Archivar 2007-2

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 109 In eigener Sache ................................................................. 111 Massenentsäuerung im Landesarchiv Nordrhein- Westfalen – Erfahrungen mit dem Neschen-Verfahren. Von Marcus Stumpf ........................................................ 112 Massenentsäuerung: Möglichkeiten und Grenzen. Von Ralf Stremmel .......................................................... 119 Das Archivierungsmodell Finanzverwaltung des Lan- desarchivs Nordrhein-Westfalen. Von Martin Früh .. 128 Historische Bildungsarbeit – Öffentlichkeitsarbeit. Eine theoretische Annäherung. Von Jens Murken .... 131 Ein halbes Jahr im Norwegischen Reichsarchiv. Von Marcus Liebold ............................................................... 136 Archivtheorie und -praxis Archive und Bestände: „Akten parken“. Archivieren – Dokumentieren – Präsentieren. Umstrukturierung des Parkhauses West der Pädagogischen Hochschule zum Verbundarchiv Freiburg. Projekt des Instituts für Bau- gestaltung, Baukonstruktion und Entwerfen I der Uni- versität Karlsruhe (K. Hochstuhl): 140. – 100 Jahre Stif- tung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA) (1906-2006) (J. Weise): 140. – Haupt- staatsarchiv Düsseldorf erwirbt die Sammlung Stachelscheid (A. Faust): 142. – Neue Dokumente zur Studentenzeit Thomas Dehlers (1897-1967) (C. Kap- ser): 142. – Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart gibt kriegsbedingt verlagertes Archivgut zurück. Eine Ablassurkunde aus Litauen befindet sich wieder an ihrem Ursprungsort (N. Bickhoff/A. Metz): 143. Archivierung, Bewertung und Erschließung: Benutzer- freundlich – rationell – standardisiert. Aktuelle Anfor- derungen an archivische Erschließung und Findmit- tel. 11. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg (H. Berwinkel/R. Wartenberg): 144. – Die Klassifizierung von Karten, Bauplänen, Bildern in Archiven, ein Bericht aus dem Landes- hauptarchiv in Schwerin (E. Krügener): 147. EDV und Neue Medien: Landesarchiv Baden-Württem- berg diskutiert erste Ergebnisse zur Archivierung elektronischer Unterlagen (C. Rehm): 149. – Landes- archiv NRW Personenstandsarchiv Brühl: Auf dem Weg zum digitalen Lesesaal (C. Reinicke): 150. Benutzung, Öffentlichkeitsarbeit und Forschung: Der schwierige Weg der Archivpädagogik in den neuen Ländern – ein Werkstattbericht aus dem Staatsarchiv Leipzig (H.-C. Herrmann): 151. – Open Access zu Kir- chenbüchern? Studientag des Verbandes kirchlicher Archive (C. M. Raddatz): 154. – Ausstellung Thomas Kleynen: Ar-schiefe, Fotografien zum Archivfinder des Kreises Siegen-Wittgenstein. Oder: Warum gerade Archive und nicht schiefe Geraden? (R. Riedesel): 154. – Ochsenkopf und Meerjungfrau: Wasserzeichen des Mittelalters im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (P. Rückert): 155. – Im Takt der Zeit – 150 Jahre Stutt- garter Musikhochschule. Ausstellung des Haupt- staatsarchivs Stuttgart vom 15. April bis 31. Juli 2007 (N. Bickhoff): 156. Aus- und Fortbildung, berufsständische Angelegenheiten: 15. Fortbildungsseminar der Bundeskonferenz der Kommunalarchive 2006 in Fulda (K. Tiemann): 157. Fachverbände, Ausschüsse, Tagungen: Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte und sein Stellenwert in der Archivlandschaft sowie seine Bedeutung für die histo- rische und gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR- Geschichte (H. Mestrup): 158. Auslandsberichterstattung Internationales: Kein Fluch der Karibik, zum Glück. Bericht über die 39. Internationale Konferenz des Runden Tisches der Archive (CITRA) sowie die Jah- resmitgliederversammlung des Internationalen Archivrats (ICA) in Curaçao / Niederländische Antil- len (A. Röpcke): 160. Literaturbericht Der alchemistische Nachlaß Friedrichs I. von Sachsen- Gotha-Altenburg. Verzeichnende Erschließung der Quellen des Thüringischen Staatsarchivs Gotha mit Notizen zu den alchemistischen Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha. Beschrieben von O. Humberg (R. Jacobsen): 164. – Archivpflege in Westfalen-Lippe. Im Auftrage des Land- schaftsverbandes Westfalen-Lippe hrsg. vom Westfälischen Archivamt, Münster (K. Wisotzky): 164. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammergericht. Band 11. Nr. 4492- 5084 (Buchstabe H). Bearb. von W. Füßl und M. Hörner (W. Pledl): 166. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskam- mergericht. Band 12. Nr. 5085-5282, Indices (Buchstabe H). Bearb. von W. Füßl und M. Hörner (W. Pledl): 166. – B. Bußmann, T. Köster, 75 Jahre Landeskunde und Regional- geschichte. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen aus dem Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volks- kunde und dem Westfälischen Institut für Regionalgeschich- te (W. Reininghaus): 166. – „… das erste und einzige feminis- tische Archiv in Marburg“. 15 Jahre Feministisches Archiv Marburg. Hrsg. von A. Heimberg (B. Hüttner): 166. – Ein Eberhardsklausener Arzneibuch aus dem 15. Jahrhundert (Stadtbibliothek Trier Hs. 1025/1944 8°). Hrsg. von M. 60. Jahrgang · Mai 2007 · Heft 2 INHALT Der Archivar Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen

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Zeitschrift für Archivwesen

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 109

In eigener Sache................................................................. 111

Massenentsäuerung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Erfahrungen mit dem Neschen-Verfahren. Von Marcus Stumpf ........................................................ 112

Massenentsäuerung: Möglichkeiten und Grenzen. Von Ralf Stremmel .......................................................... 119

Das Archivierungsmodell Finanzverwaltung des Lan-desarchivs Nordrhein-Westfalen. Von Martin Früh .. 128

Historische Bildungsarbeit – Öffentlichkeitsarbeit.Eine theoretische Annäherung. Von Jens Murken .. . . 131

Ein halbes Jahr im Norwegischen Reichsarchiv. Von Marcus Liebold ............................................................... 136

Archivtheorie und -praxis

Archive und Bestände: „Akten parken“. Archivieren –Dokumentieren – Präsentieren. Umstrukturierung desParkhauses West der Pädagogischen Hochschule zumVerbundarchiv Freiburg. Projekt des Instituts für Bau-gestaltung, Baukonstruktion und Entwerfen I der Uni-versität Karlsruhe (K. Hochstuhl): 140. – 100 Jahre Stif-tung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zuKöln (RWWA) (1906-2006) (J. Weise): 140. – Haupt-staatsarchiv Düsseldorf erwirbt die SammlungStachelscheid (A. Faust): 142. – Neue Dokumente zurStudentenzeit Thomas Dehlers (1897-1967) (C. Kap-ser): 142. – Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart gibtkriegsbedingt verlagertes Archivgut zurück. EineAblassurkunde aus Litauen befindet sich wieder anihrem Ursprungsort (N. Bickhoff/A. Metz): 143.Archivierung, Bewertung und Erschließung: Benutzer-freundlich – rationell – standardisiert. Aktuelle Anfor-derungen an archivische Erschließung und Findmit-tel. 11. Archivwissenschaftliches Kolloquium derArchivschule Marburg (H. Berwinkel/R. Wartenberg):144. – Die Klassifizierung von Karten, Bauplänen,Bildern in Archiven, ein Bericht aus dem Landes-hauptarchiv in Schwerin (E. Krügener): 147. EDV und Neue Medien: Landesarchiv Baden-Württem-berg diskutiert erste Ergebnisse zur Archivierungelektronischer Unterlagen (C. Rehm): 149. – Landes-archiv NRW Personenstandsarchiv Brühl: Auf demWeg zum digitalen Lesesaal (C. Reinicke): 150.Benutzung, Öffentlichkeitsarbeit und Forschung: Derschwierige Weg der Archivpädagogik in den neuenLändern – ein Werkstattbericht aus dem StaatsarchivLeipzig (H.-C. Herrmann): 151. – Open Access zu Kir-

chenbüchern? Studientag des Verbandes kirchlicherArchive (C. M. Raddatz): 154. – Ausstellung ThomasKleynen: Ar-schiefe, Fotografien zum Archivfinder desKreises Siegen-Wittgenstein. Oder: Warum geradeArchive und nicht schiefe Geraden? (R. Riedesel): 154. – Ochsenkopf und Meerjungfrau: Wasserzeichendes Mittelalters im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (P.Rückert): 155. – Im Takt der Zeit – 150 Jahre Stutt-garter Musikhochschule. Ausstellung des Haupt-staatsarchivs Stuttgart vom 15. April bis 31. Juli 2007(N. Bickhoff): 156.Aus- und Fortbildung, berufsständische Angelegenheiten:15. Fortbildungsseminar der Bundeskonferenz derKommunalarchive 2006 in Fulda (K. Tiemann): 157.Fachverbände, Ausschüsse, Tagungen: Das ThüringerArchiv für Zeitgeschichte und sein Stellenwert in derArchivlandschaft sowie seine Bedeutung für die histo-rische und gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR-Geschichte (H. Mestrup): 158.

Auslandsberichterstattung

Internationales: Kein Fluch der Karibik, zum Glück.Bericht über die 39. Internationale Konferenz desRunden Tisches der Archive (CITRA) sowie die Jah-resmitgliederversammlung des InternationalenArchivrats (ICA) in Curaçao / Niederländische Antil-len (A. Röpcke): 160.

LiteraturberichtDer alchemistische Nachlaß Friedrichs I. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Verzeichnende Erschließung der Quellendes Thüringischen Staatsarchivs Gotha mit Notizen zu denalchemistischen Handschriften der ForschungsbibliothekGotha. Beschrieben von O. Humberg (R. Jacobsen): 164. –Archivpflege in Westfalen-Lippe. Im Auftrage des Land-schaftsverbandes Westfalen-Lippe hrsg. vom WestfälischenArchivamt, Münster (K. Wisotzky): 164. – BayerischesHauptstaatsarchiv. Reichskammergericht. Band 11. Nr. 4492-5084 (Buchstabe H). Bearb. von W. Füßl und M. Hörner(W. Pledl): 166. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskam-mergericht. Band 12. Nr. 5085-5282, Indices (Buchstabe H).Bearb. von W. Füßl und M. Hörner (W. Pledl): 166. – B.Bußmann, T. Köster, 75 Jahre Landeskunde und Regional-geschichte. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen ausdem Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volks-kunde und dem Westfälischen Institut für Regionalgeschich-te (W. Reininghaus): 166. – „… das erste und einzige feminis-tische Archiv in Marburg“. 15 Jahre Feministisches ArchivMarburg. Hrsg. von A. Heimberg (B. Hüttner): 166. – EinEberhardsklausener Arzneibuch aus dem 15. Jahrhundert(Stadtbibliothek Trier Hs. 1025/1944 8°). Hrsg. von M.

60. Jahrgang · Mai 2007 · Heft 2INHALT

DerArchivarMitteilungsblatt für deutsches Archivwesen

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110 Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2

DER ARCHIVAR. Mitteilungsblatt für das deutsche ArchivwesenHerausgegeben vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf und vom VdA – Verband deutscher Archivarinnen undArchivare e.V., Sitz: Frankfurt a. M., Geschäftsstelle: Wörthstr. 3, 363037 Fulda. Redaktion: Martina Wiech in Verbindung mit Barbara Hoen, Robert Kretz-schmar, Wilfried Reininghaus, Ulrich Soénius und Klaus Wisotzky. Mitarbeiter: Meinolf Woste, Petra Daub. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Graf-Adolf-Str. 67, 40210 Düsseldorf, Tel. 02 11 /15 92 38-800 (Redaktion), -202 (Martina Wiech), -802 (Meinolf Woste), -803 (Petra Daub), Fax 02 11 /15 92 38-888, E-Mail: [email protected]. Druck und Vertrieb: Franz Schmitt, Kaiserstraße 99-101, 53721 Siegburg, Tel. 0 22 41 /6 29 25, Fax 0 22 41 /5 38 91, E-Mail: [email protected], Postbank Köln, BLZ 370 100 50, Kto. 7058-500. Die Verlagsrechte liegen beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Amt-liche Bekanntmachungen sowie Manuskripte, Mitteilungen und Besprechungsexemplare bitten wir an die Redaktion zu senden, Mitteilungen für diePersonalnachrichten und zu Veranstaltungen dagegen an die Geschäftsstelle des VdA. Zum Abdruck angenommene Arbeiten gehen in das unbeschränk-te Verfügungsrecht des Herausgebers über. Dies schließt auch die Veröffentlichung im Internet ein. Die Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser,nicht die der Redaktion wieder. Bestellungen und Anzeigenverwaltung (Preisliste 20, gültig ab 1. Januar 2006) beim Verlag F. Schmitt, Kaiserstraße 99-101, 53721 Siegburg, Tel. 0 22 41 /6 29 25, Fax 0 22 41 / 5 38 91, E-Mail: [email protected]. Zuständig für den Anzeigenteil: Sabine Prediger im VerlagF. Schmitt. „Der Archivar“ erscheint viermal jährlich. Die Beihefte werden in zwangloser Reihenfolge herausgegeben. Der Bezugspreis beträgt für dasEinzelheft einschl. Porto und Versand 8,– EUR im Inland, 9,– EUR im Ausland, für das Jahresabonnement im Inland einschl. Porto und Versand 32,–EUR, im Ausland 36,– EUR. ISSN 0003-9500

Hinweise für VdA-Mitglieder: Geänderte Anschriften und Bankdaten sind ausschließlich an folgende Adresse zu melden: VdA-Geschäftsstelle, Wörthstraße 3,36037 Fulda, Tel. + 49 661 / 29 109 72, Fax + 49 661 / 29 109 74; e-mail: [email protected]. Internet: www.vda.archiv.net – Bankverbin-dungen: Konto für Mitgliedsbeiträge des VdA: Sparkasse Regensburg (BLZ 750 500 00) Konto-Nr. 16675; Konto für Spenden an den VdA: Sparkasse Regens-burg (BLZ 750 500 00) Konto-Nr. 17475.

Brösch, V. Henn und S. Schmidt (N. Bohnert): 167. – Ger-hard von Scharnhorst. Private und dienstliche Schriften.Band 3: Lehrer, Artillerist, Wegbereiter (Preußen 1801-1804).Hrsg. von J. Kunisch in Verbindung mit M. Sikora. Bearb.von T. Stieve (H.-J. Behr): 168. – Handlungsstrategien fürKommunalarchive im digitalen Zeitalter. Beiträge zu einemWorkshop im Rathaus Oberhausen. Red.: P. Worm (C.Popp): 168. – 100 Jahre Stadtarchiv Oldenburg 1903-2003.Hrsg. von der Stadt Oldenburg. Red.: C. Ahrens, K. Hoff-mann, J. Schrape (A. Graßmann): 169. – Jaarboek StichtingArchiefpublicaties. 2002/2003: Archiefgebruikers. Con-sumenten van het verleden. Red.: T. Thomassen. 2004:Selectie. Waardering, selectie en acquisitie van archieven.Endred.: P. Brood (M. Weber): 170. – Katalog der Leichen-predigten und sonstiger Trauerschriften in Bibliotheken,Archiven und Museen des sächsischen Vogtlandes. Bearb.von R. Lenz, G. Bosch, W. Hupe und H. Petzoldt (M.Wermes): 171. – Kirche in Trümmern? Krieg und Zusammen-bruch 1945 in der Berichterstattung von Pfarrern des BistumsWürzburg. Im Auftrag des Diözesanarchivs Würzburg hrsg.von V. von Wiczlinski (E. Naimer): 171. – Kreisarchiv Hild-burghausen: Archivführer und Übersicht über die Bestände.Das Tor zur Geschichte. Bearb. von H. Moczarski und A.Keiner (J. Riederer): 172. – Der Preußische Staatsrat 1921-1933. Ein biographisches Handbuch. Mit einer Dokumenta-tion der im „Dritten Reich“ berufenen Staatsräte. Bearb. vonJ. Lilla (P. Exner): 172. – Das Schwazer Bergbuch. Hrsg. vonC. Bartels, A. Bingener und R. Slotta (W. Reininghaus):173. – T. Starl, Hinter den Bildern. Identifizierung undDatierung von Fotografien von 1839 bis 1945 (W. Hesse): 174.– Vademekum Zeitgeschichte Polen. Ein Leitfaden durch dieArchive, Forschungsinstitutionen, Bibliotheken, Gesellschaf-ten, Museen und Gedenkstätten. Hrsg. von K. Ruchnie-wicz, J. Tyszkiewicz, U. Mählert und C. Lotz (S. Hart-mann): 174. – Vademekum Comtemporary History CzechRepublic. A guide to archives, research institutions, libraries,associations, museums and places of memorial. Edited by. O. Tuma, J. Svobodá, U. Mählert (S. Hartmann): 175. – C. Vismann, Akten. Medientechnik und Recht (U. Schäfer):175. – Visual History. Ein Studienbuch. Hrsg. von G. Paul(W. Reininghaus): 176. – J. Woock, Zwangsarbeit ausländi-scher Arbeitskräfte im Regionalbereich Verden/Aller (1939-1945). Arbeits- und Lebenssituationen im Spiegel vonArchivmaterialien und Erinnerungsberichten ausländischerZeitzeugen (W. Reininghaus): 178.

Personalnachrichten

Zusammengestellt vom VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Nachrufe

Günter Mischewski † (J. Dollwet): 182.

Kurzinformationen, Verschiedenes

Adressen, Ruf- und Faxnummern: 182. – Neue Unter-bringung des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt amStandort Magdeburg (D. Heiden): 183. – Audioauf-zeichnungen von Plenardebatten des Deutschen Bun-destages digitalisiert (A. Ullmann): 183. – Engelaus-stellung im Zentralarchiv der Evangelischen Kircheder Pfalz (G. Stüber): 183. – Zwangsarbeit beim Pro-vinzialverband der Rheinprovinz, „Mütter und Kin-der“ (B. Bouresh): 183. – Inventar der Gesandtschafts-akten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart im Druckerschienen (C. Bührlen-Grabinger): 183.

Gesetzliche Bestimmungen und Verwaltungsvor-schriften für das staatliche Archivwesen und zurArchivpflege in der Bundesrepublik Deutschland

Zusammengestellt mit Unterstützung der Landes-archivverwaltungen von Meinolf Woste . . . . . . . . . . . 184

Mitteilungen des VdA – Verband Deutscher Archi-varinnen und Archivare e.V.

Aktuelle Informationen aus dem Vorstand (H.Schmitt): 185. – Tag der Archive 2008 – Motto gesucht!(C. Rehm): 185. – Anmerkungen des VdA – Verbanddeutscher Archivarinnen und Archivare e.V. zum„Kriterienkatalog vertrauenswürdige digitale Lang-zeitarchive“ (Version 1, Juni 2006, nestor-materialien8) (U. Gutzmann): 185.

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 111

In eigener Sache…

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Anfang Januar 2007 hat sich der Beirat der Fachzeitschrift „Der Archivar“ an die Mitglieder desVdA und die Leser(innen) der bekannten archivischen Internetforen gewandt und um die Zu-sendung von Vorschlägen für einen neuen Namen unserer Fachzeitschrift gebeten. Die bei derRedaktion daraufhin eingangenen Namensvorschläge sind bunt gemischt, einige Kolleginnen undKollegen haben sich auch für eine Beibehaltung des bisherigen Titels ausgesprochen.

Der zukünftige Titel soll sowohl für die Kontinuität als auch für die Aktualität der Zeitschriftstehen. Eine Entscheidung fällt daher – auch angesichts der großen Bandbreite der Meinungen zu diesem Thema – nicht leicht.

Der Beirat hat deshalb beschlossen, seine endgültige Entscheidung über den zukünftigen Titel erstim Zusammenhang mit dem neuen Lay-out der Zeitschrift zu treffen. Aktuell läuft eine Ausschrei-bung zur neuen Gestaltung der Hefte, in der die beteiligten Grafikagenturen auch die Möglichkeithaben, weitere Vorschläge für die Namensgestaltung abzugeben.

Der Auftrag für die neue Gestaltung der Zeitschrift wird voraussichtlich Ende Mai erteilt werden.Über die Ergebnisse sowie weitere Veränderungen werden wir Sie selbstverständlich in dennächsten Heften und im Internet auf dem Laufenden halten.

Barbara Hoen Robert Kretzschmar Wilfried Reininghaus

Ulrich Soénius Martina Wiech Klaus Wisotzky

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112 Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2

„Seit geraumer Zeit kann man nicht ohne ernste Besorgnissauf die Zukunft der deutschen Archive blicken, da auch sieunter dem Zuge der Zeit leiden, dass die auf den Marktgebrachten Schreibmaterialien sich bedeutend verschlech-tert haben und nebenbei im Preise enorm gestiegen sind.Das gilt insbesondere von dem Papier. Wir haben uns all-mählich nicht allein an den Verbrauch der Maschinenpa-piere, sondern auch an solche Sorten gewöhnen müssen,die aller Wahrscheinlichkeit nach kaum wenige Jahre hal-ten werden, wenn man nicht die zartesten Rücksichtengegen die Schriftstücke walten lässt, die auf solchen Fabri-katen der Nachwelt überliefert werden sollen. Alle Weltklagt über das ‚scheussliche’ Papier, das in der Sonne ver-gilbt […] und doch scheut man sich nicht, ein solches Mate-rial ohne Unterschied selbst im Staatsdienste zu verwen-den […]. Der Zustand unserer neueren Registraturen istdaher geradezu schreckenerregend, und es lässt sich garnicht absehen, welche Noth den Centralarchivstellenbezüglich der Conservierung des Materials erwachsenwird, welches in die Archive zur ‚ferneren’ Aufbewahrungübergeben wird“. 2

Diese Klage erhob im Jahr 1880 der großherzoglich-sächsische Oberarchivar Karl August Hugo Burckardt.Hellseherisch sah er die fatalen Folgen der industrialisier-ten Herstellung von Papier voraus, die die Archive undBibliotheken heute und in Zukunft vor schwierige Proble-me stellen.

Das Problem der von Burckardt kritisierten Papierqua-litäten liegt bekanntlich in ihrem Säuregehalt. Seit der imfrühen 19. Jh. einsetzenden industriellen Papierprodukti-on auf Holzschliffbasis wurde dem Papierbrei im Produk-tionsprozess verseiftes Baumharz zugesetzt, um die Fasernzu verleimen. Bei dieser Art Leimung verbleiben Säure-reste im Papier, das seine Festigkeit dadurch unweigerlichverliert. Das Papier vergilbt, wird spröde, im schlimmstenFall bröselt es.3

In Deutschlands Bibliotheken lagern rund 60 Millionensäurehaltige und damit akut gefährdete Bücher, in denArchiven sind mehr als 750 laufende Kilometer Akten-schriftgut vom Zerfall betroffen. Das bedeutet nichts ande-res, als dass sich der Zustand eines bedeutenden Teils derhistorischen Überlieferung zur deutschen Geschichte seitder Revolution von 1848, die des wilhelminischen Deutsch-lands, der Weimarer Republik, der Weltkriege und der Zeitdes Nationalsozialismus bis zur jüngsten Zeitgeschichteder DDR aufgrund des sauren Papiers stetig verschlechtert.

Unmittelbarer Handlungsbedarf ist also gegeben, dennder Zerfallsprozess wird selbst bei optimaler Lagerung desArchiv- und Bibliotheksguts nur verzögert, aber nichtgestoppt.

Das Bückeburger Verfahren und Neschen

Seit den 1960er Jahren sind in den USA, später auch inanderen Ländern Lösungsansätze entwickelt worden, dieLebensdauer industriell hergestellter Papiere zu verlän-gern.4 Seither sind in verschiedenen Ländern Verfahrenentwickelt und zur Marktreife gebracht worden.5

Seit 1976 begann man am niedersächsischen Staatsar-chiv Bückeburg über ein Verfahren zur Neutralisation derSäure im Papier nachzudenken, dem ich mich nun zuwen-den will. Ziel der insbesondere von Wilfried Feindt in denJahren darauf vorangetriebenen Verfahrensentwicklungwar es von vornherein, über die Neutralisierung des Säu-reanteils im Papier hinaus eine Verfestigung des Papiers zuerreichen. Das Verfahren sollte außerdem umweltverträg-

1 Bei dem folgenden Text handelt es sich um die geringfügig ergänzte undkorrigierte deutschsprachige Fassung eines Vortrag, der im Februar 2006auf der internationalen Berner Tagung „Save Paper!“ gehalten wurdeund in englischer Sprache sowie bebildert in der folgenden Tagungs-publikation erschienen ist: Save Paper! Mass deacidification: Today’sExperiences – Tomorrow’s Perspectives. Papers given at the Internatio-nal Conference, 15-17th February 2006, Swiss National Library, hg. vonAgnes Blüher und Gabriela Grossenbacher, Swiss National Library,Bern 2006, S. 43-57 (Die Beiträge der Tagung sind online verfügbar unter www.nb.admin.ch/slb/slb_professionnel/erhalten/ 00699/01490/index.html?lang=de).

2 Vgl. Karl August Hugo Burckhardt, Die Zukunft der deutschen Archi-ve, in: Correspondenzblatt der deutschen Archive. Organ für die Archive Mit-tel-Europas 1 (1880), S. 89–90, hier S. 89; dazu ausführlich Gregor Rich-ter, Damit nicht „Registraturen mit dem Besen hinausgefegt werdenmüssen“. Bemühungen um alterungsbeständiges Papier seit 150 Jahren,in: Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken, hg. von HartmutWeber (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württem-berg Serie A, Heft 2), Stuttgart 1992, S. 17-23, hier S. 21 f.

3 Vgl. den konzisen Abriss von Wolfgang Bender, Die Massenentsäue-rung – eine Kernaufgabe der Bestandserhaltung in Archiven, in: Archivund Wirtschaft 38 (2005), S. 112-120.

4 Vgl. zusammenfassend Massenkonservierung für Archive und Biblio-theken. Ergebnisse einer im Auftrag der Deutschen Bibliothek vom Bat-telle-Institut durchgeführten Untersuchung, hg. von Kurt Nowak (Zeit-schrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft 49), Frankfurt am Main 1989, S. 13 ff.; eine bis 1990 reichende Bibliographie der eng-lischsprachigen Literatur von Carole Zimmermann: http://palimp-sest.stanford.edu/byauth/zimmerman/massdeac.html.; Eine bis 1998reichende Bibliographie mit Literatur vorwiegend aus den 90er Jahrenvon Jeanne Drewes und Kristine Smets: www.lib.msu.edu/drewes/Presentation/Bibliography.htm.

5 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Helmut Bansa, Massenneutrali-sierung von Bibliotheks- und Archivgut. Entwicklungen und Aussichten,in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 46 (1999), S. 127-146 (=http://www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/kons-restaurierung/neutral-bansa.shtml); ders., Mass Treatment: the PresentSituation Worldwide (2002), www.cflr.beniculturali.it/Dobbiaco/Atti/Testi/Bansa_en.pdf (= deutsch: www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/kons-restaurierung/neutral-bansa2.shtml); ferner:Nathalie Buisson, Les principaux procédés de déacidification de masse:situation en 2004, in: Actualités de la conservation. Lettre professionelle de la bibliothèque nationale de France 22 (2004), S. 8-11, 18-20(=www.bnf.fr/pages/infopro/conservation/pdf/actualites_22-23.pdf);Jonathan Rhys-Lewis/Alison Walzer, INFOSAVE. Saving our natio-nal heritage from the threat of acid deterioration. A report on the demons-trator project January 2002 – February 2003, www.mla.gov.uk/documents/infosave_rep.pdf, S. 16 ff.; Gerhard Banik, TechnischeVerfahren zur Papierentsäuerung Stand der Entwicklung Qualitäts-sicherung (Expertengespräch zum Thema Massenentsäuerung, Immen-stadt 5.12.2003), www.klug-conservation.com/medien/pdf/aktuell/20030505_klug_expertentagung.pdf.

Massenentsäuerung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen – Erfahrungen mit dem Neschen-Verfahren1

Von Marcus Stumpf

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lich und für den Menschen ungefährlich sein.6 Mit Unter-stützung des Bundesministeriums für Forschung undTechnologie und des Landes Niedersachsen wurde eineKonservierungsanlage entwickelt und von der Papiertech-nischen Stiftung (PTS) in München, einer industrienahenForschungs- und Entwicklungseinrichtung, gebaut.

Zwischen 1992 und 1996 wurde die Pilotanlage imGebäude der zentralen Restaurierungswerkstatt des Lan-des Niedersachsen in Bückeburg erprobt und immer wie-der modifiziert.7 In einer simulierten Produktionsphasewurden dabei ca. 120 m (rd. 1,2 Mio. Blatt) Verwaltungs-schriftgut behandelt.

1996 wurde das so genannte „Bückeburger Konservie-rungsverfahren für modernes Archivgut” von dem ortsan-sässigen und als Lieferant für Restaurierungsmaterialienbekannten Unternehmen Neschen übernommen und diePilotanlage zur Serienreife weiterentwickelt. JahrelangeVersuchsreihen brachten eine Vereinfachung des ursprüng-lichen Dreibäderprinzips (Bad 1: Fixierung => Trocknung=> Bad 2: Neutralisierung und Pufferung in einer wässri-gen Lösung => Trocknung => Bad 3: Nachleimung undFestigung => Trocknung) zu einem Einbadverfahren, beidem die Tenside Rewin und Mesitol für die Fixierung derSchrift- und Stempelfarben sorgen, Magnesiumhydrogen-carbonat die eigentliche Entsäuerung und Pufferung leistetund Methylcellulose die Verfestigung der Fasern bewirkt.

Ein entscheidender Fortschritt bei der Weiterentwick-lung des Bückeburger Verfahrens gelang der FirmaNeschen dadurch, dass der Durchsatz der Maschine erheb-lich gesteigert werden konnte. Die Behandlung des Archiv-guts in der Maschine wurde dabei immer wirtschaftlicher.Die theoretische mögliche Jahresleistung des BückeburgerPrototyps betrug 2,4 Mio. Blatt pro Jahr (ca. 240 lfdm.),während das aktuelle „Spitzenmodell“ von Neschen, diein Berlin Hoppegarten installierte „CoMa 3“, einen Jahres-durchsatz von 5,5 Mio. Blatt (= 550 lfdm.), ja bei voller Aus-lastung im Mehrschichtbetrieb die Behandlung von bis zu13,5 Mio. Blatt (entspricht ca. 1.350 lfdm.) ermöglicht.8

Die Fa. Neschen betreibt in Deutschland derzeit zweiEntsäuerungszentren: Die gerade erwähnte Maschine inDahlwitz-Hoppegarten bei Berlin wird in den Räumen desdeutschen Bundesarchivs betrieben, das mit der Fa.Neschen einen mehrjährigen Vertrag geschlossen undeinen jährlichen Mindestumsatz in Höhe von 256.000 €

(500.000 DM) garantiert hat.9 Gleichwohl bearbeitet

Neschen in dieser Anlage auch Material anderer Archiveund Bibliotheken. Im Juli 2004 hat Neschen eine zweiteAnlage mit der Typenbezeichnung „CoMa 4“, etwas klei-ner als die Berliner Maschine, in Brauweiler in der Nähevon Köln in Betrieb genommen. Die Anlage befindet sichdort auf dem Gelände des Rheinischen Archiv- und Muse-umsamtes.

Seit wenigen Jahren bietet Neschen im Übrigen aucheine kleine Maschine, die so genannte „C 900“ zum Kaufan. Konzipiert wurde diese für Archive oder Bibliotheken,die eine Maschine kaufen oder leasen und die Entsäuerungin Eigenregie betreiben wollen oder müssen. Der Kaufpreisdieser Maschine liegt zurzeit bei 76.000 € zzgl. Umsatz-steuer. Vier Maschinen des Typs wurden in den vergange-nen Jahren beispielsweise nach Polen verkauft: So wird inder Staatsbibliothek in Warschau, in Danzig und der Biblio-teka Jagiellonska in Krakau mit der „C 900“ entsäuert.10

6 Zum Folgenden vgl. Hubert Höing, Bestandserhaltung in den nieder-sächsischen Staatsarchiven – Ein Bericht aus der Praxis, in: Mass deaci-dification in practise. European conference of the European Commis-sion on Preservation and Access in Bückeburg 18.-19.10.2000,www.knaw.nl/ecpa/conferences/abstracts-d.html#2.

7 Vgl. Hubert Höing, Das Bückeburger Einzelblatt-Verfahren zur Mas-senkonservierung von Archivalien, in: Der Archivar 48 (1995), S. 99-102;ders., Die Konservierungsanlage im Niedersächsischen Staatsarchiv inBückeburg. Ein Bericht über den Probebetrieb und seine Ergebnisse, in:Der Archivar 50 (1997), Sp. 71-82; Wilfried Feindt, Methoden zur Men-genbewältigung: Arbeitsteilung, differenzierter Personaleinsatz, Auto-matisierung von Arbeitsgängen, in: Bestandserhaltung. Herausforde-rung und Chancen, hg. von Hartmut Weber. Stuttgart 1997, S.101-112,hier S. 107 ff. (auch: www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/Weber_Herausf_Feindt.pdf); ders. u. a., Papierkonservierung nach demBückeburger Verfahren, Anlagenvariante und naturwissenschaftlicheErgebnisse, in: Restauro 104 (1998), S. 120-125.

8 Vgl. Wolfgang Bender, Kampf dem Papierzerfall? Die Massenentsäue-rung von Archivgut als ein Mittel der Bestandserhaltung, in: Der Archi-var 54 (2001), S. 297–302 (=www.archive.nrw.de/archivar/2001-04/A03.htm).

9 Vgl. Rainer Hofmann, Anlage zur Papierentsäuerung in Hoppegarteneröffnet, in: Der Archivar 54 (2001), S. 310-311.

10 Vgl. den Erfahrungsbericht über die Entsäuerung von Zeitungen mit derC 900 von Tomasz Lojewksi und Joanna Gucwa, Can NewsprintPaper Benefit from the Neschen Deacidification Treatment, in: Procee-dings of the International Conference ”Chemical Technology of Wood,Pulp and Paper”, Bratislava, 2003, S. 408-411 (= www.chemia.uj.edu.pl/~kp/lojewski_gucwa.pdf). Vgl. auch die bebilderte Präsentation und Beschreibung der Entsäuerungswerkstatt in Krakau: www.che-mia.uj.edu.pl/~kp/c900_en.htm#C900.

Die erste Entsäuerungsanlage in der niedersächsischen Zentral-werkstatt Bückeburg

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Verfahrensablauf beim Neschen-Verfahren1. Soweit noch nicht in den Magazinen des Auftraggebers

geschehen, wird das Material gesichtet, wobei ein 51Fragen umfassender Fragebogen zum Einsatz kommt.

2. Auf Basis der vor Ort durchgeführten Analyse werdenmit dem Auftraggeber die Behandlungskriterien verein-bart und schriftlich fixiert.

3. Das Behandlungsgut wird nach Ankunft in einem derbeiden Entsäuerungszentren von Neschen ausgepacktund – das ist verfahrensbedingt erforderlich – in Einzel-oder Doppelblätter vereinzelt.

4. Wenn erforderlich, wird das Behandlungsgut von allenMetallteilen befreit, grob gereinigt und maschinell foli-iert, auf Wunsch auch mit Archiv- und Bestandsbezeich-nung.

5. Als nächster Schritt erfolgt die Sortierung: Hier werdendem Prozess alle Dokumente entnommen, die nichtmaschinell entsäuert werden können, d. h. Fotografien,Zinkoxyd- und Thermokopien, sehr brüchige Doku-mente, sowie Papiere mit Wachs-, Papier- oder Lacksie-geln. Diese werden, sofern dies mit dem Auftraggebervereinbart wurde, in den so genannten „Bypass“ gege-ben, der das Lösen alter Verklebungen wie Tesafilm, dasSchließen von Rissen mit Filmoplast oder Japanpapier,die manuelle Entsäuerung oder auch das Umkopierenauf alterungsbeständiges Papier (nach ISO 9706) bein-halten kann.

6. Während der eigentlichen Entsäuerung durchlaufen diePapiere die bereits erwähnte wässrige Behandlung:Fixierung mit Rewin und Mesitol, Entsäuerung mittelsMagnesiumhydrogencarbonat und Nachleimung mitMethylcellulose. Sie werden abschließend getrocknetund geglättet.

7. Nach dem Zusammenfügen des alten Aktenverbundesin einer Einschlagmappe werden die an jeder einzelnenAkte durchgeführten Behandlungsschritte in einemBearbeitungsprotokoll summarisch dokumentiert, dieAkte in den alten oder auf Wunsch einen neuen Archiv-karton verpackt und ggf. auch signiert.

Die Firma Neschen garantiert für ihre Entsäuerungsbe-handlung folgende Resultate:1. eine Anhebung des pH-Wertes auf mindestens 8, höchs-

tens 9, im Durchschnitt 8,5,2. dass die Alkalireserve nach der Behandlung je nach Auf-

nahmefähigkeit des Papiers zwischen 1 und 2 % liegt,und zwar bei gleichmäßiger und vollständiger Vertei-lung des Alkalis über die Papieroberfläche, und

3. dass die behandelten Papiere durch die Nachleimungmit Methylcellulose verstärkt werden, wodurch sich diehaptischen Eigenschaften erheblich verbessern.Was unterscheidet nun das Bückeburger Verfahren der

Fa. Neschen von denen der anderen Dienstleister? Zu nen-nen sind hier m. E. folgende Vor- und Nachteile:

VorteileDer wichtigste Vorteil des Bückeburger Verfahrens gegen-über allen anderen Entsäuerungsverfahrenes ist zumeinen, dass die Entsäuerung im umweltfreundlichen undnatürlich wässrigen Milieu stattfindet, das die behandeltenPapiere geschmeidiger macht und schädliche Abbaupro-dukte der Zellulose und des Lignins auswäscht. Denn – umHelmut Bansa zu zitieren: „The result of aqueos de-acidi-fication, as it is done in all paper conservation workshopsor laboratories all over the world, is highly superior to alldry or solvent based de-acidification”11. Zum anderenbewirkt die Nachleimung mit Methylzellulose eine chemi-sche Verfestigung des Papiers.12 Die blattweise Behandlunggewährleistet zudem eine gegenüber den anderen markt-gängigen Verfahren erhöhte Gleichmäßigkeit und Homo-genität der Behandlung.13

11 Vgl. Helmut Bansa, Mass Treatment (wie Anm. 5).12 ebd.13 Vgl. Rainer Hofmann, Bestandserhaltung im Bundesarchiv – Die Rolle

der Massenentsäuerung, in: Mass deacidification in practise (wie Anm. 6).

Die „CoMa4“-Anlage imArchivcenter-West derNeschen AG auf dem Ge-lände des RheinischenArchiv- und Museumsamtes

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 115

NachteileVon den Nachteilen des Bückeburger Verfahrens sindzunächst die Nebenwirkungen zu nennen: Farbverände-rungen können auftreten, insbesondere bei Rot- und Blau-tönen, Stempelfarben geringfügig ausbluten. Leichte Hof-bildung wurde ebenso beobachtet wie „Geisterschrift“,also ein leichter Abklatsch auf die Rückseiten, vor allem beiDurchschlagpapieren der 30er und 40er Jahre des 20. Jahr-hunderts. Bei der Berliner Anlage wurde in Einzelfällenbeobachtet, dass sich Stempelaufdrucke auf das Transport-sieb und von dort auf nachfolgende Papiere übertragenhaben. Bewegen sich diese Nebenwirkungen durchaus imRahmen des auch bei anderen Entsäuerungsverfahrenüblichen, so ist eine Nebenwirkung für das BückeburgerVerfahren charakteristisch, nämlich der Volumenzuwachsdes Papiers. Obwohl die Papiere nach der wässrigen Ent-säuerung gepresst werden, bleiben sie oftmals leicht wel-lig, und daraus resultiert zwangsläufig eine Zunahme desUmfangs.

Der größte und bekannteste Nachteil des BückeburgerVerfahrens ist allerdings, und dieser Nachteil wiegt fürArchive und insbesondere für Bibliotheken schwer: Bisherist das Bückeburger Verfahren ein Einzelblattverfahren,d.h. gebundenes Material kann nur behandelt werden,wenn es vereinzelt wird: wenn also der Verbund gelöst, dasgebundene Buch oder die gebundene Akte in Einzelblätterzerlegt wird.

Für Bibliotheken ist das Bückeburger Verfahren daherbislang kaum von Interesse, sieht man von den Beständen

der Bibliotheken ab, die keine Buchbestände sind, also z.B. Bestände an Graphiken, Karten oder Nachlässe.

An dieser Stelle mag daher die Information wichtig sein,dass Neschen in jüngster Zeit Fortschritte beim ProjektBuchentsäuerungsmaschine vermeldet: Die Behandlungs-flüssigkeit inklusive Nachleimungskomponente sei – soverlautet aus dem Unternehmen – funktionsfähig und ein-satzbereit. Zurzeit wird ein Prototyp dieser Maschinegebaut, deren Aufbau der folgende sein soll: Die Bücherwerden am Rücken fixiert und an einer drehbaren Achsebefestigt, die sich in einem zylindrischen Behälter befindet.Sie werden zu ca. 10 Zentimetern aufgefächert, so dass dieKonservierungsflüssigkeit freien Zugang in die Tiefe desBuchs und des Buchblocks hat. Die Bücher rotieren an derAchse im Behälter. Die Zirkulation der Konservierungs-flüssigkeit wird über Einströmdüsen und Pumpen sicher-gestellt, um so eine möglichst vollkommene Durchdrin-gung des Papiers zu erreichen. Nach dem Abpumpen derKonservierungsflüssigkeit, die wie das Einzelblattverfah-ren auch eine Nachleimung und Verfestigung des Papiersermöglichen soll, werden die Bücher mithilfe von Warm-luft getrocknet und entnommen. Die gesamte Prozedur sollca. 15 bis 20 Minuten dauern und das Buch sofort wiederbenutzbar machen. Neschen hat angekündigt, dass dieAnlage im Einschichtbetrieb einen Durchsatz von ca.33.000 Büchern haben wird. Die Kosten der Entsäuerungeines 200 S. umfassenden Buches sollen sich auf ca. 4 €

belaufen. Hier tut sich also möglicherweise eine neueAlternative zu den marktgängigen Verfahren auf.

Einzelblätter zwischen Foliierung und Entsäuerung

Einlegen (unten) und Abnahme (oben) der Einzelblätter an der„CoMa4“

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Allerdings: Noch ist dies Zukunftsmusik. Noch sindNeschen und die anderen Entsäuerungsdienstleister mitihren Verfahren Konkurrenten, die sich in verfahrens-technischer Betrachtung ergänzen. Hier das Einzelblattver-fahren mit dem Vorteil, dem Papier wieder etwas von sei-ner ursprünglichen Festigkeit zurückzugeben, dort dieEntsäuerung in Einband oder Heftung, die in der Vor- undNachbereitung weniger Aufwand verursacht.

Entsäuerung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen

AnfängeSeit 1997 hat das Land Nordrhein-Westfalen den staatli-chen Archiven Mittel zur „Schutzverfilmung von Archiv-gut und Entsäuerungsmaßnahmen“ bereitgestellt, die inden ersten Jahren zur Hälfte für Entsäuerungsaufträge anDienstleister verwendet wurden. Für diese ersten Jahrespreche ich von einem Gesamtvolumen von damals190.000 DM, also 98.000 €, wovon die Hälfte in Entsäue-rungsaufträge investiert wurde. Mein nordrhein-westfäli-scher Kollege Wolfgang Bender hat als ausgewiesenerKenner der Massenkonservierung vor Jahren zu Rechtbeklagt, dass es fast euphemistisch sei, bei den eingesetz-ten Summen auch nur vom „Tropfen auf den heißen Stein“zu sprechen.14

In den Jahren 1997 bis 2000 wurden kleinere Aufträge anBattelle, das Zentrum für Bucherhaltung, Neschen, Archi-mascon in den Niederlanden und Libertec vergeben. Zwi-schenergebnis war danach, dass das Battelle-Verfahren unddas Bückeburger Verfahren für grundsätzlich geeignetbefunden und gleichsam „intern zugelassen“ wurden, dieLeistungen der anderen oder neuer Dienstleister weiterbeobachtet und getestet werden sollten.15

Doch dann kam es zu einer besonderen Situation inNordrhein-Westfalen. Zwei renommierte, mit der Begut-achtung des staatlichen Archivwesens in Nordrhein-West-falen beauftragte Unternehmensberatungsfirmen kamen inihren Abschlussgutachten zu dem Ergebnis, dass die fürBestandserhaltung und Restaurierung generell und fürMassenentsäuerung im Besonderen eingesetzten Mittelviel zu gering seien. Zwei für die Bestandserhaltung undden Substanzerhalt des staatlichen Archivguts in Nord-rhein-Westfalen überaus erfreuliche Folgen resultiertendaraus: Zum einen wurde die Einrichtung einer zentralenRestaurierungswerkstatt beschlossen und nach Bezug desGebäudes in Münster-Coerde im Dezember 2005 auchrealisiert. Zum anderen stieg der Etatansatz für Schutzver-filmung und Massenentsäuerung von 129.500 € im Haus-haltsjahr 2003 auf 1.679.500 € in den Jahren 2004 und 2005,also um fast 1.300 %. Um es ganz offen zu sagen: Weder

das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen noch die Dienst-leister waren auf derartige Auftragsvolumina vorbereitet.

Vorbereitung und Durchführung der Entsäue-rungsaufträgeDie Auswahl des Archivguts, welches entsäuert werdensollte, war das geringere Problem. In den Archiven existier-ten Prioritätenlisten, welche Bestände welchen Entsäue-rungsverfahren unterworfen werden sollten. Im Einklangmit den Empfehlungen der deutschen Archivreferenten-konferenz von 2001 standen und stehen für die Geschich-te des 20. Jahrhunderts zentrale Bestände ganz oben aufder Liste, z. B. die Akten der Bezirksregierungen Köln undDetmold, Parteiüberlieferung der NSDAP und Akten derNachkriegszeit zur Entschädigung politisch und rassischVerfolgter.16

Schließlich wurde die Fa. Neschen mit der Entsäuerungvon Archivgut mit einem Volumen von 770.000 € beauf-tragt – was auch und gerade als Anschubfinanzierung desneuen Neschen-Archivcenters in Brauweiler gedacht war–, während das Zentrum für Bucherhaltung einen Auftragüber 130.000 € erhielt.

Sehr bald schon trat jedoch folgendes Problem zutage:Zwar war die Vorauswahl der Bestände nach archivfach-lich und auch archivpolitisch richtigen und nachvollzieh-baren Kriterien erfolgt, aber die ausgewählten Beständeselbst waren nicht vorbereitet. Weder hatten die Archivareund Restauratoren des Landesarchivs Zeit und Kapazi-täten, die für die Entsäuerung vorgesehenen Bestände hin-reichend auf entsäuerungsrelevante und entsäuerungskri-tische Materialien und Schadensbilder zu untersuchen,noch war es den Dienstleistern möglich, bei ihren stichpro-benartigen Besichtigungen das wahre Ausmaß der Schä-den zu erkennen. Es traf ein, was Gerhard Banik vor weni-gen Jahren treffend formuliert hat:17

„Vielfach wird heute noch seitens der Sammlungenerwartet, dass Anbieter innerhalb relativ kurzer Zeiträumeund ohne größeren hausinternen Aufwand ausgewählteBestände von Archiv- und Bibliotheksgut behandeln kön-nen. Zu dieser Erwartungshaltung ist festzustellen, dass inden Sammlungen zahlreiche Arbeiten vor und nach derEntsäuerung von Teilbeständen anfallen, die nur inbegrenztem Ausmaß von externen Partnern übernommenwerden können. Sie sind aber notwendiger Bestandteileines jeden Massenentsäuerungsprogramms und entschei-dend für die Qualität der Ergebnisse. Die jährliche Leis-tung bei der Entsäuerung von Sammlungsbeständen wirdsomit zu einem wesentlichen Teil von den vorhandenenArbeitskapazitäten der jeweiligen Sammlung bestimmt.Insbesondere erforderlich ist es, interne und externeArbeitsleistungen effizient aufeinander abzustimmen,damit das Bearbeitungsziel der Entsäuerung, d. h. der vor-beugenden chemischen Stabilisierung inhomogenerBestände auf einem hohen Qualitätsniveau erreicht wer-den kann.“

14 Vgl. Bender, Kampf dem Papierzerfall? (wie Anm. 8).15 Ein Resümee der im Staatsarchiv Münster durchgeführten Versuchsrei-

hen bei Wolfgang Knackstedt, Entsäuerung von Archiv- und Biblio-theksgut – Ergebnisse eines nordrhein-westfälischen Versuchs mitunterschiedlichen Verfahren, in: Arbeitsblätter des Arbeitskreises Nord-rhein-Westfälischer Papierrestauratoren 7 (2000), S. 10-17; zu den Verfahrenund ihrer Evaluation Robert Fuchs, Evaluierung der beiden Massen-entsäuerungsverfahren Libertec/Battelle, ebda., S. 18-29; ferner Bansa,Massenneutralisierung (wie Anm. 5), S. 141 ff.; und zuletzt GerhardBanik, Massenneutralisierung in Deutschland: Technologie und Qua-litätskontrolle, in: Restaurator 26 (2005), S. 63-75.

16 Vgl. Massenkonservierung von Archivgut. Empfehlungen der Archiv-referentenkonferenz (Leiter der Archivverwaltungen des Bundes undder Länder), ausgearbeitet vom Restaurierungsausschuss im Jahr 2001, in: Der Archivar 55 (2002), S. 218-222, hier S. 219 f. (=www.archive.nrw.de/archivar/2002-03/heft3_02_s215_218.pdf bzw. www.archive.nrw.de/archivar/2002-03/heft3_02_s219_230.pdf).

17 Vgl. im folgenden Banik, Technische Verfahren (wie Anm. 5), S. 4.

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Erfahrungen in den Jahren 2004–2005Dies gerade zitierte Maxime konnte aus Zeitnot nichtbeherzigt werden: Die Folge war, dass in der Phase nachder Beauftragung, während der Bearbeitung, massive Pro-bleme auftraten:

Leistungsverzeichnis: Die in den Verträgen aufgeführten und vereinbarten Teil-leistungen waren notgedrungen zu unpräzise formuliert,die geschätzten Mengengerüste erwiesen sich als zu unge-nau.

Leistungserfüllung: Die Teilleistungen mussten durch wiederholte telefonischeund schriftliche, auch preisrelevante Nachverhandlungenmodifiziert und ergänzt werden: So fanden sich in eineman Neschen gegebenen Bestand zahlreiche mit Schimmelbefallene Akten, die erst mit Ethylenoxid begast werdenmussten, um ihre Weiterbehandlung zu ermöglichen. Beieinem Teil der Akten musste zudem die preußische Faden-heftung gelöst werden. Diese Leistung war vertraglichfixiert, doch stellte Neschen bei der Bearbeitung fest, dassder beim Aufheften entstehende Aufwand mit dem fürdiese Leistung kalkulierten Preis pro Blatt nicht gedecktwar. Grund: Das Aufheften der Akten stellte sich als weit-aus aufwändiger als erwartet heraus: Mit dem Aufschnei-den der Fäden und dem Lösen des Verbundes war es oftnicht getan. Oftmals waren in den Akten der 1920er–1940erJahre ganze Lagen zusätzlich geklebt, einige fadengehefte-te Aktenbände sogar zusätzlich gelumbeckt worden.

Leistungsumfang: Bei den aufgetretenen Problemen wird es niemanden wun-dern, dass der ursprünglich erhoffte Leistungsumfang ver-fehlt wurde. Hatte die Hoffnung bestanden, wenigstens1000 laufende Meter Archivgut in den Jahren 2004 und2005 entsäuern zu können, so waren es am Ende lediglich430 Meter, die entsäuert und konservatorisch bearbeitetwaren. Der durchschnittliche Preis lag bei rd. 3.700 € prolfdm., wobei die Leistung allerdings in weitaus mehr alsnur der eigentlichen maschinellen Entsäuerung bestand.Denn die Bearbeitung beinhaltete zum Teil umfangreiche-re konservatorische Maßnahmen wie die Schließung vonRissen mit Japanpapier, die Ablösung alter Verklebungen,die manuelle Entsäuerung, das Umkopieren von Einzel-blättern auf säurefreies Papier und das Umbetten in neuesäurefreie Kartons.

Leistungskontrolle: Mit der Kontrolle der von Dienstleistern zurückgeliefertenAkten waren die dezentralen Werkstätten in der Umbruch-situation des Landesarchivs mengenmäßig überfordert.Allerdings: Die erfolgten Stichproben und pH-Wert-Mes-sungen erbrachten ein durchweg positives Ergebnis. Die„Nebenwirkungen“ hielten sich in den zu erwartendenGrenzen und gaben keinen Anlass zu größeren Beanstan-dungen. Das gilt sowohl für die Bestände, die von Neschenentsäuert wurden, als auch für die Bestände, mit derenBearbeitung das Zentrum für Bucherhaltung beauftragtwar.

Auftragsvergabe, Auftragsabwicklung und Auftragsab-schluss waren unter dem Strich nicht hundertprozentigzufriedenstellend verlaufen, und das ist, wie ich ausdrück-lich betonen will, nicht den Dienstleistern anzulasten.

Konsequenzen für die ZukunftWas haben nun wir, das Landesarchiv als Auftraggeberund die Fa. Neschen als Auftragnehmer aus der Zusam-menarbeit der Jahre 2004 und 2005 gelernt? Wenig überra-schend, aber gleichwohl sehr lehrreich waren folgendeAspekte:

AuftragsplanungEin Entsäuerungsprojekt bzw. ein Entsäuerungsauftragmuss möglichst umfassend vorbereitet sein. Zwar ist esgrundsätzlich möglich, den Dienstleister mit der Entsäue-rung eines Bestandes, der für beide Seiten eine „terra inco-gnita“ darstellt, zu beauftragen: doch sind dann die obenskizzierten Probleme vorprogrammiert. Eine „de luxe“-Behandlung hat sicherlich den Charme, dass die Arbeit derVor- und Nachbereitung durch das beauftragende Archivvergleichsweise gering ist: Doch sind damit massive Risi-ken verbunden. Für das Archiv ist nicht planbar, ob einBestand im vereinbarten Umfang abgearbeitet werdenkann. Ferner ist die Leistungserfüllung und Kontrolle derdurchgeführten Leistungen kaum mehr möglich. Kurz: einverantwortungsvoller Mitteleinsatz, der in Zeiten knapperMittel für Bestandserhaltung unerlässlich ist, erfordertzwingend vorab eine vertiefte Analyse des Bestandes, derentsäuert werden soll.18

Ich will aber auch eines sagen: Die Dienstleister solltenund müssen m. E. auch weiter ein „Rundum-sorglos-Paket“ anbieten, zumindest für Bestände kleinerenUmfangs. Denn viele Archive haben nicht die personellenRessourcen und oft vielleicht auch nicht das Know-How,um Entsäuerungsaufträge vorzubereiten, bestandspezifi-sche Probleme zu erkennen und Behandlungsintensitätenzu definieren. Hier ist, und das sage ich ganz bewusst, auchein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeberund Dienstleister erforderlich: Dieses Vertrauen muss sichder Dienstleister erarbeiten, indem er sich eine angemes-sene Kenntnis des Bestandes verschafft. Daran sollte erschon deshalb interessiert sein, um nicht hinterher Nach-forderungen stellen zu müssen oder unfertige Arbeit abzu-liefern, was sich in der überschaubaren Gemeinde derArchivare und Bibliothekare unweigerlich herumspricht.Das Vertrauen muss aber auch der Auftraggeber haben. Esist sinnlos, die Anforderungen für die Auftragserfüllungnach oben zu schrauben, wenn man nicht in der Lage ist,sie gewissenhaft zu kontrollieren.19

18 Ein gutes Beispiel für umsichtiges Bestandserhaltungsmanagement mitgezielten und mustergültig vorbereiteten Entsäuerungsmaßnahmenbietet Ralf Stremmel, Bestandserhaltung in Wirtschaftsarchiven – Pro-bleme und Lösungsstrategien am Beispiel des Historischen ArchivsKrupp, in: Archiv und Wirtschaft 37 (2004), S. 57-71, bes. S. 66 f.(=www.uni-muenster.de / Forum Bestandserhaltung / grundlagen /stremmel.shtml).

19 Vgl. Hans-Christian Herrmann, Hearing der sächsischen Archivver-waltung zur Massenentsäuerung, in: Der Archivar 53 (2000), S. 332 f.;abgewogen Reiner Hofmann, Pflichtenheft für die Massenentsäuerungvon Archivgut, in: Verwahren, Sichern, Erhalten. Handreichungen zurBestandserhaltung in Archiven, hg. von Mario Glauert und SabineRuhnau (Veröffentlichungen der brandenburgischen Landesfachstellefür Archive und öffentliche Bibliotheken, Band 1), Potsdam 2005, S. 193-205, hier S. 194 f.

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Analyse und Vorbereitung der BeständeNach Inbetriebnahme des Technischen Zentrums soll es imLandesarchiv keine Beauftragungen mehr geben, die nichtangemessen vorbereitet sind. Alle Bestände, die an dieDienstleister zur Entsäuerung gegeben werden sollen, wer-den vorher analysiert und im Technischen Zentrum, soweiterforderlich, vorbereitet und vorselektiert. Zielvorstellungist dabei, die Dienstleister weitgehend nur noch mit dereigentlichen maschinellen Entsäuerung zu betrauen.20 Dasgegebenenfalls erforderliche Aufheften der Akten, das Foli-ieren, das Reinigen und das Aussortieren der für diemaschinellen Entsäuerung nicht geeigneten Aktenbestand-teile wird im Technischen Zentrum durch Hilfskräfte erle-digt, die von ausgebildeten Restauratoren unterstützt undbeaufsichtigt werden.

Die so genannten Bypass-Arbeiten, die an den 2004 und2005 bearbeiteten Beständen zum Teil bis zu 75 % derKosten verursacht haben und im Vorfeld nur sehr schwerkalkulierbar sind, sollen möglichst minimiert werden.Angestrebt ist eine Minimierung der externen Kosten fürEntsäuerung auf ca. 1.500 € pro lfdm., was dem Preis ent-spricht, den das Bundesarchiv durchschnittlich erzielt.21

VertragspolitikDas Landesarchiv Nordrhein-Westfalen ist dem BeispielNiedersachsens und des Bundesarchivs gefolgt und hatmit der Fa. Neschen einen für die Jahre 2006 und 2007 gel-tenden Vertrag geschlossen, in dem sich das Land für eingewisses Auftragsvolumen und der Dienstleister imGegenzug auf einen Sonderpreis verpflichtet hat. Damitsoll gewährleistet sein, dass der Dienstleister eine über dasGeschäftsjahr gleichmäßige Auslastung und dadurchhöhere Planungssicherheit erreicht. Diese höhere Pla-nungssicherheit gilt auch für das Landesarchiv, das sich einStück weit unabhängig macht von verspäteten Mittelzu-weisungen, globalen Minderausgaben und Haushaltssper-ren.

Bestandsabhängige Auswahl des DienstleistersDie mit Neschen ausgehandelte Zusammenarbeit bedeutetaber, das betone ich ausdrücklich, keine grundsätzlicheFestlegung auf das Bückeburger Verfahren. Seit längeremgibt es eine Diskussion unter Bestandserhaltungsexperten,in welchem Umfang man bereit ist, bei der Anwendungvon Massen- oder vielleicht doch besser: Mengenverfahrenin der Bestandserhaltung den partiellen Verlust intrinsi-scher Werte zugunsten eines rationelleren Bearbeitungs-prozesses und durch den rationelleren Prozess auftreten-de und unvermeidliche Nebenwirkungen in Kauf zu neh-men. Zu den im Zusammenhang mit der Massenentsäue-rung in Deutschland kontrovers diskutierten Maßnahmenzählt gerade das Aufheften historischer Akten. Diese wirdvon einigen befürwortet, von anderen rigoros abgelehnt.Unsere Erfahrung aus den letzten beiden Jahren ist eindeu-tig: Wenn es sich vermeiden lässt, sollte man das Aufhef-ten sein lassen. Denn abgesehen davon, dass es einen mas-

siven Eingriff, eine Minderung des intrinsischen Wertesdarstellt, ist es obendrein sehr teuer.

Im Technischen Zentrum werden wir Akten in der Regelnur dann aufheften, wenn wir sie parallelisierten Behand-lungsprozessen (z. B. ein Teil Anfaserung, ein anderer TeilEinbettung) zuführen müssen. Doch wird dies wohl nichtmehr geschehen, um sie um jeden Preis im Einzelblattver-fahren entsäuern lassen zu können. Dies hat sich alsunwirtschaftlich erwiesen. Die Empfehlungen der Archiv-referentenkonferenz, wonach ein Bestand immer komplettnach einem Verfahren zu entsäuern sei22, modifizierend,werden wir aufwändig geheftete oder gelumbeckte Aktenkeinem Einzelblattverfahren mehr zuführen, sondern diesedurch andere Dienstleister entsäuern lassen.23

Grundsätzliches zum Schluss

Bezüglich der Anwendung von Mengen- oder Massenver-fahren, wie sie die Entsäuerung von Archiv- und Biblio-theksgut zweifellos immer darstellt, mache ich mir dieAussage von Rainer Hofmann zu eigen: „Wer die Maxi-malforderung stellt, d. h. keinerlei Nebenwirkungen inKauf zu nehmen bereit ist, der sollte die Hände von derMassenentsäuerung lassen, überhaupt von allen Massen-verfahren, denn sie gehen alle mit irgendwelchen Beein-trächtigungen des Archivguts einher.“24 Ich füge allerdingshinzu: Wer als Bestandserhalter im Archiv die Finger vonder Massenentsäuerung lässt, sollte sich klar machen, dassjedes Abwarten unweigerlich Auswirkungen in derZukunft mit sich bringt. Hier gilt der viel zitierte Satz auseinem Bericht des Canadian Conservation Institute zu denEntsäuerungsverfahren von 1991: ich zitiere: „In any wayit is better to deacidify than to do nothing at all“.25

Aber: Die grundlegende konservatorische Bearbeitungeines Bestandes, die jeder Entsäuerung vorausgehen muss,stellt – und das wird m. E. oft übersehen – einen sehrhohen Wert für sich dar. Die Entsäuerung ist so betrachtetletztlich das Tüpfelchen auf dem i. Oder anders: Beständefür die Entsäuerung vorzubereiten bedeutet bereits, siekonservatorisch bearbeitet und damit ihre Lebenszeit ver-längert zu haben. Dafür Ressourcen zu investieren, istselbst dann nicht vergeblich, wenn für das Tüpfelchen aufdem i, für die eigentliche Entsäuerung, die Mittel nichtmehr reichen.

20 Wir folgen dahingehend dem Vorbild der zentralen Restaurierungs-werkstatt im niedersächsischen Bückeburg: dazu Höing, Bestandser-haltung (wie Anm. 6), S. 5.

21 Vgl. Reiner Hofmann, Die Massenkonservierungsanlage der NeschenAG in Dahlwitz-Hoppegarten. Erfahrungen und Ausblick, www.bun-desarchiv.de/aktuelles/fachinformation/00017/index.html.

22 Vgl. Massenkonservierung von Archivgut. Empfehlungen (wie Anm.16), S. 220.

23 Ähnlich Stremmel, Bestandserhaltung in Wirtschaftsarchiven (wieAnm. 18), S. 67.

24 Vgl. Rainer Hofmann, Pflichtenheft für die Massenentsäuerung vonArchivgut (wie Anm. 19), S. 194.

25 Zit. nach Bansa, Massenneutralisierung (wie Anm. 5) S. 142 f. mit Anm. 33.

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Vor einiger Zeit zählte ein Experte aus der British Librarydrei Dinge auf, die zur Bestandserhaltung notwendigseien: Geld, Geld und nochmals Geld.1 Das ist prägnantformuliert, führt aber dennoch in die Irre. Erforderlich sind– neben Geld – Kompetenz und Kritikfähigkeit. Ohne Geldfindet keine Massenentsäuerung statt. Ohne Kompetenzund Kritikfähigkeit kann man zwar Akten entsäuern, dochsind diese dann möglicherweise stärker geschädigt alszuvor und relevanter Informationen beraubt. Diese Thesesoll im Folgenden anhand einiger praktischer Erfahrungenbelegt werden.

Das Problem und die ersten Lösungsansätze

Seitdem es Archive gibt, stehen sie unter der Gefahr vonBestandsverlusten oder -beschädigungen. Durch unsach-gemäße Lagerung, tagtägliche Benutzung, Brände, Hoch-wasser oder Kriegsereignisse nehmen Archivalien Scha-den, teils irreparablen Schaden. Diese Feststellung ist banalund lange bekannt. Doch erst in den letzten 20 Jahren sinddie schleichenden Gefahren, die sich aus der Herstellungund Zusammensetzung von Papier ergeben, verstärkt indas Bewusstsein von Archivaren, Wissenschaftlern undpartiell auch der Öffentlichkeit gerückt. Die industriellgefertigten, säurehaltigen Papiere, die von etwa 1850 bis indie 1980er Jahre verwendet wurden, sind einem endoge-nen, allmählich voranschreitenden und sich beschleuni-genden – also autokatalytischen – Zerfallsprozess ausge-setzt.2 Ursache sind chemische Reaktionen, ausgelöst ins-besondere durch die Harz-Alaun/Aluminiumsulfat-Lei-

mung und den Einsatz von Holzschliff als Rohstoff für dasPapier.

Ein großer Teil des schriftlichen Kulturerbes unsererGesellschaft ist dadurch in seiner Erhaltung bedroht.Experten schätzen, dass 60 bis 70 % der staatlichen Archiv-bestände betroffen sind.3 Noch gravierender dürfte dieSubstanzgefährdung der Bestände in den Bibliothekensein, denn der ganz überwiegende Teil der Bücher stammtaus der Epoche der industriellen Papierherstellung. Büchersensibilisieren die Öffentlichkeit weitaus stärker undhaben demzufolge eine einflussreichere Lobby als Archiva-lien: Jeder kennt Bibliotheken, aber nur wenige verbindenpersönliche Erfahrungen mit Archiven. Öffentliche bun-desweite Spendenaktionen, wie sie beispielsweise dieWochenzeitung Die Zeit 1999 zugunsten der Buchbeständedes Deutschen Literaturarchivs in Marbach initiierte,4

erscheinen für Archivalien undenkbar, vielleicht: nochundenkbar. Dies ist umso folgenschwerer, als Bücher in derRegel in mehreren Exemplaren existieren, Archivalien aberzumeist Unikate sind.

Vor diesem Hintergrund waren die ersten Massenent-säuerungsverfahren auf Bücher ausgerichtet.5 Massenent-säuerung heißt grundsätzlich: Eine große Zahl von Objek-ten wird maschinell und mit gleichbleibenden technischenVerfahren behandelt. In Deutschland stellte das Battelle-Institut in Frankfurt am Main 1991 die erste Massenent-säuerungsanlage auf, fußend auf kanadischen und franzö-sischen Vorbildern. Daran anknüpfend, realisierte dieDeutsche Bücherei in Leipzig im Jahr 1994 eine großtech-nische Massenentsäuerungsanlage. Aus Weiterentwicklun-gen des Battelle-Verfahrens und neuen Forschungen ent-stand das sog. Papersave-Verfahren, das heute vom ZFBZentrum für Bucherhaltung (Leipzig)6 oder in der Schweizvon der Nitrochemie Wimmis AG angewendet wird.

1 So der ehemalige Leiter des Restaurierungsbereichs der British Library,zit. nach Hartmut Weber: Bestandserhaltung als Fach- und Führungs-aufgabe, in: Hartmut Weber (Hg.): Bestandserhaltung in Archiven undBibliotheken, Stuttgart 1992 (= Werkhefte der Staatlichen Archivverwal-tung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 2), S. 135-155, hier S. 135. Neues-ter Überblick zur Bestandserhaltung bei Mario Glauert, Sabine Ruh-nau (Hg.): Verwahren, Sichern, Erhalten. Handreichungen zur Be-standserhaltung in Archiven, Potsdam 2005 (= Veröffentlichungen derbrandenburgischen Landesfachstelle für Archive und öffentliche Biblio-theken, Bd. 1).

2 Zu den biologisch-chemischen Prozessen siehe u. a. Klaus B. Hendriks:Der endogene Zerfall von Archivgut – ein zwangsläufiges Phänomen?,in: Hartmut Weber (Hg.): Bestandserhaltung. Herausforderung undChancen, Stuttgart 1997 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archiv-verwaltung Baden-Württemberg, Bd. 47), S. 21-44, hier v. a. S. 23-27. ZurMassenentsäuerung grundlegend Wolfgang Bender: Kampf demPapierzerfall? Die Massenentsäuerung von Archivgut als ein Mittel derBestandserhaltung, in: Der Archivar 54 (2001), S. 297-302. Ders.: DieMassenentsäuerung – eine Kernaufgabe der Bestandserhaltung inArchiven, in: Archiv und Wirtschaft 38 (2005), S. 112-120. Sehr lesenswertauch Rainer Hofmann: Pflichtenheft für die Massenentsäuerung vonArchivgut. Zusammenstellung grundsätzlicher Anforderungen, in:Glauert, Ruhnau (Hg.): Verwahren (wie Anm. 1), S. 193-205. Auf eineInitiative der „Deutschen Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kul-turgutes“ geht eine von der VW-Stiftung geförderte Studie „StrategieBestandserhaltung“ zurück, deren Abschlussbericht seit kurzem vor-liegt, siehe Helmut Bansa: Strategie Bestandserhaltung. Eine Studie zurlangfristigen Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes in Deutschland,2006, S. 23-27 (veröffentlicht unter www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/downloads/Strategie_Bestandserhaltung_Bansa_2006.pdf, zuletzt eingesehen 3.8.2006). Diese Studie befasst sich zwarintensiv mit der Massenentsäuerung, aber fast ausschließlich am Bei-spiel der Bibliotheken und nicht der Archive.

3 Vgl. Empfehlungen der ARK [Archivreferentenkonferenz] zur Massen-konservierung von Archivgut, in: Der Archivar 55 (2002), S. 218-222, hierS. 219. Das Bundesarchiv geht davon aus, dass seine Bestände zu annä-hernd 100 % betroffen sind; vgl. Rainer Hofmann: Bestandserhaltungim Bundesarchiv – Die Rolle der Massenentsäuerung (Vortrag auf derTagung „Massenentsäuerung in der Praxis“, 18./19.10.2000, veröffent-licht unter www.knaw.nl/ecpa/conferences/abstracts-d.html, zuletzteingesehen 24.7.2006). Das Landesarchiv NRW geht davon aus, dassknapp 64 laufende Kilometer Akten betroffen sind. Eine konventionel-le manuelle Restaurierung würde einen Einsatz von 17.265 Personen-jahren erfordern; vgl. Bender: Massenentsäuerung (wie Anm. 2), S. 112.

4 Vgl. Die Zeit Nr. 48 (1999). Bericht des Deutschen Literaturarchivs unterwww.dla-marbach.de/dla/direktionsabteilung/bestandserhaltung_und_restaurierung/massenneutralisation/index.html, zuletzt eingese-hen 24.7.2006).

5 Zur Genese der Massenentsäuerungsanlagen und ihrer Technik sieheHelmut Bansa: Massenbehandlung: die Entwicklung weltweit (Vortragauf der Internationalen Konferenz „Erhaltung der kollektiven Erinne-rung: Strategien und Lösungen“, 26.6.2002; veröffentlicht unterwww.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/kons-restaurierung/neutral-bansa2.html, zuletzt eingesehen 17.7.2006). Jetzt auch Bansa:Strategie (wie Anm. 2), S. 23-27.

6 Vgl. aus Sicht des Unternehmens Manfred Anders: Erhaltung vonhistorischem Bibliotheks- und Archivgut, in: Archiv-Nachrichten Nieder-sachsen Nr. 7, 2003, S. 9-14; Joachim Liers: Mass Deacidification. TheEfficacy of the Papersave Process, in: Papierrestaurierung 2 (2001), S. 57-62; Joachim Liers: Massenentsäuerung – Acht Jahre Erfahrung mit demPapersave-Verfahren, in: ZFB Profile, Ausgabe 4, März 2002, S. 1-3. Eintechnisch-chemischer Kurzvergleich des Battelle-Verfahrens mit demBückeburger Verfahren unter anderem bei Bender: Massenentsäuerung(wie Anm. 2).

Massenentsäuerung: Möglichkeiten und GrenzenVon Ralf Stremmel

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In Spanien wurde das CSC Book Saver-Verfahren ent-wickelt. In Deutschland bietet es gegenwärtig die Preser-vation Academy Leipzig (PAL) an.7 Speziell für Archivalienkonzipiert war dagegen die Entsäuerungsmaschine, die imNiedersächsischen Staatsarchiv Bückeburg etwa zur selbenZeit nach langjährigen Untersuchungen und Testläufenentstand. Die dortige Pilotanlage wurde im Sommer 1996privatisiert, der Neschen AG übergeben und dort weiter-entwickelt; später entstanden Nachfolgemodelle.8 MitPapersave, Book Saver und dem Bückeburger Konservie-rungsverfahren BCP sind die drei wichtigsten und nach-haltigsten Massenentsäuerungsverfahren genannt.

Es gibt, stark vereinfacht, drei wesentliche Unterschie-de zwischen den Verfahren:1. Neschen verwendet eine wässrige Behandlungslösung,

die anderen genannten Anbieter eine nichtwässrige. 2. PAL und ZFB entsäuern eine Akte, ein Protokoll- oder

Geschäftsbuch als komplette Einheit, während NeschenBlatt für Blatt bearbeitet. Das heißt: Fadengeheftete,gebundene oder gelumbeckte Archivalien müssen vorder Entsäuerung aufgeschnitten werden.9

3. Das Einzelblattverfahren von Neschen trägt zu einerFestigung bzw. Stabilisierung der behandelten Papierebei. Auf Trockenverfahren mit Pulvern wird hier nicht wei-

ter eingegangen, weil diese in wissenschaftlichen Gutach-ten10 als unbefriedigend eingestuft worden sind.

Optimismus in den Archiven

Seit etwa zehn Jahren setzen Archive verstärkt auf Massen-entsäuerungsverfahren und vergeben entsprechende Auf-träge. Eine Pionierrolle kommt dabei dem Bundesarchivzu, das wohl das erste deutsche Archiv war, das laufenderhebliche Mittel für Entsäuerungsmaßnahmen bereitge-stellt hat.11 Doch selbst dem Bundesarchiv erlaubt der

Haushalt im Hinblick auf die Massenentsäuerung vonArchivgut nur einen „Tropfen auf den heißen Stein“: DiePlanungen aus dem Jahr 2000/2001 liefen darauf hinaus,innerhalb von zwölf Jahren ein Volumen von ca. drei Mil-lionen Euro einzusetzen, um damit rund ein Prozent desArchivgutes zu sichern.12

Neben dem Bundesarchiv sind mittlerweile auch vieleLandes- bzw. Staatsarchive aktiv geworden. Das LandNordrhein-Westfalen hat eine Bestandserhaltungsinitiativegestartet, an der neben dem Landesarchiv auch kommuna-le und private Archive beteiligt werden sollen und die vor-sieht, über fünf Jahre hinweg jährlich eine Million Euro anLandesmitteln bereitzustellen.13 Auch ohne dass sie in sol-che Großprojekte eingebunden waren, haben einzelnekommunale Archive, auch Archive der Kirchen und derWirtschaft, Entsäuerungsvorhaben durchgeführt. Zwarhandelt es sich dabei in der Regel nur um wenige Regal-meter, doch mehr und mehr wird Entsäuerung als Dauer-aufgabe verstanden, und nicht nur als Projekt, das gleich-berechtigt neben anderen Projekten steht – einer Publika-tion, einer Ausstellung, der Digitalisierung von Fotobe-ständen und ähnlichem.

Im Allgemeinen herrscht eine optimistische Grundstim-mung und die Zuversicht, es könne gelingen, die wichtig-sten Archivbestände durch Massenentsäuerung im Origi-nal ‚zukunftsfest’ zu machen – lediglich vorausgesetzt, dienötigen finanziellen Mittel würden fließen.14 Dieses Ver-trauen grenzt gelegentlich an leichtfertige Technikgläubig-keit. Genährt wird es durch die positiven Ergebnisse, diewissenschaftliche Begutachtungen der drei führenden,oben genannten Verfahren erbracht haben.15 Und auch dieAussagen der Unternehmen lassen an der Leistungsfähig-keit ihrer Verfahren wenig Zweifel. Attribute wie modern,schnell, preisgünstig oder effizient fallen, und die Anbie-ter suggerieren, unerwünschte Nebenwirkungen ihrer Ver-fahren weitgehend ausschließen oder doch zumindestdrastisch reduzieren zu können.16 Schließlich wird drin-gend zum Handeln ermuntert: „Zögern wird mit Verlustbestraft. Die Schäden, die wir heute nicht aufhalten, müs-sen wir morgen teuer bezahlen.“17

Trotz solcher Aussagen sollte man sich vor kurzfristi-gem Aktionismus und operativer Hektik hüten, denn esgibt drei Fragen, die immer noch auf eine hinreichendeAntwort warten. Erstens: Sind die auf dem Markt angebo-

7 Vgl. aus Sicht des Unternehmens Wolfgang Wächter: Ein neues Mas-senentsäuerungsverfahren für Bibliotheken und Archive (Vortrag aufdem 2. Leipziger Kongress für Information und Bibliothek, 23.3.2004;veröffentlicht unter www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhal-tung/kons-restaurierung/waechter.html, zuletzt eingesehen 25.7.2006).

8 Kurzer Überblick bei Hubert Höing: Bestandserhaltung in den nieder-sächsischen Staatsarchiven – Ein Bericht aus der Praxis (Vortrag auf derTagung „Massenentsäuerung in der Praxis“, 18./19.10.2000, veröffent-licht unter www.knaw.nl/ecpa/conferences/abstracts-d.html#2, zuletzteingesehen 28.7.2006). Kurz zum Neschen-Verfahren die Eigendarstel-lung des damaligen Vorstandsmitgliedes Klaus Dieter Vogt: DieZukunft des Bückeburger Konservierungsverfahrens, in: Arbeitsblätterdes Arbeitskreises Nordrhein-Westfälischer Papierrestauratoren, Köln [2001],S. 67-68.

9 Die Firma hat seit längerem ein Verfahren angekündigt, das ohne einAuflösen der Fadenheftung oder Bindung auskommt.

10 Im September 2002 hat Professor Dr. Gerhard Banik von der StaatlichenAkademie der bildenden Künste (Stuttgart) sein Gutachten über „Kri-terien zur Entscheidung über die Anwendbarkeit von Massenkonservie-rungsverfahren“ vorgelegt. Das Forschungsvorhaben wurde durch dieDeutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Im Jahr 2004 hat GerhardBanik auch das CSC Book Saver-Verfahren der Firma PAL begutachtet.

11 Das Bundesarchiv hat sich 1997 für seine Bestände auf die Anwendungdes Bückeburger Verfahrens festgelegt und im Jahr 2000 einen Koope-rationsvertrag mit der Firma Neschen geschlossen, wonach diese in derAußenstelle Dahlwitz-Hoppegarten des Bundesarchivs eine Großanla-ge zur Entsäuerung einrichtete und betreibt. Das Bundesarchiv ga-rantiert eine gewisse jährliche Auftragssumme und erhält im GegenzugSonderkonditionen. Vgl. Hofmann: Bestandserhaltung (wie Anm. 3);Rainer Hofmann: Die Massenkonservierungsanlage der Neschen AGin Dahlwitz-Hoppegarten. Erfahrungen und Ausblick, in: Mitteilungenaus dem Bundesarchiv Heft 2, 2003, S. 44-46.

12 Vgl. Hofmann: Bestandserhaltung (wie Anm. 3).13 Vgl. Norbert Kühn u. a.: Papierentsäuerung nichtstaatlicher Archive im

Rheinland – Erfahrungsberichte aus dem Historischen Archiv des Erz-bistums Köln, dem Stadtarchiv der Landeshauptstadt Düsseldorf unddem Stadtarchiv Erftstadt, in: Der Archivar 60 (2007), S. 44-46. Hans-Jür-gen Höötmann: Projekt zur Massenentsäuerung kommunalen Schrift-gutes, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 65, Oktober 2006, S. 23-24.Ein etwas älterer Überblick über die ersten Versuche der nordrhein-westfälischen Staatsarchive mit Entsäuerungsverfahren bei WolfgangKnackstedt: Entsäuerung von Archiv- und Bibliotheksgut. Ergebnisseeines nordrhein-westfälischen Versuchs mit unterschiedlichen Verfah-ren, in: Arbeitsblätter des Arbeitskreises Nordrhein-Westfälischer Papierre-stauratoren, 7. Ausgabe, 2000, S. 10-17.

14 Auf eine gewisse Skepsis lässt jedoch die Ankündigung des Bestandser-haltungsausschusses der Archivreferentenkonferenz schließen, sich inZukunft intensiver mit den Nebenwirkungen von Massenverfahren zubeschäftigen; vgl. Anna Haberditzl: Jahrestagung 2005 des Bestandser-haltungsausschusses der Archivreferentenkonferenz in Bückeburg, in:Der Archivar 58 (2005), S. 299.

15 Siehe Anm. 10.16 Vgl. beispielsweise die Internet-Auftritte der Anbieter: www.preserva-

tion-academy.de, www3.neschen.com und www.zfb.com (alle zuletzteingesehen 23.7.2006).

17 www.zfb.com (31.1.2006).

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 121

tenen Verfahren tatsächlich technisch ausgereift? Zweitens:Welche Risiken für das Archivgut beinhalten die Entsäue-rungsmethoden? Und damit zusammenhängend drittens:Wie können die Archive die Risiken minimieren und wiekönnen sie die zur Verfügung stehenden begrenzten Mit-tel effizient einsetzen? Solche Fragen sind weder trivialnoch einfach zu beantworten. Darauf lässt auch einumfangreiches Entsäuerungsprojekt im HistorischenArchiv Krupp schließen.

Praktische Erfahrungen

Das Historische Archiv Krupp ist 1905 gegründet worden,quasi als Doppelgründung eines Werksarchivs durch diedamalige Fried. Krupp AG und eines Familienarchivsdurch die Familie Krupp.18 Heute verwahrt das ArchivBestände im Umfang von rund acht Regalkilometern, dar-unter gut sieben Kilometer Schriftgut. Die ältesten Doku-mente reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück, die Masseder Überlieferung setzt Ende des 18. Jahrhunderts ein. DasKrupp-Archiv befindet sich im Eigentum der AlfriedKrupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Im Jahr 2002 wurde ein umfassendes Projekt zurBestandserhaltung initiiert. Ziel war, die zentralen Schrift-gut-Bestände für die Zukunft zu sichern, und zwar durchein ganzheitliches, integratives Bestandserhaltungskon-zept. Dazu gehörten eine repräsentative Schadenserhe-bung, die Informationssicherung auf anderen Datenträ-gern (Mikrofilm), die klassisch-handwerkliche Restaurie-rung, die Neuverpackung der Archivalien und ihre Ent-säuerung.19 Für dieses Maßnahmenbündel bewilligte dieAlfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ein Volu-men von mehr als 1,5 Millionen Euro. Einen idealtypischenAblauf solcher Projekte zeigt die Grafik am Schluss des Bei-trages.

Mit den praktischen Arbeiten konnte im Frühjahr 2003begonnen werden. Nicht zuletzt wegen der aufgetretenentechnischen Probleme ist das Gesamtvorhaben noch nichtabgeschlossen. Dennoch haben sich im Hinblick auf dieMassenentsäuerung bereits jetzt grundlegende Resultateergeben, die mit gewissen Einschränkungen über das Ein-zelbeispiel hinaus verallgemeinert werden können. Fürdiese Repräsentativität sprechen vier Faktoren: – Erstens: Das Krupp-Archiv hat mit allen drei Dienstleis-

tern zusammengearbeitet, die in externen Gutachtenund im Kollegenkreis empfohlen werden: Neschen, PALund ZFB. Die Firmen haben zunächst Probeaufträge vonbis zu 2,5 lfm Schriftgut abgewickelt. Zwei Anbietererhielten anschließend umfangreichere Aufträge.

– Zweitens: Der Umfang der entsäuerten Archivalien istnicht unbeträchtlich. Bislang wurden ca. 150 Regalme-ter Schriftgut behandelt, geplant sind weitere 160.

– Drittens: Die in das Projekt einbezogenen Beständeerscheinen in ihrer inhomogenen Struktur zwar eheruntypisch für bisherige Entsäuerungsaufträge andererArchive, aber typisch für eine große Zahl aller Archiv-bestände in Deutschland. Es handelt sich um Sach- undKorrespondenzakten sowie Geschäftsbücher aus demZeitraum von etwa 1850 bis 1975, also nicht um gleich-förmiges Schriftgut vom Typ der DIN A4-Umdrucke,sondern um höchst disparate Mischakten, die neben denüblichen vielfältigen Büropapieren, Briefbögen, Durch-schlägen und Kopien weiteres, formal sehr unterschied-liches Material enthalten, z. B. gefaltete Karten undPläne, Ehrenurkunden, Siegel, Druckschriften, Visiten-karten, Flugblätter, Fotos oder Zeitungsausschnitte.Ebenso mannigfaltig sind die vorkommenden Stempel,Tinten, Kopier- und Bleistifte, Kopierbandfarben usw.

– Viertens: Das Krupp-Archiv legt Wert auf eine intensi-ve und durchaus aufwändige Dokumentation und Qua-litätskontrolle, die statistisch-repräsentative Berechnun-gen einschließt und über punktuelle, unsystematischeStichproben hinausgeht.

Schadenserhebung und Bestandserhaltungsplan

Vor dem eigentlichen Entsäuerungsprojekt stand eine mög-lichst exakte Diagnose der vorkommenden Schäden inQualität und Quantität. Diese Schadenserhebung basierteauf Stichproben, die nach statistischen Methoden gezogenwurden, mithin repräsentativ für die Grundgesamtheit derSchriftgutbestände waren, so dass die anschließenden Aus-sagen abgesichert waren. Die Schadenserhebung wurdeauf Vermittlung der Archivberatungsstelle im RheinischenArchiv- und Museumsamt durch niederländische Expertendurchgeführt. Ted Steemers, „Preservation PolicyOfficer“ beim niederländischen Reichsarchivdienst in DenHaag, und Gerrit de Bruin, Projektmanager beim Inter-national Conservation Center ebenfalls in Den Haag, zogenim September 2001 eine repräsentative Stichprobe ausallen Schriftgutbeständen des Archivs.20

Die Stichprobe wurde nach zahlreichen Scha-densmerkmalen analysiert. Ergebnis: Rund 16 % allerSchriftgutbestände im Krupp-Archiv waren so stark ge-schädigt, dass sofortiges Handeln notwendig erscheint. Bei66 % werden mittelfristig Maßnahmen erforderlich. DieUrsachen der Schäden sind bekannt:1. unzureichende Lagerungsbedingungen des Schrift-

gutes, besonders vor seiner Übernahme ins Archiv; 2. unzulängliche Verpackung der Unterlagen im Archiv,

bevor das Säureproblem bekannt war; 3. mechanische Beanspruchung durch Benutzung; 4. Tintenfraß; 5. säurebedingter, endogener Zerfall des Papiers.

Die Informationen aus dieser Schadenserhebung wareneine wichtige Grundlage für den anschließend im Archivzu erstellenden Bestandserhaltungsplan, reichten dazuaber nicht aus, da sich die Schadensanalyse quer über alleBestände erstreckte. Der Bestandserhaltungsplan dagegentrifft Aussagen für einzelne Bestände und legt Prioritäten

18 Näheres zum Archiv und seinen Beständen bei Ralf Stremmel: 100Jahre Historisches Archiv Krupp. Entwicklungen, Aufgaben, Bestände,München/Berlin 2005.

19 Die Konzeption des Gesamtprojektes ist wiederholt vorgestellt worden,vgl. v. a. Renate Köhne-Lindenlaub: Sichern und Erhalten, Erschlie-ßen, Präsentieren. Projekte der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung im Historischen Archiv Krupp, in: Der Archivar 56 (2003), S. 47-49. Ralf Stremmel: Bestandserhaltung in Wirtschaftsarchiven – Proble-me und Lösungsstrategien am Beispiel des Historischen Archivs Krupp,in: Archiv und Wirtschaft 37 (2004), S. 57-71.

20 Dazu vgl. Heinfried Voß: Schadenserhebung im Archiv – Ein Erfah-rungsbericht, in: Archiv und Wirtschaft 38 (2005), S. 182-188.

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hinsichtlich der geplanten Maßnahmen fest. Als Kriteriendienen der intrinsische Wert der Bestände, ihre Nutzungs-häufigkeit sowie der Grad der Gefährdung. Konkret: Inwelchen Beständen befinden sich die am meisten geschä-digten Archivalien? Wo droht ein besonders rasches Fort-schreiten der Schäden? Welche Bestände werden in derBenutzung stark frequentiert? Wie hoch ist ihr jeweiligerinhaltlicher Wert für die Unternehmensgeschichte, die wis-senschaftliche Forschung sowie den Archivträger bzw. dieinternen Serviceleistungen des Archivs?

Auf Basis des Bestandserhaltungsplanes und mehrererAngebote potenzieller Dienstleister konnte im Krupp-Archiv dann ein Bestandserhaltungsprojekt formuliertwerden: Insgesamt 550 lfm Archivgut oder 22.000 Verzeich-nungseinheiten sollten in dieses Projekt einbezogen wer-den. Das waren rund 8 % aller Schriftgutbestände. Ziel warderen vollständige Mikroverfilmung (einschließlich Pagi-nierung). 305 Regalmeter oder 12.000 Archivalieneinheitensollten darüber hinaus auch entsäuert werden.

Zur Organisation und Betreuung des Projektes war eineStelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter über dreiJahre vorgesehen. Am 1. Mai 2003 konnte das Projekt mitder Besetzung dieser Projektstelle21 in eine neue Phase tre-ten. Zur Vorbereitung der Auftragsvergabe an Dienstleistererfolgte im Archiv noch eine statistisch-repräsentativeAnalyse der einbezogenen Bestände: Welche Materialien,welche Formierungen, welche Schäden kamen prozentualvor? Zunächst wurde für jede einzelne Archivalie erhoben,wie sie formiert ist (gelumbeckt, gefädelt, gebunden,fadengeheftet usw.). Zweitens erfolgte eine Analyse, wiehäufig einzelne Schadensbilder in den jeweiligen Bestän-den vorkamen und welche Vorarbeiten (z. B. Paginierung)im Rahmen der Bestandserhaltung zu leisten waren.22

Die anschließenden Arbeiten bei den Firmen – Mikro-verfilmung, Massenentsäuerung und Restaurierung23 –liefen teilweise parallel, wobei die einzelnen Beständejeweils zuerst verfilmt und danach entsäuert wurden. Dasist insbesondere vor dem Hintergrund von Informations-sicherung und Arbeitsökonomie sehr zu empfehlen undhat sich bewährt.

Die Verfilmung von Archivalien auf Mikrofilm ist undbleibt die einzige bekannte Methode, um – trotz gewisserInformationsverluste – eine langfristig haltbare Zweitüber-lieferung des Originals zu schaffen.24 Digitalisierung alleinist kein Mittel der Bestandserhaltung. Vor allem aus Grün-

den leichter Benutzbarkeit der Quellen hatte das Krupp-Archiv anfangs eine Hybridlösung geplant: Es sollte alsoverfilmt und digitalisiert werden. Nachteile kristallisiertensich jedoch immer stärker heraus: erhebliche Kosten derDigitalisierung, technische und vor allem finanzielle Fol-geprobleme der Migration oder Konversion der anfallen-den Daten usw. Deshalb hat man auf eine vollständigeDigitalisierung der in das Projekt einbezogenen Beständeverzichtet und stattdessen die Option eröffnet, über einenReader-Scanner nach Bedarf bei der Nutzung digitaleÜberlieferungsformen vom Mikrofilm herzustellen.

Nach der Mikroverfilmung stand die Massenentsäue-rung an. Verbunden wurde sie mit vorbereitenden undbegleitenden konservatorisch-restauratorischen Arbeitenbei den Dienstleistern, z. B. dem Herausnehmen vonMetallteilen, der Reinigung, dem Entfernen alter Verkle-bungen, dem Schließen von Rissen mit Japanpapier undwasserlöslichen Klebstoffen, in Einzelfällen auch derPapierspaltung. Alles in allem besteht das Ziel der restau-ratorischen oder bypass-Arbeiten in einer funktionellenInstandsetzung der Archivalien. Eine umfassende Restau-rierung „de luxe“ ist nicht bzw. allenfalls bei hochwertig-sten Unterlagen zu bezahlen. Eine scheinbar banale, aberin ihren Auswirkungen keineswegs zu unterschätzendebestandserhalterische Maßnahme ist abschließend – sofernerforderlich – die Umlagerung von Archivalien in Mappenund Kartons, die nach aktuellen Erkenntnissen für einedauerhafte Lagerung geeignet sind. Angesprochen istdamit die so genannte passive Konservierung.25

Massenentsäuerung und Qualitätssicherung

Entsäuerung kann nicht darin bestehen, im Magazinbestimmte Aktenkonvolute auszuwählen, zu einemDienstleister zu transportieren und zu hoffen, dass dieserseine Arbeit zuverlässig erledigt. Unabdingbar sind Maß-nahmen, um die Qualität der Leistungen zu kontrollierenund zu optimieren. Das geschah und geschieht im Krupp-Archiv auf fünf Ebenen.– Erstens wurde eine detaillierte Leistungsbeschreibung

erarbeitet, die Teil der endgültigen Aufträge war. – Zweitens hat das Archiv, wie erwähnt, von den poten-

ziellen Auftragnehmern Probeaufträge abwickeln las-sen.

– Drittens erfolgte vor der Bearbeitung der Bestände einestichprobenartige Dokumentation, konkret: einzelneBlätter und Akten wurden digital fotografiert, so dassspäter ein Vergleich mit dem entsäuerten Material mög-lich war.

21 Als Projektmitarbeiter war zunächst Dr. Helge Kleifeld tätig, anschlie-ßend Achim Becker M. A. Zur Zeit ist Dr. Christoph Moß im Projektbeschäftigt.

22 Dazu ausführlich Helge Kleifeld: Zur Anwendung repräsentativerStichproben im Bereich der Bestandserhaltung, in: Der Archivar 57(2004), S. 305-309. Angelehnt ist die Methode an die konzeptionellenÜberlegungen bei Matthias Buchholz: Überlieferungsbildung bei mas-senhaft gleichförmigen Einzelfallakten im Spannungsverhältnis vonBewertungsdiskussion, Repräsentativität und Nutzungsperspektive.Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhilfeakten der oberbergischenGemeinde Lindlar, Köln 2001 (= Landschaftsverband Rheinland, Rheini-sches Archiv- und Museumsamt, Archivberatungsstelle, Archivhefte 35).

23 Grundsätzlich spricht zwar sachlich manches dafür, die üblichenRestaurierungsarbeiten in den Archiven selbst durchzuführen, denn nurdort ist eine effektive Kontrolle der Arbeiten möglich und nur dort kannrasch entschieden werden, welche Restaurierungsarbeiten überhauptnotwendig und sinnvoll sind. Allerdings verfügen nur die wenigstenArchive über eigene Restaurierungswerkstätten und sind daher aufexterne Dienstleister angewiesen.

24 Ich folge hier Überlegungen von Hartmut Weber, zusammenfassendbeispielsweise sein Beitrag: Bestandserhaltung, in: Evelyn Kroker,Renate Köhne-Lindenlaub, Wilfried Reininghaus, Ulrich S. Soéni-us (Hg.): Handbuch für Wirtschaftsarchive. Theorie und Praxis, 2. erw.

Aufl., München 2005, S. 175-215, hier S. 204-209. Ders.: Langzeitspei-cherung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Konversionsformen, in:Hartmut Weber, Gerald Maier (Hg): Digitale Archive und Bibliothe-ken. Neue Zugangsmöglichkeiten und Nutzungsqualitäten, Stuttgart2000 (= Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württem-berg, Serie A, Heft 15), S. 325-342.

25 Dazu vgl. exemplarisch Anna Haberditzl: Kleine Mühen – große Wir-kung. Maßnahmen der passiven Konservierung bei der Lagerung, Ver-packung und Nutzung von Archiv- und Bibliotheksgut, in: Weber(Hg.): Bestandserhaltung 1992 (wie Anm. 1), S. 71-89; Martin Strebel:Maßnahmen zur passiven Konservierung – einfach und kostengünstig,in: Weber (Hg.): Bestandserhaltung 1997 (wie Anm. 2), S. 199-227.

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– Viertens wurden nach der Bearbeitung der Akten undneben den Dokumentationen der Dienstleister zusätz-lich Papieranalysen auf ph-Werte und alkalische Reser-ve bei externen, unabhängigen Gutachtern in Auftraggegeben.

– Fünftens hat das Krupp-Archiv intern mit quantitativ-statistischen Verfahren Veränderungskennziffern ermit-telt. Sehr nützlich waren dabei die Überlegungen undArbeiten in der Schweizerischen Landesbibliothek.26

Beim zuletzt genannten Punkt geht es darum, Häufig-keit und Ausmaß, also Quantität und Qualität der Verän-derungen von Archivalien durch die Entsäuerung in einerKennzahl festzuhalten. Gemessen werden dabei das Aus-bluten, Verlaufen und Abfärben von Beschreibstoffen oderdas Verblassen von Schriften, aber auch der Ordnungszu-stand der Akten und die aufgetretenen mechanischenSchäden.

Tabelle 1: Beispiel für Veränderungskennzahlen27

Erfahrungen (1): Kosten

Die Kosten werden im Wesentlichen durch die Art der zubearbeitenden Archivalien sowie die ausgewählten Kon-servierungs- und Restaurierungsmaßnahmen bestimmt.Falls neben der reinen Entsäuerung begleitend auch restau-ratorische Arbeiten durchgeführt werden (was aus Sichteiner konsequenten Bestandserhaltung immer sinnvoll ist),steigen die Kosten an, teils sogar erheblich. Das Bundesar-chiv hat für die reine Entsäuerung, Reinigung und diver-se Vor- und Nachbereitungsarbeiten (Entfernen vonMetallteilen, Schließen großer Risse u. dgl.) bei Sonderkon-ditionen 1.145 Euro pro laufendem Regalmeter ausgege-ben.28 Nach den Erfahrungen im Krupp-Archiv ist bei inho-mogenen Akten, die einen durchschnittlichen Restaurie-rungsbedarf haben, dagegen mehr als das Doppelte zukalkulieren.

26 Siehe Agnes Blüher: Erfahrungen in der Papierentsäuerung. DreiBetriebsjahre in der Schweizerischen Landesbibliothek (www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/downloads/blueher.pdf, zu-letzt eingesehen 25.7.2006), dass. englisch in: Papierrestaurierung 4 (2003),S. 21-28.

27 Erhebung und Auswertung durch Achim Becker und Christoph Moß.Die sog. Intervallschätzung nach den Ausführungen bei Buchholz (wieAnm. 22), S. 149 ff. und 217 ff.

28 Hofmann: Massenkonservierungsanlage (wie Anm. 11), hier S. 44.Bender: Kampf dem Papierzerfall (wie Anm. 2), S. 300, nannte 2001umgerechnet 0,358 Euro pro Blatt für Entsäuerung inklusive kleinererBegleitarbeiten.

Veränderungs- Häufigkeit davon davon davon Verände- prozentualer prozentualermerkmal insgesamt a) b) c) rungs- Anteil in Anteil in

(Zahl der leichte mittlere schwere kennzahl Stichprobe Grund-Archivalien) Verände- Verände- Verände- gesamtheit

rungen rungen rungen (Intervall)Farbabklatsch 169 107 35 27 72,07 47,21 42 bis 52Ausbluten/Verlaufen 177 100 50 27 78,49 49,44 42 bis 54Verblassen 9 3 5 1 4,47 2,51 1 bis 4Ablagerungen 69 56 5 8 25,14 19,27 15 bis 23Verformungen/Geruch 177 166 11 52,51 49,44 42 bis 54Risse 41 25 9 7 - 11,45 8 bis 15Ordnungszustand 35 27 1 7 13,97 9,78 7 bis 13

Veränderungskennzahl: Summe der kumulierten Häufigkeiten x 100 : Stichprobenmenge

Tabelle 1 bezieht sich auf die Auswertung einer reprä-sentativen Stichprobe von 358 Archivalien aus einerGrundgesamtheit von 3.179. In 169 Akten der Stichprobe,also gut 47 %, wurde ein Farbabklatsch festgestellt. Darauskann man hochrechnen, dass in 42 bis 52 % der Grundge-samtheit dieses Veränderungsmerkmal auftritt. Die Berech-nungen für andere Chargen ergeben kein so extrem nega-tives Bild. Wenn man einen Bogen über alle bislang für dasKrupp-Archiv abgewickelten Aufträge schlägt, wird mansagen können: In einem Drittel der Akten kommt es durchMassenentsäuerung zu Ausblutungen, Verlaufungen undVerblassungen; in mehr als einem Zehntel auch zu Farbab-klatsch.

Grundsätzlich muss eingeschränkt werden, dass diequalitative Einstufung in leichte, mittlere und schwere Ver-änderungen auch auf subjektiven Einschätzungen desjeweiligen Bearbeiters beruht und nicht in allen Fällenintersubjektiv überprüfbar ist. Aber wenn die Auswertungin der Hand eines einzigen Bearbeiters liegt, ermöglichendie Werte es, die Leistungen verschiedener Firmen undEntsäuerungsverfahren miteinander zu vergleichen.

Das bedeutet: Schon aus Kostengründen wird man nie-mals das gesamte Schriftgut in den Archiven auf Dauer imOriginal erhalten können. Ein kontrollierter Verfall istunvermeidlich – neben einer durchdachten Erhaltung aus-gewählter Originale und einer Informationssicherung aufanderen Datenträgern. Die Bewertungsfrage stellt sich hierneu, anders und verschärft: Welche Bestände müssen imOriginal erhalten werden, welche können in Ersatzformen„überleben“?

Erfahrungen (2): Leistungsfähigkeit der Entsäuerungsverfahren

Die bisher im Krupp-Archiv gewonnenen Erfahrungen mitder Leistungsfähigkeit der Massenentsäuerungsverfahrensind alles in allem zwiespältig, und zwar bei allen Anbie-tern, mit denen zusammengearbeitet wurde. Das Positiveund das Wichtigste zuerst: Herausragende Bestände desArchivs, in denen sich weit über Krupp hinaus deutscheWirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte wider-

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spiegelt, sind für mehrere hundert Jahre als Original gesi-chert worden bzw. werden zur Zeit gesichert. Die nach derEntsäuerung gemessenen pH-Werte lagen – über alleAnbieter hinweg betrachtet – im alkalischen Bereich, undzwar zwischen 7,4 und 8,6. Regelmäßig wiederholte Mes-sungen zeigen, dass sich die Werte innerhalb von zwei Jah-ren nur geringfügig nach unten bewegen.

Alle Massenverfahren stoßen qua System aber auch anGrenzen. Defizite liegen auf mehreren Ebenen. So ist dieWirkung der Entsäuerung niemals gleichmäßig, selbst beieinzelnen Blättern nicht. Einige Papierarten können wegenihrer Oberflächenstruktur nicht ausreichend mit der Ent-säuerungsflüssigkeit getränkt werden: Die pH-Werte blei-ben hier im sauren Bereich.

Eine zweite Überraschung nach der Massenentsäuerungwar die niedrige alkalische Reserve. Eigentlich soll dieAlkalireserve verhindern, dass die Papiere rasch wiedersauer werden. Andererseits hat eine zu hohe alkalischeReserve negative Auswirkungen auf die Festigkeit desPapiers. Wissenschaftlich abgesicherte Richtwerte für denoptimalen Wert der alkalischen Reserve fehlen bislang; dieTendenz der Empfehlungen geht in Richtung auf ein biszwei Prozent Gehalt an Magnesiumcarbonat.29 In den ent-säuerten Archivalien aus dem Krupp-Archiv lag der Wert,unabhängig vom Dienstleister, deutlich darunter, undzwar bei weniger als 0,5 Prozent. Eine künstliche Papieral-terung hat indes starke Indizien dafür geliefert, dass dieniedrige Alkalireserve langfristig nicht von entscheiden-dem Nachteil zu sein scheint.

Brisanter sind dagegen das Verlaufen oder Verblassenvon Stempeln oder Tinten, teils auch Farbveränderungen,die durch die Massenentsäuerung auftreten. Die besonde-re Schwierigkeit besteht darin, dass ohne chemische Testsund nur vom Schriftbild her vor der Entsäuerung nichtprognostizierbar ist, welche Farben bzw. Stifte sich verän-dern. Zwei rote Farben, die optisch identisch aussehen,können auf das Entsäuerungsmittel völlig unterschiedlichreagieren. Und so kam auch ein aufgetretener Totalverlustder Information völlig überraschend und ist letztlich nichtausreichend erklärt worden (siehe Abb. 1 und 2). Umsowertvoller war die vorherige Mikroverfilmung der Akte.

Schließlich traten noch Verfälschungen von Originalenauf: Ein Vermerk „Entwurf“ in blaugrüner Tinte fand sichplötzlich 60 Seiten zuvor auf einem ganz anderen Schrift-stück wieder: als Abklatsch, und wohl weitergegebendurch Bürsten und Walzen in der Entsäuerungsmaschine(siehe Abb. 3 und 4). Dergleichen kann bei juristisch oderhistorisch bedeutsamen Unterlagen höchst bedenklichsein.

Die genannten Beispiele sind durch die sorgfältige Qua-litätskontrolle aufgefallen. So sorgfältig sie war, eine kom-plette Durchsicht der entsäuerten Akten war nicht möglich.Es ist also davon auszugehen, dass sich ähnliche Neben-wirkungen auch noch in weiteren Unterlagen finden las-sen. Totalverluste oder Verfälschungen sind extreme Aus-nahmefälle. Aber verblassende Stempel oder Unterschrif-ten, verlaufende Tinten oder ausblutende Kopierstifte sind

29 Siehe z. B. Bender: Kampf dem Papierzerfall (wie Anm. 2), S. 299. Fürneue Papiere wird 2 % Calciumcarbonat empfohlen, für entsäuerte altesollen schon 0,74 % ausreichen. Die Schweizerische Landesbibliothekhat Grenzwerte von 0,3 bis 2,3 % Magnesiumcarbonat angesetzt undWerte zwischen 0,8 und 1,5 % erreicht, vgl. Blüher: Erfahrungen (wieAnm. 26), S. 2.

Abb. 1: Ein Schriftstück vor der Entsäuerung (Aufnahme vom Mikrofilm)

Abb. 2: Das Schriftstück nach der Entsäuerung

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 125

durchaus häufig und in bis zu einem Drittel der Aktenanzutreffen (s. o. und Abb. 5).

Wiederholt zeigten sich die Anbieter bzw. Dienstleisterüberrascht, wenn sie auf Unzulänglichkeiten oder unge-plante Nebenwirkungen ihrer Entsäuerungsverfahren hin-gewiesen wurden. Die Antwort lautete, dieses oder jenesProblem trete zum ersten Mal auf und es sei ad hoc nichtzu erklären. Das spricht dafür, dass man sich noch immerauf Neuland bewegt und nach wie vor beträchtlicher For-schungs- und Entwicklungsaufwand zu leisten ist.

Konsequenzen: entsäuerungsgeeignete Archivalien

Im Ganzen sind bei der bisherigen Bearbeitung der Bestän-de aus dem Krupp-Archiv weitaus weniger Veränderun-gen aufgetreten, als es noch vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre. Ein technischer Fortschritt ist unverkenn-bar. Es sind allerdings deutlich mehr Veränderungen auf-getreten, als im Vorfeld auf Basis der Informationen durch

Abb. 3: Blatt 162 der Akte:handschriftlich ist der Briefals Entwurf gekennzeichnet

Abb. 4: Blatt 96 der Aktenach der Entsäuerung: Derhandschriftliche Vermerk„Entwurf“ von Blatt 162 fin-det sich hier plötzlich alsAbklatsch unter der Unter-schrift

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Anbieter und Archivare sowie auf Grundlage der vorlie-genden Fachliteratur zu erwarten gewesen waren. DasErscheinungsbild von Originalpapieren kann sich beijedem Entsäuerungsverfahren verändern, und der Auf-traggeber muss sich im Vorfeld sehr genau überlegen, waser noch tolerieren und bei welchen Akten er Veränderun-gen hinnehmen will.

Das Krupp-Archiv hat deshalb im Projektverlauf dieAuswahl des Schriftgutes, das entsäuert werden sollte,geändert. Ursprünglich war nach den Prioritäten desBestandserhaltungsplans vorgesehen, die Akten aus denPrivatsekretariaten der Unternehmensinhaber vordring-lich zu entsäuern. Davon wurde Abstand genommen, dadas Risiko nach den bislang vorliegenden Erfahrungen zuhoch erschien. Die Akten enthalten unter anderem persön-liche Aufzeichnungen der Krupps, geschäftliche und pri-vate Korrespondenzen mit einer Vielzahl von Persönlich-keiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft sowie Unterlagenzu ehrenamtlichen Funktionen in Verbänden und Wissen-schaftsorganisationen. Diese Papiere sind historisch-ideellebenso wertvoll wie materiell. Gerade hier Informationendurch Massenentsäuerung zu verlieren oder zu verfäl-schen, wäre nicht zu verantworten. Mehrseitige Hand-schreiben Kaiser Wilhelms II. an die Krupps sollten nichtdem Risiko eines Verlaufens der kaiserlichen Tinte ausge-setzt werden.

Stattdessen sind andere Unterlagen in das Projekt ein-bezogen worden, die ebenfalls eine hohe Priorität imBestandserhaltungsplan haben, aber in der Entsäuerungweniger risikoanfällig sind, weil sie gleichförmiger sind:vor allem ältere Geschäftsberichte und Druckschriften.Außerdem wurden Mittel teilweise in die Sicherungsver-filmung umgeschichtet.

Dies soll jedoch keine prinzipielle Warnung vor Entsäue-rung sein. Der Handlungsbedarf wird ja – obgleich einigeSchreckensszenarien wohl übertrieben sind30 – in dennächsten Jahren weiter wachsen, weil sich der säurebeding-te, endogen verursachte Papierzerfall progressiv beschleu-nigt. Aber die Erfahrungen im Krupp-Archiv, die durchneuere Erfahrungen in anderen Archiven bestätigt zu wer-den scheinen,31 sind ein Plädoyer für verstärkte Anstren-gungen, die Forschung auf dem Gebiet der Entsäuerungentschlossener voranzutreiben. Und dabei kann man nichtoder nicht nur auf die Anbieter warten, denn der Markt isteng, und die Firmen streben verständlicherweise in ersterLinie nach Rentabilität bzw. einer Verzinsung ihrer Investi-tionen. Wären die Nachfrage größer und die Gewinn-aussichten besser, gäbe es vermutlich schon längst inten-sivere Forschungen und Lösungen für einige Probleme.

Fazit

Grundsätzlich stellen Archivalien andere und höhereAnforderungen an Entsäuerungsverfahren als Bücher. Aufinhomogene Archivalien aber sind die zur Zeit auf demMarkt verfügbaren Methoden noch nicht ausreichend ein-gestellt, auch wenn die Veränderungen im durchschnitt-lichen Normalfall tolerierbar erscheinen. Es sind immerwieder Kompromisse zwischen den archivischen Idealvor-stellungen, dem Finanzierbaren und dem technisch Mach-baren zu suchen.

30 Statt von Papierzerfall müsste man genauer von einer zunehmendenBrüchigkeit des Papiers sprechen. Insofern trifft es nicht zu, wennbehauptet wird, das saure Papier werde zu „Staub zerfallen“, vgl. Hel-mut Bansa: Sechs Thesen, die zu einer Umorientierung in der Politikder Bestandserhaltung führen sollten, Stand: April 2004 (www.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/kons-restaurierung/thesen-bansa.html, zuletzt eingesehen 26.7.2006).

31 Etwa die Kommunalarchive in Paderborn.

Abb. 5: Typisches Verlaufenvon Farben auf Schrift-stücken

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Als Resümee kann ein Paradoxon formuliert werden,das Paradoxon der Entsäuerung: Nur bei Massenaktensind Massenentsäuerungsverfahren ohne Bedenkenanwendbar, aber gerade Massenakten genießen nicht diehöchste Priorität einer dauerhaften Erhaltung. Mit anderenWorten: Archivar und Archivträger wollen ihre materielloder ideell wertvollsten Archivalien auf Dauer erhalten,geraten aber bei der Massenentsäuerung in Gefahr, dieseQuellen unumkehrbar zu schädigen. Um nicht in dieseFalle zu laufen, sollten die folgenden acht Punkte beachtetwerden:1. Massenentsäuerung muss in ein ganzheitliches, integra-

tiv gedachtes Bestandserhaltungsprogramm eingebettetwerden. Dabei bewährt sich ein kleinschrittiges, vonVorsicht begleitetes Durchführen von Projekten.

2. Ohne Bestandserhaltungsplan, Dokumentation undQualitätskontrolle ist Massenentsäuerung sinnlos. Fürdiese Tätigkeiten bedarf es fachlich vorgebildeter Pro-jektbetreuer.

3. Massenentsäuerung verändert die materielle Gestalt derArchivalien. Dessen sollte sich jeder Auftraggeberbewusst bleiben, zumal Archivalien in aller Regel Uni-kate sind und Informationsverluste oder -beeinträchti-gungen unwiderruflich sein können.

4. Systematische Massenentsäuerung erfordert nicht gerin-ge materielle und personelle Ressourcen. „Nebenher“ istsie kaum zu realisieren. Innerarchivische Ressourcenmüssen mobilisiert werden, der Archivar muss sich Wis-sen und Fachkenntnisse aneignen – über die Technik derVerfahren, aber auch über die eigenen Bestände, umabschätzen zu können, ob sie für Massenentsäuerungs-maßnahmen in Frage kommen.

5. Während die Archivreferentenkonferenz empfiehlt,ganze Bestände nach einem Entsäuerungsverfahren zubearbeiten und dafür Gründe der Arbeitsorganisationund langfristigen Übersichtlichkeit nennt,32 sprechen dieErfahrungen im Krupp-Archiv eher dafür, jedenfalls beihochwertigen, aber heterogenen Beständen letztlichdoch die einzelne Archivalie zu betrachten und zu fra-gen, welches Verfahren für sie geeigneter erscheint.

6. Die permanente Kommunikation mit den Entsäue-rungsfirmen muss gewährleistet sein, auch wenn esnatürliche Interessengegensätze zwischen Archiv undDienstleister gibt und der oligopolistische Markt imBereich Entsäuerung manches erschwert.

7. Die Kommunikation der Archive untereinander ist ver-besserungsbedürftig. In Zukunft sollten gemeinsameLeistungsanforderungen und ein Katalog tolerierbarerNebenwirkungen definiert werden.33

8. Nötig ist eine weitere Verbesserung der Verfahren. Hierist auch die öffentliche Hand gefragt. Es dürfte langfris-tig effizienter sein, zumindest einen Teil der heute fürEntsäuerungsmaßnahmen zur Verfügung stehendenGelder in weitere Forschung und Entwicklung umzulei-ten, möglicherweise in Kooperation mit den am Marktagierenden Dienstleistern. Massenentsäuerung ist nötig und mit gewissen Ein-

schränkungen technisch auch möglich. Durch einen ratio-nellen und effizienten Einsatz der in einem Projekt zur Ver-fügung stehenden finanziellen Mittel und vor allem durchKompetenz und Kritikfähigkeit kann vieles bewegt wer-den, um Schriftgut zu erhalten. Voraussetzung bleibt aberimmer eine bewusste archivische Risikoabwägung. DieMöglichkeiten der Massenentsäuerung erscheinen ver-heißungsvoll, aber ihre Grenzen sollten nicht übersehenwerden.

32 Empfehlungen der ARK zur Massenkonservierung (wie Anm. 3), hierS. 220.

33 Seit einiger Zeit ist eine Arbeitsgruppe im Rahmen des Normenaus-schusses Bibliotheks- und Dokumentationswesen dabei, einen Standardzur Prüfung des „Behandlungserfolgs von Entsäuerungsverfahren fürsäurehaltige Druck- und Schreibpapiere“ zu entwickeln; vgl. RainerHofmann: Normung zur Bestandserhaltung in Archiven und Biblio-theken (Vortrag auf dem Bibliothekartag, 2005; veröffentlicht unterwww.uni-muenster.de/Forum-Bestandserhaltung/grundlagen /norm-hofmann2.html, zuletzt eingesehen 28.7.2006). Siehe auch Hofmann:Pflichtenheft (wie Anm. 2), S. 194-195 mit Skepsis gegenüber generellenFestlegungen in Form prozentualer Fehlerquoten und Hinweis auf dieindividuelle Risikoabschätzung in Archiven.

ckk

op

plu

ng

Arc

hiv

/

Arc

hiv

träg

er

Vorbereitung

Projektidee

Schadenserhebung

Bestandserhaltungsplan

(Prioritätenliste)

Projektbewilligung durch Archivträger

Charge 1

Schlussbericht mit Dokumentation und Verwendungsnachweis

Charge 2

(teilweise paralleleBearbeitung zu Charge 1)

statistisch-repräsentativeStichprobe

Zeitplanung

GrobkalkulationPersonal- und Sachmittel

Maßnahmenauswahl (Verpackung,Mikroverfilmung, Digitalisierung

Entsäuerung, Restaurierung)

Festlegung einzubeziehenderBestände

Schadensgrad, Benutzungs-häufigkeit, intrinsischer Wert

Konzeption

Realisierung

(Phase 1)

Definition vonZielen und Mitteln

Projektantrag

an Archivträger

Konkretisierung

Ausschreibung mitLeistungsbeschreibung undAbwicklung Probeauftrag

Angebote

Auswertung (ggf. auchÜberarbeitung von Zieldefinition,

Mitteleinsatz und Zeitplanung)

Erfahrungsaustausch(Archive/Bibliotheken)

Informationsaustausch(Leistungsanbieter)

statistisch-repräsentativeErhebungen über Schadensbilder

in einzelnen Beständen

Archiv: Qualitätskon-trolle/Dokumentation

Mikroverfilmung u.Digitalisierung

Entsäuerung u.Restaurierung

Archiv: Qualitätskon-trolle/Dokumentation

Magazinierung

Archiv: Vorbereitungu. Dokumentation

Realisierung

(Phase 2)

Erteilen der Zuschläge

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128 Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2

1. Vorbemerkungen

Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen ging mit dem Jah-reswechsel 2006/2007 in das vierte Jahr seines Bestehens.Eine seiner „Gründungsaufgaben“ bestand bekanntlichdarin, die Menge des aus den Behörden zu übernehmen-den Schriftgutes auf ein archivfachlich vertretbares Mini-mum zu reduzieren1. Ein Fachkonzept, das hierfür dieKoordinaten festlegte, wurde bereits im Gründungsjahrerarbeitet2. Es sieht vor, für die einzelnen Verwaltungs-zweige Archivierungsmodelle zu erstellen, die die Überlie-ferungsmenge steuern sollen. Die Erarbeitung der Model-le erfolgt durch Projektgruppen, die mit Angehörigen allerbetroffenen Abteilungen des Landesarchivs besetzt sind. Esversteht sich von selbst, dass das ehrgeizige Vorhaben, fürsämtliche Zweige staatlicher Verwaltung Archivierungs-modelle vorzulegen, noch geraume Zeit in Anspruch neh-men wird. Derzeit befinden sich Archivierungsmodelle fürdie Bereiche „Justiz“3 und „Personalverwaltung“ in Ent-wicklung.

Zwei weitere Projektgruppen konnten ihre Arbeitbereits im Jahr 2006 abschließen. Die Archivierungsmodel-le liegen ausgearbeitet vor und sind vom Präsidenten desLandesarchivs als verbindliche Grundlage für alle Bewer-tungen und Übernahmen aus den jeweiligen Verwaltungs-zweigen in Kraft gesetzt worden. Es handelt sich um dasArchivierungsmodell Finanzverwaltung und das Archivie-rungsmodell Polizei. Während letzteres andernorts aus-führlich dargestellt ist4, sollen hier die Arbeitsergebnisseder Projektgruppe „Archivierungsmodell Finanzverwal-tung“ kurz präsentiert werden5.

2. Zur Genese des Modells

Die Finanzverwaltung ist eines der ältesten Felder staat-licher Tätigkeit überhaupt. Zur Finanzierung gemein-schaftlicher Aufgaben richteten bereits die frühen Hoch-kulturen Ägyptens und Mesopotamiens Steuerverwaltun-gen ein6. Noch heute gehören die Finanzverwaltungen desBundes und der Länder zu den größten behördlichenSchriftgutproduzenten in Deutschland. Der massenhafteAnfall gleichförmiger Einzelfallakten stellt die archivischeBewertung in dramatischer Weise vor das so genannteMassenproblem7. Dies gilt insbesondere für industrie- undeinwohnerstarke Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen:In jedem der 60 Festsetzungsfinanzämter des rheinischenLandesteils stehen alljährlich im Durchschnitt ca. 167 lau-fende Meter an Schriftgut zur Aussonderung an8. Zusam-men mit den Finanzämtern für Groß- und Konzernbe-triebsprüfung und den Finanzämtern für Steuerstrafsachenund Steuerfahndung, vor allem aber mit den übergeordne-ten Stellen (Oberfinanzdirektionen, Finanzministerium),mit den Ausbildungseinrichtungen und schließlich mitdem gesamten Komplex der mittleren und unteren Bun-desfinanzverwaltung (Oberfinanzdirektion Köln, Haupt-zoll- und Zollämter, Zolltechnische Prüfungs- und Lehran-stalt, Zolllehranstalten, Zollfahndungsamt, ehemalige Bun-desvermögensämter) beläuft sich die aussonderungsreifeAktenmenge für den Gesamtsprengel des Landesarchivsjährlich auf etwa 18 laufende Kilometer9. Dieser Sachver-halt zwingt zu strenger Auswahl und erfordert effizienteVerfahren der Anbietung und Bewertung. Aus diesemGrund steht der Verwaltungszweig „Finanzen“ auf derPrioritätenskala des Landesarchivs weit oben10.

Die Erarbeitung des Archivierungsmodells, an der ins-gesamt zehn Archivarinnen und Archivare der nordrhein-westfälischen Staatsarchive beteiligt waren, orientierte sicheng am erwähnten Fachkonzept „Steuerung der Überliefe-rungsbildung mit Archivierungsmodellen“. Dementspre-chend erfolgte bei allen Dienststellentypen der Bundes-und Landesfinanzverwaltung eine detaillierte Aufgaben-und Kompetenzanalyse; daran anschließend wurde das bei

1 Vgl. Wilfried Reininghaus, Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen.Entstehung, interne Organisation, Aufgaben und aktuelle Ziele, in: DerArchivar 57 (2004), S. 295-300, hier S. 300; Martina Wiech, Steuerung derÜberlieferungsbildung mit Archivierungsmodellen. Ein archivfach-liches Konzept des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, in: Der Archi-var 58 (2005), S. 94-100, hier S. 99.

2 Wiech, Steuerung (wie Anm. 1).3 Vgl. Martina Wiech, Moderne Justizakten als zukünftige Quellen histo-

rischer Forschung. Workshop zur Archivierung von Unterlagen derJustiz in der Justizakademie Nordrhein-Westfalen, in: Der Archivar 58(2005), S. 302 f.

4 Vgl. Tanja Priebe (Red.), Überlieferung der Unterlagen der Polizei inNordrhein-Westfalen. Ergebnisse der Kalkumer Tagung und Dokumen-tation des Bewertungsmodells (Veröffentlichungen des LandesarchivsNordrhein-Westfalen, 15), Düsseldorf 2006.

5 Einige Ergebnisse der Projektgruppenarbeit sind der Öffentlichkeitbereits vorgestellt worden: Ragna Boden/Christoph Schmidt/Marti-na Wiech, Die Überlieferung von Unterlagen der Bundes- und Landes-finanzverwaltung - Archivierung, Quellenwert und Benutzung. Work-shop des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in der Oberfinanzdirekti-on Münster, in: Der Archivar 58 (2005), S. 119 f.; Martina Wiech, Wo blei-ben unsere Altakten? Projektgruppe des Landesarchivs entwickeltArchivierungsmodell, in: Der Bezirk. Informationen der Landesfinanzver-waltung in Westfalen-Lippe 4/2005, S. 15; Martin Früh, Wirtschaft in derÜberlieferung der Finanzverwaltung – Leitlinien eines Archivierungs-modells (Vortrag auf dem 40. Rheinischen Archivtag 2007 in Düsseldorf-Benrath; eine Veröffentlichung der Tagungsbeiträge in der Reihe„Archivhefte“ ist vorgesehen).

6 Vgl. Karola Zibelius-Chen, Im Land der Pharaonen – Ägypten, in:Frühe Hochkulturen. Ägypter – Sumerer – Assyrer – Babylonier – Hethi-ter – Minoer – Phöniker – Perser, hg. v. Rainer Albertz et al., Darmstadt2003, S. 8-123, hier S. 12 f.; Horst Klengel, Städte, Staaten, Großreiche– Kleinasien und Mesopotamien, ebd., S. 124-225, hier S. 155 f. Vgl. all-gemein auch: Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte derSteuer, hg. v. Uwe Schultz, 2. Aufl. München 1986.

7 Johannes Papritz, Zum Massenproblem der Archive, in: Der Archivar17 (1964), Sp. 213–220. Zu Problematik und Terminologie vgl. jetzt Mat-thias Buchholz, Stichprobenverfahren bei massenhaft gleichförmigenEinzelfallakten. Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhilfeakten, in:Historical Social Research 27 (2002), S. 100-223, hier S. 122-127 (mitweiterführender Literatur).

8 Diese Zahl basiert auf Behördenangaben.9 Vgl. Johannes Kistenich (Red.), Abschlussbericht der Projektgruppe

Archivierungsmodell Finanzverwaltung, masch. Düsseldorf 2006, S. 106. Ab Mai 2007 unter www.archive.nrw.de/LandesarchivNRW/Bil-derKartenLogosDateien/Abschlussbericht_f_r_Ver_ffentlichung.pdfeinsehbar.

10 Wiech, Steuerung (wie Anm. 1), S. 96.

Das Archivierungsmodell Finanzverwaltung des Landesarchivs Nordrhein-WestfalenVon Martin Früh

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 129

der jeweiligen Aufgabenwahrnehmung anfallende Schrift-gut auf seinen Überlieferungswert hin untersucht11. DieBewertungsentscheidungen fielen durchweg in engemKontakt mit den betroffenen Dienststellen.

Unterstützt wurde die Erarbeitung des Archivierungs-modells auf der Ebene der Sachakten durch den Umstand,dass für nahezu sämtliche Dienststellen der Finanzverwal-tung ein bundeseinheitlicher Aktenplan gilt12, was denhorizontalen und vertikalen Abgleich erleichtert und pro-spektive Bewertungen ermöglicht. Da sich die Untersu-chung auf den funktional definierten Verwaltungszweig„Finanzen“ beschränkte13, wurden andere im Landes- oderBundesfinanzressort angesiedelte Stellen – das Landesamtfür Besoldung und Versorgung, der Bau- und Liegen-schaftsbetrieb NRW, das Rechenzentrum der Finanzver-waltung sowie die ehemaligen Bundesforstämter – nichtberücksichtigt; diese werden sich vielmehr in anderenArchivierungsmodellen wiederfinden.

Die gewonnenen Erkenntnisse über Behördenaufbauund -kompetenzen, über die Verfahren der Aufgabenerle-digung, über den Überlieferungswert des anfallendenSchriftgutes sowie die daraus resultierenden Bewertungs-entscheidungen wurden in einem Abschlussbericht doku-mentiert, der in seiner letzten Fassung 171 Seiten zählt14.Demnächst im Internet einsehbar, legt dieser nicht nurRechenschaft über die Archivierungspolitik des Landesar-chivs im Bereich der Finanzverwaltung ab, sondern kannauch den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Archiv-verwaltungen zur Orientierung dienen, da sich Aufgaben-erledigung und Behördenzuständigkeit in den Finanzver-waltungen der verschiedenen Bundesländer weitgehendgleichen15. Für die Behörden selbst wurde im Intranet derLandesverwaltung ein digitales Informationssystem aufge-baut, das den direkten Zugang zu den für die jeweiligeDienststelle maßgeblichen Anbietungsrichtlinien (mitschriftgutspezifischen Anbietungslisten im Excel-Format)ermöglicht. Hier werden auch die rechtlichen Grundlagenfür die Übernahme und Nutzung von Unterlagen derFinanzverwaltung ausführlich dargestellt16; stößt doch dieAbgabe von Akten an Archive wegen einer befürchtetenVerletzung des Steuergeheimnisses immer wieder aufBedenken in Bundes- und Landesfinanzverwaltung.

Im Folgenden können die Bewertungsentscheidungenfür die einzelnen Dienststellentypen nur in grober Formwiedergegeben werden; für die Einzelheiten sei auf denAbschlussbericht der Projektgruppe verwiesen.

3. Zusammenfassung des Modells

a) LandesfinanzverwaltungAn der Spitze der nordrhein-westfälischen Landesfinanz-verwaltung steht das Finanzministerium. Neben seinenHauptaufgaben (Aufstellung und Vollzug des Landes-haushalts, Grundsatzfragen des Kassen- und Rechnungs-wesens, Mitgestaltung der Steuerpolitik) nimmt das Minis-terium auch zahlreiche Sonderfunktionen wahr, wie etwaden Fremdsprachendienst der Landesregierung oder dieAufsicht über die Düsseldorfer Börse; als Landesaus-gleichsamt wickelt es außerdem die Reste des Lastenaus-gleichs ab. Die archivische Bewertung des anfallendenSchriftgutes wird durch die Anwendung von Spezialakten-plänen für einzelne Abteilungen oder sogar einzelne Refe-rate erschwert. Kennzeichnend ist überdies die wachsen-de Bedeutung der Projektarbeit; daraus entstehen in derRegel größere Mengen an oft archivwürdigem Schriftgut,das im regulären Aktenplan nur selten erfasst und nichtprospektiv bewertbar ist. Zwischen dem Finanzministeri-um und der zuständigen Abteilung des Landesarchivs(Hauptstaatsarchiv Düsseldorf) wurde daher die Einrich-tung eines „Projektmeldesystems“ vereinbart: Mittels einesMeldebogens wird das Archiv vom Ministerium über neueingerichtete Projekte benachrichtigt, so dass die Unterla-gen für eine Bewertung vorgemerkt werden können. ImÜbrigen entstehen archivwürdige Unterlagen vor allem inden Bereichen Haushalt und Steuer, in geringerem Umfangauch im Bereich Organisation.

Denn Schriftgut über die Organisation der Finanzver-waltung und ihrer Dienststellen ist – soweit nicht landes-weite Fragen betroffen sind – besser bei den Oberfinanzdi-rektionen Rheinland und Münster greifbar, welche die Mit-telbehörden der Landesfinanzverwaltung darstellen.Neben der Dienst- und Fachaufsicht über die Finanzämterihres Bezirks unterstützen sie dieselben auch bei der Steu-erverwaltung. Der Schwerpunkt des archivwürdigenSchriftguts liegt im Organisationsbereich. Daneben ermög-licht die Archivierung steuerlicher Einzelfälle in Buch-stabenauswahl aus den Oberfinanzdirektionen einen Blickauf zeittypische Phänomene17. Für die prospektive Bewer-tung des Schriftgutes hat das Landesarchiv einen „Kataloglistenförmig anbietungspflichtiger Unterlagen der Ober-finanzdirektionen“ entwickelt, der sich im Aufbau am bun-deseinheitlichen Aktenplan für die Finanzverwaltungorientiert.

Die Finanzämter bilden die untere Stufe der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung. Neben den Festsetzungs-finanzämtern, die als örtliche Landesbehörden die Erhe-bung und Verwaltung der meisten Steuerarten zu verant-worten haben, existieren noch besondere Finanzämter fürGroß- und Konzernbetriebsprüfung sowie für Steuerstraf-sachen und Steuerfahndung. In den insgesamt 112 Festset-zungsämtern fallen die bereits erwähnten massenhaftgleichförmigen Steuerakten des Veranlagungsbereichs an.Den Quellenwert dieser Unterlagen hat Helge Kleifeldzum Gegenstand seiner Transferarbeit im Rahmen der

11 Vgl. ausführlich zur Vorgehensweise ebd., S. 98 f.12 Aktenplan für die Finanzverwaltung. Gesamtplan (Stand: März 2006),

hg. vom Bundesministerium der Finanzen, Bonn 1982; verfügbar imInternet unter: www.bundesfinanzministerium.de/lang_de/DE/Ser-vice/Downloads/Downloads__4/23745__0,templateId=raw,property=publicationFile.pdf. Vgl. auch Wolfgang Leesch, Bewertung von Aktender Finanzverwaltung, in: Der Archivar 20 (1967), Sp. 249-262, hier Sp. 250.

13 Vgl. dazu Wiech, Steuerung (wie Anm. 1), S. 96.14 Kistenich (wie Anm. 9).15 Dies gilt nur eingeschränkt für jene Länder, in denen die Oberfinanzdi-

rektionen weggefallen sind; vgl. etwa René Wiese, Aussonderungs-und Überlieferungsprofil für das Finanzministerium Mecklenburg-Vor-pommern (seit 1990), Aktenplangruppe O, masch. Schwerin 2006.

16 Vgl. dazu Udo Schäfer, Rechtsvorschriften über Geheimhaltung sowieBerufs- und besondere Amtsgeheimnisse im Sinne der Archivgesetzedes Bundes und der Länder – Grundzüge einer Dogmatik, in: Archiv-gesetzgebung in Deutschland – Ungeklärte Rechtsfragen und neue Her-ausforderungen. Beiträge des 7. Archivwissenschaftlichen Kolloquiumsder Archivschule Marburg, hg. v. Rainer Polley (Veröffentlichungen derArchivschule Marburg, 38), Marburg 2003, S. 39-69, hier S. 55. 17 Vgl. Früh, Wirtschaft (wie Anm. 5).

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Ausbildung für den höheren Archivdienst gemacht18. Umeine positive Auslese zu erhalten, hat das Landesarchiv mit51, nach wirtschaftsgeographischen Gesichtspunktenbestimmten Ämtern so genannte Steuerfall-Listen verabre-det, die jeweils ca. 15 bis 25 Steuerpflichtige umfassen. Aus-wahlkriterien sind etwa die Bedeutung oder Tradition vonBetrieben, ihre Aktivität in regionaltypischen Branchenoder die regionale Prominenz natürlicher Personen. Unter-lagen zu diesen Steuerpflichtigen werden nach Ablauf derAufbewahrungsfrist vom Archiv übernommen. BesondereRegeln gelten für die Erbschaft- und Schenkungsteuerstel-len, die in Nordrhein-Westfalen bei neun Festsetzungsäm-tern zentralisiert sind; übernommen werden von dortUnterlagen zu Erbschaft- und Schenkungsteuerfällen, dieeine Steuersumme von 75.000 EUR überschreiten oder beidenen das steuerpflichtige Vermögen über 1,5 Mio. EURliegt.

Ergänzt wird diese Überlieferungsbildung aus aus-gewählten Festsetzungsfinanzämtern durch die flächen-deckende Übernahme ausgewählter Prüfungsberichte ausallen 15 Finanzämtern für Groß- und Konzernbetriebsprü-fung in Nordrhein-Westfalen. Die bei den zehn Finanzäm-tern für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung entstehen-den Unterlagen sind hingegen in der Regel nicht archiv-würdig, da die entsprechenden Straffälle in der Überliefe-rung der Staatsanwaltschaften besser dokumentiert sind.

b) BundesfinanzverwaltungNach § 2 (3) Bundesarchivgesetz19 sind für nachgeordneteDienststellen der Bundesverwaltung mit beschränkter ört-licher Zuständigkeit die Landesarchive zuständig. DieDienststellen der mittleren und unteren Bundesfinanzver-waltung in Nordrhein-Westfalen werden daher vom Lan-desarchiv Nordrhein-Westfalen betreut.

Der Oberfinanzdirektion Köln unterstehen sämtlicheZolldienststellen in Nordrhein-Westfalen (mit Ausnahmedes Zollkriminalamtes). Da bestimmte Stellen – wie etwadie gesamte Abteilung „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“der Oberfinanzdirektion – bundesweite Kompetenzenhaben, ist für die Bewertung und Übernahme des dort ent-stehenden Schriftgutes das Bundesarchiv zuständig.

Ähnlich wie die Landes-Oberfinanzdirektionen nimmtdie Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung der Oberfinanzdi-rektion Köln vorwiegend organisatorische Aufgaben wahr.Besondere Kompetenzen hat sie jedoch in den BereichenAußenwirtschaft und Marktordnung. Nach der Auflösungder Bundesvermögensverwaltung ist außerdem derBereich Wiedergutmachung als Referat Z 44 in die Zoll-und Verbrauchsteuerabteilung integriert worden20. Wegender weitgehend bundesweiten Zuständigkeit liegt auchhier die archivische Betreuung großenteils beim Bundes-archiv. Das Landesarchiv übernimmt von der Oberfinanz-

direktion somit vor allem Unterlagen zur Aufsicht überOrganisation, Personal und Haushalt des nachgeordnetenBereichs, die im oben bereits erwähnten „Katalog listenför-mig anbietungspflichtiger Unterlagen“ näher bezeichnetsind. Hinzu treten, wie bei den Landes-Oberfinanzdirek-tionen, Einzelfälle aus der Zoll- und Verbrauchsteuererhe-bung nach Buchstabenauswahl.

Die eigentliche Sachbearbeitung im Bereich der Zoll- undVerbrauchsteuerverwaltung liegt überwiegend bei den achtHauptzollämtern in Nordrhein-Westfalen. Archivwürdigsind vor allem die bei der Erteilung bestimmter Bewilli-gungs- und Zulassungsarten entstehenden firmenbezoge-nen Akten und die zugehörigen Prüfungsberichte. Ähnlichwie mit den Festsetzungs- und Prüfungsfinanzämtern ver-einbart das Landesarchiv mit allen Hauptzollämtern Listenvon Betrieben, zu denen Unterlagen vom Archiv übernom-men werden. Weitere bei den Hauptzollämtern entstehen-de Unterlagen sind entweder an anderer Stelle in aussage-kräftigerer Form greifbar (etwa die Aufgabenfelder„Bekämpfung illegaler Beschäftigung“ und „Strafsachen“bei den Staatsanwaltschaften) oder sind aus inhaltlichenGründen nicht archivwürdig. Letzteres gilt auch für das beiden 44 Zollämtern entstehende Schriftgut, da dort nur dieAbfertigung des Warenverkehrs als Routineaufgabe nacheinem festen Ablaufplan stattfindet21.

Die Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalt Kölnsowie die Zolllehranstalten Krefeld und Münster nehmenAufgaben im Bereich der Aus- und Fortbildung von Zoll-beamten, bei der Erteilung verbindlicher Zolltarifgutach-ten und unverbindlicher Auskünfte wahr. Auf Vorschlagder Behörde werden hier wenige, besonders interessanteGutachten in enger Auswahl archiviert, während dieUnterlagen aus dem Bereich der Aus- und Fortbildung inaussagekräftigerer Form bei der Oberfinanzdirektion zuübernehmen sind. Beim Zollfahndungsamt Essen als reinerFahndungsbehörde entstehen in der Regel keine archiv-würdigen Unterlagen.

Als weiterer Zweig der Bundesfinanzverwaltung nebender Zoll- und Verbrauchsteuerverwaltung existierte biszum Jahresende 2004 die Bundesvermögensverwaltung.Den fünf Bundesvermögensämtern in Nordrhein-Westfa-len oblag das Management bundeseigener Liegenschaften,seit den 1990er Jahren etwa verstärkt die Konversion mili-tärisch genutzter Grundstücke und die Veräußerung nichtmehr benötigter Liegenschaften des Bundes. Insbesondereum die letztgenannte Aufgabe effizienter zu bewältigen,wurde die Bundesvermögensverwaltung – ebenso wie dieBundesforstverwaltung – zum 01.01.2005 durch die Bun-desanstalt für Immobilienaufgaben, eine bundesunmittel-bare rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts mit Sitzin Bonn, ersetzt. Die nun erheblich veränderte Behörden-struktur erfordert eine Neuregelung der archivischenBetreuung. Im Schriftgut der ehemaligen Bundesvermö-gensämter sind Unterlagen zu – in einer Liste vereinbarten– ausgewählten Liegenschaften, zu Verbindlichkeiten derehemaligen Wehrmacht und zu den Westwallanlagenarchivwürdig.

18 Helge Kleifeld, Bewertungshinweise für Steuerakten der Festsetzungs-finanzämter, in: Archivarbeit zwischen Theorie und Praxis. Ausgewähl-te Transferarbeiten des 35. und 36. Wissenschaftlichen Kurses an derArchivschule Marburg, hg. v. Stefanie Unger (Veröffentlichungen derArchivschule Marburg, 41), Marburg 2004, S. 389-420; vgl. dazu auchFrüh, Wirtschaft (wie Anm. 5).

19 Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes vom6. Januar 1988 (BGBl. I S. 62), zuletzt geändert durch § 13 Abs. 2 desInformationsfreiheitsgesetzes vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722).

20 Vgl. Heinz Langkau/Daniel Schümmer/Verena Wurbs, Das OFD-Referat Z 44. Die Vorstellung eines zolluntypischen Arbeitsbereiches, in:Auf einen Blick 04/2006, S. 4-6.

21 Unbegründet ist deshalb auch die Sorge, dass durch die Kassation die-ser Unterlagen Lücken in der lokalgeschichtlichen Überlieferung ent-stünden; zu diesbezüglichen Befürchtungen vgl. Gunnar Teske, Ansät-ze und Erfahrungen hinsichtlich archivspartenübergreifender und inter-kommunaler Zusammenarbeit, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 64(2006), S. 2-8, hier S. 4.

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4. Ausblick

Mit dem Einsatz des Archivierungsmodells Finanzverwal-tung strebt das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen nacheiner hochwertigen Überlieferung für den funktional defi-nierten Verwaltungszweig „Finanzen“. Die Erarbeitungdes prospektiv angelegten Modells dient aber nicht nurdem Zweck, die Qualität der Überlieferungsbildung zuerhöhen. Vielmehr sollen auf dieser Grundlage auch Aus-sagen zur Quantität künftiger Übernahmen und darausresultierender Erschließungs- und Konservierungsmaß-nahmen getroffen werden. Eine erste Berechnung, die inden Abschlussbericht aufgenommen worden ist, prognos-tiziert eine jährliche Übernahmemenge von 130,75 lfm ausallen Dienststellen der Bundes- und Landesfinanzverwal-tung in Nordrhein-Westfalen.

Freilich ist das Archivierungsmodell in seiner jetzigenForm keine auf immer festgeschriebene Norm. Erfahrun-gen bei der Bewertungs- und Übernahmetätigkeit werdenebenso wie Umgestaltungen in der Behördenlandschaft zuÜberarbeitungen führen. Eine grundlegende Evaluation istnach einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren geplant;bereits zuvor wird das Modell ständig an die laufendenVeränderungen in der Behördenstruktur und der Schrift-

gutorganisation angepasst22. So stehen der Finanzverwal-tung in Nordrhein-Westfalen durch die geplante Errich-tung eines Landesamtes für Personaleinsatzmanagementim Geschäftsbereich des Finanzministeriums ebensoUmstrukturierungen ins Haus wie durch die beabsichtig-te Reduktion der Festsetzungsfinanzämter. Und die inten-dierte Neuorganisation der Zollverwaltung stellt dieArchivverwaltungen vor allem im Hinblick auf die länder-übergreifende Zuständigkeit der einzurichtenden „Bun-desfinanzdirektionen“ vor neue Herausforderungen.

Damit verlassen wir das Land Nordrhein-Westfalen undbetreten die Bundesebene: Abzugleichen ist das Archivie-rungsmodell Finanzverwaltung des Landesarchivs imBereich der Bundesfinanzverwaltung mit der Überliefe-rung der obersten Bundesbehörden, Bundesoberbehördenund zentralen Einrichtungen des Bundes, die vom Bundes-archiv betreut werden. Zur Klärung archivischer Zustän-digkeiten bei Neuformierungen wie der Bundesanstalt fürImmobilienaufgaben sowie zur archivübergreifendenBewertung von Unterlagen der Bundesfinanzverwaltungwurde 2005 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt23,deren Ergebnisse abzuwarten sind.

22 Vgl. dazu Wiech, Steuerung (wie Anm. 1), S. 99.23 Vgl. dazu Kerstin Oldenhage, Über die Tätigkeit der ARK-Arbeits-

gruppe Finanzverwaltung – ein Zwischenbericht, in: Mitteilungen ausdem Bundesarchiv 14/2 (2006), S. 52-54.

Historische Bildungsarbeit – Öffentlichkeitsarbeit. Eine theoretische Annäherung*Von Jens Murken

Das Letzte, was einen Archivpädagogen an der Bildungs-arbeit interessiert, ist die Theorie. Das ist nicht weiter ver-wunderlich, denn schließlich zeichnen sich ja gerade dieArchivpädagogen und jene Archivmitarbeiter, die mit derArchivpädagogik, mit der Historischen Bildungsarbeit undÖffentlichkeitsarbeit befasst sind, durch ihre praktischenVeranlagungen, durch ihr Organisationstalent, ihre Kreati-vität und ihre Vermittlungskompetenz besonders aus.Andererseits bin ich ja gerade von Archivpädagogen ein-geladen worden, hier eine theoretische Annäherung an dieHistorische Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, halt:an die Historische Bildungsarbeit Spiegelstrich Öffentlich-keitsarbeit zu wagen. Ich danke für diese undankbare Auf-gabe, zwischen einer szenischen und einer praktischenAnnäherung an die Bildungsarbeit1 nun die „dröge“ Theo-rie verbreiten zu dürfen. Nehmen Sie mich also am bestenals unumgängliche Brücke zwischen den blühenden Ufernder Praxis!

Historische Bildungsarbeit heute

Nun zur Sache: Ich habe über ein Thema zu berichten, daseigentlich aus mindestens zwei Bereichen besteht. „Min-destens“ sage ich, weil neben der Historischen Bildungs-arbeit und der Öffentlichkeitsarbeit natürlich auch dieArchivpädagogik ein originärer Aspekt des abzustecken-den und zu verortenden Tätigkeitsfeldes ist. Diese babylo-nische Begriffsvielfalt hat, wie sollte es anders sein, histo-rische Ursachen.2 Sie liegt in der Genese einer Disziplinbegründet, die seit Jahrzehnten um Akzeptanz innerhalbder Archivszene und der archivarischen Ausbildung ringt.Ich kann nicht sehen, dass Historische Bildungsarbeit undÖffentlichkeitsarbeit, dass Archivpädagogik oder auchArchivmarketing – ich spreche summarisch ganz gern von„Historischer Kommunikation“ – heute bereits adäquatetablierte Aufgabenbereiche im Kanon der archivischenPraxis wären. Erfreulich ist immerhin, dass die HistorischeBildungs- und Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen von Wei-

* Um einige Anmerkungen ergänzter Vortrag im Arbeitskreis Archivpäd-agogik und Historische Bildungsarbeit auf dem 76. Deutschen Archiv-tag in Essen, 26. September 2006.

1 Der Vortrag wurde auf der Arbeitskreissitzung von einer „szenischenAnnäherung“ (Dr. Erika Münster-Schröer/Dr. Clemens Rehm: „Beiuns im Archiv …“) und einem Vortrag von Roswitha Link: „Adres-satenorientiert – Themenspezifisch. Historische Bildungsarbeit in derPraxis“ eingerahmt.

2 Vgl. Günther Rohdenburg: „… sowohl historisch als auch pädago-gisch, didaktisch und archivarisch qualifiziert …“. Zur Geschichte der„Archivpädagogen“ als Mitarbeiter der historischen Bildungsarbeit anArchiven, in: Der Archivar 53/2000, S. 225 (www.archive.nrw.de/archi-var/2000-03/Aa03.htm).

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terbildungsveranstaltungen für Archivare und andere Kul-turarbeiter eine gewisse Tradition aufweisen kann,3 dass essie auch schon als eigenes Referat innerhalb von Landes-archivverwaltungen gibt, so in Baden-Württemberg,4 unddass sie jetzt auch mit Prof. Dr. Susanne Freund als Lehr-gebiet an der Fachhochschule Potsdam verankert ist. Her-kömmlich aber hat sich die Historische Bildungsarbeit alsResultat eines Außen- und Binnendruckes in verschiede-nen Nischen der archivischen Landschaft eingenistet,dabei Freiräume erkannt und genutzt („Spielwiesen“ hatClemens Rehm das einst genannt)5. Nachdem dieGeschichtswissenschaften seit den achtziger Jahren durchdiverse kultur- und alltagsgeschichtliche Erweiterungenallmählich wieder Boden gegenüber den Sozialwissen-schaften zur Erklärung der Welt gut machen konnten, eröff-nete sich auch ein Arbeitsfeld für Historische Bildungsar-beit, die sich im Konkreten durch die Arbeit mit und inArchiven nähren konnte.6 Historische Bildungsarbeit derArchive geschieht dabei traditionell adressatenorientiert, inGestalt der Archivpädagogik speziell in Zusammenarbeitmit Schulen, Schülern und Lehrern als ausgewählter Öffent-lichkeit. Man könnte Historische Bildungsarbeit undÖffentlichkeitsarbeit so zuordnen, dass das eine als Unter-abteilung des anderen zu behandeln wäre. Das ist aber nicht mein Verständnis beider Aufgabenfelder. Im Archiv-wesen ist Historische Bildungsarbeit Öffentlichkeitsarbeitmit pädagogischen, didaktischen und historisch-kritischenMitteln. Und Öffentlichkeitsarbeit ist Historische Bildungs-arbeit mit journalistischen und Marketing-Instrumenten.

Archive und Öffentlichkeitsarbeit revisited

Dass ein Deutscher Archivtag sich dem Rahmenthema„Archive und Öffentlichkeit“ widmet, ist dabei nichtsNeues. Denn bekanntlich lautete bereits das Thema des 45.Deutschen Archivtags in Kiel 1969 „Archivische Öffentlich-keitsarbeit“. Und führt man sich in diesem Zusammen-hang noch einmal Hans Booms’ damaligen Vortrag überVoraussetzungen und Möglichkeiten einer Öffentlichkeits-arbeit der Archive vor Augen,7 so kommt seinen Aussageneine geradezu erschreckende Aktualität zu und man muss

besorgt fragen, ob wir eigentlich gar nicht vorangekom-men sind in all den Jahren: Bereits Booms konnte einengewissen Trend zur Implementierung von PR und Öffent-lichkeitsarbeit in öffentlichen Verwaltungen feststellen,bemerkte das Imageproblem der Archive und die notwen-dige Erweiterung des archivarischen Berufsbildes; er nahmdefinitorische Unterscheidungen zwischen archivischerSelbstdarstellung und öffentlicher Bildungsarbeit vor undsprach nicht nur vom historischen Datenspeicher Archiv,sondern vor allem von der Verpflichtung der Archivare,sich im Kontext der „Freedom of Information“ an der Bil-dung der demokratisch strukturierten Öffentlichkeit zurpolitischen Mündigkeit zu beteiligen. Die Passage ausWilly Brandts erster Regierungserklärung, die fünf Wochennach dem Kieler Archivtag gehalten wurde – „Wir wollenmehr Demokratie wagen“ – könnte auch von Hans Boomsstammen und eigentlich reicht es aus, sich seinen Vortragjeden Morgen vor Augen zu führen, um engagiert das eigene Tagewerk zu beginnen.

Was ist also alles nicht geschehen in den vergangenen 37 Jahren?– Das Image der Archive ist nicht positiv.– Die Öffentlichkeitsarbeit der Archive geschieht nicht

effizient.– Die Historische Bildungsarbeit ist kein selbstverständ-

licher Bestandteil des archivarischen Tätigkeitsfeldes.– Es gibt keine Archivwissenschaft und keine Archivdi-

daktik8.– Das Berufsbild des Archivars ist vertikal, nicht horizon-

tal differenziert.– Es gibt zu wenig Verständnis von und für Archivmana-

gement.Ich weiß, die Liste ist schroff und undifferenziert. Sie

wird den zahlreichen konstruktiven Initiativen und Ansät-zen aus all diesen Manko-Bereichen nicht gerecht. Ichwerde jetzt dennoch nicht jene Literatur zitieren, die michim Detail widerlegen könnte und die uns glauben machenkönnte, dass wir uns – nennen wir es ruhig archivpolitisch– auf dem richtigen Wege befinden. Denn zum einen ließesich die Liste noch wesentlich verlängern, und zum ande-ren hat ein wirklicher Bewusstseinswandel für ein moder-nes Verständnis von den Aufgaben des Archivs unter denPrämissen der Historischen Bildungsarbeit und Öffentlich-keitsarbeit in der Breite noch nicht stattgefunden. Menta-litäten ändern sich bekanntlich am schwerfälligsten.

Lobbyarbeit und PR professionalisieren

Aber woran liegt es letztlich, dass all die Ansätze, die wirin den verschiedenen Disziplinen des Archivwesens zurReform desselben sowie zur Reform der Ausbildung derZunft vorgenommen haben, nicht (oder noch nicht)greifen?

Zum einen hat es sicherlich mit dem heterogenen undfachgruppenverteilten Archivwesen in Deutschland zu

3 Vgl. Katharina Hoffmann: Public Relations and Historical Educationin German Archives. Vortrag auf dem Seminar „Archival public relati-ons and education“ des International Council on Archives, Warschauund Krakau, 7.-10.9.2003; Katharina Hoffmann: Möglichkeiten undGrenzen der Öffentlichkeits- und historischen Bildungsarbeit in kleine-ren Archiven. Ergänztes und überarbeitetes Manuskript des Vortragsauf der ANKA-Tagung der Regionalgruppe Oldenburg am 13.11.2002in Westerstede (www.oldenburg.de/stadtol/fileadmin/oldenburg/Benutzer/PDF/30/304/stadtarchiv/hoffmann.pdf).

4 Landesarchiv Baden-Württemberg, Referat 23: Archivische Bildungs-und Öffentlichkeitsarbeit (Sachgebiete: Öffentlichkeitsarbeit und Mar-keting; Archiv und Forschung; Archiv und Schule; Publikationen).

5 Clemens Rehm: Spielwiese oder Pflichtaufgabe? Archivische Öffent-lichkeitsarbeit als Fachaufgabe, in: Der Archivar 51/1998, S. 206-218.

6 Beispiele jetzt in: Clemens Rehm (Hg.): Historische Bildungsarbeit.Kompass für Archive? Vorträge des 64. Südwestdeutschen Archivtagsam 19. Juni 2003 in Weingarten, Stuttgart 2006. Vgl. auch Birgit Schnei-der-Bönninger unter Mitarbeit von Anita Placenti: „Ran an die Quel-len!“ Theorie und Praxis der Archivdidaktik – Das Wolfsburger Modell,Wolfsburg 2005.

7 Hans Booms: Öffentlichkeitsarbeit der Archive – Voraussetzungen undMöglichkeiten, in: Der Archivar 23/1970, S. 15-32.

8 Vgl. Franz-Josef Jakobi: Zur didaktischen Dimension der Archivarbeit,in: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voigt (Hg.):Geschichtsbewußtsein und Methoden historischen Lernens, Weinheim1998, S. 227-237.

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tun. Was eine Chance für dezentrale Lösungsmodelle undfachlich eigenständige Wege sein könnte, stellt sich häufiggenug als Wettbewerbssituation unter eitlen Konkurrentendar. Die Reform vieler Landesarchivdirektionen erwecktden Anschein, als müsse nun in jedem Bundesland das Radder archivischen Aufgabenverteilung, Rollenzuschreibungund Selbstdarstellung noch einmal neu erfunden werden.Eigeninteressen dominieren auch die Lobbyarbeit – sofernes eine solche überhaupt gibt. Der Berufsfachverband, derletztlich nur ein Spiegelbild der archivischen Wirklichkeitsein kann, ist bereits mit zunftinternen Moderationsaufga-ben gut ausgelastet. Es reichen die ehrenamtlichen Tätig-keiten jedoch nicht mehr aus, um auch auf der politischenbzw. kulturpolitischen Ebene als Interessenvertretung odergar als „Pressure Group“ wahrgenommen zu werden. Wirkönnen aber nicht ständig von den Archiven als dem„Gedächtnis der Gesellschaft“ und als „unseren Schatz-kammern“ schwadronieren, wenn wir uns letztlich nichtauch wie Entscheider verhalten und unsere Rolle anneh-men, aktiv beanspruchen und kompetent wahrnehmen!Dass wir Archivarinnen und Archivare tagtäglich an nichtunerheblicher Stelle verantwortlich sind für die Gestaltungunserer Zukunft, das müssen wir auch so kommunizieren– nach innen und nach außen. Wir ermöglichen ja nicht nurden zeitnahen Zugriff auf den Fundus unseres gesellschaft-lichen Orientierungswissens, wir machen ja auch unsereBehörden und Unternehmen handlungsfähig, sorgen fürRechtssicherheit, bilden unsere Kinder mit aus und ermög-lichen jeder Generation das eingeforderte und notwendige„lebenslange Lernen“. Daher muss mit unserer Aufgaben-wahrnehmung auch die Außenwahrnehmung unsererZunft und unserer Einrichtungen auf einem authentischenNiveau deckungsgleich sein.9

Neben der Lobbyarbeit als Teil der indirekten Öffent-lichkeitsarbeit gilt es ebenso die direkte Öffentlichkeits-arbeit zu verbessern und zu professionalisieren. Kommu-nikation mit der Öffentlichkeit muss zielgruppenbezogenund wechselseitig erfolgen. Fraglich ist, wieso das eigent-lich den Archivpädagogen bzw. den Archivarinnen undArchivaren überlassen sein muss, die auf dem Gebiet derHistorischen Bildungsarbeit tätig sind? Öffentlichkeitsar-beit oder neudeutsch: Public Relations ist ein eigenesBerufsfeld, ein Marketinginstrument, für das man spezifi-sche Kenntnisse und nicht nur Talent benötigt. Wenn wirvom „Lobbying“ oder auch vom „Issue Management“reden, mit dem wir unsere Themen und Ideen in denöffentlichen Meinungsbildungsprozess einbringen, wennwir an die interne Kommunikation mit den Archiv-, Behör-den- und Unternehmensmitarbeitern denken, wenn wirdas Sponsoring und die Pressearbeit (als die Klassikerinder Öffentlichkeitsarbeit) ordentlich betreiben wollen,dann muss auch dies nach den Regeln der Kunst gesche-hen. Wir haben ja bereits häufiger die alte PR-Weisheit „TueGutes und rede darüber“ in den archivischen Bereich über-tragen gesehen.10 Es muss aber mehr noch darum gehen,

auch zu wissen, wie man darüber gekonnt zu reden hat.Öffentlichkeitsarbeit wird ja zwar kaum mehr mit zeitlichund räumlich begrenzter Werbung verwechselt, aber den-noch legen die Archive und die sie tragenden Behördenund Einrichtungen häufig nicht genug Engagement in denAufbau langfristiger und vertrauensvoller Beziehungen zuden Medien. Wichtig ist ein ständiger Dialog mit den Ziel-gruppen, also mit der relevanten Öffentlichkeit (das wirktdann auch in die breite Öffentlichkeit). Zwar genießenArchive und deren Mitarbeiter aufgrund der Gediegenheitihres Tuns sowie aufgrund ihres alltäglichen Umgangs mitTexten einen Vertrauensvorschuss in Redaktionen, dochlanden beispielsweise bei einer Tageszeitung täglich meh-rere hundert Pressemitteilungen und Veranstaltungshin-weise, so dass wir Archivarinnen und Archivare bereits wieJournalisten denken (zumindest an die Journalisten den-ken) sollten, wenn es um das Herausfiltern von Informa-tionen und um die Übernahme in den redaktionellen Teileiner Zeitung geht. Wenn Öffentlichkeitsarbeit hingegenpunktuell betrieben wird oder von unterschiedlich einge-weihten Ansprechpartnern, wenn die Qualität der eigenenMeldungen spürbar variiert, wenn die Aktualität, die Ori-ginalität, die Prominenz oder die Folgeschwere des Ereig-nisses nicht herausgestellt worden ist, dann dürfen wir unsnicht wundern, wenn wir zwar Gutes tun, dies aber nichtvernommen wird. Wir bringen uns regelmäßig um dieFrüchte unserer Arbeit. Treten wir also unseren Öffentlich-keitsreferenten, Pressesprechern oder persönlichen Refe-renten des Bürgermeisters auf die Füße, damit sie mit uns– und zwar in Abstimmung mit den jeweils fachlich kom-petenten oder sachlich zuständigen Personen aus demArchiv – die richtigen PR-Maßnahmen in die Wege leiten!

Archivische Kundenwirkung binnen und buten

Wenn PR professionell erfolgt, wenn archivarische Leistun-gen und archivische Dienstleistungen den Zielgruppenkompetente und erwünschte Lösungen präsentieren, dannbirgt das natürlich auch die Chance zur Beeinflussung des„Images“ eines Archivs, des Archivträgers und auch desArchivwesens im Allgemeinen (das wir vor Ort repräsen-tieren). Der Aufbau eines positiven Images ist das Ziel vonÖffentlichkeitsarbeit.11 Ein gutes Image verkauft Dienst-leistungen (und wenn wir unsere Tätigkeiten schon alsDienstleistungen interpretieren, dann müssen wir ebenauch die Vorstellung von Marktsituationen akzeptieren,wo wir im Wettbewerb mit Mitbewerbern stehen). Eingutes Image baut aber nicht nur verfestigte Vorurteile abund macht Archive nicht nur attraktiv für Nutzer („Kun-den“ müssen wir sie dann ja konsequenterweise nennen),ein gutes Image motiviert auch die Mitarbeiter und sorgtfür die Gewinnung von qualifizierten Nachwuchskräften.Dies halte ich für sehr entscheidende Faktoren für dieAkzeptanz unserer Tätigkeit und die Existenz unserer Ein-richtungen.

9 Vgl. dazu das Kapitel „Der kulturelle Auftrag der Archive – Öffentlich-keitsarbeit, Historische Bildungsarbeit, Archivdidaktik und Archivpäd-agogik“, in: Thomas Lange/Thomas Lux: Historisches Lernen imArchiv, Schwalbach/Ts. 2004, S. 50-56.

10 Bettina Wischhöfer: Öffentlichkeitsarbeit und Archiv – Systemtheore-tische Überlegungen, in: Aus evangelischen Archiven 36/1997, S. 31-37;Gabriele Stüber: Zielorientiert und adressatenbezogen. Felder archivi-scher Öffentlichkeitsarbeit, in: Aus evangelischen Archiven 38/1998, S. 53-74.

11 Vgl. das Kapitel „Imagefragen im Archivwesen“, in: Jens Murken: VomNutzen und Nachteil des Tages der Archive für die Archive. EineEvaluation, Diplomarbeit FH Potsdam 2005, S. 9-12 (www.augias.net/doc/fhp2005_murken.pdf).

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Dabei muss uns sehr bewusst sein (und ich habe dasschon en passant einfließen lassen): Archivmitarbeiter sindeben nicht nur Repräsentanten des Archivs, sondern durchdas mehr oder weniger hohe Benutzeraufkommen auchRepräsentanten ihrer Archivträger. Die Beziehung zu deneigenen Behörden, Verwaltungen und Unternehmensabtei-lungen erscheint mir aber vielfach als immer noch drin-gend verbesserungsfähig. Marketingkonzepte der Archiv-träger müssen das Archiv, das auf den Feldern der Öffent-lichkeitsarbeit und Historischen Bildungsarbeit wirkt,zwingend mit einschließen. Das darf von uns gefordertwerden und das müssen wir auch einfordern!

Schließlich repräsentiert jedes Archiv auch das Archiv-wesen als Ganzes. Dies müssen wir uns in unserem Tunebenfalls stets vor Augen führen! Eine Konsequenz darausmuss eine Verbesserung der zwischenarchivischen Koope-ration sein sowie die Stärkung der archivischen Solidari-tät. Die Kommunikationsfähigkeit zwischen Archiven istimmer noch beschränkt, das gilt aber nicht nur für die„Sender“; auch potenzielle „Empfänger“ stellen sich häu-fig taub, weil sie meinen, ihnen könne ohnehin nicht gehol-fen werden. Gerade kleine Archive, Ein-Personen-Archive,die haupt-, neben- oder auch ehrenamtlich geführt werden,haben aber ein vitales Interesse an fachlichem Austausch,an Beratung und an Unterstützung bei jenen Aufgaben, diesie allein häufig nicht stemmen können. Die archivischeSolidarität muss in diesem Punkte auch dazu verhelfen,dass solche Archive auch innerhalb ihrer eigenen Verwal-tungen eine Rückenstärkung erfahren.

Das hier kurz Angeführte sind nur einige Zielrichtungenund Vorgehensweisen archivischer Öffentlichkeitsarbeit.Inhaltlich haben wir dabei ein überaus großes Pfund, mitdem wir wuchern können: das uns anvertraute authenti-sche Material. Wir besitzen eine Monopolistenstellung, diewir marktwirtschaftlich viel zu wenig ausnutzen. Dabeigeht es mir nicht um finanziellen Gewinn (ich halte Archi-ve als Bildungseinrichtungen hingegen notwendigerweiseund naturgegeben für investive Betriebseinheiten), son-dern es geht mir vor dem Hintergrund des Gesagtendarum, die zentrale Funktion der Archive für die Archiv-träger, für den Sprengel und für die Gesellschaft angemes-sen herauszustellen. Neben dem Argumentieren mit dem„Original“ müssen wir uns auch des Aspektes der „Trans-parenz“ noch stärker bewusst werden. Im Kontext vonOpen Access und der wirklichen Umsetzung von Informa-tionsfreiheitsgesetzen sind die Archive „demokratischeLernorte“ in historischen und gegenwärtigen Bezügen. Wirmüssen dabei auf unsere Rolle als Querschnittseinrichtungpochen, gehören konkret besser zum Hauptamt und nichtals Unterabteilung zu Kultur und Sport etc. Wir verfügenüber die entsprechende Kompetenz oder sind zumindestwillens, uns kontinuierlich fachlich weiterzuentwickeln.Lassen Sie sich als Archiv also weder negativ abstempelnnoch – nur als Beispiel genannt – auf den Internetpräsen-zen Ihrer Behörden, Kommunen und Unternehmen derartunauffindbar ablegen, als würde man sich Ihrer schämen!Archive sind von zentraler Bedeutung, und Öffentlich-keitsarbeit ist für Archive und ihre Träger von zentralerBedeutung.12

Berufsbild und Berufsausbildung im Wandel

Ich komme damit zu einem anderen Punkt, der mir sehram Herzen liegt: die Kern- und Randbereiche archivischerTätigkeit.13 Mein Plädoyer lautet: Unterlassen wir dochbitte die selbstzerstörerische Trennung von ganz selbstver-ständlich zusammenhängenden Aufgaben! Dass sich archi-vische Aufgaben (wie Bewertung, Verzeichnung, Auswer-tung usw.) unterscheiden lassen und dass sie als Arbeits-schritte aufeinander folgen, darf weder als Legitimation füreine Hierarchisierung der verschiedenen Aufgaben dienennoch zu ihrer Scheidung in Kern und Schale führen. Es ist schlichtweg ein traditionelles Missverständnis vomArchivarsberuf, die Schriftgutfixierung der Benutzer-orientierung vorzuziehen (oder vorzuschieben). VolkerSchockenhoff hat ja schon vor Jahren auch für Deutsch-land die unumgängliche Transformation unserer „Papier-archive“ zu „Menschenarchiven“ angemahnt.14 WärenArchive allein zur Aktenerhaltung und Aufbewahrung da,dann übergingen wir nicht nur fahrlässig das Informati-onspotenzial und den Bildungsauftrag der Archive, dannführten wir letztlich auch den wissenschaftlichenAnspruch unseres Berufes ad absurdum. Wenn wir abereinerseits das Wort von den „Archivwissenschaften“ imMunde führen (ich bin unsicher, ob es solche gibt), dannmüssen wir auf der anderen Seite auch den wissenschaft-licher Archivar des höheren Dienstes zu wissenschaftlicherErkenntnisleistung, Theoriebildung und Grundlagenfor-schung herausfordern, weil ansonsten nicht erklärlichwäre, wieso wir unser immer noch recht undurchlässigesberufliches Kastensystem aufrechterhalten. Das archivari-sche „Handwerk“ erlernen schließlich auch die Diplom-Archivare und sie beweisen als „Universalisten“ und Ein-zelkämpfer in der Berufspraxis häufig genug, dass sie diebreite Aufgabenpalette ihres zeitgemäß verstandenenBerufes annehmen und ausfüllen können. Um es aber auchdeutlich zu sagen: So wenig wie ein Historiker trotz Talentund Begeisterung für eine archivische Tätigkeit automa-tisch zum Archivar mutiert, so wenig sind auch Diplom-Archivare allein durch ihren täglichen Umgang mit histo-rischen Quellen Historiker. Und Historiker und Archivaresind auch nicht automatisch Pädagogen oder PR-Fachleu-te – und jeweils umgekehrt. Der eine ist aber auch nicht desanderen Erfüllungsgehilfe. Wir sollten insofern, soweit diepersonellen Voraussetzungen gegeben sind, in den Archi-ven stärker teamorientiert als laufbahnbezogen denkenund arbeiten. Wir müssen die berufliche Qualifikation denAnforderungen und den Ansprüchen, die unsere „Häuserder Geschichte“ stellen, anpassen und uns viel stärker nachden Kompetenzen als nach den Zuständigkeiten richten.Und wir müssen tatsächlich auch über „Tellerränder“ zuschauen lernen, so wie zum Beispiel bei der Überliefe-

12 Vgl. „Historische Bildungsarbeit als integraler Bestandteil der Aufgabendes Kommunalarchivs“. Positionspapier der Bundeskonferenz derKommunalarchive beim Deutschen Städtetag (BKK), 18.4.2005(www.lwl.org/waa-download/aktuelles/Positionspapier_Historische_Bildungsarbeit.pdf).

13 Vgl. die Kapitel „Kern und Schale archivischer Tätigkeit“ sowie „Ganz-heitlichkeit der Archivarbeit“ in: J. Murken: Vom Nutzen und Nachteildes Tages der Archive für die Archive (wie Anm. 11), S. 12-19.

14 Volker Schockenhoff: Historische Bildungsarbeit – Aperçu oder,Archivische Kernaufgabe‘. Die gegenwärtige Diskussion um diezukünftige Rolle öffentlicher Archive, in: Günther Rohdenburg (Hg.):Öffentlichkeit herstellen – Forschen erleichtern. Aufsätze und Literatur-übersicht zur Archivpädagogik und historischen Bildungsarbeit,Hamburg 1998, S. 15-26, hier: S. 17.

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rungsbildung, wo ja seit einiger Zeit zurecht ein stärkererDialog mit der historischen Forschung gefordert wird.15

Die Angst, das schützende Kerngehäuse unserer Insti-tutionen verlassen zu müssen, um sich mit vermeintlichenRandbereichen zu beschäftigen, ist möglicherweise aucheinfach nur Ausdruck von Hilflosigkeit (böse kann manauch behaupten: und von persönlicher Disposition, dennwir müssen uns doch kritisch fragen lassen, ob wir unseinst beruflich nicht doch bewusst für den „Elfenbeinkel-ler“ entschieden haben, von dem wir dieselben stereotypenVorstellungen von Staubnähe und Lebensferne hatten, diewir heute um unserer Existenz willen bekämpfen müssen).Natürlich ist es schwierig, das, was weder das Berufsbildnoch die Berufsausbildung vermitteln, fachlich angemes-sen zu kompensieren. Es zeugt sogar von einer gutenSelbsteinschätzung, wenn man seine Defizite hier benen-nen kann und mag. Aber wir dürfen uns dem Wandel desBerufsbildes nicht verschließen. Es ist keine Geheimwis-senschaft, was man im apostrophierten Randbereich archi-vischer Aufgaben leisten muss, und es wird dadurch – ent-gegen allen prominenten Einsprüchen – auch nicht dasZeitbudget für die sog. Kernaufgaben beraubt.16 Wenn wirdie Argumente der knapper werdenden Mittel, der Verwal-tungsreform und des Aufgabenabbaus leichtfertig zumSchutz unserer lieben Kernaufgaben selbst aufgreifen undanführen, dann berauben wir uns hingegen unserer eige-nen Grundlagen. Denn wer unserer Geldgeber, unsererSponsoren und unserer Kunden wird sich im Ernstfalledarauf einlassen, mit uns in unserer selbstgeprägten Wäh-rung „verzeichnete Laufmeter“ zu verhandeln? – Wir müs-sen in unseren herkömmlichen Kernaufgaben einemgewissen Primat der Nutzerorientierung huldigen, was wiraber nur können, wenn wir durch unsere Öffentlichkeits-arbeit und unsere Bildungsarbeit in einem kontinuierlichenKommunikationszusammenhang mit den Adressaten ste-hen.

Archivmanagement als Strategie

Für mich münden die Herausforderungen von Öffentlich-keitsarbeit und Historischer Bildungsarbeit, die ich – wiedargelegt – als elementare archivarische Tätigkeitsfelderverstanden wissen möchte, die ebenso viel Knowhow,Ausdauer und strategischer Planung bedürfen wie dieanderen Fachaufgaben, notwendigerweise ein in ein

Gesamtkonzept von Archivmanagement.17 Für ein solchesstrategisches Management kann man sich auch als Non-Profit-Einrichtung durchaus bei den herkömmlichenManagementkonzepten der Betriebswirtschaftslehre undder Unternehmen bedienen. Und Sie werden schnell fest-stellen, dass derartige Adaptionen mit hohem Wiederer-kennungswert mittlerweile in vielen Branchen vorgenom-men werden, sei es im Stadtmarketing, im Tourismusma-nagement oder in anderen Dienstleistungsbereichen. DieseInstrumente für strategisches Management, wie Stärken-Schwächen-Analyse, Potenzialanalyse, Marketing, Leit-bildentwicklung, Qualitätsmanagement und Controlling,basieren in Etlichem auf dem, was ich auch für die Öffent-lichkeitsarbeit und Historische Bildungsarbeit als grundle-gend angesprochen habe, nämlich die Kundenorientie-rung, die Festlegung realistischer Ziele, flache innerbetrieb-liche Hierarchien, Qualität als Maßstab sowie kontinuier-liche Binnen- und Außenkommunikation. – Das ist übri-gens erlernbar, das ist leistbar und das macht sogar Spaß!

Ich möchte aber abschließend auch noch einmal zu den-jenigen Stimmen Stellung beziehen, die meinen könntenund meinen werden, mit der ja nicht allein von mir vertre-tenen Auffassung von Öffentlichkeitsarbeit, HistorischerBildungsarbeit und Archivmarketing würden wir nicht nurunser „Proprium“ verlassen, sondern uns auch unnötiger-weise in eine Konkurrenzsituation mit anderen Kulturein-richtungen und sogar Eventveranstaltern begeben, mit derwir in professioneller Hinsicht überfordert sind. Sofern wirunsere Ziele vernünftig planen, sofern wir die Wünscheunserer Zielgruppen in Erfahrung bringen und sofern wirunsere Schwächen und Stärken genau kennen, haben wirals gesellschaftlicher „Lernort“ gar keine Konkurrenz zufürchten, denn unsere Produkte sind einzigartig und dieQualität unserer Arbeit ist über jeden fachlichen Zweifelerhaben.

Ich sehe natürlich auch, dass wir möglicherweise garnicht mehr in einer Dienstleistungsgesellschaft leben (justin dem Moment, wo wir als Archive darin angekommensind), denn die Dienstleistungsangebote sind heutzutagederart lückenlos ausgereift, dass wir uns wie in einem„betreuten Leben mit Vollpflegestufe“ fühlen dürfen. Soleben wir möglicherweise im Zeitalter der „Erlebnisgesell-schaft“, in der Glückssuche und Genuss als oberste Lebens-ziele gelten. Aber dass man den Besuch im Archiv alsGenuss und zudem nicht nur als Suche, sondern sogar alsdas Finden von Glück empfinden darf, scheint doch wohlfraglos der Fall zu sein! Und wo das noch nicht der Fall ist,da können vielleicht die gegebenen Anregungen ein wenigweiterhelfen …

15 So auf dem 46. Deutschen Historikertag in Konstanz 2006 in der Sekti-on „Geschichtsbilder der Archive / Geschichtsbilder der Wissenschaft:Dokumente und Deutungen zur Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970erJahre“ (www.uni-konstanz.de / historikertag / programm.php?menu=programm&sektion=ng&veranstaltung=ng10). – Vgl. das Perspektiv-papier „Die deutschen Archive in der Informationsgesellschaft“ derArbeitsgruppe „Informationsmanagement der Archive“, veröffentlichtin: Der Archivar 57/2004, S. 28-36; vgl. auch den Bericht von RagnaBoden und Christoph Schmidt zum Workshop am 10.12.2004 in derOberfinanzdirektion Münster: „Die Überlieferung von Unterlagen derBundes- und Landesfinanzverwaltung“ – Archivierung, Quellenwert,Benutzung (www.archive.nrw.de/dok/publikationen/finanzwork-shop.pdf).

16 Vgl. z. B. Hans-Wilhelm Eckardt: Kern und Schale. Überlegungen zuden Aufgaben eines zeitgemäßen Archivs, in: Hans-WilhelmEckardt/Klaus Richter (Hg.): Bewahren und Berichten. Festschrift fürHans-Dieter Loose zum 60. Geburtstag, Hamburg 1997, S. 27-52.

17 Vgl. Hartmut Weber/Renate Köhne-Lindenlaub: Archivmanage-ment, in: Evelyn Kroker/Renate Köhne-Lindenlaub/Wilfried Reininghaus/Ulrich S. Soénius (Hg.): Handbuch für Wirtschaftsar-chive. Theorie und Praxis, 2. Aufl., München 2005, S. 259-274; BrigitteKramer: Management in Kommunalarchiven – Strategien für dieAnpassung an veränderte Arbeitsbedingungen im Rahmen der neuenSteuerungsformen, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 64/2006, S. 8-16,insb. S. 11 ff.

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Im Jahr 2005 feierte Norwegen ein ganz besonderes Jubilä-um – die 1905 erlangte Unabhängigkeit und das damit ver-bundene hundertjährige Bestehen des Nationalstaates.Überall im Land arrangierten zentrale öffentliche Kultur-einrichtungen Ausstellungen und Veranstaltungen, die dieGeschichte Norwegens aus unterschiedlichen Blickwin-keln beleuchteten. Auch im Reichsarchiv Oslo wurde mitder Ausstellung „Frei oder gebunden? Die 750-jährigeSelbständigkeit des Norwegischen Reiches“ (Fritt ellerbundet? Det norske rikets selvstendighet gjennom 750 år)der Auflösung der Union mit Schweden 1905 gedacht.Pünktlich zum Jubiläum öffnete das Reichsarchiv in Osloden Nutzern und Besuchern seine Tore zu den neuenPublikums- und Veranstaltungsräumlichkeiten und nahmgleichzeitig die Arbeit in den neu entstandenen Fachwerk-stätten auf. König Harald V. persönlich übergab am 8. Sep-tember 2005 dem Reichsarchiv feierlich die neuen Lokaleund unterstrich damit einmal mehr die große Bedeutungund das hohe Ansehen, das öffentliche Kulturträger wiedas Reichsarchiv in Norwegen genießen. Anlass genugalso, das norwegische Archivsystem näher vorzustellen,mit dem die deutsche Profession nicht allzu vertraut ist.

Arkivverket – die staatliche Archivverwaltung im Überblick

Die norwegische Archivverwaltung ist eine Einrichtungmit langer Tradition. Der Grundstein des „Arkivverket“wurde 1817 mit der Gründung des Reichsarchivs in Oslogelegt. Zum ersten Leiter wählte man zwei Dekaden spä-ter (1840) den norwegischen Dichter, Theologen undGesellschaftskritiker Henrik Wergeland. Die durch Ver-ordnung gebildete staatliche Organisation des „Arkivver-ket“ konzentrierte sich zunächst auf die Bewahrung vonstaatlich geschaffenen Unterlagen. Da staatliche Institutio-nen jedoch nicht ausschließlich in Oslo angesiedelt waren,übernahmen auch die regionalen Staatsarchive (Anfangdes 19. Jahrhundert noch als Stiftsarchive bezeichnet)Schriftgut zentraler Behörden. Der Wunsch nach Kompe-tenzbündelung veranlasste die bis dahin existierendenStiftsarchive in den verschiedenen Landesteilen Norwe-gens, der staatlichen Archivverwaltung beizutreten. Dieersten Archive in Trondheim und Bergen traten schon 1850bzw. 1885 der Archivorganisation bei. Schließlich folgtendie Staatsarchive in Oslo, Hamar, Kristiansand, Stavanger,Tromsø und Kongsberg (1914, 1917, 1934, 1970, 1994). Dasjüngste Mitglied der landesumfassenden Archivverwal-tung, das Samische Archiv, kam im Jahr 2005 hinzu. Damit

verfügt das „Arkivverket“ heute über ein Reichsarchiv inOslo, 8 Staatsarchive und das Samische Archiv in Kauto-keino, das speziell die Sicherung und Bewertung vonArchivmaterial der samischen Bevölkerungsgruppe Nor-wegens übernimmt. Der Reichsarchivar, oberste Verwal-tungsinstanz im norwegischen Archivsystem, führt in Per-sonalunion sowohl das „Arkivverket“, als auch das Reichs-archiv. Nach mehr als 20 Jahren im Dienst der staatlichenArchivverwaltung Norwegens, übergab ReichsarchivarJohn Herstad am 1. August 2006 den Geschäftsbereich anseinen Nachfolger Ivar Fonnes.

Das 1992 in Kraft getretene Archivgesetz unterstreichtdie zentralistische Struktur des norwegischen Archivwe-sens und beschreibt die auszuführenden Tätigkeiten des„Arkivverket“. Danach gehört es zu den primären Aufga-ben der Verwaltung, Archivmaterial staatlicher Behördenzu übernehmen und das Material für die Benutzung zuerschließen. Gleichzeitig soll die Archivorganisation dieAufsicht über die Archivarbeit im norwegischen Staat, sei-nen Bezirken und Gemeinden führen und dazu beitragen,dass auch Archive privaten Ursprungs bewahrt werden.Dass aber die Aufgaben des „Arkivverket“ trotz stetig wie-derkehrender Arbeitsprozesse nicht statisch formuliertwurden, sondern flexibel auslegbar und an veränderteUmfeldsituationen anpassbar sind, zeigt die Statistik. Sostieg die Besucherzahl in den letzten Jahren erheblich anund auch die vermehrte Ablieferung von Schriftgut staat-licher und privater Institutionen bestätigt das starke Inter-esse der Öffentlichkeit an der staatlichen Archivverwal-tung und das Vertrauen in die geleistete Arbeit. Das„Arkivverket“ verfügt über Schriftgut im Umfang von ca.180.000 laufenden Regalmetern, wovon ein großer Teil(115.000 lfm) in den Magazinräumen des Reichsarchivsuntergebracht ist. Das Staatsarchiv in Oslo beansprucht ca.18.000 Regalmeter der Magazinfläche für die Lagerungregionalen Schriftguts. Die Proportionen zwischen regio-nalem und zentralem Archivgut entsprechen damit inetwa denen anderer skandinavischer Länder. DemUmstand der stetig steigenden Ablieferungszahlen vonSchriftgut trug das „Arkivverket“ u. a. mit einem Erweite-rungsbau im Reichsarchiv Oslo Rechnung. Dennochscheint bei einem kontinuierlichen Zuwachs an Registra-turgut der Bedarf an neuen Räumlichkeiten nicht ausrei-chend gedeckt. Generell ist die Ablieferungsbereitschaftöffentlicher und privater Institutionen in den letzten Jah-ren kontinuierlich gestiegen, was nicht zuletzt auch auf dieVerwaltungsreformen im Land zurückzuführen ist. DasReichsarchiv, das Archive zentraler staatlicher Behörden,der Regierung, der Ministerien und des obersten norwegi-schen Gerichts übernimmt, spricht in seinem Jahresberichtsogar von 4.000 Regalmetern Akten, die allein im Reichs-archiv abgeliefert wurden. Aber auch die Staatsarchive, dieSchriftgut regionaler Behörden und Betriebe, privater Insti-tutionen und Verbände übernehmen, sind von der hohenNachfrage nach Archivdienstleistungen betroffen. Sowurde beispielsweise in Trondheim im Dezember 2006 einneues und erweitertes Staatsarchiv übergeben, das u. a. die Räumlichkeiten des aus dem 2. Weltkrieg stammendenU-Bootbunkers Dora 1 nutzt. Dem europäischen Vorbild

1 Der Autor, Jahrgang 1984, ist Student der Fachhochschule Potsdam,Institut für Informationswissenschaften (Studiengang Archiv- undDokumentationswesen) und leistete im Zuge seines Studiums ein halbjähriges Auslandspraktikum im Norwegischen Reichsarchiv ab.Weitere Informationen zum Autor finden Sie unter: http://marcus.lie-bold.de.

Ein halbes Jahr im Norwegischen Reichsarchiv Von Marcus Liebold1

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folgend, ist es der staatlichen Archivverwaltung Norwe-gens gelungen, seine Personalpolitik so zu gestalten, dassmit den derzeit 190 Angestellten nicht nur Archivare im„Arkivverket“ beschäftigt sind, sondern auch Informatiker,Restauratoren und Historiker. Das sich daraus ergebendebreite Wissenschaftsprofil der Archivorganisation eröffnetder Kultureinrichtung die Möglichkeit, in vielen unter-schiedlichen Fachrichtungen Entwicklungen, die für denArchivbereich von Bedeutung sind, adäquat zu verfolgen.

ABMU (Arkiv-Bibliotek-Museum-Utvikling) – Zusammenarbeit und Entwicklung auf dem Informationssektor

Norwegens Zentrum für Archive, Bibliotheken undMuseen ist eine 2003 eingerichtete staatliche Institution, dieüber ministeriale und administrative Grenzen hinweg dieEntwicklung der Zusammenarbeit und den Austausch inden drei informationswissenschaftlichen Bereichen voran-treiben soll. Durch den Zusammenschluss der StaatlichenBibliotheksaufsicht, der Norwegischen Museumsentwick-lung und des Reichsbibliotheksdienstes ist ein Kompetenz-zentrum entstanden, das Fragen wie etwa den Gebrauchvon Informations- und Kommunikationstechnologie beider Verwaltung von Informationsressourcen behandeltund gemeinsame Handlungsstrategien für Archive, Biblio-theken und Museen im Umgang mit dieser und anderenProblemstellungen aufzeigt. Mit dem ABM-Zentrum wirdauch den kleineren nichtstaatlichen Informationseinrich-tungen, die nicht unter Reichsarchiv, Nationalbibliothekoder staatliche Museen fallen, die Möglichkeit gegeben, dieEntwicklung auf dem Informationssektor mitzuverfolgenund ihre Erfahrungen und Vorschläge in die aktuelle Dis-kussion einzubringen. Die Strategie, mit schlagkräftigenKooperationen im Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbe-reich Lösungen für die Anforderungen der Gesellschaft anden informationsverarbeitenden Dienst für heute undmorgen anbieten zu können, scheint umsetzbar zu sein.Veranstaltungen wie die im Herbst 2005 abgehaltene Kon-ferenz zur Digitalisierung im ABM-Bereich und die damitverbundenen Herausforderungen bzw. Möglichkeiten, ander auch Vertreter des englischen „Museums, Libraries andArchives Council“ sowie des schwedischen Reichsarchivs(Riksarkivet) teilnahmen, sind praktische Bespiele, wie dasnorwegische Fachzentrum koordinierend eingreift, umInformationseinrichtungen zum Erfahrungsaustauschanzuregen.

Auch in Deutschland sollte verstärkt auf eine Koopera-tion der Sektoren Archiv, Bibliothek und Museum gesetztwerden, um drohende Mittelkürzungen kompensieren zukönnen. In der informationswissenschaftlichen Ausbil-dung wird die Zusammenarbeit der Professionen schonlängst erfolgreich praktiziert. Die interdisziplinäre Ausbil-dung in Potsdam und Marburg macht deutlich, dass dieZukunft in den drei informationsverarbeitenden Bereichengemeinsam bestritten werden kann, wenn nicht sogarbestritten werden muss.

Aus- und Fortbildung

Auch in Norwegen wird die derzeitige Diskussion zurAusbildung von Archivaren, Bibliothekaren und Doku-mentaren von der notwendigen Kooperation der Fachbe-reiche bestimmt. Eine Reihe unterschiedlicher Einrichtun-gen, unter ihnen auch das oben genannte Zentrum fürArchive, Bibliotheken und Museen, ist für die Aus- undFortbildung in Norwegen verantwortlich. Die ABM-Ent-wicklungsstelle veranstaltet nicht nur Konferenzen, diedem Austausch von Erfahrungen zwischen Informations-einrichtungen dienen, sie bietet auch zielgerichtete Weiter-bildungskurse für Beschäftigte in den drei Berufen an. DieAusrichtung und Intensität der Kurse kann innerhalb desFachfeldes stark variieren. So werden etwa rein technisch-handwerkliche Kurse angeboten, die beispielsweise überdie sachgemäße Bewahrung von Fotografien in Informati-onsinstitutionen aufklären. Es gibt aber auch Veranstaltun-gen, die sich, um ein anderes Bespiel zu nennen, explizitmit der Deutung von Gesetzesänderungen im Urheber-recht beschäftigen und den Angestellten Problemlösungenaufzeigen sollen.

Neben dieser Weiterbildungsmöglichkeit für bereitsqualifizierte Kräfte im informationswissenschaftlichenBereich bietet das Reichsarchiv einen Lehr- und Ausbil-dungszyklus an, der es Quereinsteigern ermöglichen soll,im Berufsstand Fuß zu fassen. Die Veranstaltungen derArchivakademie (Arkivakademiet) finden in den Räum-lichkeiten des Reichsarchivs statt und sind eng abgestimmtmit den Archivaren vor Ort. Der teilweise von ihnen gelei-tete Unterricht bietet den Vorteil, dass praktische Erfahrun-gen und Aufgaben in die Ausbildung mit einfließen unddadurch ein zu hoher Abstraktionsgrad des Lehrstoffesvermieden wird. Die als Hochschulstudium anerkanntehalbjährige Ausbildung, die in fünf Kurswochen arrangiertist und ein Zusatzmodul nach abgeschlossenem Grundstu-dium beinhaltet, weist Vorteile gegenüber dem universitä-ren Studium auf, betrachtet man die zeitliche Gestaltungder Ausbildung.

Der Archivstudiengang der Universität Oslo am Institutfür Kulturstudien (Institutt for kulturstudier) umfasst zwarnur sechs Archiveinheiten, ist aber in einen dreijährigenStudiengang Kulturverwaltung, Museen und Archive (kul-turforvaltning, museer og arkiv) integriert. Der Studien-gang, der mit dem Bachelorgrad abschließt, kann aber auch– ähnlich wie in der deutschen Ausbildung – mit Biblio-thekswissenschaften oder Informatik kombiniert werden.Offenbar wurden bereits erste positive Konsequenzen ausder anhaltenden Diskussion um die Zusammenarbeit derProfessionen gezogen.

Das Reichsarchiv – die Abteilungen und Arbeits-schwerpunkte

Wenn Besucher heute das Reichsarchiv betreten, dannwerden sie schon in der Empfangshalle zum Verweilenangehalten. Der verglaste Eingangsbereich eröffnet einenbeeindruckenden Blick über das angrenzende Bergmassiv

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am Sognsvann. Wendet sich der Besucher dann wiederdem Archiv zu, begrüßen ihn ein dreidimensionaler Wand-fries und freundliche Arbeitsräume. Eine rundherum gast-freundliche Atmosphäre. Das war nicht immer so. Als dasReichsarchiv 1978 an die Peripherie der Stadt umzog,übernahm es den einstigen Atombunker Oslos. Ein Zweck-bau, sieben Etagen unterhalb der Erde, sollte dem kultu-rellen Erbe Norwegens genug Schutz und Platz bieten.Dass aber die Archivbenutzer auf diese Weise dazu einge-laden worden wären, das kollektive Gedächtnis, wie es dasReichsarchiv selbst in seinem Internetauftritt umschreibt,zu befragen, kann wohl nicht behauptet werden. Herme-tisch voneinander getrennt lagen damals Arbeitsräumeund Archivmagazine, in denen die bis in das 12. Jahrhun-dert zurückreichenden Schätze der norwegischen Nationverwahrt wurden. Von Präsentation der Kulturgüter, wiees heute im umgebauten Reichsarchiv der Fall ist, konntekeine Rede sein. Freilich änderte die ungenügende Darstel-lung der Archivalien wenig an der qualitativ hochwertigenBearbeitung der Quellen, die durch die Abteilung fürhistorische Quelleneditionen (Kjeldeskriftavdelingen)sichergestellt wurde. Hervorgegangen aus dem Norwegi-schen Institut für historische Quellenschriften und drei im19. Jahrhundert entstandene Herausgabekommissionenvereinigend, übernimmt die Abteilung seither die Erschlie-ßung und Edition der ältesten im Reichsarchiv befindli-chen Schriftstücke. 1991 wurde die „Kjeldeskriftavdelin-gen“, die bereits seit 1978 im Reichsarchiv untergebrachtwar, als eigenständige Abteilung ins Reichsarchiv einge-gliedert. Die Edition mittelalterlicher und neuzeitlicherQuellen wird dokumentiert in den vom Reichsarchivgedruckten Fortsetzungsbänden „Diplomatarium Norve-gicum“ und „Regesta Norvegica“, die in naher Zukunftauch digital im Internet zugänglich sein werden. FachlicheUnterstützung bei der Bearbeitung mittelalterlicher Quel-len erhält die „Kjeldeskriftavdelingen“ auch von der Älte-ren Abteilung (Eldre avdeling), deren primär archivischeAufgabe jedoch die Erschließung und Nutzbarmachungder Unterlagen der gemeinsamen dänisch-norwegischenZentralverwaltung vor 1814 darstellt. Erst in zweiter Liniebetreut die Abteilung auch Mittelaltersammlungen, dievornehmlich aus Karten und Siegeln bestehen. In Norwe-gens Geschichte markiert das Jahr 1814 einen wesentlichenMeilenstein. Nachdem das mit Napoleon verbündeteDänemark 1814 im Zuge der Kriegsentschädigung Norwe-gen an Schweden abtreten musste, änderten sich selbstre-dend die Verwaltungsstrukturen in Norwegen, Grundgenug, im Reichsarchiv eine Kompetenzteilung vorzuneh-men, die es erlaubt, neben der Älteren Abteilung auch eineJüngere Abteilung (Yngre avdeling) einzusetzen. IhrenArbeitsschwerpunkt stellt die Nutzbarmachung abgelie-ferter Dokumente nach 1814 dar.

Die Jüngere Abteilung arbeitet bei der Erschließung vonArchiven eng mit der Grundsatzabteilung (Tilsynsavdelin-gen) zusammen. Sie ist als strategische Einheit dem Über-nahmeprozess von Unterlagen staatlicher Behörden vorge-schaltet. Ihre Aufgabe ist es, in Bewahrungs- und Kassati-onsprojekten festzustellen, inwieweit abzugebendesSchriftgut vor der Erschließung durch die Jüngere Abtei-lung geordnet werden muss und ob sich für die Registra-turbildner mögliche Kosteneinsparungen durch eineetwaige Kassation im Vorfeld erzielen lassen. In diesemZusammenhang veröffentlicht die Abteilung sowohl Richt-

linien für die Registraturbildung in der staatlichen Verwal-tung als auch Vorgaben zu Kassation und Bewahrung vonArchivgut. Die eigentliche Bewertung der Archivalienerfolgt dann in der Jüngeren Abteilung.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Abteilung fürÖffentlichkeitsarbeit (Publikumsavdelingen), eine Ab-teilung, die sich ausschließlich auf die Betreuung vonArchivnutzern konzentriert. Die Dienste reichen von derBeantwortung an das Reichsarchiv gestellter schriftlicherAnfragen über die Betreuung der Nutzer im Lesesaal bishin zur „Historische Bildungsarbeit“ bzw. „Öffentlich-keitsarbeit“. Öffentlichkeitsarbeit bedeutet in diesem Falleaber nicht nur die Herausgabe von Publikationen, sonderndie konkrete Kooperation mit anderen öffentlichen Einrich-tungen wie beispielsweise Schulen. Solche Projekte stützensich mittlerweile zu großen Teilen auf das Internet.

Öffentlichkeitsarbeit wird auch in der Privatarchivabtei-lung (Privatarkivavdelingen) großgeschrieben. Dennanders als staatliches Archivmaterial unterliegt privatesArchivgut keiner Anbietungspflicht. So versucht die Abtei-lung durch engagiertes Auftreten in der Öffentlichkeit stetsvon neuem unter Beweis zu stellen, dass sie privatesArchivgut sachgerecht verwahrt, erschließt und präsen-tiert. Bei einem sehr heterogenen Bestand von etwa 1500Archiven privater Personen, Vereine und Verbände, Orga-nisationen und Verlage, der von der losen Blattsammlung,über Tagebücher bis hin zu wohl sortierten Firmenarchivenalles enthält, fällt es mitunter schwer, die Strukturen undden gesellschaftlichen Nutzen der Archive darzustellen.Das Reichsarchiv löst dieses Problem durch die Präsenta-tion eines „Dokuments des Monats“ (månedens doku-ment). Zu einem ausgewählten Dokument einer Abliefe-rung werden Recherchen zur Entstehung und zum Hinter-grund des Schriftstückes angestellt und die Ergebnisse derÖffentlichkeit in den Ausstellungsräumlichkeiten desReichsarchivs sowie im Internet präsentiert. Im Jahr 2006wurden alle ausgestellten Dokumente von der Privatar-chivabteilung ausgewählt und bearbeitet.

Ganz anderen Problemen sieht sich die Abteilung fürelektronische Unterlagen (Avdeling for elektroniske arki-ver) gegenüber gestellt. Ihr kommt die wichtige Aufgabezu, elektronisch entstandenes Archivmaterial zu verwaltenund für die Nachwelt zugänglich zu machen. In der Abtei-lung, in der zu einem hohen Prozentsatz Informatikerarbeiten, wurden deshalb u. a. Softwaretools geschaffen,die bei der Ablieferung von Archivmaterial in Datenbank-formaten für eine kompatible und zu archivierende Struk-tur der Daten sorgen. Die Schwierigkeiten, die mit diesenStrukturierungsprozessen verbunden sind, gleichen denenin Deutschland. Stichworte sind die Langzeitarchivierungelektronischen Materials und das Problem der Migrationbzw. Konvertierung von Daten.

Aus diesem Grund steht die Sektion elektronischesArchiv in engem Kontakt zur Abteilung für Konservierungund Konvertierung (Avdeling for konservering og konver-tering). Zu ihrem Aufgabenfeld gehört neben der Konser-vierung papiernen Materials auch die Überführung vonverfilmten Beständen in digitales Material. Mikrofilmeerfreuen sich in Norwegen wie auch in anderen skandina-vischen Ländern großer Beliebtheit. 2004 nahm das Reichs-archiv allein etwa 121.000 Bilder auf Mikrofilm auf undveranschlagt den weiteren Bedarf für verfilmte Beständeauf etwa 8.000 laufende Regalmeter. Grund ist die ausge-

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prägte Ahnenforschung. Informationsquellen für die Fami-lienforschung wie Kirchen-, Grund- und Hypothekenbü-cher, Testamente und Gerichtsprotokolle sind häufig zumSchutz der Originale und aufgrund einer höheren Distri-bution verfilmt. Nun werden schrittweise in ganz Norwe-gen die Mikrofilmbestände digitalisiert und im Internet zurVerfügung gestellt.

Digitales Archiv – die Vermittlung von Archivarbeit

Das Forum, in dem die digitalisierten Mikrofilmbeständepräsentiert werden, ist das Digitalarchiv. Als eigenständi-ge Sektion dem Staatsarchiv in Bergen angegliedert, publi-ziert das digitale Archiv neben Kirchen- und Grund-büchern auch digitalisiertes Material der großen norwegi-schen Volkszählungen von 1801, 1865, 1875 und 1900 inForm von Datenbanken. Hinzu kommen Dienste wie dieVeröffentlichung digitalisierter Bücher, eines Fotoalbumsnorwegischer Bauerngüter, eines Debattierforums undeines E-Learning Seminars zum Thema gotische Schrift.

Mit der Vermittlung von Lehrinhalten beschäftigt sichwie bereits erwähnt auch die Publikumsabteilung imReichsarchiv. Jedoch ist die Zielgruppe eine gänzlich ande-re. Archiv in der Schule (Arkiv i skolen) ist ein pädagogi-sches Digitalisierungsprojekt, in dem die Öffentlichkeitsab-teilung Archivdokumentationen zum 2. Weltkrieg in Nor-wegen Schülern des Gymnasiums zugänglich macht. ImPilotprojekt Schule im Archiv (Skolen i arkivet) kamenzunächst Schüler der 7. Klasse zu Besuch ins Reichsarchivund erhielten einen Einblick in die tägliche Archivarbeit.Nun werden die Schüler über die im Internet zugänglicheÜbung anregt, ihr Wissen zum Fachgebiet auf eine unkon-ventionelle Art und Weise anzuwenden. Mit Projekten wiediesen fördert das Archiv die Zusammenarbeit mit ande-ren öffentlichen Einrichtungen und schafft zugleich dasBewusstsein ein Kompetenzpartner im Umgang mit archi-vischen Quellen zu sein.

Zukunftsweisend können die eben beschriebenen Pro-jekte genannt werden. Zukunftsweisend ist auch der Weg,

den das norwegische Archivsystem in der internationalenZusammenarbeit eingeschlagen hat. Gerade auf demSektor der elektronischen Archive ist Norwegen innerhalbdes „International Council on Archives“ (ICA) in der Fach-gruppe „Committee on Current Records in an ElectronicEnvironment“ sowie mit Beiträgen zur Thematik in derinterskandinavischen Fachzeitschrift Nordisk Arkivnyt gutaufgestellt. Norwegen hat mit der Entwicklung von Stan-dards für das elektronische Archivieren und digitale Doku-mentverwaltung bzw. mit der Entwicklung von Standardszur elektronischen Sachbearbeitung (Noark) bewiesen,dass es den festlandseuropäischen Archivverwaltungenmitunter einen Schritt voraus ist. Zudem versteht sich dasReichsarchiv als Mittler von Geschichte und Gegenwart,was es mit Schulprojekten und Ausstellungen deutlichbelegt. Kooperationen zum Informationsaustausch vonArchiven, Bibliotheken und Museen werden in Norwegendurch die ABM-Entwicklungsstelle aufgebaut und ange-regt. Bemerkenswert ist die Kommunikationsfreudigkeit,wenn es um die Lösung von fachlichen Problemen geht.Nicht nur die Norweger, sondern alle skandinavischenLänder kultivieren seit Jahren einen regen Gedankenaus-tausch. Es sollte daher in Zukunft eine Selbstverständlich-keit werden, auch im hohen Norden nach Lösungen fürProbleme im deutschen Archivwesen zu suchen. Ein stär-kerer Gedankenaustausch wäre für beide Seiten gewinn-bringend.

Quellenhinweise

Årsmelding for arkivverket 2003-2005, Oslo 2004-2006 [Jahresberichte des Archivwerkes]; Nordisk Arkivnyt Jg. 50Nr. 2, Nr. 4, Reykjavík 2005; Riksarkivbygningen Statsbygg,Ferdigmelding Nr. 644/2005, Oslo 2005; ABM-UtviklingÅrsmelding 2004, Oslo 2005 [Jahresbericht der ABM-Entwicklungsstelle]; Arkivhåndboken for offentlig forvaltning,Ivar Fonnes, Oslo 2003 [Archivhandbuch für die öffentlicheVerwaltung]; www.riksarkivet.no; http://kildenett.org

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Archivtheorie und -praxis

Archive und Bestände

„Akten parken“. Archivieren – Dokumentieren – Präsen-tieren. Umstrukturierung des Parkhauses West der Päd-agogischen Hochschule zum Verbundarchiv Freiburg

Projekt des Instituts für Baugestaltung, Baukonstruktion undEntwerfen I der Universität KarlsruheDrei große, in Freiburg im Breisgau ansässige Archivebeklagen seit Jahren ähnliche Probleme. Sowohl das Staats-archiv, das Stadtarchiv wie auch das UniversitätsarchivFreiburg verfügen über keinen Archivzweckbau, der auchnur ansatzweise die zeitgemäßen Standards für die Unter-bringung, Sicherung und Nutzung wertvollen Kulturgutserfüllt. Mangelnde Platzreserven machen darüber hinausseit Jahren die Anmietung von Magazinräumen bezie-hungsweise das Ausweichen auf Außendepots erforder-lich, was neben erheblichen finanziellen Aufwendungenauch organisatorisch-logistische Probleme für die vorallem im Magazinbereich chronisch unterbesetzten Archi-ve zur Folge hat. Die Notwendigkeit eines Neubaus stell-te und stellt sich für alle drei Einrichtungen.

Die Vergleichbarkeit und Gleichartigkeit der Unterbrin-gungssituation ließ auch die Idee eines Zusammengehensder drei Einrichtungen entstehen. Schon vor einigen Jah-ren erklärten hochrangige Vertreter der Archivträger über-einstimmend ihre Absicht, das Projekt eines gemeinsamenArchivneubaus in Freiburg zu verfolgen. Sie erwarteten,mit diesem Verbundarchiv Synergieeffekte in räumlicher,personeller, funktionaler und betrieblicher Hinsicht zuerzielen, die auch anteilmäßigen Kosten dieses Projektsdadurch zu reduzieren und dessen Umsetzungschancen –auch angesichts der Knappheit der öffentlichen Kassen –zu erhöhen.

Eine von den drei Archiven gemeinsam erstellte Nut-zungsanforderung bestätigte die zu erzielenden Synergie-effekte, vor allem im öffentlichen Bereich des Archivs(Lesesaal, Ausstellungsfläche, Vortrags- und Seminar-räume), bei der Haus- und Archivtechnik und den Werk-stätten.

Auch wenn die Sinnhaftigkeit des Verbundarchivs vonallen am Projekt Beteiligten immer wieder betont wurde,verzögerten viele Faktoren eine intensivere Beschäftigungmit der Umsetzung des bundesweit einzigartigen Modells.Erst mit der Idee, ein seit Jahren nur noch gering genutz-tes Parkhaus bei der Pädagogischen Hochschule Freiburgin die Standortsuche nach dem neuen Verbundarchiv auf-zunehmen, kam neuer Schwung in die Angelegenheit.

Das Finanzministerium Baden-Württemberg beauftrag-te Ende 2005 das Amt Vermögen und Bau Freiburg mit derAnfertigung einer Machbarkeitsstudie über die Umnut-zung des Parkhauses zu einem die Anforderungen undBedürfnisse der drei Verbundpartner erfüllenden Archiv-zweckbau. Die strukturellen Grundlagen der Parkhaus-konstruktion und die dadurch mögliche Verwendungbestehender Substanz ließen die Realisierung der vorgege-benen Prinzipien der Kosteneinsparung, des schonendenUmgangs mit Ressourcen und der Nachhaltigkeit erwar-ten.

Der Leiter des Amts, Ltd. Baudirektor Wolfgang Gre-ther, zugleich Lehrbeauftragter am Institut für Baugestal-

tung, Baukonstruktion und Entwerfen I der UniversitätKarlsruhe, nahm dieses für Architekten sicher ungewöhn-liche Projekt des Baus eines Archivgebäudes, in seine Lehr-veranstaltung auf. Seine Studentinnen und Studentenwaren aufgefordert, parallel zu den Arbeiten des Amts Ver-mögen und Bau, sich mit der Problematik von und dengrundsätzlichen Anforderungen an Archivzweckbautenzu befassen, neuere Bauprojekte im deutschsprachigenRaum zu untersuchen und zu dokumentieren und auf derGrundlage des dabei erworbenen theoretischen WissensGestaltungsentwürfe und Modelle für die Umwidmungdes Parkhauses in einen Zweckbau für das Verbundarchivzu fertigen.

Das beeindruckende Resultat ihrer im Sommersemester2006 geleisteten Arbeit wurde in einer Dokumentation desInstituts für Baugestaltung veröffentlicht1, die sowohl all-gemeine Probleme des Archivbaus, vor allem im Hinblickauf Klimatisierung und Gebäudetechnik, behandelt, eineAnalyse und Präsentation von neueren Archivzweckbau-ten und Projekten (Staatsarchiv Dresden 2005, StadtarchivFrankfurt 2004-2006, Archiv Bistum Fulda 2005, Staatsar-chiv Kanton Zürich 2004-2007, Landesarchiv Niederöster-reich 1992-1997, Wiener Stadt- und Landesarchiv 1999-2001, Stadtarchiv Kärnten, Generallandesarchiv Karlsruhe)vornimmt und acht Entwürfe für das Projekt „Akten par-ken“ präsentiert.

Über die anregenden Entwürfe für das Freiburger Ver-bundprojekt hinaus bietet die vorliegende Publikationeinen zusammenfassenden Überblick über den Archiv-zweckbau im deutschsprachigen Raum der Jahrtausend-wende und wird sich als erste Orientierung und Nach-schlagewerk für alle etablieren, die sich mit Baufragen imweitesten Sinn beschäftigen.

Freiburg im Breisgau Kurt Hochstuhl

100 Jahre Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschafts-archiv zu Köln (RWWA) (1906-2006)

Am 14. Dezember 2006 feierte das Rheinisch-WestfälischeWirtschaftsarchiv zu Köln sein 100-jähriges Jubiläum.Exakt 100 Jahre war es her, als am 14. Dezember 1906 dieStadtverordnetenversammlung von Köln die Satzung desneu gegründeten Archivs für rheinisch-westfälische Wirt-schaftsgeschichte genehmigte. Der Gründung waren mehr-jährige Vorbereitungen und Diskussionen vorangegangen,die innerhalb der Selbstverwaltungsorganisation des rhei-nisch-westfälischen Wirtschaftsgebietes stattfanden. Grün-der waren letztlich die Handelskammer Köln und die StadtKöln unter Beteiligung nahezu aller Handelskammern derbeiden preußischen Westprovinzen.

Der Festakt fand im Börsensaal der Industrie- und Han-delskammer zu Köln statt. Eingeladen waren über 400Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die zusam-

1 Institut für Baugestaltung, Baukonstruktion und Entwerfen I, Prof. PeterFierz: Akten parken. Archivieren – Dokumentieren – Präsentieren.Umstrukturierung des Parkhauses West der PH zum Verbundarchiv Frei-burg. Karlsruhe: Institut für Baugestaltung 2007, ISBN 3-9805818-5-3.

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men mit den Freunden, Förderern und Mitarbeitern desältesten Wirtschaftsarchivs der Welt für einige Stunden ein-gebunden wurden in einen Rückblick, der ernsthaft undheiter zugleich war und einige Aspekte der Archivarbeitaufzeigte. Begrüßt und eingestimmt wurden die Gästebereits im Börsenfoyer, indem ihnen ein schmaler Einblickin den unerschöpflichen Fundus des im RWWA verwahr-ten historischen Materials gewährt wurde. Präsentiert wur-den unter dem Titel „Fenster der Wirtschaft“ Werbefilmeaus den Unternehmensbeständen des RWWA, die demKonsumbereich zuzuordnen sind. Mit Hilfe einer Videoin-stallation konnte der Betrachter sich zurückversetzen las-sen in die Fernseh- und Kinowerbung vergangener Jahr-zehnte.

Begrüßt wurden die Gäste (namentlich NRW-Kultur-staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Ober-bürgermeister Fritz Schramma, Köln sowie dessen Vor-gänger Dr. Norbert Burger) vom Vorstandsvorsitzendender Stiftung RWWA, dem Präsidenten der IHK Köln, PaulBauwens-Adenauer. Er betonte in seiner Laudatio, dassder Arbeit des Wirtschaftsarchivs von Beginn an derZukunftsaspekt mit auf den Weg gegeben worden sei.Schon nach kurzer Zeit hätte die Handelskammer Köln ineinem Jahresbericht (1909) geschrieben, „dass es sich beidieser Schöpfung doch nicht ausschließlich um die Inter-essen der Gegenwart und der augenblicklichen wissen-schaftlichen Forschung, sondern ebenso um die Interessender Zukunft“ handele. In erster Linie sei das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv, in dessen Bezeichnungnoch die Zuständigkeit auch für die Provinz Westfalen (bis1941) überliefert ist, Serviceeinrichtung für die Wirtschaft.Darüber hinaus auch Forschungsstätte für die Wissen-schaft und „Ort des Gedächtnisses“ und der Erinnerungfür die Kultur des Rheinlandes. Nur kurz ging PräsidentBauwens-Adenauer auf die wesentlichen Ereignisse derRWWA-Geschichte ein. Dazu gehörte zweifelsohne derKomplettverlust (zu mehr als 90 %) der Aktenbestände,erlitten durch einen Bombenangriff am Ende des ZweitenWeltkriegs. Es ist der IHK Köln zu verdanken, dass dieArbeit des Wirtschaftsarchivs nach 1945 wieder aufgenom-men werden konnte. Zu nennen wäre hier IHK-Geschäfts-führer Dr. Hans Riepen, der nach 1948 wieder erste Wei-chen stellte. Erst in der Ära Professor Klara van Eylls, dieseit 1963 als Mitarbeiterin und seit 1971 als Leiterin desRWWA bis 1999 tätig war, wurde das Wirtschaftsarchiv wie-der die bedeutende Institution, die sie nach ihrer Gründungwar. In ihre Zeit fiel u. a. das erste eigene Magazingebäudefür das RWWA, das am 6. Mai 1993 vom damaligen Präsi-denten Alfred Neven DuMont eingeweiht wurde.

Das Grußwort der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen überbrachte Kulturstaatssekretär Hans-HeinrichGrosse-Brockhoff. Das RWWA sei heute das größte undälteste Wirtschaftsarchiv Deutschlands und hätte mit sei-nem Modell Pate bei den anderen regionalen Wirtschafts-archiven gestanden. Archive generell, also auch Wirt-schaftsarchive, seien unverzichtbare Kultureinrichtungen,die für das kulturelle, geistige und soziale Funktioniereneiner Gesellschaft notwendig und wünschenswert seien.Dem Substanzerhalt im Archivbereich, so führte Grosse-Brockhoff am Schluss seine Ausführungen an, wolle mansich seitens der Landesregierung im Rahmen einer Landes-initiative zusammen mit den Landschaftsverbändenbesonders zuwenden. Die bei der maschinellen Entsäue-

rung von Papieren entstehenden hohen Kosten würden biszu 70 % vom Land übernommen.

Oberbürgermeister Fritz Schramma, der eigentlichanlässlich der gleichzeitig stattfindenden Ratsitzung unab-kömmlich war, hatte die Sitzung unterbrochen, weil er, wieer selbst betonte, einerseits die besondere historische Ver-bindung des Wirtschaftsarchivs mit der Stadt Köln unter-streichen und andererseits dem RWWA damit seine Hoch-achtung ausdrücken wollte. Die Vertreter des Wirtschafts-archivs, dessen Leiter Ulrich S. Soénius und nicht zuletztdie dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könntenstolz sein auf das bisher erreichte. Das RWWA, so Schram-ma, genieße weltweit ein großes Ansehen und trage zurkulturellen Vielfalt und zum Ruf der Stadt Köln ein wich-tiges Stück bei.

Den Festvortrag mit dem Titel „Archive – Schaufensterund Gewissen der Wirtschaft“ hielt Prof. Dr. HermannSchäfer, Ministerialdirektor beim Kulturstaatsministerder Bundesregierung. Professor Schäfer, der sich selbst alsintensiver Nutzer und Freund des Wirtschaftsarchivsbetrachtet, bezeichnete das RWWA trotz seines hohenAlters als eine ausgesprochen lebendige und jung geblie-bene Einrichtung. Neben vielen Vorzügen des Archivsschätze er vor allem dessen Kompetenz. Es vereint in sich,so Schäfer, alle Fertigkeiten, die ein gutes Archiv auszeich-nen. Dazu gehört einerseits die zielgerichtete Aktenakqui-sition, die Bewertung, aber auch die Erschließung und wis-senschaftliche Zuordnung. Das hätte nichts mit bloßerDurchsicht von Akten zu tun. Am Ende entstünde eineFundgrube für denjenigen, der den Ursachen auf denGrund gehen möchte. Das Archiv sei ein Tor, das jedemoffen stehe, der neugierig sei. Und es sei ein Tor, das immerwieder aufs Neue durchschritten werden könne. EinArchiv, so Schäfer, werde mit jedem Jahr wertvoller, seinWert wachse sogar schneller als der guten Weins – guteLagerung hier wie dort vorausgesetzt.

Zum Abschluss der Veranstaltung konnte Archivdirek-tor Dr. Ulrich S. Soénius, der in seinen Dank an die Freun-de, Förderer und Mitarbeiter des RWWA einen Appell andie Kollegen des Archivwesens einschloss, aus ihren„Schneckenhäusern“ hervorzukommen und selbstbewusstden Wert ihrer Archive öffentlichkeitswirksam zu „verkau-fen“, eine hochmoderne Neuerung ankündigen. Mit einemsymbolischen Knopfdruck eröffneten Präsident Bauwens-Adenauer, Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff und Dr.Soénius die Präsentation der ersten Online-Findbücher desRWWA im Internet. Abschließend lud Archivdirektor Soé-nius alle Gäste noch zu einem Umtrunk ins Foyer ein undzu vielen angeregten Gesprächen. Zuvor wies er alle Teil-nehmer darauf hin, dass sie auch noch ein Geschenkerwartete und zwar die Festschrift zum 100jährigen Jubi-läum des RWWA. Sie ist als Bd. 45 in der Schriftenreihedes RWWA erschienen (Ulrich S. Soénius, Zukunft im Sinn– Vergangenheit in den Akten, 100 Jahre Rheinisch-West-fälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Köln 2006, ISBN 3-933025-42-7) und kann zum Preis von 10,- Euro imRWWA bestellt werden.

Köln Jürgen Weise

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Hauptstaatsarchiv Düsseldorf erwirbt die SammlungStachelscheid

Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen HauptstaatsarchivDüsseldorf hat im November 2006 den Negativbestand desfrüheren Pressebilderdienstes Carl A. Stachelscheid, Düs-seldorf, mit allen Verwertungsrechten erworben. Es han-delt sich um 1.700 Schwarz-Weiß-Filme im Mittel- undKleinbildformat aus den Jahren 1945 bis 1952. Zusammenmit einem bereits in den 1970er Jahren getätigten Ankaufvon Stachelscheid-Bildern verfügt das HauptstaatsarchivDüsseldorf damit über das gesamte Negativmaterial derseinerzeit sehr bekannten Fotoagentur mit einem sehr brei-ten Themenspektrum, das von der Landes- und Kommu-nalpolitik über Kultur und Städtebau bis zu Mode, Sportund Alltagsleben reicht.

Stachelscheid genoss früh das Vertrauen der britischenMilitärregierung, weshalb er Zugang zu vielen politischenEreignissen in der Periode der Gründung des LandesNordrhein-Westfalen hatte. So stammen die bekanntenund immer wieder verwendeten Aufnahmen etwa vomBesuch des britischen Feldmarschalls Montgomery imDüsseldorfer Stahlhof, dem Sitz der Militärregierung, imNovember 1945 oder von der Eröffnung des Landtags inder Düsseldorfer Oper im Oktober 1946 von seinem Bilder-dienst.

Neben der Politik galt Stachelscheids besonderes Inter-esse dem regionalen kulturellen Leben. Das Wiederauf-leben der Düsseldorfer Theaterszene mit Gustav Gründ-gens, Marianne Hoppe und Elisabeth Flickenschild hat er ebenso dokumentiert wie die Frühzeit desKom(m)ödchens und das Kunstgeschehen im Umfeld derDüsseldorfer Akademie.

Düsseldorf Anselm Faust

Neue Dokumente zur Studentenzeit Thomas Dehlers(1897-1967)

Das Archiv des Liberalismus in Gummersbach hat denNachlass der Bochumer Zahnärztin Dr. Anna Meyer-Borg-gräfe mit wenigen, aber aufschlussreichen Materialien zumLeben Thomas Dehlers, des ersten Bundesjustizministers(1949–1953) und späteren FDP-Bundesvorsitzenden (1954-1957), übernommen. Die Dokumente ermöglichen interes-sante, auch visuelle Einblicke in Dehlers Leben als Student.

Bereits 1968 erhielt das Archiv des Liberalismus einenumfangreichen Aktenbestand aus dem Nachlass des libe-ralen Spitzenpolitikers Thomas Dehler (1897-1967). DieseÜberlieferung umfasst die Jahre 1909 bis 1967. Sie besitztteils politischen, teils privaten Charakter und ermöglichteinen umfassenden Eindruck von Leben und Wirken desin vielfältigen Funktionen auf Kommunal-, Landes- undBundesebene tätigen Politikers. Aufgrund fehlender Doku-mente blieb die Studienzeit Dehlers bislang jedoch weitge-hend im Dunkeln. Diese Lücke füllen nun Materialien, dieaus dem Nachlass von Dr. Anna Meyer-Borggräfe, einerStudienfreundin Dehlers, an das Archiv des Liberalismusgelangten. Von besonderer Aussagekraft sind dabei dreiFotoalben. Zwei dieser Alben wurden im Januar 1919 vonThomas Dehler zusammengestellt und Anna Borggräfe, soihr Mädchenname, zur Erinnerung an die gemeinsameMünchener Studentenzeit gewidmet. Das dritte dergenannten Alben hat Anna Borggräfe selbst angelegt. Eswurde nach Gelegenheit bestückt und dokumentiert ihrStudentenleben. Die drei Alben, die rund 100 Privatfotosbeinhalten und den Zeitraum von Herbst 1917 bis Januar1919 umfassen, ermöglichen in Verbindung mit zwei eben-falls im Nachlass A. Meyer-Borggräfes erhaltenen Briefenund Grußkarten Dehlers an seine Studienfreundin einenersten Zugang zu seinem bislang weitgehend unbekann-ten Münchner Studentenleben.

Gummersbach Cordula Kapser

Sammlung Stachelscheid:Ausgrabung von Gestapo-Opfern im Kölner GefängnisKlingelpütz, Oktober 1945

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Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart gibt kriegsbedingt ver-lagertes Archivgut zurück

Eine Ablassurkunde aus Litauen befindet sich wieder an ihremUrsprungsortEine bemerkenswerte Entdeckung wurde Ende 2005 imHauptstaatsarchiv Stuttgart bei Verzeichnungsarbeitengemacht: Im Bestand H 52 Bemalte Urkunden, einerZusammenstellung von illuminierten Urkunden verschie-denen Ursprungs, wurde eine Urkunde als Ablassurkun-de mehrerer namentlich genannter Kardinäle für eineNikolaus-Kapelle in Kaunas, Diözese Wilna (Litauen), ausdem Jahr 1493 identifiziert. Den Verfasser, der im Rahmenseiner praktischen Ausbildung im Hauptstaatsarchiv mitder Verzeichnung betraut war, beschäftigte die Frage, wiedie sowohl ihrer Größe als auch ihrer Gestaltung nachbeeindruckende Urkunde mit sieben Siegeln von Litauennach Württemberg gekommen war. Einen ersten Hinweislieferte ein Zettel, welcher der Urkunde beilag. In derHandschrift des früheren Stuttgarter Archivleiters KarlOtto Müller war knapp der Urkundeninhalt vermerkt,wobei der aus dem Text entnommenen Ortsangabe„Cawna“ die fehlerhafte Deutung „= Kosovo“ hinzugefügtwurde. Außerdem verwies der Zettel auf die Altregistra-tur des Hauptstaatsarchivs mit dem Zusatz: „Abgabe derLandesbibliothek“. Anhand der Registraturakten desHauptstaatsarchivs ließ sich diese Spur weiterverfolgen. Ineinem Schreiben der Württembergischen Landesbibliothekan das Hauptstaatsarchiv, datiert vom 19. September 1945,heißt es: „Die beigefügte Urkunde aus dem Kloster Carina(?), Diözese Wilna, vom Jahr 1493 wurde nach der Beset-zung in dem damals nahezu verlassenen Gebäude der Lan-desbibliothek aufgefunden und wird dem Hauptstaatsar-chiv übersandt.“ Das mit „Hoffmann“ – dem damaligenLeiter der Landesbibliothek – unterzeichnete Schreibenwurde am nächsten Tag im Hauptstaatsarchiv registriert.Dort sollte die Urkunde zunächst dem Bestand A 118 Bezie-hungen Württembergs zu Auswärtigen: Polen zugeordnetwerden. Da aber offensichtlich war, dass sie mit den übri-

gen Archivalien dieses Bestands in keinem Herkunftszu-sammenhang stand, wurde sie schließlich den BemaltenUrkunden zugeschlagen – mit denen zusammen sie in dennächsten 60 Jahren aufbewahrt wurde. Als sicher kann gel-ten, dass die Urkunde weder zum Altbestand der Landes-bibliothek noch des Hauptstaatsarchivs gehörte, zumal einVermerk auf der Urkunde eindeutig festhält, dass sie am20. Januar 1719 noch im Benediktinerinnenkloster in Kau-nas verwahrt wurde. Überprüfungen in den inzwischenarchivierten Akten der Landesbibliothek erbrachten keineAnhaltpunkte, wie die Urkunde dorthin gelangt war. So istdavon auszugehen, dass sie vor Kriegsausbruch nicht inder Landesbibliothek verwahrt wurde – und dass sieschwerlich auf einem „normalem“ Weg dorthin gekom-men sein konnte. Vielmehr gelangte die Ablassurkundevermutlich erst im Zweiten Weltkrieg oder während derunmittelbaren Nachkriegswirren in das Bibliotheksgebäu-de und von dort in das Hauptstaatsarchiv.

Da es sich demnach um kriegsbedingt verlagertes Kul-turgut handelt, zögerte das Hauptstaatsarchiv nicht, dasArchivale an das Herkunftsland zurückzugeben. Das Lan-desarchiv Baden-Württemberg informierte das Bundesar-chiv über den Sachverhalt und bat darum, die Urkunde beigegebenem Anlass in Verhandlungen über die Rückgabevon verlagertem Kulturgut einzubeziehen.

Im Januar 2007 ergab sich dann die passende Gelegen-heit: Der Präsident des Bundesarchivs, Professor HartmutWeber, reiste nach Vilnius, im Gepäck die Ablassurkundeaus dem Hauptstaatsarchiv. Der stellvertretende General-direktor der Staatlichen Archivverwaltung Litauens, Vik-toras Domarkas, hatte eine feierliche Zeremonie vorberei-tet, zu der er Presse, Fernsehen und Kollegenschaft einge-laden hatte. Dieser Umstand verdeutlicht die große Bedeu-tung, die die Urkunde für das Historische Staatsarchiv inVilnius besitzt. Sie gehört jetzt zu den ältesten Urkunden imStaatsarchiv und erlaubt, die bisherige Erstnennung der St.-Nikolaus-Kirche in Kaunas um zwei Jahre – von 1495 auf1493 – vorzuverlegen. Aber nicht nur aus historischer,

Professor Hartmut Weberübergibt die Urkunde von1493 an den stellvertreten-den Generaldirektor derlitauischen Archivverwal-tung, Viktoras Domarkas(Aufnahme: Bundesarchiv)

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sondern auch aus politischer Sicht ist die Rückführung vonBedeutung. Für die litauischen Kollegen war sie ein Signalnach Moskau, wurde doch die bedeutende ältere Überlie-ferung Litauens während der Zugehörigkeit des Landeszur Sowjetunion in das heutige Historische Staatsarchivder Russischen Föderation nach St. Petersburg gebracht –ohne dass der litauischen Seite bislang Hoffnungen aufeine Rückkehr gemacht wurden. Aber auch im Hinblickauf andere stagnierende Verhandlungen über die Rückfüh-rung kriegsbedingt verlagerten Kulturguts mag die Rück-gabe zumindest ein kleines Zeichen setzen.

Stuttgart Nicole Bickhoff/Axel Metz

Archivierung, Bewertung und ErschließungBenutzerfreundlich – rationell – standardisiert. AktuelleAnforderungen an archivische Erschließung und Find-mittel

11. Archivwissenschaftliches Kolloquium der ArchivschuleMarburgDie Erschließung von Archivgut und die Bereitstellungvon Findmitteln sind hergebrachte Kernaufgaben derArchive, bei deren Erfüllung sich die Archivare seit einigenJahren durch die wirtschaftliche Evaluation ihres Tuns unddurch informationstechnische Innovationen vor neue Her-ausforderungen gestellt sehen.1 Dazu zählen die Online-Verfügbarkeit von Erschließungsinformationen und Find-mitteln im Zeichen sich wandelnder Nutzeransprüche, dieNachnutzung von Metadaten der Registraturbildner fürdie Erschließung, die Retrokonversion von Findmittelnund standardisierte Recherchemöglichkeiten auch iminternationalen Verbund. Das 11. ArchivwissenschaftlicheKolloquium, das vom 9.-10. Mai 2006 von der Archivschu-le Marburg ausgerichtet wurde, stellte eine Reihe von The-men aus diesem Komplex zu Spannungsfeldern zusam-men, die den 150 Teilnehmern aus dem In- und Auslandreichlichen Stoff zur Diskussion über Herausforderungenund Chancen dieser Fachaufgabe boten.

In seiner Einführung in das Thema betonte der Leiterder Archivschule, Dr. Frank M. Bischoff, dass unerschlos-senes Archivgut ein Kostenfaktor sei und keine Erkenntnis-se liefere. Vor diesem Hintergrund nannte er die Erschlie-ßung eine vordringliche Aufgabe der Archive im Span-nungsfeld zwischen Benutzerfreundlichkeit und Ressour-censchonung. Vor allem neue IT-Möglichkeiten zwängenzur Technikorientierung und Standardisierung und damitzum Hinterfragen hergebrachter Erschließungstraditionen.Bischoff stellte die Leitfrage nach den „Stellschrauben“zum Austarieren von Anforderungen und Möglichkeitender Archive bei der Erschließung. Dazu gehöre auch dieNutzung von Synergieeffekten durch Kooperation mit ver-wandten Einrichtungen wie Medienarchiv und Dokumen-tation. Tiefe Erschließung sei nicht notwendigerweise gutund teuer, flache nicht immer schnell und billig. Im Namender Stadt Marburg begrüßte Bürgermeister Dr. FranzKahle die Teilnehmer des Kolloquiums.

In seinem einleitenden Beitrag zeichnete Prof. Dr. Wil-fried Reininghaus (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen)ein Panorama vieler im weiteren Verlauf der Tagung ver-tiefter Fragestellungen. Wissen, wie es auch die Archivebereitstellten, sei zum wichtigsten Rohstoff der globalisier-ten Gesellschaft geworden. Erschließung als Bindegliedzwischen Schriftgut und Benutzung und damit zwischenVergangenheit und Zukunft müsse im Zusammenhang mitAufgaben der Bewertung und Bestandserhaltung alsArbeitsprozess in der Gegenwart verstanden werden. Diessetze die Priorisierung von Erschließungsvorhaben anhanddes Nutzerinteresses und die Planung und Standardisie-rung in Anbetracht der Endlichkeit der verfügbaren Res-sourcen voraus. Die prinzipielle Möglichkeit des weltwei-ten Echtzeitzugriffs auf Erschließungsinformationen durchdie „Generation Google“ werde neue Strategien der Bereit-stellung erfordern und die Beratungsfunktion der Archiveverändern. Die Anbietung digitaler Unterlagen verkürzeden Abstand zwischen Archivgut und Erschließung, unteranderem durch die Nutzung von Metadaten. Dabei steigedas Datenvolumen exponentiell. Die Änderung desRechercheverhaltens der Google-gewöhnten Nutzer forde-re den Wandel von der Angebots- zur Nachfrageorientie-rung der Archive. In diesem Zusammenhang müssten„User-Studien“ in Deutschland verstärkt betrieben wer-den.

In der ersten Sektion unter der Leitung von Dr. Andre-as Hedwig (Staatsarchiv Marburg) verorteten Dr. PeterMüller (Staatsarchiv Ludwigsburg) und Dr. Hans-Christi-an Herrmann (Staatsarchiv Leipzig) Erschließungsaufga-ben zwischen Dienstleistung und Wirtschaftlichkeit. Vordem Hintergrund des Informationsoverflows seit 1945,einer aus den Archivgesetzen erwachsenen Transparenz-verpflichtung und einem steigenden Beschleunigungs-druck durch die neuen Medien entwickelte Müller dasKonzept eines digitalen Suchraums für Erschließungsin-formationen. Die Vertiefung der Erschließung von Einzel-archivalien im Interesse der wissenschaftlichen Forschungmüsse dabei schon aus Rücksicht auf die Erschließungs-rückstände hinter die umfassende Bereitstellung von Basis-informationen auch in Form behördlicher Metadaten imSuchraum zurücktreten. Nach den bisherigen Erfahrungenim Landesarchiv Baden-Württemberg bewirke die Online-Verfügbarkeit von Metadaten einen Rückgang der Anfra-gen und einen Zuwachs der Reproduktionsanträge. Derdigitale Suchraum müsse dem Benutzer kontextorientier-te Suchfunktionen zu standardisierten Erschließungsinfor-mationen bieten und sei mit analogen Suchräumen in Formherkömmlicher Findmittel zu verknüpfen. Demgegenüberplädierte Herrmann für eine differenzierte Strategie, beider im Gegensatz zu einer homogen flachen ErschließungBestände mit hoher Nutzungsfrequenz und einer Schnitt-stellenfunktion vertieft erschlossen werden sollen, um dieeffiziente Bearbeitung von immer spezifischer formuliertenAnfragen zu gewährleisten. Er skizzierte dies anhand desBestands der SED-Bezirksparteileitung Leipzig; hier richtesich das Nutzerinteresse vor allem auf Informationen inProtokollen, die anhand der vorliegenden flachen Erschlie-ßung mit vertretbarem Aufwand kaum auffindbar seien.Vertiefte Erschließung biete hier die Voraussetzung für dieRationalisierung und Optimierung der Recherche. In derDiskussion wurde der Wert einer auf das gesamtgesell-schaftliche Nutzerinteresse ausgerichteten Basisversor-

1 Vgl. zum Stand der Debatte Peter Müller, Vollregest, Findbuch oderInformationssystem – Anmerkungen zu Geschichte und Perspektivender archivischen Erschließung, in: Der Archivar 58 (2005), S. 6-15, undAngelika Menne-Haritz (Hg.), Archivische Erschließung. Methodi-sche Aspekte einer Fachkompetenz, Marburg 1999 (Veröffentlichungender Archivschule Marburg 30).

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gung mit Erschließungsinformationen betont, aber auchdie Frage aufgeworfen, inwieweit Daten aus flacherErschließung beim Nutzer unerfüllbare Erwartungen we-cken und einen Zuwachs an Anfragen bedeuten können.Die vertiefte Erschließung durch Einstellen von Digitalisa-ten in den Suchraum zu ersetzen, würde vor allem benut-zungsrechtliche Probleme aufwerfen. Die engagierteDebatte lief auf die Frage hinaus, welchen Nutzergruppensich die Archive gegenübersehen.

Die zweite Sektion unter der Leitung von Dr. Peter Mül-ler unter dem Motto „Erschließungsarbeit zwischen Ver-waltung und Archiv“ befasste sich vor allem mit der Nutz-barkeit von Metadaten der abgebenden Stellen für dieErschließung. Dr. Harald Stockert (Stadtarchiv Mann-heim) stellte die Erschließung im Zwischenarchiv desStadtarchivs Mannheim vor, die auf behördlichen Metada-ten in analoger Form als Abgabelisten und in digitalerForm aus Dokumentenmanagement-Systemen beruht. Ver-tiefte Erschließung als Voraussetzung effizienter Logistikfinde anlassbezogen bei der Ausleihe von Zwischenarchiv-gut als Kontrolle und Verbesserung der Metadaten statt.Nutzer seien in diesem Falle die Behörden. Durch die Ver-lagerung der Erschließung als kontinuierlichem Prozessauf das Zwischenarchiv und auf die Behörden würde dasEndarchiv entlastet. Die klassischen Erschließungsaufga-ben des Archivs wandelten sich in diesem Zusammenhangzu Funktionen der Aufsicht und Qualitätskontrolle. Dr.Thekla Kluttig (Hauptstaatsarchiv Dresden) beleuchteteanhand der Ergebnisse einer Transferarbeit von Dr. MathisLeibetseder (39. Wissenschaftlicher Kurs der ArchivschuleMarburg) die Brauchbarkeit der Metadaten sächsischerMinisterien für die Erschließung. Aufgrund der Knappheitvon Ressourcen und einer Vielzahl von Fachaufgabenkönne die Erschließung übernommenen Behördenschrift-guts ohne Metadaten kaum mehr geleistet werden, jedochseien diese oft uneinheitlich und müssten für einen außer-behördlichen Nutzerkreis verständlich aufbereitet werden.Nur durch die Entwicklung geeigneter Verfahren für dieQualitätskontrolle könnten Metadaten effizient durch dasArchiv genutzt und so Spielräume für den Abbau vonErschließungsrückständen geboten und die Möglichkeitvertiefter Erschließung eröffnet werden. Die Diskussionkonzentrierte sich vornehmlich auf Aspekte der techni-schen und organisatorischen Umsetzung der vorgestelltenKonzepte, die im Allgemeinen sehr positiv aufgenommenwurden.

Die dritte Sektion unter der Moderation von Dr. FrankM. Bischoff (Archivschule Marburg) behandelte die Stan-dardisierung von Erschließungsstrukturen. Prof. Dr. Ange-lika Menne-Haritz (Bundesarchiv-SAPMO) thematisier-te das Zusammenwachsen des europäischen Archivwesensdurch eine sich ausweitende Familie von offenen Stan-dards zur Internetpräsentation auf XML-Basis (EAD fürBeständebeschreibungen, EAC für Herkunftsstellen, EAGfür Archive). Sie berichtete über den Stand der Umsetzungdes EAD-Standards (Encoded Archival Description), derdie plattformunabhängige Darstellung aller typischenFindbuchteile erlaube, in mehreren europäischen Ländern.In Großbritannien verlinken Archivportale mehrerer Initia-tiven zu EAD-konformen Findbüchern (z. B. Access toArchives – A2A). In Frankreich werden Neuerschließun-gen und Retrokonversionen nach EAD-Standard seit 2000umfassend gefördert. Es existiert ein Online-Bulletin zu

EAD. In Polen arbeitet das Historische Archiv Warschaumit EAD. Großes Interesse an allen Standards der Familiefindet sich in Italien. Es bestehen nationale Archivportalefür staatliche und nichtstaatliche Archive, daneben regio-nale Portale. Für den spanischsprachigen Raum schließlichexistiert ein internationaler Verbund auf EAD-Basis, der zu40.000 Archiven Informationen liefert.2 Auf europäischerEbene empfiehlt der „Report on Archives in the enlargedEU“3 die Bereitstellung standardisierter Findmittel aufEAD-Basis. Die Referentin befürwortete als Schlussfolge-rung auch in Deutschland die Schaffung eines nationalenPortals mit Verbundfindmitteln. Dr. Per-Gunnar Ottoson(Reichsarchiv Stockholm) erläuterte die Dokumentationvon Provenienzstellen auf der Basis von EAC (EncodedArchival Context) im schwedischen Archivportal NAD(National Archival Database)4 am Beispiel von Nachlässen.Das System sieht vor, von den verwahrenden Archivenund Bibliotheken direkt in EAC oder zunächst im Textfor-mat gelieferte Informationen an zentraler Stelle einheitlichvorzuhalten. Dr. Ulrich Fischer (Stadtarchiv Köln) formu-lierte Ansprüche an ein archivisches Austauschformat imVergleich der XML-basierten Standards EAD und SAFT-XML. Während EAD den Vorteil des internationalen Aus-tauschs biete, habe dieser Standard den Nachteil, aus deramerikanischen, von der deutschen deutlich verschiede-nen Erschließungstradition zu stammen. SAFT-XML hin-gegen ist aus dem DFG-geförderten Düsseldorfer Retro-konversionsprojekt für analoge Findmittel des Landesar-chivs Nordrhein-Westfalen hervorgegangen und ermögli-che die verlustfreie Übertragung von Daten nach der deut-schen Erschließungstradition.5 Fischer plädiert für dieZusammenführung der Stärken beider Standards durchdie Verwendung von SAFT-XML zur Sicherung vonErschließungsinformationen und von EAD zu ihrer inter-nationalen Präsentation. Die Debatte vertiefte die Frage,inwieweit sich Erschließungsinformationen verlustfrei inden auf eine flache, top-down-ausgerichtete Erschlie-ßungstradition zurückgehenden EAD-Standard übertra-gen ließen. In diesem Zusammenhang plädierte Dr. FrankM. Bischoff für eine Pragmatisierung der archivwissen-schaftlichen Diskussion insgesamt und betonte die Mög-lichkeiten von EAD für eine standardisierte Präsentationbei proprietärer Datenhaltung.

Der zweite Tag des Kolloquiums begann mit der von Dr.Harald Stockert moderierten Sektion „Zwischen digitalerund digitalisierter Überlieferung“. Michael Hansmann,M.A. (Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Kon-rad-Adenauer-Stiftung) berichtete über Erfahrungen beider Archivierung von Websites der CDU im Rahmen desDFG-geförderten Projekts „Sicherstellung der dauerhaftenZugänglichkeit und Integrität von Websites der Parteien“.6

2 Die Präsentation zum Vortrag mit Internetlinks zu den genannten Pro-jekten ist verfügbar unter www.staff.uni-marburg.de/~mennehar/publikationen/onlinepubl.htm, abgerufen am 28.06.2006.

3 URL: http://ec.europa.eu/comm/secretariat_general/edoc_manage-ment/docs/archives/reportArchives.pdf, abgerufen am 19.06.2006.

4 URL: www.nad.ra.se/, abgerufen am 19.06.2006.5 URL: www.archive.nrw.de/dok/retrokonversion01, abgerufen am

28.06.2006. Vgl. Mechthild Black-Veldtrup, Matthias Meusch, StefanPrzigoda, Zugänglichkeit verbessern: Das DFG-Projekt „Entwicklungvon Werkzeugen zur Retrokonversion archivischer Findmittel“, in: DerArchivar 55 (2002), S. 111-114.

6 URL: www.fes.de/archiv/spiegelung/default.htm, abgerufen am19.06.2006.

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Dabei wird die Spiegelung von Teilen der Internetpräsenzin Intervallen kombiniert mit einer konventionellen Ver-zeichnung mit der Software Faust 5. Die so manuellerzeugten Erschließungsdaten könnten sogar als analogesFindbuch ausgedruckt werden. Über die Verzeichnungs-software sei allerdings auch der direkte Zugriff auf diedigitalen Unterlagen möglich. Ein generelles Problem stelltdie Umwandlung von dynamischen in statische Webinhal-te dar. Über die Digitalisierung von analogem Archivgutals Teil eines Erschließungskonzepts berichtete hingegenDr. Bettina Wischhöfer (Landeskirchliches Archiv Kassel)anhand einer Reihe abgeschlossener und laufender Projek-te: Digitales Bildarchiv kirchlicher Gebäude (2000), Digita-les Bildarchiv Sammlung Vasa sacra (2001-2004), DigitalesBildarchiv Baupläne (seit 2005/2006), Digitalisierung vonPergamentfragmenten aus Bucheinbänden (seit 2003), letz-teres im Verbund mit der Landesbibliothek Kassel.7 Dabeiwurden auch vorhandene analoge Findmittel wie Kartei-karten in die Digitalisierung mit einbezogen. Die Chancender Digitalisierung als Neuland für ein kleineres Archivsieht Wischhöfer im Bestandsschutz, der rationellerenNutzbarkeit und im Wecken von Benutzerinteresse. Vor-aussetzungen seien eine gute Projektplanung unter Orien-tierung an DFG-Standards, ohne Bedarf an zusätzlicherFinanzierung und mit breiter Einbeziehung ehrenamtli-chen Sachverstands. Die sich anschließende Diskussionthematisierte das Verhältnis von digital vorliegendenDaten und darauf bezogener Erschließungsinformationen:Wie viel Erschließung benötigen Digitalisate und originärdigitale Daten? Es wurde darauf hingewiesen, dass mecha-nisch generierte Zugangsinformationen für den Nutzer oftnicht ausreichten. Dies gelte auch für Bild- und Videoda-ten, die bei der Website-Erschließung besonders zu berück-sichtigen seien. In diesem Bereich stelle das Urheberrechtan online gestellten Bildern ein Problem dar, das derzeitder Bereitstellung solchen digitalen Archivguts im Internetentgegenstehe. Dr. Wischhöfer betonte, dass Digitalisie-rung nicht von der Erschließungsarbeit entlaste, sonderndiese ergänze.

Die fünfte Sektion unter Leitung von Prof. Dr. EdgarLersch (Historisches Archiv des Südwestrundfunks)behandelte die Erschließung audiovisueller Medien zwi-schen Dokumentation und Archiv. Dr.-Ing. Joachim Köh-ler (Fraunhofer-Institut für Medienkommunikation) stell-te Projekte aus dem Bereich des Audiominings vor. Dabeiwerden Tondokumente durch Tagging automatisch struk-turiert und auf hohem semantischem Niveau ohne manu-elles Abhören erschlossen. Eine robuste Spracherkennungsetzt das Dokument in Text um und ermöglicht seinegezielte Durchsuchbarkeit in einem Audio-Browser. AlsReferenzprojekte wurden die Erschließung von Rundfunk-sendungen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welleund dem WDR sowie von Bundestagsreden in Verbindungmit stenographischen Protokollen und Videoaufzeichnun-gen der Redner vorgestellt. Prof. Dr. Peter Dusek (Doku-mentation und Archiv des ORF) stellte das Langzeitarchi-vierungsprojekt des ORF vor. Archivierung werde dort vordem Hintergrund dramatischer Überlieferungsverlustedurch physischen Verfall der Datenträger und Veralten der

technischen Formate als Teil eines öffentlichkeitsorientier-ten Asset-Managments verstanden. Die archivischeErschließung müsse hier auch die ökonomische Nachnut-zung des Audio- und Videomaterials durch den Archivträ-ger ermöglichen. Unter dem Motto „Die Rache der Journa-listen an den Politikern ist das Archiv“ habe der ORFbereits ein erfolgreiches Fernsehformat auf der Basis vonBildarchivgut gestartet. An der Schnittstelle zwischenArchiv, Dokumentation und Redaktion sieht Dusek einneues Berufsbild, das insbesondere auch mit urheberrecht-lichen Fragen befasst sein müsse. Die nachfolgende Dis-kussion entzündete sich einerseits an der Eignung derDigitalisierung zur Langzeitsicherung überhaupt, wobeiim ORF als Zwischenlösung digitalisierte Daten auf kon-ventionellen Bändern gespeichert werden, andererseits anden technischen Möglichkeiten der Spracherkennung. Hiersieht Köhler in den nächsten Jahren ein großes Verbesse-rungspotential. Mit einem Aufwand von 20-30.000 Euroließe sich in einem Kommunalarchiv ein Audiomining-Arbeitsplatz einrichten.

Die sechste und letzte Sektion thematisierte unter Lei-tung von Dr. Alexandra Lutz (Archivschule Marburg) dieNachlasserschließung anhand des gemeinsamen RNA-Standards im Spannungsfeld zwischen Archiv und Biblio-thek. Dr. Jutta Weber (Staatsbibliothek zu Berlin/Preußi-scher Kulturbesitz) erläuterte die Neufassung der Regelnzur Erschließung von Nachlässen und Autographen(RNA) unter der Maßgabe einer Synthese aus bibliotheka-rischen und archivischen Vorstellungen. Die Vereinheitli-chung der Erschließungspraxis in Archiven, Bibliothekenund Museen sei Voraussetzung für eine rationellereErschließung und eine gemeinsame Internetpräsentation.Als Problemfelder gegenüber der archivischen Erschlie-ßungstradition benannte Weber etwa die Ordnung desNachlassinhalts nach Materialhauptgruppen (Werke, Kor-respondenzen, Lebensdokumente), die Abwägung zwi-schen Grob- und Feinerschließung sowie die Nutzung vonbibliothekarischen Normdaten für Personennamen zurVerknüpfung von Nachlässen und Werken von Künstlernund Wissenschaftlern. Dr. Jürgen Treffeisen (Generallan-desarchiv Karlsruhe) berichtete aus Sicht der in das Projekteingebundenen früheren Landesarchivdirektion Baden-Württemberg über die Erarbeitung der RNA, die aus archi-vischer Sicht zwar akzeptabel seien, doch nur ein Zwi-schenergebnis darstellten. Als wichtigen Erfolg werteteTreffeisen das Einfließen der Stufenerschließung nachISAD (G) in die Richtlinien. Die Verwendung von Namens-und Ortsthesauri sei mit archivischen Standards vereinbar,die normierte Verschlagwortung von Nachlässen hingegenproblematisch, da ihre Ergebnisse Vollständigkeit vor-täuschten und mit der archivischen Suchstrategie der Ana-lyse von Provenienz und Bestandsgliederung nicht über-einstimmten. Zwischen bestandsbezogenen Findmittelnim Archiv und übergreifenden Katalogen in Bibliothekenbestünden außerdem grundsätzliche Unterschiede. In derDiskussion regte Prof. Dr. Wilfried Reininghaus eineErweiterung des auf Personennachlässe bezogenen Nach-lassbegriffs der RNA auf andere Nachlasstypen, wie Fami-liennachlässe, an. Thematisiert wurde auch die Anwend-barkeit der standardisierten Sachindizierung nach biblio-thekarischem Vorbild für die archivische Erschließung.Beim Einsatz von Normdaten sei der relativ hohe Zeitauf-wand zu ihrer fundierten Erstellung zu berücksichtigen.

7 URL: www.ekkw.de/archiv/publikationen_projekte03.html, abgerufenam 19.06.2006. Vgl. zuletzt Bettina Wischhöfer, Projekt Digitalisierung„Sammlung Vasa sacra“ des Landeskirchlichen Archivs Kassel, in: DerArchivar 57 (2004), S. 316-318.

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Für die Schlussdiskussion fasste Dr. Frank M. Bischoffdie wesentlichen Ergebnisse zusammen: Die Online-Bereit-stellung von Erschließungsinformationen stehe im Span-nungsfeld zwischen den Forderungen nach verlustfreierRetrokonversion und der Einhaltung internationaler Stan-dards. Die intellektuelle Leistung des Archivars bleibe trotzder Unterstützung durch digitale Technik weiterhin einunverzichtbarer Bestandteil der Erschließungsarbeit. DieBereitstellung von Erschließungsinformationen müsse sicham Erstkontakt des Nutzers orientieren, der heute weitge-hend online stattfinde. Notwendig sei daher eine breite,online verfügbare Basisversorgung auch aus flacherErschließung oder in Form aufbereiteter Metadaten. Alszweiter Schritt könne dann die qualitative Verbesserungder Daten folgen. Dem hierin liegenden Rationalisierungs-potential zum Trotz könnten die Archive aber keine Profit-Center werden. Dr. Jürgen Treffeisen betonte noch einmal,dass der Online-Recherche lediglich eine hinführendeFunktion zukäme; die Beratung durch den Archivar bleibeweiterhin unverzichtbar. Beratung als Element derErschließung zu forcieren, forderte auch Prof. Dr. WilfriedReininghaus. Dr. Anton Gössi (Staatsarchiv Luzern)machte auf die Erfordernisse des Datenschutzes alsHemmnis für die Online-Präsentation von Erschließungs-daten aufmerksam.

Marburg Holger Berwinkel/Roxane Wartenberg

Die Klassifizierung von Karten, Bauplänen, Bildern inArchiven, ein Bericht aus dem Landeshauptarchiv inSchwerin

ÜberblickErst in Säcken, dann in Truhen oder Kisten wurden dieKarten des herzoglichen Archivs seit dem 17. Jahrhundertin Schwerin aufbewahrt. Es handelte sich vorerst um Lan-desgrenzkarten.

Während des 18. Jahrhunderts entstanden die Direkto-rialvermessungskarten nach der Vermessung der ritter-schaftlichen Güter in Mecklenburg, diese und Einzelblät-ter von Kartenwerken, aber auch Atlanten gelangten in dasArchiv. Langsam nahm der Umfang der Kartensammlungin der Folgezeit zu, ohne dass eine Gliederung erfolgte.

Der Beginn der Anlage einer Bildersammlung lässt sichschwer nachweisen. Im 19. Jahrhundert erhielt das ArchivSchenkungen von Stahlstichen, Lithografien, Zeichnungen,Fotos, die Archivare begannen verstärkt mit der Samm-lungstätigkeit. Eine Ende des 19. Jh. begründete Sammlungdes Vereins für mecklenburgische Geschichte und Alter-tumskunde wurde in die im Geheimen und Hauptarchivvorhandene Sammlung eingefügt.

Die Baupläne gelangten erst mit den Ablieferungen derBehördenbestände in das Archiv. Außerdem übergabenArchitekten ihre Nachlässe.

Seit 1945, nachdem in großem Umfang neues Archivgutin das Archiv geholt und übergeben wurde, betreute dasKartenreferat alle Archivalien mit Bildcharakter. Die Aus-wertung und Erschließung des Archivgutes richtete sichnach staatlichen Vorgaben. Dabei standen die Karten, Bau-pläne und Bilder nicht in vorderster Reihe. Bis zum Jahre1989 erfolgte deren Ordnung, einfache Verzeichnung undgeordnete Lagerung sowie die wissenschaftliche Betreu-ung, vor allem der mecklenburgischen Karten.

Diese wurden nach dem geografischen System in alpha-betischer Reihung nach Kreisen (Ausgangsjahr 1928) unddarunter nach Orten in Mappen plan oder auch gerollt inFächern abgelegt. Als Findhilfsmittel für die mecklenbur-gischen Gemarkungskarten dienten alte Repertorien ausder Behördentätigkeit der Katasterverwaltung.

Andere, nicht das mecklenburgische Territorium betref-fende Karten ordneten die Archivare grob nach Ländern.Der gesamte Kartenbestand war zu der Zeit in sieben Sach-gruppen gegliedert. Die Baupläne befanden sich gemäßProvenienz in einzelnen Mappen, gelegt nach Orten undBauobjekten in alphabetischer Reihenfolge. Die Bilder-sammlung war nach Orten und Personen sowie in eine all-gemeine Sammlung gegliedert. Daneben verwalteten dieArchivare des Kartenreferates Wappenbilder, Plakate, Not-geld, Fotos, Luftbilder, Stammbäume usw.

Dieser Zustand musste geändert werden. Eine gezielteErschließung begann, weil die Anforderungen seitens derBenutzer an diese Sammlungsteile stets wuchsen. Voraus-setzung dafür bildete die Gliederung oder Klassifizierungder Sammlungsteile und der Bestände.

Herbert Ewe1 verweist auf die Möglichkeiten der Klas-sifizierung der Karten in topografische und thematischeKarten, wobei er auch feststellt, dass topografische Kartenim Sinne von Übersichtskarten sehr oft thematisch gestal-tet sind und thematische Karten topografische Merkmaleaufweisen können. Für die Gliederung der im Archiv auf-bewahrten Karten bietet sich die Variante, innerhalb derthematischen Karten (auch als sozialökonomische Kartendefiniert) weiter nach Landkarten, Forstwirtschaftskarten,Verkehrskarten usw. vorzugehen. Das ist sinnvoll, da derterritoriale Bezug in der Regel für ein Landesarchiv durchdessen Zuständigkeit definiert wurde. Die Klassifikationnach Datenart, wie Primär- oder Originalkarten, Urkartenmuss nicht vorgenommen werden, bei der Verzeichnungder Objekte erscheinen diese Daten. Somit entscheidet ein-deutig die Überlieferungslage eines Archivs, wie zu klas-sifizieren ist.

Die größte Kartenmenge bilden im Landeshauptarchivin Schwerin die Gemarkungskarten, gefolgt von den topo-grafischen Karten. Sie basieren auf der Feldvermessung,die anschließend in Vermessungsregistern protokolliertund deren Ergebnisse dann in Karten umgesetzt wurden.Weiße Flecken finden sich auf den Karten für unvermesse-ne Teile. Gemarkungs- und Flurkarten bilden auch diewichtigste Kartengruppe im Landeshauptarchiv. ÜberJahrzehnte wurden sie von den verschiedensten Nutzer-gruppen zu den verschiedensten Fragestellungen herange-zogen; vor allem zur Klärung von Eigentumsfragen, aberauch die Veranschaulichung einer Ortslage, eines Flurstü-ckes, eines Wegeverlaufes, der Wald-, Feldverteilung, derVegetation, des Gewässernetzes oder die Suche nach Hin-weisen auf prähistorische Siedlungen durch Archäologensind gefragt. Während die topografischen Karten in Formder Messtischblätter der preußischen Vermessung, Maß-stab 1: 25.000, benutzbar sind, gilt dies nicht für neueretopografische Karten aus der Zeit nach 1945.

1 Herbert Ewe, Karten und Pläne, Bilder, in: Die archivalischen Quellen,Weimar 1994, S. 119.

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TektonikNach der politischen Wende im Jahre 1990 war es erforder-lich, den schon bestehenden Plan, im LandeshauptarchivSchwerin eine neue, zukunftsweisende Tektonik zu erar-beiten, umzusetzen. Sie bildete auch die Grundlage zurErarbeitung einer Beständeübersicht für alle im Landes-hauptarchiv in Schwerin vorhandenen Bestände undSammlungen (aktueller Stand 1999).

In der Tektonik des Landeshauptarchivs in Schwerinwerden die vorhandenen Bestände variabel nach histori-schen Zäsuren, Archivkörpern und Archivgutarten in sieb-zehn Hauptgruppen gegliedert und die Einzelbeständedarunter nach ihrer sachlichen oder administrativen Zuge-hörigkeit gereiht.

Die Hauptgruppen 11-14 beinhalten:11. Sammlungen12. Karten, Pläne, Risse13. Bilder und Fotografien (Bildarchiv)14. Filme, Videos, Tonträger

Der Band 3 „Nichtstaatliches Archivgut und Sammlun-gen“ der Beständeübersicht des LandeshauptarchivsSchwerin beschreibt diese Bestände.2

Klassifikation, Bildung von GruppenVoraussetzung für die Ordnung und Verzeichnung vonSammlungsgut im Archiv ist die Klassifizierung. Nur sowird später eine effektive Nutzung ermöglicht. Neben demschnellen Zugriff muss der Archivar Sachzusammenhängeerkennen, um die verschiedensten Nutzerinteressen zubedienen. Ein besonderes Problem bleibt dabei die ständi-ge Ergänzung von Sammlungen. Soweit möglich, emp-fiehlt sich die Bildung von zeitlich oder thematischbegrenzten Sammlungsteilen. Wenn eine Provenienzerkennbar ist, sollte der Versuch einer Bestandsabgrenzungunternommen werden. Das Beispiel wird bei der Feinglie-derung deutlich.

Die Hauptgruppe Karten, Pläne, Risse entstand, bedingtdurch die Betreuung eines Mitarbeiters aus dem Kataster-und Liegenschaftsbereich, in den 50er Jahren des 20. Jahr-hunderts. Davor existierte im Landeshauptarchiv eine Kar-tensammlung.

Bei der Überarbeitung der Tektonik im Jahre 1998, nachden umfassenden Aktenzugängen und Zugängen an topo-grafischen Karten der DDR ab dem Jahre 1990 ff. sowie derNeugliederung der Landesbehörden, musste einezukunftsweisende Regelung gefunden werden, die aufJahre eine Einbindung neuer Bestände in die vorhandeneTektonik ermöglicht.

Hauptgruppe 12 Karten, Pläne, RisseUnter dieser Hauptgruppe wurden zwei Untergruppen,12.1 Karten von Mecklenburg und 12.2 Außermecklenbur-gische Karten gebildet. Diese erste Stufe der Klassifizie-rung verdeutlicht die wesentlichen Überlieferungsschwer-punkte. Eine weitere Untergruppe bilden mit 12.3 Bauplä-ne, Risse, Technische und Rekonstruktionszeichnungen.An dieser Stelle soll auf die Unterscheidung zu den Kartenverwiesen werden. Baupläne entstehen in den Maßstäben

1: 10 bis 1: 250, vereinzelt auch kleiner bis 1: 2000. Sie habenimmer den Charakter von technischen Zeichnungen. Hier-auf finden sich Grund-, Seiten- und Aufrisse von Gebäu-den, Brücken usw., manchmal enthalten sie auch als Insel-darstellung Situationspläne zur Lage des Objektes inner-halb eines Ortes, an einem Fluss u. a. Baupläne könnenauch nur ein Detail eines Gebäudes, einer Wand, Tür, einesFrieses darstellen.

Die Karten spiegeln immer ein Abbild der Erdoberflä-che wider. Das kann kleinmaßstäbig (kleiner als 1: 500.000)oder großmaßstäbig (über 1: 50.000) erfolgen. Bei den imallgemeinen Sprachgebrauch als Plan bezeichneten Kartenhandelt es sich nach der Definition der Vermesser umgroßmaßstäbige Karten, z. B. Stadtpläne bis zum Maßstab1: 5000.3

12.1 ist wie folgt untergliedert:12.11 Karten und Atlanten von Mecklenburg, den Ämtern

und Kreisen, größerer Teilgebiete12.11-1 Mecklenburgkarten und Atlanten12.11-2 Grenzkarten von Mecklenburg12.11-3 Ämter- und Kreiskarten12.11-4 Messtischblätter/Topografische Karten

(ab 19. Jh.)12.12 Gemarkungs- und Flurkarten (ab 17. Jh.)

12.12-1 Karten von ländlichen Gemarkungen12.12-2 Karten von städtischen Gemarkungen

12.13 Karten von Meliorationen und wasserwirtschaft-lichen Projekten (ab 19. Jh.)12.13-1 Meliorationskarten der Wasserwirtschafts-

ämter12.13-2 ...............

12.14 Forstkarten (ab 18. Jh.)12.14-1 Forstmutterkarten12.14-2 ..........

12.15 Verkehrskarten (ab 19. Jh.)12.15-1 Straßenkarten12.15-2 ...............

12.2 Außermecklenburgische Karten (ab 18. Jh.) ist wiefolgt gegliedert:

12.21 Karten und Atlanten von der Welt und außereuro-päischen Ländern

12.22 Karten und Atlanten von Europa und europäischenLändern

12.23 Karten und Atlanten von Deutschland und einzel-nen deutschen Ländern

12.24 ........

Die Baupläne, Risse, Technische und Rekonstruktions-zeichnungen 12.3 enthalten:12.3.1 Hofbauamt/Großherzogliche Vermögensverwal-

tung12.3.2 Finanzministerium, Abt. Hochbau……………12.3.5 Reichsbauamt12.3.6 Werknachlässe von Architekten und Baumeistern

2 Die Bestände des Landeshauptarchivs Schwerin, Bd. 3: NichtstaatlichesArchivgut und Sammlungen, Schwerin 2005. 3 abc Kartenkunde, Leipzig 1983.

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Hauptgruppe 13 Bilder und FotografienDie ehemalige Bildersammlung des Landeshauptarchivserfuhr eine beträchtliche Erweiterung durch verschiedeneZugänge, vorrangig durch Fotografien. Nun stellte sich dieFrage, ob diese in die vorhandene Sammlung eingehensollten oder eine neue Gruppe gebildet wird. Als günstigerschien die Variante, nach Archivalienart getrennt neueGruppen aufzubauen. Ein Grund dafür ist auch die unter-schiedliche klimatechnische Lagerung von Papier undFotografie bzw. Negativ, Filmmaterial. Da die neuenSammlungsteile in der Regel aus der Zeit nach 1945 stam-men, während die bereits vorhandenen Bilder und Post-karten, vereinzelt auch Fotos früheren Datums sind, ent-stand in der Folge diese neue Gliederung der Sammlung.

13.1 Bildersammlung13.1-1 Bildersammlung Orte13.1-2 Bildersammlung Personen13.1-3 Dynastien13.1-4 Sachen und Ereignisse

13.2 Postkartensammlung13.2-1 Ortsansichten (A-Z)13.2-2 Personen (A-Z)13.2-3 Ereignisse13.2-4 Sachobjekte

13.3 Nachlässe von Fotografen13.3-1 Mencke & Co., Hamburg-Wandsbek

(Meckl. Herrenhäuser 1880-1890)13.3-2 Bedau, Walter, Schwerin13.3-3 …….

13.4 Fotosammlungen der Behörden, Institutionen,Betriebe, Organisationen13.4-1 Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe

(VdgB)13.4-2 ..........

13.5 Luftbilder13.6 Diapositive13.7 Digitalisierte Bilder13.8 Fotosammlung

14 Filme und Tonträger

NutzungDie aufgeführten Sammlungsteile und Bestände sindgeordnet, zum Teil auch erschlossen und für die Benut-zung zugänglich. Ein Problem wird die Bestandserhaltung.Überlegungen in Richtung zukünftiger Sicherungsverfil-mung sind angestellt. Damit verbunden soll die Nutzungstark frequentierter Archivalien (digitalisiert) am Bild-schirm erfolgen. Das notwendige Geld dafür ist in den Fol-gejahren zu beschaffen. In Zeiten knapper Kassen wird esein sehr langfristiges Vorhaben. Zur Zeit werden dieKarten, Baupläne, Bilder in der Masse noch im Original,vorher in Schutzhüllen verpackt, in die Benutzung gege-ben. Karten können auch per Macrofiches, Bilder undFotos, soweit diese digitalisiert wurden, per Bildschirmangesehen werden. Mit eigenen Mitteln und Kräftengelang unter Einsatz von Hilfskräften das Scannen derPostkarten und einer Fotosammlung. Zukünftig als Teildes Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege muss dasLandeshauptarchiv in Schwerin neu denken und planen.

ErgebnisHauptanliegen dieses Beitrages sollte es sein, den Archiva-rinnen und Archivaren ein Beispiel für die Ordnung vonSammlungen mittels Gliederung oder auch eines Ord-nungsmodells vorzustellen. Die Überlieferungslage einesLandesarchivs ist sicher anders als die eines Kommunal-oder Kreisarchivs. Sie gibt in der Regel die Klassifizierungvor. Je genauer diese erfolgt, umso einfacher werden dieZugangsbearbeitung von Neuzugängen im Archiv und dieÜbersichtlichkeit für den Nutzer. Richtlinie des Handelnswird die Frage sein, wo entstand das Objekt Karte, Bauplanoder Bild, zu welchem Zweck entstand es und wer kann eswozu verwenden.

Schwerin Elke Krügener

EDV und Neue MedienLandesarchiv Baden-Württemberg diskutiert erste Ergeb-nisse zur Archivierung elektronischer Unterlagen

Im Landesarchiv Baden-Württemberg wird für die unter-schiedlichen Aspekte der Archivierung digitaler Unterla-gen – von der Langzeitarchivierung digitaler Dokumenteüber die Digitalisierung vom Mikrofilm, die Mikroverfil-mung von Scans bis zur digitalen Reproduktion vonArchivgut – eine ganzheitliche Konzeption entwickelt. Dadie inzwischen erarbeiteten Lösungsansätze aber erheb-liche Auswirkungen auf alle archivischen Tätigkeitsfelderhaben, wurden sie in einer Auftaktveranstaltung am 10. Oktober 2006 im Kollegenkreis intensiv diskutiert.

Zentral für das Landesarchiv ist die Einbindung digita-ler Dokumente in die Tektonik der Archivabteilungen.Digitale Dokumente bleiben innerhalb des vorhandenen,bei Nutzern und Wissenschaft eingeführten Signatursche-mas auffindbar und sind nur durch einen vorgesetztenBuchstaben als „digital“ gekennzeichnet. Auch die Bewer-tung elektronischer Unterlagen wird im Verbund mit derBewertung der analogen Unterlagen stattfinden.

Die Erfahrungen mit den ersten Übernahmen elektroni-scher Unterlagen in einen Massenspeicher und die aufge-baute IT-Infrastruktur ermöglichen nun, digitale Datenstabil zu archivieren sowie Migrationen und technischeFormatanpassungen etc. zu dokumentieren. Dabei wird esunerheblich sein, in welcher Form die elektronischenDokumente entstanden sind, sei es als „born digital docu-ments“, durch Digitalisierung von Mikrofilm oder als digi-tale Reproduktionsvorlagen von Archivgut.

Die Diskussion um den Mikrofilm als Speichermediumwurde mit Blick auf den alterungsbeständigen Farbmikro-film wiederbelebt. Zudem stehen vor allem durch dieSicherungsverfilmung für Baden-Württemberg prinzipiell115 Millionen Aufnahmen zur Verfügung, die, ohne dieOriginale noch einmal zu belasten, digitalisiert werdenkönnten, um so in Intra- oder Internet ortsunabhängiggenutzt werden zu können. Die jahrzehntelange Stärke derArchive auf diesem Gebiet – auch im Vergleich zu denBibliotheken – könnte bei Einsatz entsprechender finan-zieller Ressourcen nachhaltig genutzt werden.

Die konstruktive Diskussion zeigte eindrucksvoll, dassdie Beschäftigung mit digitalen Unterlagen im Archiv keinabgetrennter Bereich für Spezialisten sein kann. Um Stra-tegien erfolgreich in die Praxis umsetzen zu können, wer-den alle Abteilungen des Landesarchivs in den weiteren

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Entwicklungsprozess eingebunden sein. Als nächste Phasewird dabei die Übernahme elektronischer Unterlagen imFeldversuch des Alltags angegangen; die Voraussetzungenfür diesen Schritt sind erarbeitet. Drohenden Verlusten vondigitalen Unterlagen bei Behörden und Institutionen desLandes kann jetzt wirkungsvoll entgegengetreten werden.

Das Landesarchiv Baden-Württemberg wird im Laufdes Jahres 2007 die soweit erarbeiteten Lösungsansätzevorstellen. Damit hofft das Landesarchiv bundesweitfachlich einen Impuls setzen zu können, durch denzugleich auch öffentlich bewusst gemacht werden soll,dass Archive für die Zukunft arbeiten.

Stuttgart Clemens Rehm

Landesarchiv NRW Personenstandsarchiv Brühl: Aufdem Weg zum digitalen Lesesaal

Seit einigen Jahren wird in der archivwissenschaftlichenDiskussion immer häufiger der Begriff „Digitaler Lesesaal“verwendet1. Meist verbindet man damit zwei Vorstellun-gen: Einerseits die weitgehende oder sogar vollständigeNutzung der Archivbestände in digitaler Form in einemherkömmlichen Lesesaal oder andererseits die „Einrich-tung eines Lesesaals“ im Internet, wo man in zahlreichenDatenbanken übergreifend recherchieren kann, wobei dieDatenbanken mit den Digitalisaten der Archivalien ver-bunden sind. Praxiserfahrungen liegen für beide Formennur wenige vor.

Das Personenstandsarchiv Brühl hat sich für die erstePerspektive entschieden und seit mehreren Jahren einedigitale Nutzung seiner wichtigsten Bestände vorbereitet.Dazu waren zwei Voraussetzungen wichtig: Die Einrich-tung einer Digitalisierungswerkstatt, um die verstärkteDigitalisierung geeigneter Beständeüberhaupt durchführen zu können,und die Schaffung von technischenRahmenbedingungen, d. h. die not-wendige technische Ausstattung desLesesaals inkl. Aufbau eines leis-tungsfähigen Netzwerks mit ausrei-chenden elektronischen Speiche-rungsmöglichkeiten. Zugleich solltennicht nur stark geschädigte Beständeweiterhin und vor allem bessergenutzt und deren Originale bessergesichert werden können, sondernauch eine Nutzungsstrategie, wie sievor allem für genealogisch relevanteFragestellungen bekannt ist, weitge-hend beibehalten und ins digitaleübersetzt werden.

Im Personenstandsarchiv Brühl hatman 1999/2000 zunächst mit der

Digitalisierung seiner wichtigsten Bestandsgruppe, der rd.4.200 originalen Kirchenbücher aus der Zeit von 1571 bis1809, begonnen. Grundsätzlich wird vom Original und inFarbe digitalisiert. Zur Zeit sind 1.774 Kirchenbücher digi-talisiert; im nächsten Jahr wird auf jeden Fall die Hälfte desGesamtbestandes erreicht und überschritten. Als weiterewichtige Bestandsgruppe kommt die ebenso stark geschä-digte Gruppe der Zivilstandsregister der französischenZeit im Rheinland von 1796/98 bis 1814 in Frage; derenDigitalisierung ist durch ein beauftragtes Unternehmenbegonnen worden und wird sicher im nächsten Jahr abge-schlossen. Die dazugehörigen Beiakten der Aufgebote undBelege werden sich anschließen; die Hilfsmittel der Dezen-naltabellen liegen bereits zum großen Teil digitalisiert vor.Mittel- bis langfristiges Ziel ist es, den gesamten Bestandder Zivilstandsregister bis einschließlich 1875 inkl. der Bei-akten und Hilfsmittel im Lesesaal nur noch in digitalerForm nutzen zu lassen.

Parallel dazu wurde der Lesesaal technisch ausgebaut:Von zunächst 7 PCs ausgehend ist es inzwischen auch mitUnterstützung des Technischen Zentrums des Landesar-chivs NRW möglich geworden, weitere Arbeitsplätze mitPCs auszustatten, so dass jetzt 24 der insgesamt 30 Arbeits-plätze mit PCs und entsprechend geeigneten Tischen ver-sorgt sind. Auf den übrigen 6 Plätzen befinden sich Mikro-fiche-Scanner, die für die restliche Mikrofiche-Nutzungnoch bis auf weiteres notwendig sind.

Als Rechercheinstrument dient zukünftig eine interak-tive geographische Beständeübersicht, die für jeden Ort die im Personenstandsarchiv verwahrten Quellen anKirchenbüchern und Zivilstandsregistern mit den dazu-gehörigen Beiakten und Hilfsmitteln aufführt.

Das Personenstandsarchiv Brühl hat damit einen wich-tigen Schritt in Richtung Benutzerorientierung mit besse-

ren Nutzungsmöglichkeiten von Archivalien und gleich-zeitig verstärktem Schutz seiner Bestände unter Berück-sichtigung moderner Technologie getan. Die Akzeptanz istbei den zahlreichen Nutzern des Personenstandsarchivserfreulich hoch. In den nächsten Jahren werden diese Maß-nahmen weitergeführt und ausgebaut.

Brühl Christian Reinicke

1 Z. B. Lucie Verachten, Der digitale Lesesaal. Ein Erfahrungsbericht ausbelgischer Sicht, in: Zwischen Tradition und Innovation. Strategien fürdie Lösung archivischer Aufgaben am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bei-träge der Fachtagung der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen am 11. Dezember 2001 in Schloss Augustusburg, Brühl, unddes 12. Internationalen Archivsymposions vom 14. bis 15. Mai 2002 inDüsseldorf, hg. von Verena Kinle/Wolf-Rüdiger Schleidgen, Ver-öffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-West-falen E 8, Siegburg 2002, S. 209-222.

Lesesaal Personenstandsarchiv Brühl

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Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2 151

Benutzung, Öffentlichkeitsarbeit und ForschungDer schwierige Weg der Archivpädagogik in den neuenLändern – ein Werkstattbericht aus dem StaatsarchivLeipzig

Das Interesse an archivpädagogischen Angeboten scheintin den neuen Ländern geringer zu sein als in den alten. Die-sen Eindruck kann man im Gespräch mit Kollegen gewin-nen. Er verfestigt sich in der deutlich geringeren Beteili-gung der neuen Bundesländer am Geschichtswettbewerbdes Bundespräsidenten. Als mögliche Ursachen sind zunennen:– Durch die gesellschaftlichen Veränderungen des SED-

Staates sind bildungsbürgerliche Traditionen gebrochenworden, bildungsbürgerliche Strukturen zählen aber zuden Rahmenbedingungen, die die Nutzung archivpäd-agogischer Angebote fördern.

– Systembedingt war der Beruf des Geschichtslehrerssowohl in der Ausbildung wie auch im Berufsalltag inder DDR stark ideologisch ausgerichtet.1 Geschichtsleh-rer unterrichteten häufig als zweites Fach Staatsbürger-kunde. Blieben sie nach 1990 im Amt, befähigte sie eineFortbildung zum Unterrichten von Geschichte undEthik. Möglicherweise scheuen sich Lehrer angesichtsder historischen Zäsur mit ihren Schülern ins Archiv zugehen, zumal hier ein entdeckendes Lernen angesagt istanstelle des in der DDR-Zeit noch stärker als heute prak-tizierten Frontalunterrichts.Es ist fraglich, ob diese Ursachen das eher geringe Inter-

esse an der Archivpädagogik ausreichend erklären können.Aufschlussreich ist ein Blick in die DDR-Archivgeschichte.Ab 1970 entwickelte sich im zentralistisch geführtenArchivwesen der DDR der Begriff der archivischen Öffent-lichkeitsarbeit. Der scheint zuvor nicht gängig gewesen zusein, Archivare sahen ihn aber ausgefüllt bspw. durch dieHerausgabe von Schriftenreihen. Der höhere Stellenwertarchivischer Öffentlichkeitsarbeit vor allem ab 1970 lagdarin, über archivische Aufgaben und den Beruf des Archi-vars zu informieren, aber auch „Geschichtspropaganda“zu betreiben. Vor allem die Archive der Kommunen undKreise, in der DDR staatliche Organe, angeleitet und kon-trolliert von der Staatlichen Archivverwaltung der DDR,füllten diese Rolle aus. So nahm das Stadtarchiv [Ost]-Ber-lin die Öffentlichkeitsarbeit erstmals in seinen Fünfjahrs-plan 1971 bis 1975 auf.2 Als in diesen Fragen besondersaktiv galt auch das Stadtarchiv Stralsund.

Vor dem Hintergrund der Mitgliedschaft der DDR inder UNESCO gewannen Archivpädagogik und Öffentlich-keitsarbeit Ende der 70er Jahre weiter an Bedeutung, als1979 die UNESCO die „Internationalen Wochen der Archi-ve“ proklamierte. In der DDR verknüpfte man diese Akti-on mit dem 30. Jahrestag der DDR und veranstaltete vom22. bis zum 28. September 1979 erstmals die „Woche dessozialistischen Archivwesens“.3

Für die 80er Jahre bis zum Zusammenbruch der DDRzeigt sich ein recht reges archivpädagogisches Engage-ment, zwangsläufig ideologisch ausgerichtet auf die Ver-mittlung eines marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes.

So war es in der DDR üblich, dass Jugendliche Stadt-und Kreisarchive im Rahmen der Vorbereitungen zurJugendweihe besuchten. Solche Besuche gab es auch imStaatsarchiv Leipzig und sie gibt es bis heute noch bspw.im Hauptstaatsarchiv Dresden.

Stadt- und Kreisarchive standen in enger Verbindungmit der Abt. Volksbildung beim Rat der Stadt. Zu den inder Archivpädagogik profilierten Archiven in diesemBereich gehörte auch das Stadtarchiv Karl-Marx-Stadt, das1979 immerhin von 22 Lehrern und 185 Schülern besuchtwurde, 1986 waren es sogar 60 Lehrer und 338 Schüler.Ursache für diese Steigerung war, dass neue Lehrplänevorsahen, auch lokale Bezüge im Geschichtsunterricht zuberücksichtigen. Das Stadtarchiv Karl-Marx-Stadt wirkteauch als Stätte der Lehrerweiterbildung mit einem Spezi-alkurs „Schulgeschichte“. Zu seinen Aktivitäten zählteauch die Betreuung von Schülern in der Abiturstufe bei derErforschung relevanter gesellschaftlicher Themen und derErstellung von Arbeiten zur Geschichte der kommunisti-schen Jugendbewegung Deutschlands.4 Von den Lehrern,die an diesen Weiterbildungskursen teilnahmen, kam dieHälfte anschließend mit ihren Schülern ins Archiv.5

Nicht zuletzt ein gewisser Druck der für Volksbildungzuständigen Organe veranlasste die Lehrer zu Archivbesu-chen. Zu den bereits genannten Leistungen kommen wiezum Beispiel beim Kreisarchiv Aue Spezialinventare zurUnterstützung des Geschichtsunterrichts hinzu,6 ähnlichesgab es auch im Stadtarchiv Karl-Marx-Stadt.7 In vielenDDR-Stadtarchiven arbeiteten Lehrer, die aus den unter-schiedlichsten Gründen den pädagogischen Beruf auf-gaben, dies förderte die Kontakte zwischen Archiv undSchule.8

Grossomodo bleibt festzustellen, wie im Westen besetz-ten die Stadtarchive in der DDR die Archivpädagogik,allerdings eingebunden in das politisch-ideologischeSystem. Die archivpädagogischen Aktivitäten der Staatsar-chive waren dagegen eher gering. Aus der Lehrerperspek-tive scheinen Staatsarchive wesentlich stärker als Stadt-und Kreisarchive als „geschlossene Einrichtungen“ wahr-genommen worden zu sein. Dies ist ein wichtiger Aspekt,wenn wir heute über die Nutzung archivpädagogischerAngebote nachdenken, denn gerade bei kleineren Stadt-und Kreisarchiven werden archivpädagogische Angebotedeutlich stärker genutzt als bei den Staatsarchiven, diekeine archivpädagogische Tradition in der DDR-Zeit erfah-ren haben. So kommen heute pro Jahr etwa 20 Schulklas-sen mit ihren Lehrern ins Kreisarchiv Aue, eine sehr hoheZahl.9

1 Saskia Handro, Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozia-lisation in der SBZ und DDR (1945-1961). Eine Studie zur Region Sach-sen-Anhalt, Weinheim 2002.

2 R. Lienig, Öffentlichkeitsarbeit des Archivs der Hauptstadt der DDR,Berlin, in: Archivmitteilungen 4 (1971), S. 144-145.

3 E. Schetelich, Woche des sozialistischen Archivwesens der DDR.Bericht über die Veranstaltungen im Oktober 1979, in: Archivmitteilun-gen 1 (1980), S. 5-9.

4 Grit Richter, Archiv und Schule. Ein Beitrag über die Arbeit des Stadt-archivs Karl-Marx-Stadt zur Unterstützung der Bildungs- und Erzie-hungsarbeit an den Schulen und zur Erforschung und Darstellung derSchulgeschichte, in: Archivmitteilungen 1 (1988), S. 20-21.

5 Vf. dankt Gabriele Viertel, Leiterin des Stadtarchivs Chemnitz, fürdiese Information.

6 Steffi Rathe, Erfahrungen des Kreisarchivs Aue in der Zusammenarbeitmit Schulen, Ortschronisten und der Gesellschaft für Heimatgeschich-te, in: Archivmitteilungen 5 (1987), S. 154.

7 Vf. dankt Gabriele Viertel, Leiterin des Stadtarchivs Chemnitz, fürdiese Information.

8 Ebd.9 Vf. dankt Steffi Rathe, Leiterin des Kreisarchivs Aue, für diese Infor-

mation.

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152 Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2

Im Herbst 2001 begann das Staatsarchiv Leipzig miteiner Intensivierung der archivpädagogischen Arbeit. Zielwar vor allem, Schüler und Lehrer als Archivbenutzer zugewinnen. Dem Verfasser stehen dafür zusammen mit derÖffentlichkeitsarbeit 15 bis 20 Prozent seiner Arbeitszeitzur Verfügung, also maximal 340 Stunden im Jahr.

Am Anfang stand der Aufbau von Kontakten zu Ziel-gruppen und Multiplikatoren. In Kooperation mit demRegionalschulamt organisierte das Staatsarchiv Anfang2002 eine Nachmittagsveranstaltung zu „Chancen undMöglichkeiten der Archivpädagogik“, die vom Regional-schulamt Leipzig als Fortbildungsveranstaltung anerkanntwurde. Erreicht wurden damit die Geschichtslehrer anGymnasien und die Fachberater Geschichte. Diese Veran-staltung wurde 2004 wiederholt. Hier ging es vor allemdarum, Lehrer allgemein über die Struktur des Archivwe-sens zu informieren und ihnen Angebote für die Zusam-menarbeit aufzuzeigen wie „Schnupperbesuch“, „Entde-ckendes Lernen mit Archivgut“ bis zur Gestaltung vonProjekttagen oder der Unterstützung zur Teilnahme amGeschichtswettbewerb der Körber-Stiftung. Zur Förderungeiner regelmäßigen Kontaktpflege nahm das StaatsarchivLeipziger Gymnasien in seinen Einladungsverteiler aufund informierte sie nun regelmäßig über Veranstaltungen.Die meisten der seit 2001 präsentierten Ausstellungeneröffneten Bezugspunkte zum Geschichtsunterricht. ZumGeschichtswettbewerb 2002/2003 (Migration) und2004/2005 (Arbeit) wurden in Kooperation mit der Körber-Stiftung ganztägige Workshops angeboten, die praktischauf den Wettbewerb vorbereiteten. Daran nahmen Lehreraus ganz Deutschland teil. Die Resonanz auf diese Work-shops war durchweg positiv, die Teilnehmer waren sehrmotiviert, leider war aber der Anteil der aus Sachsen kom-menden Lehrer eher gering.

Um den Kontakt zwischen Archiv und Schule zu inten-sivieren und dabei auch pädagogisch interessante Angebo-te zu machen, gestaltete das Staatsarchiv 2003 einen Tagdes Kabaretts im Archiv.

Eine junge Historikerin, die über die Leipziger Pfeffer-mühle zu DDR-Zeiten ihre Magisterarbeit verfasst unddazu Bestände des Hauses ausgewertet hatte, konnte alsReferentin gewonnen werden. Sie reiste aus Köln an undhielt einen Kurzvortrag über die Ergebnisse ihrer Magister-arbeit. Diese Leistung erbrachte sie honorarfrei, umrahmtwurde das Ganze von einem Kabarettprogramm, das einLeipziger Kabarettist und die Schüler des Gymnasiumsgestalteten.

Bei der Operationalisierung archivpädagogischer Arbeitspielt die Kontaktpflege zwischen Archiv und Schule eine Schlüsselrolle. Im Jahr 2003 wurde ein Faltblatt mit der Bezeichnung „Archivpädagogische Information“ aufgelegt, das für den Zeitraum eines halben Jahresschulisch interessante Veranstaltungen unseres Hausesbewarb und dazu auch über die klassischen archivischenDienstleistungen für Schulen informierte – dieses Faltblatterhielten sämtliche Leipziger Mittelschulen und Gym-nasien.

Mit Blick auf die nachfolgende Lehrergenerationbemühte sich das Staatsarchiv, über die archivpädagogi-sche Arbeit in der Lehrerausbildung zu informieren. Diemehrmaligen Kontaktversuche zum Staatlichen Studiense-minar für das Lehramt an Gymnasien in Leipzig bliebenzunächst ohne Feedback; im Dezember 2006 konnte das

Leipziger Seminar erstmals im Staatsarchiv zu einer Infor-mationsveranstaltung begrüßt werden.10

Wenn man nun nach fünf Jahren die Ergebnisse derarchivpädagogischen Arbeit betrachtet, so fällt die Bilanzinsgesamt eher zwiespältig aus: Pro Jahr besuchen zwi-schen 10 und 15 Schulklassen das Staatsarchiv – zwaretwas mehr als in den Jahren zuvor, aber immer noch einentwicklungswürdiges Niveau. Der Pädagogenkreis, derdas Angebot an Archivführungen, die meist mit einerArchivalienpräsentation und anschließender Gruppenar-beit verbunden sind, nutzt, ist relativ klein. Archivalienprä-sentationen zum Thema Industrialisierung oder National-sozialismus bieten sich mit Blick auf die Lehrpläne an.Beim Thema Industrialisierung erhalten die Schüler bspw.Bildquellen, die die unterschiedlichen Arbeitsbedingungenvon Arbeitern und Angestellten der Leipziger Landma-schinenfabrik Sacke zur Jahrhundertwende verdeutlichenund auch die fehlende Arbeitsplatzsicherheit der Beschäf-tigten in der Radmachererei.11

Wenn das Zeitbudget ausreicht, können die Schüler diein gotischer Schrift verfassten Kopialbücher zu denArbeitszeugnissen der Papiermaschinenfabrik Karl Krau-se einsehen.12 Dabei fällt immer wieder auf, wie motiviertdie Schüler sich auf die alte Schrift einlassen. Beim ThemaNationalsozialismus steht der Antisemitismus im Mittel-punkt, speziell die Frage der Erbringung des Ariernach-weises, dazu gibt es interessante Unterlagen aus demBestand Genealogischer Verein Roland, die dazu geeignetsind, die Schüler auch emotional zu erreichen.13 Unterlagenaus den Beständen Börsenverein der deutschen Buchhänd-ler zu Leipzig und Hans Klemm/Versteigerungshaus Leip-zig zeigen den Schülern, wie sich der NS-Staat an denJuden bereicherte und dass letztlich die deutsche Bevölke-rung von der Zwangsarisierung profitieren konnte.14

Selbstkritisch muss man sich die Frage stellen, ob daseigene archivpädagogische Produkt den Anforderungender Lehrerinnen und Lehrer überhaupt entspricht. Kritikhaben wir nicht erfahren, sondern, gerade was die Work-shops betrifft, große Zustimmung. Lehrer, die einmal dasArchiv besucht haben, werden in der Regel zu Stammkun-den.

Da man als Archivar aber nicht über praktische pädago-gische Professionalität verfügt, muss man sich immer dieFrage stellen, ob die archivpädagogischen Angebote viel-leicht die Schüler überfordern. Zur Selbstkontrolle wurdendie in der Archivpädagogik eingesetzten Quellen zur In-dustrialisierung mit den entsprechenden Fragen beim Aus-wahltest für die Ausbildung Fachangestellte für Medien-und Informationsdienste aufgenommen. Dazu bewarbensich Gymnasiasten wie auch Mittelschüler. Die Testergeb-nisse zeigten, dass die Kandidaten die gestellten Aufgabenüberzeugend lösen konnten und auch Mittelschüler dazubefähigt waren.

10 Vf. dankt Frau Urban, Leiterin des Museums für Schulgeschichte, fürdiesen Hinweis.

11 Sächsisches Staatsarchiv/Staatsarchiv Leipzig (StA-L), 20793 RudolfSack, Landmaschinenbau, Leipzig, Jubiläumsschrift, Nr. 615.

12 Ebd., 20788 Karl Krause Nr. 735 bis 737. 13 StA-L, 21957 Verein Roland/Dresden, Nr. 6, Schreiben von M. Kirsch-

baum an den Verein vom 14. Oktober 1935; ebd., Nr. 411, Schreiben vonDr. Nathusius an den Verein vom 2. Januar 1935; ebd., Nr. 447. Schrei-ben von Frau C. S. an ihre Mutter vom 15. Februar 1938.

14 Ebd., 21765 Börsenverein der deutschen Buchhändler zu Leipzig (I),Firmenakte Nr. 12036.

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Um mit den knappen Ressourcen dennoch etwas errei-chen zu können, arbeitet das Staatsarchiv mit weitgehendstandardisierten Produkten, die stärker als bisher auch eineemotionale Komponente beinhalten. – „Geschichte sinnlich erleben“ – Archivgut zum An-

fassen. Entdeckungsreise in die Geheimnisse des Maga-zins. Von der Pergamenturkunde, über Akten undKarten bis zum Film.

– Entdeckendes Lernen im Archiv – Archivführung mitQuellenarbeit.

– „Stöbern und Lernen“ – Spielerische Übung zur goti-schen Schrift.Die im Vergleich zu den westlichen Bundesländern deut-

lich schlechteren Arbeitsbedingungen der sächsischen Leh-rer (kein Beamtenstatus, hohe Stundenzahl), die sich 2005durch eine weitere Gehaltsabsenkung noch verschärfte,dürfte nicht die entscheidende Rolle spielen, denn zu denJahren zuvor konnte keine Änderung abgeleitet werden.Vor allem die kürzere gymnasiale Ausbildung in nur 12 Schuljahren erschwert das Nutzen außerschulischerLernorte. Auch das Abwandern der Studienreferendareund Junglehrer in westliche Bundesländer trägt dazu bei,denn diese Gruppe zählt zu den vorrangigen Nutzernarchivpädagogischer Angebote in den neuen Bundeslän-dern. Auch das Unterrichten an zwei Schulen erschwert dieKontaktpflege und die Realisierung von Archivbesuchen.

Ungünstig für die archivpädagogische Arbeit des Hau-ses wirkt sich sicherlich aus, dass das Staatsarchiv, wennauch optimal an öffentliche Verkehrsmittel angebunden,am Leipziger Stadtrand liegt. Es konkurriert zudem inLeipzig mit einer reichen Museenlandschaft, die zentrums-nah konzentriert ist. Dazu zählt das StadtgeschichtlicheMuseum, das Museum Runde Ecke, das die Arbeit derStaatssicherheit eindrucksvoll dokumentiert, und dasMuseum bzw. die Werkstatt für Schulgeschichte15, die miteinem abwechslungsreichen Programm lockt. Nicht zuvergessen sind die Dienststellen der Bundesbeauftragtenfür die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe-maligen DDR, die sich mehr denn je in der Bildungsarbeitprofilieren. In den genannten Einrichtungen gibt es einenpädagogischen Dienst, der engen Kontakt zu den Schulenpflegt. Im Gespräch mit den Leipziger Kollegen ist abergrundsätzlich ein ähnlicher Befund wie für das Staatsar-chiv Leipzig zu erkennen: es könnten mehr Lehrer sein, diemit ihren Schülern diese Bildungsangebote nutzen und vorallem sind es immer dieselben, die davon Gebrauchmachen. Insofern stellt sich wieder die Frage nach denLehrern.

Welche Perspektiven ergeben sich vor dem Hintergrunddieser eher wenig ermutigenden Ausgangssituation? Wiealle Bereiche müssen die Archive ihre Aufgaben mit gerin-geren Ressourcen erfüllen. Prioritätensetzung ist angesagt,Aufgaben wie die Verbesserung der Erschließung und dieArchivierung elektronischer Unterlagen sind dabei eindeu-tig wichtiger als die Archivpädagogik. Dieser Befund zeigtsich auch aus der Perspektive der Stadtarchive. Die Leite-rin des Leipziger Stadtarchivs Beate Berger sieht bspw. imAbbau der Übernahmerückstände, einer grundlegendenVerbesserung der Raumsituation und in Maßnahmen zurBestandserhaltung Entwicklungsschwerpunkte ihres Hau-ses bis 2010, dabei geht sie von jährlichen Archivgutzu-

wächsen von 0,4 km aus und dem Problem, dass aus Grün-den der Bestandserhaltung die Hälfte des Archivgutes garnicht vorgelegt werden kann.16

Auch unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen istaber eine archivpädagogische Arbeit möglich: Archive soll-ten in der Archivpädagogik aktiv miteinander zusammen-arbeiten. Gerade in diesem Bereich scheint das „Einzel-kämpfertum“ besonders ausgeprägt zu sein. Um dies zuändern, sollten die Archive arbeitsteilig miteinanderkooperieren. Wie kann das praktisch aussehen? Die Archi-ve könnten ihre Dienstleistungen für den Geschichtswett-bewerb bspw. erfolgreicher anbieten: Archive einer Regionoder eines Bundeslandes wie auch der Arbeitskreis Archiv-pädagogik im VdA könnten Empfehlungen oder Hinwei-se für die Wettbewerbsteilnahme erarbeiten, die vor allemauf für das Wettbewerbsthema relevanten Unterlagen-gruppen hinweisen, auch eine gemeinsame Internetprä-sentation, ggf. auf der Homepage der Körber-Stiftungwäre hilfreich. Häufig kennen die Lehrer nämlich nicht dieArchive, die ihnen und ihren Schülern weiterhelfen könn-ten. Das Abgleichen mit der konkreten Überlieferung vorOrt ist dabei von den jeweiligen Archiven zu leisten. Gera-de das aktuelle Wettbewerbsthema „miteinander – gegen-einander? Jung und Alt in der Geschichte“ löste bei Archi-varen zunächst eher Befremden und Hilflosigkeit aus.

Arbeitsteilig könnten benachbarte Stadt- und Staatsar-chive Schülermappen mit Quellen zum Geschichtsunter-richt konzipieren. Befindet sich eine Universität in derNähe, könnte pädagogisches Know-how in Kooperationmit Studenten oder Lehrpersonal der Geschichtsdidaktikgeneriert werden. Grundsätzlich sollten Archivare einesHauses angehalten werden, bei ErschließungsarbeitenUnterlagen, die sie für den Geschichtsunterricht als beson-ders geeignet ansehen, zu erfassen und dem im Haus fürdie Zusammenarbeit mit Schulen zuständigen Kollegenmitzuteilen.

Entscheidend für die Entwicklung archivpädagogischerArbeit ist aber das Herstellen von Öffentlichkeit. In Bun-desländern mit geringer Teilnahmequote und vor allemauch mit geringer Siegerquote beim Geschichtswettbe-werb des Bundespräsidenten werden die Erfolge der ande-ren Bundesländer sehr wohl zur Kenntnis genommen – dieKörber-Stiftung kann hier durch eine gezielte Presse- undÖffentlichkeitsarbeit weitere Impulse auslösen. Wichtig istdabei natürlich, dass diese Informationen nicht nur Fach-kreise erreichen, sondern in den Tageszeitungen zu lesensind. Die öffentliche Diskussion ist sicherlich ein Schlüsselzur Förderung der Archivpädagogik. Sie fordert die Leh-rer dazu auf, sich zu engagieren.

Die Archive könnten selbst verstärkt schulische Öffent-lichkeit generieren, in dem sie einen Schüler- und Studen-tenpreis für Stadt- oder Landesgeschichte ausschreiben.Hilfreich ist dabei die Zusammenarbeit mit dem örtlichenGeschichtsverein. Das Stadtarchiv Chemnitz hat hier etwapositive Erfahrungen gesammelt. Der Preis sollte natürlichmit einem Geldpreis attraktiv ausgestattet sein, hierreichen überschaubare Summen. Sponsoren könntenSparkassen oder Unternehmen sein, die sich als Teil derBildungs- und Wissensgesellschaft verstehen.

Leipzig Hans-Christian Herrmann

15 www.schulmuseum-leipzig.de.

16 Beate Berger, Zur Entwicklung des Stadtarchivs Leipzig bis 2010, in:Sächsisches Archivblatt 2 (2005), S. 6-8.

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Open Access zu Kirchenbüchern? Studientag des Ver-bandes kirchlicher Archive

Die große Bedeutung der Digitalisierung für die zukünfti-ge Arbeit der Archive ist auch unter den evangelischen Kir-chenarchiven unbestritten. Anders als kommunale Archi-ve, die sich in dieses Arbeitsgebiet vorsichtig an Samm-lungsbeständen einarbeiten können (vgl. zur Empfehlungder Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim deut-schen Städtetag, Nieß/Wettengel/Zink, Der Archivar 2006,S. 323-328) sehen sich kirchliche Archive der Forderunggegenüber, die für die Kirchengemeinden wichtigstenBestände, die Kirchenbücher, in digitaler Form zugänglichmachen. Probleme mit Familienforschern, die Kirchenbü-cher digital „abfotografieren“ wollen, sind in denjenigenLandeskirchen verbreitet, in denen die Kirchenbücher sichin den Kirchgemeindearchiven befinden. Die landeskirch-lichen Archive nehmen unterschiedliche Positionen ein.Einzelne prüfen bereits ernsthaft die Zusammenarbeit mitentsprechenden Anbietern. Aus der Sicht anderer Landes-kirchen stehen der Digitalisierung von Kirchenbücherntheologische und rechtliche Gründe entgegen.

Der gemeinsamen Orientierung diente ein Studientag am25. September 2006 im Kirchenamt der Evangelischen Kir-che in Deutschland (EKD), den der Verband kirchlicherArchive organisiert hatte. Unter den 55 Teilnehmern undTeilnehmerinnen waren auch Leiter von Bistumsarchiven.

Werner Jürgensen M. A. iur. utr., LandeskirchlichesArchiv der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, behandelte kurz-weilig und grundlegend „Gesetzliche Beschränkungen beider Nutzung von Personendaten in Kirchenbüchern.“ DerVortrag, der zu vielen häufig begegnenden Problemkon-stellationen Lösungsvorschläge anbietet, steht unterwww.ekd.de/archive/deutsch/Hannover-Programm.htmzur Verfügung. Vier Beiträge zu Fragen der Kirchenbuch-digitalisierung folgten.

Dr. Bertram Fink, Landeskirchliches Archiv Stuttgart,stellte in seiner Präsentation „Familienforschung zwischenarchivischer Dienstleistung und Kommerzialisierung.Indexierung und Digitalisierung der Kirchenbücher aufKooperationsbasis – eine Perspektive für kirchliche Archi-ve?“ Konsequenzen aus der Open-Access-Bewegung fürdie Familienforschung und die Überlegungen des Landes-kirchlichen Archivs Stuttgart zu einer etwaigen Koopera-tion mit MyFamily.com vor. Der Vortrag ist ebenfalls imInternet abrufbar.

Schwierigkeiten treten auf, wenn einzelne Kirchenge-meinden gemeinsam mit lokalen Trägern Kirchenbücherohne Wissen des jeweils zuständigen LandeskirchlichenArchivs in das Internet einstellen. Werner Jürgensen schil-derte in seinem Beitrag „Kirchenbücher im virtuellen Lese-saal – ein Erfahrungsbericht“ die Probleme und die gefun-dene Lösung an einem fränkischen Beispiel, empfahljedoch als Konsequenz einen gemeinsamen virtuellenLesesaal der kirchlichen Archive.

Das Landesarchiv NRW verfolgt mit den EditionenBrühl und Detmold eher die angemessene Wahrnehmungder Personenstandsarchive in der Fachwelt wie bei Fami-lienforschern. Ein finanzieller Gewinn sei kaum zu erwar-ten, führte Dr. Bettina Joergens, Staats- und Personen-standsarchiv Detmold, aus. Ihr Vortrag „Open Access zuPersonenstandsbüchern – Digitalisierungsprojekte desLandesarchivs NRW“ steht ebenfalls zum Download zurVerfügung.

Dr. Andreas Röpcke, Landesarchiv Schwerin, verstehtDigitalisate als eine Form der Edition. Speichermediumbleibt der Mikrofilm. Digitalisiert wird von den Mikro-filmen. Von diesem Grundverständnis ausgehend hattedas Landesarchiv Schwerin nach der Streichung von zweiDritteln der Mitarbeiterstellen Verhandlungen mit MyFa-mily.com und der Genealogischen Gesellschaft von Utahüber die Digitalisierung der Volkszählungsunterlagen aufgenommen. Die Digitalisierung wird nun von MyFami-ly.com durchgeführt. Dr. Röpcke schilderte die derzeitigenErgebnisse. MyFamily verfügt über die Rechte am Index,das Landesarchiv Schwerin darf die Digitalisate selbstnicht kommerziell nutzen, solange MyFamily über dieexklusiven Nutzungsrechte verfügt. Diese Exklusivrechteerlöschen nach 25 Jahren. Die Indizes sind, weil sie inChina erstellt werden, fehlerhaft. Die Korrekturen über-nimmt das Landesarchiv selbst. Eine wirkliche Kontroll-möglichkeit über den Umgang mit „seinen“ Daten hat dasLandesarchiv Schwerin nicht.

An der Abschlussdiskussion beteiligten sich überwie-gend Vertreter von Landeskirchen, in denen die Siche-rungsverfilmung der Kirchenbücher abgeschlossen ist, sodass Digitalisierungslösungen für Einzelkirchen kaumpraktikabel erschienen. Deshalb wurde die Leitung desVerbands kirchlicher Archive mit weiteren Klärungenbeauftragt. Als Hauptkriterium hielt Dr. Gerhard Eibach,Kirchenamt der EKD, im Sinne der meisten Anwesendendie Beachtung des Datenschutzes fest. Daraus ergibt sich,dass keine Daten Dritten zur Digitalisierung überlassenwerden können. Die Tagung bot – nicht zuletzt dank derguten Organisation Frau Dr. Bettina Wischhöfers, Lan-deskirchliches Archiv Kassel, als Verbandsleiterin – solideInformation zum eher technischen Bereich. Dr. AnnetteGöhres, Nordelbisches Kirchenarchiv Kiel, vermisste zuRecht die theologische Reflexion der Kirchenbuchdigitali-sierung.

Die Verbandsleitung hat zwischenzeitlich einen Aus-schuss gebildet, der die Problematik vertieft prüfen soll.Die Landeskirchen Berlin-Brandenburg-Schlesische-Ober-lausitz und Sachsen halten die Bereitstellung von Duplikat-filmen der Sicherungsfilme für ausreichend und schließenDigitalisierungen von Kirchenbüchern ohne vorherigeGenehmigung der eignenden Gemeinde aus.

Dresden Carlies Maria Raddatz

Ausstellung Thomas Kleynen: Ar-schiefe, Fotografienzum Archivfinder des Kreises Siegen-Wittgenstein

Oder: Warum gerade Archive und nicht schiefe Geraden?Wenn sich Fotografie und Archiv begegnen, dann handeltes sich im Allgemeinen um historische Aufnahmen vonStadtansichten oder Personen. Es sind also potentielleInsassen, gern gesehene Dauergäste eines Archivs, sprichArchivalien, die begeistern.

Der Arbeitskreis der Archive im Kreis Siegen-Wittgen-stein hat sich im vergangenen Jahr jedoch ganz mutig füreine neue Begegnung von Fotografie und Archiv entschie-den. Der in Planung befindliche Führer durch die Archiveim Kreisgebiet sollte ein besonderer Leitfaden werden, ausdem klassischen Muster ausbrechen und die historischInteressierten mit einem Augenzwinkern zur Ent-deckungsreise in die Überlieferungen einladen. Dazu soll-

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te nicht nur der etwas ungewöhnliche Titel „Archivfinder“die Suchenden locken, sondern auch die Bebilderung überdie reine Dokumentation hinausgehen.

Für den experimentellen Kontakt zwischen Archiv undFotografie konnte der Künstler Thomas Kleynen gewon-nen werden. Im Bereich der Bildenden Kunst längst keinunbeschriebenes Blatt mehr, stürzte sich Thomas Kleynenmit Begeisterung in die Aufgabe, in den Archiven im KreisSiegen-Wittgenstein auf Motivjagd zu gehen.

Die Verfremdung ist dem experimentellen FotografenKleynen als Mittel des Perspektivenwechsels ein wichtigesAnliegen. Spannend war der Prozess für Künstler undArchivare: Was wird aus den Räumlichkeiten, den heiligenHallen der historischen Überlieferung? Entspringt aus derSiegquelle eine Urkunde des Mittelalters, wird der Menschim Angesicht der jahrhundertealten Überlieferung winzigklein? All dies wurde möglich aus der Perspektive desFotografen. Vertrautes wird ungewohnt, aus grauenArchivkartons wird eine Erlebnislandschaft, das staubigeImage der Archive ist mit diesen künstlerischen Fotogra-fien abgeschüttelt.

Anlass genug, die entstandenen fotografischen Arbeitennicht nur dem Historiker als Leitfaden-Zugabe an dieHand zu geben und ansonsten „im Archiv verschwindenzu lassen“, sondern eine Ausstellung zusammenzustellen.Vom 23. Mai bis 17. Juni 2007 sind die fotografischen Arbei-ten von Thomas Kleynen zum Archivfinder des KreisesSiegen-Wittgenstein im Museum der Stadt Bad Berleburg

zu sehen.1 Ar-schiefe ist die Ausstellung betitelt und gibtdamit gleich den Hinweis, hier wird nicht im klassischenSinne dokumentiert. Die Perspektive, aus der die Archiveund ihr Inhalt wahrgenommen werden, gerät in Schrägla-ge. Doch der künstlerische Blickwinkel legt gleichzeitigden Kern frei. Historische Schätze werden hier verwahrt,sowohl im kleinen Stadtarchiv als auch in den großen staat-lichen Institutionen. Eine Begegnung mit der Vergangen-heit beinhaltet viel mehr als nur Massen alten Papiers, dieArchivalien sind eine Zeitmaschine für Exkursionen in dieVergangenheit.

Die Begegnung zwischen Archiv und künstlerischerFotografie ist dank Thomas Kleynen sowohl ein Erfolg fürdie Archivkultur als auch für die Bildende Kunst gewor-den. So wird die Ausstellung ein breites Publikum anspre-chen und sicher auch überraschen und begeistern. Archivund Kunst, einmal nicht als Ort und Inhalt, sondern alsKommunikationspartner.

Weitere Informationen unter: www.bad-berleburg.de/kultur_medien/kultur_medien.html.

Bad Berleburg Rikarde Riedesel

Ochsenkopf und Meerjungfrau: Wasserzeichen desMittelalters im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart präsentierte vom 14.Dezember 2006 bis zum 2. Februar 2007 die Ausstellung„Ochsenkopf und Meerjungfrau – Wasserzeichen des Mit-telalters“. Hintergrund und Anlass der Ausstellung warein Fachkolloquium, das am 14./15. Dezember 2006 imRahmen des von der Europäischen Kommission geförder-ten Projekts „Bernstein – the memory of papers“ im Haupt-staatsarchiv stattfand. Beteiligt an diesem Projekt sind dieeuropäischen Hauptakteure im Bereich der Wasserzeichen-sammlung und historischen Papierexpertise, insgesamtneun Projektpartner aus sechs Ländern.

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die Geschichtedes Papiers und seine Herstellung im Mittelalter sowie diebesondere Rolle der Wasserzeichen, die im Hauptstaatsar-chiv Stuttgart mit der Wasserzeichensammlung Piccard,der weltweit größten ihrer Art, in prominenter Weise prä-sent sind.

Was ist überhaupt ein Wasserzeichen? Wer beschäftigtsich damit und für welchen Zweck? Solchen und ähnlichenFragen geht die Ausstellung nach. In sechs Kapiteln, dieden Bogen spannen von der Papierherstellung im Mittel-alter über die „Welt im Wasserzeichen“, die Verbreitungder Wasserzeichen und ihre Bedeutung für die Handschrif-tenforschung, von bedeutenden Sammlungen bis zur digi-talen Präsentation, wird die Vielfalt der Wasserzeichen undihrer Nutzungsmöglichkeiten dargestellt. Anhand vonkostbaren Handschriften, zeitgenössischen Texten, Kartenund Bildern wird die Kulturgeschichte um das Papier unddamit gleichzeitig die mittelalterliche Welt im Spiegel derWasserzeichen vermittelt. Die Ausstellungsbesucher kön-nen am Leuchttisch auch selbst historische Papiere unter-suchen, Wasserzeichen abzeichnen und diese an einer PC-Station mithilfe der digitalen Wasserzeichensammlun-gen bestimmen – vor allem für zahlreiche Schulklassen einspannendes Vergnügen.

1 Museum der Stadt Bad Berleburg, Goetheplatz 3, 57319 Bad Berleburg.Öffnungszeiten: dienstags, freitags bis sonntags 15 – 18 Uhr, Eintritt frei.

Verwahrt, nicht verschlossen

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Kurz zur Geschichte der Wasserzeichen und ihrerBedeutung: Wasserzeichen begegnen uns beim Kontaktmit Papier. Seit den Anfängen der Papierproduktion inEuropa, die wohl noch ins 12. Jahrhundert zurückgehen,sind diese Wasserzeichen oder Papiermarken als Her-kunfts- beziehungsweise Qualitätsmerkmale ins Papiereingebracht. Sie kennzeichnen damit den Herstellungsortund Produktionsbetrieb, zunächst also die Papiermühle,wo das Papier produziert wurde. Modern formuliertwürde man das Wasserzeichen quasi als „Label“ anspre-chen können, als Herkunftsmarke oder Gütelogo. Dabeigeben sich die Wasserzeichen im Papier freilich nicht aufden ersten Blick zu erkennen, sondern erst, wenn man dasPapier gegen eine Lichtquelle hält. Die bekannteste aktu-elle Verwendung finden Wasserzeichen noch in Banknoten.Sie dienen auch hier in erster Linie zum Nachweis derAuthentizität und zur Sicherung vor Fälschung.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Lan-desarchivs Baden-Württemberg und der ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaften, Kommission für Schrift-und Buchwesen Wien. Sie ist als Wanderausstellung kon-zipiert und wird nach der Präsentation in Stuttgart vom 21. März bis 9. Juni 2007 im Schottenstift in Wien gezeigt.Als weitere Ausstellungsstationen sind bei den Partnerndes Bernstein-Projekts ab Juli 2007 Fabriano und Rom inItalien, ab 2008 Liverpool und Cambridge in Großbritan-nien sowie Den Haag und Paris vorgesehen. Daher sindneben der deutschsprachigen Gestaltung bereits mehr-sprachige Versionen der Ausstellung und des Ausstel-lungskatalogs in Vorbereitung.

Stuttgart Peter Rückert

Im Takt der Zeit – 150 Jahre Stuttgarter Musikhoch-schule

Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vom 15. April bis31. Juli 2007Die Staatliche Hochschule für Musik und DarstellendeKunst Stuttgart, situiert an der Stuttgarter Kulturmeile und

damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hauptstaats-archiv Stuttgart, kann in diesem Jahr ihr 150-jähriges Beste-hen feiern. Genau genommen reichen die Anfänge einerinstitutionalisierten Musikausbildung in Württembergaber noch weiter zurück – bereits an der Hohen Karlsschu-le, die 1770 von Herzog Karl Eugen als Militärwaisenhausgegründet worden war, dann Militärakademie undschließlich Hochschule wurde, bestand von 1781 bis zuihrer Auflösung eine Theater- und Musikabteilung. Auchein von König Friedrich am Stuttgarter Waisenhaus einge-richtetes Musikinstitut ging zwei Jahre nach dem Tod desKönigs 1818 wieder unter. Beide Einrichtungen konntensich nicht halten, da sie vom jeweiligen Herrscher abhän-gig waren und keine Resonanz in der Bevölkerung fanden.Erst mit Ausbildung des Bürgertums und der Entwicklungeiner bürgerlichen Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahr-hunderts trat hier ein Wandel ein. Neue Formen der Gesel-ligkeit entstanden – Salons, Gesellschaften, Vereine –, indenen dem Bildungsgedanken Rechnung getragen wurde.An vielen Orten wurden Liedertafeln, Sing- und Orchester-vereine gegründet. Damit entwickelte sich auch ein Bedarfan gründlicher musikalischer Ausbildung. In verschiede-nen größeren Städten in Deutschland – wie Würzburg,Leipzig, Berlin, Köln und Dresden – entstanden in denersten und mittleren Jahrzehnten des 19. JahrhundertsMusikschulen und Ausbildungsinstitute (Konservatorien),die sich auch der höheren Musikausbildung widmeten. Inder Mehrzahl waren sie keine staatlichen Einrichtungen,sondern gingen aus privater Initiative hervor und wurdenauch durch private Mittel eingerichtet und unterhalten.Eine Unterstützung städtischer oder staatlicher Stellenerhielten sie erst, nachdem sie sich einige Jahre etablierthatten.

Auch die heutige Staatliche Hochschule für Musik undDarstellende Stuttgart ist aus einem Privatunternehmenherausgewachsen. Maßgeblichen Verdienst an der Grün-dung des Musikinstituts hatte Sigmund Lebert (1821-1884), ein aus Ludwigsburg stammender und am PragerKonservatorium ausgebildeter Klaviervirtuose und -päd-

Villa Schönlein am Stuttgar-ter Urbansplatz, ab 1911 Sitzdes Stuttgarter Konservatori-ums (Vorlage und Aufnah-me: Hauptstaatsarchiv Stutt-gart)

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agoge. Er erkannte, dass in Stuttgart die institutionellenVoraussetzungen für eine breite musikalische Ausbildungdes aufstrebenden Bürgertums fehlten. Es gelang ihm, wei-tere Musiker und Musikinteressierte für die Gründungeiner Musikschule zu gewinnen. Im Februar des Jahres1857 wurde ein von 22 „hervorragenden“ Bürgern derStadt unterzeichneter Aufruf zur Gründung einer Musik-schule in Stuttgart veröffentlicht. Die Musikschule nahmam 15. April 1857 mit 60 Schülern, davon 15 „Kunstschü-ler“ und 45 „Dilettanten“, und elf Lehrern den Unterrichts-betrieb auf. Im Unterschied zu den meisten anderen Kon-servatorien bestanden am Stuttgarter Musikinstitut zweigetrennten Abteilungen: einmal die „Künstlerschule“, dieBerufsmusiker ausbildete, und die so genannte „Dilettan-tenschule“, die sich der Laienausbildung widmete. DieZahl der Schüler wuchs rasch – nach drei Jahren war siebereits auf 270 gestiegen, nach zehn Jahren lag sie bei über500 –, wobei der Aufschwung lange Zeit vor allem auf demhervorragenden Ruf der Klavierklasse beruhte.

Die Zweigleisigkeit der Ausbildung am Konservatori-um, so die Bezeichnung seit 1865, dauerte bis 1921, als esin eine Württembergische Hochschule für Musik umge-wandelt und damit die Trennung der professionellen Aus-bildung von der Dilettantenschule vollzogen wurde. Zum1. Oktober 1938 erfolgte die Übernahme der Musikhoch-schule in die Verwaltung des Landes Württemberg unterdem Namen „Staatliche Hochschule für Musik in Stutt-gart“. 1963 erhielt sie die heutige Bezeichnung „StaatlicheHochschule für Musik und Darstellende Kunst“, womitauch der Entwicklung der Darstellenden Kunst, repräsen-tiert durch Schauspielschule, Opernschule und den Studi-engang Sprecherziehung, Rechnung getragen wurde.

Das Hauptstaatsarchiv nimmt das 150-jährige Jubiläumder Musikhochschule zum Anlass, im Rahmen einer Aus-stellung den Weg der Musikausbildung in Stuttgart inihrem kulturellen Umfeld und den politischen Rahmenbe-dingungen nachzuzeichnen. Die in Kooperation mit derMusikhochschule entstandene Ausstellung wird seit dem15. April bis zum 31. Juli im Hauptstaatsarchiv gezeigt;Archivalien, Bild- und Tondokumente, Instrumente undandere Exponate, zum Teil aus privatem Besitz, lassen diewichtigsten Ereignisse lebendig werden, erinnern an prä-gende Persönlichkeiten und verdeutlichen vor allem auchdie enge Verflechtung und Wechselwirkung der Musik-hochschule und ihrer Träger mit dem Stuttgarter Musik-leben. Die Ausstellung, zu der ein Katalog erscheint, wirdvon zahlreichen Veranstaltungen begleitet.

Stuttgart Nicole Bickhoff

Aus- und Fortbildung, berufsständische Angelegenheiten

15. Fortbildungsseminar der Bundeskonferenz der Kom-munalarchive 2006 in Fulda

Vom 7. bis 9. November 2006 fand zum 15. Mal in Folge einFortbildungsseminar der Bundeskonferenz der Kommu-nalarchive (BKK) statt. Gute Tagungsbedingungen undGastfreundschaft fanden Organisatoren und Teilnehmeram Tagungsort Fulda, dem Sitz der Geschäftsstelle des Ver-bandes deutscher Archivarinnen und Archivare e.V., vor.Deutlich wurde dies auch bei einem Empfang der Teilneh-mer durch Oberbürgermeister Gerhard Möller. Zum

Gelingen der Veranstaltung trug wesentlich die engagier-te Unterstützung des Fuldaer Stadtarchivars, Dr. ThomasHeiler, bei. Nachdem die Fortbildungsseminare bislangimmer in den ostdeutschen Bundesländern stattfanden,war Fulda nicht zuletzt wegen der guten Erreichbarkeit derStadt aus allen Teilen Deutschlands erstmals als Tagungs-ort für das Seminar 2006 ausgewählt worden. Organisiertwurde das Seminar vom Unterausschuss Aus- und Fortbil-dung der BKK unter Leitung von Prof. Norbert Reimann(LWL-Archivamt für Westfalen).

Thematisch stand das diesjährige Seminar unter demMotto „Kommunale Archive und ihre Benutzer im digita-len Zeitalter“. Ausgehend von der Fragestellung, wie sichKommunalarchive als Dienstleister positionieren, wurdenin drei Arbeitssitzungen Beiträge zu den Themenkomple-xen „Rechtsfragen und Benutzung“, „Erschließung vorneuen Herausforderungen“ sowie „externe und interneInformationsangebote“ vorgestellt und diskutiert.

In seinem Einführungsvortrag „Kommunalarchive imGoogle-Zeitalter: Sind wir auf dem Weg zum digitalenDienstleister?“ formulierte der Leiter des StadtarchivsMannheim, Dr. Ulrich Nieß, thesenartig die Rolle derArchive im digitalen Zeitalter. Sein Fazit: Veränderte Auf-gabenfelder können die Position der Archive sowohl inner-halb der eigenen Verwaltung als auch extern stärken, wenndie Archive bereit sind, die Chancen des digitalen Zeit-alters für sich zu nutzen. Nieß belegte seine Thesen mitpraktischen Beispielen aus dem Aufgabenspektrum desStadtarchivs Mannheim.

In der ersten Arbeitssitzung wurden schwerpunktmäßigRechtsfragen und Fragen der Benutzung behandelt. Dr. Klaus Oldenhage, Vizepräsident des Bundesarchivsa. D. stellte in seinem Beitrag „Archivrecht in der Informa-tionsgesellschaft“ nach einer kurzen Einführung in rele-vante europarechtliche Fragestellungen die archivrechtli-chen Kernprobleme im digitalen Zeitalter dar. Dabei nahmOldenhage insbesondere eine mögliche Novellierung desBundesarchivgesetzes in den Blick, indem er anhand einesBeispielkatalogs den notwendig gewordenen Regelungs-bedarf skizzierte. Hans-Joachim Hecker vom StadtarchivMünchen referierte über das Thema „Urheberrecht undArchive“. Die lebhafte Diskussion verdeutlichte, wie wich-tig vor allem im digitalen Zeitalter Grundkenntnisse desUrheberechtes sind, wenn Archive z. B. das Medium Inter-net nutzen wollen, um ihre umfangreichen Fotobeständenzu präsentieren. Aufgrund einer Erkrankung wurde derBeitrag von Prof. Norbert Reimann „Alte Zöpfe, neueHerausforderungen – Eine kritische Betrachtung“ vonKatharina Tiemann verlesen. Reimann plädierte dafür, inden Archiven endlich den Bewusstseinswandel zu vollzie-hen, dass die Archivbenutzung das Recht eines jedenBürgers ist und Archive in der Informationsgesellschafteine wichtige Dienstleistungsfunktion wahrnehmen. Dieserfordert zwangsläufig auch eine kritische Überprüfungsämtlicher Regelungsinstrumentarien (u. a. Benutzungs-ordnung, -antrag) und Verfahrensabläufe im Archiv (u. a.Öffnungszeiten, Aushebung von Archivalien).

„Erschließung vor neuen Herausforderungen“ stand imMittelpunkt der zweiten Arbeitssitzung. Dr. Thomas Hei-ler, Leiter des Stadtarchivs Fulda, skizzierte in seinem ein-führenden Beitrag am Beispiel des Stadtarchivs Fulda denStellenwert von Erschließung als „Kernstück archivischerArbeit“. Der Leiter des Kreisarchivs Kleve, Dr. Andreas

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Berger, stellte einen Katalog mit Anforderungen vor, mitdem das Leistungsspektrum von Archivsoftware transpa-rent gemacht werden kann. Bei der Produktauswahl kannein solcher Katalog sinnvoll als Entscheidungshilfezugrunde gelegt werden. Während die Verfahrensweisearchivischer Erschließung kaum Änderungen unterlegenist, stehen den Archiven mit digitalen Medien ganz neueMöglichkeiten bei der Präsentation der Erschließungser-gebnisse zur Verfügung. Dr. Ulrich Fischer vom Histori-schen Archiv des Stadt Köln stellte in seinem Beitrag prak-tische Beispiele für den Umgang mit analogen Findmittelnim digitalen Zeitalter vor (Stichwort: Retrokonversion). Dr.Mario Glauert (Brandenburgisches LandeshauptarchivPotsdam) befasste sich schwerpunktmäßig mit Anforde-rungen an Beständeübersichten, ihren Aufbau, ihre Gestal-tung und die Onlinepräsentation.

In der dritten und letzten Arbeitssitzung standen inter-ne wie externe Informationsangebote im Mittelpunkt, ein-geführt durch das Grundsatzreferat von Prof. SusanneFreund (Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Informa-tionswissenschaften) „Archive als externe und internePartner. Perspektiven und Grenzen archivischer Öffent-lichkeitsarbeit“. Praktische Beispiele von externer undinterner Öffentlichkeitsarbeit rundeten die theoretischenÜberlegungen ab. Dr. Michael Martin, Leiter des Stadtar-chivs Landau, beleuchtete die Position des Stadtarchivs imKulturleben einer Kleinstadt. Die Leiterin des StadtarchivsChemnitz, Gabriele Viertel, referierte über das breiteSpektrum verwaltungsinterner Öffentlichkeitsarbeit.Katharina Tiemann, Archivarin im LWL-Archivamt fürWestfalen, stellte in ihrem Beitrag die neuen Möglichkei-ten verwaltungsinterner Öffentlichkeitsarbeit durch diePräsentation von Serviceangeboten seitens der Archive imIntranet dar. Dr. Karsten Uhde, Dozent an der Archivschu-le Marburg, gab in seinem Beitrag sehr anschaulich wert-volle Hinweise zur Benutzerführung im Internet.

Ein Rahmenprogramm rundete die Tagung ab. Dr.Edgar Kutzner, Leiter des Bistumsarchivs Fulda, führtefachkundig durch den Neubau des Bistumsarchivs. Stadt-geschichtliche Führungen im Anschluss an das Tagungs-programm boten den Teilnehmern Einblicke in dieGeschichte der Barockstadt Fulda.

Die Beiträge des Fortbildungsseminars werden in derReihe „Texte und Untersuchungen zur Archivpflege“ desLWL-Archivamtes für Westfalen veröffentlicht. DerErscheinungstermin des Bandes ist Herbst 2007. Die Ver-öffentlichung kann über das Archivamt in Münster bezo-gen werden.

Münster Katharina Tiemann

Fachverbände, Ausschüsse TagungenDas Thüringer Archiv für Zeitgeschichte und sein Stel-lenwert in der Archivlandschaft sowie seine Bedeutungfür die historische und gesellschaftliche Aufarbeitungder DDR-Geschichte

Aus Anlass seines 15-jährigen Bestehens hatte das Thürin-ger Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ) am 25. November 2006 in Kooperation mit derFriedrich-Schiller-Universität und unterstützt von Studen-tenrat, Heinrich-Böll-Stiftung und der Thüringer Landes-zentrale für politische Bildung in den Jenaer Rosensälen

eine Tagung veranstaltet. Es handelte sich dabei um einenAustausch zwischen Vertretern von Archiven undGeschichtswissenschaft. Deutlich wurde die besondereRolle des ThürAZ, eines nichtstaatlichen Archivs zur The-matik „Opposition, Widerstand und Zivilcourage in derDDR“, das 1991 durch Kreise der Bürgerbewegung insLeben gerufen wurde, seine Stellung in der Archivland-schaft, aber auch die Chancen und Möglichkeiten eines sol-chen Archivs für die Geschichtswissenschaft sowie dengesellschaftlichen Diskurs zur Aufarbeitung von DDR-Geschichte. Dies zeigte sich – nach zwei einführenden Bei-trägen von Marianne Birthler (Innenansichten der BStU– von der Bürgerbewegung zur Aufarbeitung) und ReinerMerker (Zwischenbilanz des ThürAZ) – an den beidenSchwerpunkten der Tagung: Archivarinnen und Archiva-re schilderten die Besonderheiten der „Bestandsbildungunter den Bedingungen einer Diktatur“ (Katrin Beger,Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt; Wolfgang Brun-ner, BStU; Katharina Lenski, ThürAZ; Constanze Mann,Stadtarchiv Jena). Moderator war Lutz Schilling, Direk-tor des Thüringischen Staatsarchivs Gotha. Ein zweiterThemenkomplex befasste sich mit der Erforschung derDDR-Geschichte durch Aufarbeitungsinitiativen bzw.Opfergruppen und Wissenschaft sowie mit dem Wechsel-verhältnis dieser beiden Bereiche als Partner oder Konkur-renten um knappe Fördergelder (Dr. Ilko-SaschaKowalczuk, Prof. em. Lutz Niethammer, Dr. Marc-Dietrich Ohse). Einen interessanten Ausklang boten zweiDiskussionsbeiträge zur Vermittlung von DDR-Geschich-te in der Erwachsenenbildung (Ulrike Poppe, Evangeli-sche Akademie zu Berlin) sowie, durch einen Vertreter desThüringer Kultusministeriums, zu ihrem heutigen undkünftigen Stellenwert in der thüringischen Museumsland-schaft (Dr. Karl-Heinz Hänel). Die Leitung der Diskussi-on dieses zweiten Schwerpunktes hatte Lutz Niethammerübernommen.

Auf der großen Demonstration auf dem Berliner Alexan-derplatz am 4. November 1989 war als Ausdruck für einbesonderes Bewusstsein im Hinblick auf die Bedeutung dergerade erlebten Situation die Aufforderung an die Teilneh-mer ergangen, Transparente zu sammeln und damit derNachwelt zu überliefern (Kowalczuk). Auch die Forderungder Bürgerbewegung, die Akten des Staatssicherheitsdiens-tes zu sichern, war mit der Intention verbunden, wichtigeZeugnisse der DDR-Hinterlassenschaft für nachfolgendeGenerationen zu überliefern. Die Archivierung insbesonde-re der „Stasiakten“ sollte die Erinnerung an Unrecht undLeid des DDR-Regimes wach halten, eine Maßnahme gegendas „Vergessen“ und „Verdrängen“, gegen einen bundes-deutschen „Normalisierungsdruck“ sowie eine „Deutungs-hoheit der Täter“ (Birthler) sein, die mit ihren Ansichtenverstärkt den Weg in die Öffentlichkeit suchen.

Damit ist ein zentrales Anliegen des ThürAZ beschrie-ben: Die Sicherung von Unterlagen aus den BereichenOpposition, Widerstand, nonkonformes Verhalten in derehemaligen DDR als eine Art Gegenüberlieferung bzw.auch Gegensicht zu den Beständen in staatlichen Archiven.Der mittlerweile 400 lfm. umfassende, einer wissenschaft-lichen Nutzung zugängliche Bestand ganz besonders ausden 1970er und 1980er Jahren besteht gegenwärtig aus 65Sammlungen, einer zahlreichen Überlieferung an Fotos,Filmen und Tonträgern sowie auch aus Kopien von Unter-lagen aus staatlicher Provenienz („Stasiakten“). Neben

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umfangreichen handschriftlichen Aufzeichnungen findetsich auch eine Reihe von Schriften oppositioneller Unter-grundliteratur (Samisdat). Das ThürAZ ist auch ein Aus-druck eines gewissen Misstrauens auf Seiten von Bürger-rechtlern gegenüber staatlichen Institutionen. Statt diegenannten Unterlagen an ein staatliches Archiv abzugeben,verwahrt man sie lieber selbst in einem eigenen unabhän-gigen Archiv. Das macht auch durchaus Sinn. Die Überfüh-rung von persönlichen Unterlagen aus der DDR-Bürger-rechtsszene an das ThürAZ, die auch heute noch erfolgt,setzt ein hohes Maß an Vertrauen voraus, das seinen Mit-arbeitern und ihrer ebenso beharrlichen wie sensiblenArbeit entgegengebracht wird (Reiner Merker).

Die Referentinnen und Referenten aus den staatlichenArchiven sowie dem Jenaer Kommunalarchiv betontentrotz oder gerade wegen eines ehemaligen Dokumentati-onsprofils und „positiver Wertauslese“ die „Zufälligkeit“einer Bestandsbildung unter den Bedingungen der DDR-Diktatur. Archiviert werden sollten Unterlagen über Perso-nen, Vorgänge und Ereignisse, die das offizielle Geschichts-bild der SED (z. B. den „ruhmreichen Kampf der Arbeiter-klasse und ihrer Führer“ – vgl. Constanze Mann) doku-mentierten und keinesfalls Belege über die „unerfreulichenSeiten einer Diktatur“. Und das NS-Archiv des Staatssi-cherheitsdienstes sei eher wie eine Detektei zur Verfolgungeines politischen Ziels (Kampf gegen Systemgegner)geführt worden als wie ein professionelles Archiv (Brun-ner). Katrin Beger verdeutlichte den Perspektivenwandelin der Bewertung von Unterlagen durch die Archive amBeispiel des Bestandes der Kreisparteikontrollkommissio-nen der SED. Unterlagen über Einzelfälle, und damit überbewegende Einzelschicksale, hatten zu DDR-Zeiten bereitsnach zehn Jahren kassiert werden können. Ihnen wurdekein „historischer Wert“ bescheinigt. Aufgrund des politi-schen und gesellschaftlichen Umbruchs ab dem Herbst1989 konnten in den Archiven Unterlagen nicht mehr nachder gängigen Praxis archivisch bearbeitet werden. Dasbetrifft vor allem Bestände der 1980er Jahre und in nochhöherem Maße den Zeitraum von 1987 bis 1989. Scheinbarbanale Überlieferungen etwa zur Eingabenbearbeitungoder zur Einsammlung des SED-Mitgliedsbeitrages konn-ten nicht mehr kassiert werden und sind heute nichtzuletzt aus historischer und soziologischer Sicht von gro-ßem Interesse. Dieser zusätzlichen Überlieferung vonUnterlagen, die unter DDR-Verhältnissen vernichtet wor-den wären, stehen allerdings nicht selten auch große Lü-cken gegenüber, die ebenfalls ihre Ursache in der turbulen-ten Zeit des Umbruchs gegen Ende 1989 haben (Mann). Vordem Hintergrund der staatlichen Überlieferung wurde vonLutz Schilling die Bedeutung des ThürAZ für die Erfor-schung der DDR-Geschichte als eine Art Gegen- bzw. sub-stanzielle Ergänzungsüberlieferung zum Archivgut staat-licher Archive unterstrichen. Es handle sich um eine Über-lieferungsbildung jenseits der Archivgesetzgebung undoffizieller Aktenpläne (Schilling, Lenski). Das ThürAZ seiheute anerkannter Partner in der thüringischen Archiv-landschaft (Schilling).

Beim zweiten Themenschwerpunkt der Tagung betonteMarc-Dietrich Ohse, verantwortlicher Redakteur des„Deutschland Archiv“, Desiderate der DDR-Forschungwie die Geschichte von SED, „Blockparteien“ und Massen-organisationen, aber auch die Gesellschaftsgeschichte.Auch gebe es keinen allgemeinen Konsens in der Definiti-

on, was die DDR gewesen sei: eine „durchherrschte“Gesellschaft, ein totalitäres System, ein Überwachungs-staat, eine „Fürsorgediktatur“? Die Erforschung der DDRstehe nicht am Ende, sondern noch am Anfang. Wichtig seijedoch ein Systemvergleich mit der damaligen Bundesre-publik Deutschland, den sozialistischen „Bruderländern“sowie mit der Herrschaft des Nationalsozialismus. Mit Ver-weis auf die „Sabrow-Kommission“ betonte Ohse, im Vor-dergrund stehen solle nicht nur die Analyse von Gegensät-zen und Konflikten (Opposition, Widerstand), sondernauch der Blick auf die „Bindekräfte der Diktatur“, auf densozialistischen Alltag. Es fehle außerdem, so die Ergänzungvon Lutz Niethammer, ein Diskurs über die Verantwor-tung der DDR-Gesellschaft insgesamt. Ilko-SaschaKowalczuk beschrieb die ostdeutsch geprägten gesell-schaftlichen Aufarbeitungsinitiativen sowie einen west-deutsch beherrschten wissenschaftlichen Diskurs. Gesell-schaftliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Analyseseien durch unterschiedliche Ansätze bestimmt. Dem mitEmotionen verbundenen möglichst schnellen Aufdeckenvon DDR-Unrecht stehe in der Forschung eine eher abwä-gende Rekonstruktion, das Bemühen um eine Synthesegegenüber. Trotz trennender Grenzen gebe es keinenKönigsweg in der Aufarbeitung von DDR-Geschichte. Diegesellschaftliche Aufarbeitung dürfe aber nicht durch dieBrille fremder wissenschaftlicher Gutachter gesehen wer-den. Aufgegriffen werden müsse auch der „ostdeutscheErfahrungshintergrund“. Niethammer betonte als Referentin Bezug auf seine Erfahrungen um die GedenkstätteBuchenwald sowie in seiner Funktion als Moderator dieAufgabe von Wissenschaft als Dienstleister zur Versachli-chung von Konflikten. Die Geschichte der Opfer und die-jenige der Nichtopfer müsse miteinander verbunden wer-den. Die Wissenschaft nehme keine bewusste Gegenposi-tion zur bürgerbewegten Forschung sowie gegenüberOpferverbänden ein.

Die bessere Überführung wissenschaftlicher Erkenntnis-se in Schule und Erwachsenenbildung forderte insbeson-dere Ulrike Poppe. Mit DDR-Geschichte würden häufignoch Klischees wie „fröhliche Brigadefeiern“ verbunden.Eltern wichen vor den kritischen Fragen ihrer Kinder aus.Neben dem Unrecht einer Diktatur müssten allerdingsauch die alltägliche Lebensgeschichte, eine vielgestaltigeErfahrungswelt (auch Duldsamkeit und Opportunismus)vermittelt werden. Dies habe nichts mit einer „Weichzeich-nung der DDR“ zu tun. Die Vermittlung von Geschichtegewinne dadurch vielmehr an Glaubwürdigkeit. DieseGedanken wurden auch von Dr. Karl-Heinz Hänel unter-strichen, der vor dem Hintergrund einer bunten thüringi-schen Museumslandschaft auf besondere Initiativen zurDarstellung der DDR-Geschichte (u. a. Grenzlandmuseen)verwies, dabei aber auch die allgemein schwierige finan-zielle Ausstattung keineswegs verschwieg.

Die Bedeutung des ThürAZ, so lässt sich zusammenfas-send sagen, liegt in einer Art Gegen- bzw. Ergänzungsüber-lieferung zu den Beständen in den staatlichen Archiven.(Eng damit verbunden ist die hierzu parallel betriebenevorbildhafte Publikationstätigkeit, die an dieser Stelle nurangedeutet werden kann.) Die „Ego-Dokumente“ aus denBereichen von Opposition und Widerstand bilden (nebengrundlegenden Beständen in anderen Archiven) eine sehrwichtige (wenngleich natürlich nicht die einzige) Quellen-grundlage zur Erforschung der DDR-Geschichte. Dies

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betrifft die offizielle Forschung, ebenso sehr aber auchbürgerrechtliches Engagement, Aufarbeitungsinitiativen,Opferverbände. Dem Versuch einer Deutungshoheit durchehemalige Täter muss – quellengestützt – mit Zivilcoura-ge begegnet werden. Es bleibt zu wünschen – so LutzNiethammer in seinen abschließenden Worten – dass dasThüringische Archiv für Zeitgeschichte auch in finanziel-

ler Hinsicht eine gebührende öffentliche Unterstützungfinden möge. Auch private Geldgeber sollten sich demAnliegen des ThürAZ und seines Leiters, Uwe Kulisch,nicht versagen. Das Interesse an der Tagung war übrigenserfreulich groß, wie die zahlreich erschienenen Teilnehmerbelegen.

Jena Heinz Mestrup

Auslandsberichterstattung

InternationalesKein Fluch der Karibik, zum Glück. Bericht über die 39. Internationale Konferenz des Runden Tisches derArchive (CITRA) sowie die Jahresmitgliederversamm-lung des Internationalen Archivrats (ICA) in Curaçao /Niederländische Antillen

Der äußere Rahmen, auch: Der Kongress tanztDie vom 20. bis 24. November 2006 tagende Konferenz imWorld Trade Center bei Willemstad/Curaçao hatte ca. 230Teilnehmer aus 77 Nationen. Der Gastgeberin, Dr. NoldaC. Römer-Kenepa, Leiterin des Nationalarchivs der Nie-derländischen Antillen, war es gelungen, ihr Konzept einergemeinsamen historischen Erinnerung (shared memory)der politischen Ebene als wichtig zu vermitteln, so dass dieKonferenz politisch höchstrangig begleitet wurde undgeradezu beschämend großzügige Gastfreundschaftgenoss. Bei der Eröffnungs- und Schlusszeremonie sowieeinem Abschiedsessen sprachen der für Kultur- undArchivwesen zuständige Minister, ein Ex-Minister als Prä-sident einer vom Nationalarchiv initiierten „Memory“-Stiftung, der Gouverneur, die amtierende Premierministe-rin und der Tourismusminister. Fernsehkameras warennicht nur bei Eröffnung und Schluss, sondern auch zwi-schendurch präsent. Ein karibisches Ministertreffen fandam selben Ort am Tag vor Konferenzbeginn statt.

Die Veranstaltung wurde als Chance gesehen, weltweitfür die Reize Curaçaos zu werben, was auch vollaufgelang: Die ansteckende Lebensfreude der Einheimischen,eine multikulturelle Gesellschaft, die Einwanderer aus 55 Nationen zu integrieren hat, war wohltuender Aus-gleich für die Reisestrapazen und das volle Kongresspro-gramm. Der Kongress tanzte, und das nicht nur einmal.Die Konferenzteilnehmer schieden mit der gern eingegan-genen Verpflichtung, die Botschaft von den Vorzügen derKaribikinsel Curaçao und ihrer freundlichen Bewohner indie Welt zu tragen.

39. CITRA Sharing Memory Through GlobalisationDen Auftakt der in drei Sektionen aufgeteilten zweitätigenKonferenz bildeten zwei einführende Referate. Sir Ram-phal, Barbados, ehemals Generalsekretär des Common-wealth, stellte Konzepte von Andersartigkeit geistes- undkulturgeschichtlich dar und beschrieb Dehumanisierungals Voraussetzung für Versklavung. John Donne, ThomasCarlyle, Willy Brandt und Olav Palme zitierend, sah er eine

ethische Krise als Ursprung der Krisen der Welt und ende-te bei John Lennon und Bob Marley, bei „Love and Peace“.

Ian Wilson, Canada, betonte die durch das Internetgegebenen neuen Chancen, an historischer Überlieferungpartizipieren zu lassen und mahnte an, den Stillen in derWelt, die ihre Stimme nicht selbst erheben können, durcharchivarische Arbeit eine Stimme zu geben.

Prof. Allen Weinstein, seit 2005 Archivist of the Uni-ted States, bekannte sich mit Emphase zum Thema derersten Sektion „Victims of Slavery and Displacing People:Towards the History of the Forgotten“. Er habe 1963 Mar-tin Luther King bei seiner berühmten Rede ganz aus derNähe miterlebt und sei stolz darauf, mit der Friedensme-daille der Vereinten Nationen ausgezeichnet worden zusein. Er kündigte konkrete Maßnahmen an, um das Anlie-gen der Konferenz zu fördern, nicht nur im neu gegründe-ten Museum for American African Heritage der Smithso-nian Institution, Washington D.C., sondern auch in denFederal Archives. Dominique Taffin, Direktorin desArchivs von Martinique, stellte einen Führer zu den Quel-len der Sklavereigeschichte in Frankreich vor, den sie bear-beitet. Sie schilderte die politischen Erwartungen und diearchivarischen Probleme. Jeanette Bastian, Boston, früherLeiterin von Archiv und Bibliothek der Virgin Islands aufSt. Thomas, reflektierte in einem stringenten Referat überden in der nachkolonialen Epoche notwendigen Perspek-tivwechsel, der die Akten der Kolonisation sucht zu ergän-zen durch Sammeltätigkeit, um die Geschichte des ganzenVolkes wieder zu finden: „Making the Journey from theImperial Archives to the Peoples Archives“, wie sie ihrenVortrag überschrieb. Die deutschen Zuhörer fühlten sichstark an Hans Booms und sein Dokumentationsprofil erin-nert.

Die „Konferenz des Runden Tisches der Archive“ teiltesich dann in 13 runde Tische, die jeweils ein Thema zubearbeiten und aus den Ergebnissen der Arbeit eine Reso-lution zu formulieren hatten. Die Themen hatten im wei-ten Sinne Bezug zum Generalthema „Sharing MemoryThrough Globalization“, aber es gab auch allgemeineArchivthemen wie „Verhütung von Diebstählen“ und„Schutz des archivischen Kulturerbes bei bewaffnetenKonflikten“. Eine Sammlung der entstandenen Resolutio-nen ist im Anhang beigefügt. Als Papiere, die einen archi-varischen Diskussionsstand auf internationaler Ebene spie-geln, können sie eigene Überlegungen anregen oder bestä-

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tigen und als Argumentationshilfe nützlich sein. Die erst-mals so durchgeführte Diskussion im kleineren Kreis, beider alle zu Wort kamen, wurde als sehr bereicherndbegrüßt. Der Reiz der internationalen Begegnung kommtbesonders zum Tragen, wenn Archivarinnen und Archiva-re z. B. aus Australien, Fidschi, Trinidad u. Tobago, Botswa-na, Lesotho, Finnland, Deutschland, Bulgarien, Island,Israel und Frankreich an einem Text arbeiten. Allerdingswar die Zusammenführung der Arbeit der Gruppen imPlenum sehr aufwändig und ermüdend, da vielfach redun-dant.

Die zweite Sektion: „Sharing Forces – Sharing Sources:Towards the Archives of Migration” wurde von vier Refe-raten getragen. Prof. Gert Oostindie, Direktor des könig-lich-niederländischen Instituts für südostasiatische undkaribische Studien, berichtete über ein seit 2004 betriebe-nes Projekt „The Atlantic World and the Dutch 1500-2000“.Holländische Präsenz in Afrika (Ghana), Nord- und Mit-telamerika soll in Form eines Online-Inventars der Archiv-quellen erschlossen werden. Der erste Projektabschnittwird 2006 abgeschlossen. Renate Stapelbroek schilderteihre Aufgabe als vom Stadtarchiv Dordrecht angestellteAnthropologin, Migrantengeschichten zu sammeln –Bilder, Videos, Interviews –, da etwa die Hälfte der Bevöl-kerung Einwanderer sind. Die Zusammenarbeit mitKultur- und Traditionsvereinen der Bevölkerungsgruppenwird gesucht. Jaime Antunes da Silva, Direktor desNationalarchivs von Brasilien, stellte sein Archiv und des-sen Bestände mit besonderem Bezug auf die Einwande-rung vor. Ross Gibbs, Direktor des Nationalarchivs vonAustralien, schilderte die politisch gewünschten und geför-derten Aktivitäten seines Archivs zum Thema Einwande-rung, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen.

Die dritte Sektion: „Sharing Sources: Towards a SharedHistory Across Lines of Division” enthielt noch drei Refe-

rate. Rik Coolsaet , Politologe der Universität Gent,sprach über Globalisierung auch als Konflikt, Konfrontati-on, Kulturkampf, als Herausforderung der USA durchandere aufstrebende Nationen. Der zweite Vortrag, inAbwesenheit des Referenten vorgetragen durch den bereitsgenannten brasilianischen Archivleiter Jaime Antunes,befasste sich mit der Überlieferung der historischen Bezie-hungen zwischen Portugal und Brasilien. VorhandeneMikrofilme der portugiesischen Überlieferung sollen digi-talisiert werden, die Auslobung von Forschungspreisensoll die Forschung anstacheln. Den dritten Vortrag hieltJoel das Neves Tembe, der Leiter des HistorischenArchivs von Mocambique. Er berichtete über Initiativen imBereich „sharing memory“ in Afrika, die „Africa Agenda“,sprach von der Notwendigkeit regionaler und internatio-naler Kooperation, von Internetkollektionen wichtigerDokumente und seiner Hoffnung, es durch diese Konfe-renz bei Regierungen und geldgebenden Institutionen(z. B. Mellow-Foundation) leichter zu haben.

Die Vorträge boten insgesamt viele Anregungen undDenkanstöße im Hinblick auf deutsche Verhältnisse, gera-de auch unter dem Aspekt der Thematik des nächstenDeutschen Archivtages, der sich schwerpunktmäßig derMigranten annehmen will.

ICA-Jahresmitgliederversammlung und SchlussbemerkungenMit der Wahl des Schweden Tomas Lidman als Schatz-meister werden die etwas in Unordnung geratenen Finan-zen des ICA hoffentlich transparenter. Vorgestellt wurdedie Internetseite des ICA, die bis März 2007 im Netz seinsoll. Die Kongressunterlagen von Wien 2004 und AbuDhabi 2005 gibt es als CD-ROM.

Der 27. Oktober ist von der UNESCO als Tag des audio-visuellen Kulturerbes anerkannt worden. Der ICA will

Stimmungsvoller Auftakt am20.11. mit einer Tanzgruppe

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einen weltweiten Tag der Archive organisieren, hält eineAnerkennung durch die UNESCO aber für unwahrschein-lich. Im Gespräch ist der 9. Juni. Gearbeitet wird an inter-nationalen Standards für archivische Funktionen (ISAF).

Die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen wurdengrundsätzlich begrüßt. Für die künftige Entwicklung desICA wurde ein Papier erarbeitet, das der Versammlungvorgelegt und als Curaçao Consensus einstimmig verab-schiedet wurde.

Die 40. CITRA wird zusammen mit der Mitgliederver-sammlung des ICA vom 11.-18. November 2007 in Québecstattfinden, 2008 trifft man sich in Kuala Lumpur im Rah-men des 16. Internationalen Archivtags vom 21.-31 Juli. Fürden Internationalen Archivtag im Jahre 2012 sind Aus-tralien und Norwegen im Gespräch.

Die CITRA habe ich als reizvolles internationales Dis-kussionsforum des Berufsstandes erlebt – anregend undermutigend, über die Alltagsgeschäfte hinaus zu denken.Die neue Form der Gruppendiskussion ist für den direk-ten Austausch hilfreich, jedoch war im Programm zuvielZeit dafür veranschlagt. Die erarbeiteten Resolutionenmüssen nahezu wirkungslos verpuffen, wenn sie der Fach-welt unbekannt bleiben. Damit sie bei den Leserinnen undLesern des Archivar Beachtung finden, sind sie diesemBericht in der Konferenzsprache Englisch beigefügt.

Der ICA steht in einem Erneuerungsprozess. Die als not-wendig angesehene Reform soll der „Curaçao Consensus“anstoßen und vorantreiben. Es ist zu wünschen, dass dasgelingt.

Schwerin Andreas Röpcke

Resolutions of the Annual General Meeting of the International Council on Archives Curaçao 24 November2006 The national archivists, the presidents of national professionalassociations and the elected and professional officers of the Inter-national Council on Archives (ICA), meeting in Curaçao on theoccasion of the 39th International Conference of the Round Tableon Archives (CITRA).

General Resolutions

1. Resolution on the Protection of Archivists

Considering the fundamental role of archivists in collecting anddisseminating elements which enable the documentation andelaboration of history and of collective memory,

Considering that the construction of history and collectivememory implies the use of sources which are as diversified as pos-sible,

Aware that archive professionals are sometimes subject to poli-tical and economic pressures which prevent them from applyingethical principles,

Ask for the revision of the ICA Code of Ethics as a fundamen-tal reference for the guidance of individual archivists,

Seek the development of a strategic tool which will both pro-mote the role of archivist and protect archivists under political oreconomic pressure,

Call upon the United Nations and other relevant organizati-ons to promote the implementation of the Code of ethics and thenew strategic tool.

2. Resolution on the role of the archivist in the preservation ofmemory

Considering the specific skills and expertise of archivists in thepreservation of elements enabling society to build its memory

Because through their role in records management and in theareas of appraisal, acquisition, preservation and access to archi-ves, they guarantee their integrity

Considering the important role archives play in preservingmemory and the fragmentation posed by the multiplication of nonarchival institutions which focus on subject specific memory

Demand that States create or maintain real professional archi-val services.

3. Resolution on the protection of archival heritage under thre-at in cases of armed conflict.

Profoundly concerned by the pillage and destruction which occur-red during recent conflicts,

Recommend

– that governments, which have not already ratified the Conven-tion for the Protection of Cultural Property adopted in TheHague in 1954 and its 2nd Protocol of 1999, should do so at theearliest opportunity,

– that the members of ICA Should establish a National Commit-tee for the Blue Shield in their countries in order to protect thecultural heritage in case of armed conflict or natural disaster,if one has not been established.

4. Resolution on the UNESCO Slave Trade Archives project

Ask UNESCO – To continue its support to countries involved in the first phase

of the project – To extend the project to other countries concerned, taking into

account the system of slavery in its totality – To co-ordinate the network which has already been developed – To promote the digitisation projects initiated by the participa-

ting countries.

Encourage participating countries – To launch programmes for the description of archives concer-

ning the slave trade – To promote co-operation among themselves in all areas – To continue actively the project.

Ask ICA– to explore actively opportunities for resource mobilization for

participating countries to sustain the projects – to encourage former colonial powers to take measures to pre-

serve colonial records – to promote closer cooperation among regional branches in sha-

ring resources and experience.

5. Resolution on the archives of colonisation and on the sharingof the archival heritage common to several countries

Considering that the concept of the archives of colonised countriesmust be brought closer to that of displaced archives

Considering the difficulties of applying the internationalrecommendations on the question of displaced archives and thecomplexity of the problem

Recognizing the work done by the nine countries of the formerFrench West Africa and the Caribbean in pooling their archivalheritage, and noting that other countries of the world have simi-lar needs to share the documents concerning their common heri-tage,

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Propose a plan for multi-lateral co-operation which is intended – To develop the flow of information concerning sources that

document the phenomena of colonisation and decolonisation – To provide the equipment, training and resources that are

necessary – To improve access to archives kept outside the territories con-

cerned, particularly by the provision of detailed finding aidsand sharing of records through copying and dissemination.

Ask UNESCO, organisations and States concerned to encoura-ge and to support financially this plan and all projects intendedto facilitate the access to the documents related to the commonmemory of countries which have the same past.

6. Resolution on international sources

Considering that national States and individual societies areinterconnected and this is reflected in the fact that archival insti-tutions hold records relating to other societies

Invite all archival institutions:– to recognize that there is a moral obligation to overcome finan-

cial constraints that inhibit sharing information about andaccess to the archives and in consequence that they shouldwork together to secure the necessary funding

– to facilitate access to these records in particular by: • developing finding aids such as the UNESCO/ICA Guide

to the Archives of International Organizations; • providing access to these international records; • working with archival institutions to provide copies of these

records;

Invite UNESCO to support this initiative financially.

7. Resolution on archives relating to the judiciary, incarcerati-on and intelligence services

Extremely preoccupied by the menaces that threaten archives rela-ting to the judiciary, incarceration, and intelligence services, andby the misuses of these documents

Considering the fundamental importance of these archives asa constituent element of collective memory, as an instrument forthe determination of responsibilities, for reconciliation and thepromotion of a universal justice, and as a means of defending indi-vidual and collective rights Ask ICA and UNESCO – To bring up to date the 1995 study on the archives of security

services in the former repressive regimes – To co-ordinate at the international level a programme to loca-

te, describe and exchange information about archives relatingto the judiciary, incarceration and intelligence services.

8. Resolution on the oral tradition

Considering the importance of the oral tradition for the safe-kee-ping of the memory of the world, and referring to the UNESCOConvention on the intangible heritage

Urge UNESCO to support programmes for collecting, preser-ving and making available the oral heritage

Ask ICA to collaborate with other relevant internationalorganizations to lead strategic thinking in this area and to promo-te the implementation of good practices.

Resolutions addressed to ICA

1. Resolution on the creation of an International Archives Day

Understanding that the creation of new international days ishighly unlikely in the United Nations system

Recommend that – ICA organize on its own an international archives day the date

of which could change from one year to another depending onthe international calendar.

– ICA encourage member countries to organize with their ownNational Archives Days or Weeks.

2. Resolution concerning putting archival documents online

Considering programmes intended to put online archival docu-ments are instrumental in taking archives to the world

Convinced that the sharing of experience acquired during theimplementation of these programmes helps in solving the pro-blems encountered and to promote best practices

Propose that ICA should make widely known existing projectsor those underway and should support the development ofmodels for presentation and for search functions which facilitateaccess to archives online – By establishing an ICA award to recognize projects that make

archives available online – By making known to its members the proposals received for

this award – By facilitating a professional dialogue on the legal and techni-

cal issues linked to the presentation of archives online.

3. Resolution on private archives

Noting that private archives and public archives are essential ele-ments in the memory of a society in its totality, and that thesearchives should therefore be preserved,

Considering archivists have a role to develop and pursue stra-tegies which actively support the creation, capture and preserva-tion of records of private persons and organizations with the aimof building a balanced and comprehensive memory of a wholesociety.

Ask ICA to promote general awareness about the importanceand value of these total archives.

4. Resolution on audio visual heritage

Considering the challenges faced by developing nations in preser-ving audio visual heritage and concerned by the accelerated lossof such heritage

Call upon ICA to work with relevant partners to develop andimplement a sustainable integrated preservation approach for theprotection of the world’s audio visual heritage.

Votes of Thanks

Thank Sir Shridath Ramphal and Ian Wilson for the quality oftheir presentations, and all the speakers and participants whosecontributions resulted in stimulating professional discussions.Express their profound gratitude to the Authorities of the Nether-lands Antilles, to the Director of the National Archives of the Net-herlands Antilles and all her staff and volunteers, for the warmthof their welcome, the generosity of their hospitality and the excel-lent organization of the meeting.

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Literaturbericht

Der alchemistische Nachlaß Friedrichs I . vonSachsen-Gotha-Altenburg. Verzeichnende Erschlie-ßung der Quellen des Thüringischen StaatsarchivsGotha mit Notizen zu den alchemistischen Handschrif-ten der Forschungsbibliothek Gotha. Beschrieben vonOliver Humberg. Buchverlag Oliver Humberg, Wup-pertal 2005. 78 S., 10 s/w Abb., brosch. 28,- €. ISBN 978-3-9802788-9-8 (Quellen und Forschungen zur Alchemie I)

Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1646-1691) ist derSohn des durch Staatsbildungswerk, Kirchen- und Schulreformberühmten Wettiners Ernst der Fromme. Dessen sparsamesRegime bescherte der Kammer positive Bilanzen und seinerHaushaltung – wegen des eingeschränkten Repräsentationsauf-wandes – das Etikett des „hausväterlichen Hofes“ durch die spä-tere Forschung. Sein Nachfolger Friedrich I. brauchte nur wenigeJahre, um in permanente Finanznot zu geraten. Das lag nichtallein an der höfischen Pracht, die er einführte, sondern mehrnoch an der alchemistischen Leidenschaft des Herzogs: Sie rissihn zu schwindelerregenden Ausgaben hin.

Darüber erfährt man in dem schmalen Bändchen allerdingsnichts. Denn es ist nicht für den historisch interessierten Laienbestimmt, sondern für den mit der Alchemie-Geschichte befass-ten Spezialisten, dem es helfen wird, Material zu einzelnen Alche-misten aufzufinden und dem es vor allem zeigt, dass eine syste-matische Beschäftigung mit der reichhaltigen Gothaer Alchemi-ca-Sammlung sich durchaus lohnen könnte. Humberg leistet, wasder Untertitel verspricht, mit penibler Genauigkeit. Er listet dieAlchemica aus dem Nachlass Herzog Friedrichs, die im Thürin-gischen Staatsarchiv Gotha unter mehr als 30 Signaturen mit sum-mierenden Titeln überliefert sind, Stück für Stück auf mit knap-per Beschreibung, gibt alle Briefe einzeln nach Schreiber, Adres-saten und Datierung an und erschließt so den Inhalt des betref-fenden Archivgutes für die weitere Forschung. Außerdem,zunächst ungeplant und deshalb formal weniger streng notiert,verzeichnet er die alchemistischen Handschriften der Forschungs-bibliothek Gotha, ebenfalls ein reichhaltiger Bestand. MitNamensregistern versehen, ermöglichen beide Verzeichnisse demForscher schnelles Nachschlagen und Auffinden des Gesuchten.Beigegeben sind überdies einige Autographen wichtiger Alche-misten sowie eine Seite aus einem „Diarium Chimicum“ HerzogFriedrichs als Faksimiles.

Humberg stellt ein Arbeitsmaterial zur Verfügung, das künfti-gen Forschern viel Zeit sparen dürfte und manche Spur erst sicht-bar macht.

Eine etwas aussagekräftigere Einleitung wäre allerdings ange-bracht gewesen. Herzog Friedrich wird weder als Regent noch inseinen alchemistischen Bemühungen in irgendeiner Weise kon-textuiert. Wieso ein beträchtlicher Teil der verzeichneten Archiva-lien, nämlich die alchemistische Korrespondenz des HerzogsErnst Ludwig von Sachsen-Meiningen, die gar nichts mit Fried-rich I. zu tun hat, sich in dessen Sammlung findet, bleibt ebensounerklärt wie die Hunderte von Korrespondenzpartnern desHerzogs und ihre Rolle in der Geschichte der Alchemie. Dass ein-zig etwas ausführlicher auf den Coburger Juristen Philipp Döbner eingegangen wird, mag noch mit der Überlieferung seines umfangreichen theosophischen und alchemistischen Wer-kes in Herzog Friedrichs Alchemica-Sammlung zu rechtfertigensein. Wie dieser Nachlass aber an den Gothaer Herzog kam, wel-che Bedeutung er für dessen alchemistische Arbeit hatte, wieDöbner in der Geschichte der Alchemie zu situieren ist, all dasbleibt dunkel.

Zumindest hätte man sich die Frage beantwortet gewünscht,warum Humbergs Interesse überhaupt der Alchemica-SammlungHerzog Friedrichs gilt und nicht z. B. der seines Bruders Christi-an von Sachsen-Eisenberg oder der des erwähnten MeiningerNeffen Friedrichs. Zwar wird mitgeteilt, dass die Sammlung imThüringischen Staatsarchiv Gotha einen laufenden Meter Archiv-

gut einnimmt, aber nicht, ob das viel ist oder eher das Übliche fürdie vielen Standesgenossen, die wie der Gothaer Herzog an derHerstellung des Stein der Weisen laborierten. Viele Fragen, vondenen hoffentlich einige durch künftige Studien beantwortet wer-den.

Erfurt Roswitha Jacobsen

Archivpflege in Westfalen-Lippe. Im Auftrage desLandschaftsverbandes Westfalen-Lippe hrsg. vom West-fälischen Archivamt, Münster. Nr. 62, April 2005, 64 S.;Nr. 63, Oktober 2005, 80 S.; Nr. 64, April 2006, 56 S.; Nr. 65, Oktober 2006, 32 S., geh.

Heft 62 ist dem 13. Deutsch-Niederländischen Archivsymposiongewidmet, das das Generalthema „Dokumentationsprofile“behandelte. Es greift damit einen Begriff auf, der auch im Positi-onspapier der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beimDeutschen Städtetag „Das historische Erbe sichern!“ (abgedr. aufden Seiten 45 f.) an zentraler Stelle steht (Kap. „Das Dokumenta-tionsprofil als Instrument zentraler Überlieferungsbildung“).Doch bevor die Archivarinnen und Archivare „ihre“ Archive vor-stellen, steht der Blick von außen. Prof. Hans Ulrich Thamer vonder Universität Münster betont in seinem Eingangsreferat, dassUnterlagen aus privater Trägerschaft (Verbände, Vereine, gesell-schaftliche Bewegungen etc.) besonders nach der kulturalisti-schen Wende in der Geschichtswissenschaft „von größter Bedeu-tung“ seien. Er erläutert seine These am Beispiel des Archivs derDeutschen Jugendbewegung, das auch „eine breite Kulturge-schichte des deutschen Bildungsbürgertums“ dokumentiere.Zudem ermöglichen diese (Sammlungs-)Archive wegen ihrerText-, Bild- und Sachüberlieferung, den „ganzheitlichen Lebens-bezug sozialer Bewegungen zu erschließen“, da sie sowohl Texteals auch Bilder und Sachgegenstände bewahren. Aus diesemGrund befürwortet Thamer einen Pluralismus in der Archivland-schaft und die Förderung nichtstaatlicher Archive. – „Archive ver-halten sich eher wie Geschenkempfänger, als dass sie aktivbestimmen würden, was sie erwerben möchten.“ Mit dieserzutreffenden Beobachtung eröffnet Alice van Diepen ihren Bei-trag, in dem sie das Akquisitionskonzept des Archivs der StadtAmsterdam erläutert. Sie stellt in einer kritischen Betrachtung dieKriterien vor, die private Archive und Sammlungen erfüllen müs-sen, um vom Amsterdamer Archiv übernommen zu werden. Miteinzelnen Institutionen beschäftigen sich die folgenden Vorträge.Jelle Krol stellt Tresoar vor, den Zusammenschluss von Reichsar-chiv, Friesischem Literarischem Museum und Dokumentations-zentrum sowie der Provinzialbibliothek in Leeuwarden, das „sobreit und so vielseitig wie möglich“ das zusammenträgt, was mitder friesischen Sprache und Fryslan zusammenhängt. Hans-Hol-ger Paul berichtet über die Gewerkschaftsakten im Archiv dersozialen Demokratie und Ingrid Elferink über das Archiv derING, des größten Finanzdienstleisters in den Niederlanden. DerÜberblick von Thorsten Wehber über die historischen Archivevon Banken und Sparkassen in Deutschland zeigt u. a. die Schwie-rigkeiten auf, die sich aufgrund des Bankgeheimnisses bei derBenutzung der Akten ergeben. Die teils unüberwindlichen Hür-den in der Stasi-Unterlagen-Behörde beim Zugang zu Unterlagenüber Opposition und Widerstand in der DDR beschreibt eindring-lich Johannes Beleites. Er verweist daher auf die Bürgerrechts-archive, die Selbstzeugnisse und Dokumente der Bürgerbewegun-gen, aber auch vielfach kopierte MfS-Akten besitzen und dieseden Forschern zugänglich machen. Charles Jeurgens unter-streicht in seinen Ausführungen zu Recht, wie wichtig es sei, derVergangenheit der Immigranten besondere Aufmerksamkeit zuschenken. Es sei an der Zeit, „dass die Archive sich mit der Frageauseinandersetzen, ob die derzeitigen Erwerbsverfahren derGeschichte dieser neuen Niederländer gerecht werden“. DasArchiv der Stadt Dordrecht habe in den letzten Jahren bereits„umfassendere Erfahrungen mit dem Erwerb von Informations-

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quellen über die Migrationsgeschichte“ gemacht. Leider endetsein Beitrag mit dieser Aussage, wie gerne hätte man etwas überdie Erfolge bzw. Schwierigkeiten bei der Sammlung solcherUnterlagen gelesen. – Ergänzt werden die Referate des Archiv-symposions durch die Überlegungen Eberhard Illners (Histori-sches Archiv der Stadt Köln), der darlegt, dass sich Archive nichtallein auf die behördliche Überlieferung beschränken dürfen, wiees manche Finanz-Controller empfehlen. Wollen sie ihren Auftrag,„Gedächtnisse der Gesellschaft“ zu sein, nachkommen, dann seies unverzichtbar, Sammlungen und Nachlässe zu erwerben. –Abschließend stellt Antje Scheiding das Unternehmensarchivder Bertelsmann AG vor, das erst seit 2002 besteht. Hervorgegan-gen ist es aus der Sammlung der „Unabhängigen Kommission zurErforschung der Geschichte des Hauses Bertelsmann im DrittenReich“. Mit der Einsetzung der Kommission, die Materialien ausüber 50 Archiven zusammengetragen hat, begann auch die syste-matische Sichtung und Bewertung der noch vorhandenen firmen-eigenen Unterlagen und damit der Aufbau des Unternehmens-archivs.

Im Heft 63 stehen die Vorträge des 57. Westfälischen Archiv-tages im Mittelpunkt, der sich mit unterschiedlichen Fragen desarchivischen Alltags (Personalausstattung, Digitalisierung, Akten-pläne) beschäftigt hat. Einen Überblick über die Lage der Kom-munalarchive, basierend auf den Ergebnissen einer Umfrage desWestfälischen Archivamtes, bietet Wolfgang Bockhorst. SeinFazit „Der Wind ist erheblich rauher geworden.“ kann sicherlichjeder aus seiner eigenen Praxis bestätigen. Umso wichtiger ist esdaher, Zusatzkräfte und ehrenamtliche Mitarbeiter zu gewinnen.Über die „Schaffung von Arbeitsgelegenheiten auf der Basis vonEin-Euro-Jobs“ unterrichtet Ferdinand Greitemeier von derAgentur für Arbeit Paderborn, während Clemens von Looz-Corswarem eingehend die Möglichkeiten, aber auch die Schwie-rigkeiten beim Einsatz solcher MitarbeiterInnen schildert, wobeier aus seinem reichen Erfahrensschatz als Leiter des DüsseldorferStadtarchivs schöpfen kann. – In der Sektion Digitalisierung wur-den zunächst zwei Projekte vorgestellt: die Digitalisierung sozial-demokratischer Pressedienste in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung (Rüdiger Zimmermann) und die Erschließung,Digitalisierung und Internetpräsentation der Fotos des Westfäli-schen Kunstvereins (Anette Wohlgemuth). Es folgten grund-sätzliche Ausführungen von Rainer Polley über „Rechtsfragenbei der Präsentation und Benutzung digitaler Publikationen imarchivischen Kontext“. Auch wenn manche Aussage durch dasneue Urhebergesetz überholt sein mag, so liefert das Referat den-noch wichtige Hinweise, was alles bei einem Internet-Auftritt zubeachten ist. – Mit der Vorstellung der neuen Aktenpläne desNordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebundes bzw. derKGSt und der Darlegung, nach welchen Grundsätzen die Westfä-lische Provinzial Versicherung AG ihr Sponsoring ausrichtet,endet die Dokumentation des Archivtages. An seinem Beginnstanden die „Anmerkungen zur Vermittlung von Zeitgeschichte“von Wulff E. Brebeck, der zunächst die Geschichte der Ausstel-lung „Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ refe-riert und dann von den akuten Problemen berichtet, die zu einerNeukonzeption der Geschichtsvermittlung geführt haben, denndie Wewelsburg wurde nicht nur zur Pilgerstätte von Neonazis,sondern auch zu einem Veranstaltungsort völkischer Satanisten.– Über die neu zu entwickelnden Archivierungsmodelle beimLandesarchiv Nordrhein-Westfalen unterrichtet uns MartinaWiech. Mit diesen sollen mehrere Ziele erreicht werden, nämlicheine Rationalisierung der Bewertungsarbeit, die Steigerung derÜberlieferungsqualität, eine größere Planbarkeit sowie mehrTransparenz und Kontinuität der Überlieferungsbildung. Bei derErarbeitung der Modelle setzt das Landesarchiv auf die Koopera-tion mit den Kommunalarchiven und der historischen Forschung.Zu diesem Zweck fanden drei Workshops (Überlieferung der Poli-zei, der Finanzverwaltung und der Justiz) statt, auf denen teilssehr kontrovers diskutiert wurde. – Mit Informationen über dasneue, zentrale Bild-, Film- und Tonarchiv bei der Landesbildstel-le Westfalen, das eingerichtet wurde, weil die meisten Kommu-nalarchive nicht in der Lage sind, die vorhandenen Filme sachge-recht zu lagern und zu erschließen, über das Stadtarchiv Lünen,

das sein 50-jähriges Bestehen feiern konnte, und über das NeueKommunale Finanzmanagement, das Probleme bei der Bilanzie-rung des Archivgutes und der Bildung der Produkte bereitet,endet das mit 80 Seiten bislang umfangreichste Heft der Archiv-pflege in Westfalen-Lippe.

Heft 64 bringt nach den Worten des Herausgebers „einen bun-ten Strauß von Beiträgen“. Gunnar Teske thematisiert die ange-kündigte Kooperation zwischen dem Landesarchiv NRW undden Kommunalarchiven bei der Bewertung. Auch wenn das Lan-desarchiv die Zusammenarbeit sucht, so ist nach Meinung vielerdie bisher gewählte Form – Workshops als Informations- undDiskussionsveranstaltungen – unzulänglich. Teske plädiert statt-dessen für eine Einbeziehung von Vertretern der Kommunalarchi-ve in die Arbeitsgruppen, die die Bewertungsmodelle ausar-beiten. Ein besonders umstrittener Punkt in der Debatte ist dieÜberlassung staatlicher Akten an Kommunalarchive, die bei derexemplarischen Archivierung kassiert würden. Teske hält eineVereinbarung über die Übernahme nach dem Vorbild des Bundes-archivgesetzes für durchaus möglich und angebracht, doch solltedies die Ausnahme bilden. Besser sei es, die Kommunalarchivekönnten „die Projektgruppen des Landesarchivs von der Archiv-würdigkeit der sie interessierenden Überlieferung überzeugen“.– Im Zuge der Verwaltungsmodernisierung haben auch Archiva-rinnen und Archivare eine neue Begrifflichkeit zu lernen. Im Rah-men des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) unddes Neuen Steuerungsmodells (NSM) ist die „Relation von Res-sourcen-Input und Leistungs-Output“ zu beachten und ein neuesDienstleistungsmanagementsystem aufzubauen. Brigitte Kramerentwickelt in ihrem Beitrag Strategien, wie sich die Archive durchMarketinginstrumente und archivische Öffentlichkeitsarbeit „alsLernorte neu verorten und Geschichtskultur durch Entwicklungneuer Produkte besser vermitteln können“. – „Überlegungen zurArchivwürdigkeit von Arbeitgeberlisten der Allgemeinen Orts-krankenkassen“ stellen Hans-Jürgen Höötmann und Ute Lang-kamp an. Das Ergebnis ihrer gründlichen Bewertungsanalyse:Grundsätzlich nicht archivwürdig wegen der „mangelhaften Sub-stanz der Quelle“. Allerdings sollten die Listen der NS-Zeit auf-bewahrt werden, da in ihnen Angaben zu den rekrutiertenZwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zu finden sind. – Ing-rid Wichtrup, Fachangestellte für Medien- und Informations-dienste (kurz: FAMI) im Kreisarchiv Warendorf, benennt in ihremErfahrungsbericht das grundlegende Problem, das sich negativauf die Ausbildung und den Berufsalltag der FAMIs auswirkt. Esfehlt immer noch „ein greifbares und eindeutig formuliertesBerufsbild“. Es sei an der Zeit festzulegen, ob man eher den archi-vischen Spezialisten im Sinne des bayrischen Archivassistentenwünscht oder den „Navigator im Informationsdschungel“, derKenntnisse in allen Tätigkeitsfeldern erwirbt. Ein Schwachpunktin der FAMI-Ausbildung war sicherlich das Fehlen geeigneterLehrbücher, das erst mit dem Erscheinen der „Praktischen Archiv-kunde“ partiell behoben wurde. Norbert Reimann, der Heraus-geber dieses Werkes, beklagt in seinem Aufsatz das allgemeineFachbuch-Defizit im bundesrepublikanischen Archivwesen. Umdiese Lücke zu füllen sei das Buch entstanden mit einer klarenIntention: „Es will Archivkunde, keine Archivwissenschaft vermit-teln, und es will keine theoretischen Erörterungen, sondern pra-xisbezogene Informationen liefern.“ Reimann nutzt zudem dieGelegenheit, die negativ ausgefallene Rezension von Bodo Uhl zureplizieren. – Drei praktisch ausgerichtete Beiträge zum Aufbaueiner Fotosammlung (Andreas Gaidt), zur Versicherung vonArchivalien (Rickmer Kießling) und zum Notfall-Register Archi-ve NORA (Marc Straßenburg) stehen am Schluss des Heftes 64.

Das folgende Heft, das traditionell dem vergangenen West-fälischen Archivtag gewidmet ist, fällt dieses Mal sehr schmal aus,da die Vorträge der Sektion „Bau und Einrichtung von Archiven“an anderer Stelle gesondert veröffentlicht werden sollen. Nachdem Grußwort von Frank Keverling Buisman und dem Erfah-rungsbericht von Hansjörg Riechert, Archivar des Kreises Lippe,über die von ihm initiierte und betreute Ausstellung „IkarusMa-schinen. Luftfahrt in Ostwestfalen-Lippe“ schildern Bernd Hey(Landeskirchliches Archiv Bielefeld) und Michael Farrenkopf(Bergbau-Archiv Bochum) die Kooperation der von ihnen gelei-

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teten Einrichtungen mit anderen Archiven. Den Archivverbundvon Stadtarchiv und Staatsfilialarchiv Bautzen stellen Grit Rich-ter-Laugwitz und Anja Moschke vor. Nach fünfjähriger Erfah-rung mit diesem Verbund sehen die Autorinnen nur Vorteile indieser Lösung. Dennoch warnen sie davor, dieses Modell alsPatentrezept zu übernehmen. Nur wenn sich zwei gleichberech-tigte Partner zusammenschließen, wenn keiner das Gefühl hat,vom anderen aufgesogen zu werden, nur in dieser Konstellationkann solch ein Verbund funktionieren – so ihr Fazit. Dass dieBerücksichtigung kommunaler Interessen bei der Bewertungstaatlicher Überlieferung ein Thema ist, das den Kommunalarchi-ven sehr am Herzen liegt, unterstreicht die Tatsache, dass inner-halb kürzester Zeit das Problem ein zweites Mal behandelt wird.Nach einem Rückblick auf die Diskussionen in den 1930er und1950er Jahren und unter Verweis auf Beispiele aus anderen Bun-desländern (Überlassung der Überlieferung der AOK an dieKommunalarchive in Niedersachsen; Abgabe von Schulakten inNiedersachsen und Baden-Württemberg), die andeuten, dass eineÜberlassung von staatlichem Archivgut an Kommunalarchivedurchaus denkbar ist, spricht sich auch Claudia Becker für einefrühzeitige Einbindung der Kommunalarchive in die Bewer-tungsentscheide der Staatsarchive in Nordrhein-Westfalen.

Die vorliegenden Hefte, die wiederum ein breites Themen-spektrum abbilden, bestätigen abermals, dass Archivpflege in West-falen-Lippe zu den wichtigsten archivfachlichen Periodica zu zählen ist und weit über den regionalen Raum Interesse bean-spruchen darf.

Essen Klaus Wisotzky

Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammerge-richt. Band 11. Nr. 4492-5084 (Buchstabe H). Bearbeitetvon Wilhelm Füßl und Manfred Hörner. Selbstverlagder Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns,München 2004. X, 550 S., 22,20 €. ISBN 3-921635-86-1(Bayerische Archivinventare 50/11)

Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammer-gericht. Band 12. Nr. 5085-5282, Indices (Buchstabe H).Bearbeitet von Wilhelm Füßl und Manfred Hörner.Selbstverlag der Generaldirektion der Staatlichen Archi-ve Bayerns, München 2005. X, 526 S., 21,20 €. ISBN 3-921635-87-X(Bayerische Archivinventare 50/12)

Die beiden im Rahmen eines DFG-Projekts erstellten Inventarbän-de berücksichtigen die von klagenden Parteien mit dem Anfangs-buchstaben H (Haag bis Hutten) in den Jahren 1495-1805 amReichskammergericht angestrengten Prozesse, deren Akten Mittedes 19. Jahrhunderts an das Königreich Bayern abgegebenwurden und heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrtwerden.

Ein Territorium, eine Reichsstadt oder eine Familie mit 100oder gar mehr Streitfällen haben die beiden Inventarbände nichtaufzuweisen. Die mittleren und kleineren Komplexe überwiegendeutlich.

Unter den Klägern finden sich erneut viele Mitglieder derfränkischen Reichsritterschaft: Hutten mit 58, Heßberg mit 26,Hardheim mit 8, Heußlein von Eußenheim mit 7 Prozessen. DieFamilie Hürnheim vertritt mit 21 Verfahren die schwäbischeReichsritterschaft. Häufiger klagten auch Grafen- und Fürsten-häuser wie Hohenlohe mit 50, Hanau, Henneberg, Haag undHelfenstein mit 7-15 Fällen.

Das Nürnberger Patriziat wird durch die Haller von Haller-stein mit 29, die Holzschuher mit 11 und die Harsdörfer mit nureinem Verfahren repräsentiert. Gestritten wird zumeist umGrundbesitz samt den zugehörigen Gerechtigkeiten. Augsburg istdurch die Haug, Herwarth und vor allem Höchstetter (4, 5 und14 Prozesse) vertreten, wobei Geld- und Handelsstreitigkeiten inder Überzahl sind. Überhaupt kommen Prozesse von Kaufleutenund Handelssozietäten vergleichsweise häufig vor. Zu nennensind die zwölfmal als Kläger auftretenden Hagelsheimer gen.

Held aus Nürnberg mit ihrer Drahthandelsgesellschaft. Weiterhinverdient ein Prozess um ein Legat des als Faktor des NürnbergerHandelshauses der Hirschvogel im südindischen KönigreichVijayanagar tätigen Georg Pock Erwähnung.

Bemerkenswert ist ein durch Injurien ausgelöster heftigerStreit der königlichen Räte Simon von Hungersbach und Georgvon Thurn, in dem zuletzt das Reichskammergericht auf unmit-telbare Weisung König Maximilians I. hin eher widerwillig tätigwurde.

Die Inventartexte werden wie gewohnt durch einen Personen-und geographischen Index, einen Prokuratorenindex, einen Indexder Vorinstanzen, Juristenfakultäten und Schöppenstühle, einenSachindex sowie ein chronologisches Verzeichnis der Prozessenach ihrem Beginn am Reichskammergericht erschlossen.Abschließend verweisen Konkordanzen von den Signaturen desGeneralrepertoriums sowie von den gültigen Bestellnummern aufdie Inventarnummern der Prozesse.

München Wolfgang Pledl

Britta Bußmann, Thomas Köster, 75 Jahre Landes-kunde und Regionalgeschichte. Gesamtverzeich-nis der Veröffentlichungen aus dem Provinzialinstitutfür Westfälische Landes- und Volkskunde und demWestfälischen Institut für Regionalgeschichte. ArdeyVerlag, Münster 2004. 313 S., kart. 4,40 €. ISBN 978-3-87023-309-9

Der hier anzuzeigende Band liefert eine Bilanz zur publizistischenArbeit der im Titel genannten Forschungseinrichtungen des Pro-vinzialverbandes bzw. Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.Dies geschieht zunächst durch einen forschungsgeschichtlich ori-entierten Aufsatz von Thomas Köster (S. 1-55). Er verweist auf das„Raumwerk Westfalen“ als Hintergrund der ersten Epoche. Diezweite Epoche zwischen 1961 und 1986 ist mit „GeschichtlicheLandeskunde als Integrationswissenschaft“ überschrieben, diedritte, anschließende mit „Regionalgeschichte als Sozialgeschich-te“. Damit sind zugleich die für die Institute leitenden Aspektebeschrieben. Im zweiten Hauptteil werden sechs Publikations-reihen ebenso bibliographisch erschlossen wie die in den „West-fälischen Forschungen“ erschienenen Rezensionen. Als Überblicküber Themen und Schwerpunkte der Landes- bzw. Regional-geschichte seit 1929 liefert der Band nützliche Dienste.

Senden Wilfried Reininghaus

„…das erste und einzige feministische Archiv in Marburg“.15 Jahre Feministisches Archiv Marburg. Hrsg. vonAnke Heimberg. BdWi Verlag, Marburg 2005. 122 S., 8,– €. ISBN 978-3-924684-99-0

Feministische und Frauenarchive gibt es in Deutschland geschätztüber 50, beim Dachverband i.d.a. (informieren – dokumentieren,archivieren, www.ida-dachverband.de) sind derzeit 31 Einrich-tungen für den gesamten deutschsprachigen Raum gelistet. ImDezember 2004 feierte eines davon, das Feministische ArchivMarburg seinen fünfzehnten Geburtstag. Ein Jahr später hat essich und der interessierten Öffentlichkeit eine kleine Publikationzum Geschenk gemacht. Der Hauptteil des Bandes wird von derHerausgeberin bestritten: In zwei Beiträgen erzählt sie die bislangnicht richtig erforschte Geschichte der Frauenbibliotheken in derersten Frauenbewegung von der Jahrhundertwende bis in dieWeimarer Zeit nach, um dann die Anfänge der feministischenArchive und Bibliotheken der zweiten Frauenbewegung abAnfang der 1970er Jahre Revue passieren zu lassen. In beidenZeitepochen mussten sich Frauen selbst um die Überlieferung derZeugnisse ihres in der Regel widerständigen Verhaltens küm-mern.

In Heimbergs zweitem Text wird die Gründung des Feministi-schen Archivs in die Geschichte der Hochschulpolitik an derUniversität und das Agieren der Frauenbewegung in der Stadtund an der Universität Marburg eingeordnet. Die erste Frauen-

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gruppe an der Uni lässt sich für das Jahr 1976 nachweisen. Von1976 bis 1983 hatten traditionskommunistische, gewerkschafts-nahe und auf „Gleichberechtigung” abstellende Frauen das Frau-enreferat des Allgemeinen Studierendenausschusses (ASTA)geprägt. Ab 1983 übernehmen Frauen und Lesben aus der auto-nomen Frauenbewegung, deren Leitbegriff nun „Selbstbestim-mung” lautet, das Frauenreferat. Die gewerkschaftsnahen, sichselbst so bezeichnenden „Uni-Hexen” lösen sich 1989 auf. DieAutonome Frauenbewegung ist zwar gegen Institutionalisierung,wird dann aber de facto Teil von ihr. So gründen die autonomenFrauen unter anderem das Archiv – just in dem Raum, den vor-her die Uni-Hexen benutzt hatten.

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch relativ wenig, bzw. nurschwer zugängliche feministische Literatur, Gender ist an denUniversitäten noch kein Thema, deshalb müssen die interessier-ten Frauen selbst recherchieren, sammeln, besorgen und tauschen.Mit der Zeit verbessert sich die Situation etwas: 1987 wird dieGleichstellungsstelle und 1990 die Frauenbeauftragte an derUniversität installiert, feministische Fragestellungen finden zu-sehends im Lehrbetrieb mehr Raum.

Das Archiv ist seit seiner Gründung an den ASTA angebundenund durch ihn auch auf niedrigem Niveau finanziert. Es verstehtsich als unabhängige und politische Einrichtung jenseits desMainstreams: „Keinesfalls wollen wir den Bestand anderer Biblio-theken und Archive lediglich ergänzen oder nur schwer zugäng-liche Materialien zu Frauenlesben-Themen sammeln”. Mit diesemZitat aus der aktuellen Selbstdarstellung des Archivs, das unterwww.fem-archiv-marburg.de auch im Internet besucht werdenkann, wird die Selbstverortung deutlich. Der Selbstdarstellung istzu entnehmen, dass der Umfang der Bestände aktuell über 7.000Bücher und Broschüren zu 23 feministischen Themengebietenbeträgt, die nach verschiedenen Kriterien erschlossen sind, mehrals 40 Zeitschriften werden laufend bezogen. Daneben verfügt dasArchiv über einen ausgedehnten Bestand von unveröffentlichtenHaus-, Diplom- und anderen wissenschaftlichen Arbeiten. EineÜbersicht der vielen politischen und kulturellen Veranstaltungen,die das Archiv seit seinem Bestehen organisiert hat, und seinenpolitischen Anspruch deutlich erkennen lassen, schließt den Bandab.

Dieses lesenswerte Buch behandelt einen Aspekt, dem in derWissenschaft, im klassischen Archivwesen und auch in der Frau-enbewegung selbst wenig Beachtung geschenkt wird: Die institu-tionellen Vorkehrungen zur Überlieferungssicherung der Zeug-nisse feministischer Wissenschaft oder breiter gefasst, feministi-schen Engagements. Schon allein deswegen verdient es Beach-tung. Es gibt darüber hinaus Einblick in die Geschichte einesselbstverwalteten Archivs, dokumentiert seinen Stellenwert fürdie lokale politische Landschaft und seine Arbeit.

Bremen Bernd Hüttner

Ein Eberhardsklausener Arzneibuch aus dem 15. Jahrhundert (Stadtbibliothek Trier Hs. 1025/19448°). Hrsg. von Marco Brösch, Volker Henn und SilviaSchmidt unter Mitwirkung von Claudia von Behrenund Karina Wiench. Wissenschaftlicher Verlag Trier2005. LXIII, 234 S., geb. 27,50 €. ISBN 978-3-88476-785-6(Klausener Studien 1)

Die ehemalige Klosterbibliothek der Augustiner Chorherren inEberhardsklausen (heute Klausen im Landkreis Bernkastel-Wittlich) war im ausgehenden Mittelalter eine der größten desErzbistums Trier. Die Chorherren gehörten der WindesheimerKongregation an, welche der monastischen Reformbewegung der„Devotio moderna“ verpflichtet war, in deren Klöstern die wich-tigste Form meditativer Arbeit das Abschreiben von Büchern war.Als das Kloster im Jahr 1802 durch die französische Regierungaufgelöst wurde, verbrachte man die damals vorhandenen Bücherzum größten Teil nach Trier in die dortige Stadtbibliothek, wo sieseither aufbewahrt werden. Es handelt sich um genau 200 Hand-schriften sowie eine Vielzahl früher Druckwerke aus dem 15. und16. Jahrhundert. Der in Klausen verbliebene Restbestand wurde

in der Folgezeit durch Nachlässe der Klausener Pfarrer und ande-rer Kleriker vermehrt und umfasst heute ungefähr 2.000 Bändeaus dem 15. bis 20. Jahrhundert. Von 1995 an wurde der im späten 15. Jahrhundert erbaute, mit spätgotischen Wandmalerei-en geschmückte Bibliotheksraum vom Landesamt für Denkmal-pflege Rheinland-Pfalz restauriert und konnte im Januar 2006 sei-ner ursprünglichen Bestimmung wieder zugeführt und derÖffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zum Erhalt des Rau-mes hat sich ein „Freundeskreis der alten Klosterbibliothek derAugustiner Chorherren in Klausen“ zusammengeschlossen. Umdie Geschichte des alten Klosters Eberhardsklausen und seinerBibliothek in Editionen und Monographien dem wissenschaftli-chen, aber auch darüber hinaus einem weiteren Publikumbekannt zu machen, wurde im Auftrag des „Freundeskreises“ diePublikationsreihe der „Klausener Studien“ ins Leben gerufen,deren erster Band, „Ein Eberhardsklausener Arzneibuch aus dem15. Jahrhundert“, hier vorzustellen ist.

Das Buch bietet in seinem Hauptteil einen vollständigen buch-stabengetreuen Abdruck von Hs. 1025/1944 8° der Stadtbiblio-thek Trier, einer aus der Eberhardsklausener Klosterbibliothekstammenden, im 15. Jahrhundert niedergeschriebenen Sammlungvon Medizinaltexten, die im Wesentlichen auf Autoren des 13. Jahrhunderts zurückgehen. Als Vorrede dient ein kurzes Lehr-gedicht der Physiognomie („Gedihte von physenomie“), die aus-gehend von der Temperamentenlehre behandelt wird; in die dar-auf folgende eigentliche Arzneibuch-Kompilation sind eingegan-gen der „deutsche Macer“, größere Teile der „Practica“ Ortolfsvon Baierland, ein Aderlasstraktat, ein Harntraktat und eineRezeptsammlung, wobei die beiden letztgenannten auf demthüringischen „Bartholomäus“ beruhen. Eine Besonderheit derHandschrift liegt darin, dass der Standardtext des „Macer“ um 66Pflanzenbeschreibungen erweitert ist, die zusammen eine vonBernhard Schnell und William Crossgrove so genannte „Rheini-sche Kräuterbuchkompilation“ ausmachen, von der bislang achtTextzeugen bekannt sind, die aber noch nicht näher erforscht istund die hier, im Rahmen des Eberhardsklausener Arzneibuches,erstmals abgedruckt wird. – Insgesamt ergibt sich das Bild einertypischen medizinischen Gebrauchshandschrift des späten Mittel-alters. Die gereimte Vorrede, mit der sich das Arzneibuch in dieTradition des „deutschen Macer“ und Konrad von Megenbergs„deutscher Sphaera“ stellt, zeigt deutlich, wie in jener Zeit (undnoch lange danach) natur- und heilkundliches Schrifttum als einevon anderen nicht wesentlich verschiedene Art von Literatur ver-standen wurde. Welcher Gebrauchswert einer solchen Hand-schrift eignete, ist nicht leicht zu sagen. Die im Arzneibuch ange-gebenen Rezepte sind – dasselbe gilt übrigens für die mittelalter-lichen Kochbücher – sehr ungenau und oft genug mit beträcht-licher Varianz überliefert; darüber hinaus fehlen detaillierteMengenangaben der zu verwendenden Substanzen. Trotz Ansät-zen zu einer benutzerfreundlichen Anordnung nach dem Schema„a capite ad calcem“ sowie teilalphabetischer Reihenfolge derPflanzenbeschreibungen hat es daher keinesfalls als Lehrbuchgedient, sondern vielleicht als eine Art Memorierbuch für denFachmann, der sich das Fehlende aus seiner Erfahrung ergänzenkonnte.

In der ausführlichen, dabei klar gegliederten Einleitung wirddie Handschrift beschrieben, ihre Geschichte, soweit sie ermitteltwerden konnte, dargestellt, ihr Inhalt referiert und in den litera-turgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet, schließlich dieRichtlinien dargelegt, nach denen die vorliegende Edition gear-beitet ist. Die sprachliche Untersuchung (S. XXI-XXXV) zeigtzweifelsfrei, dass die Handschrift im moselfränkischen Dialektge-biet geschrieben wurde; vereinzelte Abweichungen von diesemBefund können als Rückstände hochdeutscher Vorstufen erklärtwerden. Aufgrund paläographischer, sprachlicher und histori-scher Indizien ist es wahrscheinlich, dass die Handschrift in Klau-sen entstanden ist (S. XXXV f.).

Der Text des Arzneibuches wird von den Herausgebern durchvielfältige hilfreiche Beigaben erschlossen, von denen zunächstdie zahlreichen Anmerkungen zu nennen sind, die botanischesowie Sacherklärungen liefern und verderbte Stellen der Eber-hardsklausener Handschrift durch den Vergleich mit der Parallel-

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überlieferung überhaupt erst verständlich machen. Auf den Text-abdruck folgt des Weiteren ein Glossar der heilkundlichen Fach-ausdrücke und Idiotismen (S. 161-188) – dieses hätte angesichtsder buchstabengetreuen Wiedergabe der Handschrift, die dieLektüre selbst Lesern mit guten Mittelhochdeutsch-Kenntnissennicht ganz leicht macht, etwas ausführlicher sein dürfen – sowiedrei Anhänge, enthaltend 1. „Kurzbiographien der im Arzneibucherwähnten ärztlichen Autoritäten“, 2. eine „Liste der im Arznei-buch genannten Heilpflanzen“ mit deren botanischen Namen undden Stellenangaben ihres Vorkommens, 3. eine „Konkordanz zumEberhardsklausener Arzneibuch“, mit deren Hilfe die im Arznei-buch kompilierten Texte mit der Parallelüberlieferung verglichenwerden können. Den Band beschließt ein Verzeichnis der „Quel-len und Literatur“.

Wenige Versehen sind aufgefallen: S. XXIX Z. 25 muss es statt„Langvokal /i:/“ heißen: „Kurzvokal /i/“; davor Z. 22 ist das Bei-spiel „ziechen (79,13)“ nicht einschlägig, da eine Verschreibungvon „zeichen“ bzw. „zeychen“ und keine Dehnung von mittel-hochdeutsch /i/ vorliegt (einschlägig ist z. B. das S. XXX Z. 5angeführte „bieden“, das mhd. „biten“ entspricht). S. 12 Z. 2 lies„Diese“. S. 99 Z. 20 „geylen“ meint nicht Galle, wie in Anm. 446angegeben ist, sondern die Hoden (vgl. Lexer, Mhd. Wb. 1,796).S. 206 Z. 12 sind die Siglen Br und Gr zu streichen. Im Literatur-verzeichnis ist auf S. 229 zu ergänzen Georg Kriesten: Über einedeutsche Übersetzung des Pseudo-Aristotelischen „Secretumsecretorum“ aus dem 13. Jahrhundert. Diss. phil. Berlin 1907(zitiert S. XXXVIII Anm. 53).

Es ist zu hoffen, dass dem schönen Eröffnungsband noch vieleweitere folgen mögen, so dass die „Klausener Studien“ einmal einrepräsentatives Bild des alten Klosters Eberhardsklausen ergebenwerden.

Trier Nils Bohnert

Gerhard von Scharnhorst. Private und dienstli-che Schriften. Band 3: Lehrer, Artillerist, Wegbereiter(Preußen 1801-1804). Hrsg. von Johannes Kunisch inVerbindung mit Michael Sikora. Bearb. von TilmanStieve. Böhlau Verlag, Köln-Weimar-Wien 2005. XXIV,777 S., geb. 99,- €. ISBN 978-3-412-25005-8(Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kul-turbesitz, Bd. 52,3)

Rechtzeitig zur 250. Wiederkehr des Geburtstages von Scharn-horst (12. November 2005) und zum 50-jährigen Bestehen derBundeswehr konnte der dritte Band der kritischen Ausgabe derSchriften dieses großen Militärs vorgelegt werden. Er umfasst dieZeit von seinem Eintritt in den preußischen Dienst im Frühjahr1801 bis zur Versetzung in den Generalquartiermeisterstab imFrühjahr 1804.

Wie in der Zeit vor dem 1. Koalitionskrieg in Hannover lagauch in Berlin für Scharnhorst die Haupttätigkeit bis 1804zunächst im Lehramt. Doch in vielem war er gegenüber Kurhan-nover zurückgeworfen. Dort war er ein angesehener Offizier,Generalquartiermeister und besaß das Vertrauen der ranghöchs-ten Militärs, des Grafen Wallmoden und des Herzogs von Cam-bridge. Er hatte mit einer „neuen Fechtweise“ und größererBeweglichkeit Neuerungen eingeführt, die in Preußen noch fremdwaren. Hier stand er vor einem Neuanfang. Unterricht für jungeOffiziere und Garnisonalltag bestimmten sein Leben. Dem Miss-trauen, das man ihm entgegenbrachte und manchen persönlichenRivalitäten versuchte er zu begegnen mit dem „Willen jedem gutzu sein“...und sich „zu keiner Partei zu schlagen“, was keines-wegs immer gelang. Aber als Direktor der neuen „Lehranstalt fürjunge Infanterie- und Kavallerie-Offiziere in den militärischenWissenschaften“, die im Wesentlichen der Ausbildung und Selek-tion künftiger Generalstabsoffiziere diente, konnte er in einer Son-derstellung doch die Basis für seine künftige Karriere finden. Mitdem in Hannover erschienenen Neuen militärischen Journal, das erin Berlin fortsetzte, wandte er sich an das militärische Fachpubli-kum. Vor allen aber erwies sich die „Militärische Gesellschaft“ alsideales Forum für ihn. Er wurde bereits zur ersten formellen Sit-

zung eingeladen und zum Direktor gewählt. Später konnte er denGeneral Rüchel als Präsidenten gewinnen. Unter seiner Leitungwurden hier auf hohem Niveau formlos die verschiedensten mili-tärischen und historisch-politischen Fragen diskutiert. Durch dieAufnahme korrespondierender Mitglieder, die Herausgabe der„Denkwürdigkeiten“ und die Auslobung von Preisaufgaben ver-band die Gesellschaft Offiziere aus dem ganzen Königreich. Einzweiter Gesprächskreis höherer Offiziere bildete sich in Potsdam.Hier konnte Scharnhorst u. a. sein Konzept der Offizierausbil-dung zur Diskussion stellen. In diesen Jahren entstand eine Fülleteilweise sehr umfangreicher Denkschriften zur Heeresreform,manche davon nur zu dem Zweck, einflussreichen Personen seineIdeen zu vermitteln, und Unterrichtstexte über die Artillerie, mili-tärische Bildung und Grundsätze der Kriegsführung u. a. Im Offi-zierunterricht verlangte er, mehr auf Gründlichkeit als Menge desErlernten zu achten, historische Beispiele statt abstrakter Regeln,intensive Vorbereitung des Unterrichts und aktive Teilnahme derSchüler.

Persönliche Lebensumstände treten hinter den vielfachenmilitärischen Aktivitäten zurück. Private Briefe, Lieferscheine,Rechnungen, Quittungen sind nur sehr wenige erhalten. DasZusammenleben in Berlin erübrigte eine Korrespondenz mit derEhefrau. Die Briefwechsel mit Geschwistern und Schwägern sindweitgehend verloren gegangen. Briefe des Freundes und Mither-ausgebers des „Neuen militärischen Journals“ Johann Friedrich v. d. Decken sind erst ab Juli 1803 nach dessen Emigration nachEngland erhalten.

Die Zusammensetzung der Überlieferung spiegelt sich in derKomposition des Bandes. Es überwiegen Entwürfe und Aufzeich-nungen, die nur selten datiert sind. Die systematischen Abschnit-te gewinnen dadurch gegenüber der chronologischen Dokumen-tation stark an Gewicht. Das Material wurde in diesem Band des-halb auch nicht weiter untergegliedert. „Artillerieoffizier undLehrer Mai 1801 - März 1804“ lautet der Titel des einzigen Ober-abschnitts und umreißt damit das Leben und Wirken Scharn-horsts in dieser Zeit.

Vorlesungsnachschriften sind erstmals in vollem Umfang ver-öffentlicht. Sie dokumentieren das didaktische Anliegen und dasBemühen um allgemeine Systematisierung der Taktik. Zumeistsind sie von fremder Hand, auch von Clausewitz, manche erstJahre später angefertigt oder redigiert. Auch einige Denkschriftenund andere Dokumente sind nach Verlust der Originale im 2. Weltkrieg nur noch als ältere Editionen oder in Kopien erhal-ten. Wertvoll waren dafür vor allem Abschriften von GerhardOestreich (Nr. 16, 59 f., 35, 47 u. a.) und Kopien des FotografenRehse (Nr. 35). Ihre Zahl macht die Größe der Verluste deutlich,die mit der Vernichtung des Militärarchivs entstanden sind. Wiebei den ersten beiden Bänden waren die Bearbeiter bestrebt, diearchivalische Überlieferung so vollständig wie nur irgend mög-lich zu erfassen, die vielen undatierten Stücke in ihren Zusam-menhang einzuordnen und zu kommentieren. Allein die erfor-derlichen Archivrecherchen verdienen größte Anerkennung. Wiedie vorhergehenden Bände enthält auch dieser im AnhangLebensläufe einiger Menschen um Scharnhorst sowie ein sehrnützliches Glossar militärischer und ziviler Fachbegriffe. Perso-nen-, Formationen- und Sachindex erleichtern die Benutzung.

Es zeugt nicht gerade von besonderem Geschichts- und Tradi-tionsbewusstsein, wenn das Bundesministerium für Verteidigungnach langjähriger Förderung nun für diese Arbeit keine Mittelmehr erübrigen kann. Die Weiterführung der Edition wurdeermöglicht durch die Gerda-Henckel-Stiftung in Düsseldorf.

Münster Hans-Joachim Behr

Handlungsstrategien für Kommunalarchive imdigitalen Zeitalter. Beiträge zu einem Workshop imRathaus Oberhausen. Red.: Peter Worm. Landschafts-verband Westfalen-Lippe – Westfälisches Archivamt –,Münster 2006. 94 S., brosch. 5,- €. ISBN 3-936258-06-6(Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 19)

Der Tagungsband versammelt eine Reihe von Referaten, die Neu-

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EinsteigerInnen in das Thema einen guten Überblick verschaffenund vor allem: Mut machen, die Herausforderung anzugehen.

Einleitend berichtet Madeleine Terschüren vom Kommuna-len Rechenzentrum Niederrhein (KRZN) über ihre Erfahrungenaus zahlreichen Archivierungsprojekten, bei denen das KRZN alsDienstleister und Partner Lösungen erarbeitete. Über die Schwie-rigkeiten, in kommunalen Spitzengremien klare Anforderungenzur digitalen Archivierung zu verankern, referiert Marco Kuhnvom Landkreistag Nordrhein-Westfalen. Bei voller inhaltlicherZustimmung wurde die Wirkung eines solchen Positionspapiersals Kosten treibender Standard befürchtet. Immerhin stieß diegemeinsame Handlungsempfehlung auf breite Akzeptanz in denVerwaltungen und erleichtert damit den Archiven die Überzeu-gungsarbeit.

Am Beispiel der Stadt Münster berichtet Anja Gussek-Rever-mann, Stadtarchiv Münster, über ihre archivische Vorfeldarbeit.Aus den Defiziten der bestehenden, wenig effizienten Schriftgut-verwaltung und Informationsversorgung zog die AG „DigitaleArchivierung“ den Schluss, erst Lösungen für den organisatori-schen Rahmen zu erarbeiten, ehe mit der technischen Umsetzungbegonnen wird. Das ambitioniert begonnene Projekt eines digita-len Pressearchivs scheiterte, wie andernorts auch, an der fehlen-den Zustimmung der örtlichen Verleger (S. 34). Immerhin kanndas Archiv für sich verbuchen, zukunftsträchtige Kontakte in dieVerwaltung hinein aufgebaut zu haben.

Eine kenntnisreiche Übersicht über die Bewertung digitalerUnterlagen bietet Thekla Kluttig vom Hauptstaatsarchiv Dres-den. Ausgehend von der Definition der unterschiedlichen Quellen-arten (Datenbanken, Elektronische Publikationen, ElektronischeAkten, Geoinformationssysteme sowie Inter- bzw. Intranetseiten)führt sie die Problematiken und Lösungsansätze der Bewertungdieser Unterlagen auf. Die bewährten Grundsätze archivischerBewertung müssen ergänzt werden um die Dokumentation desVerfahrens und um Lösung für die „Archivfähigkeit“ des Materi-als. Das Beispiel der Bestandsaufnahme des Stadtarchivs Stuttgartzeigt darüber hinaus, dass viele Fachverfahren keine archivwür-digen Unterlagen produzieren. Offen sind auch noch Lösungen fürArchivschnitte bei laufend aktualisierten Datenbanken.

Eine hilfreiche Schneise im stets anwachsenden Schrifttum zurelektronischen Archivierung liefert Hans-Werner Langbrandt-ner vom Rheinischen Archiv- und Museumsamt in Pulheim. Her-vorgehoben seien hier der KGSt-Bericht 3/2002 „Schriftgutver-waltung auf dem Weg zum digitalen Dokument“, das Erweite-rungsmodul „Aussonderung und Archivierung elektronischerAkten“ im Rahmen des DOMEA-Konzepts der KBSt vom Septem-ber 2004 sowie die „Gesamtschweizerische Strategie zur dauer-haften Archivierung von Unterlagen aus elektronischen Syste-men“ (2002) und die 2005 vom ICA herausgegebene Übersicht„Electronic Records - a Workbook für Archivists“.

Hilfreich ist auch die Übersicht „Das neue DOMEA-Konzept– Ein Standard und die Praxis“ von Barbara Hoen, die eineknappe Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen desDOMEA-Konzepts sowie des Aussonderungs- und Archivie-rungskonzepts verknüpft mit den behördlichen Problemlagenund Anforderungen. Für die Praxis verweist sie auf den Vorteil,dass zentrale archivische Anforderungen in einem bundesweitenStandard der öffentlichen Verwaltung verankert sind, der breiteAkzeptanz genießt.

Bert Thissen vom Stadtarchiv Kleve referiert über neue Ent-wicklungen zur digitalen Archivierung aus dem niederländischenArchivwesen, besonders über den niederländischen Software-Standard ReMANO 2004, dem es nicht nur gelingt, eine Synthe-se der bestehenden Konzepte und Modelle (MoReq, DOMEA, ISO15 489 und DoD 5015) zu erstellen, sondern damit auch eine Zer-tifizierung zu bieten. Interessant ist auch das Projekt e-Depot desRotterdamer Gemeindearchivs und der Archiefschool, vor allemin der Kombination mit der Kostenkalkulation des NationaalArchiefs.

Deutlichen Gebrauchswert verspricht auch die Übersicht vonPeter Worm vom Westfälischen Archivamt über Migration undStandardformate für die digitale Überlieferung. Kurz vorgestelltwerden die vier grundsätzlich denkbaren Strategien, gipfelnd in

der derzeit favorisierten Strategie der Standardformate undMigration. Worm gelingt dann ein knapper, zusammenfassenderÜberblick über die denkbaren Formate bis hin zur neuen Alter-native PDF/A.

„Warum, wann und wie – drei Fragen zur elektronischenArchivierung“ stellt Christian Keitel vom Landesarchiv Baden-Württemberg vor dem Hintergrund der Archivierungsstrategiedes Landesarchivs und der ersten erfolgreichen Projekte. SeineAntworten auf die oben genannten Fragen gipfeln in einem Fazit,das den gesamten Band krönt und als ermunternde Aufforderungverstanden werden sollte: „8. Machen Sie praktische Erfahrun-gen“.

Mannheim Christoph Popp

100 Jahre Stadtarchiv Oldenburg 1903-2003. Hrsg.von der Stadt Oldenburg. Red.: Claus Ahrens, Katha-rina Hoffmann, Joachim Schrape. Isensee Verlag,Oldenburg 2004. 144 S., 26 s/w Abb., brosch. 10,- €.ISBN 978-3-89995-159-2(Veröffentlichungen des Stadtarchivs Oldenburg Bd. 6)

„Bewahren, was der städtischen Freiheit und Ordnung dient.Akten und Archiv der Stadt Oldenburg bis 1800“, so leitet Rüdi-ger Sander diese Publikation über das Stadtarchiv der Stadt ander Hunte ein. 1345 kam es zur schriftlichen Fixierung ihrer Stadt-rechte. Die betreffende Urkunde ist daher der Stolz des Stadtar-chivs. Dennoch ist die Oldenburger Archivgeschichte nicht grad-linig verlaufen, und der Leser empfindet es als sehr berechtigt,dass man sich mit dieser Jubiläumsveröffentlichung zu Wort mel-det. 1903 bezog das Archiv zum ersten Mal eigene Räume, muss-te aber seitdem neunmal das Quartier wechseln, auch hatte esunter Kriegsschäden zu leiden. Die Odyssee der heute 1,2 Regal-meter umfassenden Bestände kam erst 1962 zu einem Ende, alsdie Archivalien aufgrund eines Depositalvertrags (1998 erneuert)mit dem 1959-1964 erweiterten Niedersächsischen StaatsarchivOldenburg in dessen Räumlichkeiten aufgenommen wurden. Seit1980 untersteht es eigener Leitung. Die Benutzung findet imgemeinsamen Lesesaal statt (mit dem günstigen Synergieeffekt:Einsicht in Akten staatlicher und kommunaler Provenienz zumselben Forschungsgegenstand am selben Ort). Rüdiger Sanderbeleuchtet im ersten der insgesamt zwölf Aufsätze die Zeit bis1800, Cord Eberspächer untersucht die Aktenführung in derStadt Oldenburg im 19. Jh. und Joachim Tautz beschreibt ein-drucksvoll Entwicklung und „Wanderleben“ des Archivs seit sei-ner Verwahrung in der „Kamer“, dem Sitzungssaal des Rathau-ses, über die Registratur des 16. Jhs. bis hin zu den ersten genaue-ren Inventaren im 18. Jh. sowie seine wechselnde Unterbringung.Joachim Schrape stellt die Oldenburger Stadtarchivare vor (1905-1956) und weist auf den Urkundenschatz des Archivs hin. Mat-thias Nistal gibt wünschenswerte Informationen über seinenLagerungsort, nämlich das Staatsarchiv Oldenburg. Im zweitenTeil der Veröffentlichung geht es um Eigentümlichkeiten, wie sievielleicht besonders ein Kommunalarchiv auszeichnen: KlausSaul fasst die Überlegungen und Wünsche eines Neuzeithistori-kers unter dem Titel „Lokale Archive und akademischeGeschichtswissenschaft“ zusammen und zeigt zwar Verständnisfür die Problematik archivischer Bewertung einerseits, zählt aberandererseits die Wünsche des Historikers auf, auch zeitgeschicht-liche Sammlungen, Flugblätter, Zeitungsausschnittsammlungensowie Tonbänder und Videoaufnahmen von Zeitzeugen und vie-les mehr vorfinden zu wollen. Er wünscht sich als Universitätshis-toriker, dass die Archivare beim Kassieren „Fantasie und Sensibi-lität“ zeigen, „welche Entwicklungen in der Zukunft das Interes-se der historischen Forschung finden werden“ (S. 99), ein fastübermenschlicher Anspruch! Wie viel wiederum auch Quellenbieten, zeigt der Beitrag von Friedrich Wißmann zur Bedeutungvon Stadtarchiven für die Darstellung der Geschichte des Bil-dungswesens. Katharina Hoffmann stellt das Stadtarchiv als For-schungs- und Lernort für alle historisch Interessierten vor undfügt einen gut verwendbaren Spickzettel zur Vorbereitung desArchivbesuchs und Auswertung des Materials (S. 123 f.) bei.

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Grenzen und Möglichkeiten des Archivs, im heutigen World WideWeb seinen Platz zu finden und sein Angebot effektiv zu präsen-tieren, demonstrieren die Beiträge von Friedrich Scheele überdas schwierige Verhältnis von Kunstproduktion, Dokumentationund Digitalisierung sowie von Katharina Hoffmann/ClausAhrens (Stadtarchiv „goes Internet“). Den Abschluss macht einGedankenspiel von Erich Böhme, in dem er Überlegungenanstellt, ob die kommunalen Archive nicht vielleicht auch alsGewinner der Verwaltungsstrukturreform angesehen werdenkönnen, da sie sich nicht länger mit der Defensive zufrieden gebenmüssen, sondern auch aggressiv ihre Angebote der Öffentlichkeitnahe bringen, die Archivarbeit zielgerichteter gestalten und ihreKenntnisse und Fähigkeiten bei der Beantwortung der neuen Fra-gen im Zusammenhang der EDV einbringen können. Die Veröf-fentlichung ist also einerseits eine ansprechende Visitenkarte desOldenburger Stadtarchivs (freilich hätte man noch etwas ausführ-lichere Informationen zu den Beständen erwartet), andererseitsbietet sie wichtige archivpolitische Anregungen.

Lübeck Antjekathrin Graßmann

Jaarboek Stichting Archiefpublicaties. 2002/2003:Archiefgebruikers. Consumenten van het verleden.Red.: Theo Thomassen. Stichting Archiefpublicaties,´s-Gravenhage 2004. 243 S., kart. 23,50,- €. ISBN 90-71251-20-9. 2004: Selectie. Waardering, selectie en acqui-sitie van archieven. Endred.: Paul Brood. StichtingArchiefpublicaties, ´s-Gravenhage 2005. 240 S., 24,- €.ISBN 90-71251-23-3

Der Nutzer von Archiven ist in den vergangenen Jahren verstärktins Bewusstsein der Archivare gedrungen. Das sollte eigentlichschon immer der Fall gewesen sein, war es aber nicht, wie man jaaus eigener Erfahrung als Forscher und Archivbesucher mituntererfahren musste. Nun sind selbstbewusste Bürger der Verwaltungdurchaus hilfreich. Das Jahrbuch 2002/2003 der niederländischen„Stiftung Archivpublikationen“ bietet dazu einiges an Anregun-gen und Diskussions- wie Kritikwürdigem, wenn es über„Archivnutzer – Konsumenten der Vergangenheit“ berichtet.Irritierend, ja irreführend ist allerdings die Kennzeichnung derNutzer als „Konsumenten“, also Verbraucher eines „Produkts“,nämlich der Archive. Diese aus Handel und Wandel entnomme-ne Terminologie wäre vielleicht stimmig, wenn Archive in der Tatkommerziell tätig wären und gewinnorientiert handelten. Das tunsie nicht, und auch die Bereitschaft, Geld für archivische Dienst-leistungen zu bezahlen, ist recht beschränkt, wie Robert vanVuuren in diesem Buch mit Blick auf das Delfter Kommunalar-chiv feststellt.

Gewiss: Archive können und dürfen sich nicht dem Druck zuvermehrter Kundenfreundlichkeit widersetzen, schon aus urei-genstem Interesse an ihrer Erhaltung. Andere Einrichtungen, sodie Museen in unserem Nachbarland, sind hier früher und syste-matisch auf Besucherwünsche eingegangen, wie Jan Sas zuberichten weiß. „Museen müssen den Besuchern auf eine ange-nehme Weise ein Qualitätsprodukt liefern in einer Umgebung, dieüberdies noch Qualität ausstrahlt.“ Daran mag nicht zu zweifelnsein. Sas nennt bewusst das Klischee vom gerade für Jugendlichelangweiligen Museum, „dass sich beschränkt auf das Ausstellenvon Gegenständen in Vitrinen“. Vielleicht sollte man seine neuenBesucher nicht nur im Schnellrestaurant suchen. Man erfährt, dassheute Museen Ausstellungen „auf einem stets höheren Niveau“erarbeiten – sicher stimmt das für die Vermarktung. Da dürfteGunther von Hagens‘ Leichengruselshow gewiss kaum zu über-treffen sein. Ein Vorbild für uns? Immerhin erreicht er viele undsehr unterschiedliche Menschen.

In Zeiten knapper Mittel wäre ein Sparen an Bildungsmaßnah-men der Archive fatal. Auch dem Lesesaalmitarbeiter lässt sicheine andere Rolle als die eines Zerberus zudienen, wie Christianvan der Ven und Joost Salverda im Hinblick auf zwei kleine-re Kommunalarchive in Waalwijk und Zutphen darlegen. Die bis-weilen große Unkenntnis selbst erfahrener Genealogen, einer

wichtigen Besuchergruppe, über ihre Vorgehensweise bietet denArchivmitarbeitern die Möglichkeit, im Lesesaal als „Navigator“durch Quellen und Findmittel aktiv Hilfestellung zu leisten. Obdazu auch Assistenz beim Lesen alter Schrift (wie für Zutpheneinmal erwartet) zum Tagesgeschäft gehört, mag jeder für sichselbst entscheiden – niemand aber wünscht vom Bademeister,dass er den Besuchern das Schwimmen beibringt. Angesichts derPersonalknappheit, die auch in den Niederlanden das Archivwe-sen kennzeichnet, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass diesesallen Nutzerwünschen gleichermaßen willfahren kann. Je mehrdas Augenmerk auf neue Besuchergruppen gerichtet wird, umsogeringer wird wohl der Prozentsatz der selbständigen Nutzer,umso stärker vertreten sind die „grasduiners“ – Leute, die, wennsie nicht müßig in den Grasdünen liegen, ohne besonderen Grundin Archiven oder Bibliotheken herumirren: mit Blick auf dasNationaal Archief stellt Marthe G. Tholen fest, dass diese nichtsonderlich beliebt beim Archivpersonal seien, da sie viel Auf-merksamkeit erforderten. Allerdings können selbst diese Leute zuden Multiplikatoren gerechnet werden, und als eine Besucher-gruppe unter vielen sollte sie „vielleicht nicht Priorität bekom-men, aber auch nicht vernachlässigt werden dürfen“.

Nichts spricht gegen Kundenorientierung und -befragungen,gegen Selbstkritik und Servicementalität als institutionalisierteSelbstverständlichkeit. Zufriedene Nutzer machen überdies mehrFreude als unzufriedene, auf Dauer sichern sie dabei auchArbeitsplätze. Neben vielen intelligenten Berichten über denbeachtlichen Ideenreichtum hinsichtlich der Nutzeranalyse oder-behandlung fällt an einigen Stellen doch die Bemühung mancherAutoren auf, den von McKinsey etc. bekannten Jargon zu adap-tieren. Die Popularisierung von Archiven findet allerdings ihrenHalt, wo sie Schaden stiften könnte, etwa bei der Seriosität derangebotenen Dienstleistung. Dem Trend zu „Informationserleb-nissen“ erteilt Theo Thomassen in seiner Einleitung zu diesemBand eine deutliche Absage. Nicht alle Verfasser tun es ihm nach-folgend in solcher Entschiedenheit gleich.

Auch das theoretischer umgesetzte Thema des Jahrbuchs von2004, „Bewertung, Auswahl und Übernahme von Beständen“,streift den Gegenstand der Publikumsorientierung. Auswahl undinsbesondere Vernichtung von Schriftgut war seit der Entwick-lung des modernen Archivwesens in den Niederlanden langekaum eine Tätigkeit, die Archivare ausübten, wie Noor Schreu-der berichtet. Waren die Historiker-Archivare zunächst mit derSicherung des Erbes der Zeit vor 1813 beschäftigt, entwickelte sichdie Auseinandersetzung mit Vernichtungsfragen fort, je mehr dieArchivlehre sich von der Geschichtswissenschaft weg entwickel-te. Früher als viele andere Staaten hatten die Niederlande seit 1919ein Archivgesetz, das auch den Beginn systematischer Vernich-tung darstellte, die seit Ende der 30er Jahre zunehmend harmo-nisiert und institutionalisiert wurde. Marksteine jüngeren Datumssind die „Handleiding voor selectie en vernietiging van archief-bescheiden“ von 1985 und die PIVOT-Methode, die in den 90erJahren Einzug hielt. Letztere orientiert sich nicht mehr an Schrift-guttypen, sondern Aufgaben der Behörden, um den enormenRückstand an unbewertetem Material in den Griff zu bekommen.Die Enthistorisierung des niederländischen Archivwesens warnicht nur diesem Teilbereich des Archivwesens offenkundig sospürbar, dass seit den 1990ern Historiker nach verstärkter Berück-sichtigung kultureller Werte bei der Auswahl von Unterlagenriefen. Paul Klep, selbst Historiker, legt dies in seinem Beitrag indem Band dar. Mit der Etablierung einer Historisch Maatschap-pelijke Analyse (historisch-gesellschaftliche Analyse, HMA)neben einer Archief Analyse (AA) trägt das Nationaal Archief inDen Haag den Forderungen nach verstärkter Berücksichtigunghistorisch-gesellschaftlicher Umstände bei Bewertungen Rech-nung. Letzteres besitzt seit 1995 ein Übernahmeprofil (acquisitie-profiel) für nicht-behördliche Unterlagen (die Übernahme behörd-lichen Schriftguts ist gesetzlich weitgehend geregelt), über dasNico van Egmond berichtet. Damit steht es in den Niederlan-den keineswegs allein da. Ob sich Kriterien für Bewertung undÜbernahme freilich so sehr objektivieren lassen, wie Peter Hors-man das unter anderem mit Blick auf das international geführteInterPARES-Projekt beschreibt, bleibt abzuwarten. Das hohe Maß

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an Fachkenntnis für Bewertung aus Auswahl sei nach Horsman„vielleicht weniger personengebunden als Literatur und Praxisdies suggerieren“. Fest steht, dass auf eine Formalisierung derBewertungstätigkeit gerade im Hinblick auf die Unzahl elektro-nischer Daten nicht verzichtet werden kann. Ein Zusammenhangvon einerseits Übernahme, Erschließungstiefe und andererseitsder zu erwartenden Benutzungsfrequenz eines Bestands hätte voreinigen Jahren nicht nur hierzulande für viel Empörung gesorgt.Rückstände, Effizienzdruck und auch der seit Einführung desPCs, spätestens seit Etablierung der E-Mails zu konstatierendeNiedergang behördlicher Registraturen lassen für manche langeeingeführten Methoden wenig Raum. Warum das so ist, dafür bie-tet das anregende Jahrbuch für 2004 viele Ideen, die auch jenseitsder holländischen Grenzen mit Gewinn gelesen werden können.

Frankfurt am Main Matthias Weber

Katalog der Leichenpredigten und sonstigerTrauerschriften in Bibliotheken, Archivenund Museen des sächsischen Vogtlandes.Bearb. von Rudolf Lenz, Gabriele Bosch, WernerHupe und Helga Petzoldt. Franz Steiner Verlag,Stuttgart 2005. XI, 236 S., kart. 36,- €. ISBN 978-3-515-08754-4(Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 41)

Der vorliegende 41. Band der Marburger Personalschriften-For-schungen ist mit 140 Seiten ein rein sächsisch-vogtländischergeworden und umfasst die im Stadtarchiv Plauen, in der Vogt-landbibliothek, im Vogtlandmuseum zu Plauen, in der Bibliothekdes Museums der Burg Mylau und im Pfarrarchiv von Mißlareuthaufbewahrten Leichenpredigten, Epicedien und Trauerlieder. ImStadtarchiv Mühltroff ist ein Konvolut mit 23 Trauerschriften alsDepositum der Heimatstuben hinterlegt, die ebenfalls Aufnahmein den Katalog gefunden haben. Erstmalig werden außerdem über300 handschriftliche Lebensläufe von Verstorbenen der Pfarr-gemeinde Rodersdorf im Amt Plauen aus der zweiten Hälfte des18. Jahrhunderts regestartig erfasst. Diese Personalia bilden inso-fern eine Ausnahme, als dass nicht nur die wohlhabende dörflicheOberschicht oder Adelige im Mittelpunkt der Leichenreden ste-hen, sondern ganz bewusst die gesamte dörfliche Bevölkerungeinbezogen ist. Da die Texte einem ähnlichen Aufbauschema wieder klassischen Leichenpredigt folgen, in dem sie eingeteilt sindnach Geburt, Taufe, Erziehung, Beruf, Ehe und Nachkommen,Krankheit, Vorbereitung auf den Tod und Ende sowie meistbegleitet werden von einer Charakteristik des Verstorbenen odergedichtartigen Trauersprüchen, ist ihre Aufnahme in den Katalog-band gerechtfertigt. Sie dürften mehrheitlich aus der Feder desstudierten Theologen und Pfarrers Karl Heinrich Trommler stam-men, der von 1753 bis 1780 dort wirkte und in August SchumannsVollständigem Staats-, Post- und Zeitungslexikon von Sachsen,Bd. 9, S. 312 von 1822 als gelehrter Mann und theologischerSchriftsteller betitelt wurde. Problematisch ist in diesem Zusam-menhang für die Katalogbearbeiter die unterschiedliche Schreib-weise der Familiennamen gewesen. Da es keine festgeschriebenenFamiliennamenformen gab und diese variierten, haben sie dieseaus der Quelle übernommen. Sinnvoller wäre es gewesen, sich aufeine Grundform festzulegen und dann mit Verweisen zu arbeiten.Nur so können Familienzusammenhänge auch sichtbar gemachtwerden.

In den Vorbemerkungen von Rudolf Lenz werden einigegedruckte Leichenpredigten besonders angemerkt, z. B. zu demgelehrten Bauern und Astronom Nicolaus Schmid gen. Cüntzel(1606-1671) aus Rothenacker im Vogtland, der sich autodidaktischmit der Sternenkunde und der Kalendermacherei beschäftigteund hohes Ansehen genoss. Eine Kopie der Leichenpredigt befin-det sich im Pfarrarchiv in Mißlareuth. Mit Hilfe des Gesamtkata-loges der Personalschriften- und Leichenpredigtensammlungenim Staatsarchiv Leipzig, Abt. Deutsche Zentralstelle für Genealo-gie können weitere Fundstellen für diese gedruckte Leichenpre-digt ergänzt werden: Württembergische Landesbibliothek Stutt-gart, Sign. 15513; ULB Sachsen-Anhalt in Halle (Saale), Sign. Zc

8/2290; Bibliothek des Landeskirchlichen Archivs Bayerns,Pfannenstiel’sche Bibliothek Weiden, Sign. 254/22.

Insgesamt präsentieren die 493 Leichenpredigten und sonsti-gen Trauerschriften des anzuzeigenden Katalogbandes ein mehr-heitlich vogtländisches Spektrum an Persönlichkeiten aus allenBevölkerungsschichten und bieten damit eine gute Quellenbasisfür weitergehende sozial-, literatur- oder medizingeschichtlicheForschungen. Ein umfassender Registerteil von 93 Seiten und diebewährte ausklappbare Erläuterung zu den verwendeten Siglenerleichtern dem Leser die inhaltliche Erfassung der Einträge. Daseit 1986 die aufgearbeiteten Quellen in der Forschungsstelle aucheiner Sicherungsverfilmung zugeführt werden, ist es möglich, vonallen hier genannten Leichenpredigten gegen Gebühr eine Rea-der-Print-Kopie zu erhalten.

Leipzig Martina Wermes

Kirche in Trümmern? Krieg und Zusammenbruch 1945in der Berichterstattung von Pfarrern des Bistums Würz-burg. Im Auftrag des Diözesanarchivs Würzburg hrsg.von Verena von Wiczlinski unter Mitwirkung vonPetra Ney und Verena Spinnler. Echter Verlag, Würz-burg 2005. 325 S., 22 s/w Abb., 5 Karten, geb. 19,80 €.ISBN 978-3-429-02717-9

Am 31. Mai 1945 erschien im Würzburger Diözesanblatt ein Auf-ruf an die Ortsgeistlichen; sie sollten über die Ereignisse der letz-ten Wochen – insbesondere im Hinblick auf die Kirchen und kirch-lichen Einrichtungen berichten. Für die obige Edition lagenzunächst 141 dieser Berichte katholischer Pfarrer über den Ein-marsch der US-Truppen ins Gebiet des Bistums Würzburg vor,obwohl das Bistum damals 479 Pfarrgemeinden umfasste. ImZuge der Herausgabe konnten noch 20 weitere Darstellungen auf-gefunden werden. Anscheinend sind im Bereich der bayerischen(Erz-)Bistümer nur noch in München und Freising solche Ein-marschberichte vorhanden.

Der erste Teil des vorliegenden Buchs führt – nach einemGeleit- und einem Vorwort – in das Thema ein und ist der Inter-pretation und Darstellung der Zusammenhänge gewidmet.Zunächst schildert die Herausgeberin die Überlieferungslage underläutert die Auswahl- und Bewertungskriterien für die 36 edier-ten Berichte. Ziel war es, das Kriegsende in den Pfarreien des Bis-tums zu dokumentieren, die Wahrnehmung dieses Endes nachden Erfahrungen mit dem Dritten Reich zu verdeutlichen sowiedie Denkweise der Geistlichen darzulegen. Angestrebt wurde einEinblick in die Geschehnisse in den verschiedenen Regionen desBistums. Infolge eines leseorientierten Ansatzes erhielten Dar-stellungen mit großem Informationsgehalt und erzählerischenQualitäten vor reinen Schadenslisten den Vorzug. Weiterhin er-örtert die Herausgeberin die Tendenz der Berichterstattung, dieBedeutung der Berichte und die Grundsätze sowie weitere Teileder Edition (Karten, Chronologie, Register, Datenschutz). Schließ-lich nimmt sie eine historische Einordnung vor.

Herbert Schott legt nach einem Überblick über die Lage imBezirk zu Beginn des Jahres 1945 und einer Darstellung über denLuftkrieg gegen Unterfranken detailliert den Vormarsch der US-Truppen dar. Dem traurigen Kapitel über Kriegsendeverbrechenfolgt noch ein Abschnitt über die amerikanischen Militärregierun-gen. Der Person des Bischofs Ehrenfried in Bezug auf das Jahr1945 widmet sich Wolfgang Weiß. Wesentlicher Anknüpfungs-punkt ist dabei das von Ehrenfried bereits am 3. Mai 1945 voll-endete Hirtenwort zur neuen Zeit.

Der Quellenteil beginnt mit dem Abdruck des Hirtenworts vonMatthias Ehrenfried zum verheerenden Bombenangriff der Alli-ierten auf Würzburg am 16. März 1945, worin der Bischof dieSchäden an den Kirchen der Stadt aufzählt. Es folgt der Aufrufzur Erstellung der Einmarschberichte. Danach kommen die 36 –oftmals sehr spannenden – Berichte zum Abdruck, ergänzt voneiner Liste der nicht berücksichtigten Darstellungen und einerChronologie der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsereignisseim Bistum. Abgeschlossen wird der Band von einem Abkürzungs-verzeichnis, einem Verzeichnis der Karten und Abbildungen,

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einer Auswahl an Literatur sowie einem Personen- und einemOrtsregister.

Auch wenn mancher Lokalhistoriker das Fehlen seines Ortesbedauern mag, so ist es erfreulich, dass hier Berichte über dasKriegsende kompetent herausgegeben und kommentiert wurdenund so diese Umbruchszeit dem Leser nahe gebracht wird.

Augsburg Erwin Naimer

Kreisarchiv Hildburghausen: Archivführer undÜbersicht über die Bestände. Das Tor zurGeschichte. Bearb. von Heidi Moczarski und AndreaKeiner. Hildburghausen 2004. 60 S., zahlr. farb. Abb.,brosch. Kostenlos.

Seit dem 10. 4. 2006 präsentieren sich die thüringischen Archiveüber das gemeinsame „Archivportal Thüringen“ im Internet.Erübrigen sich damit, ist man versucht zu fragen, nicht konven-tionelle Archivführer auf Papier? Eine repräsentative Befragungim Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt hat indes ergeben, dassdie Benutzer – vereinfacht gesprochen – in zwei Generationen-Gruppen zerfallen: in eine mit und eine ohne Computer. Dement-sprechend wählen diese jeweils nur einen bestimmten Zugang zuden Archivbeständen, und zwar mit einiger Konsequenz: ent-weder Computerrecherche oder Findbuchsuche, selten beides.Für kleinere Archive folgt daraus, dass diese ihrer eher älterenKlientel sehr wohl noch gedruckte Archivführer zugestehensollten.

Die südthüringische Kleinstadt Hildburghausen, von 1680 bis1826 immerhin Residenz des Duodezfürstentums Sachsen-Hild-burghausen, ist heute Sitz eines 1952 geschaffenen Kreisarchivs,das die Überlieferung der 1234 ersterwähnten Stadt und des 1868gegründeten Kreises Hildburghausen verwahrt. Dieses heutesehr modern ausgestattete Archiv im geschichtsträchtigen thürin-gisch-fränkischen Grenzraum verdient durchaus Beachtung,wobei ein gedruckter Archivführer mit Bestandsübersicht behilf-lich sein will.

Eine kurze „Einführung in die Archivbenutzung“ orientiertüber die Funktion von Archiven und paraphrasiert wesentlicheArtikel des Thüringer (nicht Thüringischen) Archivgesetzes,unterschlägt aber an dieser Stelle den wichtigen Hinweis auf diesofortige Zugänglichkeit zu den DDR-Akten, die i. d. R. eben kei-ner Schutzfrist unterliegen. Dem folgt ein „Leitfaden für Benut-zerinnen und Benutzer des Archivs“, der ein paar hilfreiche Hin-weise zum Archivbesuch allgemein enthält und damit in großerinhaltlicher Nähe zur „Einführung“ davor steht. Dann wird es zuRecht historisch. In einem vergleichsweise ausführlichen Abrisswird die Gebietsgeschichte des Landkreises, den es freilich danoch nicht gab, beginnend mit den Besiedlungsanfängen, darge-stellt, gefolgt von der „Verwaltungsgeschichte“ des 1868 geschaf-fenen Landkreises bis ins Jahr 2002 (S. 7-18). Trotz mancherstilistischer Wiederholung und sachlicher Unbeholfenheit, dienatürlich auch der notwendigen Verdichtung geschuldet ist, liestman diesen historischen Überblick mit Interesse und Gewinn.

Dann aber gehen die Kapitel unnötig durcheinander: zwischender Beschreibung der regionalen Zuständigkeit und dem „Abrissder Geschichte des Kreisarchivs“ sind das Thüringer Archivgesetzvon 1992 und die eigenen Rechtsgrundlagen wie Benutzungs-und Gebührensatzung abgedruckt.

Nun erst folgt die Übersicht über die Bestände, wobei dieStädte und Gemeinden des Landkreises extra gestellt werden. Mitgerade einmal acht Seiten fällt die Aufzählung der Beständeäußerst knapp aus und geht über die Angaben des gedruckten„Archivführers Thüringen“ von 1999 eigentlich nicht hinaus.Man erfährt z. B. nicht mehr, als dass der Bestand „Rat des Krei-ses Hildburghausen 1952 - 1990 ca. 500 lfm“ umfasst und über dieStadt Hildburghausen 18.604 Akteneinheiten für die Jahre 1323 bis1963 verwahrt werden. Diese Archivstatistik ist zwar dienstlichvon Interesse, die Benutzer erwarten anderes und vor allem mehr.Dass im Inhaltsverzeichnis gar „Stände und Gemeinden“ steht, istein wirklich ärgerlicher Druckfehler, der die ohnehin nicht ganzleichte Orientierung zu kurzzeitiger Verwirrung steigert.

Den Archivführer beschließt eine Auswahl von „Dienstleistun-gen für die Bürger“ und eine Übersicht Hildburghäuser Beständein den Staatsarchiven Thüringens und Sachsen-Anhalts. Die dortlagernden Bestände sind z. T. genauer bezeichnet als die eigenen.„Das Tor zur Geschichte“ des Kreises Hildburghausen lässt sichmit diesem Archivführer leider allenfalls halb öffnen.

Weimar Jens Riederer

Der Preußische Staatsrat 1921-1933. Ein biographi-sches Handbuch. Mit einer Dokumentation der im„Dritten Reich“ berufenen Staatsräte. Bearb. von Joa-chim Lilla. Droste Verlag, Düsseldorf 2005. 330 S., geb.59,80 €. ISBN 978-3-7700-5271-4(Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus undder politischen Parteien, Bd. 13)

Der Preußische Staatsrat war nach der Verfassung des Freistaatsvom 30. November 1920 (Art. 31–43 PrLV) ein eigenständiges Ver-fassungsorgan, das neben der Staatsregierung und dem Landtageines der drei obersten Staatsorgane darstellte. Eingerichtet wurdeer zur Vertretung der Provinzen bei der Gesetzgebung und Ver-waltung des Freistaats; er sollte ein Gegengewicht gegen dietraditionell befürchtete Allmacht des Parlaments erzeugen.

Bei der Gesetzgebung hatte das ständige, ohne Unterbrechungtagende Organ ein Initiativrecht, allerdings nur durch Vermitt-lung des Staatsministeriums (Art 40, Abs. 3), sowie ein Ein-spruchsrecht gegen vom Landtag beschlossene, jedoch noch nichtverkündete Gesetze (Art. 42). Faktisch war der Staatsrat freilichrechtlich und politisch unbedeutend – seine verfassungsmäßigeVerankerung, seine „reine Existenz“ (Hagen Schulze), bereitetengleichwohl Probleme, vor allem dem Preußischen Staatsministe-rium. Dessen Informationspflicht (Art. 40, Abs. 1) einerseits, dasAnhörungsrecht (Art. 40, Abs. 4) des Staatsrats auf dem Gebiet derVerwaltung andererseits führten ständig zu Konflikten. Währenddie oberste vollziehende und leitende Behörde des Staates ver-suchte, die Kompetenzen des Staatsrats einzuengen, ermöglichtees der Staatsrat den Vertretern der Provinzen, auf das staatlicheHandeln Einfluss zu nehmen (Art. 32), und so als Dezentralisati-onsorgan quasi das föderale Element in Staat und Verfassung zufördern.

Die Unklarheiten in der Kompetenzabgrenzung zwischenStaatsrat und Staatsministerium und die Spannungen, die auch inder unterschiedlichen parteipolitischen und personellen Zusam-mensetzung von Landtag und Staatsrat begründet waren, erfuh-ren durch die Präsidentschaft Konrad Adenauers (7.5.1921–26.4.1933) neue Nahrung. Das spannungsreiche Verhältnis zwi-schen Adenauer, dessen Partei (Zentrum) den Staatsrat bei denVerfassungsberatungen 1920 durchgesetzt hatte, und dem preu-ßischen Ministerpräsident Otto Braun (1920-1932), dessen Partei(SPD) den Staatsrat dabei nur widerwillig akzeptiert hatte, führ-te zu einer Blockadehaltung des Staatsrats. Adenauer, der dieInformationspflicht des Staatsministeriums nur als unzureichenderfüllt ansah, hatte schon 1923 eine Klage beim Staatsgerichtshofeingereicht. Da das Verfahren mit einem Vergleich endete, warendie strukturellen Probleme nicht aufgehoben, sondern nur aufge-schoben. Persönliche Animositäten führten dazu, dass Adenaueres 1933 unterließ, sich einer Klage Brauns gegen die rechtswidri-ge Auflösung des Preußischen Landtags vom 6. Februar anzu-schließen – mit der Begründung, „das Ministerium Braun (hat)sich in seiner ganzen Amtszeit gegenüber dem Staatsrat doch so unfreundlich benommen..., daß ich es nicht für angemessenhalte, als Präsident des Staatsrats ihm besondere Hilfestellung zuleisten“ (S. 17).

Die Mitglieder des Staatsrats und ihre Stellvertreter wurdenvon den Provinziallandtagen gewählt; in der Stadt Berlin wurdensie von der Stadtverordnetenversammlung, in den Hohenzollern-schen, seit 1928 Hohenzollerischen Landen, sowie in der Grenz-mark Posen-Westpreußen wurden sie von den Kommunalland-tagen bestimmt. Aus dem Regierungsbezirk Sigmaringen kamlediglich ein Delegierter, der auch nur dort durch das Mehrheits-wahlsystem ermittelt wurde, während sonst die Verhältniswahlzur Anwendung kam.

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Lillas Werk bietet auch einen Ausblick auf den Staatsrat in derNS-Zeit, wo nach der Zustimmung des NSDAP-dominiertenStaatsrats zum Ermächtigungsgesetz am 18. Mai 1933 und derBeseitigung des einschlägigen Abschnitts IV der Preußischen Lan-desverfassung im Juli 1933 der Staatsrat als Verfassungsorganbeseitigt und eine gleichnamige Körperschaft von 1933 bis 1936tagte, die aber eine andere Aufgabenstellung und Zusammen-setzung hatte, gleichwohl personelle Kontinuitäten aufwies,zeichnete sich der letzte verfassungsgemäße Staatsrat vom April1933 durch eine Zweidrittelmehrheit der NSDAP aus. Registratur,Kasse und Gebäude des bisherigen Staatsrats wurden vom Staatsministerium noch im Juli 1933 abgewickelt. Von denMitgliedern und Stellvertretern der Jahre 1921–1933 wurde einViertel durch das NS-Regime verfolgt, besonders die SPD- undKPD-Angehörigen, aber auch Mitglieder der bürgerlichen Partei-en wie der Zentrumsmann Adenauer und der NSDAP wie derPotsdamer Regierungspräsident Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen.

Joachim Lilla hat in gewohnter Sorgfalt ein materialreichesHandbuch über die Mitglieder des Staatsrats und ihrer Stellver-treter vorgelegt. Seine biographische Dokumentation umfasst 623Personen. Die 501 Mitglieder des Preußischen Staatsrats der Jahre1921-1933 und deren Stellvertreter werden auf 185 Seiten nachName, Parteizugehörigkeit, Angabe der delegierenden Provinz;persönlichen Daten und Bekenntnis; Mitgliedschaften im Staats-rat, in Parlamenten und Provinzialkörperschaften; beruflichemWerdegang; weiteren politischen, ehrenamtlichen bzw. nebenbe-ruflichen Tätigkeiten; schließlich einem Quellen- und Literatur-verzeichnis detailliert erfasst. Auch die 122 nationalsozialistischenStaatsräte werden nach diesem Raster vorgestellt; bei NS-Reichs-tagsangehörigen allerdings verweist Lilla auf sein einschlägigesHandbuch „Statisten in Uniform“, was den Umfang der Doku-mentation zwar schmälert, den Informationsfluss aber hindert. Sowird man ausführlich nur über die zeitgenössischen Persönlich-keiten wie Wilhelm Furtwängler, Gustaf Gründgens und CarlSchmitt sowie den Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning und denevangelischen Reichsbischof Ludwig Müller informiert.

Eine Fundgrube sind die im Anhang ausgebreiteten recht-lichen Grundlagen des Weimarer Verfassungsorgans und dasStaatsratsgesetz vom 8. Juli 1933, die nach Provinzen bzw. Frak-tionen aufgeschlüsselte Liste der Mitglieder und Stellvertreter,unter denen in der Republik so unterschiedliche Personen wieWilhelm Pieck (KPD), Ludwig Kaas (Z), Ernst Reuter (SPD),Rudolf Hilferding (USPD) und Karl Jarres (DVP) zu finden sind.Weitere Verzeichnisse behandeln die Zugehörigkeit beider Kör-perschaften zu nationalen und Länderparlamenten. Schließlichwerden die Mitglieder der Gremien des Staatsrats in der Wei-marer Zeit und die Opfer nationalsozialistischer Repressalienangeführt. Ein Personen- und ein Ortsregister erleichtern diegezielte Suche und runden das Handbuch ebenso wie ein Quel-len-, ein Literatur- und ein Abkürzungsverzeichnis ab.

Die Dokumentation bereichert unser Wissen über die Institu-tion des Preußischen Staatsrats zwischen 1921 und 1936 undbietet, wie immer bei Lillas biographischen Nachschlagewerken,einen fundierten personenbezogenen Zugang zur WeimarerRepublik und dem Nationalsozialismus.

Karlsruhe Peter Exner

Das Schwazer Bergbuch. Hrsg. von Christoph Bar-tels, Andreas Bingener und Rainer Slotta. 3 Bde.Selbstverlag des Deutschen Bergbau-Museums, Bochum2006. 983 S., geb. 75,- €. ISBN 978-3-937203-22-5(Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-museum Nr. 142)

Das „Schwazer Bergbuch“ ist ein zentrales Dokument der mittel-europäischen Montangeschichte des 16. Jahrhunderts und wardeshalb auch mit guten Gründen jüngst im Berliner Teil der Aus-stellung zur Geschichte des Alten Reiches zu sehen. Sein Text undseine Bilder liefern in mehreren erhaltenen Handschriften einGegenstück zu Georg Agricolas Buch „De re metallica“, das im

gleichen Jahrzehnt veröffentlicht wurde. Seit mehr als einhundertJahren liefert sich die Forschung Debatten über die Autoren unddie Genese. Das Bergbaumuseum, wo ein Entwurf der Hand-schrift von 1554 liegt, hat jetzt in einer dreibändigen Ausgabe diemeisten Rätsel um das „Schwazer Bergbuch“ lösen können. Bd. 1präsentiert ein Faksimile der Bochumer Ausgabe auf der Grund-lage einer buchschonenden Digitalisierungstechnik. In Bd. 2 wirdvor allem die Edition des Entwurfs und der Endfassung von 1556vorgelegt, während Bd. 3 einer montanhistorischen Analyse desBergbaus bei Schwaz im 16. Jahrhundert vorbehalten ist. Dieprächtige Ausgabe ließ sich nur realisieren, weil die RuhrkohleAG Drucklegung und Forschungsprojekt förderte.

Bd. 2 legt zunächst die Editionsgrundsätze dar, wobei imGegensatz zu den bekannten Richtlinien Groß- und Kleinbuch-staben nach heutigen Vorgaben normalisiert werden. Derzunächst skeptische Rezensent konnte bei der Lektüre der edier-ten Texte diese Entscheidung nachvollziehen, denn sie macht denText lesbarer. Allerdings wird die vokalische Verwendung des „u“und die konsonantische Verwendung des „v“ mit Ausnahme von„i“ und „j“ leider nicht konsequent betrieben, denn beim „w“schreckten die Editoren vor einer Normalisierung zurück,„pawen“ wäre in „pauen“ aufzulösen gewesen. Es folgen dieBeschreibungen der Handschriften und die jeweiligen Besitz-geschichten. Der Bochumer Entwurf wurde 1956 in einem NewYorker Antiquariat erworben. Er ist aus textimmanenten Gründenauf das Jahr 1554 zu datieren. Zehn weitere Exemplare sind nochvorhanden, von denen vier dem Jahr 1556 zuzurechnen sind undals Vorlage einer Schwazer Bergbausynode von 1577 dienten. DieBeschreibung der Codices nimmt damit schon die sich anschlie-ßenden Ausführungen über die Verfasserschaft des Bergbuchsvorweg. Es handelt sich um „eine Art Programmentwurf der älte-ren, zum Zeitpunkt der Synode teilweise bereits entlassenen Berg-beamten“ (S. 200). Einer von ihnen, der Bergrichter SigmundSchönberger, ist mindestens an Teilen des Werkes beteiligt gewe-sen, weil er als derjenige zu identifizieren war, der an einer Stelle der Endfassung die erste Person Singular verwendete. Ent-stehungszweck des Schwazer Bergbuchs war also, „ein Bergrechtneu zu kompilieren“ (S. 209), weshalb weitere normative Texteden Handschriften beigegeben wurden. Fast nebenbei werdendabei tiefe Einblicke in die Entstehung von Bergrecht (und berg-baubezogenem Archivgut) im 15./16. Jahrhundert möglich. Derbesondere Clou der Bochumer Forschung liegt darin, im Schwa-zer Bergbuch „eine Art kontrapunktischer Beziehung“ zumgleichzeitigen Werk des Agricola zu ermitteln (S. 228). Währendletzteres ein neues Zeitalter im Montanwesen mit neuen Techni-ken verkündet, beschwört das Schwazer Bergbuch vergehendenGlanz. R. Slotta beschreibt die Illustrationen des Entwurfsexem-plars einzeln und zusammenfassend, wobei er unterschiedlicheMaler am Werke sieht. Er vermutet dahinter nicht berufsmäßigeKünstler, sondern eher Markscheider (S. 284). Jenseits ästhetischerKriterien sind die Illustrationen aus montanhistorischen Gründenaußerordentlich wichtige bildliche Quellen zur Arbeit im Bergbauin der Umbruchzeit zur Moderne. Neben dem Entwurf wird danneine der Innsbrucker Handschriften ediert, ferner die Berginstruk-tionen König Ferdinands, die Stellungnahme eines Bergbeamtenzur Zukunft des Schwazer Bergbaus von 1556 sowie zwei Gruben-abrechnungen. Abgeschlossen wird Bd. 2 durch Glossare undRegister.

Bd. 3 als montanhistorische Analyse des Schwazer Bergbausbis 1560 kann hier nicht ausführlich gewürdigt werden. Er behan-delt zunächst natürliche, allgemein- sowie technikgeschichtlicheGrundlagen, wobei die fehlenden Stadtrechte für Schwaz, wo um1550 ca. 12.500 Menschen lebten, ein strukturelles Manko darstel-len. Sodann wird die Entwicklung der Schwazer Reviere von derRömerzeit über die Wiederaufnahme des Bergbaus im Spätmittel-alter bis zur Bergsynode von 1557 beschrieben. Der Schwerpunktliegt auf der Zeit seit 1525, der Vorgeschichte des Krisenjahrs 1552,den rückläufigen Erträgen und den Auseinandersetzungenzwischen Großgewerken und Landesherrn. Immer wieder wirdSchwaz mit anderen mitteleuropäischen Revieren verglichen. Aus archivischer Sicht setzen die Autoren Christoph Bartels und Andreas Bingener mehrfach Akzente. Sie behandeln in

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einer längeren Fußnote (S. 650) den Verbleib des ehemaligenSchwazer Bergwerksarchivs, das wahrscheinlich 1943 in München unterging. Sodann greifen sie auf mehrere Quellen-gruppen im Tiroler Landesarchiv zurück, die es ermöglichen, zuder schon umfangreichen Literatur über Schwaz neue For-schungsergebnisse hinzuzufügen. Als serielle Quelle werten sie die oberösterreichischen Kammerkopialbücher zwischen 1543 und 1559 aus, ferner das so genannte Pestarchiv mitwichtigen Sachakten zum Montanwesen. Ihre Darstellung zu den 1550er Jahre wertet diese Bestände fast wie ein Regestenwerkaus. Auf eine von ihnen behandelte Schnittstelle zwischenQuellenkunde und Montangeschichte sei besonders verwiesen:die Montanverwaltung. Ihr Fazit, dass personengeschichtlicheStudien zu Bergbeamten ein Desiderat der Forschung seien (S. 834), ist auch auf andere Reviere zu übertragen. Den Bandbeschließen Bildtafeln aus einem Innsbrucker Codex ab, die einezeitgenössische Vorstellung von den beschriebenen Revieren ver-mitteln.

Jeder Leser (oder Betrachter der Bildbeigaben) wird tief beein-druckt von der Leistung der Herausgeber die Bände aus denHänden legen. Ihnen ist mehr gelungen als nur das Rätsel derAutorenschaft des Schwazer Bergbuchs zu lösen. Sie machen aufdie Montangeschichte der beginnenden Moderne neugierig, ver-weisen zugleich aber auf die Mühsal der Quellenrecherche und -interpretation, des Vergleichs und der noch zu leistenden weite-ren Forschungsarbeit. Vor allem Bd. 2 lässt sich zugleich alsNachschlagewerk zur Montangeschichte des 16. Jahrhundertsbenutzen.

Senden Wilfried Reininghaus

Timm Starl, Hinter den Bildern. Identifizierungund Datierung von Fotografien von 1839 bis1945. Jonas Verlag für Kunst und Literatur, Marburg2006. 95 S., 176 Abb., brosch. 20,- €(Fotogeschichte Heft 99)

Im vergangenen Vierteljahrhundert haben diverse Fachwissen-schaften unterschiedlicher Fakultäten sowie die InstitutionenArchiv und Museum zunehmend begonnen, sich der Fotografieals Medium im Allgemeinen und den Fotografien in ihrem Besitzim Besonderen zuzuwenden. Damit kam ein Bereich der materiel-len Kultur als Sammelgut resp. Quellengattung in den Blick, derbis dahin gerade in den deutschsprachigen Ländern sträflich ver-nachlässigt worden war. Heute sind Fortschritte beim konser-vatorischen, forschenden und ausstellenden Umgang mit Foto-grafie unübersehbar, wenn auch noch viel zu tun ist. Einen wich-tigen Beitrag hierzu hat die Zeitschrift Fotogeschichte geleistet, dieim Jahr 2006 mit ihrem Heft 98 ihr 25-jähriges Bestehen beging(Heft 100 war trotz der magischen Zahl dann schon fast wiederAlltag).

Zwischen diesen beiden Jubiläumsausgaben liegt mit Nummer99 ein Themenheft von außerordentlichem Nutzwert für dieArbeit an den Beständen. Der Gründer und bis ins Jahr 2000Herausgeber der Zeitschrift, Timm Starl, hat auf 88 Seiten lexikon-artig eine Fülle von Informationen zusammengestellt, die für dieBestimmung von Fotografien v. a. des langen 19. Jahrhundertsgebraucht werden können (wenn auch der im Untertitel angege-bene Zeitraum bis 1945 reicht). „Die Absicht ist: auf Möglich-keiten hinzuweisen, unidentifizierten und nicht datierten fotogra-fischen Werken gewissermaßen Halt zu verleihen, ihnen einenPlatz in der Geschichte einzuräumen, der sie erst zu beredtenZeugnissen werden läßt.“ (Editorial)

Die Publikation richtet sich – über die nach wie vor wenigenSpezialisten hinaus – ganz bewusst an alle, die privat oder beruf-lich mit solchen Bildern zu tun haben. Vorausgesetzt wird dabeiaußer Fragelust und Aufmerksamkeit für die Objekte wenig –fotohistorische Grundkenntnisse zur materiellen Kultur, zur Pro-duktions- und Gebrauchsgeschichte bilden sich bei der Lektüreoder dem gezielten Nachschlagen einzelner Fragen gewisser-maßen wie von selbst.

Aufgrund der mittlerweile recht guten Literaturlage wurde aufausführliche technische Beschreibungen der vielgestaltigen Ver-fahren verzichtet; dass hier insbesondere die für den Sammlungs-gebrauch grundlegenden Publikationen von James R. Reilly (Careand Identification of 19th- Century Photographic Prints, 1986),Robert Knodt und Klaus Pollmeier (Verfahren der Fotografie,1989) sowie Marjen Schmidt (Fotografien in Museen, Archivenund Sammlungen. Konservieren – Archivieren – Präsentieren,1994) genannt werden, verweist angesichts der vergriffenen Titelauf öffentliche Bibliotheken und markiert wohl auch ein verlege-risches Desiderat.

Umso differenzierter widmet sich Starl den Sachverhalten, diesich aus dem Augenschein der Objekte ergeben können und wel-che die Bildinformationen kontextualisieren, gesellschaftlicheNutzungsweisen rekonstruierbar machen. Die Kapitelüberschrif-ten deuten die Spannbreite an: Verfahren, Formate, Untersatzkar-ton, Abzug, Fotografen und Ateliers, Vertrieb, Kennzeichnung,Aufbewahrung. Diese Themen werden in Unterpunkten weiterausgeführt, Geeignetes wird übersichtlich zusammengefasst, wieetwa „Tab. 5 Untersatzkarton 1853 bis 1914 (häufigste Varianten)“.

Vier Seiten Literaturhinweise und acht Seiten Register ergän-zen in der für den Verfasser üblichen Akribie das Werk. Dass derVerlag diesem Heft in Abweichung von der Regel eine reiche undz. T. farbige Illustration gegönnt hat, führt anschaulich auf dieOriginale zurück, um deren Erhalt und nicht reproduzierbarenInformationsgehalt es geht. „Hinter den Bildern“ gibt Antworten,regt zum Fragen an und sollte daher zum Handwerkszeug all der-jenigen gehören, die sich erschließend oder forschend den foto-grafischen Beständen in Archiven und Museen zuwenden.

Dresden Wolfgang Hesse

Vademekum Zeitgeschichte Polen. Ein Leitfadendurch die Archive, Forschungsinstitutionen, Bibliothe-ken, Gesellschaften, Museen und Gedenkstätten. Hrsg.von Krzysztof Ruchniewicz, Jakub Tyszkiewicz,Ulrich Mählert und Christian Lotz im Auftrag desWilly-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europa-studien an der Universität Wrocl⁄aw/Breslau und derStiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wrocl⁄aw-Berlin-Leipzig 2004. 103 S., brosch. 6,- €

Das hier anzuzeigende Vademekum liegt in polnischer und deut-scher Sprache vor, was deutschen Historikern und Archivaren denZugang zu den darin enthaltenen wichtigen Informationenerleichtert. Die am Willi-Brandt-Zentrum für Deutschland- undEuropastudien der Universität Wrocl⁄aw erarbeitete Publikationbeschreitet in vielfacher Weise Neuland, weil sie erstmalig ein Ver-zeichnis sämtlicher Archive, Bibliotheken, Forschungseinrichtun-gen, zeitgeschichtlicher Vereinigungen und anderer für zeitge-schichtliche Untersuchungen in Betracht kommenden Informati-onsstellen in Polen bereitstellt. Im Folgenden skizziert KrzysztofRuchniewicz die Probleme, denen sich die zeitgeschichtlicheForschung in Polen vor 1989 ausgesetzt sah, unterlag sie doch wieandere Zweige der Wissenschaft der Zensur und der Aufsichtdurch die Partei. Dennoch zeichneten sich viele ihrer Studienunter kommunistischer Herrschaft durch eine beträchtliche Hete-rogenität aus, die ihre Ursache in der langjährigen Existenz oppo-sitioneller Kreise im Inland und in der Emigration hatte. Auftriebgewann die Arbeit sozialkritischer Historiker durch die Grün-dung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“, die ihreArbeiten häufig im sog. „Zweiten Umlauf“ (Samisdat) veröffent-lichten. Für den „Sonderfall“ Polen unter den sozialistischenLändern des Ostblocks spricht, dass hier nach 1989 das akademi-sche Personal kaum ausgetauscht und wissenschaftliche Einrich-tungen nicht abgewickelt wurden, weil sich diese in den 1980erJahren häufig zu Zentren oppositionellen Denkens entwickelt hat-ten. Mit der in Form eines Demokratisierungsprozesses verlaufen-den gesellschaftlichen Veränderung war die Öffnung der zeitge-schichtlichen Archive und Institutionen verbunden, wobei aller-dings der Zugang zu den Akten des Ministeriums für öffentliche

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Sicherheit lange Zeit fast völlig verwehrt blieb. Zu den zentralenThemen der polnischen Zeitgeschichtsforschung in den 1990erJahren gehörten u. a. die Bilanz des Kommunismus in Polen, dieFrage der deutsch-polnischen Beziehungen, vor allem unter demAspekt der Vertreibung/Aussiedlung nach 1945, die sowjetischePolitik gegenüber Polen, u. a. die Morde in Katyn, sowie diepolnisch-ukrainischen und polnisch-jüdischen Beziehungen,wobei das 2000 von Jan Tomasz Gross veröffentlichte Buch überden Mord an den Juden von Jedwabne die größte Resonanz inPolen hervorgerufen hat. Bei der Auswahl der in das Vademekumaufzunehmenden Einrichtungen galt der Grundsatz, dass nur inPolen befindliche, sich mit Zeitgeschichte befassende Instituteund Organisationen berücksichtigt werden sollten, wobei dieArchive der katholischen Kirche wegen ihrer langen Sperrfristenausgespart blieben.

Das eigentliche Verzeichnis beginnt mit den Staatsarchivenund Archiven anderer zentraler staatlicher Einrichtungen, wobei,was auch für alle anderen im Vademekum erfassten Institutionengilt, neben der Postadresse, E-Mail, Fax und Website die Öff-nungszeiten, die für die zeitgeschichtliche Forschung relevantenBestände unter Nennung der Zugangsmöglichkeiten sowie diedort herausgegebenen Veröffentlichungen (häufig Zeitschriften)aufgeführt werden. Besondere Bedeutung hat hier das Archiv derNeuen Akten in Warschau, das umfangreiches Aktenmaterial undSammlungsgut aus den Jahren 1948-1990 verwahrt. Unverzicht-bar für zeitgeschichtliche Forschungen in Polen sind die Unter-lagen des Instituts des Nationalen Gedenkens, das mit der Samm-lung und Verwaltung der zwischen dem 22. Juli 1944 und 31. Dezember 1989 verfassten Dokumente der Organe der Staats-sicherheit und der Durchführung von Untersuchungen von natio-nalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen beauftragtist, der Archive politischer Parteien und gesellschaftlicher Orga-nisationen, darunter des Koordinierungsausschusses der Gewerk-schaft „Solidarnos c“, der historischen Universitätsinstitute,Bibliotheken, Gesellschaften, Verbände und Stiftungen, z. B. derStiftung Kreisau für Europäische Verständigung, der Museen undErinnerungsstätten, sowie der polnischen Museen, Archive undBibliotheken im Ausland. Ein Adressenverzeichnis von mit Polenbefassten Einrichtungen in Deutschland schließt den Band ab, indem das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlinleider fehlt.

Berlin Stefan Hartmann

Vademekum Contemporary History Czech Repu-blic. A guide to archives, research institutions, libraries,associations, museums and places of memorial. Editedby Oldrich Tuma, Jitka Svobodá, Ulrich Mählert.Praha-Berlin 2005. 109 S., brosch. 6,- €

In seiner Einführung zum Vademekum „Tschechische Republik“greift Oldrich Tuma auf die Verhältnisse in der Tschechoslowakeivor 1989 zurück. In dieser Zeit waren die Geschichtswissenschaf-ten Objekt ständiger Kontrolle und Aufsicht durch die herrschen-de Kommunistische Partei. Auf dem Weg massiver ideologischerEinwirkung und personeller Manipulation nutzte sie die gelenk-te Interpretation der modernen Geschichte zur Legitimation ihresRegimes. Aufgrund dieser Pressionen, die nach der gewaltsamenBeendigung des „Prager Frühlings“ ihren Höhepunkt erreichten,wurde die freie akademische Beschäftigung mit der Zeitgeschich-te unmöglich gemacht. Wie groß das Bedürfnis nach dieser war,zeigt der Umstand, dass bereits wenige Wochen nach der Wendeim Februar 1990 ein Institut für Zeitgeschichte unter der Schirm-herrschaft der Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufenwurde. Auf diese Weise wurde die organisatorische, personelleund theoretische Grundlage für die Errichtung einer neuenDisziplin gelegt. Die neu geschaffene Institution spielte eineSchlüsselrolle in der Entfaltung der zeitgeschichtlichen Forschungder jungen tschechischen Demokratie, indem sie diesen Arbeits-bereich mit einer funktionierenden Infrastruktur versorgte. Inchronologischer Hinsicht umfasst die tschechische Zeitgeschich-te den Zeitraum von der Münchener Konferenz 1938 mit der dort

beschlossenen Abtretung des Sudetenlandes an das Dritte Reichbis zum Jahr 1990 und noch darüber hinaus. Kurz nach der Wendestellten die Jahre 1948 bis 1989 eine „weißen Fleck“ in der histo-rischen Forschung des Landes dar, was die tschechischen Histo-riker dazu veranlasste, sich diesem neuen Arbeitsfeld intensivzuzuwenden. Zentrale Themen ihrer Beschäftigung waren dieErrichtung des kommunistischen Regimes 1948, die Repressionenund Verbrechen der 1950er Jahre, die Krise des Regimes zur Zeitdes „Prager Frühlings“ und die damit verknüpfte Interventionder Armeen des Warschauer Paktes, die Oppositionsbewegung inden 1980er Jahren sowie der Zusammenbruch der Gewaltherr-schaft im Herbst 1989. Besondere Aufmerksamkeit erweckte einForschungsgegenstand, der vor 1989 völlig tabu gewesen war,nämlich die Beleuchtung der deutsch-tschechischen Beziehungenim Kontext der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslo-wakei nach 1945. Für alle diese Arbeitsbereiche galt es, Quellenzu sammeln und zur Verfügung zu stellen und somit eine fakto-graphische Basis zu schaffen. Nach Tumas Ausführungen erfor-dert die Zeit vor 1989 besondere Beachtung, weil sie nicht nur einePeriode der Diskontinuität im Vergleich zu dem, was früher warund später gewesen ist, darstellt, sondern auch in ihr spezielleProbleme wie die Beziehungen zwischen den einzelnen Minder-heiten, die Xenophobie, der Nationalismus, die verändertePosition der Frauen in der Gesellschaft und die Rolle der Kulturanalysiert werden müssen.

Die im Vademekum „Tschechische Republik“ in tschechischerund englischer Sprache erfassten Institutionen und Organisatio-nen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Berücksichtigtwurden nur jene, die sich intensiver mit der tschechischen Zeit-geschichte befassen. Im Gegensatz zu Polen verfügt Tschechienüber kein Institut des nationalen Gedenkens, das auf allen Ebe-nen den zentralen Fragen der jüngsten Vergangenheit in gleicherWeise Rechnung trägt. Ein Teil dieser Funktionen nimmt hier dasAmt für Dokumentation und Erforschung der Verbrechen desKommunismus wahr. Auch die in den letzten Jahren erfolgteadministrative Neuordnung des Staatsgebiets – seine Einteilungin die Hauptstadt und sieben Regionen wurde durch ein neuesregionales System ersetzt und auf der unteren Verwaltungsebeneder Distrikt abgeschafft – bereitete bei der Erstellung des Manu-als Probleme, muss doch der Benutzer damit rechnen, dass man-che darin enthaltenen Informationen inaktuell werden können.In seiner Gliederung folgt das Verzeichnis dem Vorbild des pol-nischen Vademekums. Auf die Archive (erfasst sind neben demNationalarchiv und den Archiven der einzelnen Ministerienregionale Archive wie die Staatsarchive in Prag, Pilsen und Brünn)folgen die sich mit Zeitgeschichte befassenden historischenInstitute der Universitäten und der tschechischen Akademie derWissenschaften, die Bibliotheken (Nationalbibliothek, mährischeRegionalbibliothek in Brünn u. a.), Organisationen und Stiftun-gen, darunter das für die Zeitgeschichte wichtige „Tschechoslo-wakische Dokumentationszentrum“, Museen und Erinnerungs-stätten, wie das „Lidice Memorial“ und das jüdische Museum inPrag, das eine der umfangreichsten Judaica-Sammlungen in derWelt verwahrt, sowie abschließend ausländische Einrichtungen,die sich mit tschechischer Zeitgeschichte befassen, worunter dasCollegium Carolinum in München an erster Stelle zu nennen ist.

Berlin Stefan Hartmann

Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik undRecht. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M.2000. 359 S., 15 Abb., brosch. 14,90 €. ISBN 978-3-596-14927-8

„Ein Leben ohne Akten, ohne Aufzeichnung, off the record, ist fürdie Verwaltungen der abendländischen Welt schlechterdingsundenkbar.“ (S. 8) Jede Archivarin und jeder Archivar wird die-ser Feststellung der Verfasserin ohne Einschränkung zustimmenkönnen. Die Ausführungen, die auf diese Feststellung folgen, wer-den Archivarinnen und Archivare aber in Erstaunen versetzen,entwickelt die Verfasserin doch eine Kulturgeschichte der Akten,die von der Zeit der römischen Republik bis zur Gegenwart reicht.

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Ein Satz aus einer Rezension von juristischer Seite bestätigt diesePrognose: „Einem Juristen mag die Studie zunächst als reichlichkühner geschichtsphilosophischer Entwurf erscheinen.“1 Dasjuristische Interesse an dieser Publikation ergibt sich aus der Tat-sache, dass es sich um eine bei Michael Stolleis, Professor an derJuristischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, entstan-dene rechtsgeschichtliche Dissertation handelt. Allerdings bewegtsich die Verfasserin interdisziplinär zwischen der Rechtsgeschich-te, der Verwaltungsgeschichte, den Historischen Hilfswissen-schaften und der Archivwissenschaft. Darüber hinaus blickt sieauch aus ethnologischer und literarischer (Franz Kafka, HermanMelville) Perspektive auf das Thema der Dissertation.

Die Verfasserin bekennt sich ausdrücklich zu dem von Ange-lika Menne-Haritz, Vizepräsidentin des Bundesarchivs, formulier-ten Verständnis der Akten als prozessgenerierte Aufzeichnungen,obgleich sie deren Habilitationsschrift2 über Geschäftsprozesseder öffentlichen Verwaltung nicht mehr berücksichtigen konnte.„Akten bleiben unterhalb der Wahrnehmungsschwelle dessen,was für das Recht und folglich auch die Rechtswissenschaft rele-vant ist.“ (S. 27) Lediglich in den Fällen, in denen Akten alsBeweismittel in einem Verfahren beigezogen werden, seien sie einObjekt juristischer Reflexion. Dabei komme der Art und Weise, inder die Akten entstanden sind, maßgebliche Bedeutung zu. Gera-de dieser von der Verfasserin eher en passant geäußerte Gedankegewinnt in der aktuellen Diskussion über die Authentizität elek-tronischer Akten immer mehr an Gewicht. Allerdings darf derHinweis nicht unterbleiben, dass auch der Setzung des die An-lage, die Führung und die Verwaltung der Akten regelnden Ver-waltungsinnenrechts nicht nur eine administrative, sondern aucheine juristische Reflexion vorausgeht.

Obwohl sich die Verfasserin zum Verständnis der Akten alsprozessgenerierte Aufzeichnungen bekennt, bezieht sie auch diespätantiken privaten Sammlungen und Kodifikationen des römi-schen Rechts, insbesondere das Corpus iuris civilis des KaisersJustinian, in den Aktenbegriff ein. Die Codices „bezeichnen nebender medientechnischen Einheit ‚Akten’ auch die des Buchs. Sokommt es zu der doppelten Bezeichnung der Codices, die alsAkten zu Gebrauchszwecken in der kaiserlichen VerwaltungRoms eingesetzt werden und die als Gesetzbuch normative Funk-tion erhalten.“ (S. 72) Für das Mittelalter verfolgte das Teilprojekt„Der Verschriftlichungsprozeß und seine Träger in Oberitalien(11. - 13. Jahrhundert)“ des DFG-Sonderforschungsbereichs „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittel-alter“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster einenvergleichbaren Ansatz. „Die neue Form ‚pragmatischer Schrift-lichkeit’, die darauf abzielte, das friedliche und rechtliche Zusam-menleben von Individuen und Gruppen in einem politischen Ver-band zu ordnen, dokumentieren die Statutencodices auf zweiEbenen: Zum einen bieten sie den schriftlich fixierten Nieder-schlag der Gesetzgebungsakte, die das Regelwerk für die politi-sche Ordnung und das Zusammenleben der Gemeinschaft, für dieRechtspflege und die Verwaltung schufen und fortentwickelten.Zum anderen belegen sie indirekt die neuen Formen von Schrift-stücken, die über die traditionelle Urkundenschriftlichkeit hinausnotwendig geworden waren, um Vorgänge… zu bewältigen.“3

Die Verfasserin geht über den Ansatz des DFG-Sonderforschungs-bereichs jedenfalls insoweit hinaus, als sie auch die Digesten –eine Kompilation aus der juristischen Literatur – in ihre Überle-gungen einbezieht.

In dem Kapitel „Von Urkunden zu Akten“ schlägt die Verfas-serin einen weiten Bogen von der Spätantike zur frühen Neuzeit.Dabei beleuchtet sie kritisch die erhebliche Verzögerung, mit derdie Akten im Vergleich zu den Urkunden Gegenstand der wissen-

schaftlichen Forschung wurden. „Dass ‚Akten’ von der archivali-schen und historischen Forschung unterbewertet wurden undlange Zeit unbeachtet geblieben sind, ist daher nicht einfach eineNachlässigkeit oder eine Fehleinschätzung der Urkundenfor-scher. Es ist die Konsequenz der Vorherrschaft des diplomatischenParadigmas für eine Geschichtswissenschaft, die das überlieferteRecht und nicht die Überlieferung in den Mittelpunkt ihres Inter-esses stellt, den Rechtszustand und nicht sein Zustandekommen.“(S. 131) Einen Wandel vermag die Verfasserin erst in der 1. Hälf-te des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Allerdings hat dieGeschichtswissenschaft bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhun-derts gerade auch solche überlieferten Schriftstücke in die Arbeiteinbezogen, die nicht der Rechtsaufzeichnung, sondern vielfälti-gen anderen Zwecken dienten. Der Verweis auf die Edition derHanserezesse, die die Schriftlichkeit der hansischen Versammlun-gen umfassend abzubilden versucht und deren erster Band imJahre 1870 erschien, möge als Beleg genügen.

Paradigmatisch für das Mittelalter werden lediglich das Regis-ter und die Kanzlei Kaiser Friedrich’ II. behandelt. Obwohl dieVerfasserin Ergebnisse aus dem DFG-Sonderforschungsbereichverwendet, bleiben sowohl das kommunale Verwaltungs- undGerichtsschriftgut4 als auch die notariellen Imbreviaturbücher5

außer Betracht. Es war aber gerade die mittelalterliche Stadt, inder Verwaltung und Gerichtsbarkeit bereits in die Neuzeit wei-sende Formen der Schriftlichkeit ausbildeten.

Von der Kanzlei Kaiser Maximilian’ I. über die Führung undArchivierung von Akten in Preußen gelangt die Verfasserinsodann zur Büroreform des beginnenden 20. Jahrhunderts. IhrenAbschluss findet die Studie in dem nur wenige Seiten umfassen-den Kapitel „Akten-Icons“. „Die gegenwärtige Kopräsenz vonpapiernen und digitalisierten Akten schafft eine Medienkonkur-renz und damit -referenz, die unter Archivaren und Verwaltungs-wissenschaftlern ein Nachdenken über das im Aussterben begrif-fene Medium der Akten ausgelöst hat.“ (S. 335) So mancheErkenntnis in diesem Kapitel beruht wiederum auf den Untersu-chungen von Angelika Menne-Haritz. Leider hat die Verfasserinaber das zum ersten Mal im Jahre 1997 veröffentlichte DOMEA-Konzept6 nicht herangezogen. Dann hätte sie nämlich hervorhe-ben müssen, dass die Akte als prozessgenerierte Aufzeichnungsehr wohl in der digitalen Welt weiterleben wird.

Auch wenn es aus der Perspektive der Archivarinnen undArchivare das eine oder andere zu bemerken galt, so bietet dasWerk doch eine vielfach zum Nachdenken anregende, lohnendeLektüre.

Hamburg Udo Schäfer

Visual History. Ein Studienbuch. Hrsg. von GerhardPaul. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006. 304 S., 60 s/w Abb., kart., 21,90 €. ISBN 978-3-525-36289-1

Der Deutsche Historikertag in Konstanz 2006 hatte als Motto„GeschichtsBilder“.1 Die öffentliche Resonanz darüber, wie dieGeschichtswissenschaftler mit dem Einsatz von Bildern in ihremFach umgehen, fiel zwiespältig aus. Das plakative (und wenigglückliche) Wort von Norbert Frei über die von Guido Knopp im

1 Reinhard Mehring. In: Juristenzeitung 56 (2001), S. 242.2 Angelika Menne-Haritz, Geschäftsprozesse der öffentlichen Verwal-

tung. Grundlagen für ein Referenzmodell für Elektronische Bürosyste-me (Schriftenreihe Verwaltungsinformatik 19), Heidelberg 1999.

3 Jörg W. Busch, Einleitung. Schriftkultur und Recht am Beispiel derStatutencodices. In: Hagen Keller/Jörg W. Busch (Hg.), Statutencodi-ces des 13. Jahrhunderts als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit. DieHandschriften von Como, Lodi, Novara, Pavia und Voghera (Münster-sche Mittelalter-Schriften 64), München 1991, S. 2 f.

4 Vgl. Thomas Behrmann, Einleitung: Ein neuer Zugang zum Schriftgutder oberitalienischen Kommunen. In: Hagen Keller/Thomas Behr-mann (Hg.), Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktio-nen, Überlieferung (Münstersche Mittelalter-Schriften 68), München1995, S. 1–18.

5 Vgl. Andreas Meyer, Felix et inclitus notarius. Studien zum italieni-schen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (Bibliothek des Deut-schen Historischen Instituts in Rom 92), Tübingen 2000.

6 Vgl. DOMEA-Konzept. Organisationskonzept 2.1. Dokumentenmana-gement und elektronische Archivierung im IT-gestützten Geschäftsgang(Schriftenreihe der KBSt 61), November 2005.

1 Abstracts unter: www.uni-konstanz.de/historikertag/programm. php?menu=programm&sektion=ng&veranstaltung=ng7&all=1 (Zugriff25.10.2006).

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ZDF vermittelte „Geschichtspornografie“ machte in den gedruck-ten Medien die Runde und provozierte durchaus unangenehmeRückfragen nach den Konzepten der Historiker/innen für denUmgang mit Bildern.2 Parallel zum Historikertag (und im Pro-gramm hierzu als Verlagsanzeige angekündigt) erschien das hierzu besprechende „Studienbuch“ zur „Visual History“ mit demFlensburger Historiker Gerhard Paul als Herausgeber. Es enthältneben einer Einführung des Herausgebers, die in allen Tagungs-taschen lag, 18 Aufsätze, die in vier (nicht immer deutlich vonein-ander getrennte) Blöcke aufgeteilt sind. 1.) Themen – Quellen –Zugänge, 2.) Bilderwelten – Blicke, 3.) Bildersprachen des Politi-schen, 4.) Bild – Gedächtnis – Erinnerung. Vielfach sind in den ein-zelnen Beiträgen Archive angesprochen, deshalb lohnt es sich,dieses Buch zu lesen und die dort vertretenen Positionen zu dis-kutieren.

Pauls Einführung „Von der Historischen Bildkunde zur Visual History“ (S. 7-36) verweist auf die Geringschätzung derGeschichtswissenschaft gegenüber der Geschichte der neuenMedien und auf die lange vorherrschende Dominanz der Schrift-quellen. Gegenläufige Tendenzen habe es zwar z. B. auf demDeutschen Archivtag 1974 oder den Historikertagen 1988 und1992 gegeben, doch erfuhren sie nur ein „schwaches Echo“. Diewichtigsten Impulse kamen nach Pauls Meinung von außen: vonder französischen Mentalitätengeschichte, von der empirischenKulturwissenschaft und der Politikwissenschaft, von der neuenKulturgeschichte und den vielen Ausstellungen der letzten Jahre.Anstelle des Ansatzes, Bilder nur als (zusätzliche) Quellen zu ver-wenden, fordert Paul, die Visualität der Geschichte zu berücksich-tigen. Die Geschichte der Medien mit dem Teilelementen Foto,Film und Fernsehen (er vergisst den Rundfunk) spielt nach seinerMeinung eine zu geringe Rolle, sei auch oft zu „technizistisch“angelegt (S. 16 f.). Paul will deshalb „Visual History“ als einenAnsatz kreieren, der mehr als eine Geschichte der visuellenMedien darbietet. Visual History „umfaßt das ganze Feld dervisuellen Praxis der Selbstdarstellung, der Inszenierung undAneignung der Welt sowie schließlich die visuelle Medialität vonErfahrung und Geschichte“ (S. 25). Er sieht trotz aller Vorbehaltealle Sparten der Geschichtswissenschaft „mitten im ‚visual turn’“,nicht ohne mit einer gewissen Überheblichkeit zu sagen: „Selbstdie Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung hat sich in derZwischenzeit den Bildern der Geschichte und der Visualität desGeschehens zugewandt“ (S. 24). Überheblich ist diese Aussage,weil gerade auf lokaler und regionaler Ebene „Bilder“ im weites-ten Sinn seit den 1970er Jahren kontinuierlich Eingang in dieGeschichtsschreibung fanden, nicht zuletzt gefördert durch diejeweils zuständigen Archive. Freilich fand dies nicht immer inVerbindung mit theoretischen Überlegungen statt, sondern eherim Bewusstsein, dass Fotografien und Filme integraler Bestand-teil der Lebenswelten des späten 19. und des 20. Jahrhundertsgeworden sind. Pauls Konzept wird sich vorhalten lassen müssen,dass es relativ einseitig auf eben diesen Zeitraum konzentriert ist.Fast alle Beiträge des Bandes sind auf diese Epochen beschränkt.Nur der Beitrag von Astrid Wenger-Deilmann und FrankKämpfer über Körpersprache und Gestik am Beispiel von„Handschlag – Zeigegestus – Kniefall“ (S. 188-205) greift weit, bisin die Antike zurück und spannt den Bogen von antiken Münzenbis zum Foto des historischen Handschlags von Arafat und Rabin1993. Falls „Visual history“ überhaupt als ein epochenübergreifen-des Konzept konsensfähig wird, bedarf es einer Überprüfung undevtl. einer Modifizierung für Mittelalter und Frühneuzeit, in deres bereits „Bilder“ gab, die geschichtsmächtig wurden. Vermut-lich geschah dies zu anderen Modalitäten als im Industriezeitalter.Paul wird deshalb auch den Impulsen des Internationalen Histo-rikertages von Oslo 1928 nicht gerecht, die gerade für die Mediä-vistik fruchtbar gemacht wurden. Dass nach 1933 in Deutschlanddiese Entwicklung weitgehend abbrach, während sie in Frank-reich maßgeblich durch Marc Bloch weiter gefördert wurde,gehört zu den Besonderheiten deutscher Geschichte undGeschichtswissenschaft.

Unter den themen- und quellenbezogenen Zugängen behan-delt Michael Sauer Plakate als historische Quellen zur Politik-und Mentalitätsgeschichte (S. 37-56). Seine analytischen Fragen (S. 50) zu Auftraggebern, Herstellern, Anlässen oder Adressatenhaben heuristischen Wert für die Erschließung der Plakate inArchiven. Die Kritik an der Nichtberücksichtigung von Plakatenin H. Ewes Beitrag in Beck / Hennings Sammelwerk (S. 51 Anm.4) beweist nur, dass Sauer die entsprechende archivfachliche Lite-ratur hierzu nicht kennt. Marita Krauss untersucht unter demStichwort „Kleine Welten“ Alltags- und Amateurfotografien (S. 57-75). Ihr Aufsatz geht dezidiert auf den hohen Stellenwertvon Fotos in Dorf-, Stadtteil- und Gemeindegeschichten ein undführt Beispiele an, in welchen Feldern der Geschichtswissenschaf-ten Fotos nutzbar gemacht werden können. Der Forderung, „Pri-vatfotos stets in Erzählzusammenhängen […]“ zu stellen (S. 62),kommt sie in zwei Beispielen nach, wobei sie Querbezüge zwi-schen Fotos und Archivalien mit großem Gewinn herstellt. Wis-senschaftstheoretisch ist der Beitrag von Martina Heßler zur„Konstruktion visueller Selbstverständlichkeiten“ (S. 76-95) mitder Aufforderung, zwischen „Lesen“ und „Betrachten“ zu unter-scheiden. Günter Riederer schließt diesen Teil des Buches mitdem Beitrag „Film und Geschichtswissenschaft“ ab (S. 96-113). Erwürdigt u. a. die Verdienste Friedrich Kahlenbergs und des Bun-desarchivs auf diesem Gebiet und reflektiert das schwierige Ver-hältnis zwischen Film und Geschichtswissenschaften. Schwierigdeshalb, weil der Quellenwert ambivalent ist und Filme nicht ein-fach Wirklichkeit exakt abbilden. Die von Riederer vorgeschlage-nen „Methoden der Filmlesetechnik“ plädieren für eine demMedium angemessene Form der Analyse: „Es bleibt … genau zuprüfen, ob für die Analyse von Filmbildern die gleichen Regelngelten wie bei einer schriftlichen Überlieferung. Der Film entziehtsich einer philologischen Vorgehensweise, und eine reine textuel-le Analyse würde die Eigenart der kinematografischen Quelle zuwenig berücksichtigen“ (S. 105). Riederer schlägt vor, eigene„Aufschreibesysteme“ zu entwickeln und neben den HistorischenHilfswissenschaften „Filmlesetechniken“ zu etablieren (S. 105 f.).DVDs werden nach seiner Prognose die Benutzung von Filmenfür historische Zwecke weiter verändern, er sieht deshalb die Kul-turwissenschaft abschließend in einer „Ruhe vor dem Sturm“.

Die Themengruppe „Bilderwelten – Blicke“ leitet FrankBecker mit dem Aufsatz über (überwiegend gemalten) Bildwel-ten des Kriegs von 1870/71 ein (S. 114-133). Jens Jäger, ein Pio-nier der methodischen Fotogeschichtsschreibung, berichtet über„Bilder aus Afrika vor 1918“ vor allem aufgrund des Bildarchivsder Deutschen Kolonialgesellschaft in Frankfurt (Main) (S. 134-148). Jäger verweist auf einige Defizite in der Quellenkunde, z. B.auf das Fehlen von historischen Studien zur Bildpostkarte. KlausHesse wertet „Bilder lokaler Judendeportationen“ als „Zugängezur Alltagsgeschichte des NS-Terrors“ aus (S. 149-168). Ermoniert, dass die Forschung bisher, abgesehen von Lokal- undRegionalhistorikern, bisher kaum „das Bildmaterial kleiner, loka-ler Archive“ ausgewertet habe. Den wichtigsten Grund hierfürsieht Hesse darin, dass die Bilder „über die Archivlandschaft derBundesrepublik verstreut liegen“ (S. 150). Hesse hat für die Ber-liner Stiftung „Topographie des Terrors“ 1998/2001 nach Fotos inbundesdeutschen Archiven recherchiert und von 1.475 Adressa-ten 238 Rückmeldungen erhalten. Seine Typologie beinhaltet „private Knipserfotos“ ebenso wie Fotos von Berufsfotografenund Zeitungsfotos. Die Überlegungen zu Möglichkeiten undGrenzen von Fotografien als historische Quellen differenzierenwohltuend. Cord Pagenstecher untersucht „Reisekataloge undUrlaubsalben“ als Quellen zur Tourismusforschung (S. 169-187).Er verwendet Material des Historischen Archivs zum Tourismusam Willy-Scharnow-Institut für Tourismus der FU Berlin, das lautInternetauskunft eine Sammlung von 400 Regalmetern umfasst,jedoch nur begrenzt öffentlich zugänglich ist.3 Pagenstecherverweist auf Museen als weitere Aufbewahrungsstellen von Pro-spekten und Katalogen, die er gekonnt analysiert. Archive hat er

2 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 223 v. 25.09.2006, S. 35; taz Nr. 8082 v.23.9.2006, S. 10; Die Welt 22.9.2006.

3 http://home.wordonline.de/home/hasso.spode/archiv.html (Zugriffam 25.10.2006).

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nicht berücksichtigt, obwohl das genannte Material zweifelloszum Sammlungsprofil der meisten Archive für ihre jeweiligenSprengel gehört.

Die Themengruppe „Bildersprachen des Politischen“ wirdeingeleitet von dem schon erwähnten Beitrag von Wenger-Deil-mann / Kämpfer, dem Aufsätze über den politischen Karikaturis-ten Hans Schweitzer (Bernhard Fulda), das Bild Mussolinis (Clemens Zimmermann), Bilder der Atombomben (GerhardPaul) sowie die Werbung der Bundeswehr (Thorsten Loch) fol-gen. Meistens wird in diesen Beiträgen gedrucktes Bildmaterialausgewertet. Die im letzten Kapitel unter der Überschrift „Bild –Gedächtnis – Erinnerung“ zusammengefassten Beiträge gehenauf die jüngere und jüngste Geschichte ein. Christoph Hamanngeht der Wirkungsgeschichte des bekannten Fotos von StanislawMucha zum Torhaus in Auschwitz-Birkenau von März 1945 nach.Er betont, dass nicht nur die Produktion von Fotografien „sozia-le Praxis“ nach P. Bourdieu ist, sondern auch deren Auswahl,Distribution und kollektive Rezeption (S. 285). Habbo Knochanalysiert Fotografien zum Eichmann-Prozess in der IllustriertenQuick, Frank Bösch jüngere Fernsehdokumentationen zum Holo-caust. Stefan Wolle thematisiert die DDR im visuellen Gedächt-nis u. a. anhand von Unterlagen aus dem Archiv der Bundesbe-auftragten für die Stasi-Unterlagen (Observations- und Ermitt-lungsfotos). Weiterhin „liest“ er die offiziellen Kunstfotos offiziel-ler Sammlungen gegen den Strich und findet „eine sanfte Rebel-lion der Bilder“ heraus. Thomas Lindenberg schließt den Bandmit Beobachtungen zum DDR-Bild in jüngeren deutschen Spiel-filmen ab.

Wer dies Buch liest, wird sich als Archivar oder Archivarindurch die Einzelstudien wie durch die Einleitung herausgefordertfühlen. Woher stammt dieses Gefühl?

Erstens herrscht in der Geschichtswissenschaft nicht überallzureichende Kenntnis über das, was Archive an Bildquellen oderan praktischen Überlegungen zu deren Erschließung anzubietenhaben. Es wäre fatal, diesen Sachverhalt nur den Nachfragendenanzulasten und nicht (Teil-)Ursachen auch bei denjenigen zusuchen, die Angebote zu machen haben. Die Kommunikationzwischen den Archiven und der weit aufgefächerten Geschichts-wissenschaft ist bekanntlich in manchen Bereichen verbesse-rungsfähig.

Zweitens sollte deshalb die Ausrichtung der Geschichtswissen-schaften auf Quellengruppen jenseits der Akten, Urkunden undAmtsbücher ernst genommen werden. Vermutlich ist der „visualturn“ nicht nur eine der zahlreichen, mitunter modisch anmuten-den Wendungen der Geschichtswissenschaften von kurzer Halt-barkeit. Vielmehr haben die Medien des 20. Jahrhunderts unserLeben grundlegend verändert, sie zu ignorieren oder auch nur zugering einzuschätzen, wäre töricht und liefe der Selbstverpflich-tung der Archive zuwider, kulturelles Erbe zu sichern.

Drittens gibt es in unserer Profession noch zu wenig theoreti-sche und praktische Überlegungen zu den Bilddokumenten.Angesichts der großen, innovativen Anstrengungen auf vielenFeldern (Bewertung, Auswirkungen des Einsatzes von Dokumen-ten-Management-Systemen in Behörden, Digitalisierung) ist dieFachdiskussion über die Bewältigung des „audiovisuellenArchivguts“ ein wenig hinweggegangen. Es gibt Anzeichen, dasssich dies ändert, um nur Beispiele aus dem Jahr 2006 zu nennen,ein Fortbildungsworkshop der Archivschule Marburg zur „Ver-waltung und Bereitstellung großer digitaler Bildbestände“ imNovember, das Online-Inventar zu Fotografien des LandesarchivsBaden-Württemberg oder die Aktion des LandeshauptarchivsSachsen-Anhalt zur Erfassung von Fotos, Filmen und Tonträgernmit einem Pilotprojekt zur Digitalisierung von Glasplatten.4 JedesArchiv wird für sich und seinen Zuständigkeitsbereich drängen-de Fragen nach Übernahme, Erschließung und Erhaltung vonFilmen und Fotos neu zu beantworten haben; eine begleitende

Fachdiskussion über praktische wie strategische Fragen ist not-wendig. Allein der Übergang zur digitalen Fotografie löst ja einenRattenschwanz von Folgefragen aus. Offen ist auch die Relationzwischen amtlicher und nichtamtlicher Überlieferung (einschließ-lich der Fotos und Filme) insgesamt. Wenn der private Sektor inden Beständen zum 21. Jahrhundert größer werden sollte, weilsich das Verhältnis vom Staat zur Gesellschaft verschoben hat (derRezensent unterstellt dies), dann muss dies Rückwirkungen aufdie Überlieferungsbildung haben. Automatisch gewinnen dannFilme und Fotos ein neues Gewicht.

Viertens – und da kann man die Plädoyers in dem zu bespre-chenden Band nur unterstützen – bedarf es einer ausgefeiltenQuellenkritik des Bildmaterials. Ob dies mit der Preisgabe derDroysen’schen Kriterien von Tradition und Überrest verbundensein muss, wie bei Paul durchscheint, kann bezweifelt werden.Die zeitgemäße Weiterentwicklung dieser Grundkategorien histo-rischen Arbeitens macht durchaus Sinn. Jedenfalls sollten sie nichtvoreilig über Bord geworfen werden. Es ist schon mehr an theo-retischem Aufwand notwendig als an die aus dem Zusammen-hang gerissene Bemerkung von Walter Benjamin zu erinnern,„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Bildern“5. Wahrscheinlichsind mehrere Anläufe und Schleifen notwendig, bevor ein Gerüst-zeug wie das von Droysens Historik für das Medienzeitalter des21. Jahrhunderts geschaffen worden ist. Pauls Buch „Visual Histo-ry“ ist es aber zu verdanken, dass hierzu ein erster Anlauf unter-nommen worden ist, dem sicher weitere folgen werden. DieArchive sind gut beraten, daran mitzuwirken.

Senden Wilfried Reininghaus

Joachim Woock, Zwangsarbeit ausländischerArbeitskräfte im Regionalbereich Verden/Aller(1939-1945). Arbeits- und Lebenssituationen im Spie-gel von Archivmaterialien und Erinnerungsberichtenausländischer Zeitzeugen. Books on Demand, Norder-stedt 2004. 486 S., brosch. 28,50 €. ISBN 978-3-8334-0775-8

In der Reihe der beinahe nicht mehr zu zählenden Publikationenüber Zwangsarbeit, die seit der Jahrtausendwende erschienensind und an denen die Archive aller Sparten vielfältig beteiligtwaren, besitzt das hier vorzustellende Buch (eine Dissertation ausHannover) wahrscheinlich ein Alleinstellungsmerkmal. Jedenfallsist dem Rezensenten keine andere Veröffentlichung bekannt, inder Forschungsergebnisse nacheinander nach Befunden ausSchriftquellen und dann nach Befunden aus Zeitzeugenbefragun-gen präsentiert worden sind. Diese Zweiteilung bietet durchausgroße Chancen, so ungewöhnlich sie sein mag. Im ersten Teil(„Auswertung der Archivrecherchen“) werden detailliert Befun-de von Archiven aller Sparten vorgestellt. Das Spektrum reichtvon den verschiedenen Abteilungen des Bundesarchivs über dienorddeutschen, englischen, amerikanischen und französischenStaatsarchive, die Kommunalarchive der Untersuchungsregionbis hin zu Firmen- und Privatarchiven. Hinzu kommen Doku-mentationsstellen der Länder, aus denen die Zwangsarbeiterstammten, sowie Verwaltungen in Niedersachsen, die ihre Unter-lagen noch nicht an Archive abgegeben haben. Breiter kann einSpektrum kaum ausfallen, entsprechend groß ist die Zahl derAspekte, die der Verfasser in diesem Teil seiner Dissertationabdecken kann. Neues vermag er vor allem für die BereicheBetreuung und Kontrolle (Verweis auf Zeitschriften für Zwangs-arbeiter!), Lebensbedingungen, Pflegestätten für Ausländer-kinder, Widerstand und Straffälligkeit beizusteuern. Der Verfas-ser hat, wie manche andere Bearbeiter des Themas, gelegentlichSchwierigkeit, einzelne Aspekte lokal nachzuweisen, und greiftdeshalb auf reichsweite Bestimmungen zurück, ohne sich der ört-

4 Ulrike Höroldt, Eine besondere Herausforderung für Archive undArchivare. Zur Foto-, Film- und Tonträgerüberlieferung im Landes-hauptarchiv Sachsen-Anhalt, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 88. Fest-schrift Hermann Rumschöttel zum 65. Geburtstag, Köln / Weimar /Wien 2006, Bd. 1, S. 419-440.

5 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd.1, S. 596. Damit leitet u. a. G. Riederer (S. 96) seinen Beitrag im bespro-chenen Band ein. Das Benjamin-Zitat stammt aus einem Aphorismuszur Erkenntnistheorie des historischen Materialismus.

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lichen Umsetzung sicher zu sein. Der zweite Teil, der aus weitüber 100 Zeitzeugenbefragungen gespeist wird, spiegelt in etwadie Gliederungsstruktur des ersten Teils. Er hat Kontrollfunktion,denn die Erinnerung wird mehrfach als lücken- oder fehlerhafteingestuft. Zugleich lassen sich ergänzende Einschätzungen undSachverhalte aus subjektiver Perspektive gewinnen, die in Aktenfehlen, vor allem zur Deportationspraxis, zu Arbeitsplatzwech-seln, Lagerverhältnissen und zu den Beziehungen zwischenUkrainerinnen und Polen. Einmal mehr wird am Beispiel dieserDissertation deutlich, wie breit die Quellengrundlage sein muss,um die Jahre zwischen 1933 und 1945 auf mittlerer und untererregionaler Ebene zu rekonstruieren. Kritisch anzumerken ist aller-dings erstens, dass gerade weil so viele disparate Quellen gesich-tet wurden, die methodische Reflexion am Ende über den Ver-

gleich zwischen Schriftquellen und Zeitzeugenberichten zuknapp ausfiel. Sie beschränkt sich im Kern darauf, die Behaup-tung zu widerlegen, Oral History liefere nur Ergänzungen zumBefund aus Akten. Zweitens bietet die plakative Aussage, „einZiel dieser Untersuchung“ sei es, „ein möglichst umfassendes Bildder örtlichen Zwangsarbeit aus dem Blickwinkel der Betroffenenaufzuzeigen“ (S. 2), viele Angriffsflächen. Dieses Ziel provozier-te wohl auch eine Aussage, die die Leser dieser Fachzeitschriftaufschrecken wird: „Verwaltungsakten sind immer Zeugnisse desHerrschaftsapparates“ (S. 26). Angesichts der geschilderten Grau-samkeiten, die vor allem Zwangsarbeiter aus Osteuropa erlitten,ist die Parteinahme für sie nachvollziehbar, wenngleich, absolutgesetzt, der Geschichtswissenschaft im Ganzen kaum förderlich.

Senden Wilfried Reininghaus

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Nachrufe

Günter Mischewski †Geb. 2.12.1942 BerlinGest. 24.12.2006 WiesbadenAm 24.12.2006 starb Archivdirektor a. D. Günter Mi-schewski. Von 1974 bis 1999 – also ein Vierteljahrhundertlang – hatte er das Stadtarchiv Wiesbaden geleitet und des-sen Weg von einer jahrzehntelang vernachlässigten kom-munalen Abteilung zu einer tatsächlichen InstitutionArchiv geebnet. Beharrlich hatte er auf das Ziel hingearbei-tet, dem Stadtarchiv Wiesbaden eine angemessene Ausstat-tung zu verschaffen, obschon er selbst häufig von einem„Kampf gegen Windmühlenflügel“ sprach. Günter Mi-schewski hat damit eine recht beispiellose berufliche Leis-tung vollbracht.

Der gebürtige Berliner absolvierte nach einem Jura-Studium – das ihm später im beruflichen Alltag sehr zuGute kam – Vorbereitungsdienst und Probezeit für dieLaufbahn des gehobenen Archivdienstes am Bundesarchivin Koblenz. 1974 wurde Mischewski als Archivinspektor inWiesbaden angestellt, als erster Facharchivar im Dienst derStadt. Sein Büro befand sich damals im Dachgeschoss desRathauses, während die Magazinräume des Archivs imKeller sowie im ursprünglich städtischen Museum Wies-baden untergebracht waren. Ein erheblicher Teil derArbeitskraft des neu ernannten Stadtarchivars wurdelange Jahre davon absorbiert, die Geschäfte der seit 1948dieser Stelle zugeordneten so genannten Verwaltungs-bücherei zu erledigen, konkret: die Buchbeschaffungen fürdie gesamte Stadtverwaltung vorzunehmen.

1978 erreichte Mischewski eine erste Verbesserungdurch den Umzug des Archivs in eine Jugendstilvilla in derHumboldtstraße 6, wodurch Büros und Bestände untereinem Dach vereint wurden. 1987 gelang ihm durchbeharrliche Überzeugungsarbeit die Schaffung zweier

zusätzlicher Archivarstellen, 1989 dann die Unterbringungdes Stadtarchivs in einem eigens hergerichteten „Zweck-bau“ – einer ehemaligen Fabrikhalle – Im Rad 20, 1991schließlich die Auflösung der „Verwaltungsbücherei“ unddie Einstellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters.Ebenfalls seit 1991 gibt das Stadtarchiv eine eigeneSchriftenreihe heraus.

Bald darauf wurde Günter Mischewski von neuen Auf-gaben in Anspruch genommen, die seine Wertschätzungauch seitens der Stadtverwaltung dokumentieren: Sofungierte er von 1994 bis 1997 als kommissarischer Leiterdes Kulturamtes. Vor seiner Pensionierung erreichte ernoch die Aufstockung des Personalbestandes des Stadt-archivs um eine weitere zusätzliche Archivarstelle.

Zahlreiche Projekte hat er gefördert, unterstützt undselbst auf den Weg gebracht. Zuletzt war es sein besonde-res Anliegen, die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Ver-brechen der Wehrmacht 1941–1944“ auch in Wiesbaden zuzeigen. Dass dieses Vorhaben schließlich doch nicht reali-siert werden konnte, sah er mit einer gewissen Bitterkeit.Im Ruhestand zog er sich aus fast allen beruflich gewon-nenen Bindungen zurück und widmete sich vor allemseiner großen Leidenschaft: dem Reiten.

Zusammen mit seiner Frau Anneliese, ebenfalls Archi-varin, hatte Günter Mischewski in der Pfalz ein ländlichesAnwesen erworben, hielt seit vielen Jahren Pferde und gabzahlreichen Katzen und anderen Tieren ein Zuhause. Dar-über hinaus galt sein Interesse vor allem dem Schachspiel.Von seinen Veröffentlichungen ist neben den zahlreichenBeiträgen zur Wiesbadener Stadtgeschichte von daher die1997 zusammen mit Jurij Awerbach und Isaak M. Linderverfasste Festschrift „In memoriam Antonius van derLinde 1833–1897“ besonders zu nennen.

Das Stadtarchiv Wiesbaden verliert mit ihm den Promo-tor der heute gefestigten Situation als Institution.

Wiesbaden Jochen Dollwet

Kurzinformationen, Verschiedenes

Adressen, Ruf- und Faxnummern

Das Westfälische Archivamt heißt ab sofort LWL-Archivamt für Westfalen. Die allgemeine E-Mail-Adresse lautet: [email protected]. Die Postanschriftund die Telefonnummern bleiben unverändert.Das Kreisarchiv Neuss und das Stadtarchiv Dor-magen haben sich zusammengeschlossen zum Archivim Rhein-Kreis Neuss. Die Anschrift lautet: Schlossstr.1, 41541 Dormagen-Zons; Tel.: 02133/530210, Fax:02133/5302291, E-Mail: [email protected] Stadtarchiv Kleve ist umgezogen. Die neueAnschrift lautet: Triftstr. 11, 47533 Kleve; Tel.:02821/99799700, Fax 02821/99799799, E-Mail: [email protected]; Internet: www.kleve.de bzw. www.archi-ve.nrw.de. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 9-13Uhr, Dienstag und Donnerstag von 14-16 Uhr sowie nachVereinbarung.Das Stadtarchiv Königsbrunn (bei Augsburg) hat neue Telekommunikationsanschlüsse: Tel.: 08231/606-254, Fax: 08231/606-28255.

Das Stadtarchiv Schweinfurt hat eine neue Home-page: www.stadtarchiv-schweinfurt.de.Das Evangelisch-Lutherische LandeskirchenamtSachsens, Landeskirchenarchiv, Lukasstr. 6, 01069 Dres-den, hat eine neue E-Mail-Adresse: [email protected] Bayerische Archiv der Frauenbewegung inMünchen, getragen vom Verein zur Förderung des Baye-rischen Archivs der Frauenbewegung e. V., hat sich selbstaufgelöst. Die Bestände sind in das Archiv des Instituts fürZeitgeschichte überführt worden, wo sie unter derBestandssignatur ED 900 „Hannelore Mabry/BayerischesArchiv der Frauenbewegung“ aufgestellt sind.Das Archiv der Pfadfinderinnen und Pfadfinder(BdP). Landesverband Bayern e. V. (BdP Bayern Archiv)wurde neu eingerichtet: Obermeierhof, Dorfstr. 2, Grafen-gars, 84555 Jettenbach; Tel. 089/6924-396, Fax 089/6924-397, E-Mail: [email protected]. Benützungnach Vereinbarung.

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Neue Unterbringung des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt am Standort Magdeburg

Die sachsen-anhaltische Landesregierung hat am 5. Dezember 2006 beschlossen, in der Brückstraße 2 eindenkmalgeschütztes Magdeburger Kasernengebäude ausdem späten 19. Jahrhundert zu sanieren und einen passivklimatisierten Magazinneubau anzubauen. Damit wird aufdie spätestens Ende 2007 erschöpften Raum- und insbeson-dere Magazinkapazitäten der Abteilung Magdeburg desLandeshauptarchivs Sachsen-Anhalt reagiert. Das bisheram Hauptstandort genutzte Gebäude in der Hegelstraße 25wurde 1907/08 für das Staatsarchiv der preußischen Pro-vinz Sachsen auf einem engen innerstädtischen Grund-stück errichtet. Nachhaltige Erweiterungsmöglichkeitenfehlen hier; der Brandschutz und die magazinklimatischenBedingungen entsprechen nicht den heutigen fachlichenAnforderungen.

Der neue Standort von Behördenleitung und AbteilungMagdeburg, an dem ein Raumbedarf von 6.353 m2 umzu-setzen ist, befindet sich in räumlicher Nähe zum bereits1997 an das Landeshauptarchiv übergebenen Dienstgebäu-de Tessenowstraße 2. Der bis 1992 durchgehend militärischgenutzte Kasernenkomplex dient mittlerweile als Behör-denstandort, auf dem das Landeshauptarchiv die letzteverbliebene Nutzungslücke füllen soll.

Der Magazinflächenbedarf wurde mit einer Zuwachs-reserve bis 2024 äußerst knapp kalkuliert, um nur denunabweisbaren investiven Aufwand anfallen zu lassen.Langfristige räumliche Erweiterungsmöglichkeiten mitenger Anbindung an das Bestandsgebäude sind in derBrückstraße 2 gegeben, was eine flexible Planung und einmodulares Bauen ermöglicht.

Magdeburg Detlev Heiden

Audioaufzeichnungen von Plenardebatten des Deut-schen Bundestages digitalisiert

Das Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages hat jetztTonaufzeichnungen von Plenardebatten digitalisiert. Diehier verwahrten audiovisuellen Bestände beinhalten allePlenarsitzungen, aber auch Sonderveranstaltungen,Öffentliche Ausschusssitzungen und Anhörungen sowiesonstige Aufzeichnungen. Die Überlieferung allein derPlenarsitzungen umfasst über 20.000 Stunden auf über9.000 Trägern. Aus der Zeit von 1949 bis 1987 existierenausschließlich Tonmitschnitte auf Senkelbändern. Diesewurden im Jahre 2006 durch einen Diplomrestaurator aufihren Erhaltungszustand hin untersucht und die Prioritäthinsichtlich der Erhaltungsmaßnahmen festgelegt. Daranschloss sich eine Digitalisierungsmaßnahme für die amstärksten gefährdeten 160 Senkelbänder über einen exter-nen Dienstleister an. Ein ausführlicher Bericht über dieorganisatorische Abwicklung, die technischen Parametersowie die Erfassung und Strukturierung der Metadatenerscheint voraussichtlich in Heft 1 / 2007 der Zeitschriftinfo7.

Berlin Angela Ullmann

Engelausstellung im Zentralarchiv der EvangelischenKirche der Pfalz

Das Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz amDomplatz 6 in Speyer zeigt ab 15. Februar eine Aus-stellung zum Thema Engel. Unter dem Leitmotiv „Engelohne Ende – Ende der Engel?“ wird die Entwicklung deschristlichen Engelsbildes von der Antike bis in die Gegen-wart verfolgt. Die Texte zu den Abbildungen stammen vondem Kulturhistoriker Andreas Kuhn aus Neustadt undladen zu einer Auseinandersetzung mit Engeln ein. Auchdas Thema Engel in der Werbung sowie die Aneignung derEngel durch die Esoterik wird berücksichtigt. Außerdemsind Engel aus der Sammlung Volksfrömmigkeit zu sehen,die das Archiv seit 2001 betreibt. Ein kleines Begleitheftenthält „Gedanken zu Engeln“.

Ein Plakat und mehrere Postkarten mit Engelmotivensind ebenfalls erhältlich. Die Ausstellung kann vom 15. Februar bis 25. September 2007 besichtigt werden (Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag 8.00 – 16.00 Uhr,Freitag 8.00 – 13.00 Uhr). Der Eintritt ist frei. Gruppenmelden sich bitte vorher an. Die Ausstellung steht wie alleAusstellungen des Archivs auch als Wanderausstellungzur Verfügung.

Weitere Informationen unter: www.zentralarchiv-speyer.de, Menüpunkt Ausstellungen.

Speyer Gabriele Stüber

Zwangsarbeit beim Provinzialverband der Rheinpro-vinz, „Mütter und Kinder“

Im Anschluss an ein Besuchsprogramm ehemaligerZwangsarbeiterinnen aus der Ukraine beim Landschafts-verband Rheinland (LVR) im März 2006 ergab sich dieMöglichkeit, mit Hilfe von EU-Fördermitteln ein Projektauf den Weg zu bringen, das das Thema des Besuchspro-gramms fortsetzt. Da viele der angeschriebenen früherenZwangsarbeiterinnen nicht mehr reisefähig, aber an einerKontaktaufnahme sehr interessiert waren, ermöglicht dasProjekt es nun, zu ihnen zu reisen und ihre Lebens-geschichten aufzuzeichnen.

Alle Personen, die im Rahmen der Recherchen beimLVR und mithilfe der Nationalen Stiftungen ausfindiggemacht werden konnten, sind ehemalige Zwangsarbeite-rinnen aus der Ukraine, die unter den Bedingungen derZwangsarbeit im „Reich“ Kinder zur Welt gebracht haben.Zur Dokumentation der Schicksale von elf ehemaligenukrainischen Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder sindeine Wanderausstellung und ein Buch geplant, die Ende2007 vorliegen sollen. Die Erarbeitung erfolgt durch dasArchiv des Landschaftsverbandes Rheinland, das beimRheinischen Archiv- und Museumsamt angesiedelt ist.Der LVR steuert Eigenmittel und Eigenleistungen zu, ohnedie die Realisierung des Projektes nicht möglich gewordenwäre.

Pulheim Bettina Bouresh

Inventar der Gesandtschaftsakten im HauptstaatsarchivStuttgart im Druck erschienen

Zum Jahresende 2006 wurde Band 56 der Veröffentlichun-gen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württem-berg, das Inventar der Bestände A 16 a und A 74 a–m, in

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184 Der Archivar, Jg. 60, 2007, H. 2

der Bearbeitung von Klaus-Dieter Bock, Christine Bühr-len-Grabinger und Robert Uhland (†), vom Landesar-chiv Baden-Württemberg herausgegeben (Verlag W. Kohl-hammer Stuttgart, 612 Seiten, Verkaufspreis 48 Euro).

Bestand A 16 a Kabinett: Württembergische Gesandten-berichte und Akten enthält dabei die Originalrelationender württembergischen Gesandten sowie die Konzepte derKabinettsreskripte an die Gesandtschaften und dazuweiteres internes Schriftgut. Im Bestand A 74 a–m Würt-tembergische Gesandtschaftsakten sind hingegen dieUnterlagen der einzelnen Gesandtschaften Württembergsüberliefert, in denen die Konzeptberichte aus den einzel-nen Vertretungen und die darauf erfolgten Originalreskrip-te des Kabinetts enthalten sind. Die Unterlagen des Kabi-netts (A 16 a) sind dabei recht umfangreich überliefert(rund 21 Regalmeter), während die eigentlichen Gesandt-

schaftsakten einen eher lückenhaften Eindruck machen(rund sieben Regalmeter). Im Zuge der Neuverzeichnungwurden die Gesandtenberichte und Gesandtschaftsaktennach den Standorten der württembergischen Vertretungenalphabetisch aufgestellt, wobei die GesandtschaftenRegensburg und Wien wegen ihrer besonderen Bedeutungjeweils vorangestellt wurden.

Die beiden Bestände A 16 a und A 74 a–m bieten um-fassendes Material zu allen Aspekten der württembergi-schen Außenpolitik sowie zu vielen weiteren Fragen desZeitgeschehens sowohl in Württemberg als auch an denHöfen im In- und Ausland, vornehmlich aus der Zeit vomEnde des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Ende des altenHerzogtums Württemberg im frühen 19. Jahrhundert.

Stuttgart Christine Bührlen-Grabinger

Gesetzliche Bestimmungen und Verwaltungsvorschriften für das staatliche Archiv-wesen und zur Archivpflege in der Bundesrepublik DeutschlandZusammengestellt mit Unterstützung der Landesarchivverwaltungen von Meinolf Woste

Vorbemerkungen: Diese Übersicht berücksichtigt allegesetzlichen Bestimmungen und Verwaltungsvorschriften,die der Redaktion „Der Archivar“ gemeldet und in frühe-ren Ausgaben noch nicht veröffentlicht wurden.

Die Bestimmungen werden mit ihrer Fundstelle (Veröf-fentlichungsblatt und, wenn bekannt, auch Internet)genannt. Erläuterungen oder Zusätze der Bearbeiter sindkursiv gebracht.Übersicht: 1. Berlin, 2. Niedersachsen

1. Berlin1. Allgemeine Verfügung über das Zentrale Grundbuch-

archiv vom 20. November 2006. Amtsblatt für Berlin, Nr. 59 vom 1. Dezember 2006, S. 4150.

Im Internet unter http://amtsblatt.seninn.verwalt-berlin.de/babl/2006/heft59/59re.pdf einsehbar.

2. Allgemeine Verfügung zur Änderung der Aktenord-nung vom 19. Dezember 2006. Amtsblatt für Berlin, Nr. 1 vom 5. Januar 2007, S. 13.

3. Allgemeine Verfügung über die Aufbewahrung, Aus-sonderung, Ablieferung und Vernichtung von Schriftgutdes Sozialgerichts des Landes Berlin vom 20. Dezember2006. Amtsblatt für Berlin, Nr. 1 vom 5. Januar 2007, S. 14-18.

4. Allgemeine Verfügung über die Verwaltung des Schrift-guts bei der Geschäftsstelle des Sozialgerichts des Lan-des Berlin vom 20. Dezember 2006. Amtsblatt für Berlin,Nr. 1 vom 5. Januar 2007, S. 18-23.

Nr. 2 bis 4 sind im Internet unter http://amtsblatt.seninn.verwalt-berlin.de/babl/2007/heft01/01re.pdf ein-sehbar.

5. Anordnung zur Führung der elektronischen Register-akte in Handels-, Genossenschafts- und Partnerschafts-registersachen vom 5. Januar 2007. Amtsblatt für Berlin,Nr. 3 vom 19. Januar 2007, S. 102-103.

Im Internet unter http://amtsblatt.seninn.verwalt-berlin.de/babl/2007/heft03/03re.pdf einsehbar.

2. Niedersachsen1. Aktenordnung und Aktenplan für die niedersächsische

Landesverwaltung. Gemeinsamer Runderlass des Mi-nisteriums für Inneres und Sport, der Staatskanzlei undder übrigen Ministerien vom 18. August 2006. Nieder-sächsisches Ministerialblatt Nr. 41/2006, S. 1266.

Im Internet nicht einsehbar.

2. Verwaltungsvorschriften zum NiedersächsischenArchivgesetz. Runderlass der Staatskanzlei vom 24.Oktober 2006. Niedersächsisches Ministerialblatt Nr. 38/2006, S. 959.

Im Internet unter www.nla.niedersachsen.de unter derRubrik „Benutzung“ einsehbar.

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MITTEILUNGEN DES VDA – VERBAND DEUTSCHERARCHIVARINNEN UND ARCHIVARE e.V.

Aktuelle Informationen aus dem Vorstand

Veröffentlichung des Protokolls der Mitgliederver-sammlung des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA)

Die Protokolle der Mitgliederversammlungen des VdAwerden auch zukünftig allen Mitgliedern zur Einsichtoffengelegt. Dies geschieht allerdings nicht mehr durchVeröffentlichung in der Fachzeitschrift Der Archivar, son-dern in einem geschützten, via Passwort nur den Mitglie-dern zugänglichen Bereich der VdA-Homepage. In derFachzeitschrift, so beschloss das der Vorstand, erscheintzukünftig eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisseder Mitgliederversammlung.

Neues aus der Geschäftsstelle des VdA

Zwischenzeitlich ist der Ausbau der Geschäftsstelle weit-gehend abgeschlossen. Zu Beginn des Jahres 2007 wurdeim Sitzungsraum, der von den Organen des VdA genutztwerden kann, ein Beamer fest installiert, so dass nunmehrPräsentationen via Beamer problemlos möglich sind. DieGeschäftsstelle hat im Januar 2007 vom LandesarchivNordrhein-Westfalen die Führung des elektronischen Ver-anstaltungskalenders und die Zusammenstellung der Per-sonalnachrichten für die Fachzeitschrift Der Archivar über-nommen.

Weiterentwicklung des Deutschen Archivtages

Wie bereits in den Mitteilungen von Januar 2007 angekün-digt, befasste sich der Gesamtvorstand des VdA in seinerSitzung am 13. Februar 2007 mit der Fragebogenaktion desVdA zum Deutschen Archivtag, von der erste Ergebnissevorlagen. Zurzeit erfolgt eine exakte Auswertung undAnalyse der Antworten und Stellungnahmen der Mitglie-der. Das Thema „Weiterentwicklung des DeutschenArchivtages“ wird Gegenstand der Beratung in der Mit-gliederversammlung beim Archivtag in Mannheim am 26.September 2007. Den Mitgliedern wird rechtzeitig vor derBeratung in der Mitgliederversammlung in Mannheim aufder Homepage des VdA eine Empfehlung des Vorstandesbekannt gegeben.

78. Deutscher Archivtag in Erfurt

Der 78. Deutsche Archivtag, der vom 16. bis zum 19. Sep-tember 2008 in Erfurt stattfinden wird, steht unter demGeneralthema „Bestandserhaltung analoger und digitalerUnterlagen“.

Weiterentwicklung des Internet-Angebotes des VdA

Im Frühjahr 2007 werden Angebote für einen Relaunch desInternet-Angebotes des VdA eingeholt. Die Weiterentwick-lung wird in einem Stufenmodell verwirklicht, dessen ersteStufe noch in 2007 realisiert werden soll.

Ingelheim am Rhein, 8. März 2007Dr. Heiner SchmittSchriftführer des VdA

Tag der Archive 2008 – Motto gesucht!

Dem Wunsch vieler Mitglieder folgend möchten wir auchfür den nächsten „Tag der Archive“ am 1. und 2. März 2008ein Motto verwenden. Die Aufmerksamkeit für die Ange-bote der Archive in der Öffentlichkeit und vor allem derMedien ist so wesentlich leichter herzustellen.

Wie auf dem Archivtag in Essen angekündigt, soll dasMotto gemeinsam mit den Mitgliedern ausgewählt wer-den. Daher bitten wir um Ideen und Vorschläge bis zum31. Juli 2007 an die Geschäftsstelle des VdA. Die erstensind schon eingetroffen!

In der Mitgliederversammlung auf dem 77. DeutschenArchivtag Mannheim am 26. September 2007 wird danndie Entscheidung über das Motto fallen.

Stuttgart, 9. März 2007Dr. Clemens RehmVorsitzender des Ausschusses für Öffentlichkeit im VdA

Anmerkungen des VdA – Verband deut-scher Archivarinnen und Archivare e.V.zum „Kriterienkatalog vertrauenswürdigedigitale Langzeitarchive“ (Version 1, Juni2006, nestor-materialien 8)

Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Vertreter vonBibliotheken, Archiven, von Einrichtungen zur Geofor-schung und Softwaretechnologie an einen Tisch setzen, umüber künftige Strategien im Zusammenhang mit der Archi-

VdA - Verband deutscherArchivarinnen und Archivare e.V.

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vierung digitaler Unterlagen zu beraten. Für die sogenannten Gedächtnisorganisationen stellt die dauerhafteSicherstellung der Authentizität, Integrität, Vertraulichkeitund Verfügbarkeit digitaler Informationen eine große He-rausforderung dar. Es ist darum sehr begrüßenswert, dassim Rahmen des „Nestor Kompetenznetzwerks Langzeitar-chivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressour-cen für Deutschland“ eine solche spartenübergreifendeArbeitsgruppe „Vertrauenswürdige Archive – Zertifizie-rung“ gebildet wurde, die es sich zum Ziel gesetzt hat,Kriterien für die Bewertung der Vertrauenswürdigkeiteines „digitalen Langzeitarchivs“ zu definieren. Dabei sol-len hier, so der Anspruch, organisatorische und technischeAspekte gleichermaßen berücksichtigt werden. DieseInitiative ist überaus begrüßenswert, denn die Anforderun-gen an die Aufbewahrung digitaler Dokumente gleichensich überall. Der in der Version 1 zur öffentlichen Kom-mentierung vorliegende „Kriterienkatalog vertrauenswür-dige digitale Langzeitarchive“ fasst die Arbeitsergebnisseeindrucksvoll zusammen.1

Gedächtnisorganisationen wie Archive, Bibliothekenund Museen sollen damit „ein fundiertes, abgestimmtesund praxisgerechtes Hilfsmittel zur Erlangung und Dar-stellung von Vertrauenswürdigkeit durch eine Zertifizie-rung im Rahmen eines national bzw. international standar-disierten Verfahrens“ erhalten.2 Angesichts des breitenSpektrums der in den Blick genommenen archivischen Ein-richtungen entstand ein Forderungskatalog, der in An-lehnung an den OAIS-Standard angelegt ist und das Prin-zip der Angemessenheit verfolgt. Ziele und Aufgabeneiner Einrichtung bestimmen die Umsetzung der Kriterien,ausdrücklich sollen keine absoluten Maßstäbe formuliertwerden.

Nachdem in der Einleitung Grundkonzepte der Lang-zeitarchivierung digitaler Objekte vorgestellt und zunächstBegrifflichkeiten und Kriterien geklärt werden, erfolgt imzweiten Abschnitt eine ausführliche und nachvollziehbareVorstellung des Kriterienkatalogs. Insgesamt 14 Kriterienbeschreiben die Forderungen für den organisatorischenRahmen, für den konkreten Umgang mit den digitalenObjekten und für die benötigte Infrastruktur und Sicher-heit. Der Katalog bietet Interessierten die Möglichkeit, da-rauf aufbauend einen eigenen Weg für die Archivierungdigitaler Dokumente zu beschreiten. Erfreulich sind dieAusführlichkeit und Transparenz bei der Ableitung vonKriterien, die als Orientierung, aber auch als Argumenta-tionshilfe bei der Einrichtung eines digitalen Archivs sehrvorteilhaft sind. Zahlreiche Fußnoten und Hinweiseerleichtern auch denen, die in Sachen digitale Archivierungkeine ausgewiesenen Experten sind, den Zugang undmachen den Kriterienkatalog nachvollziehbar und ver-ständlich. Die im Anforderungskatalog genannten Aspek-te sind durchweg vernünftig, umfassend und aufeinanderaufbauend. Übersichtlich angeordnet und gut strukturiert,bilden sie die notwendigen Kriterien vollständig ab. Diedazu gegebenen Erklärungen sind verständlich und ein-deutig, was die Lektüre insbesondere für Nicht-Spezi-alisten erleichtert.

Für den organisatorischen Rahmen fordert der Krite-rienkatalog von digitalen Langzeitarchiven die Definitionihrer Ziele, angemessene Nutzungsmöglichkeiten für ihreZielgruppen, die Einhaltung gesetzlicher und vertraglicherRegelungen, eine angemessenen Organisationsform, wel-che die Finanzierung des Archivs, aber auch die Ausstat-tung mit qualifiziertem Personal und das Vorhandenseinlangfristiger Planungen einschließt, sowie schließlich einQualitätsmanagement mit einer entsprechenden Prozess-struktur.

Der Umgang mit den digitalen Objekten bei Übernah-me, Aufbewahrung und Nutzung umfasst jeweils die digi-talen Objekte selbst und die ihnen zugehörenden Metada-ten. Hier werden Forderungen an die IT-Sicherheit gerich-tet, um Integrität und Authentizität der digitalen Objektesicher zu stellen. Eine langfristige Planung der technischenErhaltungsmaßnahmen umfasst Konzepte zur Migrationoder Emulation. Die Übernahme der digitalen Objekteerfolgt nach definierten Vorgaben, wozu Bewertungsricht-linien, die Einrichtung entsprechender Schnittstellen, dieAbstimmung mit den Datenproduzenten, aber auch derEntfall technischer Einschränkungen zur Nutzbarkeitgehören. Für die Archivierung der digitalen Objekte kannes notwendig sein, sie zuvor in geeignete Archivformate –hier werden einige für die gängigen Dokumententypengenannt – zu überführen und ihnen Metadaten zur Archi-vierung hinzuzufügen. Die Identifizierung der digitalenObjekte und ihre Beziehung zueinander und zu ihrenMetadaten sind eindeutig und dauerhaft zu gestalten.Auch die Nutzung erfolgt nach festgelegten Vorgaben.Eine angemessene IT-Struktur ist ein unabdingbares Krite-rium, um die Anforderungen für den Bereich Infrastrukturund Sicherheit hinsichtlich der Sicherheitsanforderungenim Umgang mit den digitalen Objekten und beim Schutzdes digitalen Langzeitarchivs zu erfüllen.

In einer Checkliste werden im dritten Teil die Bewer-tungskriterien des Katalogs zusammengefasst. Jede Einrichtung kann in dieser in Tabellenform gestaltetenListe den Grad der Umsetzung der einzelnen Kriterien von „konzipiert“ über „geplant/spezifiziert“, „umgesetzt/implementiert“, „evaluiert“ bis „veröffentlicht“ eintragenund erhält damit einen schnellen Überblick über denerreichten Stand bei der eigenen Umsetzung der Kriterien.Wiederum für Nicht-Spezialisten ist das anschließendeGlossar sehr hilfreich, das die wichtigsten Begriffe zurdigitalen Archivierung erklärt.

Das Papier eignet sich sehr gut als Leitfaden, wenn esum die Einführung und Verfolgung einer Strategie zurSicherung der digitalen Überlieferung geht. Mit Hilfe derCheckliste kann man sich einen schnellen Überblick darüber verschaffen, wo Handlungsbedarf besteht undwelche Maßnahmen einzuleiten sind. Es ist kein Konzeptfür eine digitale Archivierung, aber ein Hinweis auf dienotwendigen Komponenten und Aspekte, die bei derErstellung eines Konzepts zur dauerhaften Sicherung digi-taler Unterlagen berücksichtigt werden müssen. Die Erläu-terungen zum Grundkonzept sind erfreulich verständlichformuliert.

Zwei Anmerkungen zur Terminologie erscheinen ausarchivischer Sicht notwendig: Im Hinblick auf die rechts-sichernde Funktion von Archiven ist zu überlegen, ob nichteine Subsumierung der Archive unter dem Begriff „Ge-dächtnisorganisationen“ möglicherweise zu kurz greift

1 Nestor Materialien 8 Kriterienkatalog Vertrauenswürdige digitale Lang-zeitarchive Version 1 (Entwurf zur öffentlichen Kommentierung), herausgegeben von der Nestor Arbeitsgruppe VertrauenswürdigeArchive – Zertifizierung, urn:nbn:de:0008-2006060710

2 a.a.O., S. 1

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und die rechtssichernde Funktion ausreichend berücksich-tigt. Auch erscheint der Terminus „Langzeitarchivierung“unglücklich gewählt, der zwar weit verbreitet ist, der aberdennoch eine gewisse zeitliche Begrenztheit impliziert.Wenn „archivieren“ das dauerhafte Aufbewahren undZugänglichmachen von Unterlagen meint, ist eine Verbin-dung mit dem Wort „Langzeit“ völlig überflüssig, ja sogarunsinnig. Institutionen wie Archive und Bibliotheken, diebei ihrer Arbeit immer auch die Ewigkeit im Blick haben,sollten diesen Begriff nur sehr vorsichtig benutzen. Archi-vare traten bislang stets mit dem Anspruch einer dauerhaf-ten Sicherung der ihnen anvertrauten Überlieferung auf,ein Anspruch, der auch im Hinblick auf digital vorliegen-de Archivalien und Informationen beibehalten werdensollte.

Wie eingangs erwähnt, wollte man keine absolutenMaßstäbe formulieren, sondern die selbst gesteckten Zieleund Aufgaben einer Einrichtung sollten den Grad derUmsetzung der Kriterien bestimmen. Hier deutet sich einProblem an: Wenn danach in Zukunft Einrichtungen als„vertrauenswürdige Archive“ zertifiziert werden, so wäredies eine relative Zertifizierung anhand der jeweils eigenenVorgaben, die für eine breitere Öffentlichkeit allerdingsnicht nachvollziehbar ist. Ein absoluter Maßstab wäredarum aus Gründen der Vergleichbarkeit notwendig,damit die Umsetzung der Kriterien bewertet werden kann,und zwar unabhängig von den formulierten Zielen einerEinrichtung, unabhängig von ihrer Größe und finanziellenund personellen Leistungsfähigkeit. Nur bei Sicherstellungder Vergleichbarkeit wäre ein Zertifikat „vertrauenswür-diges Archiv“ in der Öffentlichkeit tatsächlich als Güte-zeichen wahrnehmbar. Zudem ist mit einer Zertifizierungfür die Archive ein erheblicher finanzieller Aufwand ver-bunden. Es ist darum grundsätzlich zu klären, ob imArchivbereich tatsächlich eine Zertifizierung angestrebtwerden sollte, oder ob die Definition von Kriterien, wie siehier vorliegt, bereits ausreichend ist. Was geschieht, wenneinem kleineren Archiv das Zertifikat verwehrt wird?Werden dann dorthin keine Unterlagen mehr überführt?Erhält es Hilfestellung von außen, damit es seine Funktion wieder angemessen wahrnehmen kann? Wer wird die

Zertifizierungen durchführen und mit welchen Qualifika-tionen müssen die Zertifizierer ausgestattet sein? Wer, sokann man schließlich weiter fragen, zertifiziert die Zertifi-zierer? Auch bei der Aufbewahrung und Erhaltung vonanalogen Unterlagen in den Magazinen unserer Archivebestehen sehr unterschiedliche Bedingungen, obwohl ein-deutige Vorgaben für eine angemessene Lagerung existie-ren. Man kann sicher unterstellen, dass in den Archivendas unbedingte Bestreben zur Sicherung der Überliefe-rung, sei sie nun analog oder digital, vorhanden ist. Aller-dings benötigen Archive dafür von Seiten ihres Trägers dieUnterstützung bei der Schaffung der notwendigen Bedin-gungen zum Erreichen dieses Ziels. Diese Bedingungensind in den Kriterien zusammengefasst und auch für dieVerantwortlichen bei den Archivträgern einsehbar. EineZertifizierung durch Transparenz erscheint darum für dieArchive angemessen. Sie erreichen ihre Glaubwürdigkeitdadurch, dass die Orientierung an den genannten Kriterienmöglichst transparent erfolgt und nachvollziehbar für dieÖffentlichkeit anhand der selbst gesteckten Ziele und Auf-gaben eine Strategie zur Archivierung digitaler Objekteverfolgt wird. Transparenz und Nachvollziehbarkeit, zweiwichtige Prinzipien archivischen Handelns, verlieren auchin der digitalen Umgebung nichts von ihrer Bedeutung.

Der umfangreiche Kriterienkatalog macht einmal mehrdeutlich, dass die Zusammenarbeit zwischen Archivarenund IT-Experten in Rechenzentren, zwischen Daten pro-duzierenden und Daten archivierenden Stellen möglichsteng sein sollte. Bereits bei der Datenentstehung ist es not-wendig, ihre künftige Archivierung zu berücksichtigen,um Kosten zu sparen für Konvertierung und Übergabe insArchiv. Nur in einem solchen gemeinsamen Vorgehenwerden die Verantwortlichen der so genannten Gedächt-nisorganisationen als letztes Glied in der Kette der digi-talen Datenhaltung ihre Überlieferung langfristig sichern.

Für den Vorstand Wolfsburg, 9. Januar 2007 Dr. Ulrike Gutzmann

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Stumpf, Marcus, Mass deacidification at the LandesarchivNordrhein-Westfalen (North Rhine-Westphalia State Archives)– experience with the Neschen process.

Der Archivar, Jg. 60, 2007, S. 112-118.Among archivists it is generally known that endogenous disinte-gration of the paper fibres threatens industrially manufacturedpaper based on mechanical wood pulp of the 1840s - 1960s. Thearticle describes a process of deacidification which was initiatedand developed in the Lower Saxony state archives in Bückeburg(hence widely known as ”Bückeburger Verfahren“), and takenover and further advanced by the Neschen AG since 1996. Brief-ly reviewing technical aspects of this process as well as its advan-tages and drawbacks, the article reports especially on the intensi-fied cooperation between the Landesarchiv (state archives) ofNorth Rhine-Westphalia and Neschen since 2004.

Stremmel, Ralf, Mass deacidification – prospects and limits.Der Archivar, Jg. 60, 2007, S. 119-127.

Archives are confronted with the necessity to preserve theirpapers which are threatened by endogenous acidic chemicaldecomposition. In order to cope with this task large-scale proce-dures of mass deacidification have been developed in the lastyears. This article presents experiences made with these procedu-res and proposes a catalogue of measures for the handling of dea-cidification projects. Spillovers of the procedures and possibledamages on the archival objects are not to be neglected and thearchivists are obliged to calculate the risks. The prospects of massdeacidification appear to be promising but the limits, however,may not be ignored.

Früh, Martin, Un modèle d’archivage prévu pour l’administra-tion financière.

Der Archivar, Jg. 60, 2007, S. 128-131.Depuis leur fondation en 2004, les Archives du land Rhénanie-du-Nord-Westphalie envisagent de réaliser une politique d’archi-vage basée sur des modèles d’archivage. Cet article présente lemodèle d’archivage prévu pour l’administration financière, misen vigueur en 2006 et obligatoire pour toutes les opérations de tri

effectuées par les archivistes. L’usage de ce modèle assurera lasélection facile et fiable de documents de valeur durable en pro-venance des différents services de l’administration financièrefédérale et régionale. En même temps, il sera possible d’estimerla quantité de documents fournis ainsi que le coût de leurpréservation.

Murken, Jens, Historical Education and Public Relations.Der Archivar, Jg. 60, 2007, S. 131-135.

Historical education and public relations are part of marketing forarchives and archives management. Both require a paradigm shiftfrom professional self-conception to customer orientation. Histo-rical education within archives can be seen as public relation withpedagogical, didactical and historic-critical aspects while publicrelations include historical education with the instruments of jour-nalism and marketing. The relation between these and every otherscope of duties within archives have to be recipient oriented,target-group defined and interactive in particular. To improve theimage of single archives and archives in general this kind of“historical communication” can make use of the common instru-ments of marketing and public relation while taking advantage ofthe uniqueness of cultural assets of archives.

Liebold, Marcus, Working in Oslo’s Riksarkivet for half a year.Der Archivar, Jg. 60, 2007, S. 136-139.

The author starts his article by giving impressions of a stay abroad and continues by presenting an overall picture of theNorwegian archival system. He explains the structure of the stateadministration of archives and refers to the innovative cooperati-on of archives, libraries and museums which is coordinated by acertain office. An active exchange in the field of information sup-ports the interdisciplinary cooperation of several institutionsworking with information in the field of education and furthertraining. Finally, the author presents the Riksarkivet as a success-ful example of how Norwegian archives are organized and howwell they work. Concluding, he states that closer cooperation ofinformation and communication institutions has already been putinto practice with specific projects.