archithese 6.02 - Architekt und Ingenieur / Architecte et ingénieur

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Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture archithese 6 02 Die Ästhetik des Unterzugs Das technische Denken Wechselhaftes Verhältnis unter Baufachleuten Zusammenarbeit in Ausbildung und Praxis Nahtstellen der Disziplinen Aktuelle Bauten von: Kurt Ackermann mit Schlaich Bergermann und Partner Walter Bieler Jürg Conzett smarch mit Conzett, Bronzini, Gartmann Bollinger & Grohmann mit Coop Himmelb(l)au, Peter Cook und Colin Fournier Werner Sobek Yona Friedman Zaha Hadid mit Christian Aste Hubmann und Vass mit Peter Nigst Nicholas Grimshaw mit Antony Hunt Associates Toyo Ito mit Ove Arup Architektur aktuell UN Studio Beat Rothen Architekt und Ingenieur Architecte et ingénieur mit B A U DOC B A U BULLETIN

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Zeitschrift und Schriftenreihe für ArchitekturRevue thématique d’architecture

archithese6 02

archithese 6.02

November/D

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Architekt und Ingenieur –Architecte et ingénieur

Die Ästhetik des Unterzugs

Das technische Denken

Wechselhaftes Verhältnisunter Baufachleuten

Zusammenarbeit in Ausbildung und Praxis

Nahtstellen der Disziplinen

Aktuelle Bauten von:Kurt Ackermann mitSchlaich Bergermann undPartnerWalter BielerJürg Conzettsmarch mit Conzett, Bronzini, GartmannBollinger & Grohmann mitCoop Himmelb(l)au, PeterCook und Colin FournierWerner SobekYona FriedmanZaha Hadid mit ChristianAsteHubmann und Vass mitPeter NigstNicholas Grimshaw mit Antony Hunt AssociatesToyo Ito mit Ove Arup

Architektur aktuell

UN StudioBeat Rothen

Architekt und IngenieurArchitecte et ingénieur

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BAU DOCBAU BULLETINCO

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TISCA Tischhauser + Co. AG � CH-9055 Bühler � 071-791 01 11TIARA Teppichboden AG � CH-9107 Urnäsch � 071-365 62 62

TISCA/TIARA Objektberatung � CH-8021 Zürich � 01-241 97 [email protected] � www.tisca.com

Auswärtiges Amt Berl inTeppiche von TISCA TIARA

Architekt: Prof. H. KollhoffFotograf: Ulrich Schwarz

Leserdienst 106

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Editorial

Architekt und IngenieurIn der Antike waren Architekt und Ingenieur einfache Baumeister – dereine zuständig für die bauliche Gestaltung des friedlichen Alltags, derandere für Kriegsgeräte und -bauten. Die technologische Entwicklung imKriegswesen und insbesondere in der Ballistik führte zu einer beschleu-nigten Differenzierung der beiden Berufe: Während sie sich bis anhin vorallem in den Objekten ihres Interesses unterschieden hatten, entwickel-ten sie zunehmend auch eigene Denkmuster und Entwurfstechniken.Nicht nur zum Nachteil der Baukunst – hervorragende Ingenieurwerkedes 19. Jahrhunderts zeugen davon, welche ungeahnten, auch gestalte-rischen Möglichkeiten eine neuartige Betrachtungsweise eröffnen kann;doch die Scheidung der Disziplinen erschwerte zugleich auch das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit von «Künstler» und«Techniker».Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wird sowohl in der Lehre als

auch in der Praxis immer wieder versucht, diese Entfernung zu über-brücken. Viele als architektonische Ikonen der Moderne gefeierte Bautenwären ohne die Leistung ausgezeichneter Ingenieure nicht entstanden.Nur eine gleichzeitige Erfüllung technischer und gestalterischer Anfor-derungen kann zu Bauten führen, in denen Konstruktion und Entwurfsich zu einer symbiotischen Einheit verdichten. Pier Luigi Nervi hieltgute Ingenieurkunst für eine notwendige, doch nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung guter Architektur.In den letzten Jahrzehnten haben die Digitalisierung des Entwurfs -

prozesses, die Faszination für moderne Technologien und die Entwick-lung neuer Baumaterialien das Verhältnis der beiden Disziplinen erneutbeeinflusst. Ohne die enge Zusammenarbeit von Architekten, Ingenieu-ren und Herstellern könnten die im virtuellen Raum entwickelten, kom-plexen Formvorstellungen nur sehr bedingt in die Realität umgesetztwerden.Aus der Sicht der Architekten hat sich das Bild der Ingenieure in den

letzten hundert Jahren immer wieder grundlegend geändert: helden-hafter Pionier, anregender Partner oder fantasieloser Technokrat? Auchdas Selbstverständnis der Ingenieure blieb nicht unberührt.

archithese 6.02 stellt die Frage nach dem heutigen Verhältnis der bei-den Disziplinen. Denn trotz aller Unterschiede in der Denkweise habendie beiden Be rufe auch einiges gemeinsam: die Technik des Entwerfensnämlich, eine eigenartige Synthese von Analyse und Empirie, die sichauch bei den mathematisch denkenden Ingenieuren nicht restlos auf eine exaktmethodische Herangehensweise reduzieren lässt. Oder, wie esOve Arup seinerzeit formulierte: «Die Kunst besteht darin, Probleme zulösen, die nicht formuliert werden können, bevor sie nicht gelöst sind.Die Suche geht weiter, bis eine Lösung gefunden ist, die als befriedigendbetrachtet werden kann. Es gibt immer viele verschiedene Lösungen, undman sucht die beste – aber es gibt keine beste – nur mehr oder wenigergute.»

Redaktion

Skisprungschanze am Bergisel, InnsbruckArchitektur: Zaha Hadid LTD, LondonTragwerksplanung: Christian Aste, InnsbruckModellaufnahme

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Dass die ästhetische Moderne nach wie vor und unwider-sprochen regiert, erkennt man daran, mit welchem Enthusi-asmus die zwar einprägsame, aber höchst problematische Devise Louis Sullivans «form follows function» überliefertwird. Ihre mitunter bedingungs lose Umsetzung führte, be-ginnend mit dem Neuen Bauen in den Zehner- und Zwanzi-gerjahren, in der Architektur zu einer starken Einschränkungdes Formenkanons und damit auch des Repertoires der Trag-werke. Kubische Bauformen, stab- oder scheibenförmige Trag-glieder bestimmten fast ausschliesslich das Vokabular, das dasIdealbild der sachlichen, industriell gefertigten, modularstrukturierten Architektur vermitteln sollte. Gleichzeitig be-wunderte man die grossen «reinen» Ingenieurbauten, bei de-nen die statisch-konstruktiven Gesetzmässigkeiten angeblichohne ausdrücklichen Gestaltungswillen zwangsläufig zu zeit-loser Schönheit und Expressivität führten. Klarheit und Ehr-lichkeit der Bauform waren höchste Maxime. Die Form folgtder Funktion: Und keiner ist je darauf gekommen, einmalnachzufragen, von welcher Form und, vor allem, von welcherFunktion in diesem Satz denn die Rede sein soll. Dennoch –oder gerade des wegen – dürfte es keine andere Parole geben,in der sich Architekten wie Ingenieure gleichermassen so be-heimatet, ja aufgehoben fühlen.

Misstrauen und SelbstkritikDass endlich zusammenwächst, was zusammengehört: Die-ses Verdikt zum deutschen Mauerfall 1989 wird man indes –ohne Umstände und mit Überzeugung – kaum auf das aktuelle Verhältnis von Architekt und Ingenieur anwendenwollen. Wenn dieser auf jenen guckt, dann mit sardonischerDistanz. Umgekehrt lassen sich die Architekten zumeist auchnicht lumpen, wenn es die Fähigkeiten und Leistungen der benachbarten Profession zu «würdigen» gilt: etwa als «Zah-lenknecht», der über die Berechnung der Biegesteifigkeit dieKomplexität der Entwurfsanforderungen aus den Augen verliert. Solche Zuschreibungen sind recht ernüchternd; gra-vierender ist, dass unter dem Stichwort Baukultur allenfallsder zweite Blick auf die grosse Zahl jener Bauwerke fällt, dieals «Ingenieurbauten» subsummiert werden: Strassen, Eisen-bahnlinien, Starkstromleitungen, Kraftwerke, Müllverbren-nungsanlagen, Kläranlagen, Wasserwerke und Wassertürme,

Fernsehtürme und Sendemasten – und natürlich Brücken. Indiesen Bauwerken steckt ein Investitionsvolumen, das dem inArchitektur und Hochbau zumindest ebenbürtig ist. Sie ste-hen zumeist unübersehbar in der Landschaft und werdendoch kaum wahrgenommen: Das Auge hat sich an ihre Be-langlosigkeit gewöhnt. Das sind «Zweckbauten», lautet diestille Übereinkunft, und es verbietet sich fast, an sie beson-dere Ansprüche zu stellen. Warum eigentlich?Nur wenige Ingenieure stellen sich augenscheinlich diese

Frage mit ähnlich selbstkritischer Distanz wie Jörg Schlaich:«Nehmen wir hier die Brücken stellvertretend für den ge-samten Ingenieurbau, ohne damit die Türme, grossen Dächer,Industriebauten, Flughäfen, Wasserbauten etc. aus dem Augezu verlieren. Die grosse Zahl der heutigen Strassen- und Bahn-brücken ist eher monoton, funktional, vorwiegend lediglicheinem selbst auferlegten technischen und ökonomischenStandard verpflichtet. Weil in Zeiten hoher Löhne und zu bil-lig verschleuderter Ressourcen die plumpe Massenproduktionwohlfeiler ist als der individuelle, geistreiche Entwurf, wur-den Standardplanungen mit einheitlichen Spannweiten undQuerschnitten entwickelt, die höchstens noch bei der Gestal-tung der Pfeiler Spielraum lassen oder ‹bestenfalls› an irre-geführte Architekten zur Dekoration mit peinlichen Kinker-litzchen freigegeben werden. Nein, die Besonderheit einerBrücke ist ihr jeweiliger Ort, den sie selbstbewusst markierenoder respektvoll reflektieren soll. In jedem Fall entwickeltsich ihre Gestalt aus ihrem Wesen, ihrer Funktion, ihremKraftfluss und ihrer Herstellung, über die sie dem interes-sierten Betrachter berichtet, ohne Camouflage und unnötigesBeiwerk. Sie erzählt von der Fortentwicklung der Technik, derFreude am Konstruieren, macht Verbinden bildlich. Jeder verantwortungsbewusste Ingenieur begrüsst den Zwang zurWirtschaftlichkeit als Zuchtmeister im Hinblick auf eine effiziente, schöne und natürliche Konstruktion. Ingenieur-bauten, seien sie technisch oder funktionell noch so perfekt,werden nur durch Kultur zur Zivilisation, sonst bleiben sieTechnokratie, die die Menschen durchs Leben schleust, geist-und wesenlos, wie Hühner in Legebatterien.»1

Die Härte dieses Urteils mag überraschen, wenn man an dieFortschritte gerade beim Brückenbau denkt, etwa an ChrisWilkinsons neue, schwenkbare Fussgängerbrücke über den

Die Ästhetik des UnterzugsTeamwork von Architekt und Ingenieur: Mutmassungen aus dem off Robert Kaltenbrunner

Ingenieure, die ihre kulturelle Verantwortung vernachlässigen, Architekten, die elemen-

tare Gesetze der Statik nicht kennen, Baufachleute, die weder kommunizieren noch

zusammenarbeiten, erweisen der Baukunst nur bescheidene Dienste; doch die kreative

Kooperation, die zu einer Integration von Form und Struktur führen sollte, ist schwer zu

definieren. Ausser dem gegenseitigen Unverständnis und Misstrauen zwischen Architek-

ten und Ingenieuren bedroht vor allem das Streben nach kurzfristiger Gewinnmaximie-

rung im Bauwesen die Daseinsberechtigung beider Disziplinen.

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1–3 Foster & Partners mit BüroHappold, The Great Court, BritishMuseum, London2000

1 Innenansicht

2 Sicht auf TheGreat Court vom Centre PointBuilding aus

3 Lüftungsdia-gramm

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Wie soll man bloss von diesem Monument zu berichten be -ginnen?Der Bergisel, ein Moränenhügel im Süden Innsbrucks, ist

so eingehüllt in Historie und Geschichten, dass man ihn erstwie eine Zwiebel entblättern muss, um das Wesen eines Bergs,eines Begriffs und eines Memorialhügels annähernd freizu-legen.Soll man mit der vaterländischen Geschichte beginnen?Der Berg ist darin das Symbol des Freiheitskampfs, auf dem

der Tiroler Übervater Andreas Hofer 1809 seine Mannen widerNapoleon I. und die französisch-bayerischen Divisionen führ-te. Dieser Mythos Hofer mit seinen Idealisierungen und Hero-isierungen ist seitdem nicht mehr vom Bergisel zu trennen,das Militärische sollte der Berghöhe anhaften bleiben: Siewurde Schiessplatz der Garnison Innsbruck und später Erin-nerungsort an die Gefallenen beider Weltkriege, wurde Eh-renhain der Kaiserjäger, Denkmalgarten und mit ihrer Ter-rassierung und Erschliessung eine prächtige Aussichtsstelleüber der Stadt.Mit dem öffentlichen Café-Restaurant und der Plattform

setzt das neue Schanzenbauwerk das panoramatische Erlebnisdes Bergisel in Szene, eine Qualität, die dem alten Schanzen-turm verwehrt blieb. Der grandiose Aussichtspunkt über Inns -bruck liegt näher als die umgebenden Bergketten und dochhoch genug, um Schönheiten und auch städtebauliche Scheus-slichkeiten offen zu legen, um die Autobahnbänder des Inn-und des Wipptals, die den Berg stetig umfliessen, zu zeigen.

Oder soll man mit den modernen Helden beginnen?In dieser Geschichte ist die Berghöhe ein Schauplatz derSpringerlegenden. Seit den Zwanzigerjahren steht dort eine Schanze, auf der die Sportler im Flug einen einzigartigschaurigen Blick haben, den auf den Wiltener Friedhof. Seit50 Jahren ist der Bergisel Station der Vierschanzen-Tourneeund mit kaum weniger berühmten Namen von Sepp Bradl bis Sven Hannawald verbunden. Die alte Schanzenanlagewurde mit den beiden Olympischen Winterspielen 1964 und1976 erwachsen und zu einem Bauwerk, das bis zur Spren-gung im vergangenen Jahr immer schon markanter Blick-punkt in Innsbrucks Weichbild war. Der Bergisel ist aller-dings nicht nur eine Schanze, sondern auch eine Veranstal-

tungs-Arena in einer landschaftlichen Kuhle, künstlich an-gelegt und doch natürlich wirkend, die den Papstbesuch würdig erlebte oder Herbert Grönemeyer auftreten liess. Zummodernen Heldentum – auch am Bergisel – zählt vielleichtnoch die Geschichte, dass beim Skispringen heute ohnediesnichts mehr ist wie früher, seit das Privatfernsehen aus demspröd-faszinierenden Sport eine muntere Sprungshow mach-te und bislang unbekannte Perspektiven auf den Schirm zau-bert.Verfolgt man die Geschichte der alten oder der neuen Hel-

den, so hat man noch nicht von der wechselvollen Chronolo-gie des Schanzenbauwerks selbst gesprochen. Und auch nichtdie Meinung der Anwohner gehört, die mit den Spektakelnrund um den Turm nicht immer glücklich sind.

Monument der DynamikEs schien, dass dieser Berg und dieser Name an Überhöhun-gen und Mystifikationen nicht mehr zu übertreffen waren,als im Jahr 1999 die Stadt Innsbruck, die damalige Schan-zenbesitzerin, in Handlungsdruck geriet. Die gesamte Anlagemitsamt dem Turm der Olympiade von 1976 (Planer Pra-chensky und Passer) war baulich wie sprungtechnisch mar-ode. Die FIS, die oberste internationale Wintersportbehörde,legt längst Standards für Schanzenprofile fest, die idealeSprung parabeln garantieren; für den Österreichischen Ski-verband (ÖSV) als neuen Schanzenbetreiber galt keine Aus-nahme, sollte der Bergisel weiterhin Tournee-Station sein. DerStadt gelang die Durchsetzung eines eilig durchgeführtenund beschränkt ausgelobten Architekturwettbewerbs. NebenDominique Perrault zum Beispiel, der sich seit längerem imLand engagiert, oder dem Tiroler Altmeister Hubert Pra-chensky bemühten sich noch fünf Planungsteams um Ideenzu einer wahrhaft sportlich-architektonischen Aufgabe. Aberes kam noch unerwarteter: Zaha Hadid erhielt den Zuschlag– sie liess mit einer bekannt elegant gezeichneten, doch auchrealisierbaren Lösung die Mitbewerber hinter sich.Kurz danach holte noch ein Verhängnis die Bergisel-Arena

ein, als dort bei einer Grossveranstaltung fünf junge Mädchenim Ausgangsgedränge zu Tode gedrückt wurden. Die Über-holung der gesamten Anlange war nun nicht mehr aufzu-schieben.

Schauplatz der HeldenZaha Hadid: Sprungschanze am Bergisel, Innsbruck Eva Maria Froschauer

In den Bauten und Projekten der jüngsten Zeit wird deutlich, dass Zaha Hadid von ihrer

gewohnten kristallin-zersplitterten Formensprache Abstand nimmt und sich einer eher

organisch anmutenden Entwurfshaltung nähert. Beispiel dafür ist die Sprungschanze am

Bergisel oberhalb von Innsbruck. Funktionale, ästhetische und konstruktive Aspekte in

Ein klang gebracht zu haben, ist nicht zuletzt ein Verdienst des beteiligten Ingenieurbüros.

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1 Zaha Hadid:Wettbewerbs -modell der Schanze

2 SeitenansichtDas Wettbewerbsmo-dell beschränkte sich auf die architek -tonische Form undblieb hinsichtlich derkonstruktiven Lösungder Anlauframpe unklar. Zunächst waran Stützen gedacht,schliesslich wurde ein Fischbauchträgerals Unterspannung gewählt.(Fotos 2, 4+5: GeraldHuber)

3 Konstruktive Skizze des Schan-zenkopfs

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Das Gemeinschaftswerk von Nicholas Grimshaw & Partnersund Antony Hunt Associates ist nicht zu übersehen: Acht rie-siege, blau schimmernde, teilweise ineinander übergehendeKuppeln schmiegen sich wie riesige Seifenblasen in die be-wegte Topografie einer ehemaligen Kaolingrube in Cornwall.Die so genannten Biome bedecken insgesamt ein 23 000 Qua-dratmeter grosses Areal, wobei sie – ganz gemäss BuckminsterFullers Traum – ein maximales Volumen bei einer minimalenOberfläche umschliessen. Ihre Radien betragen zwischen 18und 65 Meter; der Innenraum misst maximal 55 Meter Höheund 240 Meter Länge und ist stützenfrei.Die Wände der Biome bestehen aus zwei zu einer räum -

lichen Struktur verbundenen Ebenen. Die äussere Ebene istwabenförmig aus gleichseitigen, sechseckigen Modulen miteinem Durchmesser von 5 bis 11 Metern aufgebaut. Jedes Mo-dul ist aus 6 galvanisierten Stahlröhren zusammengesetzt, also aus kleinen, relativ leichten und problemlos transpor-tierbaren Elementen: Dadurch war es möglich, jedes Modulvor Ort zusammenzustellen und mit dem Kran an seine vor-bestimmte Position zu hissen, wo es mit gewöhnlichen Kno-

ten (ebenfalls aus Stahl) an die benachbarten Module befestigtwurde. Die innere Ebene ist mit der gleichen Technik zusam-mengestellt, besteht aber aus gleichseitigen Sechs- und Drei-ecken: Jede Seite eines Sechsecks ist auch die Seite eines Drei-ecks. Die beiden Ebenen liegen so übereinander, dass die Eck-punkte der äusseren Sechsecke über die Mitte der innerenDreiecke zu liegen kommen; die Verbindung der Knoten-punkte durch diagonal angeordnete, runde Hohlprofile bil-det daher Tetraeder, als deren Basis die Dreiecke der innerenEbene fungieren, während die Spitze an die Eckpunkte deräusseren Sechsecke zu liegen kommt. So entsteht ein räumli-ches Fachwerk aus regelmässigen geometrischen Formen undplatonischen Körpern, das trotz seiner Komplexität relativeinfach wirkt und an natürliche Gebilde erinnert.

Digitalisiertes Öko-ParadiesDie Struktur von Eden wurde von den Architekten NicholasGrimshaw & Partners und den Ingenieuren Anthony Hunt Associates in enger Zusammenarbeit entwickelt und stellt eine Verfeinerung einer Idee dar, die bereits bei einem früheren

Himmel auf ErdenNicholas Grimshaw mit Anthony Hunt: Eden Project, Bodelva, 1996 –2001 Simone Korein

Wohl nicht ganz zufällig entstand das Eden Project in England, der Heimat Joseph Pax-

tons: Das in der Nähe der Stadt St. Austell in Cornwall gelegene Gebäude ist das grösste

Gewächshaus der Welt, dient aber wie sein illustrer Vorfahre, der Kristallpalast, in erster

Linie als Ausstellungsraum – in diesem Fall für die Pflanzenvielfalt der Erde. Die riesigen,

ineinander übergehenden Kuppeln sind modular aufgebaut. Das mit Kunststoff-Folie

überzogene, räumliche Fachwerk aus regelmässigen Sechs- und Dreiecken konnte mit

einem minimalen Materialaufwand erstellt werden.

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1 Situationsplan

2 Innenansicht

3 Längsschnitt

4 Aufbau des Fachwerks

5 Ansicht von aussen

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gemeinsamen Projekt, dem Internationalen Terminal der Wa-terloo Station, zur Anwendung gekommen war. Eden entstandvorerst als dreidimensionales, digitales Modell, das laufend vonden am Projekt Beteiligten revidiert und modifiziert wurde.Als Ausstellungsgebäude für die globale Biodiversität ist

das Eden Project auf möglichst ökologische Weise gebaut. Je-des sechseckige Modul ist mit einer dreifachen Schicht trans-parenter Kunststoff-Folie bedeckt, die die Wärme im Innernder Biome zurückhält. Ethylen-Tetra-Fluoro-Ethylen ist für einweites Lichtspektrum durchlässig, widerstandsfähig, antista-tisch und recyclierbar; weil es auch etwa zehn Mal leichter istals eine entsprechende Menge Glas, konnte die Tragstrukturweiter minimiert werden. Die exakte Situierung der Biome in-nerhalb des zur Verfügung stehenden Areals erfolgte unteranderem gemäss energetischen Kriterien: Der gewählte Stan-dort ermöglicht eine optimale passive Nutzung der Sonnen-energie. Das aktive Heizsystem dient lediglich als Ergänzungfür die Feinjustierung des Klimas. Auch Lüftung und Bewäs-serung wurden möglichst sparsam gestaltet; das an den Kup-peln gesammelte Regenwasser wird für die Bewässerung ein-gesetzt. Die entsprechend ausgeklügelte Haustechnik ist einWerk von Ove Arup & Partners.

Ein Heer von BesuchernDie Anlage besteht gegenwärtig aus einer Tropen- und einerTrockenzone, die von je vier Biomen unterschiedlicher Höhegebildet werden – dem Wachstum der Pflanzen entsprechend,

die die einzelnen Raumteile beherbergen. Ein Verbindungs-trakt zwischen den beiden Zonen dient als Eingang des ge-samten Komplexes sowie als Restaurant. Ein Besucher zentrummit lehrreichen Multimedia-Shows sowie einem Souvenir- undPflanzenladen runden das Angebot ab: Das Projekt soll dasVerständnis für die Bedeutung der pflanz lichen Artenvielfaltfördern und ist sehr pädagogisch aufgebaut, ohne jedoch aufÄhnlichkeiten mit einem Erlebnispark zu verzichten.Eden hat insgesamt 86 Millionen Pfund gekostet, für deren

Hälfte die englische Millenniumslotterie aufkam. Es wurdeim März 2001 eröffnet und ist seither ein erstklassiger Publi-kumsrenner. Bis zu 14 000 Besucher pro Tag wurden gezählt;neue Parkplätze mussten in aller Eile bereitgestellt werden,ein halbes Jahr nach der Eröffnung waren es bereits 2000.Jetzt soll die Anlage erweitert werden, wobei die Bausummedie ursprünglichen Erstellungskosten deutlich übersteigt: Geplant sind eine dritte, rund 50 Meter hohe Kuppel mit einer Sandwüste und Kakteen sowie ein Konferenzzentrumund ein 200-Zimmer-Hotel.

Simone Korein ist Architekturkriti-kerin und lebt zurzeit in Paris.

Architekten: Nicholas Grimshaw &Partners, Mitarbeit: Andrew Whal-ley (Leitung), J. Brewis, D. Kirkland(Projektarchitekten), J. Ahmed, V. Bartulovic, D. Boston, C. Brieger, V. Chang, A. Davis, F. Eckhardt, A. Haw, P. Hooper, W. Horgan, O. Kon -

rath, A. Kovacic, Q. Lake, R. Morrell,T. Narey, M. Niggemeyer, M. Pirnie,M. Salman, K. O’Sullivan, D. Penn,M. Pawlyn, J. Porral Hermida, T. Su Ling; Tragwerksplanung:Anthony Hunt Associates; Haustech-nik: Ove Arup & Partners; Land -schafts architektur: Land Use Consul-tants; Auftraggeber: The EdenProject Ltd.

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Als Beitrag zur Diskussion über Gegenwartsarchitektur be-auftragt die Londoner Serpentine Gallery jährlich ein Archi-tekturbüro, für rund drei Sommermonate einen Gartenpavil-lon in den Kensington Gardens zu erstellen. Nach Zaha Hadid(2000) und Daniel Libeskind mit Ove Arup (2001) konnte ToyoIto den dritten Pavillon der Reihe konzipieren, auch er ge-meinsam mit Cecil Balmond von Ove Arup & Partners, der re-gelmässig mit Architekten wie Rem Koolhaas, Daniel Libes-kind und James Stirling zusammenarbeitet.Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die beide sehr be-

wegte Volumen aufwiesen, präsentierte sich der diesjährigeBau als einfacher Quader, auf einem quadratischen Grundrissvon 18 Metern Seitenlänge basierend und mit einer Höhe von4,5 Metern. Seine Komplexität steckte im Aufbau: Hülle undStruktur waren zu einer Einheit verschmolzen, in der sichauch architektonische Kategorien wie Boden, Decke, Wandund Öffnungen auflösten.Äusserlich präsentierte sich der Pavillon als eine raumhal-

tige Hülle, als ein Mosaik flacher Volumen, die entweder alsvolle oder als hohle Körper ausgebildet waren. Ein scheinbarzufälliges Muster sich kreuzender Linien, die sämtliche sechsFlächen des Quaders überzogen, bildete die Grenzen der Mo-saikelemente. Der Verlauf der Linien basierte auf einem vonCecil Balmond und Daniel Bosia von Ove Arup entwickeltenAlgorithmus. Die dadurch definierten dreieckigen und rhom-boiden Flächen lagen entweder in einer Ebene, oder sie wur-den über die Ecken und Kanten des Volumens «gefaltet». Mit Glas oder Aluminium ausgefacht oder einfach leer ge-lassen, bildeten sie offene und geschlossene Bereiche, die als

Ergebnisse eines einzigen spielerischen, mathematischen Verfahrens verschiedene Variationen des gleichen Themas waren.Der Entwurf bestand weitgehend in der Entwicklung eines

Prozesses, von dem das fertige Gebäude ein ausgewähltes Sta-dium darstellte: Der Pavillon war in der Form, in der er reali-siert wurde, einerseits ein materielles Gebilde, andererseitsverkörperte er lediglich eine Option unter vielen – eine theo-retische Relativierung seiner Existenz, die bei einem proviso-rischen Bau nicht unangemessen sein mag. Die Möglich-keit, den Algorithmus beliebig weiterzuführen, verlieh dem Pavillon eine virtuelle Dimension; Toyo Itos langjährige Aus-einandersetzung mit den Aspekten der Offenheit und desFliessens in der Architektur – und insbesondere in öffentli-chen Bauten – wurde hier spürbar. Interessant ist, dass das Ge-bäude in diesem Fall nicht nur für verschiedene Nutzungenund Interpretationen offen war und einen fliessenden Bewe-gungsraum darstellte, sondern durch seine Entstehunggleichsam selbst im Fluss blieb – was nicht zuletzt auch demBeitrag der Ingenieure zu verdanken war.Die statische Stabilität gewährleistete ein Fachwerk von

klingenartigen, flachen Stahlstäben. Die Konstruktion des Pa-villons erforderte eine enge Zusammenarbeit mit den Stahl-herstellern (Hare Ltd.): Um die Präzision der Aus fachungen zugarantieren, wurden in den Berechnungen auch die Verfor-mungen berücksichtigt, die während des Aufbaus durch dasSchweissen entstehen würden: das Gewicht der Paneele desDaches beträgt 5 bis 10 Tonnen, das grösste Wandelementmisst 20 auf 4,5 Meter.

Flächen für KörperToyo Ito mit Ove Arup & Partners: Serpentine Gallery Pavilion, London, 2002 Simone Korein

Ein Gebäude als Verkörperung einer Option unter vielen, Öffnungen und geschlossene

Flächen als Variationen eines Themas, Architektur als Zwischenstadium eines theoretisch

unendlichen mathematischen Algorithmus: Der diesjährige Serpentine Gallery Pavilion

hätte ohne die Zusammenarbeit des Architekten Toyo Ito und des Ingenieurs Cecil Bal-

mond von Ove Arup & Partners weder gedacht noch realisiert werden können. Gebaut

wurde der Pavillon als verkleidetes Fachwerk aus Stahl – also in einer Technik, die im Ver-

gleich mit dem theoretischen Überbau eher bodenständig anmutet.

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1 AxonometrieA: Äussere Ober-fläche: Doppelvergla-sungB: Äussere Ober-fläche: Alumi nium-PaneeleC: Struktur: Fachwerkvon stählernen Flach -profilenD: Innere Oberfläche:Aluminium-PaneeleE: InnenraumF: Innere Oberfläche:Aluminium-Paneele

G: Struktur: Fachwerkvon stählernen Flach -profilenH: Äussere Ober-fläche: Alumi nium-PaneeleI: Äussere Oberfläche:DoppelverglasungJ: Boden: Sperrholz,RasenK: Fundation: Stahl-gitter, Holzunterzüge

2 Aussenansicht

3 Innenansicht

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Architektur aktuellBeat Rothen: Einfamilienhaus am Hammerweg, Winterthur, 2000 –2002

Bewohnter MetallquaderDas zweite Einfamilienhaus von Beat Rothen steht in einem gewöhnlichen Wohnquartier

in Oberwinterthur. Ganz in Metall gehüllt, grenzt sich der Neubau durch seine strenge und

einfache kubische Gestalt von den Ein- und Mehrfamilienhäusern der Nachbarschaft ab,

sucht aber gerade in seiner Radikalität auch eine Verbindung zu ihnen. Ein präzise und

sorgfältig formulierter Beitrag zum Bau von Privathäusern.

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Das Einfamilienhausquartier am Fuss des Lindberges in Oberwinterthur, als Wohngebiet in den letzten Jahr-zehnten entstanden, sieht aus wie viele andere hier -zulande auch: Es konkurrieren dunkle Holz- mit glat-ten Putzfassaden, es stehen Steil- neben vereinzeltenFlach dächern. Eine Ansammlung gut schweizerischenDurchschnitts, was die architektonische Gestaltung betrifft; als hätte sich der individuelle Wohnstil nachaussen gekehrt. Mehr oder weniger zusammenge -halten wird das heterogene Quartier durch die längszum Hang verlaufenden Erschliessungsstrassen, dieAus rich tung der einzelnen Parzellen und das gross -zügig vorhandene Grün, welches das Gebiet durch-setzt. Ver einzelt ist ein Grundstück noch unbebaut und

bietet Weidefläche für Schafe. Zuoberst am Hang, imÜbergang zur unbebauten Zone, führt ein Spazierwegzu einem beliebten Aussichtspunkt von Oberwin-terthur. Von hier fällt der Blick über die kleinteiligenWohngebiete hinunter zur Stadt mit ihren zum Teil

gross flächigen Industriestrukturen und schweift – beischönem Wetter – in die Ferne, bis hin zu den Alpen.

Aufgebrochene StrengeWie eine riesige Dachlukarne steht das von Beat Ro-then dieses Jahr fertig gestellte Haus inmitten der an-deren Privathäuser an der Ecke Hammerweg/Kurli-strasse, grenzt sich ab und sucht doch Verbindung. Derkompakte Baukörper, vollständig mit vorbewittertemKupfer-Titan-Zink-Blech eingekleidet, scheint förmlichaus der Neigung des Hangs heraus zu wachsen. Beinäherem Hinsehen bestätigt die Art, wie der Übergangvom Volumen zum Terrain gelöst wurde, diesen Ein-druck: Eine grabenartige Vertiefung umgibt den Qua-der, die Metallverkleidung läuft bis unter das Terrain –gleichsam ein nach innen gestülpter Sockel.Zwar ist die Wahl des Materials für den Ort unge-

wöhnlich, doch in seiner Verarbeitung mit den unter-schiedlich hoch ausgebildeten Stehfälzen reagiert esauf schon vorgefundene Elemente wie Dachlukarnen

1 Ansicht von Sü-den: Die speziellfür dieses GebäudeentwickeltenSchiebe-Falt-Lädenbrechen die for -male Strenge desBaukörpers auf.

2 Situation

3 Ansicht von Norden: Die weit-gehend geschlosse-ne Fassade weisteinzelne horizonta-le Schlitze auf.

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