Aristoteles Nikomachische Ethik (Rolfes)

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PfiObsophische Bibliothek Band 5. ARISTOTELES' Nikomachische Ethik. Zweite Auflage der neuen Ü1>er8etsTing- erste Auflage. Übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eug. Bolfes. Leipzig, Verlag von Felix Meiner. IQU. ^

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Aristoteles - Nikomachische Ethik

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  • PfiObsophische BibliothekBand 5.

    ARISTOTELES'

    Nikomachische Ethik.Zweite Auflage

    der neuen 1>er8etsTing- erste Auflage.

    bersetztund mit einer Einleitung und erklrenden Anmerkungen

    versehen

    von

    Dr. theol. Eug. Bolfes.

    Leipzig,Verlag von Felix Meiner.

    IQU.

    ^

  • EINLEITUNG.

    Die Nikomachische Ethik hat ihren Beinamen davon, daszAristoteles sie seinem Sohne Nikomachus gewidmet, odernach Einigen davon, dasz dieser sie nach seines VatersTode herausgegeben hat.

    Sie behandelt, wie im Worte liegt, die Lehre von derSittlichkeit oder Tugend. Durch die Tugend erfllt derMensch seine Bestimmung, die darin besteht, dasz er seinenatrliche Vollendung erlangt und dadurch glcklich wird.Darum ist fr Aristoteles das Ziel des Menschen der Aus-gangspunkt der ethischen Betrachtung. Wie alles Lebendige 10nach dem Guten strebt, so auch der Mensch : sein hchstesGut, das Ziel aller seiner Handlungen, ist die Glckseligkeit,und die ethische Errterung wird uns zeigen, dasz dieselbeeinzig in Bettigung der Tugend zu finden ist.Da aber der Mensch von Natur in staatlicher Gemeinschaft

    lebt und seine Bestimmung nur in ihr und durch sie erreicht,so behandelt Aristoteles die Tugendlehre als einen Teil derStaatslehre. Der Staat hat die Aufgabe, die Brger glcklichzu machen, indem er sie zur Tugend anhlt und anleitet,und so ist das Ziel des Einzelnen von dem Staatsziel wie 20das Besondere und Untergeordnete von dem Allgemeinenund Hheren umschlossen.

    Die Tugendlehre des Aristoteles hat verschiedene Eigen-tmlichkeiten, die mit ihrer Unterordnung unter die Staats-lehre mehr oder minder zusammenhngen.Vor allem versteht Aristoteles unter jener Glckseligkeit,

    die das Ziel der Tugend ist, ausschlieszlich die diesseitigeund irdische und lszt die jenseitige auszer Betracht. Diesist nicht so zu erklren, als kenne er kein anderes Leben.Weisz man doch, dasz er gleich seinem groszen Vorgnger 30Plato die Unsterblichkeit der Seele lehrt. Vielmehr kommt

  • VI Einleitung.

    jenes daher, dasz er die Glckseligkeit des Einzelnen imZusammenhang mit dem Staatszweck betrachtet. Der Staataber ist eine Einrichtung, die nur dem Diesseits angehrtund darum auch nur irdisches Wohl verfolgen kann.

    Aristoteles scheint ferner die Tugend zur Glckseligkeitin das Verhltnis des Mittels zum Zweck zu stellen, unddoch ist sie auch ihrer selbstwegen liebenswert, und wersich um sie nur deshalb bemhte, weil sie uns glcklichmacht, verfiele dadurch einer Art von Egoismus. Aber es

    10 ist zweierlei, zu sagen, dasz die Tugend glcklich macht,und zu sagen, dasz damit ihr Wert erschpft ist, und mannur deshalb nach ihr streben soll. Das erste hat Aristotelesgesagt und stark betont, und dazu wurde er wieder durchdie ihm eigentmliche Verbindung der Ethik mit der Politikveranlaszt. Die Politik verfolgt das Glck der Staats-angehrigen, und so kam er wie von selbst dazu, auchbei dem Einzelnen, das eudmonistische Moment in denVordergrund zu stellen. Dabei ist er aber gewisz weitdavon entfernt, einem einseitigen Eudmonismus das Wort

    20 zu reden. Er sagt vielmehr ausdrcklich, dasz man umjeden Preis, auch den des Lebens, an der Tugend halten,und dasz man lieber die grszten Qualen leiden mszte alsschimpflichen Zumutungen nachgeben ; vgl. III, 1 ; 3. Absatz.Wenn ihm daneben die Glckseligkeit oder auch die Lustdas hchste Gut sind, so knnte man ja meinen, damitwre der Tugend der zweite Rang angewiesen, sie solleMittel, jene beiden aber Zweck sein. Allein einmal sagt erdas nirgendwo, und er scheint nach X, 5, Absatz 1 fastabsichtlich das Rangverhltnis zwischen Tugend und Lust

    30 unentschieden zu lassen. Sodann wird die Rangfrage beiihm so zu sagen gegenstandslos, insofern ihm Tugend undGlckseligkeit vllig gleich und von einander untrennbarsind. Er sagt ja nicht blos, dasz die Tugend zur Glckselig-keit fhre, sondern noch fter sagt er, dasz sie oder dietugendgemsze Ttigkeit die Glckseligkeit sei. Es ist aberauch wohl zu bemerken, dasz es nicht verkehrt und nichttadelnswert ist, wenn man die Tugend um der Glckseligkeitwillen liebt, die man durch sie erlangt. Tugendhaft seinum des Lohnes willen, mag nicht der hchste Grad der

    40 Tugend sein, aber ein Grad ist es immerhin, und auch derBeste braucht sich der Rcksicht und der Hoffnung auf denLohn, als wre das unmoralisch, nicht zu entschlagen. Esist eine gefhrliche bertreibung, eine Sittlichkeit, die aufden Lohn blickt, als Pseudomoral zu bezeichnen. Wre sie

  • Einleitung. VII

    das, was wre dann die Moral des Christentums, wie siez. B. von dem Stifter unseres Glaubens in den acht Selig-keiten vorgetragen wird?Noch ein Drittes ist der aristotelischen Tugendlehre

    eigentmlich und kann auffallen und befremden. Sie schweigtgnzlich von dem Willen Gottes, der doch mit Recht alsdas oberste Moralgesetz gilt. Man kann dieses Schweigennicht daraus erklren, dasz die sittlichen Gesetze undForderungen innerlich notwendig sind, indem sie auf derNatur der Dinge beruhen und aus ihr abgeleitet werden 10knnen, so dasz es fr die sittliche Erkenntnis nichts weiterbedrfte als eines richtigen Urteils ber das natrliche Ver-hltnis, in dem die Dinge zu einander stehen. Denn einsolches Urteil kann uns nur versichern, dasz etwas zumSittengesetze gehrt, aber nicht darber belehren, wasberhaupt der Grund und das Wesen der sittlichen Ver-pflichtung ist ; das ist es aber, was man von einer wissen-schaftlichen Sittenlehre verlangt. Die Natur der Dinge lehrtz. B., dasz man die Sinnlichkeit bezhmen, nicht stehlen,nicht lgen, dasz man die Eltern ehren soll, aber darum 20wissen wir noch nicht, warum uns diese Regeln die in ihrerArt so ganz eigentmliche sittliche Verpflichtung auferlegen,von wem sie im letzten Grunde kommen, und wem wirfr die Beobachtung derselben verantwortlich sind. Allediese Fragen lassen sich ohne Bezugnahme auf den Willenund das Gebot Gottes nicht beantworten. Nur aus demWillen Gottes entspringt sittliche Verpflichtung, und wenndieser gttliche Wille als Grund des natrlichen Sitten-gesetzes auch nicht frei ist, sondern notwendig aus derHeiligkeit und Weisheit Gottes hervorgeht, so dasz er berall 30stillschweigend hinter den sittlichen Forderungen steht, sokann doch von sittlicher Erkenntnis und Handlung nur dadie Rede sein, wo von dem sittlichen Subjekt nicht blosder materielle Inhalt des Sittengesetzes, sondern auch derWille Gottes als die Quelle des Gesetzes erkannt ist. Wirmchten darum glauben, dasz Aristoteles nicht deshalbvom Willen Gottes als Grund und Norm der Sittlichkeitgeschwiegen hat, weil derselbe seinem Gegenstande nachmit den natrlichen Forderungen der Vernunft und deminneren Gesetze der Dinge zusammenfllt, sondern aus 40einem anderen Grunde, darum nmlich, weil es seineAbsicht nicht war, eine wissenschaftliche Theorie der Moralzu schreiben. Seine Ethik ist ein populrer Traktat mit einerunmittelbar praktischen Bestimmung; sie ist, wir mssen es

  • Vni Einleitung.

    auch hier wieder sagen, ein Stck Staatslehre und muszsich darum in den Rahmen dieser Bestimmung fgen. Dasknnte sie aber nicht, wenn sie es unternhme, die Sittlich-keit aus ihren letzten Grnden abzuleiten. Denn allerdingsist diese eine Sache, die an sich mit dem Staate nichtnotwendig zu tun hat. Ihr Platz ist berall gegeben, woein vernnftiges Geschpf frei handelnd auftritt. Dies mchtealso die Erklrung fr das Schweigen sein, mit dem Aristotelesin diesem Werke an den letzten Fragen der Moral vorber-

    10 geht. Ihn unter die Vertreter der religionslosen Moral zurechnen, hat man kein Recht.Gehen wir nun weiter und erklren wir, wie Aristoteles

    seine Lehre, dasz die Tugend und die tugendgemszeTtigkeit das Ziel des Menschen ist und ihn wahrhaftglcklich macht, durchfhrt.

    Er zeigt zunchst, dasz das Ziel des Menschen nicht inSinnengenuss, in eitler Ehre oder in irdischem Besitze,sondern in menschenwrdiger Ttigkeit besteht. Fr alles,

    20 was eine Ttigkeit und Verrichtung hat, liegt das Guteund Vollkommene in der Ttigkeit. Die Dinge haben eineerste Vollkommenheit auf grund ihrer Natur, ihrer Wesens-form, eine zweite und hhere auf grund ihrer Ttigkeit.Durch diese wird alles Gute, was sie der Anlage nachhaben, zur Entfaltung gebracht und in die Wirklichkeitberfhrt. Die blosze Anlage ohne die Ttigkeit ist unfruchtbarund liegt gleichsam im Schlafe. Dies wird also auch frden Menschen gelten: auch ihm wird die Vollendung ausder Ttigkeit erwachsen.

    30 Aber es fragt sich, aus welcher Ttigkeit. Ohne Zweifelaus derjenigen, die ihm als Mensch eigentmlich ist undihn von anderem Ttigen unterscheidet. Das ist eben dietugendgemsze Ttigkeit. Die vitalen oder vegetativen Funk-tionen hat er mit den Pflanzen, die sensitiven mit den Tierengemein, nur die tugendgemsze Ttigkeit, als Funktion desvernnftigen Seelenteils in ihm, hat er allein zu eigen. Sieist Ttigkeit der Vernunft und des Willens, nur dasz siein rechter Weise, nach der Norm der Sittlichkeit, geschieht.Die tugendgemsze Ttigkeit vollendet also den Menschen

    40 und macht ihn glcklich, und wenn es der Tugendenmehrere gibt, so wird es vor allem die der besten undvollkommensten Tugend gemsze Ttigkeit sein, die ihnvollendet und glcklich macht.An dieser Stelle wendet sich bei Aristoteles die Errterung.

    4

  • Einleitung. IX

    Es folgt nicht gleich, wie man erwarten knnte, die Angabeund Beschreibung der besten Tugend und eine nhereErklrung, wie sie und die Tugend berhaupt das Lebens-glck des Menschen ausmachen knne, sondern diese Dingewerden bis zum Ende der ganzen Schrift verschoben undim letzten, dem zehnten Buche erledigt. Zunchst folgt inausfhrlicher Darstellung, die den Kern der Schrift ausmacht,die Errterung der Tugend, ihres Begriffes, ihrer psycho-logischen Voraussetzungen im Menschen, welches der Ver-stand und der freie Wille sind, und ihrer verschiedenen 10Arten. Das Bisherige nmlich sollte nur das Fundamentdes ganzen ethischen Lehrgebudes sein und uns die Be-deutung der Tugend zum Bewusztsein bringen, da sie dasMittel ist, um unsere Bestimmung als Menschen zu erreichen.Entsprechend soll die Errterung am Ende ber das Glckund die Befriedigung, die aus der Tugend flieszt, und berdie vollkommenste Tugend gleichsam der Schluszstein desWerkes sein.Wir sehen hier von dem mittleren Teile der Ethik, der

    Darstellung der Tugend und der Tugenden, ab. Man kann 20das Nhere darber aus unserem Inhaltsverzeichnisse zurEthik entnehmen. Dieses Verzeichnis, zusammengehaltenmit zerstreuten Notizen in unseren Anmerkungen, ergibtzur Genge, dasz die aristotelische Errterung wohl geordnetist und berall, im kleinen und groszen, gut zusammenhngt.Wir mssen jetzt von dem zehnten Buche der Ethik reden.Dort wird zuerst vorbereitend von der Lust gehandelt, dieaus naturgemszer Ttigkeit flieszt, und dann im Anschluszdaran von der Glckseligkeit, die aus tugendgemszerTtigkeit flieszt, besonders aus dem Akt der vollkommensten 30und besten Tugend. Diese ist die Weisheit und ihr Aktdas Denken, die Erkenntnis und Betrachtung der Wahrheit.

    Alles Lebendige begehrt nach der Lust, wie es auch nachdem Sein, dem Leben und der Ttigkeit begehrt. Die Ttigkeitist nmlich die Vollendung des Lebens und des Seins, unddarum ist sie mit Lust verbunden, weil jedes Wesen sichseiner natrlichen Vollendung freut. Die Lust begleitet dieTtigkeit und folgt aus ihr; sie erleichtert aber auch dieTtigkeit, steigert und vollendet sie. Wie die Ttigkeit, soist die Lust. Sie ist um so grszer, je vollkommener die 40Ttigkeit ist, und diese ist wieder um so vollkommener,je besser ihr Objekt und in je besserer Verfassung die ttigePotenz ist. Die Lust ist auch um so reiner, je weiter dasTtige oder sein Vermgen von der Materialitt entfernt ist.

  • X Einleitung.

    Nun hat jedes lebendige Wesen seine eigentmliche Lust,weil jedes seine eigentmliche Ttigkeit hat. So wird auchdie eigentmlich menschliche Lust in der eigentmlichmenschlichen Ttigkeit liegen, und das ist das Denken.Sie heiszt nicht mehr einfach Lust, sondern Glckseligkeit.Sie ist unter allen Lsten die reinste, weil immateriell undgeistig, und ist fr den Einzelnen um so grszer, je voll-kommener sich in ihm das Leben des Geistes entfaltet hat.jede tugendgemsze Ttigkeit beglckt den Menschen, weil

    10 jede Tugend am Geistigen teil hat. Sie ist entweder Ver-standestugend oder doch Tugend des Willens, der amVerstnde teil hat, indem er ihm gehorcht. Am meisten aberbeglckt die Ttigkeit gemsz der Tugend der Weisheit,eine Ttigkeit, die in Erforschung und Betrachtung derewigen V/ahrheiten besteht. Sie gehrt dem vernnftigenSeelenteile als solchem an, nicht blos insofern die Seele,wie im Willen, an der Vernunft teil hat; und sie hat zumGegenstand das Beste, das wesentlich Gute und Gttliche.Diese Ttigkeit des Denkens und der Betrachtung ist darum

    20 die eigentliche Bestimmung des Menschen; sie gibt ihmwahre Befriedigung und bringt sein Begehren und Strebenzur Ruhe. Sie ist auch das Staatsziel, insofern alle Wohl-taten, die wir von dem Staate erwarten, Friede, Ruhe,Sicherheit und Wohlstand, es uns mglich machen, demLeben des Geistes obzuliegen.

    Man besorge aber darum nicht, dasz Aristoteles dieTugend und Vollendung des Menschen einseitig in denVerstand lege. Die Verstandestugenden sind ihm von den

    30 Charaktertugenden unzertrennlich. Eben darum sind sie jaauch Tugenden. Der Wille, wie Aristoteles mit tiefempsychologischen Verstndnis lehrt, beeinfluszt die Erkennt-nis. Verkehrtes Begehren verkehrt auch das Denken undUrteilen. Wie darum unserem Philosophen zufolge dieVerstandestugend der Klugheit eine wahre Tugend unddemnach mit Schlechtigkeit unvertrglich ist, so gilt ihmdasselbe noch in hherem Grade von der Weisheit. Erwrde, wenn er es gekannt htte, das ernste und erhabeneWort aus dem gttlichen Buche von Herzen unterschrieben

    40 haben, das Wort: in malevolam animam non introibitsapientia, nee habitabit in corpore subdito peccatis, Sap. 1, 4.Wir haben hiermit die Anlage und den Grundgedanken

    der Nikomachischen Ethik in aller Krze dargelegt. Dergriechische Text scheint, abgesehen von Kleinigkeiten, in

  • Einleitung. XI

    groszer Reinheit und Unversehrtheit auf uns gekommenzu sein. Das gilt mit ganz kleinen Ausnahmen auch vomfnften Buche. Der gegenwrtigen bersetzung liegt diegrosze Bekkersche Ausgabe der Kniglich-PreuszischenAkademie vom Jahre 1831 zugrunde. Von ihr sind wir nurdrei oder viermal abgewichen, was wir jedesmal in Fusz-noten bemerken.Es wre sehr wnschenswert, wenn unsere Leser die

    kleine kritische Separattextausgabe von Susemihl und Apelt,Leipzig, Teubner 1903 zur Hand htten. In dieser Ausgabe 10sind in einem eigenen Appendix, S. 278 ff., alle Stellender Nikomachischen Ethik angegeben, die in eben diesemWerke zitiert werden. Sodann enthlt sie S. 247278 einensehr dankenswerten alphabetischen Index. Ferner bringtsie nach der Prfatio wertvolle literarische Notizen: einVerzeichnis der gedruckten griechischen Textausgaben derEthik vom fnfzehnten Jahrhundert bis zum Jahre 1900;es umfaszt nicht weniger als 43 Nummern ; ein Verzeichnisder Ausgaben von Stcken der Ethik; ein Verzeichnis derbersetzungen ins Lateinische und lebende Sprachen. Von 20deutschen bersetzungen der ganzen Ethik nennt sie seitdem Jahre 1791 sechs. Ihnen ist beizufgen die bertragungvon Professor Adolf Lasson vom vorigen Jahre, Jena,Diederichs.Auch die Kommentare werden bei Susemihl-Apelt namhaft

    gemacht: die drei griechischen, die seit 1889 im Auftragder Berliner Kgl. preusz. Akademie der Wissenschaftenvon Heylbut neu ediert worden sind, und die drei latei-nischen von Muret, Kamerarius und Giphanius, die scheintsseit langem nicht mehr neu aufgelegt worden sind. Bezeich- 30nender Weise fehlt in dem Verzeichnis der lateinischeKommentar von Thomas von Aquin, f 1274: SanctiThomaeAquinatis Commentarium in X Libros Ethicorum ad Nico-machum. Grade dieser Kommentar aber ist fr die Erklrungder Ethik, wie berhaupt die Thomaskommentare fr dieAristoteleserklrung, von unschtzbarem Werte. Thomasist ein dem Aristoteles kongenialer Geist. Diese beidenMnner ragen in der Reihe der anderen Geisteskoryphen,die uns die Jahrhunderte und Jahrtausende gebracht haben,in ganz eigener Grsze empor. Thomas ist auch der 40Dolmetsch der Auffassung des Aristoteles seitens dermittelalterlichen Wissenschaft. Wenn ich in der vorliegen-den bersetzung und Erklrung der Ethik den Kommentarvon Thomas mit Vorzug benutzt habe, so gibt mir das die

  • Xa Einleitung.

    Hoffnung, dasz ich auch nach den trefflichen Leistungenmeiner Vorgnger keine berflssige Arbeit bringe.

    In dem Verzeichnis bei Susemihl-Apelt fehlt auch derlateinische Kommentar des italienischen Jesuiten SilvesterMaurus, f 1687, der eine Paraphrase zu smtlichen Werkendes Aristoteles verfaszt hat. Von derselben sind 4 Bndevon Franz Ehrle S. J. neu ediert worden, Paris, Lethielleux1885,86. Auch dieser Kommentar hat mir gute Dienstegeleistet. Bei Maurus, der ein tchtiger Grieche war, ist

    10 die philologische Seite der Aufgabe mehr bercksichtigtworden als bei Thomas, der ihm brigens in der philoso-phischen Auslegung der aristotelischen Gedanken masz-gebend ist.

    Brhl, Rheinland, den 17. Aug. 1910.

    ROLFES.

  • INHALTSVERZEICHNISZUR NIKOMACHISCHEN ETHIK.

    ERSTES BUCH.Seite

    Kapitel 1. Promium. Die Ethik, als Wissenschaft vomEndziel des Menschen, ein Teil der Politik .... 1

    Kapitel 2. Das menschliche Endziel die Eudmonie.Die Methode der Ethik analytisch 3

    Kapitel 3. Verschiedene Ansichten ber die Eud-monie 5

    Kapitel 4. Die Ansicht Piatos und die Idee des Guten. 6Kapitel 5. Die eigene Ansicht des Aristoteles. DieEudmonie als Ziel alles Handelns ist etwas Voll-koitimenes und sich selbst Gengendes 8

    Kapitel 6. Sie besteht in tugendgemszer Ttigkeit . 10Kapitel 7. Methodologische Bemerkungen. Der ethi-

    sche Ausgangspunkt ist der Wert der Tugend und derGlckseligkeit 11

    Kapitel 8. Besttigung des Satzes in Kap. 6 aus derallgemeinen Meinung ber die menschlichen Gter . 12

    Kapitel 9. Weitere Besttigung aus der Ansicht derAlten und der Weisen ber die Glckseligkeit ... 13

    Kapitel 10. Die Glckseligkeit ist des Menschen eigeneTat 14

    Kapitel 11. Darf man den Menschen erst nach seinemTode glcklich preisen? 16

    Kapitel 12. Die Glckseligkeit gehrt nicht zu denblos lblichen, sondern zu den verehrungswrdigenund vollkommenen Dingen 19

    Kapitel 13. bergang zur Tugend. Sittliche und Ver-standestugenden 20

  • XIV Inhaltsverzeichnis.

    Seite

    ZWEITES BUCH.

    Kapitel 1. Die sittliche Tugend entspringt aus guterGewhnung, wie die Verstandestugend aus Lehre. . 23

    Kapitel 2. Die Erscheinung der sittlichen Tugend istdie Handlung, die aber auch selbst wieder die Tugendhervorbringt und mehrt. Die Handlung musz die richtigeMitte treffen und mit Lust oder Freude verbunden sein,wenn sie ein Kennzeichen wahrer Tugend sein soll. 24

    Kapitel 3. Wie kann es vor der Tugend eine tugend-hafte Handlung geben? 27

    Kapitel 4. Bestimmung des Wesens der Tugend imAllgemeinen: sie ist ein Habitus des Whlens undHandelns 29

    Kapitel 5. Bestimmung des Wesens der Tugend imBesondern: sie ist ein Habitus, durch den wir dievernnftige Mitte treffen 30

    Kapitel 6. Nhere Bestimmungen ber die Mitte . . 32Kapitel 7. Erluterung des Begriffs der Mitte an den

    einzelnen Tugenden 32Kapitel 8. Zur Tugend als Mitte bildet bald das Zuviel

    bald das Zuwenig den grszeren Gegensatz .... 35Kapitel 9. Die Mitte zu treffen ist schwer. Eine be-

    sondere Regel, die uns das erleichtert 37

    DRITTES BUCH.

    Kapitel 1. Zur Tugend und zum Verdienst gehrt alssubjektive Voraussetzung die Freiwilligkeit von Affektund Handlung. Das Unfreiwillige ist solches entwederwegen Zwang oder wegen Unwissenheit. Was ge-schieht aus Zwang? 39

    Kapitel 2. Was geschieht aus Unwissenheit? ... 41Kapitel 3. Was geschieht freiwillig? 42Kapitel 4. Was geschieht nicht blos freiwillig oder

    spontan, sondern auch aus freier Wahl, und was istdie freie Wahl?. . 43

    Kapitel 5. Von der berlegung, die der Willensent-scheidung vorhergeht und von den Mitteln zum Zweckeals ihrem Gegenstand 45

    Kapitel 6. Von dem Guten, das als Ziel und ZweckGegenstand des Willensaktes ist 48

    Kapitel 7. Von der Willensfreiheit. Beweise fr die-selbe. Tugend und Laster sind freiwillig wie die

  • J|i>v Inhaltsverzeichnis. XV*

    Seite

    moralischen und unmoralischen Handlungen, dochnicht in gleichem Grade wie die letzteren 48

    Kapitel 8. Zusammenfassung des bisher ber dieTugend Gesagten 52

    Kapitel 9. bergang zu den einzelnen Tugenden.Der Mut und sein besonderer Gegenstand, dieTodesschrecken 52

    Kapitel 10. Was und wie man frchten soll. DerTollkhne und der Feige 53

    Kapitel II. Selbstmord. Von fnf Arten des Mutes,die nicht die eigentliche Tugend des Mutes sind. . 55

    Kapitel 12. Der Mut hat es mehr mit der Unlust alsmit der Lust, mehr mit dem Furchterregenden alsmit dem Muterregenden zu tun 58

    Kapitel 13. Die Mszigkeit. Sie ist mit dem Mute dieandere Tugend des unvernnftigen Seelenteils oder dessinnlichen Strebevermgens und hlt sich mit ihm aufdem Empfindungsgebiet, das wir mit den Tieren teilen.Sie hat es besonders mit der Lust des Gefhls zu tun.Die Unmszigkeit und ihre verschiedenen Arten . . 59

    Kapitel 14. Die Empfindungslosigkeit gegenber demLustgefhl. Charakterzge des Mszigen 62

    Kapitel 15. Die Unmszigkeit in hherem Grade frei-willig als die Feigheit. Sie hat eine hnlichkeit mitder Ungezogenheit 63

    VIERTES BUCH.

    Kapitel 1. Die Freigebigkeit und ihre Gegenstze,Verschwendung und Geiz 65

    Kapitel 2. Charakter des Freigebigen 66Kapitel 3. Charakter des Verschwenders und des

    Geizigen. . 68

    Kapitel 4. Die Hochherzigkeit. Ihr Begriff. Ihre Gegen-stze. Sie erheischt Takt 71

    Kapitel 5. Ihre Bettigung. Ihre Vorbedingungen. Sieverlagnet sich auch nicht im kleinen 72

    Kapitel 6. Der Protzer und der Engherzige als Gegen-stze des Hochherzigen 74

    Kapitel 7. Der Hochsinn oder die Seelengrsze.Begriff, Gegenstand und Gegenstze 74

    Kapitel 8. Charakter des Hochsinnigen 76Kapitel 9. Der Mann niederen Sinnes und der Auf-

    geblasene als Gegenstze des Hochsinnigen .... 79

  • XVI Inhaltsverzeichnis.

    Seite

    Kapitel 10. Der Sinn fr Ehre als Vorstufe des Hoch-sinns 79

    Kapitel 11. Die Sanftmut nebst deren Mangel undbermasz 80

    Kapitel 12. Die Tugenden des Verkehrs. Der Gefall-schtige, der Unliebsame und der Mann der Mitte . 82

    Kapitel 13. Die Wahrhaftigkeit und deren Gegenstze,Prahlerei und Selbstverkleinerung 84

    Kapitel 14. Witz und Gewandtheit und deren Gegen-stze, Possenreisserei und Steifheit 86

    Kapitel 15. Scham und Scheu, keine eigentlicheTugend, sondern an der rechten Stelle ein lblicherAffekt 87

    FNFTES BUCH.Kapitel 1. Die Gerechtigkeit. Bei ihr kommt vor allem

    die Handlung in betracht, nicht der Affekt; sie hatihren Sitz im Willen, nicht im Gemt. Andere vor-lufige Bemerkungen 89

    Kapitel 2. Es gibt eine doppelte Gerechtigkeit, dieallgemeine oder die Legalitt, die auf andere und aufdie Gesamtheit Bezug hat, und die besondere oderdie Beobachtung der Gleichheit andern gegenber . 90

    Kapitel 3. Die allgemeine Gerechtigkeit 91Kapitel 4. Die besondere Gerechtigkeit. Beweis, dasz

    es eine solche neben den anderen sittlichen Tugen-den gibt 92

    Kapitel 5. Sie ist teils distributive, teils kommutativeGerechtigkeit, und diese findet sich wieder teils imfreiwilligen, teils im unfreiwilligen Verkehr 93

    Kapitel 6. Die distributive Gerechtigkeit. Sie teiltjedem nach Verhltnis der Wrdigkeit zu, und so istdie hier geltende Gleichheit eine proportionale ... 95

    Kapitel 7. Die Proportionalitt der distributiven Ge-rechtigkeit ist geometrisch. Bei der kommutativenGerechtigkeit liegt die Gleichheit in der arithmetischenProportion. Hiernach bestimmt sich auch das richter-liche Verfahren zur Wiederherstellung des verletztenkommutativen Rechts 96

    Kapitel 8. Die Wiedervergeltung deckt sich nicht mitder Gerechtigkeit. Das Verfahren, um der kommu-tativen Gerechtigkeit praktisch zu entsprechen, lsztsich an dem Schema eines Quadrats und seiner

  • (nhaltsverzelchnis. XVil

    Seite

    Diagonalen veranschaulichen. Als einheitliches Masz,um im Verkehr die Ansprche beider Teile zu be-messen, dient das Geld 99

    Kapitel 9. Die Gerechtigkeit ist eine Mitte zwischeneiner zweifachen Ungerechtigkeit, dem Zuwenig derLeistung und dem Zuviel der Forderung 102

    Kapitel 10. Besondere Arten von Recht: staatlichesoder politisches Recht, Herrenrecht, vterliches, ko-nomisches Recht. Ungerechte Handlung und Unrecht.Ungerechte Handlung und Ungerechtigkeit 103

    Kapitel U. Kann man freiwillig Unrecht leiden?. . 108Kapitel 12. Wer tut Unrecht, der zuviel austeilt, oder

    der zuviel erhlt? 109Kapitel 13. Ist es schwer, gerecht zu sein, und warum ?Beschrnkung der Rechtssphre auf den Menschen .111

    Kapitel 14. Von der Epikie 112Kapitel 15. Von der Gerechtigkeit im bertragenen

    Sinne. In diesem Sinne kann man auch sich selberUnrecht tun 113

    SECHSTES BUCH.

    Kapitel 1. Die Verstandestugenden. Sie lassen unsdie rechte Mitte finden und ergnzen so die sittlichenTugenden 116

    Kapitel 2. Spekulative und praktische Vernunft alsSubjekt der Verstandestugenden 117

    Kapitel 3. Fnf Vermgen der Seele, die immer dasWahre umfassen : Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weis-heit und Verstand. Von der Wissenschaft insbesondere. 1 19

    Kapitel 4. Die Kunst 119Kapitel 5. Die Klugheit 120Kapitel 6. Der Verstand 122Kapitel 7. Die Weisheit. In ihr ruht die menschlicheBestimmung. Ihre Erhabenheit ber die Staatskunstund alle praktische Klugheit 122

    Kapitel 8. Nochmals von der Klugheit und den ver-schiedenen Sphren ihrer Bettigung 124

    Kapitel 9. Die kluge Pflege des privaten und desffentlichen Wohls gehrt zusammen. Verhltnis derKlugheit zur Wissenschaft und zum Verstnde (hiehergehrt auch noch der 1. Absatz von K. 10) . . . . 125

    Kapitel 10. Drei zur Klugheit gehrige Tugenden:die Wohlberatenheit als erste dieser drei 126

    *

  • Xvni Inhaltsverzeichnis.

    Seite

    Kapitel 11. Die Verstndigkeit und die Diskretion alszweite und dritte 128

    Kapitel 12. Diese drei sind mit der Klugheit und dempraktischen Verstnde in ihrem Gegenstand und Zieleins. Der praktische Verstand reicht tief in die Sinn-lichkeit hinein, insofern er dem Einzelnen und Kon-kreten zugekehrt ist, um das sich alles Handeln bewegt. 129

    Kapitel 13. Von der praktischen Bedeutung der Klug-heit und der Weisheit, welches die eigentlichenVerstandestugenden sind. Nochmals die Erhabenheitder Weisheit \ 130

    SIEBENTES BUCH.

    Kapitel 1. Drei Dinge sind zu meiden, Schlechtigkeit,Unenthaltsamkeit und tierische Rohheit. Es soll be-sonders von der Unenthaltsamkeit und der Enthaltsam-keit gehandelt werden 134

    Kapitel 2. Die gangbaren Ansichten ber Enthaltsam-keit und Abgehrtetheit und ihr Gegenteil. Enthaltsam-keit und Mszigkeit 135

    Kapitel 3. Aporien betreffs der Enthaltsamkeit . . .136Kapitel 4. Die Ordnung, in der die Lsung der Aporien

    erfolgen soll. Die Enthaltsamkeit bewegt sich umdasselbe wie die Mszigkeit 138

    Kapitel 5. Wie man wissentlich unenthaltsam seinkann 139

    Kapitel 6. Schlechthinnige und beziehungsweise Un-enthaltsamkeit 141

    Kapitel 7. Unenthaltsamkeit in bezug auf Lust undin bezug auf Zorn. Drei Arten der Lsternheit.Schlechtigkeit und Vertiertheit 145

    Kapitel 8. Der Unmszige schlimmer als der Unent-haltsame. Unterarten der Unenthaltsamkeit 147

    Kapitel 9. Der Unmszige reuelos und unheilbar, derUnenthaltsame reuig und heilbar 149

    Kapitel 10. Feste Haltung gegenber der Lust undfestes Halten an der eigenen Meinung 150

    Kapitel 11. Die Enthaltsamkeit als Mitte. NochmalsEnthaltsamkeit und Mszigkeit. Unenthaltsamkeitunvereinbar mit Klugheit, nicht aber mit Geschick-lichkeit. Welche Arten der Unenthaltsamkeit leichterzu heilen sind 152

    Kapitel 12. Die Lust. Warum der Staats- und Moral-

  • Inhaltsverzeichnis. XIX

    Seite

    lehrer es mit ihr zu tun liat. Die Ansichten ber sie.Sie soll nicht gut oder nicht immer gut oder nichtdas hchste Gut sein. Die Grnde fr diese Ansichten. 153

    Kapitel 13. Dasz diese Grnde nicht dartun knnen,die Lust sei nicht gut oder nicht das hchste Gut,ergibt sich aus verschiedenen Erklrungen und Unter-scheidungen 154

    Kapitel 14. Auch daraus ergibt es , sich, dasz dasGegenteil der Lust, die Unlust, ein bel, dasz unge-hemmte Ttigkeit gemsz der Tugend das Endziel istund solche ungehemmte Ttigkeit naturgemsz mitLust verpaart sein musz, dasz endlich alles was Odemhat nach ihr begehrt. Insbesondere Errterung derleiblichen Lust. Auch sie ist an sich und mit Maszgenossen gut 156

    Kapitel 15. Die gegenteilige Ansicht bezglich derkrperlichen Lust hat ihren Grund darin, dasz mansie so oft im bermasz oder dasz man sie unterVoraussetzung eines Mangels, dem sie wie eineMedizin abhelfen soll, begehrt. Die Lust und Freudean der Wahrheit hat kein bermasz. In dieser absolutwechsellosen Lust besteht die Seligkeit Gottes. . . 158

    ACHTES BUCH.

    Kapitel 1 . Die Freundschaft. Sie gehrt in die Ethikund Politik a) als verwandt mit der Tugend, alsderen Kennzeichen und Frucht, b) als unentbehrlichzum Wohle des Einzelnen, der Familie und desStaats, c) als Milderung des strengen Rechts . . .161

    Kapitel 2. Aporien ber sie. Fordert sie Gleichheitoder Ungleichheit? Fordert sie Tugend? Hat sieverschiedene Arten ? Lsung auf Grund des Begriffesliebenswert. Drei Arten der Freundschaft, gegrndetauf Tugend, Lust und Nutzen. Begriff der Freund-schaft 162

    Kapitel 3. Vergleich der drei Arten der Freundschaft.Nur die erste beruht auf eigentlicher Liebe. Die beidenanderen sind nicht von Dauer 164

    Kapitel 4. Die Freundschaft unter Tugendhaften. IhreVollkommenheit und Bestndigkeit. Sie kommt seltenvor 165

    Kapitel 5. Die beiden anderen Arten der Freundschaftsind Freundschaft auf Grund ihrer hnlichkeit mit

  • XX Inhaltsverzeichnis.Seite

    ihr und haben um so mehr von ihren Vorzgen, jemehr sie ihr hnlich sind. Freundschaft, die wirklichder Person gilt, ist nur unter Tugendhaften. Aucheine solche, wo Lust und Nutzen zusammentreffen,ist abgesehen von der Freundschaft unter Tugend-haften selten 166

    Kapitel 6. Die Freundschaft kann gleich der Tugendals Habitus und als Aktus betrachtet werden. Siebettigt sich ganz besonders in der Freude amZusammensein, das freilich als tgliches Zuzammen-sein wohl nur unter solchen, die zusammen aufge-wachsen sind, den sogenannten hcQOL, mglich ist. 167

    Kapitel 7. Warum die Freundschaft ein Habitus ist.Unter welchen Personen sie schwerer und unterwelchen sie leichter geschlossen wird. Ob man vielenFreund sein kann. Die Freunde der Hochgestellten . 168

    Kapitel 8. Freundschaften mit gleichen oder qui-valenten Leistungen beiderseits und Freundschaftenmit ungleichen Leistungen. Dieselben beruhen a) aufeinem Verhltnisse der berlegenheit wie die Freund-schaft des Vaters mit dem Sohne. Sie werden dadurcherhalten, dasz jeder Teil nach Gebhr liebt undgeliebt wird 170

    Kapitel 9. Fortsetzung: einige gelegentliche Bemer-kungen, dasz z. B. auch bei berlegenheit der einenSeite immer noch eine gewisse Gleichheit der Personenbestehen bleiben musz, und eine Freundschaft zwischenMenschen und Gttern nicht sein kann. Es folgt dieErklrung, dasz die Freundschaft mehr im Liebenals im Geliebtwerden besteht 171

    Kapitel 10. Nachweis wie solche Freundschaft da-durchpestndig bleibt, dasz man nach Wrde oderVerhltnis liebt. Die Freundschaften mit ungleichenLeistungen beruhen b) auf Gegenstzen wie reichund arm, gelehrt und ungelehrt, schn und hszlich.In wiefern die Gegenstze nach Freundschaft ver-langen 173

    Kapitel 11. Die Freundschaften mit ungleichen Leis-tungen und das Recht. Beide ruhen auf der gleichenGrundlage der xotvwvta, der Gemeinschaft. Die Artender genannten Freundschaften gleichen den verschie-denen Staatsformen und knnen nach ihnen unter-schieden und charakterisiert werden 174

    Kapitel 1 2. Die Staatsformen : Monarchie, Aristokratie

    1

    1

  • Inhaltsverzeichnis. XXI

    Seite

    und Republik, und deren Ausartungen : Tyrannis,Oligarchie und Demokratie. Das Verhltnis von Vaterund Kind als Abbild der Monarchie, das ehelicheVerhltnis als Abbild der Aristokratie und das Ver-hltnis unter Brdern als Abbild der Republik. DieAusartungen dieser Verhltnisse 175

    Kapitel 13. Durchfhrung des aufgestellten Vergleichesund Nachweisung der beiderseitigen Leistungen hierund dort, in Staat und Familie. Bei den Ausartungenkommen sie vielfach in Wegfall und bleibt vonFreundschaft und Recht wenig brig 177

    Kapitel 14. Unterarten der Freundschaft je nach derGemeinschaft, auf der sie beruht. Genaueres berLeistung und Gegenleistung in der verwandschaft-lichen und in der ehelichen Freundschaft: Elternliebe,Kindesliebe, Geschwisterliebe, Liebe unter entfernterenVerwandten, Gattenliebe 179

    Kapitel 15. Rechtsbeschwerden in der Freundschaft.Sie kommen besonders in der auf dem Nutzen be-ruhenden Freundschaft vor, und hier wieder beson-ders, wenn Leistung und Gegenleistung nicht vorherkontraktlich bestimmt worden sind, und der Empfngeran ein Geschenk, der Geber an ein Geschft gedachthat. Verhaltungsmaszregeln. Ist die Leistung nachihrem Werte fr den Empfnger oder nach ihremWerte fr den Geber zu bemessen ? In der Freund-schaft der Guten bemiszt sich der Wert der Leistungnach der Absicht 181

    Kapitel 16. Differenzen in den auf berlegenheit be-ruhenden Freundschaften. Sie sind so zu begleichen,dasz dem berlegenen mehr Ehre, dem Anderenmehr Gewinn zufllt. Eine besondere Regel bezglichdes Verhltnisses zwischen Vater und Sohn: DerVater kann sich von jeder Verpflichtung gegen seinenSohn lossagen, nicht aber umgekehrt 183

    NEUNTES BUCH.

    Kapitel 1. Erhaltung der Freundschaft. Entstehungvon Differenzen in der Freundschaft und Verhtungund Begleichung derselben 186

    Kapitel 2. Erhaltung der Freundschaft, Fortsetzung.Die verschiedenen Rcksichten bei den Leistungen in

  • XXII Inhaltsverzeichnis.

    Seite

    der Freundschaft und die verschiedenen Personen,denen solche Leistungen gebhren 188

    Kapitel 3. Aufhebung der Freundschaft. Sie darf beiden auf Lust oder Nutzen beruhenden Freundschaftenmit dem Wegfall dieser Dinge erfolgen, bei den aufder Tugend beruhenden entweder, wenn ein Teil vonder Tugend abfllt, oder wenn der Andere mit der Zeiteine erheblich hhere Stufe der Tugend gewinnt. . 190

    Kapitel 4. Bettigung der Freundschaft. Sie leitet sichaus dem Verhalten ab, das der Tugendhafte sich selbstgegenber beobachtet. Er will und tut sich gutes undlebt im Frieden mit sich selbst. Daraus ergibt sicheine dreifache Bettigung der freundschaftlichen Liebezu anderen: Wohlwollen, Eintracht, Wohltun ... 192

    Kapitel 5. Das Wohlwollen 194Kapitel 6. Die Eintracht 195Kapitel 7. Das Wohltun. Geben ist seliger als Nehmen. 196Kapitel 8. Aporien ber die Freundschaft und deren

    Lsung. Ob man sich selbst mehr lieben soll alsandere. Die Liebe eines jeden Menschen musz vorallem seinem eigenen besten Teile, dem Geiste, gelten.Aus dieser Liebe geht die Hingebung fr die Freundeund das Vaterland naturgemsz hervor 198

    Kapitel 9. Fortsetzung der Aporien ber die Freund-schaft. Ob der Glckliche der Freunde bedarf. Derwahrhaft Glckliche, d. i. der Tugendhafte, bedarfihrer mehr als andere, um sie an seinem Glcke teilnehmen zu lassen und so das eigene Glck zuerhhen 201

    Kapitel 10. Fortsetzung. Ob man viele Freunde habensoll. Die wahre und eigentliche Freundschaft lsztkeine grosze Zahl der Freunde zu 204

    Kapitel 11. Fortzetzung. Ob man der Freunde mehrim Glck oder im Unglck bedarf. Notwendiger istder Besitz von Freunden im Unglck, sittlich schneraber im Glck. Regeln, sich im Glck und im Unglckgegenber den Freunden zu verhalten 205

    Kapitel 12. Fortsetzung. Ob den Freunden das Liebstedas Zusammenleben ist. Es ist fr sie die grszteFreude und zugleich die grszte gegenseitige Frde-rung in allem Guten 207

  • Inhaltsverzeichnis. XXIII

    SeiteZEHNTES BUCH.

    Kapitel 1. Von der Lust als dem vorgeblichen Zweckedes menschlichen Daseins. Sie ist das nach den Einen,whrend die Anderen die Lust fr schlecht ausgeben,sei es im Ernst, sei es blos aus pdagogischemInteresse, der Abschreckung wegen 209

    Kapitel 2. Darlegung und Errterung der Grnde frdie beiden angegebenen Meinungen 210

    Kapitel 3. Darlegung der eigenen Meinung des Ari-stoteles ber die Lust. Sie ist kein Werden und keineBewegung, wie manche ihrer Tadler wollen, sondernder Ttigkeit, in deren Geleite sie auftritt, verwandtund darum gleich dieser etwas Fertiges und Ganzes. 214

    Kapitel 4. Die naturgemsze Ttigkeit ist nmlichdie natrliche Vollendung jedes Wesens und darumbegehrenswert und lustvoll. Die Lust flieszt aus dernaturgemszen Ttigkeit und anderseits steigert undvollendet sie dieselbe 215

    Kapitel 5. Es gibt verschiedene Arten der Lust jenach Verschiedenheit der Wesen, denen sie eigen ist.Nach der verschiedenen Natur der Wesen richtet sichnmlich die Ttigkeit, die sie zur Vollendung bringt,und nach der Ttigkeit die sie begleitende Lust. Umdie eigentmlich menschliche Lust zu ermitteln, giltes darum, die eigentmlich menschliche Ttigkeit zuerrhitteln. Beide, diese Ttigkeit und jene Lust, werdendas Endziel und die Glckseligkeit des Menschenausmachen 217

    Kapitel 6. Von der Glckseligkeit als dem wahrenZiele des Menschen. Auf Grund alles Vorausgegan-genen musz sie in Ttigkeit bestehen, die sich selbstgengt und sich selbst Zweck ist 220

    Kapitel 7. Diese Ttigkeit musz von der hchstenund edelsten Kraft im Menschen ausgehen. Sie kanndarum keine andere sein als Denkttigkeit und findetsich in einem Leben, das der Erkenntnis und Betrach-tung der Wahrheit geweiht ist. In einem solchenLeben erfllen sich alle Bedingungen der Glckselig-keit 222

    Kapitel 8. An zweiter Stelle oder in untergeordneterWeise liegt die Glckseligkeit in der bung dersittlichen Tugenden. Dieselbe erfordert aber mehraszere Gter als das Leben der Betrachtung, und

  • XXIV Inhaltsverzeichnis.

    Seite

    somit ist das letztere auch wegen seiner Freiheit undUnabhngigkeit besser. Auch darum ist es das, weiles dem gttlichen Leben am hnlichsten ist ... . 224

    Kapitel 9. Jedenfalls ist fr die Pflege des Lebensnach dem Geiste auch die Gunst der aszeren Ver-hltnisse erforderlich. Indessen ist der Mann desGeistes mit wenigem zufrieden. Ein letzter Grundfr den Vorzug eines solchen Lebens 227

    Kapitel 10. Die Glckseligkeit als Ziel der staatlichenGemeinschaft, dessen Erreichung durch die Tugendder Brger bedingt ist. Tugend kommt von Gewh-nung, Gewhnung von guten Gesetzen, unter denenman erzogen wird. Die Gesetze ber Erziehung undLehre hat der Staat zu geben und in dessen Erman-gelung Eltern und Erzieher. Wie lernt man nunGesetze geben? Von den Staatsmnnern und denSophisten lernt man es nicht, und da auch seineliterarischen Vorgnger die Sache nicht gengendbehandelt haben, so will Aristoteles ber Gesetz-gebung und Staatskunst sich im folgenden ver-breiten *) 228

    *) Einen ausfhrlichen alphabetischen Index zur Ethik findet manin der griech. Textausgabe von Susemihl S. 247278.

  • ERSTES BUCH.

    Erstes Kapitel.

    Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung i094a iund jeder Entschlusz 1), scheint ein Gut zu erstreben 2),weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet 3)hat, wonach alles strebt. Doch zeigt sich ein Unterschiedder Ziele. Die einen sind Ttigkeiten, die anderen nochgewisse Werke oder Dinge auszer ihnen. Wo bestimmteZiele auszer den Handlungen bestehen, da sind die Dingeihrer Natur noch besser als die Ttigkeiten 4).Da der Handlungen, Knste und Wissenschaften viele

    sind, ergeben sich auch viele Ziele. Das Ziel der Heilkunst 10ist die, Gesundheit, das der Schiffsbaukunst das Schiff,das der Strategik der Sieg, das der Wirtschaftskunst derReichtum. Wo solche Verrichtungen unter einem Vermgenstehen, wie z. B. die Sattlerkunst und die sonstigen mitder Herstellung des Pferdezeuges beschftigten Gewerbeunter der Reitkunst, und diese wieder nebst aller auf dasKriegswesen gerichteten Ttigkeit unter der Strategik, undebenso andere unter anderen, da sind jedesmal die Zieleder architektonischen, d. h. der leitenden Verrichtungenvorzglicher als die Ziele der untergeordneten, da letztere 20nur um der ersteren willen verfolgt werden. Und hiermacht es keinen Unterschied, ob die Ttigkeiten selbstdas Ziel der Handlungen bilden oder auszer ihnen nochetwas anderes, wie es bei den genannten Knsten derFall ist 5).Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner

    selbstwegen wollen, und das andere nur um seinetwillen,und wenn wir nicht alles wegen eines anderen uns zumZwecke setzen denn da ginge die Sache ins unendliche

  • 2 Nikomachlsche Ethik.

    fort, und das menschliche Begehren wre leer und eitel

    ,

    so musz ein solches Ziel offenbar das Gute und das Bestesein. Sollte seine Erkenntnis nicht auch fr das Leben einegrosze Bedeutung haben und uns helfen, gleich den Schtzen,die ein festes fiel haben, das Rechte besser zu treffen?So gilt es denn, es wenigstens im Umrisz darzustellen, undzu ermitteln, was es ist und zu welcher Wissenschaft oderzu welchem Vermgen 6) es gehrt.Allem Anscheine nach gehrt es der maszgebendsten

    10 und im hchsten Sinne leitenden Wissenschaft an, und das10W6 1 ist offenbar die Staatskunst. Sie bestimmt, welche Wissen-

    schaften oder Knste und Gewerbe in den Staaten vorhandensein, und welche und wie weit sie von den Einzelnenerlernt werden sollen. Auch sehen wir, dasz die geschtz-testen Vermgen : die Strategik, die Oekonomik, die Rhetorik,ihr untergeordnet sind. Da sie also die brigen praktischenWissenschaften in den Dienst ihrer Zwecke nimmt, auchautoritativ vorschreibt, was man zu tun und was man zulassen hat, so drfte ihr Ziel die Ziele der anderen als das

    20 hhere umfassen, und dieses ihr Ziel wre demnach dashchste menschliche Gut. Denn wenn dasselbe auch frden Einzelnen und fr das Gemeinwesen das nmliche ist,so musz es doch grszer und vollkommener sein, das Wohldes Gemeinwesens zu begrnden und zu erhalten. Mandarf freilich schon sehr zufrieden sein, wenn man auch nureinem Menschen zum wahren Wohle verhilft, aber schnerund gttlicher ist es doch, wenn dies bei einem Volkeoder einem Staate geschieht. Darauf also zielt die gegen-wrtige Disciplin ab 7), die ein Teil der Staatslehre ist.

    30 Was die Darlegung betrifft, so musz man zufrieden sein,wenn sie denjenigen Grad von Bestimmtheit erreicht, dender gegebene Stoff zulszt. Die Genauigkeit darf man nichtbei allen Untersuchungen in gleichem Masze anstreben, sowenig als man das bei den verschiedenen Erzeugnissen derKnste und Handwerke tut 8). Das sittlich Gute und dasGerechte, das die Staatswissenschaft untersucht, zeigt solcheGegenstze und solche Unbestndigkeit, dasz es scheinenknnte, als ob es nur auf dem Gesetze, nicht auf der Naturberuhte 9). Und eine hnliche Unbestndigkeit haftet auch

    40 den verschiedenen Gtern und Vorzgen an, indem vieledurch sie zu Schaden kommen. Schon mancher ist wegenseines Reichtums und mancher wegen seines Mutes zu-grunde gegangen. So musz man sich denn, wo die Darstellunges mit einem solchen Gegenstande zu tun hat und von

  • Erstes Buch. 2. Kapitel. 3

    solchen Voraussetzungen ausgeht, damit zufrieden geben,die Wahrheit in grberen Umrissen zu beschreiben. Undebenso musz man wo nur das hufiger Vorkommendebehandelt und vorausgesetzt werden kann, auch nur solchesfolgern wollen. Ganz ebenso hat aber auch der Hrer dieeinzelnen Stze aufzunehmen. Darin zeigt sich der Kenner,dasz man in den einzelnen Gebieten je den Grad vonGenauigkeit verlangt, den die Natur der Sache zulszt,und es wre geradeso verfehlt, wenn man von einemMathematiker Wahrscheinlichkeitsgrnde annehmen, als 10wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlungstrenge Beweise fordern wollte.Jeder beurteilt nur dasjenige richtig, was er kennt, undioesa

    ist darin ein guter Richter; deshalb wird fr ein bestimmtesFach der darin Unterrichtete und schlechthin der in allemUnterrichtete gut urteilen knnen. Darum ist ein Jnglingkein geeigneter Hrer der Staatswissenschaft. Es fehlt ihmdie Erfahrung im praktischen Leben, dem Gegenstande undder Voraussetzung aller politischen Unterweisung. Auchwird er, wenn er den Leidenschaften nachgeht, diesen 20Unterricht vergeblich und nutzlos hren, da dessen Zwecknicht das Wissen, sondern das Handeln ist. Es macht hierauch keinen Unterschied, ob einer an Alter oder an Cha-rakter der Reife ermangelt. Denn der Mangel hngt nichtvon der Zeit ab, sondern kommt daher, dasz man derLeidenschaft lebt und nach ihr seine Ziele whlt. Frsolche Leute bleibt das Wissen ebenso nutzlos, wie frden Unenthaltsamen, der das Gute will und es doch nichttut. Wohl aber drfte fr diejenigen, die ihr Begehren undHandeln vernunftgemsz einrichten, diese Wissenschaft 30von groszem Nutzen sein.So viel stehe als Einleitung ber den Hrer, ber die

    Art, wie wir verstanden sein wollen, und ber den Gegen-stand, den wir zu behandeln haben.

    Zweites Kapitel.

    Nehmen wir jetzt wieder unser Thema auf und gebenwir, da alles Wissen und Wollen nach einem Gute zielt 10),an, welches man als das Zielgut der Staatskunst bezeichnen 40musz, und welches im Gebiete des Handelns das hchsteGut ist. Im Namen stimmen hier wohl die meisten berein:Glckseligkeit W) nennen es die Menge und die feinerenKpfe, und dabei gilt ihnen gut leben und sich gut

  • 4 Nikomachische Ethik.

    gehaben 12) mit glckselig sein als eins. Was aber dieGlckseligkeit sein soll, darber entzweit man sich, unddie Mange erklrt sie ganz anders als die Weisen. Dieeinen erklren sie fr etwas Greifbares und Sichtbares wieLust, Reichtum und Ehre, andere fr etwas anderes, mit-unter auch dieselben Leute bald fr dies bald fr das:der Kranke fr Gesundheit, der Notleidende fr Reichtum,und wer seine Unwissenheit fhlt, bewundert solche, diegrosze, seine Fassungskraft bersteigende Dinge vortragen.

    10 Einige dagegen meinten, dasz neben den vielen sichtbarenGtern ein Gut an sich bestehe, das auch fr alle dies-seitigen Gter die Ursache ihrer Gte sei.

    Alle diese Meinungen zu prfen drfte der Mhe nichtverlohnen; es wird gengen, wenn wir uns auf die gang-barsten und diejenigen, die einigermaszen begrndeterscheinen, beschrnken.Wir mssen hierbei vor Augen halten, dasz ein grosser

    Unterschied ist zwischen den Errterungen, die von denPrincipien ausgehen, und denen, die zu ihnen aufsteigen.

    20 Das war ja die Frage, welche auch Plato 13) mit Rechtaufwarf und untersuchte, ob der Weg von den Principienaus- oder zu ihnen hingehe, hnlich wie man in der

    1095& Rennbahn von den Preisrichtern nach dem Ziele luft oderumgekehrt. Man musz also ohne Zweifel mit dem Bekann-ten anfangen ; dieses ist aber zweifach : es gibt ein Bekann-tes fr uns und ein Bekanntes schlechthin. Wir nun werdenwohl mit dem fr uns Bekannten anfangen mssen. Deshalbmusz man eine gute Charakterbildung bereits mitbringen,um die Vortrge ber das sittlich Gute und das Gerechte,

    30 berhaupt ber die das staatliche Leben betreffenden Dinge,in ersprieszlicher Weise zu hren. Denn wir gehen hiervon dem Dasz" aus, und ist dieses hinreichend erklrt,so bedarf es keines Darum" mehr. Wer nun so geartetist, der kennt entweder die Principien schon oder kann siedoch leicht erlernen 14). Bei wem aber weder das einenoch das andere gilt, der hre, was Hesiod 15) sagt

    :

    Der ist von allen der Beste, der selber jegliches findet.Aber auch jener ist tchtig, der guter Lehre Gehr gibt.

    40 Wer aber selbst nichts erkennt, noch fremden Zuspruch bedchtigBei sich erwgt, der ist wohl unntz unter den Menschen.

  • Erstes Buch. 3. Kapitel. 5

    Drittes Kapitel.

    Wir aber wollen den Punkt errtern, von dem wir ab-geschweift sind.Nimmt man die verschiedenen Lebensweisen in Betracht,

    so scheint es einmal nicht grundlos, wenn die Menge, dierohen Naturen, das hchste Gut und das wahre Glck indie Lust setzen und darum auch dem Genuszleben frhnen.Drei Lebensweisen sind es nmlich besonders, die vor denanderen hervortreten: das Leben, das wir eben genannt 10haben, dann das politische Leben und endlich das Lebender philosophischen Betrachtung. Die Menge nun zeigt sichganz knechtisch gesinnt, indem sie dem Leben des Viehesden Vorzug gibt, und doch kann sie zu einiger Rechtfertigunganfhren, dasz viele von den Hochmgenden die Geschmacks-richtung des Sardanapal teilen.Die edeln und tatenfrohen Naturen ziehen die Ehre vor,

    die man ja wohl als das Ziel des ffentlichen Lebensbezeichnen darf. Indessen mchte die Ehre doch etwas zuoberflchliches sein, als dasz sie fr das gesuchte hchste 20Gut des Menschen gelten knnte. Scheint sie doch mehrin den Ehrenden als in dem Geehrten zu sein. Vom hchstenGute aber machen wir uns die Vorstellung, dasz es demMenschen innerlich eigen ist und nicht so leicht verlorengeht. Auch scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbstfr gut halten zu knnen. Denn man sucht seitens derEinsichtigen und derer, die einen kennen, geehrt zu werden,und zwar um der Tugend willen. So musz denn, falls einsolches Verhalten etwas beweist, die Tugend das Besseresein. Nun knnte man ja vielmehr diese fr das Ziel des 30Lebens in der staatlichen Gemeinschaft ansehen. Aber auchsie erscheint als ungengend. Man kann scheints auchschlafen, whrend man die Tugend besitzt, oder sein Lebenlang keine Ttigkeit ausben und dazu noch die grsztenbel und Miszgeschicke zu erdulden haben, und wem eini096asolches Lebenslos beschieden ist, den wird niemand glcklichnennen, auszer um eben nur seine Behauptung zu retten.Doch genug hiervon; diese Sache ist ja bereits in denencyklischen Schriften 16) hinreichend besprochen worden.

    Die dritte Lebensweise ist die theoretische oder die 40betrachtende; sie wird uns in einem spteren Abschnittebeschftigen.Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatr-

    liches und Gezwungenes an sich, und der Reichtum ist das

  • 5 Nikomachische Ethik.

    gesuchte Gut offenbar nicht. Denn er ist nur fr die Ver-wendung da und nur Mittel zum Zweck. Eher knnte mansich deshalb fr die vorhin genannten Ziele entscheiden,da sie wegen ihrer selbst geschtzt werden. Aber auch siescheinen nicht das rechte zu sein, so viel man auch schonzu ihren Gunsten gesagt hat. So sei denn diese Frageverabschiedet.

    Viertes Kapitel.10

    Besser ist es vielleicht auf das Universelle das Augenmerkzu richten und die Frage zu errtern, wie dasselbe gemeintist. Freilich fllt uns diese Untersuchung schwer, da be-freundete Mnner die Ideen eingefhrt haben. Es drfteaber vielleicht besser, ja Pflicht zu sein scheinen, zur Rettungder Wahrheit auch der eigenen Meinungen nicht zu schonen,zumal da wir Philosophen sind. Denn da beide uns liebsind, ist es doch heilige Pflicht, die Wahrheit hher zuachten 17).

    20 Diejenigen nun, welche diese Lehre aufgebracht haben,haben berall da keine Ideen angenommen, wo sie voneinem Frher und Spter redeten, daher sie auch fr dieGesamtheit der Zahlen keine Idee aufgestellt haben. Nunsteht aber das Gute sowohl in der Kategorie der Wesenheitals in der der Qualitt und der Relation. Das An-sich"aber und die Wesenheit ist von Natur frher als die Relation.Denn diese gleicht einem Nebenschszling und einem Zu-behr des Seienden. Folglich kann fr diese Kategorieneine gemeinsame Idee nicht bestehen.

    30 Da ferner das Gute in gleich vielen Bedeutungen mitdem Seienden ausgesagt wird (denn es steht in der Kategorieder Substanz, z. B. Gott, Verstand, in der der Qualitt:die Tugenden, der Quantitt : das rechte Masz, der Relation

    :

    das Brauchbare, der Zeit: der rechte Moment, des Ortes:der Erholungsaufenthalt u. s. w.), so gibt es offenbar keinAllgemeines, das gemeinsam und eines wre. Denn dannwrde man von ihm nicht in allen Kategorien, sondernnur in einer sprechen.

    Ferner, da es von dem zu einer Idee Gehrigen auch nur40 eine Wissenschaft gibt, so wre auch nur eine Wissenschaft

    von allem Guten. Nun aber sind ihrer viele, selbst vondem unter einer Kategorie Stehenden. So ist die Wissenschaftdes rechten Moments im Kriege die Feldherrnkunst, in derKrankheit die Heilkunst, und die Wissenschaft des rechten

  • Erstes Buch. 4. Kapitel. 7

    Maszes bei der Nahrung die Heilliunst, bei den leiblichenAnstrengungen die Gymnastik.Man knnte aber auch fragen, was sie mit jenem An-

    sich", das sie zu allem hinzusetzen, eigentlich meinen, dadoch in dem Menschen an sich und dem Menschen ein io9>und derselbe Begriff wiederkehrt, der des Menschen.Insofern beide Mensch sind, knnen sie nicht unterschiedensein. Dann gilt aber des gleiche fr das Gute an sich unddas Gute. Auch wird jenes Gute an sich nicht etwa darumin hherem Sinne gut sein, weil es ewig ist. Its doch auch, 10was lange besteht, deshalb nicht weiszer, als was nureinen Tag besteht.Annehmbarer erscheint hier die Theorie der Pythagoreer,

    die das Eins in die Reihe der Gter stellen. Ihnen magauch Speusipp gefolgt sein. Doch hiervon musz anderswogehandelt werden.Gegen das Gesagte knnte aber ein Bedenken laut

    werden, als ob nmlich jene Theorie nicht von allemGuten gelten solle, sondern ihr zufolge nur das seinerselbst wegen Erstrebte und Geliebte nach einer Idee 20benannt werde, whrend das, wodurch es hergestellt odererhalten oder sein Gegenteil verhindert wird, seinetwegenund in anderem Sinne gut hiesze. Das Gute htte alsodann zweierlei Bedeutungen: das eine wre gut an sich,das andere gut durch jenes. Trennen wir denn das ansich Gute von dem Ntzlichen und sehen wir, ob es nacheiner Idee benannt wird. Welche Beschaffenheit soll eshaben, um gut an sich zu sein? Soll es das sein, wasauch fr sich allein erstrebt wird, wie das Denken, Sehen,gewisse Freuden und Ehren? Denn wenn wir auch wohl 30diese Dinge wegen etwas anderem erstreben, so kannman sie doch zu dem an sich Guten rechnen. Oder wrees schlechterdings nichts anderes als die Idee? In diesemFlle wre sie als Vorbild mszig. Wren aber auch diegenannten Dinge an sich gut, so musz der Begriff derGte in ihnen allen eindeutig auftreten, ganz so wie derBegriff weisz im Schnee und Bleiweisz. Nun ist aber beider Ehre, der Klugheit und der Lust als Gtern dieserBegriff jedesmal anders und verschieden. Also ist das Gutenichts Gemeinsames, unter eine Idee Fallendes. 40Aber inwiefern spricht man nun doch von dem Guten?

    Das viele Gute scheint doch nicht zufllig denselbenNamen zu haben. Ist es also vielleicht darum, weil es voneinem herkommt oder insgesamt auf eines hinzielt, oder

  • 3 Nikomachische Ethik.

    heiszt es vielmehr in analoger Weise gut? Nach dieserWeise ist ja was fr den Leib des Auge ist, fr die Seeleder Verstand, und hnliche Analogien gibt es noch viele.Aber wir mssen diesen Punkt wohl fr jetzt fallen lassen,da eine genauere Behandlung desselben in einen anderenTeil der Philosophie gehrt.Ebenso ist es nicht dieses Ortes, die Ideenlehre weiter

    zu verfolgen. Wenn auch wirklich das gemeinsam aus-gesagte Gute etwas Einzelnes und getrennt fr sich Beste-

    10 hendes sein sollte, so leuchtet doch ein, dasz der Mensches weder in seinem Handeln verwirklichen, noch es erwer-ben knnte. Um ein solches Gut aber handelt es sich grade.Nun knnte man ja denken, die Kenntnis jenes getrennten

    1097a Gutes frdere einen in bezug auf das Gute, das man erwerbenund tun kann, und es wre uns wie ein Muster, mit dessenHilfe wir auch das fr uns Gute besser erkennen, und,wenn wir es erkannt, erlangen knnten. Aber wenn auchdiese Erwgung einigermaszen annehmbar klingt, so findetsie doch an den Knsten ihre Widerlegung. Denn whrend

    20 dieselben insgesamt nach einem Gute streben und dassuchen, was daran noch mangelt, lassen sie die Erkenntnisdieses Guten auszer Acht. Es hat aber doch wohl wenigSchein, dasz alle Knstler ein derartiges Hilfsmittel nichtkennen und nicht einmal vermissen sollten. Auch wre essonderbar, was es einem Weber oder Zimmermann frsein Gewerbe ntzen sollte, das Gute an sich zu kennen,oder wie einer ein besserer Arzt oder Strateg werdensollte, wenn er die Idee des Guten geschaut hat. Auch derArzt scheints faszt nicht die Gesundheit an sich in's Auge,

    30 sondern die des Menschen, oder vielmehr die diesesMenschen in concreto. Denn er heilt immer nur den undden. Hierber also sei soviel gesagt.

    Fnftes Kapitel.

    Kommen wir nun wieder auf das fragliche Gut zurck,um zu ermitteln, was es sein mge. Wir sehen, dasz esin jeder Ttigkeit und Kunst immer ein anderes ist: einanderes in der Medizin, in der Strategik u. s. w. Was ist

    40 nun also das eigentmliche Gut einer jeden? Doch wohldas, wegen dessen in jeder alles andere geschieht. Daswre in der Medizin die Gesundheit, in der Strategik derSieg, in der Baukunst das Haus, in anderen Knsten wiederein anderes, und bei allem Handeln und Wollen das Ziel.

  • Erstes Buch. 5. Kapitel. Q

    Dieses ist es immer, wegen dessen man das brige tut.Wenn es daher fr alles, was unter die menschliche Hand-lung fllt, ein gemeinsames Ziel gibt, so ist dieses dasdurch Handeln erreichbare Gut, und wenn mehrere, diese.So ist denn unsere Errterung auch auf diesem Wegewieder zu dem gleichen Ergebnisse gelangt. Jedoch mssenwir versuchen, dasselbe noch besser zu verdeutlichen.Da der Ziele zweifellos viele sind und wir deren man-

    che nur wegen anderer Ziele wollen, so leuchtet ein, daszsie nicht alle Endziele sind, whrend doch das hchste 10Gut ein Endziel und etwas Vollendetes sein musz. Wennes daher nur ein Endziel gibt, so musz dieses das Gesuchtesein, und wenn mehrere, dasjenige unter ihnen, welchesim hchsten Sinne Endziel ist. Als Endziel in hheremSinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegen-ber dem eines andern wegen Erstrebten und das, wasniemals wegen eines anderen gewollt wird, gegenber dem,was ebenso wohl deswegen wie wegen seiner selbst gewolltwird, mithin als Endziel schlechthin und als schlechthinvollendet, was allezeit seinetwegen und niemals eines 20anderen wegen gewollt wird. Eine solche Beschaffenheitscheint aber vor allem die Glckseligkeit zu besitzen. Sie io97>wollen wir immer wegen ihrer selbst, nie wegen einesanderen, whrend wir die Ehre, die Lust, den Verstandund jede Tugend zwar auch ihrer selbst wegen wollen(denn wenn wir auch nichts weiter von ihnen htten, sowrden uns doch alle diese Dinge erwnscht sein), dochwollen wir sie auch um der Glckseligkeit willen in derberzeugung eben durch sie ihrer teilhaftig zu werden.Die Glckseligkeit dagegen will keiner wegen jener Gter 30und berhaupt um keines anderen willen.Zu demselben Ergebnisse mag uns der Begriff des Gen-

    gens fhren. Das vollendet Gute musz sich selbst gengen.Wir verstehen darunter ein Gengen nicht blos fr denEinzelnen, der fr sich lebt, sondern auch fr seine Eltern,Kinder, Weib, Freunde und Mitbrger berhaupt, da derMensch von Natur fr die staatliche Gemeinschaft bestimmtist. Indessen musz hier eine Grenze gezogen werden. Dennwollte man dies noch weiter auf die Vorfahren und Nach-kommen und auf die Freunde der Freunde ausdehnen, so 40kme man an kein Ende. Dies soll spter in Betrachtgenommen werden. Als sich selbst gengend gilt unsdemnach das, was fr sich allein das Leben begehrens-wert macht und keines weiteren bedarf. Fr etwas Der-

  • 10 Nikomachische Ethik.

    artiges aber halten wir die Glckseligkeit, ja, fr dasAllerbegehrenswerteste, ohne dasz sie mit anderem, wasman auch begehrt, von gleicher Art wre. Denn wre siedas, so wrde sie offenbar durch den Hinzutritt des klein-sten Gutes noch in hherem Grade begehrenswert werden,da das Hinzugefgte ein Mehr des Guten bedeutet und dasgrszere Gut auch naturgemsz immer mehr begehrt wird.

    Also : die Glckseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetesund sich selbst Gengendes, da sie das Endziel alles

    10 Handelns ist.

    Sechstes Kapitel.

    Jedoch mit der Erklrung, die Glckseligkeit sei dashchste Gut, ist vielleicht nichts weiter gesagt, als wasjederman zugibt. Was verlangt wird ist vielmehr, dasznoch deutlicher angegeben werde, was sie ist.

    Dies drfte uns gelingen, wenn wir die eigentmlichmenschliche Ttigkeit ins Auge fassen. Wie fr einen

    20 Fltenspieler, einen Bildhauer oder sonst einen Knstler,und wie berhaupt fr alles, was eine Ttigkeit und Ver-richtung hat, in der Ttigkeit das Gute und Vollkommeneliegt, so ist es wohl auch bei dem Menschen der Fall,wenn anders es eine eigentmlich menschliche Ttigkeitgibt. Sollte nun der Zimmermann und der Schuster be-stimmte Ttigkeiten und Verrichtungen haben, der Menschaber htte keine und wre zur Unttigkeit geschaffen?Sollte nicht vielmehr, wie beim Auge, der Hand, dem Fuszeund berhaupt jedem Teile eine bestimmte Ttigkeit zutage

    30 tritt, so auch beim Menschen neben allen diesen Ttig-keiten noch eine besondere anzunehmen sein? Und welchewre das wohl? Das Leben offenbar nicht, da dasselbeja auch den Pflanzen eigen ist? Fr uns aber steht das

    io8a spezifisch Menschliche in Frage. An das Leben der Ernh-rung und des Wachstums drfen wir also nicht denken.Hiernach kme ein sinnliches Leben in Betracht. Doch auchein solches ist offenbar dem Pferde, dem Ochsen und allenSinnenwesen gemeinsam. So bleibt also nur ein nach demVernunft-begabten Seelenteile ttiges Leben brig, und hier

    40 gibt es einen Teil, der der Vernunft gehorcht, und einenanderen, der sie hat und denkt 18). Da aber auch dasttige Leben in doppeltem Sinne verstanden wird, so kannes sich hier nur um das aktuell oder wirklich ttige Leben,als das offenbar Wichtigere, handeln 19).

  • Erstes Buch. 7. Kapitel. 11

    Wenn aber das eigentmliche Werk und die eigentmlicheVerrichtung des Menschen in vernnftiger oder der Vernunftnicht entbehrender Ttigkeit der Seele besteht, und wennuns die Verrichtung eines Ttigen und die Verrichtungeines tchtigen Ttigen als der Art nach dieselbe gilt, z. B.das Spiel des Citherspielers und des guten Citherspielers,und so berhaupt in allen Fllen, indem wir zu der Ver-richtung noch das Merkmal berwiegender Tugend oderTchtigkeit hinzusetzen und als die Leistung des Cither-spielers das Spielen, als die Leistung des guten Citherspielers 10aber das gute Citherspiel bezeichnen, wenn, sagen wir,dem so ist, und wir als die eigentmliche Verrichtung desMenschen ein gewisses Leben ansehen, nmlich mit Vernunftverbundene Ttigkeit der Seele und entsprechendes Handeln,als die Verrichtung des guten Menschen aber eben diesesnur mit dem Zustze: gut und recht wenn endlich alsgut gilt, was der eigentmlichen Tugend oder Tchtigkeitdes Ttigen gemsz ausgefhrt wird, so bekommen wirnach alle dem das Ergebnis: das menschliche Gut ist derTugend gemsze Ttigkeit der Seele, und gibt es mehrere 20Tugenden : der besten und vollkommensten Tugend gemszeTtigkeit. Dazu musz aber noch kommen, dasz dies einvolles Leben hindurch dauert; denn wie eine Schwalbe undein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tagoder eine kurze Zeit noch niemanden glcklich und selig.

    Siebentes Kapitel.

    Dies mge als Umrisz der Darstellung des hchsten Gutesgelten. Denn man musz dasselbe wohl zunchst nach den 30Grundlinien beschreiben und darauf diese im einzelnen aus-fhren 20). Sind erst die Grundlinien einer Sache vorhanden,so kann jeder daran weiter arbeiten und das einzelnenachtragen, und die Zeit ist hierbei eine gute Finderin undHelferin. So erklrt sich auch das Wachstum der Knste:das Fehlende dazutun kann jeder.Man denke auch an die schon oben 21) gemachte Be-

    merkung und verlange Genauigkeit nicht bei allen Gegen-stnden in gleichem Masze, sondern immer nur nachMaszgabe des gegebenen Stoffes und nur soweit, als es 40zu dem jeweiligen Vorhaben paszt. Der Zimmerman undder Geometriker suchen die gerade Linie in verschiedenerWeise; der eine nur, insofern er sie fr seine Arbeit braucht,whrend der andere wissen will, was und wie beschaffen

  • 12 Nikomachische Ethik.

    sie ist; denn er betrachtet die Wahrheit. Ebenso ist aufallen anderen Gebieten zu verfahren, damit nicht das Beiwerkzuletzt das Werk berwuchert 22).

    10986 Man darf auch nicht unterschiedslos berall nach derUrsache fragen 23). Bei einigem gengt es vielmehr, dasdasz" gehrig nachzuweisen, wie auch bei den Prinzipien;das dasz" ist ja Erstes und Prinzip. Die Prinzipien selbstaber werden teils durch Induktion erkannt, teils durchWahrnehmung, teils durch eine Art Gewhnung, teils noch

    10 auf andere Weise 24). Man musz sie also im einzelnen aufdie ihrer Besonderheit entsprechende Art zu ermitteln suchenund sich rechte Mhe geben, sie zutreffend zu bestimmen.Denn das Prinzip als Anfang drfte mehr als die Hlftedes Ganzen sein und schon von selbst vieles erklren,was man wissen mchte 25).

    Achtes Kapitel.

    Wir mssen dasselbe jedoch nicht nur auf| grund der20 Schluszfolgerung und der begrifflichen Voraussetzungen zu

    ermitteln suchen, sondern ebenso auf grund der darberherrschenden Ansichten. Mit der Wahrheit stimmen alleTatsachen berein, mit dem Irrtum aber gert die Wahr-heit bald in Zwiespalt.Man unterscheidet drei Arten von Gtern : aszere Gter,

    Gter der Seele und Gter des Leibes. Von diesen geltendie der Seele als die wichtigsten, als Gter im vollkom-mensten Sinne. Die seelischen Akte und Ttigkeiten legenwir aber der Seele bei. Mithin mchte unsere Begriffs-

    30 bestimmung zutreffend sein, wenn anders jene alte, auchvon den Philosophen allgemein adoptierte Schtzung derGter etwas beweist.Auch darum erscheint sie als richtig, weil sie als Endziel

    gewisse Akte und Ttigkeiten aufstellt. Denn so liegt dasEndziel in Gtern der Seele, auch insofern sie den aszerenGtern gegenberstehen.Ebenso stimmt es zu ihr, dasz man von dem Glck-

    lichen sagt, er lebe gut und gehabe sich gut. Mit unsererDefinition ist ja ungefhr so viel gesagt wie gutes Leben

    40 und gutes Gehaben 26).

  • Erstes Buch. 9. Kapitel. |3

    Neuntes Kapitel.

    Auch alle Erfordernisse zur Glckseligkeit, die man vonden verschiedenen Seiten geltend gemacht hat, scheinensich in unserer Bestimmung zu finden. Die einen haltendie Glckseligkeit fr Tugend, andere fr Klugheit, anderefr eine Art Weisheit, wieder andere fr alles dieses odereines davon in Verbindung mit Lust oder doch nicht ohneLust. Andere nehmen auch noch den aszeren Segen hinzu. 10Diese Ansichten werden teils von vielen Alten, teils voneinzelnen berhmten Mnnern vertreten. Von beiden istaber nicht anzunehmen, dasz sie ganz und gar fehl gehen,vielmehr werden sie je in einer Beziehung, wo nicht garin den meisten. Recht haben.Mit denen also, die die Glckseligkeit in die Tugend

    oder auch in eine Tugend setzen, stimmen wir berein.Denn in den Bereich der Tugend fllt die ihr gemszeTtigkeit. Nur mchte es keinen kleinen Unterschied machen,ob man das hchste Gut in ein Besitzen oder ein Ge- 20brauchen, in einen bloszen Habitus oder in eine Ttigkeitsetzt. Der Habitus kann ja, wie z. B. bei einem, der schlft io99aoder sonst wie ganz unttig ist, vorhanden sein, ohneirgend etwas Gutes zu verrichten, der Aktus, die Ttigkeit,aber nicht. Denn sie wird notwendig handeln und guthandeln. Wie aber in Olympia nicht die Schnsten undStrksten den Kranz erlangen, sondern die, die kmpfen(denn nur unter ihnen befinden sich die Sieger), so werdenauch nur die, die recht handeln, dessen, was im Lebenschn und gut ist, teilhaftig 27). 30Auch ist ihr Leben an und fr sich genuszvoll. Lust

    genieszen ist etwas Seelisches, und lustbringend ist frt'eden dasjenige, wovon er ein Liebhaber ist, wie z. B. dasMerd fr den Pferdeliebhaber, und fr den Liebhaber desSchauspiels dieses. Ebenso ist das Gerechte fr den Freundder Gerechtigkeit und berhaupt das Tugendgemsze frden Freund der Tugend lustbringend. Bei der Mengefreilich steht das Lustgewhrende miteinander im Wider-spruch, weil es diese Eigenschaft nicht von Natur hat,dagegen gewhrt den Liebhabern des sittlich Guten das- 40jenige Lust, was sie von Natur gewhrt. Diese Eigenschafthaben aber die tugendgemszen Handlungen, und so mssendieselben gleichzeitig fr den Tugendhaften und an sichmit Lust verbunden sein. Daher bedarf auch sein Leben

  • 14 NIkomachlsche Ethik.

    der Lust nicht wie einer aszern Zugabe, sondern es hatdieselbe schon in sich. Denn abgesehen von dem Gesagtenist der nicht wahrhaft tugendhaft, der an sittlich gutenHandlungen keine Freunde hat, und niemand wird einenMann gerecht nennen, wenn er an gerechten, oder frei-gebig, wenn er an freigebigen Handlungen keine Freudehat, und so weiter. Ist dem aber so, dann mssen dietugendgemszen Handlungen an sich genuszreich, berdiesaber auch gut und schn sein, und zwar dieses alles im

    10 hchsten Masze, wenn anders der Tugendhafte richtig bersie urteilt. Das tut er aber wie gesagt. Und somit ist dieGlckseligkeit das Beste, Schnste und Genuszreichstezugleich, und diese Dinge liegen nicht auseinander, wiedie Aufschrift zu Delos will:

    Schnstes ist was Gerechtestes ist, das Beste Gesundsein,Aber das Ssseste ist, wenn man erlangt was man liebt.

    Denn dieses alles kommt den besten Ttigkeiten zugleich20 zu. In diesen aber oder der besten ihrer liegt nach uns

    die Glckseligkeit.Indessen bedarf dieselbe wie gesagt auch wohl der aszeren

    Gter, da es unmglich oder schwer ist, das Gute undSchne ohne Hilfsmittel zur Ausfhrung zu bringen. Vieles

    10990 wird wie durch Werkzeuge mit Hilfe der Freunde, desReichtums und des Einflusses im Staate zustande gebracht;andererseits trbt der Mangel gewisser Dinge, wie ehrbarerHerkunft, braver Kinder, krperlicher Schnheit die Glck-seligkeit. Der kann nicht als sonderlich glcklich gelten,

    30 der von ganz hszlichem Aszern oder ganz gemeinerAbkunft oder einsam und kinderlos ist, und noch wenigervielleicht einer, der ganz lasterhafte Kinder oder Freundehat oder die guten Freunde und Kinder, die er hatte, durchden Tod verlor. Deshalb also bedarf die Glckseligkeit wiegesagt auch solcher aszeren Gter, und so mag es sicherklren, dasz einige das aszere Wohlergehen der Glck-seligkeit gleich setzen, wie andere die Tugend.

    Zehntes Kapitel.40

    Daher 28) wirft sich auch die Frage auf, ob die Glck-seligkeit durch Lernen, Gewhnung oder sonst eine bungerworben, oder durch eine gttliche Fgung oder auch durchZufall dem Menschen zu teil wird.

    I

  • Erstes Buch. 10. Kapitel. 15

    Man kann nun annehmen, dasz wenn irgend etwas einGeschenlc der Gtter an die Menschen ist, dann die Glck-seligkeit von Gott kommt, und zwar um so mehr, als sievon den menschlichen Gtern das Beste ist.

    Indessen gehrt das wohl mehr zu einer anderen Unter-suchung 29). Aber selbst wenn sie nicht von den Gtternverliehen, sondern durch Tugend und ein gewisses Lernenoder ben erworben wird, scheint sie zu dem Gttlichstenzu gehren ; denn der Preis und das Ziel der Tugend muszdoch das Beste und etwas Gttliches und Seliges sein. 10Dann wre sie auch fr viele zugleich erreichbar, da sieallen, die in bezug auf die Tugend nicht gleichsam ver-stmmelt sind, durch Schulung und sorgfltige Bemhungzu teil werden knnte. Wenn es aber besser ist, dasz derMensch auf diese Weise glcklich wird statt durch Zufall,so darf man annehmen, dasz es sich auch wirklich soverhlt, da alles, was die Natur hervorbringt, immer sovollkommen angelegt ist, als es nur sein kann. Dasselbegilt von dem, was die Kunst und jede mit Einsicht wirkendeUrsache, besonders die beste und hchste, hervorbringt. 20Das Grszte und Schnste aber dem Zufall zu berlassen,wre Irrtum und Lsterung 30).

    Dasselbe geht aber auch aus unserer Begriffsbestimmunghervor, nach der die Glckseligkeit eine gewisse tugend-gemsze Ttigkeit der Seele ist. Soll das gelten, so knnendie brigen Gter teils von selbst der Tugend niemals fehlen,teils kommen sie fr dieselbe naturgemsz nur als brauchbareund hilfreiche Werkzeuge in betracht. Auch stimmt diesmit dem anfnglich Gesagten, wo wir das Ziel der Staats-kunst fr das beste und hchste erklrt haben. Der Staats- 30kunst ist es um nichts so sehr zu tun, als darum, die Brgerin den Besitz gewisser Eigenschaften zu setzen, sie nmlichtugendhaft zu machen und fhig und willig, das Gute zu tun.Daher nennen wir billigerweise weder einen Ochsen noch

    ein Pferd noch sonst ein Tier glckselig. Denn kein Tieriiooaist des Anteils an einer solchen Ttigkeit fhig. Und ausdemselben Grunde ist auch kein Kind glckselig, weil eswegen seines Alters noch nicht in der gedachten Weisettig sein kann, und wenn Kinder hin und wieder doch sogenannt werden, so geschieht es in der Hoffnung, dasz sie 40es erst werden. Denn zur Glckseligkeit gehrt wie gesagtvollendete Tugend und ein volles Leben. Im Leben trittmancher Wechsel, mancher Zufall ein, und der Glcklichstekann im Alter noch von schweren Unglcksfllen getroffen

  • ]5 Nikomachische Ethik.

    werden, wie in den Heldengedichten von Priamus erzhltwird ; wer aber solches Unglck erfahren und elend geendethat, den preist niemand glcklich.

    Elftes Kapitel.

    Sollen wir nun auch sonst keinen Menschen glcklichnennen, so lange er lebt, sondern nach dem Ausspruchedes Solon sein Ende abwarten? Und wenn dies gelten

    10 soll, wre der Mensch vielleicht auch dann glckselig,wenn er gestorben ist? Oder ist das letztere nicht durch-aus ungereimt, besonders fr uns, die wir die Glckselig-keit fr eine Ttigkeit erklren? Wenn wir aber nicht denVerstorbenen glckselig nennen und auch Solon es so nichtmeint, sondern nur, dasz man erst dann einen Menschenmit Sicherheit glcklich nennen kann, weil er dann allembel und Ungemach enthoben ist, so hat auch das seinBedenken. Denn es scheint auch noch fr den Verstor-benen, so gut wie fr den Lebenden, der nichts davon

    20 erfhrt, bel und Gter zu geben, z. B. Ehrungen undDiffamationen, Glck und Unglck der Kinder und derNachkommen berhaupt. Aber auch dabei findet sich einBedenken. Ein Mensch, der bis in sein hohes Alter glcklichgelebt hat und ebenso gestorben ist, kann noch mancherleiVernderungen in seinen Nachkommen erleiden ; die einenknnen tugendhaft sein und ein dem entsprechendesLebenslos genieszen, die anderen umgekehrt, und sonstknnen sie noch auf alle mgliche Weise von ihren Elternsich unterscheiden. Und da wre es nun ungereimt, wenn

    30 der Todte sich mit vernderte und bald glcklich baldunglcklich wrde. Ungereimt wre es aber auch, wenndie Schicksale der Nachkommen nicht einmal fr gewisseZeit die Eltern oder Vorfahren mit berhren sollten.Kommen wir indessen auf das erste Bedenken zurck.

    Denn mit ihm findet gleichzeitig vielleicht auch dieseszweite seine Erledigung.

    Soll man wirklich das Ende abwarten mssen und dannerst einen Menschen glcklich preisen drfen, nicht alswre er es dann, sondern weil er es vorher war, wie wre

    40 es da nicht ungereimt, dasz zur Zeit seines Glckes diesesWirkliche nicht mit Wahrheit von ihm soll ausgesagt

    iioo werden, weil man die Lebenden wegen der WechselflTedes Schicksals nicht glcklich preisen mag, und weil dieGlckseligkeit fr etwas Bleibendes und sehr schwer Wandel-

  • Erstes Buch. 11. Kapitel. ]7

    bares gilt, whrend die Geschicke sich utt bei denselbenMenschen im Kreise bewegen? Offenbar mszte man, wennman sich so nach den Schicksalen richten wollte, denselbenMenschen oftmals glckselig und wieder unglckselignennen und so den Glckseligen fr eine Art Chamleonerklren und fr einen Mann, der auf schwachen Fszensteht. Ist es nicht vielmehr ganz und gar verkehrt, hierauf die Schicksale zu sehen, da in ihnen nicht das Heilund Unheil liegt, sondern das menschliche Leben, wie wirgesagt haben, der Glcksgter nur wie einer Zugabe bedarf, 10whrend fr die Glckseligkeit die tugendhaften Handlungenentscheidend sind und fr die Unglckseligkeit die entgegen-gesetzten ?

    brigens erhlt unsere Definition auch durch diesesBedenken eine erneute Besttigung. Bei keinem menschlichenDinge ist eine solche Bestndigkeit zu finden wie in dentugendhaften Ttigkeiten. Sie erscheinen ja noch bestn-diger als das Wissen, und unter ihnen selbst sind wiederdie vornehmsten die bestndigsten, insofern der Glcklicheam meisten und am anhaltendsten in ihnen lebt. Denn 20daher kommt es wohl, dasz sie nicht in Vergessenheitgeraten. So wird denn das Geforderte sich wirklich beidem wahrhaft Glcklichen finden, und sein Leben langwird er sein, was sein Name besagt. Denn stets oderhufiger als alles andere wird die Tugend der Gegenstandseiner Ttigkeit und seiner Betrachtung sein, und stetswird die Unglcksflle aufs beste und in alle Weisewrdiglich" zu tragen wissen der wahrhaft tugendhafteMann, der Mann auf viereckiger Basis ohne Fehl" 31).Da aber vieles von der Laune des Glcks abhngt, 30

    Groszes und Kleines, so leuchtet ein, dasz die kleinenGlcks- wie Unglcksflle fr das Leben keinen Ausschlaggeben

    ;grosze und viele Ereignisse dagegen machen, wenn

    sie glcklich ausfallen, das Dasein noch glcklicher (dennsie selbst sind naturgemsz des Lebens Schmuck, und derGebrauch, den man von ihnen macht, wird lobenswert undtugendgemsz sein); fallen sie aber umgekehrt aus, so sindsie fr das Lebensglck wie ein Druck und eine Trbung,da sie schmerzen und an mancher Ttigkeit verhindern.Allein auch hier wird die sittliche Schnheit durchleuchten, 40wenn man viele schwere Schlge des Schicksals gelassenertrgt, nicht aus Gefhllosigkeit, sondern aus edler undhoher Gesinnung.Wenn aber wirklich, wie wir das vorhin ausgesprochen

    2

  • 18 NIkomachische Ethik.

    haben, die Ttigkeiten es sind, die ber das Leben ent-scheiden, so kann keiner, der glckselig ist, unglckseligwerden, da er niemals hassenswertes und schlechtes tunwird. Der wahrhaft Tugendhafte und Verstndige wird, das

    iioia steht zu hoffen, jedes Geschick mit Wrde tragen undimmer dasjenige tun, was unter den jedesmaligen Umstndendas beste ist, wie wir uns ja auch den guten Strategenals einen Mann vorstellen, der sein Heer, wie es eben ist,so gut als mglich zum Kriege verwendet, und den guten

    10 Schuster als einen Mann, der aus dem verfgbaren Lederso gute Schuhe wie mglich macht, und so weiter durchden ganzen Bereich der Knste. Ist dem aber so, dann kannder Glckselige zwar niemals ganz unglcklich werden,aber freilich auch nicht vollkommen glcklich sein, wennihm das Los eines Priamus beschieden ist. So ist denn auchsein Stand nicht etwa buntem Wechsel unterworfen. Denneinerseits wird er seiner Glckseligkeit nicht leicht undnicht durch die ersten besten Unflle, sondern nur durchschwere und zahlreiche Schicksalsschlge verlustig gehen,

    20 andererseits wird er aber auch nach solchen Heimsuchungennicht in kurzer Zeit wieder glckselig werden knnen,sondern, wenn berhaupt, erst nach langer und geraumer Zeit,wenn er in derselben groszer Gter teilhaftig geworden ist.Was hindert uns demnach als glckselig zu bezeichnen

    denjenigen, der gemsz vollendeter Tugend ttig und dabeimit den aszeren Gtern wohl ausgestattet ist, und das nichtblos eine kurze Zeit, sondern ein ganzes, volles Leben lang.Oder sollen wir noch hinzusetzen, dasz er auch in Zukunftso leben und in diesen Verhltnissen sterben msse, da wir

    30 die Zukunft nicht kennen und doch von der Glckseligkeitbehaupten, dasz sie Endziel und schlechthinnige Vollendungist. Demgemsz werden wir diejenigen unter den Lebendenglckselig nennen, denen die genannten Dinge zukommenund zukommen werden, aber freilich glckselig nur alsMenschen.

    Hierber sei denn soviel festgestellt. Dass aber die Schick-sale der Nachkommen und aller Freunde die Glckseligkeitganz und gar nicht berhren sollen, erscheint doch allzu in-human und den allgemeinen berzeugungen widersprechend.

    40 Da aber der Ereignisse so viele und so vielfach verschiedenesind und uns manche mehr, manche weniger berhren, sowre es eine langwierige, ja endlose Aufgabe, alle einzelnenFlle zu unterscheiden, und es wird gengen, wenn wir nurim allgemeinen und im Umrisz darber sprechen.

  • Erstes Buch. 12. Kapitel. 19

    Da also, wie von den eigenen Unglcksfllen nur einTeil von Belang und Gewicht ist, andere aber unbedeutendererscheinen, es sich grade so mit den Schicksalen allerFreunde verhlt, und da ferner der Unterschied, ob UnflleLebende oder Verstorbene treffen, ungleich grszer ist alsder, ob gesetzwidrige und furchtbare Handlungen in denTragdien vorkommen oder in der Wirklichkeit, so muszfreilich auch dieser Unterschied in Rechnung gebrachtwerden, aber wohl noch mehr der Umstand, dasz manbezglich der Verstorbenen im Ungewissen darber ist, ob 10sie an den Gtern und beln dieses Lebens noch Anteil 11016haben. Denn aus den angefhrten Grnden ist wohl, wennauch etwas Gutes oder Schlimmes die Todten noch berhrt,dasselbe nur etwas Schwaches und Geringes entweder ansich oder fr sie, oder doch nur von der Bedeutung undBeschaffenheit, dasz es sie nicht glcklich macht, wennsie es nicht sind, noch, wenn sie es sind, sie ihrer Glck-seligkeit beraubt. Es mchte nun das Glck wie das Unglckihrer Freunde fr die Hingeschiedenen wirklich von einigerBedeutung sein, doch nur in der Art und so weit, dasz es 20weder die Glckseligen unselig machen, noch sonst ihrenZustand umgestalten kann 32).

    Zwlftes Kapitel.

    Nachdem wir dies festgestellt haben, wollen wir zusehen,ob ciie Glckseligkeit zu den des Lobes oder vielmehr zuden der Ehre wrdigen Dingen gehrt. Denn zu den bloszenVermgen gehrt sie offenbar nicht.Jedes Lobenswerte scheint darum gelobt zu werden, weil 30

    es eine bestimmte Qualitt hat und sich zu etwas in be-stimmter Weise verhlt. Wir loben den Gerechten, denStarkmtigen und berhaupt den Tugendhaften und dieTugend, wegen der Handlungen und Werke; ebenso denStarken, den Schnellfszigen u. s. w., weil er eine bestimmteQualitt besitzt und sich zu etwas gutem und trefflichemin bestimmter Weise verhlt. Das erhellt auch aus dem Lobe,das wir den Gttern spenden: es erschiene lcherlich,wenn wie es von unseren Verhltnissen hernhmen, unddieses darum, weil das Lob, wie wir gesagt haben, um 40einer bestimmten Beziehung willen gespendet wird. Wennaber das Lob auf solches geht, so leuchtet ein, dasz esfr das Beste kein Lob gibt, sondern etwas Grszeresund Besseres, wie man denn auch sieht. Wir preisen die

  • 20 Nikomachische Ethik.

    Gtter glcklich und selig, und ebenso preisen wie diegttlichsten der Menschen glcklich. Ebenso die bestender Gter: Niemand lobt die Glckseligkeit so wie dieGerechtigkeit, sondern man preiset sie wie etwas Gtt-licheres und Besseres.Auch Eudoxus scheint ber die Gter sehr richtig zu

    urteilen, wenn er der Lust den hchsten Preis zuerkennt;denn dasz sie, obwohl zu den Gtern gehrig, nicht gelobtwerde, das sei, meinte er, ein Beweis, dasz sie besser ist

    10 als das Lobenswerte, und solches sei Gott und das Gute.Das Lob nmlich gebhrt der Tugend, weil man durch siefhig wird, das Gute zu tun, Preis aber den Werken, leib-lichen sowohl als geistigen.Doch dieses genauer zu bestimmen, gehrt wohl eher

    in die Theorie der Lobreden. Fr uns erhellt aus dem1102a Gesagten, dasz die Glckseligkeit zu den verehrungswrdigen

    und vollkommenen Dingen zhlt. Und das wohl auchdeswegen, weil sie Prinzip ist. Denn um des Prinzipswillen tun wir alle alles brige, das Prinzip aber und der

    20 Grund des Guten gilt uns fr etwas Ehrwrdiges undGttliches.

    Dreizehntes Kapitel.

    Da aber die Glckseligkeit eine der vollendeten Tugendgemsze Ttigkeit der Seele ist, so haben wir die Tugendzum Gegenstande unserer Untersuchung zu machen, dawir dann auch die Glckseligkeit besser werden verstehenlernen. Um die Tugend scheint auch der wahre Staatsmann

    30 sich am meisten zu bemhen, da er die Brger tugendhaftund den Gesetzen gehorsam machen will. Ein Beispieldafr haben wir an den Gesetzgebern der Kreter undLacedmonier und wohl noch an einigen anderen dieserArt. Wenn sonach diese Betrachtung zur Staatskunst gehrt,so bleibt unsere Untersuchung zweifellos dem eingangs-bezeichneten Plane treu. Die Tugend aber, der unsereBetrachtung gilt, kann selbstverstndlich nur die mensch-liche sein. Wir wollten ja auch nur das menschliche Gutund die menschliche Glckseligkeit zu ermitteln suchen.

    40 Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nichtTchtigkeit des Leibes, sondern solche der Seele, wie wirja auch unter der Glckseligkeit eine Ttigkeit der Seeleverstehen. Ist aber dem also, so musz der Staatsmann undder Lehrer der Staatswissenschaft bis zu einem gewissen

    .1

  • Erstes Buch. 13. Kapitel. 21

    Grade mit der Seelenkunde vertraut sein, grade wie werdie Augen oder sonst einen Leibesteil heilen will, derenBeschaffenheit kennen musz, und zwar jener noch vielmehrals dieser, weil die Staatskunst viel wrdiger und besserist als die Heilkunst. In der Tat machen sich die tchtigenrzte mit der Untersuchung des Krpers sehr viel zu schaffen.So musz nun auch der Lehrer der Staatskunst die Seelezum Gegenstande seiner Betrachtung machen, aber immernur um der angegebenen Zwecke willen und soweit, alses fr diese Zwecke gengt; noch genauer darauf einzu- 10gehen, ist wohl fr die gestellte Aufgabe der Mhe zu viel.

    Einiges aus der Seelenlehre ist nun in den exoterischen 33)Schriften ausreichend behandelt und mag hier Verwendungfinden. So, dasz die Seele einen unvernnftigen und einenvernnftigen Teil hat. Ob diese beiden Teile sich so voneinander unterscheiden wie die Teile des Krpers und allesTeilbare, oder ob sie ihrer Natur nach untrennbar undnur dem Begriffe nach zwei sind wie die innere und aszereSeite der Kreisperipherie, ist fr unseren Zweck gleich-fltig 34). In dem unvernnftigen Vermgen ist wieder ein 20

    eil wie ein allem Lebendigen Gemeinsames, nmlich dasvegetative Vermgen, das Prinzip der Ernhrung und desWachstums. Denn ein solches Seelenvermgen ist wohl inallem, was sich ernhrt, schon fr die Embryonen anzu- 11020nehmen und ebenso fr die ausgebildeten Individuen, undzwar mit besserem Fug und Grunde als irgend ein anderes.Dasselbe hat nun offenbar eine generalle, nicht die spezifischmenschliche Vollkommenheit. Denn dieser Teil und diesesVermgen scheint ganz besonders im Schlafe ttig zu sein

    ;

    im Schlafe aber sind der Gute und der Schlechte am 30wenigsten zu erkennen. Daher auch das Sprchwort:Zwischen den Glcklichen und den Unglcklichen ist ihrhalbes Leben lang kein Unterschied. Dies ist auch nichtauffallend. Denn der Schlaf ist eine Unttigkeit der Seele,insofern sie tugendhaft und schlecht genannt wird, nurdasz manche von den im wachen Zustande vorausgegan-genen Bewegungen sich allmlig im Schlafe einigermaszenzur Geltung bringen und in diesem Anbetracht die Traumetugendhafter Menschen besser werden als die beliebiger Leute.Doch genug hiervon und lassen wir das vegetative Ver- 40

    mgen, da es von Natur an der menschlichen Tugend keinenTeil hat. Es scheint aber auch ein anderer Teil der Seeleohne Vernunft zu sein, jedoch in gewisser Beziehung ander Vernunft teil zu nehmen. Wir Toben nmlich an dem

  • 22 Nikomachische Ethik.

    Enthaltsamen und Unenthaltsamen die Vernunft und denvernnftigen Seelenteil. Denn er ermahnt richtig und zumGuten. Aber die Erfahrung lehrt, dasz den Genannten nochein anderes Prinzip auszer der Vernunft eingepflanzt ist,das dieser widerstrebt und widerstreitet. Wie gelhmteLeibesteile, wenn man sie nach rechts bewegen will, um-gekehrt sich nach links drehen, so und nicht anders verhltes sich mit der Seele : die Begierden des Unenthaltsamengehen auf das Gegenteil von dem, was die Vernunft gebietet,

    10 nur dasz man die Verkehrung am Leibe sieht, dagegen ander Seele nicht. Trotzdem mgen wir berzeugt sein, daszauch in der Seele etwas auszer der Vernunft vorhanden ist,was dieser entgegensteht und widerstreitet. In wie weitdasselbe von der Vernunft verschieden ist, ist hier gleich-gltig. Und doch scheint es wie gesagt an der Vernunftteil zu nehmen. Es gehorcht ihr ja beim Enthaltsamen. Nochgehorsamer aber ist es beim Mszigen und Starkmtigen,bei denen alles mit der Vernunft im Einklang steht 35).Es erweist sich also auch das unvernnftige Vermgen

    20 als zweifach : das pflanzliche hat gar nichts mit der Vernunftgemein, das sinnlich begehrende dagegen und berhauptdas strebende Vermgen nimmt an ihr in gewisser Weiseteil, insofern es auf sie hrt und ihr Folge leistet. Daswre also etwa in der Art, wie wir uns in praktischenDingen nach dem Rate des Vaters und der Freunde, nichtwie in der Wissenschaft nach den Stzen der Mathematikrichten. Dasz aber der unvernnftige Teil gewissermaszenvon der Vernunft berredet wird, beweisen auch die Er-

    nosa mahnungen, alle Zurechtweisung und Ermunterung. Soll30 man aber diesem Teil ebenfalls Vernunft zuschreiben, so

    ist auch das vernnftige Vermgen zweifach : das eine hateigentlich Vernunft und hat sie in sich selbst, das anderehat sie wie ein Kind, das auf seinen Vater hrt.Nach diesem Unterschiede wird auch die Tugend ein-

    geteilt. Von den Tugenden nennen wir die einen dianoetischeoder Verstandestugenden, die anderen ethische oder sittlicheTugenden. Verstandestugenden sind Weisheit, Verstand undKlugheit, sittliche Tugenden Freigebigkeit und Mszigkeit.Denn wenn wir von dem sittlichen Charakter sprechen,

    40 sagen wir nicht, dasz einer weise oder verstndig, sonderndasz er sanft und mszig ist. Wir loben aber auch denHabitus der Weisheit. Ein lobenswerter Habitus wird aberTugend genannt.

  • ZWEITES BUCH.

    Erstes Kapitel.

    Wenn sonach die Tugend zweifach ist, eine Verstandes-tugend un