachen für einen Wandel des Verständ-nisses sozialer Gerechtigkeit hingewiesen.

Die Grundidee

Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zie-len immer auf die Frage, wie Rechte, Positio-nen, materielle und immaterielle Güter ineiner Gesellschaft verteilt werden sollen.Ausgangspunkt sind Konflikte darüber, werwas und wie viel erhalten soll. Da in einerGesellschaft nicht nur Güter, sondern auchLasten verteilt werden müssen, gibt es immerauch Konflikte darum, wer in welchem Aus-maß Einschränkungen in Kauf nehmen muss.Die formale Forderung der Gerechtigkeitzielt darauf ab, diese Konflikte durch eine un-parteiische Anwendung allgemeiner Regelnzu lösen, so dass niemand benachteiligt wird.Dies gilt insbesondere in einem demokratischverfassten Gemeinwesen, das allen Bürgerin-nen und Bürgern die gleichen Rechte zubil-ligt. Der Staat trifft über die Gesetzgebungund über die Gestaltung gesellschaftlicher In-stitutionen Verteilungsentscheidungen undübt so Herrschaft aus. Diese Herrschaftsaus-übung muss in ihren einzelnen Entscheidun-gen begründet und in Einklang mit den indi-viduellen Freiheitsrechten sein. Empirischzeigt sich, dass Ungleichheiten erst dann alsungerecht wahrgenommen und benannt wer-den, wenn die Verteilung durch ein absichts-volles Handeln oder Unterlassen herbeige-führt wurde und die verantwortlichen Akteu-re keine ausreichende Rechtfertigung für dieVerletzung legitim angesehener Anrechte vor-legen können. 2

Wenn mit der sozialen Gerechtigkeit nor-mative Erwartungen an die gesellschaftlicheVerteilung von Gütern und Lasten formuliertwerden, so ist dies historisch gesehen ein ver-gleichsweise junges Phänomen. Denn erst inder zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirdsoziale Gerechtigkeit zu einer in den politi-schen Auseinandersetzungen gebrauchten

programmatischen Forderung. Dies ist un-mittelbar verknüpft mit dem Ausbau dereuropäischen Wohlfahrtsstaaten nach demZweiten Weltkrieg. Der Wohlfahrtsstaatübernimmt fürsorgende Aufgaben, die vorherder Familie zufielen (z. B. Versorgung imKrankheitsfall oder im Alter) und es wirdvon ihm erwartet, bei einem Versagen derMärkte – insbesondere des Arbeitsmarktes –kompensierend einzugreifen. Er übernimmtfür seine Mitglieder eine „Ausfallbürgschaft“,das heißt, er gewährt bei unverschuldetenNotlagen wie Krankheit oder Erwerbsunfä-higkeit eine Absicherung. Zugleich wird dieGesellschaft als ein Kooperationszusammen-hang verstanden und ihren Mitgliedern einAnrecht auf die Früchte dieser Zusammenar-beit zugestanden, was zugleich an die Erwar-tung gekoppelt ist, entsprechende Beiträgezur allgemeinen Wohlfahrt zu leisten.

Eine zentrale Funktion kommt dabei derIdee der sozialen Gerechtigkeit zu. Sie besagt,dass es bei der Verteilung von Gütern undLasten zu keiner systematischen Bevorzu-gung oder Benachteiligung einzelner Grup-pen kommen soll (Unparteilichkeit), die be-stehenden Verteilungsregeln für alle gleichangewandt werden sollen (Gleichheitsgrund-satz) und der Einzelne als legitim angeseheneAnrechte geltend machen kann. Während inden 1960er und 1970er Jahren soziale Gerech-tigkeit primär mit der (Um-)Verteilung vonEinkommen und Vermögen gleichgesetztwurde, wird das ihr zugrunde liegende Ver-teilungsproblem mittlerweile breiter verortet.Es geht nun um eine gerechte Verteilung vonChancen, also den Möglichkeiten, seine eige-nen Lebenspläne zu verwirklichen. Dies um-fasst nicht nur die materielle Absicherungoder einen Anteil am gesellschaftlichenWohlstand, sondern vor allem auch den Zu-gang zu Bildung, Kultur und die Ermögli-chung politischer Teilnahme.

Gerechtigkeitskonzeptionen in dengesellschaftlichen Institutionen

In modernen Gesellschaften werden indivi-duelle Lebenschancen, Güter und Lasten zueinem großen Teil in und über gesellschaftli-che Institutionen verteilt. Maßgeblich sinddabei die sozialen Sicherungssysteme, dieRechtsprechung und das Erwerbssystem, undvor allem das Bildungssystem und das Ge-

2 Vgl. Gerold Mikula, Gerecht und ungerecht: EineSkizze der sozialpsychologischen Gerechtigkeits-forschung, in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Ri-chard Sturm (Hrsg.), Normative und institutionelleGrundfragen der Ökonomik. Jahrbuch 1, Marburg2002, S. 257–278.

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sundheitswesen. Sowohl die bloße Existenzeinzelner Institutionen und der Grad ihrerRegulierung (z. B. die Rentenversicherung,das dreigliedrige Bildungssystem oder der Ar-beitsmarkt) als auch die in ihnen wirksamenVerteilungsmodi (z. B. wer kann welchewohlfahrtsstaatlichen Leistungen beanspru-chen und wer muss welche Beiträge zahlen)sind Ausdruck bestimmter Gerechtigkeits-vorstellungen. 3 Die inhaltlichen Auffassun-gen darüber, was als „sozial gerecht“ gilt, las-sen sich in der Rechtsprechung und denGrundstrukturen der gesellschaftlichen Insti-tutionen ablesen. Mindestens vier Prinzipienkönnen benannt werden: 4

Gleichheitsprinzip: Es fordert, jedem gleicheRechte oder den gleichen Anteil an Güternund Lasten zuzuweisen. Abgeleitet davon istdas Prinzip der Chancengerechtigkeit, das for-dert, jedem – unabhängig von Herkunft undnicht selbst verantworteten Einschränkungen– möglichst gleiche Chancen beim Zugang zuGütern oder Positionen zu gewähren.

Leistungsprinzip: Es verlangt die Belohnungindividueller Anstrengungen und Leistungen,durchaus mit dem „Nebengedanken“ Leis-tungsanreize zu schaffen.

Anrechtsprinzip: Insbesondere die bundes-deutschen sozialen Sicherungssysteme folgendem Prinzip der zugeschriebenen oder erwor-benen Anrechte. Hier sind es nicht aktuell er-brachte Leistungen, sondern an Status- undPositionsmerkmale gekoppelte Anrechte, diein der Vergangenheit erworben wurden oderaufgrund der Tradition und den darin wirksa-men Normen zugeschrieben werden.

Bedarfsprinzip: Das Ziel ist die Sicherungeiner minimalen oder „angemessenen“ De-ckung von Grundbedürfnissen.

Die Institutionen einer Gesellschaft sind his-torisch gewachsene Ordnungen und die inihnen eingelassenen Gerechtigkeitskonzep-tionen beeinflussen die in der Bevölkerungbestehenden Vorstellungen von Gerechtig-

keit. Zugleich sind die institutionellen Ord-nungen Ergebnis politischer Entscheidungs-prozesse – die zu den jeweiligen Zeitpunktenvon den Akteuren als geboten oder mehr-heitsfähig angesehenen Gerechtigkeitskon-zeptionen fließen in die Gestaltung der Insti-tutionen ein. Es kann somit im Zeitverlauf zu„Ungleichzeitigkeiten“ kommen, nämlichdann, wenn die in den Institutionen veranker-ten Gerechtigkeitskonzeptionen ihre Mehr-heitsfähigkeit verloren haben. Dementspre-chend ist es notwendig, bei der Frage, was alssozial gerecht gilt, auch die in einer Gesell-schaft aktuell vertretenen Gerechtigkeitsvor-stellungen zu berücksichtigen.

IndividuelleGerechtigkeitsvorstellungen

Die empirische Gerechtigkeitsforschungzeigt, dass Gerechtigkeit nicht nur daran be-messen wird, wie Güter und Lasten tatsäch-lich verteilt sind. Wichtig ist auch, wie dieeinzelnen Verteilungsergebnisse zustandekommen und wie jeder Einzelne von dengesellschaftlichen Institutionen behandeltwird.

Deshalb sind es vier Aspekte, die entschei-dend sind: Zunächst sind dies die Tauschge-rechtigkeit (kommutative Gerechtigkeit), beider der Ausgleich erbrachter Leistungen imZentrum steht, sowie die Verteilungsgerech-tigkeit (distributive Gerechtigkeit), bei der esum die Verteilung der Anteile an etwas Ge-meinsamem geht. Neben diesen beiden„klassischen“ Formen der Gerechtigkeit wei-sen die empirischen Befunde auf zwei weite-re hin: die Verfahrensgerechtigkeit (prozedu-rale Gerechtigkeit), bei der es um die Ein-haltung von Fairnessregeln im Rahmen vonEntscheidungsprozessen geht und die inter-personale bzw. Interaktionsgerechtigkeit, beider die Frage im Mittelpunkt steht, ob diebeteiligten Personen sich gegenseitig fair be-handeln. Die Regeln der Verfahrens- und In-teraktionsgerechtigkeit – Gleichbehandlung,Mitsprachemöglichkeit oder Transparenz derEntscheidungsprozesse – sind allgemein, alsoauch über kulturelle Grenzen hinweg aner-kannt, und ihrer Einhaltung wird hohe Prio-rität zugemessen. Denn unvorteilhafte Ver-teilungsergebnisse werden eher akzeptiert,wenn sie aus gerechten Entscheidungsverfah-ren resultieren.

3 Vgl. Frank Nullmeier/Georg Vobruba, Ge-rechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs, in: DietherDöring/Frank Nullmeier/Roswitha Pioch/Georg Vo-bruba (Hrsg.), Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Mar-burg 1995, S. 11–66.4 Vgl. Irene Becker/Robert Hauser, Soziale Ge-rechtigkeit – eine Standortbestimmung, Berlin 2004.

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Wenn es um die konkreten Regeln geht,wie Güter oder Lasten verteilt werden sollen,so greifen Individuen auf die bereits genann-ten Gerechtigkeitsprinzipien zurück (Gleich-heits-, Leistungs-, Anrechts- und Bedarfs-prinzip). Bei der Anwendung dieser Prinzi-pien ergibt sich jedoch ein spezifischerKlärungsbedarf. Beim Gleichheitsprinzip giltes zwischen Ergebnis- und Chancengleichheitzu unterscheiden. In westlichen Gesellschaf-ten besteht ein Konsens darüber, dass indivi-duelle Freiheitsrechte und vor allem auch Zu-gangschancen zu Gütern und Positionengleich verteilt sein sollten. Beim Bedarfsprin-zip ist zu klären, was als legitimes Bedarfsni-veau angesehen wird und welche Vorausset-zungen jemand erfüllen muss, um eine ent-sprechende Unterstützung zu erhalten. Dieindividuelle Verantwortlichkeit spielt hiereine zentrale Rolle. Sind Personen selbst füreine Notlage verantwortlich, so gibt es dieTendenz, bedarfsabsichernde Hilfen abzuleh-nen. Beim Leistungsprinzip besteht das klas-sische Problem in der Bestimmung der indivi-duellen Leistung. Schließlich gilt es beim An-rechtsprinzip die Kriterien festzulegen,welche Belohnungs- oder Bestrafungsniveausmit den jeweiligen Statuspositionen oder-merkmalen verbunden sind.

Ein wichtiger Befund ist, dass diese Prinzi-pien in Abhängigkeit zu den institutionellenbzw. individuellen Zielen sowie der Art dersozialen Beziehungen angewandt werden.Die institutionelle Zielbezogenheit wirddaran sichtbar, dass in den funktionalen Teil-bereichen der Gesellschaft – Ökonomie, Poli-tik, Gesundheitssystem, Sport – jeweils auchspezifische Gerechtigkeitsprinzipien bevor-zugt werden. Nur selten sprechen sich dieMenschen für die Anwendung eines Gerech-tigkeitsprinzips für alle gesellschaftlichenTeilbereiche aus. Stattdessen sollen solche Re-geln gelten, die mit den Zielen der Gesell-schaftsbereiche kompatibel sind: In der Öko-nomie das Leistungsprinzip, im Gesundheits-wesen das Bedarfsprinzip und in der Familiedas Gleichheits- und das Bedarfsprinzip.

Zugleich spielen die individuellen Zieleeine wichtige Rolle. Je nachdem, welche Zieleeine Person in einer Situation verfolgt, präfe-riert sie sehr unterschiedliche Gerechtigkeits-prinzipien. Erklärt wird dies erstens mit Ver-weis auf die rationalen Verteilungsinteressen,das heißt, es werden die Gerechtigkeitsprinzi-

pien vorgezogen, von denen man aufgrundder eigenen Situation am meisten profitiert(Menschen mit hohem Einkommen sind des-halb bei der Verteilung von Einkommen undVermögen eher für die Geltung des Lei-stungsprinzips, und diejenigen mit geringe-rem Einkommen sprechen sich für das Be-darfs- oder Gleichheitsprinzip aus). Zweitensorientieren sich die Menschen an den über diejeweiligen Sozialisationsprozesse vermitteltenVorstellungen über Gerechtigkeit, wie sie inden gesellschaftlichen Institutionen verankertsind oder in sozialen Normen sichtbar wer-den. Dementsprechend finden sich nationaleUnterschiede, wenn etwa in den USA demBedarfs- und Gleichheitsprinzip bei der Ein-kommensverteilung eine deutlich geringereBedeutung zugesprochen wird als inDeutschland. 5

Die Ergebnisse zum Zusammenhang zwi-schen der Art der sozialen Beziehung undden einzelnen Gerechtigkeitsprinzipien zei-gen, dass in engen, langfristigen Beziehungeneher gleichheits- und bedarfsbezogene Regelnbevorzugt werden, in kurzfristigen, wettbe-werbsorientierten Beziehungen eher am Leis-tungsprinzip orientierte. 6 Dieser Zusammen-hang kann auf der Grundlage eines Vor-schlags von Alan P. Fiske genauer gefasstwerden. 7 Er geht davon aus, dass die Formensozialen Zusammenlebens an vier Modellenorientiert sind. Der erste Typus zeichnet sichdurch enge und dauerhafte Beziehungen aus,bei dem der Einzelne fest in eine Gemein-schaft eingebunden ist, alle Mitglieder hin-sichtlich ihrer Herkunft gleich sind und einegemeinsame Identität teilen. Hier gilt das Be-darfsprinzip als gerechte Verteilungsregel:Jeder erhält soviel, wie er braucht.

5 Vgl. Stefan Liebig/Bernd Wegener, Primäre und se-kundäre Ideologien. Ein Vergleich von Gerechtig-keitsvorstellungen in Deutschland und den USA, in:Hans-Peter Müller/Bernd Wegener (Hrsg.), SozialeUngleichheit und soziale Gerechtigkeit, Opladen 1995,S. 265–293.6 Vgl. Kjell Törnblom, The Social Psychology of Dis-tributive Justice, in: Klaus R. Scherer (ed.), Justice. In-terdisciplinary Perspectives, Cambridge 1992, S. 177–236; Ernst Fehr/Klaus M. Schmidt, The Economics ofFairness, in: Serge-Christophe Kolm/Jean MercierYthier (eds.), Handbook of the Economics of Giving,Vol. 1., Amsterdam 2006, S. 615–691.7 Vgl. Alan P. Fiske, The Four Elementary Forms ofSociality, in: Psychological Review, 99 (1992) 4, S. 689–723.

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Der zweite Typus sind hierarchische Bezie-hungen, in denen die Beteiligten durch Über-und Unterordnung aufeinander bezogen sind.Höhergestellte übernehmen Verantwortungfür die ihnen Unterstellten, die wiederum imAustausch dafür die Autorität der Höherge-stellten anerkennen. Das korrespondierendeGerechtigkeitsprinzip ist das Anrechtsprin-zip. Jeder erhält das, was ihm aufgrund seinerPosition im Hierarchiegefüge zusteht.

Der dritte Typus zeichnet sich durch fehlen-de Rangunterschiede aus. Beispiele sind nicht-hierarchische Netzwerke, peer groups und Ge-nossenschaften. Die Beteiligten betrachtensich gegenseitig – trotz individueller Unter-schiede – als gleich, und jeder hat dieselbenRechte und Pflichten. Die Beziehungen wer-den durch einen Austausch bestimmt, bei demjeder dem anderen ebenso viel zurückgibt, wieer erhalten hat. Das dominierende Gerechtig-keitsprinzip ist das der Gleichheit.

Der vierte Typus ist durch kurzfristige Be-ziehungen unter Fremden gekennzeichnetund entspricht dem Modell der Marktbezie-hungen. Es handelt sich um ökonomischeAustauschbeziehungen, in denen die Beteilig-ten Güter oder Dienstleistungen anbieten,um daraus möglichst hohe Vorteile zu erhal-ten. Das gerechte Verteilungsprinzip ist hierdas der Leistung.

Wenn nun die Art der sozialen Beziehun-gen entscheidet, welches Gerechtigkeitsprin-zip zur Anwendung kommen soll, so grün-den Konflikte um die inhaltliche Ausgestal-tung der sozialen Gerechtigkeit letztlich ineinem unterschiedlichen Verständnis darüber,welche Beziehungen die Mitglieder einer Ge-sellschaft untereinander haben. Versteht mandie Gesellschaft im Sinne einer engen Ge-meinschaft, so wird man stärker auf die Gel-tung des Bedarfsprinzips rekurrieren. Ist dieGesellschaft eher ein loser Zusammenhangvon Individuen, deren Ziel primär darin be-steht, über Markttransaktionen ihre Gewinn-interessen umzusetzen, so wird das Leis-tungsprinzip die dominierende Regel sein.

Gerechtigkeitskonzeptionenin den öffentlichen Debatten

Auskunft über das aktuelle Verständnis sozia-ler Gerechtigkeit in einer Gesellschaft geben

auch die öffentlichen Auseinandersetzungen.Lutz Leisering kommt auf der Grundlageeiner Analyse der Debatten um den Umbaudes deutschen Wohlfahrtsstaats zu demSchluss, dass man vier „Paradigmen sozialerGerechtigkeit“ unterscheiden kann. 8 Die bei-den ersten Paradigmen orientieren sich amBedarfs- bzw. am Leistungsprinzip. Im erstenFall kommt dem Staat die Aufgabe einer um-fassenden Bedarfsabsicherung und Einkom-mensumverteilung zu. Im zweiten Fall stehthingegen die Realisierung der Leistungsge-rechtigkeit im Vordergrund, was geringe Ein-griffe in die Marktverteilung und eine nur mi-nimale Absicherung gegenüber unverschulde-ten Notlagen bedeutet. Das dritte Paradigmastellt eine Abwandlung der Leistungsgerech-tigkeit dar – Leisering bezeichnet es als „pro-duktivistische Gerechtigkeit“. Damit ist dieVorstellung verbunden, dass die für die Ge-sellschaft erbrachten Leistungen Kriterien derZuweisung von Gütern oder Lasten sind. Werviele Kinder hat und damit zum Fortbestandder Gesellschaft beiträgt, sollte deshalb be-lohnt und von Lasten befreit werden.

Das vierte Paradigma „Teilhabegerechtig-keit“ zielt darauf ab, Benachteiligungen auf-grund zugeschriebener Merkmale des Ge-schlechts, der Ethnizität, des Alters und derGenerationenzugehörigkeit auszugleichenund eine gesellschaftliche Teilhabe im Sinneder rechtlichen Gleichstellung, sozialen Aner-kennung und Beteiligung am sozialen, kultu-rellen und ökonomischen Leben zu garantie-ren. Nicht die Ergebnisse, sondern die Befä-higung zum Handeln stehen hier imVordergrund. Nach Einschätzung Leiseringsgewinnt dieses Paradigma in den aktuellenDebatten zunehmend an Bedeutung. Deshalbsei zu erwarten, dass zukünftig soziale Ge-rechtigkeit primär im Sinne der Zugangschan-cen verstanden werde. Es kommt also zurAblösung des klassischen, an den Ergebnissender Verteilung ausgerichteten Verständnisses(Gleich- vs. Ungleichverteilung) durch einVerständnis von sozialer Gerechtigkeit, dasdie Verbesserung der Chancenstrukturenzum Gegenstand hat. Dies steht im Einklangmit einem Vorschlag des Ökonomen Amar-

8 Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Gerechtigkeit,in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau(Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit inmodernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2004, S. 29–68.

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tya Sen, wonach es bei der sozialen Gerech-tigkeit darum geht, den Einzelnen dazu zubefähigen, seine individuellen Lebensziele zuverwirklichen. 9

Soziale Gerechtigkeit als Ergebnis-oder Teilhabegerechtigkeit?

Falls die Diagnose von Leisering zutrifft undtatsächlich soziale Gerechtigkeit verstärkt imSinne der Teilhabegerechtigkeit verstandenwird, so stellt sich die Frage nach den Grün-den für einen solchen Wandel. Aus Sicht derempirischen Gerechtigkeitsforschung sinddiese vor allem im Wandel der gesellschaftli-chen Bedingungen zu suchen, denn „[m]enhold conceptions of social justice as part ofmore general views of society, and (. . .) theyacquire these views through their experienceof living in actual societies with definitestructures and embodying particular kinds ofinterpersonal relationship“. 10

Vor dem Hintergrund der beschriebenenBedeutung der Art der sozialen Beziehungenfür die Präferenz bestimmter Gerechtigkeits-prinzipien ist es nur folgerichtig, dass sozialeGerechtigkeit in heutigen Gesellschaften we-niger auf die Ergebnisse der Verteilung alsvielmehr auf die Zugangsmöglichkeiten undChancen fokussiert.

Für eine Abkehr von einem an den Ergeb-nissen orientierten Gerechtigkeitsverständnisspricht zunächst, dass in marktgesteuertenGesellschaften keine Ergebnisgleichheitenrealisierbar sind. 11 Sobald Produkte oderDienstleistungen unter Wettbewerbsbedin-gungen getauscht werden, die individuellenFähigkeiten auch darüber entscheiden, werwas in welchem Umfang anbieten und nach-fragen kann, entstehen notwendigerweiseUngleichheiten, die darin begründet sind,dass Menschen unterschiedliche Vorliebenund Fähigkeiten haben. Diese Ungleichheitenvollständig aufzuheben, ist nicht nur prak-

tisch unmöglich, sondern widerspricht auchdem grundlegenden Bedürfnis der Menschennach Individualität und den damit verbunde-nen Status- und Distinktionsbedürfnissen.

Zudem ist die individuelle Güterausstat-tung nicht nur das Ergebnis von Entschei-dungsprozessen in unterschiedlichen gesell-schaftlichen Teilbereichen, die jeweils eige-nen Logiken folgen (z. B. Bildungs-,Erwerbssystem), sondern oftmals auch dasErgebnis der Verkettung glücklicher oderunglücklicher Zufälle. Ein an den Ergebnis-sen orientiertes Gerechtigkeitsverständnisberuht zudem auf Voraussetzungen des ge-sellschaftlichen Zusammenlebens, die nichtmehr notwendigerweise gegeben sind. Sosetzt die Idee der Bedarfsgerechtigkeit eineGesellschaft voraus, die sich als Solidarge-meinschaft versteht und in gemeinsamenIdentitäten wurzelt. In dem Maße, wie aufHerkunft oder Religion beruhende Gemein-samkeiten nicht mehr bestehen, verlierenentsprechende normative Forderungen ihreBasis. Das Leistungsprinzip setzt anderer-seits voraus, dass sich die individuellen An-strengungen exakt bestimmen lassen. In„globalisierten“ „Dienstleistungs-“ oder„Wissensgesellschaften“ wird dies immerschwieriger, weil Arbeitsabläufe stärker mit-einander verwoben sind, Arbeitsergebnissezunehmend abstrakter und stärker von denZufälligkeiten der Märkte bestimmt werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint derWechsel zu einem Verständnis von sozialerGerechtigkeit als Chancen- und Teilhabege-rechtigkeit nur folgerichtig zu sein. Dies be-deutet freilich nicht, dass Fragen der Bedarfs-gerechtigkeit im klassischen Sinne obsolet wer-den. Schutz vor Marktversagen, Absicherungvor nicht selbstverschuldeten Notlagen undGewährung eines bestimmten Mindestlebens-standards sind Forderungen, die auch dannwichtig werden, wenn es gilt, den Einzelnenbei der Realisierung seiner individuellen Le-benspläne zu unterstützen. Im Unterschiedaber zur Bedarfsabsicherung in Familien oderengen Gemeinschaften erfolgt eine derartigeAusfallbürgschaft nicht unbedingt, sondern esknüpfen sich daran auch Erwartungen an ent-sprechende Gegenleistungen.

9 Vgl. Amartya Sen, Inequality Reexamined, Cam-bridge 1992.10 David Miller, Social Justice, Oxford 1976, S. 342.11 Vgl. Heiner Meulemann, Sozialstruktur, sozialeUngleichheit und die Bewertung der ungleichen Ver-teilung von Ressourcen, in: Peter A. Berger/Volker H.Schmidt (Hrsg.), Welche Gleichheit, welche Ungleich-heit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung, Wies-baden 2004, S. 115–136.

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Frank Nullmeier

SozialeGerechtigkeit –

ein politischer„Kampfbegriff“?

S oziale Gerechtigkeit ist eine zentrale Ka-tegorie bei der Bewertung politischer

Leistungen einer Regierung. Ihre Verletzungwird beklagt, wennes um Managergehäl-ter, Bankenrettungenund Unternehmens-subventionen geht.Auch die Widerständegegen die Agenda2010 und die Hartz-IV-Reformen sowiedas Erstarken der Par-tei Die Linke habensoziale Gerechtigkeit

neuerlich zum politischen Zentralthema ge-macht. Bei den hart geführten Debatten gerätder Maßstab „soziale Gerechtigkeit“ selbstimmer wieder zum Streitobjekt: Er wird ganzunterschiedlich definiert und interpretiert, an-dere halten den Begriff für eine leere Hülseoder lehnen ihn als gänzlich verfehlt ab. DieAuseinandersetzung über soziale Gerechtig-keit ist insofern reflexiv, als nicht mehr alleinüber die gerechten bzw. ungerechten Zuständeund politischen Vorhaben gesprochen wird,sondern über den Gerechtigkeitsbegriff selbst.

Dies ist kein Sonderfall: Politik vollziehtsich in erheblichem Maße über Sprache – sei esin Reden, Parteiprogrammen oder auch Geset-zestexten. Entsprechend ist Politik als Ausein-andersetzung über das für alle Mitglieder einerGemeinschaft verbindlich Geltende auch eineAuseinandersetzung über Sprache. Bezeichnetman einen Begriff jedoch als „Kampfbegriff“,ist damit mehr gemeint als nur diese generelleUmstrittenheit. Es ist der Vorwurf einer In-strumentalisierung von bestimmten Vokabelnfür partikulare, gerade nicht auf das Gemein-wohl zielende Interessen. Diese Zwecke wer-den zudem im Begriff selbst verdeckt und ver-

borgen. Sprache fungiert dann lediglich als In-strument der Bemäntelung von (eventuell fürbestimmte Bevölkerungsteile belastenden)Entscheidungen. Wer also von sozialer Ge-rechtigkeit als Kampfbegriff spricht, unter-stellt den Vertretern dieser Gerechtigkeitsfor-derung, sie verfolgten keine wertbestimmten,der gesamten Gesellschaft verpflichteten Ziele,sondern eigene Interessen.

Derartige Sprach- und Begriffskämpfe sindmithin nicht auf die Zeiten der großen politi-schen Strömungen des Konservatismus, Libe-ralismus und Sozialismus beschränkt, die sichwechselseitig der Ideologiebildung beschul-digten. Die politische Bedeutung der Ausein-andersetzung über Worte wurde gerade denin die Defensive geratenen konservativen Par-teien im Gefolge der StudentenbewegungAnfang der 1970er Jahre bewusst, und eswurde die Konzeption des „Begriffe Beset-zens“ entwickelt. Heute verzichten die Polit-strategen auf einen derart militärisch inspi-rierten Ausdruck und sprechen eher von „po-litischem Kommunikationsmanagement“oder – bezogen auf Werte wie Gerechtigkeit –„Werte-Marketing“ bzw. value branding.

So haben alle deutschen Parteien nach 1995ihren Programmkommissionen in der einenoder anderen Weise die Aufgabe erteilt, überden Gerechtigkeitsbegriff nachzudenken. Ineinem manchmal durchaus engen Zusammen-spiel zwischen Parteien und einzelnen Wis-senschaftlern ist die Gerechtigkeitsterminolo-gie geprüft und in den programmatischenDokumenten verschoben worden. Aber auchaußerhalb dieser engen parteipolitischen Zir-kel kann sich der Gerechtigkeitsbegriff nichtden politischen Konflikten entziehen – sogibt es etwa im Feuilleton und in der Wissen-schaft markante Versuche der bewussten unddurchaus politisch motivierten Begriffsprä-gung und Neuinterpretation.

Der Terminus „soziale Gerechtigkeit“ ver-dankt sich jedoch nicht solchen Begriffsstra-tegien und sprachpolitischen Interventionen.Die Verbindung von „sozial“ und „Gerech-tigkeit“ setzte sich gegen Ende des 19. Jahr-hunderts durch. 1 Ursächlich dafür waren diepolitische Brisanz der „sozialen Frage“, dieerstarkende Arbeiterbewegung und die Ent-stehung der ersten Sozialversicherungen. In

Frank NullmeierDr. rer. pol., geb. 1957; Profes-

sor für Politikwissenschaft, Lei-ter der Abteilung Theorie und

Verfassung des Wohlfahrtsstaa-tes am Zentrum für Sozialpolitik

der Universität Bremen,Parkallee 39, 28209 Bremen.

[email protected]

1 Vgl. David Miller, Grundsätze sozialer Ge-rechtigkeit, Frankfurt/M.–New York 2008.

9APuZ 47/2009

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der Programmatik sozialdemokratischer Par-teien wurde er nicht zuerst eingesetzt, hiertauchten eher die Formeln „gleiche Rechte“und „gerechte Verteilung“ auf. Nur langsam– mit bedingt durch das Vordringen „sozialerGerechtigkeit“ in der katholischen Sozialleh-re – hat sich das Grundverständnis von sozia-ler Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeitherausgebildet. Erst nach dem Zweiten Welt-krieg ist soziale Gerechtigkeit zum Grundbe-griff des expandierenden Sozialstaates gewor-den. Mit ihm werden breite soziale Sicherung,Armutsvermeidung, gleiche Rechte undChancen für alle sowie eine dazu erforderli-che Umverteilung der Einkommen von denGutverdienenden zu den schlechter Gestell-ten oder Einkommenslosen gerechtfertigt.Soziale Gerechtigkeit ist so der Sozialstaats-wert überhaupt geworden. Ein Angriff aufsoziale Gerechtigkeit – und das ist auch dieKennzeichnung als Kampfbegriff – ist dahermeist mit einem Angriff auf den Sozialstaatinsgesamt, seine gegenwärtige Gestalt oderauf Forderungen nach Ausbau sozialer Leis-tungen verbunden.

Bemerkenswert ist der Streit um Gerech-tigkeit dadurch, dass man in aller Öffentlich-keit zwar gegen soziale Gerechtigkeit eintre-ten kann, nicht jedoch für weniger Gerechtig-keit. „Mehr Ungerechtigkeit“ ist keinedenkbare Parole. Darin unterscheidet sich diealltägliche politische Verwendung des Ge-rechtigkeitsbegriffs durchaus von dem derGleichheit. Es gibt in der deutschen politi-schen Landschaft Forderungen nach mehrUngleichheit, oft in die Frage gekleidet „Wie-viel Ungleichheit ist gerecht?“ Das ist bei Ge-rechtigkeit anders: Gerechtigkeit wird in derpolitischen Öffentlichkeit durchweg als posi-tiver Maßstab angesehen und Ungerechtigkeitals durchweg negativ. Das gilt jedoch nur fürdie gleichsam schlichte Gerechtigkeit. SozialeGerechtigkeit hingegen kann man als Kampf-begriff kritisieren und zurückweisen.

Dabei zeigt sich in Verwendung und Ab-lehnung sozialer Gerechtigkeit eine hoheKonstanz: Soziale Gerechtigkeit ist undbleibt eine Forderung der (im weiten Sinne)politischen Linken, sie steht für ein höheresMaß sozialer Gleichheit und sozialer Siche-rung, während die Abwehr von (mehr) So-zialstaatlichkeit, (mehr) Umverteilung undeiner stärkeren Regulierung des Marktes miteiner Kritik von Begriff und Deutung sozialer

Gerechtigkeit einhergeht. Die Begriffsver-wendung folgt bis in die Wahlprogramme derdiesjährigen Bundestagswahl wesentlich derRechts-Links-Achse des Parteiensystems. In-sofern ist soziale Gerechtigkeit ein Konflikt-Begriff: Er bildet die Grundlinie der politi-schen Auseinandersetzungen ab und verdanktdie Anstrengungen um seine Interpretationdem Konflikt zwischen jenen, die dem So-zialstaat skeptisch gegenübertreten und jenen,die ihn eher befürworten.

Im Folgenden werden drei Formen des po-litisch-sprachlichen Umgangs mit sozialerGerechtigkeit vorgestellt: die Ergänzung desVokabulars soziale Gerechtigkeit durch dieEntwicklung „neuer Gerechtigkeiten“, dieKritik und Entlarvung aller Forderungennach sozialer Gerechtigkeit als Ausdruck vonSozialneid und schließlich die Auseinander-setzung um das Verhältnis von Leistungsge-rechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit.

Neue Gerechtigkeiten

Die Gerechtigkeitsdiskussion in Wissen-schaft und Politik basiert auf einem Vokabu-lar, das neben der Spezifikation „soziale Ge-rechtigkeit“ noch eine Zahl weiterer Gerech-tigkeiten kennt. Darunter finden sich aufeinzelne Lebensbereiche bezogene Begriffewie Wehr- und Steuergerechtigkeit. Für dasVerständnis des deutschen Sozialstaateswaren aber die Unterscheidung – und dieVerbindung – von Leistungs- und Bedarfsge-rechtigkeit entscheidend. Der Sozialversiche-rungsstaat beruht auf der Integration vonLohn- und Einkommensbezug der sozialenLeistungen, ihrer Abhängigkeit von vorheri-gem Arbeitseinkommen und der Definitionstandardisierter, für alle geltender Bedarfs-größen. Zu diesen traditionellen Verfeinerun-gen der Verteilungsgerechtigkeit sind in denvergangenen 15 Jahren aber eine Fülle neuerGerechtigkeiten hinzugetreten, darunter Teil-habe-, Teilnahme-, Geschlechter-, Generatio-nen-, Befähigungs- und globale Gerechtig-keit. 2 Nur wenige Begriffe konnten sich je-doch in der Öffentlichkeit durchsetzen,

2 Vgl. Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Ge-rechtigkeit: Normative Diskurse im Umbau des So-zialstaates, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/SteffenMau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeitin modernen Gesellschaften, Frankfurt/M.–New York,S. 29–68.

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darunter zwei, die hier in ihren Folgen fürdas Verständnis sozialer Gerechtigkeit vorge-stellt werden sollen: Generationen- und Teil-habegerechtigkeit.

Zwar sprach man schon in den 1950er Jah-ren vom „Generationenvertrag“ und von der„Generationensolidarität“, insbesondere inder gesetzlichen Rentenversicherung, dochder Begriff „Generationengerechtigkeit“ fanderst 1997 Eingang in die politische Sprache. 3

Aus einem Konflikt um die Rentenpolitikhervorgegangen, setzte sich der Terminussehr schnell bei den Parteien durch. Schon imJahr 2000 bezeichneten sich Bündnis 90/DieGrünen als „Partei der Generationengerech-tigkeit“. Die breite Übernahme des Begriffsmachte eine neue Komplexität verteilungspo-litischer Fragen sichtbar. Unter sozialer Ge-rechtigkeit nur die Frage nach den Vertei-lungsverhältnissen zwischen Kapital und Ar-beit zu verhandeln, erschien politisch wiewissenschaftlich nicht mehr angemessen. Ge-nerationengerechtigkeit bot die Möglichkeit,am Leitwert Gerechtigkeit festzuhalten, aberFragen „alter Verteilungspolitik“ zu verab-schieden.

So setzte sich eine Entgegensetzung beiderGerechtigkeitsbegriffe fest: Was sozial ge-recht schien, konnte in der Generationenper-spektive als ungerecht erscheinen, als Berei-cherung der Gegenwart auf Kosten der Zu-kunft oder der Alten auf Kosten der Jungen.In den vergangenen Jahren ist neben der Ren-tenpolitik vor allem die Staatsverschuldungals intergenerationelles Gerechtigkeitspro-blem thematisiert worden.

Der zweite neue Gerechtigkeitsbegriff, derhier vorgestellt werden soll, betrifft die Teil-habe. Das Wort „Teilhabe“ wurde bereits inden 1950er Jahren durch Ernst Forsthoff indie sozialpolitische Debatte eingeführt. DasKonzept der Teilhaberechte 4 wurde schließ-

lich zum Kernbegriff einer stark sozialstaat-lich orientierten Grundrechtsinterpretation.Der Staat hat demnach auch die Aufgabe, dieNutzung und Inanspruchnahme der Grund-rechte durch alle Bürgerinnen und Bürger zuermöglichen. Erst seit den 1990er Jahren fin-det die Formel „Teilhabegerechtigkeit“ Ver-wendung. Gegenüber dem eher expansivenVerständnis von Teilhaberechten führt Teilha-begerechtigkeit die Anforderungen an denStaat wieder zurück: Sie verlangt im Grundenur die Vermeidung von Exklusion.

Während der Begriff der Verteilungsge-rechtigkeit graduell gefasst ist und die ge-samte Verteilungsskala von Arm bis Reichumfasst, konzentriert sich der Teilhabebegriffauf die Inklusion, die Teilhabe überhaupt alssoziales Minimum, nicht jedoch auf das Aus-maß der Teilhabe. Die Gestaltung der sozia-len Verhältnisse jenseits der Schlechtgestelltenund von Armut Bedrohten wird durch Teil-habegerechtigkeit nicht erfasst. Damit folgtder Begriff durchaus der Verschiebung sozia-ler Problemlagen hin zu Dauerarbeitslosig-keit, Kinderarmut, Prekarisierung der Ar-beitsverhältnisse und Gefahr der sozialenAusgrenzung ganzer Gruppen. 5 Teilhabege-rechtigkeit kann daher als Ausprägung vonsozialer Gerechtigkeit verstanden werden –mit besonderer Blickrichtung auf die neuenProblemlagen. Sie kann aber auch zur Sen-kung der Ansprüche an ein soziales Siche-rungssystem führen.

Die Vervielfältigung der Gerechtigkeitsbe-griffe bietet den Parteistrategen wie anderenBegriffspolitikern hinreichend Spielraum, umTeilhabe- oder Generationengerechtigkeitgegen Verteilungsgerechtigkeit zu setzen, wo-durch eine Polarisierung innerhalb des Ge-rechtigkeitsdenkens erreicht wird. Aber auchder umgekehrte Fall der Harmonisierung trittauf: Verschiedene Gerechtigkeiten werden als„miteinander vereinbar“, als „zusammenge-hörig“ oder als „Einheit“ verstanden. Somacht die Pluralisierung der Gerechtigkeitenalles komplizierter, sind doch die Beziehun-gen zu klären, aber auch leichter: In irgendei-ner Hinsicht erscheint jede politische Maß-nahme als gerecht.

3 Detaillierte Angaben in Frank Nullmeier, Der Dis-kurs der Generationengerechtigkeit in Wissenschaftund Politik, in: Kai Burmeister/Björn Böhning (Hrsg.),Generationen und Gerechtigkeit, Hamburg 2004,S. 62–75.4 Die Ursprungskonzeption findet sich bei ErnstForsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungs-rechtliche Abhandlungen 1954–1973, München 19762.Die Anfang der 1970er Jahre vom Bundes-verfassungsgericht vertretene Version unterscheidetsich deutlich von der Forsthoff’schen Version.

5 Vgl. Bundesregierung (Hrsg.), Lebenslagen inDeutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbe-richt der Bundesregierung, Köln 2008.

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Parteien im Wahlkampf –Semantiken der Gerechtigkeit

Die Verwendung dieser neuen Gerechtigkeits-vokabeln sowie der Worte „soziale Gerechtig-keit“ differiert auffällig zwischen den im Bun-destag vertretenen Parteien. Schlägt man inden Programmen zur Bundestagswahl 2009nach, werden recht unterschiedliche Gerech-tigkeitsprofile sichtbar: Im Regierungspro-gramm 2009–2013 von CDU und CSU fehltdie Vokabel „soziale Gerechtigkeit“. Aber eswerden darin drei Komposita als Ausprägun-gen von Gerechtigkeit verwendet: Leistungs-,Generationen- und Chancengerechtigkeit.Zentrale Bedeutung hat für die Union dieSchaffung einer Chancengesellschaft, diejedem Einzelnen die Möglichkeit zur Entfal-tung durch Leistung bietet. Ähnlich ist es beider FDP, die ihr Konzept des Bürgergeldes so-wohl für sozial gerecht als auch für leistungs-gerecht hält. Den Begriff Generationengerech-tigkeit legen die Liberalen so aus, dass jede Ge-neration sich aus eigener Kraft und in eigenerVerantwortung um sich kümmern müsse. Die-ser dem Wortsinn nicht ganz entsprechendeVerzicht auf einen generationenübergreifen-den Ausgleich verbindet sich mit dem Appellan Eigenverantwortung als Chiffre für mehrprivate Eigenvorsorge.

Bündnis 90/Die Grünen waren die Ersten,die sich den neuen Gerechtigkeiten verschrie-ben hatten – durchaus, um soziale Gerechtig-keit als alleinigen Gerechtigkeitsmaßstab ver-meiden zu können. Die in den vergangenenJahren gewachsene Kritik am rot-grünen Re-gierungsprogramm der Agenda 2010 hat aberdie Polarisierung zwischen alter sozialer Ge-rechtigkeit und neuen Gerechtigkeiten obso-let werden lassen. Im Wahlprogramm vonBündnis 90/Die Grünen dominiert die Wert-harmonisierung: „Deshalb verbinden wirVerteilungsgerechtigkeit mit Teilhabegerech-tigkeit, Generationengerechtigkeit, Ge-schlechtergerechtigkeit und globaler Gerech-tigkeit.“ 6

Das Programm der SPD dagegen verzichtetauf die neuen Gerechtigkeiten, es kennt wederChancen- noch Teilhabe- noch Generationen-gerechtigkeit. Wenngleich Teilhabe und Chan-

cengleichheit wichtige Ziele sind, wird Ge-rechtigkeit meist mit dem Attribut „sozial“versehen. Gleiches gilt für das Wahlprogrammder Partei Die Linke, das für „soziale Gerech-tigkeit, für den Umbau von Wirtschaft undGesellschaft, für die Interessen der Lohnab-hängigen und für die gleichberechtigte Teilha-be der vom Kapitalismus Ausgegrenzten undAusgemusterten“ 7 plädiert. Neben der Ge-schlechtergerechtigkeit, die sonst nur bei denGrünen vorkommt, fällt die Fülle an Aussagenauf, die sich auf ungerechte Zustände, die Un-gerechtigkeit des Kapitalismus oder des Ren-tensystems beziehen. Wertepolitik wird hierals Kritik ungerechter Zustände betrieben.

Gerechtigkeit oder Sozialneid?

Eine zweite Form der Auseinandersetzungliegt darin, alle Forderungen nach sozialer Ge-rechtigkeit als Ausdruck bloßen „Neids“ er-scheinen zu lassen. Diese Argumentation hatsich zu einer regelrechten „Neiddebatte“ fort-entwickelt, die sich, gemessen an der Bericht-erstattung in Qualitätszeitungen, 8 in den Jah-ren 2004 bis 2007 intensiviert hat und einemgenerellen Muster folgt: Die Forderung nachmehr sozialer Gerechtigkeit wird kritisiert undzurückgewiesen, sie gründe auf „Sozialneid“oder schüre nur den „Neid“. Steuern mit Um-verteilungswirkung werden als „Neidsteuern“bezeichnet, die stark sozialstaatlich geprägteBundesrepublik als „Neidgesellschaft“ titu-liert. Im Lande herrsche ein „kollektiver Neid-reflex“, der allen Persönlichkeiten und Grup-pen, die Vorteile, Verdienste oder Privilegiengenössen, zum Verhängnis werden könne und„Spitzenleistungen“ nicht anerkenne.

Der typische Neiddiskurs ist aber in dieKrise geraten. Angesichts der Diskussionenüber vermeintlich überzogene Managergehäl-ter, die bereits vor der Finanzmarktkrise ein-setzte, thematisierte Bundeskanzlerin AngelaMerkel im Dezember 2007 die Begrenzungvon Managergehältern und tadelte den Neid-vorwurf als unangemessen: „Deshalb istmeine Bitte (. . . ): Nehmen Sie diese Debatte

6 Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagswahlprogramm2009, S. 18.

7 Die Linke, Wahlprogramm 2009, S. 56.8 Der Artikel basiert in seinen Aussagen zum öffent-lichen Auftreten des Neid- und Gierbegriffs auf(quantitativen wie qualitativen) Analysen von Quali-tätszeitungen und -zeitschriften mittels Recherchen inder Datenbank Factiva. Die hier aufgeführten Formu-lierungen treten gehäuft auf, so dass auf Einzelnach-weise verzichtet wurde.

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ernst. Tun Sie sie nicht einfach als Neidde-batte ab und legen Sie sie nicht wieder unterden Tisch, sondern nehmen Sie sie ernst. (. . .)Es hat niemand etwas dagegen, dass erfolg-reich verdient wird, wenn erfolgreich gewirt-schaftet wird. Aber es gibt ein großes Gefühlvon Unwohlsein, wenn man eigentlich ohneöffentliche Diskussion erhebliche Risikenheraufbeschwört und anschließend – andersals die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer– ohne persönliches Risiko davonkommt.“ 9

Die Krise der Finanzmärkte seit September2008 hat das Neidvokabular zunächst nochweiter in die Defensive gebracht. Nun hattedie „Gier“ Hochkonjunktur.

Neiddebatte und Gier-Zuschreibung anBanker und Manager reduzieren Grundfragengesellschaftlicher Ordnungsbildung auf dasVorherrschen von Lastern. Es geht aber umdie Verfassung einer Gesellschaft, um Institu-tionen, die das sicherlich immer zu erwartendeFehlverhalten von Individuen begrenzen sol-len. Ein Diskurs über die angemessenen Insti-tutionen kann Gerechtigkeitsfragen nicht aus-weichen. Die Frage, welche Institutionen nor-mativ erstrebenswert sind, lässt sich nur mitRückgriff auf Werte wie Gerechtigkeit, Frei-heit und Solidarität klären.

Im Zentrum des Konflikts:Leistungsgerechtigkeit

Trotz aller neuen Gerechtigkeitsfragen wirddie öffentliche Auseinandersetzung über so-ziale Gerechtigkeit nach wie vor von derFrage bestimmt, in welchem VerhältnisMarkt und Staat zueinander stehen. Die Ver-treter von „mehr Markt“ nutzen „Leistungs-gerechtigkeit“ zur Rechtfertigung ihrer Posi-tion: Die Formel „Leistung muss sich (wie-der) lohnen“ ist allgegenwärtig und zielt aufdie Senkung von Steuer- und Beitragsbela-stung der Einkommen und auf weniger Staat.Was Leistungsgerechtigkeit aber ist und obsie sich als Hauptmaßstab von Gerechtigkeitüberhaupt verteidigen lässt, ist keineswegseinfach zu bestimmen.

Bereits Aristoteles hatte die logische Struk-tur gerechter Verteilung nach Kriterien derLeistung bzw. des Verdienstes entfaltet. Esbedarf des Vergleichs mit anderen Personenund deren Leistungen, um eine gerechte Ver-teilung bestimmen zu können. Gerechtigkeitverlangt Ungleichverteilung gemäß den un-terschiedlichen Graden des Verdienstes, dasheißt der Leistung. Eine „Leistungsgesell-schaft“ 10 ist dann realisiert, wenn ganz über-wiegend in einer Gesellschaft nach Leistungent- und belohnt wird. Dazu muss aber weit-gehend Konsens darüber bestehen, was einBeitrag für die Gesellschaft ist. An dieserFrage entzünden sich seit Ende der 1960erJahre die sozialwissenschaftlichen und philo-sophischen Debatten.

In John Rawls’ Werk, das die gesamte Ge-rechtigkeitsdiskussion seit über dreißig Jahrenbeherrscht, findet sich eine klare Absage anjede Form der Gerechtigkeit nach Verdienst:Zum einen spiegelten sich in den als Leistungzu wertenden Beiträgen des Einzelnen dieWillkür der Natur (Anlagen) und die Vorteileder Herkunft, zum anderen sei kein gesell-schaftlicher Konsens über das Gute zu erzie-len, zu dem die Tätigkeit des Einzelnen einenBeitrag leiste. Rawls’ Angriff auf das Denkenin Verdienstkategorien ist radikal: „Man hatseinen Platz in der Verteilung der natürlichenGaben ebenso wenig verdient wie seine Aus-gangsposition in der Gesellschaft.“ 11 Die Fä-higkeit zur Leistung ist unverdient, deshalb istdie Einrichtung einer Gesellschaft nach Prin-zipien der Leistungsgerechtigkeit ungerecht.Hier wird die Frage nach der Verdienstgrund-lage radikalisiert – mit der Folge, dass sich einexpansiver Sozialstaat mit Gerechtigkeitsar-gumenten begründen lässt.

Ein weiterer Angriff auf die Leistungsge-rechtigkeit erfolgte von ganz anderer Seite,indem die übliche Beziehung zwischen Leis-tung und Markt in Frage gestellt wurde: Derschärfste Kritiker von Begriff und Inhalt „so-zialer Gerechtigkeit“, Friedrich A. vonHayek, hat auch die Leistungsgerechtigkeitals Merkmal moderner Marktwirtschaften

9 Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Arbeit-gebertag 2007 der Bundesvereinigung der DeutschenArbeitgeberverbände, Berlin 11. 12. 2007, online:www.bundeskanzlerin.de/nn_5296/Content/DE/Rede/2007/12/2007–12–11-arbeitgebertag.html (12. 10. 2009).

10 Michael Young führte für eine derart von Leistungund Verdienst (engl. merit) bestimmte Gesellschaft denBegriff „Meritokratie“ ein. Vgl. Michael Young, TheRise of Meritocracy, London 1958.11 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,Frankfurt/M. 1975, S. 125.

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verworfen. Das Marktgeschehen lasse sichnicht nach Maßstäben der Gerechtigkeit be-werten. Schon der Terminus der sozialen Ge-rechtigkeit sei sinnlos. Der Mechanismus desMarktwettbewerbs ist für Hayek ein freiheit-licher Weg der Koordination von Interessenund Wissensbeständen sehr vieler Individuen.Was im Markt als Belohnung für den Einzel-nen und seine Anstrengungen herauskommt,hänge in höchstem Maße von den Zufälligkei-ten der Angebots-Nachfrage-Verhältnisse ab,nicht jedoch vom Können des Einzelnen oderseinen Beiträgen zu einem gesellschaftlichenGanzen. Belohnt werde in der Marktwirt-schaft allein der Markterfolg. 12 Hayek zeigt,dass Löhne und Gewinne sich in einer Markt-wirtschaft aus der Nachfragesituation undaus den Charakteristika der natürlichen oderfamiliären Ausgangslage ergeben, aber in kei-ner Relation zu Verdiensten oder Leistungenstehen. Weil Hayek zwischen Verdienst, Leis-tung und Anstrengung einerseits und situativbedingtem Erfolg aufgrund von Nachfrageund Angebot genau unterscheidet, kann erden Markt nicht als Realisierung des Leis-tungsprinzips rechtfertigen, sondern nur alsMittel der Beförderung von Freiheit undWachstum.

Genau diese Differenzierung zwischenMarkterfolg und Leistung wird jedoch in denpolitischen Debatten meist nicht gemacht. Inder Formel „Leistung muss sich wieder loh-nen“ meint Leistung nur puren Markterfolg,und umgekehrt wird bloßer Markterfolg auchals Leistung gewertet. Auf den beschleunigtenMärkten von heute vollzieht sich eine nochweiter gehende Orientierung am kurzfristigenErfolg, welche die Hoffnung, „Können“,„Anstrengung“ und „Kompetenz“ seien diezentralen Voraussetzungen der Entlohnung,zunichtemacht. Die Idee, eine nicht mehr al-lein auf den Markterfolg, Erwerbsarbeit undmännliche Lebensverlaufsmodelle gerichteteLeistungsgesellschaft zu entwickeln, wie siezum Beispiel in Axel Honneths „Theorie derAnerkennung“ entwickelt wird, 13 findet nichtins Zentrum der politischen Debatte.

Und die Finanzmarktkrise hat trotz des all-gemein sichtbaren Versagens unregulierterMärkte doch das Konzept der Leistungsge-sellschaft als Markterfolgsgesellschaft ge-stärkt. Gerade die Krise der Märkte hat ge-zeigt, wie sehr man auf sie angewiesen ist,wie sehr alles eine Frage des Marktglücks ist.Die Reaktion darauf ist eine Art Markt-schicksalsergebenheit. Man findet sich ab mitdem Hin und Her der Konjunktur, mit Glückund Zufall im Wettbewerbsgeschehen, mitSchnäppchen und Zwang zum Verzicht. Die-ser alltäglich gewordene Marktfatalismuskorrespondiert mit den verstärkten Anstren-gungen anderer, gerade aus den gehobenenMittelschichten, doch wenigstens individuellein Durchkommen zu schaffen auf denglobalisierten Bildungs- und Statusmärkten.

Wenn Leistungsgerechtigkeit aber nur nochheißt, den puren Markterfolg zu belohnen, istder Charme eines an der Sache und am Kön-nen orientierten Leistungsstrebens verloren.Markterfolg als Maßstab kennt nur Gewinnerund Verlierer und ist nicht am Können, son-dern an Angebot und Nachfrage ausgerichtet.Wer Leistung mit Erfolg am Markt übersetzt,verengt den gesellschaftlichen Zusammenhangauf ein ökonomisches Wachstumsbündnis –aus dem aber immer mehr Personen herausfal-len. Bei der – wie immer polemisch geführten– Debatte um Leistung und soziale Gerechtig-keit geht es also letztlich um das Selbstver-ständnis einer Gesellschaft.

Die Auseinandersetzung über soziale Ge-rechtigkeit und deren Interpretation ist mit-hin keineswegs allein Angelegenheit für Mar-ketingspezialisten der politischen Parteien. Esgeht auch nicht um symbolische Politik zurBefriedung der Bevölkerung angesichtsschwer durchschaubarer Entwicklungen. So-ziale Gerechtigkeit ist mehr als ein Kampfbe-griff, auch wenn sie weiterhin umstritten, jaumkämpft bleibt. Auf keinen Fall ist sozialeGerechtigkeit ein Kampfbegriff, dem andereWertbegriffe als neutrale und unumstritteneBegriffe gegenüberstehen. Wenn wir wissenwollen, wie wir leben wollen, ist die argu-mentative Auseinandersetzung mit den ver-schiedenen Interpretationen sozialer Gerech-tigkeit der angemessene Weg.

12 Vgl. Friedrich A. von Hayek, The Constitution ofLiberty, Chicago 1960; ders., Recht, Gesetz und Frei-heit, Tübingen 2003.13 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung,Frankfurt/M. 1992; Nancy Fraser/Axel Honneth,Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt/M.2003.

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Wolfgang Glatzer

Gefühlte(Un)Gerechtigkeit

Gefühlte Ungerechtigkeit 1 ist historischgesehen kein neues gesellschaftliches

Problem, es zieht aber zunehmend Aufmerk-samkeit auf sich.Immer wieder rücktin den Blickpunkt deröffentlichen Beach-tung, dass zwischenden von der breitenBevölkerung gefühl-ten Lebensverhältnis-sen und dem, was Me-dien, Wissenschaftler,

Manager und Politiker als Realität definieren,teilweise große Unterschiede bestehen. Einmarkantes Beispiel ist die Gegenüberstellungder Einstellungen von Parlamentariern mitdenen der Bürgerinnen und Bürger. Währenddie Parlamentarier die wirtschaftlichen Ver-hältnisse in Deutschland überwiegend als ge-recht ansehen, werden diese von der Bevölke-rung überwiegend als ungerecht betrachtet. 2

Ist durch solche fundamental verschiedeneSichtweisen auf die gesellschaftliche Realitätdie normative Homogenität der Gesellschaftgefährdet? Die Hypothese der meisten So-zialwissenschaftler ist, dass eine Gesellschaftihre Integrationskraft nur aufrechterhaltenkann, wenn ein großer Anteil der Menschenglaubt, dass es gerecht zugeht.

Die gefühlte Wirklichkeit der Bevölkerungbildet eine eigenständige Dimension der Rea-lität. Man findet sie als „gefühlte Inflation“,„gefühlte Temperatur“, „gefühlten sozialenStatus“, „gefühlte Ungerechtigkeit“ und inweiteren Dimensionen. Es ist ziemlich be-langlos, ob ihr die „offizielle“ Realität in ir-gendeiner Form entspricht. Vielmehr hat sieihre eigenen Strukturen, ihre eigene Dynamikund ihre eigenen sozialen Auswirkungen aufdie gesellschaftliche Entwicklung. 3

Gerechtigkeitskonzepteund gefühlte Ungerechtigkeit

Gerechtigkeit ist allgemein gesehen ein mora-lisch hochstehendes, anspruchsvolles Werte-

konzept, ein hochwertiger Beurteilungsmaß-stab, dem es allerdings meist an Prägnanz undKonsistenz fehlt. Gerechtigkeit stellt oft dieletzte Begründung dar, auf die man sich beru-fen kann, ohne unbedingt weitere Argumenteliefern zu müssen. In den Augen der Bevölke-rung gehört sie zwar zu den hohen Werten,aber in unserer Kultur nicht zu denen, die be-dingungslos zu verteidigen sind. Beispiels-weise rechnen nur wenige Bundesbürger(etwa 1 Prozent) Gerechtigkeit zu den Zielen,für die es sich lohnen würde, das eigeneLeben einzusetzen. 4 Sie wird zwar von vielengewünscht und gefordert, aber es handelt sichauch um eine Wertvorstellung, die schwer zudefinieren ist. Nur wenige haben ein elabo-riertes Gerechtigkeitskonzept. Die Vorstel-lungen der Bevölkerung über Gerechtigkeitsind uneinheitlich und es gibt einen allgemei-nen Meinungskampf um das angemesseneKonzept und die vorherrschenden Gerechtig-keitsempfindungen.

Wolfgang GlatzerDr. phil., geb. 1944; Professorfür Soziologie an der Goethe-

Universität Frankfurt am Main,Robert-Mayer-Straße 5,

60054 Frankfurt am [email protected]

Ich widme diesen Beitrag meinem Fachbereich Gesell-schaftswissenschaften an der Goethe-Universität inFrankfurt am Main zum Abschied. Er ist aus dem Ar-beitszusammenhang unserer Arbeitsgruppe „Ein-stellungen zum Sozialstaat“ hervorgegangen. Für dieMitarbeit an dem Artikel danke ich Michaela Schulzeund Sara Weckemann.1 Von der gefühlten (Un-)Gerechtigkeit wird in glei-cher Weise gesprochen wie von der wahrgenommenen,der empfundenen, der erlebten sowie der erfahrenen(Un-)Gerechtigkeit. Schon Max Weber benutzte denBegriff „gefühlte Solidarität“. Der Terminus „gefühlteUngerechtigkeit“ (andere sprechen auch vom „Gefühlvon Ungerechtigkeit“) ist wohl der am häufigsten ge-nutzte, z. B. auch von Michael Hüther/Thomas Straub-haar, Die gefühlte Ungerechtigkeit, Berlin 2009. DieBetonung der „gefühlten“ Wirklichkeit heißt keines-wegs, dass Verstandesleistungen bei der Beurteilung ge-sellschaftlicher Sachverhalte keine Rolle spielen, viel-mehr soll zum Ausdruck gebracht werden, dassLeistungen des Gefühls einen wesentlichen Anteil beiGerechtigkeitsurteilen einnehmen (ähnlich wie imKonzept der emotional intelligence).2 Vgl. Robert B. Vehrkamp/Andreas Kleinsteuber,Soziale Gerechtigkeit – Ergebnisse einer repräsen-tativen Parlamentarier-Umfrage, in: Stefan Empter/Robert B. Vehrkamp (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit.Eine Bestandsaufnahme, Gütersloh 2007, S. 283 ff. DieUntersuchung ist repräsentativ für Abgeordnete desBundestags, der Länderparlamente, sowie der deut-schen Europaabgeordneten.3 Das berühmte Thomas-Theorem besagt: „If mendefine situations as real, they are real in their conse-quences.“4 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher(Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993–1997, München 1997, S. 66.

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Vor allem in der Philosophie gibt es heraus-ragende Bemühungen, Gerechtigkeit verbind-lich zu definieren. Betrachtet man anerkanntephilosophische Gerechtigkeitskonzepte – bei-spielsweise das libertäre von Friedrich Au-gust von Hayek, das sozialliberale von JohnRawls, das kommunitaristische von MichaelWalzer oder das aktivitätsorientierte vonAmartya Sen –, dann ist Gerechtigkeit starkdurch Rationalität gekennzeichnet. 5 Nichtzuletzt wird die Bedeutung von „Chancen-gleichheit“ oder „Verwirklichungschancen“in den Vordergrund gestellt: Nicht sozialeGleichheit ist das gesellschaftliche Anliegenin der Moderne, sondern als sozial gerechtwird angesehen, wenn die Menschen gleicheStartchancen haben und ihr Potenzial aus-schöpfen können.

Eine Vielfalt von Gerechtigkeitszielen bil-det die normative Grundlage des deutschenSozialstaats. 6 Beim Versuch die Gerechtig-keitsdebatte zu strukturieren, wird ein „magi-sches Viereck“ der Gerechtigkeit aufgezeigt,das die Bezugspunkte Chancen-, Bedarfs-,Leistungs- und Generationengerechtigkeitenthält. 7 Von anderen Experten werdenebenfalls vier Paradigmen der sozialen Ge-rechtigkeit genannt: Bedarfs- und Leistungs-gerechtigkeit einerseits, produktivistische Ge-rechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit ande-rerseits. 8 Diese Bezugspunkte stehen inwechselseitiger Abhängigkeit; teils verhaltensie sich gegensätzlich, wie etwa Bedarfs- undLeistungsgerechtigkeit, teils unterstützen siesich, wie zum Beispiel Bedarfs- und Genera-tionengerechtigkeit.

Die Ausarbeitung dieser Gerechtigkeits-konzeptionen ist eine herausragende philoso-phische Leistung, die bis tief in die Wissen-schaften und politischen Parteien hinein zuÜbernahmen geführt hat. Aber diese akade-

mischen Gerechtigkeitskonzepte sind denmeisten Menschen allenfalls bruchstückhaftbekannt. Demgegenüber steht, dass es überallirgendeine Form von Gerechtigkeitsvorstel-lung gibt 9 und Gerechtigkeitsgefühle, -emp-findungen und -urteile bestehen. Auch wenneine Person keine Gerechtigkeitsgefühle aus-gebildet hat, entwickeln sich zumindest Ge-fühle der Ungerechtigkeit. Während unter-schiedliche Gerechtigkeitseinstellungen dieBevölkerung trennen, wirken übereinstim-mende Einstellungen verbindend.

Persönliche Verteilungsgerechtigkeit

Soziale (Un)Gerechtigkeit kann prinzipiellaus zwei Perspektiven beurteilt werden: Dieeine Frage ist, ob sich ein Individuum vonUngerechtigkeit betroffen fühlt. Die andereist, ob es die Wohlfahrtsverteilung insgesamtals (un)gerecht wahrnimmt. Im Regelfallkommt es zu völlig unterschiedlichen Ergeb-nissen, die klar auseinandergehalten werdensollten. In der Umfrageforschung liegen fürbeide Problemstellungen Indikatoren vor, diezusammengenommen Umrisse der Einstel-lungen zur Gerechtigkeit vermitteln. 10 DasKonzept, das eindeutig auf die persönlichempfundene Gerechtigkeit zugeschnitten ist,wird „persönliche Verteilungsgerechtigkeit“genannt. Diese bezieht sich auf die in vielenUmfragen verwendete Frage: „Im Vergleichdazu, wie andere hier in Deutschland leben:Glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteilerhalten, mehr als ihren gerechten Anteil,etwas weniger oder viel weniger?“

5 Vgl. Wolfgang Merkel/Mirko Krück, Soziale Ge-rechtigkeit und Demokratie: auf der Suche nach demZusammenhang, Bonn 2003.6 Vgl. Frank Nullmeier, Gerechtigkeitsziele des bun-desdeutschen Sozialstaats, in: Leo Montada (Hrsg.),Beschäftigungsziele zwischen Effizienz und Ge-rechtigkeit, Frankfurt/M. 1997.7 Vgl. Irene Becker/Richard Hauser, Soziale Ge-rechtigkeit – ein magisches Viereck, Berlin 2009.8 Vgl. Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Ge-rechtigkeit, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/SteffenMau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeitin modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2004, S. 29–68.

9 Vgl. Friedrich Heer (Hrsg.), Für eine gerechte Welt.Große Dokumente der Menschheit, Darmstadt 2004.10 Die in diesem Zusammenhang relevanten Umfragensind insbesondere: die Allgemeine Bevölkerungsum-frage der Sozialwissenschaften, vgl. Rüdiger Schmitt-Beck u. a. (Hrsg.), Sozialer und politischer Wandel inDeutschland – Analysen mit ALLBUS-Daten aus zweiJahrzehnten, Wiesbaden 2004; die Allensbacher Um-fragen, vgl. E. Noelle-Neumann/R. Köcher (Anm. 4);die Wohlfahrtssurveys, vgl. Wolfgang Zapf, DieWohlfahrtssurveys 1978–1998 und danach, in: IreneBecker u. a. (Hrsg.), Soziale Sicherung in einer dyna-mischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2001, S. 301–321;sowie der Sozialstaatssurvey, vgl. Oliver Nüchter/Ro-land Bieräugel/Wolfgang Glatzer/Alfons Schmidt(Hrsg.), Der Sozialstaat im Urteil der Bevölkerung,Opladen 2009. Interessant sind auch das InternationalSocial Survey Programme und das Sozio-oekonomi-sche Panel.

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Von einer gefühlten Ungerechtigkeit wirdgesprochen, wenn jemand „etwas weniger“oder „viel weniger“ antwortet. Der Anteilderjenigen, die sich ungerecht behandelt füh-len, ist in der „alten Bundesrepublik“ seit1980 leicht gestiegen. Im ökonomischen Kri-senjahr 2008 hat der Anteil gefühlter Unge-rechtigkeit im Westen erstmals die 40 Prozentüberschritten. In Ostdeutschland ist diesesGefühl weit stärker ausgeprägt: Hier glaubenum 1990 über 80 Prozent, nicht den ihnen zu-stehenden Anteil erhalten zu haben; heuteliegt er immerhin noch bei 57 Prozent (Abbil-dung 1).

Diejenigen, die bessere Positionen in derGesellschaft einnehmen, geben häufiger an,ihren Anteil als gerecht zu betrachten. Sowurde bereits in ähnlichen Untersuchungenfestgestellt: „Wie zu erwarten, korreliert dieBeurteilung der (subjektiven) Verteilungsge-rechtigkeit mit verschiedenen Merkmalen dessozio-ökonomischen Status in der Weise, dassder Prozentsatz derjenigen, die glauben, we-niger als den gerechten Anteil zu erhalten,mit höherem Status abnimmt.“ 11 Die Unter-schiede sind besonders groß, wenn die unter-ste Einkommensschicht der höchsten gegen-übergestellt wird. 12 Noch deutlicher wird diediesbezügliche Fragmentierung der deutschenGesellschaft, wenn das Gerechtigkeitsemp-finden nach der wahrgenommenen Lebensla-ge aufgezeigt wird (Abbildung 2).

Betrachtet man die subjektiv wahrgenom-mene Lebenslage in Verbindung mit der per-sönlichen empfundenen Verteilungsgerechtig-keit, dann zeigen sich starke Zusammenhän-ge. Knapp die Hälfte der Bevölkerungbefindet sich nach eigener Wahrnehmung inpositiven Lebensverhältnissen, acht Prozentsehen sich sogar im Spitzenbereich. Unterdem großen Anteil derjenigen, die ihre Lage„teils, teils“ einschätzen, folgen die Bevölke-rungsgruppen, die man als arm und extremarm bezeichnen kann.

Je tiefer die Lebenslage, desto höher ist derAnteil der gefühlten Ungerechtigkeit und desto geringer ist die Lebenszufriedenheit.

Gemessen an den drei Kriterien – wahrge-nommene Lebenslage, gefühlte Ungerechtig-keit und Unzufriedenheit mit dem Leben –ist die deutsche Gesellschaft klar geschichtet.Oben, das heißt in den günstig bewertetenLebenslagen, befinden sich wenige, die mitdem Leben unzufrieden sind und wenige, die

Abbildung 1: Der gerechte Anteil im Leben in Ost-und Westdeutschland 1980 bis 2008

82

63 6355 58 57 57

3627 32 29

35 34 37 40 38 44

0

20

40

60

80

1980 1982 1990 1992 1996 2000 2005 2006 2007 2008

Ost West

Frage: Im Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben,glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr alsIhren gerechten Anteil, etwas weniger oder viel weniger? (Ant-wortkategorien „etwas weniger“ + „viel weniger“ in Prozent).Quellen: Sozialstaatssurvey/Allbus.

Abbildung 2: Persönliche Lebenslage, Lebensunzu-friedenheit und Ungerechtigkeitsempfinden inDeutschland 2008

8 %

48 %

33 %

4 %

7 %

UngerechtigkeitUnzufriedenheit

1 %

3 %

10 %

25 %

46 %

13 %

30 %

63%

80 %

93 %

Persönliche Lebenslage

Die Grafik bildet drei Dimensionen ab:Mitte: Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage – von obennach unten sehr gut (8 %), gut (48 %), teils-teils (33 %), schlecht(7 %) und sehr schlecht (4 %); links: Anteil der Unzufriedenen inProzent (Werte 0 bis 5 auf einer Zufriedenheitsskala von 0 bis10); rechts: Anteil derjenigen in Prozent, die glauben, nicht dengerechten Anteil im Leben zu erhalten.Quelle: Sozialstaatssurvey 2008.

11 Heinz-Herbert Noll/Bernhard Christoph, Akzep-tanz und Legitimität sozialer Ungleichheit. ZumWandel von Einstellungen in West- und Ostdeutsch-land, in: R. Schmitt-Beck u. a. (Anm. 10).12 Vgl. Wolfgang Glatzer u. a., Reichtum im Urteil derBevölkerung, Opladen 2009.

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glauben, nicht den gerechten Anteil im Lebenzu erhalten. Vorteilhafte Aspekte konzentrie-ren sich im oberen Bereich, die nachteiligensind im unteren Bereich gebündelt. Zwar ver-mitteln die Daten den Eindruck, dass die Bes-sergestellten, die ihre Lebenslage als „gut“und „sehr gut“ definieren, in der Überzahlsind. Aber die Mehrfach-Defizite am unterenEnde der subjektiven Schichtung deuten aufein riskantes Spannungspotential hin.

Gefühlte Ungerechtigkeit der Einkom-mens- und Vermögensverteilung

Was die Gründe für eine Beurteilung derwirtschaftlichen Verhältnisse als ungerechtbetrifft, brachten frühere Untersuchungenkeine Überraschungen. Die soziale Ungleich-heit sowie die Unterschiede zwischen Armund Reich stehen bei der Beurteilung der Un-gerechtigkeit der Einkommens- und Vermö-gensverteilung im Vordergrund. Ungleichheitund Ungerechtigkeit sind allem Anscheinnach eng miteinander verbunden und stellendementsprechend am häufigsten den Bezugs-rahmen für die Thematisierung von Unge-rechtigkeit dar: 13 Die subjektiven Befundeaus den vergangenen Jahrzehnten in Deutsch-land bringen zum Ausdruck, dass die Ein-kommens- und Vermögensverteilung über-wiegend als ungerecht wahrgenommen wird.Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede– je nachdem, ob es pauschal um die Einkom-mensverteilung geht, oder differenziert umeinzelne Erwerbseinkommen. 14

Der Anteil „gerechter“ und „ungerechter“Einstellungen schwankt im Laufe der Jahr-zehnte erheblich, wobei langfristig ein An-stieg der Ungerechtigkeitsempfindungen zuverzeichnen ist. Während Allensbacher Um-fragen zufolge 1964 bis 1979 die Menschen inder Mehrheit waren, welche die wirtschafli-chen Verhältnisse in Deutschland als gerechtbeurteilten, sank ab den 1980er Jahren derAnteil der „Gerechtigkeitsurteile“ deutlichunter den der „Ungerechtigkeitsurteile“.Diese Entwicklung erfuhr 2008 eine dramati-sche Zuspitzung: Im ersten Krisenjahr findensich viermal so viele „Ungerechtigkeitsurtei-

le“ wie „Gerechtigkeitsurteile“. Eine Expan-sion des Ungerechtigkeitsgefühls zeichnetsich ab, und es stellt sich die Frage, ob dieserTrend zum Stillstand kommt oder ob er vonder Gesellschaft mehr oder weniger ausgehal-ten wird. 15

Thematisch verwandte Fragen führen zuähnlichen Ergebnissen. Gefragt nach der Wohl-standsverteilung beurteilten 79 Prozent derWestdeutschen im Jahr 2008 diese als ungerecht,unter den Ostdeutschen lag dieser Anteil sogarbei 85 Prozent (Abbildung 3). Auch die Ein-kommensunterschiede werden überwiegend alszu groß empfunden. Die kritische Beurteilungder Einkommens- und Vermögensverteilungdurch die Bevölkerung ist nach den vorliegen-den Befunden in Deutschland weit verbreitetund seit langem vorhanden. Entsprechend fin-det auch die Gleichheitsidee eine erstaunlichpositive Resonanz – wobei auch hier Ost-deutschland, wo die Idee der sozialen Gleich-heit lange Zeit starke ideologische Unterstüt-zung fand, höhere Werte verzeichnet.

Kollektive Ungerechtigkeit

Fragen der kollektiven Gerechtigkeit beziehensich auf das Gerechtigkeitsniveau einer Grup-pe bzw. Gesellschaft, also vor allem darauf, obviel oder wenig Ungerechtigkeit in einer Be-völkerung wahrgenommen wird und wie siesich entwickelt. Dies kann mit „objektiven“Indikatoren gemessen werden oder mit „sub-jektiven“ Indikatoren. Ob das Individuum,das die Beurteilung vornimmt, selbst zu denBetroffenen gehört, ist dabei nebensächlich: Sokann es sich in Umfragen ergeben, dass indivi-duelle Betroffenheit von Ungerechtigkeit unddie Bewertung der kollektiven Gerechtigkeits-lage ganz verschieden ausfallen. 16

In einem objektiven Ranking sozialer Ge-rechtigkeit schneiden die skandinavischenWohlfahrtsstaaten am besten ab, gefolgt vonden kontinentalen und angelsächsischen. Da-nach folgen die ostmitteleuropäischen und diesüdeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Deutsch-land befindet sich – der gefühlten Gerechtig-

13 Vgl. die Beiträge in APuZ, (2005) 37 („Ungleich-heit – Ungerechtigkeit“).14 Vgl. Stefan Liebig/Jürgen Schupp, Leistungs- oderBedarfsgerechtigkeit, in: Soziale Welt, 59 (2008) 1,S. 7–30.

15 So fragen M. Hüther/T. Straubhaar (Anm. 1) von ei-nem liberalen Standpunkt aus: „Warum wir Ungleichheitaushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen.“16 In der Regel ist die Kenntnis, dass es Ungerech-

tigkeiten irgendwo gibt, weiter verbreitet als die Häufig-keit von persönlichen Erfahrungen mit Ungerechtigkeit.

18 APuZ 47/2009

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keit zufolge – am Rande des oberen Drittelszwischen Frankreich und der TschechischenRepublik. 17 Fast die Hälfte der Bundesbürgernimmt demnach an, dass in Deutschland ehermehr Gerechtigkeit herrscht als im übrigenEuropa. 18

Gefragt nach der Wahrnehmung der Ent-wicklung der sozialen Gerechtigkeit inDeutschland, gibt eine Dreiviertelmehrheitder Befragten an, dass es in den Jahren 2005bis 2008 eine Abnahmetendenz der sozialenGerechtigkeit gab (anhand der drei Antwort-kategorien „hat zugenommen“, „hat abge-nommen“ und „ist gleich geblieben“; Abbil-dung 4). Vor zwanzig Jahren gab es die Beur-teilung einer abnehmenden Gerechtigkeitweit weniger häufig: Noch 1987 standen sichpositive und negative Beurteilungen gleichhäufig gegenüber. Eine Zunahme der sozialenGerechtigkeit ist immer nur von Minderhei-ten beobachtet worden, eher noch wurde von„gleich geblieben“ gesprochen. Die Unter-schiedlichkeit der „Gerechtigkeitsurteile“bzw. der Wahrnehmungen von Gerechtigkeitweist erneut darauf hin, wie schwierig es ist,Gerechtigkeit und ihre Entwicklung zu beur-teilen.

Gesellschaftliche Konsequenzengefühlter Ungerechtigkeit

Gerechtigkeit gehört zu den wichtigstenDimensionen einer modernen Gesellschaft.Sie ist etwas, was jede Gesellschaft in ausrei-chendem Maß benötigt, wenn sie dauerhafteinen Wirkungszusammenhang bilden will.„Nur eine mehrheitlich als sozial gerechtempfundene Gesellschaft wird auf Dauer dasnotwendige Potenzial zur Konfliktregelungund gewaltlosen Streitschlichtung zur Verfü-gung stellen können.“ 19 Dabei ist davon aus-zugehen, dass die Reaktionen auf gefühlteUngerechtigkeit uneinheitlich erfolgen. „Er-fahrene Ungerechtigkeiten haben also durch-aus das Potenzial eines ,sozialen Sprengsat-zes‘, allerdings in Ost- und Westdeutschland

nicht in derselben Weise“: 20 Während inWestdeutschland eher Protest und sozialerWandel ausgelöst werden, ist in Ostdeutsch-land eher Verweigerung die Folge.

Unter den sozialwissenschaftlichen Diagno-sen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit inDeutschland ist die These von einem wachsen-den „Gerechtigkeitsdefizit“ bzw. einer zuneh-menden „Gerechtigkeitslücke“, die insbeson-dere von einer steigenden sozialen Ungleich-heit hervorgerufen wird, besonders brisant.Diese These findet in den bisher vorliegendenDaten nicht unbedingt dramatische Unterstüt-zung, es gibt aber deutliche Anzeichen in diese

Abbildung 3: Die gerechte Verteilung des Wohl-stands in Deutschland 1998-2008

79757576718583858592

020406080

100

1998 2005 2006 2007 2008

West Ost

Frage: Was meinen Sie? In welchem Maß ist gerechte Verteilungdes Wohlstands in Deutschland realisiert? (Antwortkategorien„eher nicht realisiert“ + „Überhaupt nicht realisiert“ in Prozent).

Quellen: Sozialstaatssurvey, Wohlfahrtssurvey.

Abbildung 4: Die Entwicklung der sozialen Gerech-tigkeit in Deutschland 1987-2008

58

5 5 5 5

5546

79 77 73 74

12

39

19221917343339

020406080

1987West

1995 2001 2005 2006 2007 2008

Hat zugenommen Hat abgenommen Ist gleich geblieben

Frage: Und jetzt mal ganz allgemein gefragt: Hat die soziale Ge-rechtigkeit bei uns in den letzten drei, vier Jahren zugenommen,abgenommen oder ist sie gleich geblieben? (Angaben in Prozent).

Quellen: Sozialstaatssurvey, Allensbacher Umfragen.

17 Vgl. Wolfgang Merkel, Soziale Gerechtigkeit imOECD-Vergleich, in: S. Empter/R. B. Vehrkamp(Anm. 2), S. 233 ff.18 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher,Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002,München 2002, S. 615.19 Erwin Carigiet u. a. (Hrsg.), Wohlstand durch Ge-rechtigkeit, Zürich 2006, S. 396.

20 Stefan Liebig/Bernd Wegener, Protest und Verwei-gerung. Die Folgen sozialer Ungerechtigkeit inDeutschland, in: Manfred Schmitt/Leo Montada(Hrsg.), Gerechtigkeitserleben im wiedervereinigtenDeutschland, Opladen 1999, S. 288.

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Richtung. 21 Sowohl die persönliche als auchdie kollektive (wahrgenommene) Gerechtig-keit weisen auf unterschiedlichen Niveaus ne-gative Entwicklungstendenzen auf.

Insbesondere die wirtschaftlichen Verhält-nisse werden von vielen Menschen als unge-recht betrachtet. Dennoch wird kaum ein Pro-test oder Widerstand gegen die Ungerechtigkeitder Wohlstandsverteilung zum Ausdruck ge-bracht. Es ist in der Tat erstaunlich, dass diemassive Gerechtigkeitskritik in der Vergangen-heit keine größeren gesellschaftlichen Folgengehabt hat – aber dies ist keine Garantie dafür,dass es auch in der Zukunft so bleibt. Noch istder Sozialstaat eine Instanz, die in besonderenMaße für soziale Gerechtigkeit sorgt, zum Bei-spiel, indem die Armut, die unter Marktbedin-gungen entstehen würde, deutlich verringertwird. Trotz mancher umstrittenen wohlfahrts-staatlichen Reform ist er immer noch in derLage, zur Reduzierung der Armut in einem be-deutsamen Umfang beizutragen. 22

Die Vorstellung, dass ein tiefgreifenderAbbau sozialstaatlicher Einrichtungen vorge-nommen werden könnte, würde mit großerWahrscheinlichkeit zu einer Steigerung derGefühle sozialer Ungerechtigkeit führen. DieBrisanz der aktuellen Entwicklung bestehtdarin, dass sich das Ungerechtigkeitsempfin-den, das gegenwärtig immer noch die Einstel-lungen einer (großen) Minderheit kennzeich-net, zu einer mehrheitlichen Einstellung ver-größern könnte. Dies brächte vermutlichbedrohliche Desintegrationserscheinungen fürden gesellschaftlichen Zusammenhang.

Es gibt ein breites Potential von Reaktio-nen, die auf gefühlte Ungerechtigkeit erfolgenkönnen. Sie reichen von Rückzug, Resignati-on und Verweigerung bis hin zu Empörung,Protest und Widerstand. Es kann sich um le-gale und illegale Verhaltensweisen handeln.Neue Formen der Wohlstandskriminalitätwerden in Einzelfällen sichtbar. KlassischeMechanismen auf dem Weg zum Wohlstand

werden entwertet. Dass Einkommensunter-schiede einen Leistungsanreiz darstellen sol-len, verkehrt sich auch nach der Auffassungrenommierter Wirtschaftswissenschaftler insGegenteil, wenn die hohen Einkommen ex-trem hoch und für die meisten unerreichbarsind. Der Bevölkerung und insbesondere dennachwachsenden Generationen zu vermitteln,dass wir eine gerechte Gesellschaft haben,wird zunehmend schwieriger.

Aus Untersuchungen zur Konfliktwahr-nehmung in Deutschland weiß man, dass derKonflikt zwischen Arm und Reich die größteBedeutung unter den wahrgenommenenKonflikten in Deutschland hat. 23 Die Bun-desrepublik Deutschland ist dem Strukturtypnach eine Wohlstandsgesellschaft mit einembedeutsamen resistenten Armutspotential.Gefühlte Ungerechtigkeit herrscht beischlechten Lebenslagen vor, gefühlte Gerech-tigkeit steht bei guten Lebenslagen im Vor-dergrund. Gleichzeitig sind die meisten Ein-wohner relativ zufrieden, womit erneut aufdie Ambivalenz der wahrgenommenen Le-bensverhältnisse verwiesen wird.

In der griechischen Philosophie hat Platonfestgeschrieben, dass die Grenze des Reich-tums nach oben durch den Faktor 4 markiertwird und darüber hinaus ist der Überschussan den Staat abzugeben. 24 Dafür plädiertheute wohl zu Recht niemand, aber darf mandas Problem ignorieren? Dürfen die Unter-schiede zwischen den Menschen beliebiggroß werden? Müsste nicht begründet wer-den, warum Einkommensrelationen von1:10 000 und Vermögensrelationen von1: 1 000 000 angemessen sein sollen? Die Ant-wort auf die Frage, wann sich die Menschenmit der gefühlten Ungerechtigkeit abfindenund wann sie mit Protestverhalten reagieren,bleibt weiterhin offen.

21 „Die Untersuchung der Frage, welche gesellschaft-lichen Konsequenzen die Erfahrung von Ungerechtig-keit hat, steckt immer noch in den Anfängen.“ AlfredoMärker, Die politische Relevanz von Gerechtigkeits-vorstellungen und Ungerechtigkeitserfahrungen, in:Stefan Liebig/Holger Lengfeld (Hrsg.), Inter-disziplinäre Gerechtigkeitsforschung, Frankfurt/M.2002, S. 284.22 Vgl. OECD-Factbook 2009, S. 287.

23 Vgl. O. Nüchter u. a. (Anm. 10), S. 25.24 Platon (427–347 v. Chr.) wird so zitiert: „DieGrenze des Reichtums für die oberste Klasse, welchenicht überschritten werden darf, soll der vierfache Wertdes Landanteils eines Bürgers sein.“ Zit. nach HolgerStein, Anatomie der Vermögensverteilung, Berlin 2004,S. 13.

20 APuZ 47/2009

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Jürgen Gerhards · Holger Lengfeld

Europäisierungvon Gerechtigkeit

aus Sicht derBürger

Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialerInstitutionen, schrieb der im Jahr 2002

verstorbene Philosoph John Rawls in seiner„Theorie der Gerech-tigkeit“, welche dieDebatte um eine ge-rechte Gestaltung derGesellschaft in denvergangenen dreißigJahren wesentlichmitbestimmt hat. 1

Eine der zentralentheoretischen Prämis-sen von Rawls ist derGrundsatz der Chan-cengleichheit: Jedersoll die gleichenChancen haben, öf-fentliche Ämter undsoziale Positionen inder Gesellschaft ein-zunehmen. Kommt eszur sozialen Un-gleichheit in einer Ge-sellschaft, so wärediese nach Rawls

unter anderem nur dann legitim, wenn die be-gehrten Positionen, aufgrund derer die Men-schen Güter, Lebenschancen und Ansehen er-halten, allen Gesellschaftsmitgliedern offen-stehen. 2 Dazu bedarf es öffentlicherRegelsysteme, die sicherstellen, dass Personenmit gleichen Fähigkeiten und Begabungen diegleichen Positionen auch wirklich erreichenkönnen. Die Organisation dieser Regeln derChancengleichheit liegt in erster Linie beimStaat. Im Bildungssystem soll beispielsweisesichergestellt werden, dass allein die unter-schiedlichen Fähigkeiten und Leistungen derKinder und Jugendlichen über ihren Bil-dungserfolg entscheiden und nicht die Her-kunft aus einer bestimmten Schicht. Auch auf

dem Arbeitsmarkt sollen alle die gleichenChancen auf Zugang zu bestimmten Berufen,Stellungen, Branchen oder Arbeitsmärktenhaben, unabhängig von Alter, Geschlecht, so-zialer oder ethnischer Herkunft oder religiö-ser Überzeugung (Diskriminierungsverbot).

Die Herstellung von Gerechtigkeit durchdie Ermöglichung von Chancengleichheitbezog sich in der Vergangenheit aber meistauf Gleichheit von Chancen innerhalb einesNationalstaats. Materielle Chancengleichheitblieb damit ein partikulares Recht, insofernsie immer nur den Bürgerinnen und Bürgerndes jeweils eigenen Staates vorbehalten war.Angehörige anderer Staaten blieben von ihrausgeschlossen. Im Zuge der europäischen In-tegration ist diese nationalstaatlich begrenzteChancengleichheit jedoch langsam aber stetigaufgebrochen worden. 3 Zentral ist hierbei dieRolle der Europäischen Union (EU). Seitihrer Gründung hat die EU den Zugang zuöffentlichen Ämtern und sozialen Positionenschrittweise europäisiert, indem sie den Bür-gern ihrer Mitgliedstaaten das Recht zuer-kannt hat, in anderen EU-Ländern als demder eigenen Herkunft erwerbstätig zu sein,politische Ämter einzunehmen und öffentli-che Transferleistungen zu beziehen. Wie sichdieser Prozess der Europäisierung von Chan-cengleichheit vollzogen hat, stellen wir imnächsten Abschnitt dar. Im dritten Abschnittfragen wir unter Rückgriff auf neuere Umfra-gestudien, 4 wie die Bürger diese Europäisie-rung des Gerechtigkeitsraums bewerten:

Jurgen GerhardsDr. phil., geb. 1955;

Professor für Soziologie an derFreien Universität Berlin,

Institut für Soziologie,Arbeitsbereich Makrosoziologie,

Garystraße 55, 14195 [email protected]

Holger LengfeldDr. phil., geb. 1970;

Professor für Soziologie an derFernUniversität Hagen,

Lehrgebiet SoziologischeGegenwartsdiagnosen,

Universitätsstraße 11,58084 Hagen.

[email protected]

1 Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge1971; siehe auch Thomas W. Pogge, John Rawls, Mün-chen 1994; Ulrich Steinforth, Gleiche Freiheit. Politi-sche Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin1999; Stefan Liebig/Holger Lengfeld (Hrsg.), Inter-disziplinäre Gerechtigkeitsforschung. Zur Verknüp-fung normativer und empirischer Perspektiven,Frankfurt/M. 2002.2 Ein weiterer zentraler Grundsatz ist das Differenz-prinzip, nachdem Ungleichheiten den am schlechtestenGestellten in einer Gesellschaft am meisten zugutekommen sollen. Vgl. J. Rawls (Anm. 1).3 Vgl. hierzu beispielsweise die Beiträge in MartinHeidenreich (Hrsg.), Die Europäisierung sozialer Un-gleichheit, Frankfurt/M. 2006; Richard Münch, Struk-turwandel der Sozialintegration durch Europäisierung,in: Maurizio Bach (Hrsg.), Die Europäisierung natio-naler Gesellschaften. Sonderheft der Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie, 40 (2000),S. 205–225.4 Vgl. Jürgen Gerhards/Holger Lengfeld, Von der na-tionalen zur europäischen sozialen Sicherheit?, in: Syl-ke Nyssen/Georg Vobruba (Hrsg.), Ökonomie und

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Sprechen sie sich für die Ausweitung derChancengleichheit innerhalb des nationalenTerritoriums auf Bürger anderer EU-Staatenaus oder votieren sie für deren Begrenzungauf die Angehörigen des jeweils eigenen Staa-tes? Im vierten Abschnitt gehen wir auf dieFrage ein, in welchem Maße die Einstellun-gen der Bürger zur europäisierten Chancen-gleichheit auch dann Bestand haben, wenn sieim Zuge der Ausdehnung der Gleichheits-rechte mit persönlichen Einbußen rechnenmüssten.

Von der nationalen zureuropäisierten Chancengleichheit

Ohne Zweifel waren die europäischen Gesell-schaften des späten 19. und des 20. Jahrhun-derts nationalstaatlich verfasste Gesellschaf-ten. Wie der britische Soziologe Thomas H.Marshall gezeigt hat, war der Prozess der Na-tionenbildung einer der wichtigsten Voraus-setzungen für die soziale Integration dieserGesellschaften 5. Marshall legt dar, dass dieHerstellung grundsätzlicher sozialer Gleich-heit unter den Mitgliedern einer national-staatlich verfassten Gesellschaft trotz derAufrechterhaltung von ökonomischer Un-gleichheit zwischen den sozialen Klassenmöglich ist. Als Instrument zur Durchset-zung von sozialer Gleichheit identifiziertMarshall den Staatsbürgerstatus, der aus dreiTeilrechten besteht: zivile Rechte, politischeRechte (vor allem das Wahlrecht) und sozialeRechte (Partizipation an der Wohlstandsent-wicklung und an sozialen Sicherungsleistun-gen). Allerdings beschränkten sich dieseRechte auf die Chancengleichheit aller inner-halb eines Nationalstaats lebenden Bürger.

Auch wenn Marshall seinerzeit ausschließ-lich den Prozess der nationalstaatlichen Inte-gration vor Augen hatte, zeigen sich Paralleli-täten zum Prozess der Europäischen Integra-tion seit Mitte der 1950er Jahre. Diese hat diezuvor nationalstaatlich begrenzte Chancen-gleichheit zumindest formal nachhaltig verän-dert. Die EU garantiert, dass alle Bürger derMitgliedsländer Zugang zu den europäischenArbeitsmärkten und damit zu den jeweiligennationalen sozialen Sicherungssystemen und

zur politischen Partizipation auf kommunalerEbene erhalten. Dabei ist die Idee der europa-weiten Chancengleichheit im Bereich des Ar-beitsmarkts am weitesten fortgeschritten. 6

Die zentrale Rechtsnorm für diese Gleich-heitsrechte ist die „Freizügigkeitsregel fürArbeitnehmer“. Danach haben alle Unions-bürgerinnen und -bürger die Freiheit, injedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu ar-beiten, sich niederzulassen oder Dienstlei-stungen zu erbringen. Diese Regelung um-fasst neben dem eingewanderten Beschäftig-ten auch Ehegatten, Kinder unter 21 Jahrensowie weitere Verwandte, denen der Beschäf-tigte Unterhalt gewährt. Die Freizügigkeits-regel gilt ebenfalls für Selbstständige (Nieder-lassungsrecht). Für die neu beigetretenenLänder wurden Übergangsfristen vereinbart,die aber in einigen Jahren auslaufen werden.

Damit die Unionsbürger ihr Recht aufFreizügigkeit tatsächlich und vollständig nut-zen können, ist die Frage nach deren sozialerSicherung im Falle einer Abwanderung ineinen anderen Mitgliedstaat von erheblicherBedeutung. Ausländische Unionsbürgerhaben bezüglich der Sozialleistungen diesel-ben Rechte und Pflichten wie inländischeUnionsbürger, das heißt, sie erhalten die glei-chen Leistungen zu denselben Bedingungen.Höhe, Umfang, Art und Dauer der Leistun-gen sind abhängig von den im jeweiligenWohnstaat geltenden Gesetzen. Es ist in derRegel nicht möglich, Ansprüche im Wohn-staat geltend zu machen, die sich an den Lei-stungen im Herkunftsland orientieren.Neben Arbeitnehmern, Selbständigen, Beam-ten, Studierenden und Rentnern sind auchnichterwerbstätige Personen, die von ihremRecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen,sozial abgesichert. Derzeit sind folgende Be-reiche der sozialen Sicherheit durch EU-Re-gelungen abgedeckt: Krankheit, Mutterschaft,Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Invalidi-tät, Arbeitslosigkeit, Familienleistungen,Rente und Sterbegeld. 7

Sozialstaat in der Transnationalisierung, Wiesbaden2009, S. 109–131.5 Vgl. Thomas H. Marshall, Class, Citizenship, andSocial Development, Westport 1949/1983.

6 Vgl. für das Folgende Jürgen Gerhards, Free tomove? The acceptance of free movement of labour andnon-discrimination among citizens of Europe, in: Eu-ropean Societies, 10 (2008), S. 121–140; Trevor C.Hartley, The Foundation of European CommunityLaw, Oxford–New York 20035.7 Vgl. Rat der Europäischen Gemeinschaften, Ver-ordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koor-dinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Brüssel

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Schließlich wurde auch ein Teil der politi-schen Rechte europäisiert. Dazu zählenneben der Meinungs- und Versammlungsfrei-heit und der Koalitionsfreiheit das Recht aufdiplomatische oder konsularische Vertretunggegenüber Nicht-EU-Staaten durch den Mit-gliedstaat, in dem sich der Wohnort des EU-Bürgers befindet, das Petitionsrecht gegen-über dem EU-Parlament sowie das Recht zuraktiven und passiven Teilnahme an der Wahlzum Europäischen Parlament. Eine der wich-tigsten Regelungen, die den Wohnstaat be-treffen, ist, dass die EU-Bürger im Mitglied-staat ihres Wohnsitzes an Kommunalwahlenteilnehmen und auch kandidieren dürfen.

Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger

Findet die europäisierte Chancengleichheitaber auch bei den Bürgern Europas Zustim-mung oder bleiben diese weiterhin der natio-nalstaatlich begrenzten Vorstellung vonChancengleichheit verhaftet, die zwischen In-ländern und Ausländern unterscheidet? DieseFrage erhält eine zusätzliche Bedeutung da-durch, dass im Falle einer weit verbreitetenInanspruchnahme der europäisierten Rechtedurch die Unionsbürger der Wettbewerb umÄmter und Positionen in bestimmten Län-dern zunehmen wird. In gleicher Weisekönnte die Zahl der Anspruchsberechtigtenfür öffentliche Transfer- und Sozialleistungenin manchen Mitgliedstaaten steigen. Und impolitischen Bereich könnte in einigen Kom-munen das Wahlverhalten von ethnischen Mi-noritäten für den Wahlausgang ausschlagge-bend werden, was wiederum ethnisch moti-vierte Abwehrreaktionen hervorrufen undvon rechtspopulistischen Parteien politischgenutzt werden könnte.

Zur Frage, ob die Bürger eine Europäisie-rung der Chancengleichheit unterstützen,haben wir 2006 in Deutschland zwei Pilotstu-dien in Form repräsentativer Umfragendurchgeführt, aus denen wir nun einige Er-gebnisse vorstellen. 8 In beiden Umfragen

haben wir die Interviewten gebeten, uns Aus-kunft darüber zu geben, inwiefern sie EU-Ausländern, die nach Deutschland kommenwollen, die gleichen Chancen beim Zugangzum Arbeitsmarkt, beim Bezug von Transfer-leistungen und beim kommunalen (aktivenund passiven) Wahlrecht zubilligen möchten.Dabei haben wir zunächst nach gleichenRechten für EU-Ausländer im Allgemeinengefragt. Zweitens haben wir nach der Chan-cengleichheit für EU-Ausländer aus drei kon-kreten Herkunftsländern gefragt, die stellver-tetend für Ländergruppen stehen: Frankreich(als altes, wohlhabendes EU-Land), Polen(als neues EU-Land mit einigem Abstandzum Wohlstandsniveau der Gründungsstaa-ten der EU) und Türkei (als aktueller Bei-trittskandidat mit deutlichem Wohlstandsab-stand zu den EU-Mitgliedsländern).

a) Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt:Gefragt wurde, ob es gerecht sei, dass „Ar-beitnehmer aus einem anderen Mitgliedslandder EU in Deutschland arbeiten dürfen, auchwenn es für manche Deutsche dann schwieri-ger wird, einen Job zu bekommen“. Die Er-gebnisse sind bemerkenswert (Abbildung):

Abbildung: Akzeptanz der Chancengleichheit inBezug auf . . . (in Prozent)

62,4

82,8

48,7

72,9

84,5

51

62,9

82,5

46,954,3

81,6

42,4

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Zugang zum Arbeitsmarkt* Zugang zu Sozialleistungen** passives Wahlrecht**

für EU-Bürger in Deutschland (allgemein)für französische Arbeitnehmer in Deutschland

für polnische Arbeitnehmer in Deutschlandfür türkische Arbeitnehmer in Deutschland

Quellen: GSOEP-Sondererhebung 2006, N=977; TNS-Infra-test 2006, N=891; eigene Berechnungen, gewichtet. Zustim-mungs- und Ablehnungskategorien wurden jeweils zusammenge-fasst. Rotierende Antwortvorgaben im Fragebogen.

2004, online: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/le-xuriserv.do?uri=oj:l:2004:166:0001:0123:de:pdf (26. 6.2009).8 Es handelt sich um eine Sondererhebung des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) im Jahr 2006 sowie umeine Einschaltung in die vom Umfrageinstitut Infra-test-Dimap durchgeführte „Politikbus“-Befragung. Indiesen Befragungen wurden jeweils rund 1000 Perso-nen über 15 Jahren (SOEP-Sondererhebung) bzw. über

18 Jahren (Infratest-Politikbus) befragt. Für nähereInformationen vgl. Jürgen Gerhards/Holger Lengfeld/Jürgen Schupp, Die Akzeptanz der Chancengleichheitaller europäischen Bürger in Deutschland, in: DIW-Wochenbericht, 3 (2007), S. 37–42; J. Gerhards/H.Lengfeld 2009 (Anm. 4).

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Fast zwei Drittel der Befragten stimmen derChancengleichheit für EU-Ausländer zu.Blickt man auf die nach Herkunft eines Ar-beitnehmers unterscheidenden Fragen, so er-gibt sich ein nach Wohlstandsniveau abge-stuftes Bild: Den französischen Arbeitneh-mern werden häufiger gleiche Chancenzugebilligt als den polnischen Arbeitnehmern(72 bzw. 62 %). Gleiches gilt auch für die tür-kischen Bürger, deren zukünftige Mitglied-schaft in der EU ja nach wie vor umstrittenist. Hier plädieren noch 54 Prozent der Be-fragten für gleiche Chancen. Insgesamt giltdamit, dass die Vorstellung, Bürger aus demeuropäischen Ausland sollten den gleichenZugang zum deutschen Arbeitsmarkt habenwie deutsche Arbeitnehmer, von fast zweiDritteln der Bürger akzeptiert wird. Die Eu-ropäisierung der Arbeitsmärkte, wie sie vonder EU betrieben wurde, findet also bei denBürgern der Bundesrepublik überwiegendZustimmung.

b) Gleicher Zugang zu staatlichen Transferlei-stungen: Gefragt wurde, ob „ausländischeEU-Bürger, die in Deutschland arbeiten, diegleichen Sozialleistungen wie die Deutschenbekommen können sollen“. Hier unterstütz-ten 80 Prozent der Befragten die Idee, dassEU-Ausländer in Deutschland die gleichenRechte auf Sozialleistungen haben wie sieselbst. Weiterhin zeigt sich, dass die Bürgerkaum zwischen den verschiedenen Auslän-dergruppen unterscheiden. Die Zustim-mungsraten für Franzosen, Polen und Türkenliegen sehr nahe beieinander (alle über 80 %).Wenn es um den Zugang zu Sozialleistungengeht, machen die Bürger offensichtlich keinenUnterschied nach dem Wohlstandsniveau desLandes, aus dem die Menschen kommen.

c) Gleicher Zugang zu kommunalpolitischenÄmtern: Schließlich haben wir überprüft, obdie Deutschen anderen EU-Bürgern auch dasgleiche Recht zubilligen, ein politisches Amtauszuüben. Da das EU-Recht neben dem ak-tiven auch das passive Wahlrecht auf kommu-naler Ebene vorsieht, haben wir die Inter-viewten gebeten, uns ihre Meinung zu fol-gender Aussage mitzuteilen: „Ich fände esin Ordnung, wenn ein ausländischer EU-Bürger zum Bürgermeister in meiner Ge-meinde gewählt würde.“ Wie auch in derAbbildung zu sehen ist, sind die Befragtenim Vergleich zu den vorangegangenenRechtsbereichen deutlich zurückhaltender:

Nur noch knapp die Hälfte der Befragtenunterstützt das allgemeine passive Wahlrechtfür EU-Ausländer.

Erneut finden wir die bereits bekannteAbstufung nach nationaler Herkunft wieder,wobei sich die Mehrheit der Befragten fürdas gleiche Recht für französische (51 %),aber nicht für polnische (46 %) und türki-sche (42 %) Bürgermeisterkandidaten aus-spricht. Allerdings muss man diese Befundeim Lichte der Tatsache bewerten, dass dieWahl eines ausländischen Bürgermeisterseine konkrete Einschränkung des politi-schen Rechts auf nationale Selbstbestim-mung darstellt, die im Selbstverständnis vie-ler deutscher Bürger bisher nicht verankertist. Dies scheint insbesondere dann zu gel-ten, wenn der Bürgermeister, wie im Falleder Türkei, einer anderen religiös-kulturel-len Tradition entstammen würde. Insofernist es für uns viel bemerkenswerter, dassdennoch fast die Hälfte der Befragten auchdieses von der EU garantierte, an ein kon-kretes politisches Amt gebundene Recht aufChancengleichheit akzeptiert.

Chancengleichheit unterKostenbedingungen

Die Ergebnisse zeigen, dass die Idee einergrenzüberschreitenden Chancengleichheitvon der Mehrheit der deutschen Bevölkerungoffenbar getragen wird. Einstellungen zu so-zialen Tatbeständen bilden die Haltungen derMenschen jedoch nur teilweise ab. Denn wirwissen nicht, ob und in welchem Ausmaß diein Umfragen geäußerten Wertvorstellungenauch das alltägliche Verhalten der Menschenanleiten. Wenn zum Beispiel ein deutscherUnternehmer zum Ausdruck bringt, dassDeutsche und Polen seiner Auffassung nachdas gleiche Recht haben, in Deutschlandeiner Berufstätigkeit nachzugehen, so wissenwir nicht, ob diese Einstellung auch dazuführt, dass der Befragte in einem Einstel-lungsverfahren deutsche und polnische Be-werber gleich behandeln würde. Und wirwissen auch nicht, ob die Befragten ihrenEinstellungen treu bleiben, wenn ihre Wert-orientierungen in der Realität mit mögli-chen Einschränkungen verbunden sind. An-dere Forschungen haben gezeigt, dass dieWahrscheinlichkeit, dass Personen sich vonihren Werten in konkreten Entscheidungssi-

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tuationen leiten lassen, unter anderem vonden möglichen Kosten einer Situation ab-hängt. 9

Ob die im letzten Abschnitt beschriebenenhohen Zustimmungsraten auch dann Bestandhaben, wenn mit einer europäischen Chan-cengleichheit persönliche Einbußen verbun-den sind, möchten wir am Beispiel der Chan-cengleichheit im Zugang zu Sozialleistungenanalysieren und diskutieren. Dazu haben wirdie Befragten vor eine Entscheidungssituationgestellt: „Stellen Sie sich jetzt bitte folgendefiktive Situation vor: Weil alle in Deutschlandlebenden EU-Bürger das gleiche Kindergeldwie die Deutschen erhalten, sähe sich die Po-litik aus Haushaltsgründen gezwungen, dasKindergeld für alle zu kürzen. Wie stehen Siezu folgenden Vorschlägen?“

� „Ausländische EU-Bürger sollten auchdann das gleiche Kindergeld wie deutscheFamilien bekommen, wenn dadurch dasKindergeld für alle um 20 Euro gekürztwerden müsste.“

� „Ausländische EU-Bürger sollten auchdann das gleiche Kindergeld wie deutscheFamilien bekommen, wenn dadurch dasKindergeld für alle um 100 Euro gekürztwerden müsste.“

Die Befragten sollten nun für jede der bei-den Antwortvorgaben ihre Meinung äußern.Die Ergebnisse sind in der Tabelle wieder-gegeben. Doch blicken wir nochmals auf diebisherigen Ergebnisse zurück (Abbildung):Wir haben gesehen, dass über 80 Prozentder Befragten der Ansicht sind, dass Men-schen aus dem europäischen Ausland diegleichen Rechte auf Sozialleistungen habensollen wie deutsche Bürger. Wie man in derzweiten Spalte der Tabelle (Alle Befragten)sehen kann, sinkt die Unterstützungsrate fürdiesen Gleichheitsgrundsatz aber auf rund66 Prozent, wenn der Zugang zu den So-zialleistungen mit Kosten verbunden ist, indiesem Fall mit einer Reduktion von 20Euro für alle Anspruchsberechtigten. DieZustimmungsraten verringern sich nochmalsauf 48 Prozent, wenn die Erweiterung desKreises der Zugangsberechtigten zu einerAbsenkung des Kindergeldes um 100 Euroführen würde.

Wenn den Befragten klar wird, dass ihregenerellen Überzeugungen mit konkretenFolgekosten verbunden sind, dann weichensie also von ihrer Grundüberzeugung ab.Diese Abweichung ist aber begrenzt. Immer-hin würde noch fast die Hälfte der Befragteneine Reduktion des Kindergeldes um 100Euro akzeptieren. Wie die Tabelle (dritteSpalte) weiterhin zeigt, sind von denjenigen,die sich im Allgemeinen für den gleichen Zu-gang von Deutschen und Europäern zu sozia-len Leistungen aussprechen, auch drei Viertelder Befragten bereit, eine Kürzung des Kin-

Tabelle: Entscheidungsszenario – Chancengleichheit beim Bezug von Sozialleistungenunter der Bedingung der Leistungskürzung (in Prozent)

AlleBefragten

Personen, die Chancengleich-heit beim Sozialleistungsbe-zug generell zustimmen

Personen, die Chancengleich-heit beim Sozialleistungsbe-zug generell ablehnen

Zustimmung zur Chancengleich-heit, auch wenn das Kindergeldum 20 Euro gekürzt wird

66,0 75,8 25,5

Ablehnung der Chancengleichheit,auch wenn das Kindergeldum 20 Euro gekürzt wird

34,0 24,2 74,5

Zustimmung zur Chancengleich-heit, auch wenn das Kindergeldum 100 Euro gekürzt wird

48,7 56,4 16,8

Ablehnung der Chancengleichheit,auch wenn das Kindergeldum 100 Euro gekürzt wird

51,3 43,6 83,2

Quelle: TNS-Infratest 2006, N = 922, eigene Berechnungen, gewichtet. Zustimmungs- und Ablehnungskatego-rien wurden jeweils zusammengefasst.

9 Vgl. am Beispiel des Umweltschutzes AndreasDiekmann/Peter Preisendörfer, Green and Greenback:The Behavioral Effects of Environmental Attitudes inLow-Cost and High-Cost Situations, in: Rationalityand Society, 15 (2003), S. 441–472.

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dergeldes um 20 Euro zu tragen. Im Falleeiner Reduktion des Kindergelds um 100Euro ist von dieser Gruppe immer noch mehrals die Hälfte (56,4 %) für den gleichen Zu-gang von EU-Ausländern zu Sozialleistungenin Deutschland. Diese Befunde deuten daraufhin, dass die Mehrzahl der Bürger am Wertder europäisierten Chancengleichheit auchdann festhalten würde, wenn die Umsetzungdes Gerechtigkeitsprinzips zu persönlichenNachteilen führen würde.

Fazit

Gerechtigkeit, so John Rawls, lässt sich amehesten realisieren, wenn die staatlichen Insti-tutionen die Voraussetzungen für eine Chan-cengleichheit der Bürger schaffen. Da die Ein-flusssphäre des Staates nationalstaatlich be-grenzt war, bezog sich die Realisierung vonChancengleichheit lange Zeit und in ersterLinie auf die Bürgerinnen und Bürger ein unddesselben Nationalstaates. Der europäische In-tegrationsprozess hat diese nationalstaatlichbegrenzte Chancengleichheit in einigen Berei-chen durch eine europäische ersetzt. Diese for-male Erweiterung des Gerechtigkeitsraumswäre aus Sicht von Rawls sicher nur ein ersterSchritt in die Richtung einer realen europä-isierten Chancengleichheit. Denn zu denformalen Gleichheitsrechten müssten Maß-nahmen der EU und der Mitgliedstaatenhinzutreten, um die organisatorischen undsprachlichen Hürden bei der Inanspruchnah-me der Chancengleichheit, die sich den EU-Ausländern im Alltag stellen, zu beseitigen.Die EU hat erste Maßnahmen zum Abbau vonMobilitätsbarrieren ergriffen. So rief sie zumBeispiel das Jahr 2006 zum „Europäischen Jahrder Mobilität der Arbeitnehmer“ aus, initiierteeine transnationale Arbeitsvermittlung(EURES), hat die länderübergreifende Aner-kennung von Berufsabschlüssen geregelt undeine Europäische Krankenversicherungskarteeingeführt.

Anhand von zwei Umfragen haben wir ge-zeigt, dass die Europäisierung von wirtschaft-lichen, politischen und sozialen Rechten inder deutschen Bevölkerung auf recht hoheZustimmung stößt. Mehr als zwei Drittel derBefragten sind der Auffassung, dass europäi-schen Ausländern Zugang zum deutschen Ar-beitsmarkt gewährt werden sollte, auch wenndie Befragten dabei Unterschiede nach dernationalen Herkunft eines EU-Ausländers

machen. Auch die Vorstellung, von einemBürgermeister, der aus einem anderen EU-Land kommt, regiert zu werden, findet runddie Hälfte der Bürger in Ordnung. Für denZugang zu sozialen Transferleistungen liegendie Zustimmungsraten sogar bei über 80 Pro-zent. Zwar sinkt die Akzeptanz der Idee dereuropäischen Chancengleichheit, wenn mitderen Realisierung Kosten verbunden sind,aber fast 50 Prozent der Befragten sind bereit,auch dies zu akzeptieren.

Kann man diese Befunde als Bestätigungder These einer fortgeschrittenen Europäisie-rung der Chancengleichheit lesen? Hiermuss man bei der Deutung etwas vorsichtigsein. Zum einen geben unsere Befragungennur die Lage zu einem Zeitpunkt (im Jahr2006) wieder. Wir wissen daher nicht, inwie-weit die Einstellungen der Bürgerinnen undBürger Schwankungen unterliegen, die zumBeispiel durch Ereignisse wie die Wirt-schaftskrise 2008/2009 ausgelöst werden.Zum anderen zeigen unsere Erhebungen nur,was die deutschen Befragten über die Chan-cengleichheit von EU-Ausländern und vontürkischen Staatsbürgern denken, nicht aber,inwiefern Polen, Franzosen und Türken um-gekehrt ebenfalls überwiegend für die Öff-nung ihrer nationalen Sozialräume plädieren.Erst wenn sich herausstellen sollte, dass eu-ropäisierte Gleichheitsvorstellungen reziprokin allen europäischen Gesellschaften veran-kert sind, hätte man einen Hinweis auf eineVertiefung der gesellschaftlichen IntegrationEuropas auf der Ebene der Bürger. Ob einesolche Wechselseitigkeit vorliegt, kann einevergleichende Umfrage in vier europäischenLändern zeigen, die wir derzeit anstellen,deren Ergebnisse aber erst 2010 bzw. 2011vorliegen werden. 10

10 Vgl. zum Aufbau dieser vergleichenden BefragungJürgen Gerhards/Holger Lengfeld, Zur Legitimität derGleichheit aller Bürger der Europäischen Union – Einekomparative Umfrage. Projektantrag. Hagener Ar-beitsberichte zur Soziologischen Gegenwartsdiagnose(HASG) 2009, online: www.fernuni-hagen.de/sozio-logie/sozIV/online_publikationen.html (6. 10. 2009).Die Ergebnisse einer vergleichenden Vorläuferstudielassen jedoch vermuten, dass die Zustimmungsraten ineinigen Ländern der EU deutlich niedriger ausfallenwerden. Vgl. J. Gerhards (Anm. 6).

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Mike S. Schäfer ·Andreas Schmidt · Teresa Zeckau

Transnationalesoziale

Ungleichheit inden Medien

Die Europäische Union (EU) ist in denvergangenen Jahren enger zusammen-

gewachsen. Politische Regelungen wurdenhomogenisiert und dieMitgliedstaaten zuneh-mend wirtschaftlichintegriert. Zudemzeichnet sich – sicht-bar etwa an der Inten-sivierung grenzüber-schreitenden Aus-tauschs und steigenderberuflicher Mobilität –auch eine Vertiefungder sozialen Integrati-on ab. 1 Angesichtsdieser Vernetzung istdenkbar, dass EU-Bürgerinnen und -Bür-ger auch zunehmenddie Angehörigen ande-rer Mitgliedstaatenwahrnehmen und sichmit ihnen vergleichen.Politisch von besonde-rer Brisanz ist diesbe-

züglich die Frage, ob auch die Lebensverhält-nisse in anderen Ländern zunehmend grenz-überschreitend wahrgenommen werden.Denn die Bürger verschiedener EU-Länderhaben durchaus unterschiedliche Lebens-chancen; die europäischen Länder unterschei-den sich beispielsweise in Bildung, Arbeits-platzsicherheit, Vermögen und Einkommenzum Teil deutlich. 2

Bislang aber verglichen sich, so zumindestdie gängige Annahme der soziologischen Un-gleichheitsforschung, die Menschen vor-nehmlich mit ihren Landsleuten und fühlten

sich auf dieser Basis gegebenenfalls besser-oder schlechtergestellt. 3 Mit der vertieftenEU-Integration könnte es nun aber sein, dasssich dies ändert und die Menschen beginnen,sich auch mit Personen(gruppen) jenseitsihrer Landesgrenzen zu vergleichen – eskönnte zu einer Transnationalisierung sozia-ler Ungleichheit(swahrnehmung) kommen.Wäre dies der Fall, dann könnten die Folgenschwerwiegend sein: Eine Wahrnehmung dernach wie vor recht unterschiedlichen Lebens-verhältnisse innerhalb der EU könnte sich aufdie Lebenszufriedenheit von Bürgern auswir-ken, sie könnte Forderungen nach politi-schem Handeln, etwa nach einer EU-weitenHomogenisierung der Sozialpolitik nach sichziehen und letztlich den sozialen Frieden in-nerhalb der EU gefährden.

Bisher wurden von Sozialwissenschaftlernjedoch vor allem „objektiv“ bestehende Un-terschiede vermessen. Die Frage, ob diese vonden Menschen auch als bedeutsame Ungleich-heiten angesehen und für die Bewertung dereigenen Lebenssituation für relevant gehaltenwerden, ist dagegen kaum aufgegriffen wor-den. 4 Wir haben uns daher eine Analyse die-ser grenzüberschreitenden Wahrnehmungvorgenommen. Dabei haben wir uns auf dieWahrnehmung der Einkommenssituation an-derer Länder beschränkt (inkl. aus Arbeits-

Mike S. SchaferDr. phil., geb. 1976; wissen-schaftlicher Mitarbeiter am

Institut für Soziologie derFreien Universität Berlin,

Garystraße 55, 14195 [email protected]

Andreas SchmidtB. A., geb. 1979; studentischer

Mitarbeiter am Institut fürSoziologie der FU Berlin (s. o.)[email protected]

Teresa ZeckauFH-Diplom, geb. 1982; Studie-rende im Masterstudiengang

„Soziologie – EuropäischeGesellschaften“ der FU Berlin.

[email protected]

1 Vgl. Steffen Mau, Transnationale Vergesellschaftung,Frankfurt/M.–New York 2007; Jochen Roose, Verge-sellschaftung an Europas Binnengrenzen, Wiesbaden2009 (i. E.); Roland Verwiebe, Mobilität innerhalb Eu-ropas, Berlin 2004; als Überblick: Stefan Immerfall,Europa – politisches Einigungswerk und gesellschaft-liche Entwicklung, Wiesbaden 2006.2 Vgl. Stefan Hradil/Stefan Immerfall (Hrsg.), Diewesteuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Op-laden 2007; Steffen Mau/Roland Verwiebe, Die Sozial-struktur Europas, Konstanz 2009.3 Vgl. Martin Heidenreich (Hrsg.), Die Europäisie-rung sozialer Ungleichheit, Frankfurt/M.–New York2006.4 Es gibt allerdings eine nennenswerte Ausnahme: JanDelhey und Ulrich Kohler konnten auf Basis einer re-präsentativen Umfrage zeigen, dass viele Bürgerinnenund Bürger die Lebenssituation in anderen Ländernnicht nur einschätzen können, sondern dass dies –wenn sie es können – auch die Bewertung ihrer eigenenLebenssituation beeinflusst. Allerdings lagen ihnen nurDaten für Deutschland, Ungarn und die Türkei vor, diezwischen 1999 und 2002 erhoben wurden. Vgl. JanDelhey/Ulrich Kohler, From Nationally Bounded toPan-European Inequalities? On the Importance ofForeign Countries as Reference Groups, in: EuropeanSociological Review, (2005) 22, S. 125–140.

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verhältnissen erzieltes Erwerbseinkommen,Besitzeinkommen wie Zinsen oder Dividen-den und Transfereinkommen wie Kindergeldoder Sozialhilfe), weil diese als wichtigste ma-terielle Voraussetzung gesellschaftlicher Teil-habe und als guter Indikator für andere Di-mensionen sozialer Ungleichheit gilt. 5 DieWahrnehmung der Einkommenssituation inden Nachbarländern rekonstruieren wir aufder Basis von Medienberichterstattung undgehen dabei den folgenden Leitfragen nach:

1. Wie intensiv wird die Einkommenssituati-on im Nachbarland (in der Presse) wahr-genommen und mit der Situation im eige-nen Land verglichen?

2. Werden Unterschiede expliziert und (z. B.durch die Beschreibung positiver oder ne-gativer Folgen dieser Unterschiede) für dieSituation im eigenen Land relevant ge-macht?

3. Welche Forderungen werden daraus abge-leitet und an wen sind diese adressiert?

Für die Beantwortung dieser Fragen habenwir die führenden Regionalzeitungen in dreideutschen Grenzregionen untersucht, 6 da an-zunehmen ist, dass die grenzübergreifendeWahrnehmung dort besonders ausgeprägt ist(Abbildung). Da Regionen verglichen wur-den, in denen „objektive“ Einkommensunter-schiede zum jeweiligen Nachbarland und un-terschiedliche Traditionen grenzüberschrei-tenden Austauschs bestehen, dürfte sich eineinstruktive Vielfalt unterschiedlicher Wahr-nehmungen zeigen.

Erstens haben wir die Ostgrenze Bayernszwischen den deutschen LandkreisenFreyung-Grafenau und Regen und den tsche-chischen Verwaltungsbezirken Plzensky krajund Jihocesky kraj anhand der Berichterstat-tung der „Passauer Neuen Presse“ unter-

sucht. 7 Hier finden sich massive Einkom-mensunterschiede: Das Bruttoinlandsprodukt(BIP) pro Kopf liegt auf der deutschen Seitebei 25 921 Euro, auf der tschechischen Seitedagegen nur bei 7147 Euro. 8 Diese Grenzewar zudem lange geschlossen; sie stellte biszum Ende des Kalten Krieges für beide Seiten„das Ende der eigenen Lebenswelt“ dar. 9

Und trotz Tschechiens EU-Beitritt findensich in dieser Region nach wie vor wenigergrenzüberschreitende Kontakte als in anderendeutschen Grenzregionen. 10

Zweitens analysieren wir anhand der „Lau-sitzer Rundschau“ die sächsisch-brandenbur-gische Ostgrenze zwischen den deutschenLandkreisen Spree-Neiße, Bautzen bzw. demNiederschlesischen Oberlausitzkreis sowieden polnischen Verwaltungsbezirken Zielono-górski und Jeleniogórski. Hier ähneln die „ob-jektiven“ Unterschiede zwischen beiden Sei-ten in ihrer Relation denen zwischen Bayernund Tschechien, sie liegen jedoch auf einemniedrigeren absoluten Niveau. Das deutscheBIP liegt in dieser Region bei 18 273 Euro, daspolnische bei 4700 Euro. Der Grenzverkehrdieser Region war und ist dagegen intensiverals an der bayerisch-tschechischen Grenze.Schließlich war die deutsche Seite der Grenzevor 1990 Teil der DDR und gehörte damit wieauch Polen zum Ostblock. Entsprechend gabes schon vor 1989 einen Austausch zwischenbeiden Seiten, der sich seitdem noch etwas in-tensiviert zu haben scheint. 11

Drittens betrachten wir die westdeutscheWestgrenze, genauer: die Landkreise Merzig-

5 Vgl. Carsten G. Ullrich, Soziologie des Wohlfahrts-staates, Frankfurt/M. 2005, S. 161; Ute Volkmann, Le-gitime Ungleichheiten, Wiesbaden 2006, S. 20.6 Für jede der vier untersuchten Zeitungen wurdennach umfassenden Schlagwortsuchen in der Medien-Datenbank WISO alle Artikel des Zeitraums 1998–2007 entnommen, die sich mit Erwerbseinkommen,Besitzeinkommen oder Transfereinkommen be-schäftigten. Insgesamt handelte es sich um 1231 Arti-kel. Von diesen wurden auf Basis der „GroundedTheory“ 373 qualitativ untersucht.

7 Die PNP ist, wie die anderen untersuchten Zeitung-en auch, die auflagenstärkste Zeitung in den unter-suchten Landkreisen.8 Die Daten beziehen sich auf die jeweilige Region, nicht

den gesamten Staat. Erhoben wurde das BIP für das Jahr2002, die Unterschiede sind in anderen Jahren des Un-tersuchungszeitraums ähnlich. Vgl. Eurostat, Struk-turindikatoren 2009, online: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/structural_indicators/indicators/economical_context (15. 4. 2009).9 Michael Weigl/Michaela Zöhrer, Regionale Selbst-verständnisse und gegenseitige Wahrnehmung vonDeutschen und Tschechen, CAP-Analyse 3/2005, S. 4.10 Vgl. Jochen Roose, Vergesellschaftung an EuropasBinnengrenzen, Wiesbaden 2009 (i. E.).11 Vgl. Maria Rutowska, Die regionale Zusammen-arbeit in der deutsch-polnischen Grenzregion in denJahren 1945–1989, in: Helga Schultz/Alan Nothnagle(Hrsg.), Grenze der Hoffnung, Potsdam 1996, S. 42–48.

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Wadern, Saarlouis, Saarbrücken, Trier-Saar-burg, den Saarpfalz-Kreis, den Eifelkreis Bit-burg-Prüm und die kreisfreie Stadt Trier, diean die luxemburgischen Distrikte Grevenma-cher und Diekirch sowie das französischeDépartement Moselle grenzen. Hier untersu-chen wir sowohl die „Saarbrücker Zeitung“als auch den „Trierischen Volksfreund“. Indieser Region liegen die „objektiven“ Unter-schiede anders – das deutsche und das franzö-sische BIP pro Kopf unterscheiden sich kaum(22 985 bzw. 20 400 Euro), während es aufder luxemburgischen Seite der Grenze mit53 800 Euro deutlich höher liegt. Zudem fin-det sich an dieser Grenze schon seit Jahr-zehnten ein intensiver grenzüberschreitenderVerkehr und Austausch, der sich mit dem In-krafttreten des Schengener Abkommens unddurch die Öffnung des EU-Binnenmarktesnoch einmal deutlich verstärkte. 12

Überall wird nach „Drüben“ geschaut

Die Ergebnisse zeigen zunächst einmalgrundlegende Strukturähnlichkeiten in derBerichterstattung aller Grenzregionen. Ers-tens wird die Einkommenssituation auf deranderen Seite der Grenze in allen Regional-zeitungen vergleichsweise oft thematisiert.Im zehnjährigen Untersuchungszeitraum fin-den sich an der Grenze von Bayern zu Tsche-chien 365 einschlägige Artikel, an der sächsi-schen Grenze zu Polen 335 und an der West-grenze zu Frankreich und Luxemburg 530Artikel (verteilt auf zwei Zeitungen). Durch-schnittlich erschien damit in den untersuch-ten Zeitungen etwa alle zwei Wochen ein Ar-tikel, in dem die Einkommenssituation imNachbarland beschrieben wird.

Zweitens ist die Grundperspektive dieserArtikel regionenübergreifend ähnlich: Fastin allen Fällen wird die Situation im Nach-barland nicht nur beschrieben, sondern zu-sätzlich mit der Lage in Deutschland vergli-

chen. Dies gilt für die West-Ost-Konstellati-on (D-CZ) am stärksten, wo 96 Prozent derArtikel vergleichend angelegt sind. Aberauch in der Ost-Ost-Konstellation (D-PL)stellen 87 Prozent der Artikel einen Bezugzu Deutschland her und an der westdeut-schen Westgrenze (D-F-LUX) sind es nochimmer 70 Prozent. In dieser Region findetsich aber öfter als an den Ostgrenzen aucheine Berichterstattung über die Höhe undVerteilung der Einkommen in den Nachbar-ländern, über die französische und luxem-burgische Sozialpolitik sowie dortige Armut,Jugendarbeitslosigkeit und soziale Spannun-gen. Neben diesen strukturellen Ähnlichkei-ten gibt es jedoch auch deutliche inhaltlicheUnterschiede in der Berichterstattung zwi-schen den Regionen.

Nullsummenspiel an derbayerisch-tschechischen Grenze

In der Berichterstattung der „Passauer NeuenPresse“ an der bayerisch-tschechischen Gren-ze steht das Erwerbseinkommen im Mittel-punkt, während Transfereinkommen aus So-zialleistungen so gut wie keine Rolle spielen.Stattdessen wird immer wieder die Höhe dertschechischen und deutschen Erwerbsein-kommen verglichen, das niedrigere Einkom-mensniveau in Tschechien erwähnt – „ein

Abbildung: Übersicht über die analysierten Grenz-regionen

Grafik: www.kiosk-royal.de

12 Vgl. Akademie für Raumforschung und Landes-planung, Grenz-Lagen. Der deutsch-französisch-lu-xemburgische Grenzraum zwischen Eifel und Rhein,Hannover 1999; Peter Moll, Stand und Probleme dergrenzüberschreitenden Zusammenarbeit im RaumSaarland/Lothringen/Luxemburg/westliches Rhein-land-Pfalz, in: Akademie für Raumforschung undLandesplanung (Hrsg.), Grenzübergreifende Raum-planung, Hannover 1992, S. 101–121; Daniela Scher-hag, Europäische Grenzraumforschung, Hannover2008.

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Zehntel des bayerischen Durchschnitts“ 13 –und die Besserstellung deutscher Arbeitneh-mer beschrieben.

Diese Besserstellung wird aber als stark ge-fährdet dargestellt. Das Verhältnis zu denNachbarn wird bis auf wenige Ausnahmenals Nullsummenspiel beschrieben, das heißtals Konkurrenz um Investitionen, Fördergel-der und Arbeitsplätze, bei der die eine Seitestets verliert, wenn die andere gewinnt. Indiesem Spiel sieht sich die deutsche Seite alswahrscheinlicher Verlierer, denn der Wettbe-werb zwischen deutschen und tschechischenArbeitnehmern sei angesichts der „Billiglohn-konkurrenz“ tschechischer „Dumpinglöh-ner“ verzerrt. Bayern drohe „ein massenhaf-ter und langfristiger Zustrom tschechischerBilligarbeitskräfte“, deutsche Arbeitnehmerkönnten „durch Arbeiter aus Polen oderTschechien zu Dumpinglöhnen ersetzt“ unddie „niederbayerischen Betriebe (. . .) durchosteuropäische Billigkonkurrenz an die Wandgedrückt“ werden. In der Baubranche sei da-durch gar „das Ende der gewerblichen Be-schäftigung (in Deutschland, Anm. d. A.) inSicht“. Entlang dieser Deutung wird Tsche-chien beispielsweise vom bayerischen DGB-Vorsitzenden Fritz Schösser als „große Ge-fahr“ beschrieben, und die Erkenntnis, dassdie „Pendler aus Tschechien (. . .) unsere so-zialen Leistungen in Anspruch nehmen“ und„unser Kindergeld in voller Höhe, unser Er-ziehungsgeld“ in Anspruch nehmen könnten,wird als „schockierend“ beschrieben.

Entsprechend identifizieren sich die deut-schen Akteure auch kaum mit der grenzüber-schreitenden Gesamtregion und sind nichtwillens, Solidarität mit den weniger wohlha-benden Nachbarn jenseits der Grenze zuüben. Stattdessen wird die eigene Besserstel-lung nicht hinterfragt, sondern als legitim ge-sehen sowie implizit und teils explizit als er-haltenswert dargestellt.

Vor diesem Hintergrund werden fast aus-schließlich abgrenzende Forderungen gestellt.Ein intensivierter Austausch beider Seitenund eine Öffnung der Grenze werden ten-denziell abgelehnt. So wird zum Beispielschon 2001 „vor einer allzu schnellen Auf-nahme Tschechiens“ in die EU gewarnt, denn

„wo bleiben dann die Einheimischen?“.Nachdem der Beitritt unabänderlich fest-stand, wurden „gesetzliche ,Leitplanken‘, dieLohn-, Sozial- und Steuer-Dumping unter-binden“ und Einschränkungen des grenz-überschreitenden Austauschs für die Zeitnach dem Beitritt gefordert. Die gestellten so-zial- und regionalpolitischen Forderungenzielen nahezu komplett auf die verstärkteFörderung der eigenen Region – eine durchdie Grenzöffnung drohende Anpassung nachunten soll durch politische Intervention ver-mieden werden. Entsprechende Forderungenwerden in erster Linie an die Bundesregie-rung und die bayerische Staatsregierungadressiert, teilweise jedoch auch an die EU.

Ostdeutsch-polnische Grenze:Beginnende Integration?

Die Berichterstattung der „Lausitzer Rund-schau“ an der Grenze von Sachsen zu Polenfällt ähnlich aus, weist aber auch instruktiveAbweichungen auf. Auch hier ist das starkeGefälle im Erwerbseinkommen beider Län-der mit seinen Folgen das zentrale Thema. Sowird zwischen den besserverdienenden Deut-schen und ihren polnischen Nachbarn eine„abgrundtiefe Gehaltskluft“ 14 ausgemachtund über polnische Ärzte berichtet, die inGörlitzer Kliniken „mehr als das zehnfacheihrer bisherigen polnischen Gehälter“ ver-dienten. Und auch in dieser Region wird dar-auf verwiesen, dass dies negative Folgen fürdie deutsche Region habe. So wird zum Bei-spiel beschrieben, dass die „deutsche Fleisch-wirtschaft (. . .) seit der EU-Osterweiterungim Mai vergangenen Jahres rund 26 000 Be-schäftigte an die preiswertere Konkurrenzaus Osteuropa verloren“ habe (2005).

Allerdings kommen hier – im Gegensatzzur bayerisch-tschechischen Grenze – auchandere Stimmen zu Wort. Zum einen wirdwiederholt erwähnt, dass sich die Einkom-men beider Länder mit der Zeit ohnehin„schrittweise angleichen werden“ und inzwi-schen „längst nicht mehr so gravierendeLohnkostenvorteile in Polen“ bestünden wienoch vor einigen Jahren. Zum anderen wer-den teilweise sogar spezifische Vorteile der Si-tuation beschrieben: So habe sich eine in

13 Alle Zitate in diesem Abschnitt: „Passauer NeuePresse“, 1998–2005.

14 Alle Zitate in diesem Abschnitt: „Lausitzer Rund-schau“, 1998–2006.

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Konkurs gegangene Hutfirma dadurch rettenkönnen, dass sie eine „sinnvolle Kooperati-on“ mit polnischen Unternehmen eingegan-gen sei und nun preisgünstiger „im polni-schen Gubin zugeschnitten und genäht“werde. Auch an anderer Stelle wird beschrie-ben, dass „Betriebsstätten in Osteuropa nichtnur keine deutschen Arbeitsplätze kosten,sondern im Gegenteil dabei helfen (könnten),Arbeit in der Lausitz zu erhalten“.

Folgerichtig finden sich auch, wenn mandie in der „Lausitzer Rundschau“ auffindba-ren Forderungen analysiert, Ähnlichkeitenund Unterschiede zur Berichterstattung ander bayerisch-tschechischen Grenze. Ähnlichist, dass auch hier oft Einschränkungen desgrenzüberschreitenden Austauschs gefordertwerden, zum Beispiel ein „Schutz vor Billig-arbeitskräften“, der durch festgelegte „Kon-tingente (. . .) für polnische Arbeiter“ erreichtwerden könne. Auffallend häufig finden sichaber auch Verweise darauf, dass angesichtsähnlicher Problemlagen auf beiden Seiten derGrenze („Am Ostufer der Neiße gibt’s auchkeine Arbeit“) gemeinsame politische und zi-vilgesellschaftliche Partnerschaften sinnvollseien, bei denen beide ihre „Stärken in dieWaagschale“ werfen sollten. So werden diedeutschen und polnischen Städte Forst, Ziel-ona Góra und Zagan gemeinsam als „Kultur-und Wirtschaftsraum der Zukunft“ bezeich-net, und es wird betont, dass es „uns hier inder Lausitz nur dann gut gehen (werde),wenn es auch den Nachbarn jenseits derGrenze gut geht“. Der Grundtenor der hierverlautbarten Forderungen ist also im Ver-gleich zur „Passauer Neuen Presse“ wenigerabgrenzend. Die Beschreibungen grenzüber-schreitender zivilgesellschaftlicher Initiativenlassen eher den Eindruck entstehen, Proble-me seien lösbar – und würden innerhalb derRegion selbst gelöst. Folgerichtig spielt hierdie EU als Adressat von Forderungen keinestarke Rolle, auch an die deutsche Regional-oder Bundespolitik werden nur wenige For-derungen gerichtet.

West-West-Grenze:Grenzüberschreitende Großregion

An der Grenze von Saarland und Rheinland-Pfalz zu Frankreich und Luxemburg sieht dieBerichterstattung noch einmal anders aus.Zunächst einmal finden hier nicht nur die Er-

werbs-, sondern auch die Transfereinkommenwie Renten oder Arbeitslosengeld jenseits derGrenze Aufmerksamkeit. So wird etwa dar-auf verwiesen, dass Franzosen trotz niedrige-rer Einkommen bei Transferzahlungen „bes-ser abgesichert (sind) als Bundesbürger“. 15

Auch an der Grenze zu Luxemburg stehenneben dem hohen luxemburgischen Einkom-mensniveau die Transferzahlungen im Mittel-punkt, die „hoch und besser als in allenNachbarländern“ seien.

An dieser Grenze wird also eine Einkom-mensdivergenz beschrieben, bei der die deut-sche Seite der Grenze nicht besser, sonderngleich oder schlechter gestellt ist. Diese Di-vergenz wird für die deutsche Seite zudemnicht wie in den anderen Regionen dadurchbedeutsam gemacht, dass negative Konse-quenzen beschrieben werden, sondern da-durch, dass die Situation jenseits der Grenzeals Maßstab an die deutsche Situation ange-legt wird. Oft wird das Nachbarland bezüg-lich Erwerbseinkommen oder sozialpoliti-scher Transferleistungen als vorbildhaft dar-gestellt. Auf dieser Basis wird etwa dieForderung deutscher Ärzte nach einer „sattenLohnerhöhung“ damit begründet, „dass ärzt-liches Personal in Deutschland wesentlichschlechter bezahlt werde als in vergleichbarenLändern wie Frankreich“ und es wird proble-matisiert, „dass Pflegekräfte im benachbartenLuxemburg nahezu doppelt soviel verdienenkönnen wie in Deutschland und deshalb inScharen abwandern“.

Die Forderungen, die daraus abgeleitetwerden, sind naturgemäß andere als in denanderen Regionen. Die Offenheit der Grenzewird hier als selbstverständlich akzeptiert, esgibt kein Pendant zu den mehr oder minderausgeprägten Schließungsforderungen an-derswo. Stattdessen werden die bestehendenUnterschiede immer wieder zur Grundlagefür Forderungen nach Gleichbehandlung undsozialpolitischer Homogenisierung. Es wirdbeschrieben und gutgeheißen, wenn sich Ak-teure für Belange beider Seiten einsetzen –zum Beispiel, wenn luxemburgische Gewerk-schaften Grenzgängersektionen einrichten,die für Pendler beider Seiten eintreten odergemeinsame Kundgebungen von Gewerk-schaften aus Frankreich, Luxemburg und

15 Alle Zitate in diesem Abschnitt: „Saarbrücker Zei-tung“ und „Trierischer Volksfreund“, 1999–2005.

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Deutschland unter dem Motto „gemeinsam fürein soziales Europa“ stattfinden. Die Regionwird also deutlich stärker als die anderen beidenals eine gemeinsame, grenzüberschreitendewahrgenommen, in der man Probleme gemein-sam und füreinander angeht. Auf dieser Basiswerden dann recht konkrete sozialpolitischeForderungen formuliert, die vor allem auf dieAngleichung der Sozialsysteme von Deutsch-land, Frankreich und Luxemburg zielen. Hier-für wird stärker als in den anderen Regionenauch die EU in die Pflicht genommen, die sichneben der Wirtschafts- und Währungsunionauch um die soziale Integration kümmern solle,beispielsweise um ein „qualitativ hochwertigeseuropäisches Arbeitsrecht“ und einen „deutlichverstärkte(n) Arbeitnehmerschutz“.

Fazit: Konflikthafte vs.integrierte Wahrnehmung

In den untersuchten Grenzregionen gibt es,dies lässt sich als erstes festhalten, durchauseine grenzüberschreitende Wahrnehmung derEinkommenssituation in den Nachbarlän-dern. 16 Das Thema spielt in den untersuchtenMedien oft eine Rolle und die Wahrnehmungder anderen Seite wird so gut wie immer aufdie deutsche Situation übertragen. Es ist alsozu konstatieren, dass die sozialen Situations-und Problemdefinitionen zumindest in denuntersuchten Grenzregionen nicht mehr reinnationalstaatlich geprägt sind – und es wäreinteressant, durch weitere Studien zu erfah-ren, inwieweit dies auch für grenzfernere Re-gionen oder für andere Aspekte des sozialenLebens neben dem Einkommen gilt.

Über den grundsätzlichen Befund einergrenzüberschreitenden bzw. transnationalenWahrnehmung sozialer Ungleichheit hinauskonnten wir aber auch zeigen, dass sich dieseWahrnehmung in sehr unterschiedlicherWeise ausgestaltet. In der bayerischen Regionwird das niedrige tschechische Einkommens-niveau als „Niedriglohnkonkurrenz“ darge-stellt, was in Deutschland zu Arbeitsplatzver-lusten und Druck auf das Lohnniveau führe.Offene Grenzen werden vorwiegend als eine

Gefahr für deutsche Arbeitnehmer und Un-ternehmen dargestellt, die den Lebensstan-dard auf der deutschen Seite gefährden. Dergrenzüberschreitende Austausch wird dahersehr kritisch gesehen. Diese Argumentations-linie – die sich auch in der untersuchten Re-gion Sachsens und Brandenburgs findet –lässt sich als konflikthafte Wahrnehmung derjeweiligen Nachbarregionen beschreiben.

Schon an der sächsischen Grenze zu Polenund in noch stärkerem Maße an der deutschenWestgrenze findet sich aber eine andere Argu-mentationslinie, die nicht auf die Probleme desAustauschs verweist, sondern mögliche positiveFolgen, Gemeinsamkeiten und grenzüber-schreitende Kooperationsmöglichkeiten be-tont. Die Koexistenz beider Seiten der Grenzewird dabei nicht als Konkurrenz oder Nullsum-menspiel konzipiert, sondern es werden impli-zit, teils gar explizit, beide Seiten als gemeinsa-me Region verstanden, mit der man sich grenz-überschreitend identifizieren könne. DieserBlick auf die andere Seite der Grenze lässt sichals integrierte Wahrnehmung etikettieren.

Über die Ursachen dieser Wahrnehmungenkönnen wir nur spekulieren. Wir haben dievon uns analysierten Grenzregionen nach denvorliegenden „objektiven“ Einkommensunter-schieden und der Offenheit der jeweiligenGrenzregime ausgewählt. Da diese Faktorenteilweise miteinander korrelieren, weitere Ein-flussfaktoren denkbar sind und wir nur dreiRegionen miteinander verglichen haben, ist esschwierig, unsere Ergebnisse klar auf einendieser beiden Faktoren zurückzuführen.

Die Ursachen zu finden, wäre aber höchstbedeutsam, nicht zuletzt aufgrund ihrer politi-schen Brisanz: Sollte beispielsweise die Dauerder Öffnung einer Grenze bzw. des intensivenAustauschs der zentrale Faktor für die Erklä-rung der Wahrnehmung grenzüberschreiten-der Ungleichheit sein, dann dürfte sich imZeitverlauf an allen Grenzen, an denen sich einausgeprägter Grenzverkehr findet, auch eineTransnationalisierung der Wahrnehmungenfinden. Die EU könnte dann – wie es sich ander deutschen Westgrenze bereits zeigt – zu-nehmend unter sozialpolitischen Handlungs-und Regulierungsdruck geraten.16 Auch wenn wir mit Zeitungsberichten letztlich nur

Wahrnehmungsangebote untersucht haben, kann mandoch davon ausgehen, dass sich in der vergleichsweisebasisnahen Regionalberichterstattung die Wahr-nehmungen vieler Bürgerinnen und Bürger wider-spiegeln.

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Max Fuchs

Sozialer Zusam-menhalt und

kulturelle Bildung

Die Geschichte der Moderne ist zugleicheine Geschichte der Kulturkritik der

Moderne. 1 Denn es gab ein Übermaß an Ver-sprechungen, die eineneue politische Ord-nung der Gesellschafteinlösen sollte: „Fort-schritt“ und „Ver-nunft“ waren dieLeitkategorien. Undnatürlich sollte die er-neuerte eine friedlicheund gerechte Gesell-schaft sein. Kern die-ser Versprechungenwar das selbstbewuss-te autonome Indivi-duum, das nunmehrselbst alle Entschei-

dungen über das eigene Leben treffen sollte,gleichgültig ob es sich um politische, reli-giöse, berufliche oder Aspekte der Liebesbe-ziehungen handelte. 2 Auch die Theorie desKapitalismus, so wie sie der Moralphilosoph(!) Adam Smith in Schottland entwickelte,war eine gesellschaftliche Utopie, die auf einfriedliches Zusammenleben in Wohlstandzielte. Doch es herrschte ebenfalls von An-fang an große Skepsis, ob es einer Gesell-schaft von Individuen wirklich möglich ist,ein solches Zusammenleben zu gestalten.Leitformeln einer solchen Skepsis waren etwaEntzweiung, Unbehagen oder Unbehaust-heit. Diese Zweifel sind bis heute geblieben.Wenn es etwa in den 1980er und 1990er Jah-ren einen philosophischen Grundlagenstreitdarüber gegeben hat, ob eher das Individuumoder eher die Gemeinschaft das Ursprüngli-chere bei der Konstitution von Gesellschaftsei – dies ist die berühmte Debatte zwischenKommunitarismus und philosophischem Li-beralismus 3 –, dann betraf dies genau diesesProblem: Wie ist Zusammenhalt (Kohärenz)in einer modernen Gesellschaft möglich, wie

viel ist notwendig, wie kann er hergestelltwerden, wenn er nicht im Selbstlauf entsteht?

Integration ist daher selbst dann ein Themamoderner Gesellschaften, wenn es nicht bloßum die Frage nach der Eingliederung vonMenschen mit Migrationshintergrund geht.Als vor etwa zehn Jahren Wilhelm Heitmeyerzwei Bücher unter den programmatischen Ti-teln „Was hält die Gesellschaft zusammen?“bzw. „Was treibt die Gesellschaft auseinan-der?“ herausgegeben hat, 4 war es sicherlichkein Zufall, dass das Buch über Desintegrati-onsprozesse um die Hälfte dicker war als dasBuch über Zusammenhalt. Und bei genaue-rem Hinsehen befassten sich die Autorenauch dort eher mit Fragen der Desintegration,der Spaltung und Konkurrenz. Bei den ver-bleibenden 180 Seiten wurden dann gemein-same Werte, Solidarität oder Kommunikationals mögliche Medien der Integration betrach-tet. Interessant ist, dass es sich hierbei vor-wiegend um kulturelle Prozesse handelt, alsoum Sinndiskurse und Wertefragen, auch: umindividuelle Kompetenzen, die für die Her-stellung von Zusammenhalt nötig sind.

Damit wären wir bei beidem angelangt: beider Frage nach der nötigen Kompetenzstruk-tur des Einzelnen, also bei einer genuin päda-gogischen Frage, und bei der Rolle der Kulturin diesem Prozess. Und damit sind zugleichdie beiden entscheidenden Horizonte abge-steckt, wenn man kulturelle Bildung in ihrerBedeutung für sozialen Zusammenhang be-trachtet.

Doch was versteht man überhaupt unterkultureller Bildung, die so etwas leistenkönnte? Gibt es entsprechende Erfahrungenund Belege – oder gehört auch dies zu denunerfüllten Versprechungen der Moderneoder den „Versprechungen des Ästheti-schen“? 5 Bevor ich diesen Fragen nachgehe,sei ein Aspekt hervorgehoben, der oben be-reits angedeutet wurde. Gerade in Deutsch-

Max FuchsDr. phil., geb. 1948; Honorarpro-

fessor für Kulturarbeit an derUniversität Duisburg-Essen;

Ehrenvorsitzender der Bundes-vereinigung Kulturelle Jugend-

bildung, Vorsitzender des Insti-tuts für Bildung und Kultur und

Präsident des Deutschen Kultur-rates; Direktor der AkademieRemscheid, Küppelstein 34,

42857 [email protected]

1 Vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kul-turkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München2007.2 Vgl. Max Fuchs, Persönlichkeit und Subjektivität,Opladen 2001.3 Vgl. Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.),Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993.4 Frankfurt/M. 1997.5 Yvonne Ehrenspeck, Versprechungen des Ästhe-tischen, Opladen 1998.

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land hat man sich in der Geschichte sehrschwer damit getan, die Frage nach sozialerund politischer Gestaltung unter dem Begriffder Gesellschaft abzuhandeln. „Gesellschaft“zielte auf einen eher rationalen Zusammen-schluss, auf (auch ökonomische) Interessensowie auf eine Moderne, in der etwa Religionund traditionelle Bindungen nur noch einegeringe Rolle spielen. Im 19. Jahrhundertbrachte man diesen Gesellschaftsdiskurs mitEngland und Frankreich in Verbindung. Da-gegen brachte man in Deutschland die Ideeeiner emotionsgebundenen Gemeinschaft insSpiel und distanzierte sich zugleich von repu-blikanisch-demokratischen Vorstellungen. Eswar die Zeit, in der „Kultur“ eine schicksal-hafte Deutung erhielt, die man der bloß ober-flächlichen „Zivilisation“ der genannten Län-der entgegenhielt. Helmut Plessner hat in sei-ner Analyse der geistigen Grundlagen desFaschismus auch hierin eine wesentliche Ur-sache für die „Verspätung“ Deutschlands undden Faschismus gesehen. 6 Ein sprachlichglänzendes und politisch erschreckendes Do-kument solchen Denkens sind ThomasManns „Betrachtungen eines Unpolitischen“aus dem Jahr 1918. 7 Und hier ist es geradedie deutsche „Kultur“, die zwar als Bindemit-tel innerhalb der Nationen, aber gleichzeitigals Trennungsgrund zwischen den Länderngesehen wird. So viel lässt sich daher bereitsjetzt feststellen: Vorbehaltlich weiterer Klä-rungen des Begriffs der kulturellen Bildunghat er offenbar mit Phänomenen zu tun, beidenen es zumindest strittig ist, ob sie zur In-tegration oder zur Spaltung beitragen.

Was ist kulturelle Bildung?

Der Zusammenhang von Pädagogik und Poli-tik ist nicht neu. Neu ist vielmehr, dass manheute glaubt, beides getrennt voneinander be-handeln zu können. Es gehört zur Traditionder europäischen Geistesgeschichte, die Fragenach der gelingenden politischen Gestaltungdes Gemeinwesens mit der Frage nach dendazu notwendigen individuellen Kompeten-zen zu verbinden. Deshalb lassen sich etwaprofunde Aussagen zur Bildung in bedeuten-den staatstheoretischen Schriften finden.

Zwei Beispiele: Platon befasst sich in denDialogen „Der Staat“ und in den „Gesetzen“immer wieder mit pädagogischen Fragen,wobei als Bildungsmittel Musik undGymnastik eine wichtige Rolle spielen. Über2000 Jahre später schreibt Wilhelm vonHumboldt seine „Ideen zu einem Versuch dieGrenzen der Wirksamkeit des Staates zu be-stimmen“, ein Grundbuch des politischen Li-beralismus, und liefert hierbei die vielleichtbedeutendste Bestimmung des Bildungsbe-griffs: „Der wahre Zweck des Menschen (. . .)ist die höchste und proportionirlichste Bil-dung seiner Kräfte zu einem Ganzen. In die-ser Bildung ist Freiheit die erste und unerläss-liche Bedeutung.“ 8 Die Bildungsgüter, andenen dies geschehen soll, waren neben denalten Sprachen die Künste, hier in völligerÜbereinstimmung mit seinem Freund Fried-rich Schiller. Dieser hatte sein Konzept von„kultureller Bildung“ bereits Anfang der1790er Jahre in seinen „Briefen zur ästheti-schen Erziehung“ ausführlich erläutert. 9

Pädagogik, so ein erstes Zwischenfazit,kann nur in Verbindung mit Politik gedachtwerden. „Bildung“ als einer der Kernbegriffeder Pädagogik enthält bis heute das Hum-boldt’sche Versprechen auf Freiheit undEmanzipation in einer wohlgeordneten Ge-sellschaft. Daran ist gerade angesichts derschlechten PISA-Ergebnisse zu erinnern. Bil-dung kann ein Medium zur Herstellung vonsozialem Zusammenhalt sein. Bildung, so derfranzösische Soziologe Pierre Bourdieu inden 1960er Jahren, ist aber oft genug auch einwirkungsvolles Instrument der Desintegra-tion. 10

Doch was genau ist „Bildung“? Untergrober Vernachlässigung der gerade inDeutschland so reichen Tradition bildungs-philosophischer Erwägungen genügt es hier,Bildung als Lebenskompetenz zu verste-hen. 11 „Bildung“ meint hierbei die individu-elle Disposition, sein Leben selbstständig,sinnerfüllt und kompetent gestalten zu kön-nen. Damit bezieht sich der hier bevorzugte

6 Vgl. Helmut Plessner, Die verspätete Nation. Überdie politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes,Stuttgart 1962. Siehe auch Wolf Lepenies, Kultur undPolitik: deutsche Geschichten, München 2006.7 Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 4, S. 9–589.

8 Studienausgabe (Hrsg. Kurt Müller-Vollmer), Bd. 2,Frankfurt/M. 1971, S. 99 f.9 Vgl. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5,München 1959, S. 570–669.10 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Il-lusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971.11 Vgl. Richard Münchmeier (Hrsg.), Bildung undLebenskompetenz, Opladen 2002.

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Bildungsbegriff zum einen auf das erfüllteLeben in einer Gesellschaft, er erfasst zumanderen alle Dimensionen der Persönlichkeit,also das Denken, Fühlen und Handeln, Werteund Glücksansprüche. „Bildung“ meint danndie von Humboldt bereits angesprochene„proportionirliche Bildung“ aller Kräfte „zueinem Ganzen“. Sie zielt aber auch darauf,den Einzelnen im Umgang mit der Wirt-schaft, der Politik, dem Sozialen und der Kul-tur einer Gesellschaft kompetent zu machen.

Doch was meint dann „kulturelle Bildung“,wenn „Bildung“ bereits auf Kultur bezogenist? Mit diesem Begriff soll offenbar ein beson-derer Akzent auf ein bestimmtes gesellschaftli-ches Feld gelegt werden, auch wenn die ent-sprechenden Kompetenzen und Dispositionenbereits im Bildungsbegriff enthalten sind.Zudem geht möglicherweise nicht jeder voneinem sozial sensiblen Bildungsbegriff aus, sodass der Hinweis darauf, dass eine politische,soziale, ökonomische und kulturelle Hand-lungsfähigkeit zur gebildeten Persönlichkeitgehören, nicht unwichtig ist. 12

In einem ersten Anlauf ist kulturelle Bil-dung ein Sammelbegriff für alle pädagogi-schen Umgangsweisen mit den Künsten, mitden Medien, mit Spiel. Dieser Begriff istoffen für neue Entwicklungen. So werden in-zwischen Zirkuspädagogik oder die Arbeitmit Kindermuseen dazugezählt. Viele sehenin dem Attribut „kulturell“ zudem einen kla-ren Bezug zur „Gesellschaft“. Dabei schwin-gen durchaus verschiedene Kulturbegriffemit: Ein anthropologischer Kulturbegriff, derunter „Kultur“ die Gemachtheit der mensch-lichen Welt (einschließlich des Menschenselbst) versteht; ein soziologischer Kulturbe-griff, der als gesellschaftliches Subsystem dieBereiche der Künste, der Wissenschaften, derSprache und der Religion versteht und auf dieWertebasis einer Gesellschaft zielt; ein ethno-logischer Kulturbegriff, der die Gesamtheitaller Lebensäußerungen einer Gesellschaft er-fasst; und schließlich ein enger Kulturbegriff,der Kultur mit der ästhetischen Kultur undhier vor allem mit den Künsten gleichsetzt.Das einflussreiche Kulturkonzept der UN-ESCO versucht, alle genannten Dimensionenzu integrieren. 13 Hinsichtlich des Konzeptes

der kulturellen Bildung ergeben alle Kultur-konzepte Sinn:

� Der anthropologische Kulturbegriff istquasi die Grundlage einer philosophischenGrundlegung des Bildungsbegriffs: Bildungals subjektive Seite der Kultur, Kultur alsobjektive Seite von Bildung.

� Der ethnologische Kulturbegriff ordnetBildung in die Gesamtheit der Lebensvoll-züge ein.

� Der soziologische Kulturbegriff orientiertdie individuelle Handlungsfähigkeit auf be-stimmte Gesellschaftsfelder (Religion,Künste etc.; „Enkulturation“).

� Der enge Kulturbegriff erfasst den Kernbe-reich der kulturellen Bildung: den produk-tiven Umgang mit den Künsten.

Je nach Verständnis von „Kultur“ ist also diesystematische Verbindung von kulturellerBildung und sozialem Zusammenhalt offen-sichtlich. Vielleicht irritiert der soziale undpolitische Bezug bei den Künsten am meisten.Daher im Folgenden einige Anmerkungendazu.

Wie politisch ist Kunst?

Gerade in Deutschland führt die in der Über-schrift genannte Frage immer wieder zu hefti-gen Debatten. Sehr schnell wird von der „Au-tonomie der Kunst“ gesprochen. Das Pro-blem hierbei ist, dass es vermutlich kaumeinen anderen Topos in der deutschen Spra-che gibt, der in ähnlicher Weise ideologischso aufgeladen ist wie jener von der Kunstau-tonomie. Dass ästhetische Prozesse wesentli-cher Teil der Menschwerdung sind und hier-bei – auch als Motoren der Entwicklung –eine wichtige Rolle gespielt haben, ist unstrit-tig. 14 Die Rede von einer „autonomenKunst“ ergibt daher für den überwiegendenTeil der Weltgeschichte und auch heute nochin dem größten Teil der Welt keinen Sinn.Entwickelt hat ihn Immanuel Kant in seiner„Kritik der Urteilskraft“ (1790). Viele heutenoch verwendete Redewendungen wie„Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ oder das„Gefallen ohne Interesse“ gehen auf ihn zu-12 Vgl. Max Fuchs, Kulturelle Bildung, München

2008.13 Vgl. ders., Kultur macht Sinn, Wiesbaden 2008. 14 Vgl. ders., Mensch und Kultur, Wiesbaden 1998.

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rück, haben sich aber inzwischen diskursivverselbstständigt.

Schiller übernahm diese Grundidee vonKant, wendete sie jedoch gleich ins Politische:Künste seien in der Tat ein Feld, in dem derMensch Freiheit in der Gestaltung erlebenkönne. Sie seien quasi eine Oase, in der manentlastet sei von den Anforderungen des All-tags. Diesen Genuss an Freiheit – zunächstnur in dem abgegrenzten Bereich der Künste– erwecke im Menschen den Wunsch, Frei-heit auch in anderen Gesellschaftsfelderndurchzusetzen. Die Dialektik Schillers be-steht also darin, dass gerade eine zweckfreie„autonome“ Kunst für einen politischenZweck nützlich ist.

Der weitere Verlauf im 19. Jahrhundertwar allerdings frustrierend. Alle Hoffnungenauf eine ähnliche politische Entwicklung wiein anderen Ländern scheiterten spätestens mitder misslungenen Revolution von 1848.Daher suchte sich das (Bildungs-)Bürgertumein anderes Feld der Identitätsentwicklung.So entstand eine reichhaltige Theaterland-schaft, wurden Museen, Konzert- undOpernhäuser gebaut. 15 All dies, was unsheute im Hinblick auf die Finanzierung undErhaltung in der Kulturpolitik umtreibt,kann also nur vor dem Hintergrund der spe-zifischen politischen EntwicklungsgeschichteDeutschlands verstanden werden. Die „auto-nomen Künste“ waren also sowohl bei Schil-ler, dann aber auch in der Realgeschichte allesandere als unpolitisch, wobei sie das eine Malemanzipatorisch, das zweite Mal in konserva-tiver und sogar reaktionärer Weise genutztwurden.

Kulturelle Bildung undsozialer Zusammenhalt heute

Heute muss man davon ausgehen, dass es indem Arbeitsfeld „kulturelle Bildung“ eineganze Reihe von Bezeichnungen gibt, die ne-beneinander verwendet werden, abhängig vonden Traditionen der Anbieter: musische undmusisch-kulturelle Bildung, Soziokultur, äs-thetische und künstlerische Bildung, (Jugend-)Kulturarbeit etc. Gelegentlich werden dabeidurchaus vergleichbare Angebote mit unter-

schiedlichen Begriffen, gelegentlich aber auchsehr verschiedene Praxen mit dem gleichenBegriff bezeichnet. Insgesamt dürfte die ideo-logiekritische Phase der späten 1960er Jahrean keiner Einrichtung wirkungslos vorüberge-gangen sein, so dass eine soziale und oftgenug auch eine politische Dimension vonKulturarbeit mitgedacht wurde. KulturelleBildungsarbeit findet – im Hinblick auf Kin-der und Jugendliche – in zumindest drei Poli-tikbereichen statt: in der Jugend-, der Schul-und Bildungs- und in der Kulturpolitik.

In der Jugendpolitik bilden das Kinder-und Jugendhilfegesetz (KJHG), die entspre-chenden Ausführungsgesetze auf Länderebe-ne und die sich hierauf stützenden Förder-programme die maßgebliche Grundlage. DieBerücksichtigung der sozialen Dimensionund insbesondere des sozialen Zusammen-halts ist eine klare Leitlinie in diesem Feld,die bereits im ersten Paragraphen des KJHGzum Ausdruck kommt: Dort geht es nichtum den isolierten Einzelnen und seine Fähig-keiten, sondern um eine „gemeinschaftsfähigePersönlichkeit“. In der Praxis ist dies in allenKulturprojekten im Kontext der Jugendför-derung auch zu spüren. Dieses Selbstver-ständnis drückt sich etwa in dem „Kompe-tenznachweis Kultur“ der BundesvereinigungKulturelle Kinder- und Jugendbildung aus.Dieser ist ein Bildungspass für nicht-formelleBildung, der unter anderem soziale Kompe-tenzen, die in Kulturprojekten erworbenwurden, erfassen und dann auch bestätigensoll. Grundlage ist ein Konzept von Schlüs-selkompetenzen, wie es ähnlich auch in demProjekt „DeSeCo“ (Definition and Selectionof Key-Competencies) der OECD (Organisa-tion für Economic Cooperation and Deve-lopment; verantwortlich etwa für PISA) erar-beitet wurde und bei dem soziale Kompeten-zen eine wichtige Rolle spielen. 16 Dieklassische Denkfigur, dass das soziale und po-litische Gefüge der Gesellschaft aufs Engstemit einem sozial kompetenten Einzelnen kor-respondiert und eine Stärkung des Einzelnenauch eine entsprechende Wohlordnung derGesellschaft zur Folge hat, tritt in diesen An-sätzen deutlich zutage.

15 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte,München 1998.

16 Vgl. Dominique Rychen, Definition und Auswahlvon Schlüsselkompetenzen, in: Bundesvereinigung Kul-turelle Kinder- und Jugendbildung (Hrsg.), Der Kompe-tenznachweis Kultur, Remscheid 2004, S. 17–22, sowiedie Hompage der Vereinigung (www.bkj.de).

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Auch eine ökonomische Sichtweise gehtin diese Richtung. So hatte die OECD etli-che Jahre die „soziale Kohäsion“ in der Ge-sellschaft auf der Tagesordnung, weil mandavon ausging, dass wirtschaftliches Wachs-tum (das zentrale Ziel der OECD) nur ineiner Gesellschaft ohne größere Spannungengelingen kann. In der Bildungs- und Schul-politik liegt der Fall ähnlich wie in der Ju-gendpolitik. Man möge nur einmal die Prä-ambeln bzw. Zielparagraphen der Schul-oder Weiterbildungsgesetze der Länderlesen, die sich von den Bildungs- und Erzie-hungszielen nicht sonderlich vom KJHGunterscheiden. Auch in der Schulpädagogikwird Schule als spezifischer sozialer Ort ver-standen, oft genug auch in Anschluss an denamerikanischen Philosophen und Demokra-tietheoretiker John Dewey als embrionic so-ciety, wo viel Energie in die Einübung vonRegeln eines gedeihlichen Miteinanders ge-legt wird. Das Problem ist natürlich, dassdies in der Praxis nicht immer gelingt.

In der Kulturpolitik ist es im Grundsatzähnlich. Doch muss man davon ausgehen,dass die seinerzeit von Albrecht Göschelnachgewiesene Abfolge unterschiedlicherVerständnisweisen von Kultur (im Zehnjah-resabstand erfolgt ein Wechsel) auch die Be-ziehung zum Sozialen betrifft. 17 Eine NeueKulturpolitik ist in den späten 1960er undfrühen 1970er Jahren als offensives Kontrast-programm zu einer Kulturpolitik der Traditi-onspflege entstanden. Bei dieser spielte dieFrage des sozialen Zusammenhalts einewichtige Rolle. In Großbritannien bekameine sozial sensible Kulturpolitik in den1990er Jahren durch New Labour einen be-sonderen Schub. Es wurde nicht nur „Kul-tur“ als Motor der gesellschaftlichen undökonomischen Entwicklung entdeckt: socialcohesion wurde sogar zu einem Leitbegriffder Kulturpolitik. Künste und Künstler, diein die Stadtteile gingen, um die Kommunika-tion mit anderen Menschen zu suchen, wur-den gezielt gefördert. Auch Programme wie„Künstler in Schulen“ erlebten aufgrund die-ser gesellschaftspolitischen Zielstellung einenAufschwung (z. B. das Programm „creativepartnerships“, bis vor kurzem Teil des ArtsCouncil England).

Natürlich polarisierte ein solcher Ansatz.Denn es gab und gibt genügend Kulturschaf-fende und -einrichtungen, die sich lieber an der„Autonomie der Kunst“ orientieren wollenund die in dem social-coherence-Programmeine unzulässige Instrumentalisierung vonKunst verstanden. Zudem gab es heftige Zwei-fel am Erfolg dieses Ansatzes. In dieser Situati-on spielten ambitionierte Evaluationsprojekteunter der Leitung von Francois Matarasso eineRolle. 18 Matarasso überprüfte in verschiede-nen Orten und Kontexten mit einem breitenArsenal von Untersuchungsmethoden dieWirksamkeit der sozial orientierten Förder-strategie und bestätigte im Ergebnis 50 Wir-kungsbehauptungen, die alle mit sozialer Ko-häsion zu tun haben. 19 Nach dem Ende derÄra Tony Blair (britischer Premierminister1997 bis 2007) gerät nun auch seine Kulturpo-litik unter Druck, so dass heute viele Expertenmit einer Wende zurück zu einer stärker kunst-bezogenen Förderung rechnen.

Aktuelle Probleme

Es dürfte heute auf der theoretischen Ebeneunstrittig sein, dass es eine deutliche Relationzwischen der Bildung des Einzelnen und dersozialen Ordnung gibt. Auch im Verständnisder meisten Praktiker in diesem Feld hat Kul-turarbeit eine soziale und eine individuelleDimension: Kulturarbeit bedeutet auch so-ziales Lernen. Bei Praxisformen wie Musik,Tanz, Theater, Zirkus, die ohnehin gruppen-förmig ablaufen, wird dies bereits durch dieLogik der Kunstform nahegelegt. Es gibt (wiedargestellt) sogar Erfassungsmöglichkeitenund empirische Belege, dass dies sowohl imHinblick auf den Einzelnen als auch auf dieGruppe und Gesellschaft funktioniert.

Doch gibt es eine Reihe von Wermutstrop-fen. Die Künste und speziell die künstlerischeFörderung von Menschen wirken nicht per sesozial. So lässt sich oft genug dort eine Paral-lele zwischen Leistungssport und Kunst zie-hen, wo es um Wettbewerbe und Leistungs-vergleiche geht. Daher sind viele Pädagogenskeptisch, ob die Arbeitsformen in den profes-sionellen Künsten auch die richtigen Arbeits-formen in der Bildungsarbeit sind. „Kultur“

17 Vgl. Albrecht Göschel, Die Ungleichzeitigkeit inder Kultur, Stuttgart 1991.

18 Vgl. Francois Matarasso, Use or Ornament. TheSocial Impact of Participation, Stroud 1997.19 Die Liste findet sich auch in: Max Fuchs, Kultur-politik, Wiesbaden 2007, S. 66 f.

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insgesamt und speziell die Künste sindzudem nicht ohne weiteres Medien der Inte-gration, sondern sie sind auch Medien derUnterscheidung. Zwar liest oder hört manoft genug, dass etwa die (nicht verbale)Musik universelles Verständigungsmittel querdurch alle Kulturen sei. Dass dies so nichtrichtig ist, lässt sich leicht feststellen. Dabeimuss man sich mit seinem mitteleuropäischgeprägten Ohr noch nicht einmal mit Musik-kulturen anderer Länder auseinandersetzen,es genügt oft genug bei Erwachsenen eineBegegnung mit den Hits ihrer Kinder oderder Nachbarn.

Die Macht der Unterscheidung gilt alsonicht nur zwischen Kulturen aus verschiede-nen Ländern, sondern bereits im eigenenLand. Hier ist erneut an Pierre Bourdieu zuerinnern, der in groß angelegten empirischenStudien gezeigt hat, dass es nicht nur starke äs-thetisch-kulturelle Prägungen unterschiedli-cher Milieus in der Gesellschaft gibt, sonderndass über die jeweiligen ästhetischen Präferen-zen als Teil des Habitus ihrer Träger zugleichwichtige Entscheidungen über die Möglich-keit zu politischer Teilhabe getroffen wer-den. 20 Die Künste trennen also nicht nur, siesind zugleich ein eher verborgenes, aber äuß-erst wirkungsvolles Mittel bei der Erhaltungder sozialen und politischen Struktur der Ge-sellschaft. Bourdieus Konsequenz: Um diesestrukturkonservative Macht der Künste zubrechen, ist es nötig, dass alle Kinder einehohe ästhetische Kompetenz entwickeln(können). Und der zentrale Ort einer solchenKompetenzentwicklung ist die Schule.

Trotz dieser (alten) Erkenntnis, dass manüber Geschmack nicht streiten kann – ebenweil jeder das Recht auf eigene ästhetische Prä-ferenzen hat, funktioniert natürlich Kulturar-beit in der Praxis auch in sozialer Hinsicht. Esgibt die Möglichkeit, Menschen verschiedenerGenerationen, Geschlechter oder Herkunfts-familien miteinander in Kontakt zu bringen.Deshalb spielt Kulturarbeit etwa im interna-tionalen Jugendaustausch eine wichtige Rolle.Weiß man um die trennende Kraft von Kunst,dann lässt sich doch eine Atmosphäre insze-nieren, in der man sich auf Fremdes einlassenkann. Kant und auch Schiller hatten natürlichRecht damit, dass eine handlungsentlastete At-

mosphäre große Bildungswirkungen ermög-licht. Vor diesem Hintergrund ist also der Slo-gan der UNESCO, „Kulturelle Bildung füralle“, gut zu begründen. 21

Doch stellt sich dann gleich die Frage: Wirddieses Ziel erreicht? Erreichen wir mit demKulturangebot alle Bevölkerungsgruppen?Und natürlich heißt die Antwort: Nein. Esgibt nämlich nicht nur das Problem der Bil-dungsungerechtigkeit im allgemeinbildendenSchulwesen, so wie es PISA noch einmal ver-deutlicht hat, es gibt das Problem ungleicherZugangschancen auch in Hinblick auf kultu-relle Teilhabe. Dabei ist zu berücksichtigen,dass man sich hierbei nicht mehr auf der Ebenefreiwilliger Leistungen bewegt, sondern sichvielmehr im Wirkungsbereich verbindlichervölkerrechtlicher Abmachungen befindet, dieein Recht auf Kunst, Spiel und Bildung formu-lieren (u. a. Kinderrechtskonvention, Pakt fürsoziale, ökonomische und kulturelle Entwick-lung, Konvention zur kulturellen Vielfalt). 22

Sozialer Zusammenhalt ist also möglichund kann durch Kulturarbeit gefördert wer-den. Allerdings sind hierbei auch die Poten-ziale zur Unterscheidung und Trennung inRechnung zu stellen. Und es gibt das bislangnur unbefriedigend gelöste Problem gleicherZugangsmöglichkeiten zu Bildung, Kunstund Kultur.

www.nece.eu

The Impact of Cultural and CitizenshipEducation on Social Cohesion

Registration at:www.lab-concepts.de/anmeldung/nece-vilnius/

Conference Programme and Information on other NECE activities are available at: www.nece.eu

Vilnius, Lithuaniathe European Capital of Culture 2009

European Conference

3 - 5 December 2009

20 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede,Frankfurt/M. 1987.

21 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission, KulturelleBildung für alle, Bonn 2008.22 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.),Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen,Bonn 2004.

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APuZNächste Ausgabe 48/2009 · 23. November 2009

Bundeswehr

Hans J. Gießmann · Armin WagnerAuslandseinsätze der Bundeswehr

Klaus NaumannWie strategiefähig ist die deutsche Sicherheitspolitik?

Hans-Joachim ReebDie „neue“ Bundeswehr

Hans-Georg EhrhartInnere Führung und der Wandel des Kriegsbildes

Michael PaulZivil-militärische Interaktion im Auslandseinsatz

Carsten Pietsch · Rüdiger FiebigDie Deutschen und ihre Streitkräfte

Karl-Heinz BiesoldEinsatzbedingte psychische Störungen

Herausgegeben vonder Bundeszentralefür politische BildungAdenauerallee 8653113 Bonn.

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Soziale Gerechtigkeit APuZ 47/2009

Stefan Liebig · Meike May3-8 Dimensionen sozialer Gerechtigkeit

Mit den gesellschaftlichen Bedingungen hat sich auch das Verständnis von sozialerGerechtigkeit gewandelt: In den heutigen globalisierten „Dienstleistungs-“ oder„Wissensgesellschaften“ wird weniger auf die Ergebnisse der Verteilung (Gleich-vs. Ungleichverteilung) als vielmehr auf die Zugangsmöglichkeiten fokussiert.

Frank Nullmeier9-14 Soziale Gerechtigkeit – ein politischer „Kampfbegriff“?

Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg zum Sozial-staatswert schlechthin geworden. Bis heute spielt er in den Parteiprogrammeneine große Rolle. Er ist jedoch mehr als ein bloßer „Kampfbegriff“: Bei den De-batten um ihn geht es letztlich um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft.

Wolfgang Glatzer15-20 Gefühlte (Un)Gerechtigkeit

Die gefühlte Wirklichkeit stellt eine eigenständige Dimension der Realität dar.Von gefühlter Ungerechtigkeit spricht man einerseits, wenn die Menschen ihrepersönlichen Lebensverhältnisse als ungerecht betrachten und andererseits, wenndas kollektive Gerechtigkeitsniveau als unzureichend wahrgenommen wird.

Jürgen Gerhards · Holger Lengfeld21-26 Europäisierung von Gerechtigkeit aus Sicht der Bürger

Die EU hat die nationalstaatlich begrenzte Chancengleichheit in einigen Berei-chen durch eine europäische ersetzt, indem den Bürgern das Recht zuerkanntwurde, in den anderen EU-Ländern erwerbstätig zu sein, politische Ämter ein-zunehmen und am Wohlfahrtsstaat zu partizipieren. Wie stehen die Bürger dazu?

Mike S. Schäfer · Andreas Schmidt · Teresa Zeckau27-32 Transnationale soziale Ungleichheit in den Medien

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Max Fuchs33-38 Sozialer Zusammenhalt und kulturelle Bildung

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