Arthur C. Clarke - Kurzgeschichten Von Arthur C. Clarke

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Kurzgeschichten von Arthur C. Clarke

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Der gefiederte Freund

Soweit ich mich entsinnen kann, gab es niemals eine besondere Vorschrift,die das Halten von Haustieren in einer Raumstation verboten hatten. Nie-mand schien das fur notwendig gehalten zu haben, aber selbst dann, wennes eine solche Vorschrift gegeben hatte, ware ich sicher gewesen, daß SvenOlsen sie ignoriert hatte.

Wenn Sie den Namen horen, stellen Sie sich bestimmt einen zwei Me-ter großen nordischen Recken vor, der wie ein Stier gebaut ist und aucheine entsprechende Stimme besitzt. Sahe er so aus, waren seine Chancen ge-ring gewesen, jemals Raumfahrer zu werden. Tatsachlich war er von kleinerGestalt, wie fast alle von uns, und hielt leicht sein Gewicht unter den vorge-schriebenen 150 Pfund. Er hatte nicht einmal die von uns oft durchgefuhrtenHungerkuren notig.

Er war einer unserer besten Konstruktionsarbeiter. Seine Geschicklichkeitblieb unubertroffen, wenn er die frei im Raum neben der Station schweben-den Verstrebungen mit einem leichten Stoß in Bewegung setzte und seinenKraftaufwand dabei so genau berechnete, daß die Teile mit dem richtigenEnde auf die passende Stelle trafen und dort zusammengeschweißt werdenkonnten. Ich hatte ihm und seinen Leuten stundenlang zusehen konnen, wiesie aus dem Durcheinander langsam – wie bei einem Puzzlespiel – die ge-planten Konstruktionen schufen. Es war eine komplizierte und schwierigeArbeit, denn ein Raumanzug ist nicht gerade ideale Kleidung. Immerhin ge-noß Svens Mannschaft einen gewaltigen Vorteil gegenuber der Arbeitsweiseauf der Erde. Jeder von ihnen im Weltraum konnte, wenn er wollte, einfachzurucktreten, um das Werk zu bewundern, ohne befurchten zu mussen, durchdie Erdgravitation davon getrennt zu werden.

Fragen Sie mich nur nicht, warum Sven so großen Wert auf ein Haustierlegte oder warum er ausgerechnet das wahlte, welches wir spater entdeck-ten. Ich bin kein Psychologe, aber ich muß zugeben, daß Svens Wahl nichtohne Uberlegungen getroffen wurde. Claribel wog praktisch nichts, seine Nah-rungsaufnahme war gering, und im Gegensatz zu allen anderen Tieren storteihn die Schwerelosigkeit nicht.

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Ich saß in meinem winzigen Loch, lacherlicherweise auch Buro genannt,und sah die Liste der noch vorhandenen Materialvorrate durch, um festzu-stellen, was demnachst neu angefordert werden musse. In diesem Augenblickerfuhr ich zum ersten Male von Claribels Anwesenheit. Als das musikalischePfeifen dicht neben meinem Ohr ertonte, vermutete ich eine Durchsage derBordsprechanlage. Ich wartete, aber die Durchsage kam nicht. Dafur kametwas anderes – eine gezwitscherte Melodie. Ich hob den Kopf in solcherUberraschung, daß ich das Winkeleisen hinter meinem Rucken vollig vergaß.Vor meinen Augen explodierten die Sterne, Als sie endlich erloschen, erblick-te ich Claribel.

Er war ein kleiner, gelber Kanarienvogel und hing wie eine dicke Hummelbewegungslos in der Luft. Die Flugel lagen eng am Korper. Wir sahen uns fureinige Augenblicke verdutzt an, dann machte er eine seltsame Ruckwartsbe-wegung und schlug einen Salto, wie ihn sicherlich niemals zuvor ein Kanari-envogel geschlagen hat. Langsam schwebte er davon und verschwand. Es waroffensichtlich, daß der Vogel sich bereits an das Fehlen jeglicher Schwerkraftgewohnt hatte und nicht viel von unnotiger Kraftvergeudung hielt.

Sven stellte sich einige Tage dumm und gab den Besitz von Claribel nichtzu, aber dann spielte es auch keine Rolle mehr, denn der Vogel gehorte bereitsallen. Er hatte ihn nach seinem letzten Urlaub mit auf die Transportraketeund damit in die Station geschmuggelt – naturlich nur aus wissenschaftli-chem Interesse, wie er immer wieder eifrig betonte. Er wollte wissen, wie sichein Vogel benahm, wenn er kein Gewicht, aber noch seine Flugel besaß.

Claribel wuchs, gedieht und wurde dicker. Eigentlich hatten wir niemalsbesondere Schwierigkeiten, ihn vor den strengen Augen inspizierender Kom-missionen zu verbergen. Auf einer Raumstation gibt es unzahlige Verstecke.Nur hatte Claribel den Fehler, seine Unzufriedenheit sehr lautstark kundzu-tun, und so war unser einziges Problem, den Besuchern von der Erde standigdie merkwurdigen Pfeiftone zu erklaren, die aus Ventilationsschachten undLaderaumen kamen. Oft entgingen wir nur knapp der Entdeckung, aber werdenkt auch schon daran, auf einer Raumstation einen Kanarienvogel vorzu-finden?

Unser Dienst dauerte nun 12 Stunden, was sich schlimmer anhort, als esin Wirklichkeit ist. Man benotigt nur wenig Schlaf im Weltraum. Tag und

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Nacht gibt es zwar nicht, wenn man standig im Licht der Sonne gebadet wird,aber trotzdem erwies es sich als vorteilhaft, die gewohnten Begriffe beizube-halten. Ganz besonders an diesem Morgen kam es mir wie sechs Uhr fruhvor. Ich hatte Kopfschmerzen und entsann mich unruhiger Traume. Es dau-erte eine Ewigkeit, bis ich die Halteriemen losen und mich zu den anderenin die Messe begeben konnte. Es herrschte eine ungewohnliche Ruhe beimFruhstuck. Ein Platz am Tisch war leer.

”Wo ist Sven?“, fragte ich, obgleich es mir ziemlich gleichgultig war.

”Er sucht Claribel“, antwortete jemand.

”Wie Sven behauptet, weckt er

ihn jeden Morgen, und nun kann er ihn nicht finden.“

Bevor ich entgegnen konnte, daß Claribel auch mich jeden Morgen weckte,trat Sven ein. Man konnte seinem Gesicht sofort ansehen, daß irgend etwasnicht stimmte. Langsam offnete er seine ausgestreckte Hand. In ihr lag einkleines Haufchen Federn, aus denen zwei Fuße senkrecht hervorragten.

”Was ist geschehen?“, fragten wir, alle gleichmaßig betrubt.

”Ich weiß es nicht“, sagte Sven traurig.

”Ich habe ihn so gefunden.“

”Kann ich ihn mir anschauen?“, fragte Doc Duncan, unser Doc und Arzt.

In angstvollem Schweigen sahen wir zu, wie er Claribel nahm, ans Ohr hieltund auf das winzige Pochen des kleines Herzens wartete. Dann schuttelte erden Kopf.

”Ich kann nichts horen, aber das beweist noch lange nicht, daß er tot ist.

Ich habe noch nie in meinem Leben den Puls eines Kanarienvogels gefuhlt“,setzte er entschuldigend hinzu.

”Vielleicht tate ein Schuß Sauerstoff gut“, schlug jemand vor. Er zeigte

dabei auf einen Zylinder nahe der Tur, dessen gruner Streifen ihn als Notvor-rat kennzeichnete. Jeder stimmte bei und hielt den Vorschlag fur eine guteIdee. Behutsam wurde Claribel in eine Sauerstoffmaske gelegt, die groß genugwar, dem Vogel als Sauerstoffzelt zu dienen.

Zu unserer freudigen Uberraschung wurde Claribel sofort wach. Uber das

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ganze Gesicht strahlend, offnete Sven die Maske. Claribel hupfte auf seinenausgestreckten Finger und begann zu jubilieren – um dann erneut in Oh-macht zu fallen.

”Das begreife ich nicht“, lamentierte Sven.

”Was ist denn nur mit ihm

los? Das hat er doch noch nie gehabt!“

Wahrend dieser ganzen Vorgange versuchte ich, mich an etwas zu erin-nern, das mir aufgefallen war. Außerdem war ich noch so mude, daß ich kaumdie Augen offenhalten konnte. Ein wenig von dem Sauerstoff wurde auch mirguttun, aber bevor ich meinen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, durch-zuckte die Erkenntnis wie ein Blitz mein Gehirn. Ich wandte mich an denIngenieur vom Dienst und sagte drangend:

”Jim, da stimmt etwas nicht. Die Luft ist nicht in Ordnung. Allein wie

Claribel bewußtlos wurde – das erinnert mich daran, daß Bergleute sehr oftKanarienvogel mit sich fuhren, weil diese das Gas zuerst spuren.“

”Unsinn!“, entgegnete Jim.

”Der Alarm ware ausgelost worden. Wir ha-

ben doppelte Anschlusse, jeder vom anderen unabhangig.“

”Eh – der zweite Anschluß ist noch nicht komplett“, erinnerte ihn sein

Assistent. Das ruttelte Jim wach. Er ging, ohne ein Wort zusagen, aus demRaum, wahrend wir zuruckblieben und warteten. Diskutierend reichten wirdie Sauerstoffflasche herum wie eine Friedenspfeife.

Er kehrte 10 Minuten spater mit einem nicht sehr intelligenten Gesichts-ausdruck zu uns zuruck. Einer jener Unglucksfalle, so erfuhren wir dann, diees eigentlich nicht geben durfte. In dieser Nacht hatte es eine Sonnenfinsternisgegeben, hervorgerufen durch den Erdschatten. Ein Teil der Luftreinigungs-anlage war eingefroren, ebenso die Alarmanlage. Chemische und elektronischeAusrustung im Wert von einer halben Million Dollar hatte uns einfach imStich gelassen. Ohne Claribel waren wir tot gewesen.

Wenn Sie also heute eine Raumstation besuchen, brauchen Sie nicht wei-ter erstaunt zu sein, vom unverkennbaren Gesang eines Kanarienvogels be-grußt zu werden. Im Gegenteil, Sie durfen beruhig sein; denn es bedeutet,daß Sie praktisch ohne Extraausgaben doppelt gesichert sind.

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Die neun Milliarden Namen Gottes

”Dies ist ein ziemlich ungewohnlicher Auftrag“, sagte Dr. Wagner und

fand, daß er sich damit noch zuruckhaltend ausdruckte.”Soweit ich weiß,

ist dies das erste Mal, daß ein tibetanisches Kloster einen automatischen Se-quenzrechner bestellt. Ich mochte nicht neugierig erscheinen, aber ich kannmir nicht denken, daß Ihr . . . ah . . . Ihre Institution mit einem solchen Com-puter viel anfangen konnte. Ware es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, mirzu erklaren, was Sie nun eigentlich damit vorhaben?“

”Gewiß nicht“, erwiderte der Lama, streifte seine weite Seidenrobe zu-

recht und verstaute bedachtig den Rechenschieber, mit dem er eben einigeWahrungsumrechnungen angestellt hatte.

”Ihr Mark–V–Rechner kann alle

ublichen mathematischen Operationen mit bis zu zehn Elementen ausfuhren.Bei unserem Vorhaben geht es jedoch um Buchstaben, nicht um Zahlen. Eswird notig sein, den Ausdruckmechanismus zu modifizieren, aber dann wirddie Maschine Worter und nicht Zahlenkolonnen ausdrucken.“

”Ich verstehe Sie nicht ganz . . .“

”Es handelt sich um ein Projekt, an dem wir seit gut 300 Jahren arbeiten

– genauer gesagt, seit der Grundung unseres Klosters. Fur Ihre Anschauungmag das alles recht fremdartig klingen, aber ich hoffe, Sie sind bereit, michunvoreingenommen anzuhoren.“

”Selbstverstandlich.“

”Eigentlich ist es ganz einfach. Wir haben uns vorgenommen, eine Liste

aller moglichen Namen Gottes zusammenzustellen.“

”Wie bitte?“

”Wir sind zu der Ansicht gelangt“, fuhr der Lama seelenruhig fort,

”daß

alle diese Namen mit nicht mehr als neun Buchstaben eines eigens von unsentworfenen Alphabets darzustellen sind.“

”Und daran arbeiten Sie seit drei Jahrhunderten?“

”Ja. Wir erwarten, 15000 Jahre zu brauchen, um unsere Vorhaben zu

Ende zu bringen.“

”Oh.“ Dr. Wagner wirkte etwas betroffen.

”Jetzt verstehe ich, warum

Sie einen unseren Rechner mieten wollen. Aber worin liegt der Sinn diesesProjekts?“

Der Lama zogerte einen Sekundenbruchteil, und Wagner fragte sich schon,ob er ihn womoglich beleidigt hatte. Der Antwort des Lamas war indes nichtdie Spur einer Verargerung anzumerken.

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”Fur Sie mag das als sinnloses Ritual erscheinen, aber uns gilt es als

eine Grundlage unseres Glaubens. Die vielen verschiedenen Namen fur dashochste Wesen – Gott, Jehova, Allah und so weiter – sind nur vom Menschenerfundene Bezeichnungen. Ich mochte nicht auf die recht komplizierten Philo-sophischen Probleme eingehen, die dieser Anschauung zugrunde liegen, aberwir glauben, daß unter allen moglichen Kombinationen jener neun Buchsta-ben auch die sein mussen, die wir die wahren Namen Gottes nennen konnen.Wir haben versucht, durch systematische Permutation der Buchstaben einekomplette Liste anzulegen.“

”Ich verstehe. Sie haben mit AAAAAAAAA begonnen und wollen sich

bis zu ZZZZZZZZZ durcharbeiten.“

”Genau. Obwohl wir, wie gesagt, ein eigenes Alphabet verwenden. Es

ist wohl kein Problem, den elektronischen Drucker darauf umzustellen. Eininteressanteres Problem wird es sein, eine Programmschaltung zu erfinden,die unsinnige Kombinationen eliminiert. Zum Beispiel soll kein Buchstabemehr als dreimal hintereinander vorkommen.“

”Dreimal? Sie wollten sicher zweimal sagen.“

”Dreimal stimmt – ich furchte, es wurde zu weit fuhren, wenn ich Ihnen

erklaren wurde, warum; selbst wenn Sie unsere Sprache beherrschen wurden.“

”Ja, naturlich“, meinte Wagner schnell.

”Bitte, fahren Sie fort.“

”Glucklicherweise wird es recht einfach sein, Ihren automatischen Se-

quenzrechner fur diese Aufgabe anzupassen, da man ihn bloß entsprechendzu programmieren braucht, damit er die Buchstabenpermutationen der Rei-he nach ausdruckt. Er wird in rund hundert Tagen vollbringen konnen, wozuwir 15000 Jahre gebraucht hatten.“

Dr. Wagner horte kaum mehr den gedampften Verkehrslarm aus den Stra-ßen Manhattans weit unter seinem Buro. Er befand sich in einer anderenWelt, in einer Welt hochaufragender Gebirge, zwischen denen die großtenWolkenkratzer armselig gewirkt hatten. Hoch droben in ihren entlegenenBergfesten hatten diese Monche Geduld, Generation um Generation, an ihrerListe sinnloser Worter gearbeitet. Wie narrisch Menschen doch sein konnten.Nun, er durfte sich derartige Gedanken jedenfalls nicht anmerken lassen. DerKunde hatte immer recht.

”Gar keine Frage“, antwortete er,

”daß wir den Mark V so modifizieren

konnen, daß er solche Listen ausdruckt. Was mir mehr Sorgen macht, ist dasProblem der Aufstellung, die technische Uberwachung. Nach Tibet hinzu-kommen, ist auch heute noch nicht so einfach.“

”Das konnen wir arrangieren. Die Teile sind klein genug fur den Luft-

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transport – das ist einer der Grunde, warum wir uns fur Ihren Rechner ent-schieden haben. Wenn Sie alles nach Indien bringen konnen, werden wir furden weiteren Transport sorgen.“

”Und Sie mochten zwei unserer Techniker anheuern?“

”Ja, fur die drei Monate, die das Projekt wahrscheinlich dauern wird.“

”Ich bin sicher, daß die Personalabteilung das bewerkstelligen kann.“ Dr.

Wagner machte sich eine Notiz auf seinen Vormerkblock.”Da gibt es aller-

dings noch zwei andere Punkte, die . . .“Bevor er den Satz beenden konnte, hatte der Lama eine kleine Karte

hervorgeholt.

”Das ist mein verburgtes Kreditguthaben bei der Asiatischen Bank.“

”Danke sehr. Das ist wohl . . . ah . . . ich wurde sagen, auf alle Falle ausrei-

chend. Der zweite Punkt ist so trivial, daß ich zogere, Sie damit zu behelligen– aber es ist erstaunlich, wie oft man die banalsten Dinge ubersieht. WelcheStromquelle haben Sie zur Verfugung?“

”Einen Dieselgenerator, der 50 Kilowatt bei einer Spannung von 110 Volt

liefert. Er wurde vor rund 5 Jahren installiert und arbeitet recht zuverlassig.Er hat das Leben in unserem Bergkloster erheblich bequemer gemacht, aberwir haben ihn naturlich vor allem zum Betrieb unserer Gebetsmuhlen ange-schafft.“

”Naturlich“, seufzte Dr. Wagner.

”Daran hatte ich denken mussen.“

Der Ausblick von der Terrassenbrustung war schwindelerregend, aber mitder Zeit gewohnt man sich an alles. Nach drei Monaten beeindruckte GeorgeHanley weder der gut 700 Meter tiefe Abgrund jenseits der Brustung nochder ferne Flickenteppich der Felder im Tal unten. Auf die von Wind undWetter geglatteten Steine gestutzt starrte er verdrossen zu den fernen Bergenhinuber, deren Namen herauszufinden er nie der Muhe wert gefunden hatte.

Diese Sache hier, dachte George, war wohl das Verruckteste, das ihm jepassiert war. Projekt Shangri-La hatte es ein belesener Spaßvogel zu Hau-se in der technischen Abteilung getauft1. Seit Wochen spuckte der Mark Vnun schon mit Unsinn bedruckte Papierseiten aus, hektarweise. Geduldig undunermudlich ordnete der Computer die Buchstaben in immer neuen Kombi-nationen an, schopfte samtliche Moglichkeiten einer Permutationsklasse aus

1Der Schriftsteller James Hilton beschrieb in seinem 1931 erschienen Roman Der ver-lorene Horizont unter dem Namen Shangri-La einen paradisischen Ort im Himalaya

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und ging dann zur nachsten uber. Was der Drucker an Endlospapier aus-spie, zerschnitten die Monche sorgfaltig und klebten die Streifen in machtigeFolianten. Noch eine Woche, und sie wurden fertig damit sein. Welche ver-wickelten Uberlegungen die Monche eigentlich zu der Uberzeugung gebrachthatte, daß es nicht notig war, zu Wortern von 10, 20 oder 100 Buchstabenuberzugehen, wußte George nicht. Einer seiner immer wiederkehrenden Alp-traume war, daß es irgendeine Anderung in der Planen geben wurde, unddaß der Rinpotsche, der dem Kloster vorstand, plotzlich verkunden wurde,das Projekt werde sich etwas bis zum Jahr 2060 hinziehen. Dazu waren dieseLeute durchaus imstande.

George horte, wie der Wind die schwere Holztur zuschlug, als Chuck zuihm heraus auf die Terrasse kam. Wie ublich rauchte Chuck eine der Zi-garren, die ihm das Wohlwollen der Monche sicherten – welche keineswegsubertrieben monchisch durchaus bereit waren, samtliche kleineren und diemeisten großeren Freuden des Lebens zu genießen. Das mußte man ihnen zu-gute halten: sie mochten verruckt sein, aber Kostverachter waren sie keine.Diese haufigen Ausfluge ins Dorf hinunter, zum Beispiel . . .

”Hor mal, George“, sagte Chuck aufgeregt.

”Ich habe da etwas erfahren,

das uns ganz schon in die Tinte setzen kann.“

”Was ist los? Macht der Rechner Matzchen?“ Das war so ungefahr das

scheußlichste Ereignis, das George sich vorstellen konnte. Etwas Derartigeskonnte namlich seine Heimreise verzogern, und nichts erschien ihm entsetzli-cher als diese Vorstellung. In seiner augenblicklichen Gemutsverfassung wareihm selbst ein Fernsehwerbefilm wie Manna vom Himmel vorgekommen. Zu-mindest ware es eine Erinnerung an zu Hause gewesen.

”Nein – nichts Derartiges.“ Chuck ließ sich auf der Brustung nieder, was

ungewohnlich war, weil er normalerweise den Abgrund scheute.”Ich hab’ nur

gerade herausgefunden, worum es hier uberhaupt geht.“

”Was soll das – ich dachte, das wußten wir langst.“

”Klar – wir wissen, was die Monche tun wollen. Aber wir wußten nicht,

warum sie es tun. Es kling ja verruckt . . .“

”Wem sagst du das?“, knurrte George.

”. . . aber der alte Oberbonze, der Abt, hat mir eben sein Herz ausgeschuttet.

Du weißt doch, daß er jeden Nachmittag reinschaut, um zuzusehen, wie dasPapier aus der Maschine flutscht. Nun, diesmal schien er ziemlich aufgeregtzu sein, soweit ihm das uberhaupt moglich ist. Als ich ihm sagte, daß wir denletzten Zyklus begonnen hatten, fragte er mich in seinem komisch korrektenEnglisch, ob wir nicht wissen wollten, was sie zu erreichen versuchten. Ich

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sagte’Sicher doch‘, und da erklarte er es mir.“

”Nur weiter. Ich glaube alles.“

”Also, die glauben, wenn sie alle Namen Gottes aufgeschrieben haben –

und sie schatzen, daß es ungefahr 9 Milliarden davon gibt –, daß dann GottesWille erfullt ist. Daß die Menschheit vollendet hat, wofur sie geschaffen wur-de, und daß danach wir und die Welt und alles uberflussig sind. Tatsachlicherscheint ihnen Weiterleben irgendwie als Blasphemie.“

”Na und, was sollen wir tun? Vielleicht Selbstmord begehen?“

”Das ist nicht notwendig. Wenn wir unsere Aufgabe beendet haben, wenn

die Liste vollstandig ist, kommt Gott und macht Schluß, einfach so . . . ausund vorbei!“

”Vollig klar. Wenn wir unsere Arbeit abgeschlossen haben, geht die Welt

unter.“Chuck lachte nervos.

”Genau das hab’ ich dem Abt gesagt. Und weißt du,

was er tat? Er schaute mich an, als ware ich ein besonders dummer Novize,und bemerkte:

’Das liegt doch auf der Hand‘“

George uberlegte einige Augenblicke.

”Eine ziemlich drastische Anschauung, wurde ich sagen“, meinte er schließ-

lich.”Aber was sollen wir denn dagegen tun? Ich wußte nicht, was uns das

kratzt. Schließlich wußten wir ja schon, daß die Leutchen ubergeschnapptsind.“

”Ja – aber verstehst du nicht, was passieren wird? Wenn die Liste vollstandig

ist und die Posaunen nicht zum Jungsten Gericht blasen – oder was immer siesich unter einem Weltuntergang vorstellen –, dann werden sie uns die Schuldgeben. Unsere Maschine ist es, mit der sie die Arbeit fertiggebracht haben.Ich muß sagen, die Situation gefallt mir gar nicht.“

”Ich verstehe“, sagte George gedehnt.

”Da ist was dran. Aber so was hat’s

fruher gegeben, weißt du. Als ich ein Kind war, gab’s bei uns unten in Loui-siana einen verruckten Prediger, der behauptete, die Welt wurde am nachstenSonntag untergehen. Hunderte Menschen glaubten ihm – viele verkauften so-gar ihre Hauser. Und als gar nichts passierte, wurden sie keineswegs wutendauf ihn, wie man erwarten wurde. Sie sagten sich nur, daß er wohl einen Feh-ler bei seinen Berechungen gemacht haben musse und glaubten ihm weiter.Ich weiß nicht, ob manche nicht heute noch auf den Weltuntergang warten.“

”Na, wir sind hier nicht in Louisiana, falls du das nicht bemerkt haben

solltest. Wir sind nur zwei gegen Hunderte von Monchen. Ich mag sie, undder Alte wird mir leid tun, wenn sein Lebenswerk geplatzt ist. Trotzdemwar’s mir lieber, ich ware woanders.“

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”Das wunsche ich mir seit Wochen. Aber wir konnen nichts tun, bevor

die Vertragsfrist abgelaufen ist und das Flugzeug uns abholen kommt.“

”Naturlich“, meinte Chuck nachdenklich,

”konnten wir es immer noch ein

wenig mit Sabotage versuchen.“

”Teufel nein! Das wurde alles nur noch schlimmer machen.“

”Nicht so, wie ich mir’s vorstelle. Sieh die Sache doch mal so an. Der

Rechner wird in den nachsten Tagen das Programm durchlaufen, wenn erwie bisher 20 Stunden pro Tag in Betrieb ist. Unser Flugzeug kommt in einerWoche. Gut – wir brauchen also nur etwas zu finden, irgendein Teil, dasausgetauscht werden muß, wenn wir die Maschine uberprufen. Etwas, dasdas Programm ein paar Tage aufhalt. Naturlich bringen wir es in Ordnung,aber nicht zu schnell eben. Wenn wir die Zeit genau abschatzen, konnenwir unten auf dem Landestreifen sein, wenn der Rechner den letzten Namenausspuckt. Dann konnen sie uns nicht mehr erwischen.“

”Das gefallt mir nicht“, sagte George.

”Es ware das erste Mal, daß ich

einen Job im Stich lasse. Außerdem wurden sie wahrscheinlich mißtrauischwerden. Nein. Ich bleibe und warte ab, was passiert.“

”Es gefallt mir immer noch nicht“, sagte er 7 Tage spater, als die zahen,

kleinen Gebirgsponys sie den gewundenen Pfad hinuntertrugen.”Glaub bloß

nicht, daß ich weglaufe, weil ich irgendwie Angst habe. Mir tun nur diesearmen Kerle da oben leid, und ich mochte nicht dabeisein, wenn sie her-ausfinden, wie sehr sie reingefallen sind. Wie wohl der Alte es aufnehmenwird, wenn er merkt, daß sie ihr gutes Geld zum Fenster hinausgeschmissenhaben.“

”Es ist sonderbar“, erwiderte Chuck,

”aber als ich mich von ihm verab-

schiedete, hatte ich den Eindruck, als wußte er, daß wir ihn im Stich lassen– und es schien ihm nichts auszumachen, weil der Rechner tadellos arbeitetund bald seine Arbeit beendet haben wird. Danach – nun, fur ihn gibt esnaturlich einfach kein Danach ...“

George wandte sich im Sattel um und blickte den Bergpfad zuruck. hierwar die letzte Stelle, von der aus man das Kloster auf dem Gipfel sehenkonnte. Die niedrigen, massigen Gebaude hoben sich duster gegen den rot-leuchtenden Abendhimmel ab; nur da und dort schimmerten in der Silhou-ette ein paar Lichter wie die erleuchteten Bullaugen in der Bordwand einesOzeandampfers. Elektrische Lampen naturlich, die vom gleichen Stromkreis

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gespeist wurden wie der Mark V. Wie lange noch? Wurden die Monche in ih-rer bitteren Enttauschung den Computer zerschlagen? Oder wurden sie sicheinfach ruhig hinsetzen und ihre Berechnungen von neuem beginnen?

Er wußte genau, was in diesem Augenblick oben im Bergkloster vorging.Der Rinpotsche und die anderen ranghoheren Lamas wurden in ihren seide-nen Roben beisammensitzen und die einzelnen Blatter prufen, die die Novi-zen vom Drucker brachten, um sie in die großen Bande einzukleben. Niemandwurde sprechen. Das einzige Gerausch wurde das unaufhorliche Prasseln derLettern auf dem Papier sein, ein nicht endender Hagel von Buchstaben. DerMark V selbst arbeitete naturlich lautlos, wahrend er Tausende von Berech-nungen pro Sekunde ausfuhrte. Seit drei Monaten war es so gegangen – dasreichte, dachte George, um einen die Wande hochgehen zu lassen.

”Da ist sie!“, rief Chuck und zeigte ins Tal hinunter.

”Ist sie nicht herr-

lich?“George fand das auch. Die klapprige alte DC 3 lag am Ende der Rollbahn

wie ein winziges, silbernes Kreuz. In zwei Stunden wurden sie von ihr in dieFreiheit eines normalen Lebens zuruckgebracht werden. Dieser Gedanke alleinwar es wert, genossen zu werden wie kostbarer Wein. Und wahrend sein Ponybedachtig den Pfad hinuntertrabte, berauschte sich George formlich daran.

Die rasch hereinbrechende Nacht des Himalaya hullte den Abhang nunschon in schattenfleckiges Dunkel. Glucklicherweise war der Weg fur ortlicheVerhaltnisse ausgezeichnet, und sie hatten beide Fackeln mit. Der Ritt warauch im Dunkeln nicht gefahrlich, doch sie begannen langsam die Kalte zuspuren. Der Himmel war vollkommen klar, und mit Sternen ubersat. Zumin-dest liefen sie nicht Gefahr, dachte George zufrieden, daß der Pilot wegenschlechten Wetters nicht starten konnte. Das war zuletzt seine einzige Sorgegewesen.

Er begann vor sich hinzutrallern, horte aber nach einer Weile wieder auf.Dieses Rund majestatischer Berge, die weiß und kalt und unnahbar aus demDunkel schimmerten, erlaubte keinen Ubermut. Schließlich warf George einenBlick auf seine Uhr.

”In einer Stunde sollten wir unten sein“, rief er Chuck uber die Schulter

zu. Dann dachte er daran, warum sie hier waren, und fugte hinzu:”Ob der

Rechner inzwischen mit dem Programm durch ist? Das ware jetzt ungefahrfallig.“

Chuck antwortete nicht, deshalb drehte George sich nach ihm um. Erkonnte eben noch Chucks Gesicht erkennen, ein helles Oval, das dem Himmelzugewandt war.

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”Schau“, flusterte Chuck, und nun blickte auch George zum Himmel auf.

Irgendwann tut man alles zum letzten mal.Uber ihnen erloschen die Sterne.

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Der Stern

Dreitausend Lichtjahre weit sind wir vom Vatikan weg. Ich habe einmalgeglaubt, daß die Entfernung keine Macht uber den Glauben haben konn-te. Genau wie ich glaubte, daß die Himmel den Ruhm von Gottes Wer-ken verkundeten. Jetzt habe ich diese Werke gesehen, und mein Glaube istschmerzlich erschuttert.

Ich starre das Kruzifix an, das uber dem Mark IV–Computer an der Ka-binenwand hangt, und frage mich zum erstenmal in meinem Leben, ob esnicht nur ein leeres Symbol ist.

Ich habe es noch niemanden gesagt, aber die Wahrheit laßt sich nicht ver-heimlichen. Jeder hat Zugang zu den Daten, die auf den zahllosen Meilen vonMagnetband gespeichert und auf den Tausenden von Fotografien aufgezeich-net sind, die wir zur Erde zuruckbringen. Andere Wissenschaftlicher konnensie ebenso leicht interpretieren wie ich – noch leichter hochstwahrscheinlich.Ich eigne mich nicht dazu, die Verfalschungen der Wahrheit zu entschuldigen,die meinem Ordnen in alten Zeiten so oft einen schlechten Ruf eintrugen.

Die Mannschaft ist schon bedruckt genug, ich frage mich, wie sie die-se letzte Ironie aufnehmen wird. Wenige von den Leuten haben irgendeinenGlauben, und doch wird es ihnen keinen Spaß machen, diese letzte Waffenin ihrem Feldzug gegen mich einzusetzen – in diesem privaten, gutmutigen,aber im Grunde ernstgemeinten Krieg, der schon seit der Erde andauert. Esbelustigt sie, einen Jesuiten als Chefastrophysiker zu haben: Dr. Chandlerkam zum Beispiel nicht daruber hinweg (Warum sind Mediziner eigentlichso notorische Atheisten?). Manchmal besuchte er mich auf dem Beobach-tungsdeck, wo die Beleuchtung immer ganz schwach ist, damit die Sterne inunverminderter Pracht erstrahlen konnen. Dann trat er in der Dammerungan mich heran, stellte sich neben mich und starrte aus der großen, ovalen Lu-ke hinaus, wo die Himmel langsam an uns vorbeikrochen, wahrend sich dasSchiff durch den Restdrall, den wir nie korrigiert hatten, um seine Langsachsedrehte.

”Nun, Pater“, sagte er dann schließlich.

”Es geht immer und immer so

weiter, und vielleicht hat Etwas es gemacht. Aber wie sie glauben konnen,daß dieses Etwas ein besonderes Interesse an uns und unserer elenden kleinenWelt hat – das geht einfach uber meinen Horizont.“ Dann ging die Diskussi-on los, wahrend die Sterne und die Sternennebel in schweigenden, endlosenBogen vor der makellos klaren Plastikscheibe des Beobachtungsluks vorbei-

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schwebten.Es war, glaube ich, die scheinbare Widerspruchlichkeit meiner Position,

die die Mannschaft . . . ja, die sie belustigte. Vergeblich wies ich auf meinedrei Aufsatze in der Zeitschrift fur Astrophysik hin, auf die funf Arbeiten inden Monatsnotizen der Koniglichen Astronomischen Gesellschaft. Ich erin-nerte sie daran, daß unser Orden schon seit langem fur seine wissenschaftlicheArbeit beruhmt ist. Vielleicht sind wir jetzt nur noch wenige, aber wir ha-ben seit dem 18. Jahrhundert immer Beitrage zu Astronomie und Geophysikgeleistet, die in keinem Verhaltnis zu unserer Anzahl standen.

Wird mein Bericht uber den Phoenixnebel das Ende unserer tausendjahri-gen Geschichte bedeuten? Ich furchte, er wird noch viel mehr beenden.

Ich weiß nicht, wer dem Nebel seinen Namen gab, der mir sehr schlechtgewahlt scheint. Wenn er eine Prophezeiung enthalt, dann ist es eine, dienoch auf mehrere tausend Millionen Jahre hinaus nicht in Erfullung gehenkann. Sogar das Wort Nebel ist irrefuhrend: dieses System ist viel kleiner alsjene gewaltigen Staubwolken – der Grundstoff fur ungeborene Sterne –, dieuberall in der Milchstraße verstreut sind. Nach kosmischen Maßstab ist derPhoenixnebel sogar winzig – eine zarte Gashulle, die einen einzigen Sternumgibt.

Oder das, was von dem Stern noch ubrig ist . . .

Der Rubensstich von Loyola scheint sich uber mich lustig zu machen,wie er da so uber den Aufzeichnungen des Spektrophotometers hangt. Washattest du, Vater, aus dem Wissen gemacht, das in meine Hande gelangte,so weit entfernt von der kleinen Welt, die das ganze Universum war, das dukanntest? Hatte dein Glaube dieser Herausforderung standgehalten, so wiees dem meinen nicht gelungen ist?

Du blickst in die Ferne, Vater, aber ich bin in Fernen gereist, die du dirniemals hattest vorstellen konnen, als du vor tausend Jahren deinen Ordengrundetest. Kein anderes Beobachtungsschiff hat sich je so weit von der Erdeentfernt: wir sind direkt an den Grenzen des erforschten Universums. Wirsind aufgebrochen, um den Phoenixnebel zu erreichen, es ist uns gelungen,jetzt sind wir mit unserer Wissenslast auf dem Heimweg. Ich wunschte, dieseLast wurde mir von den Schultern genommen, aber ich rufe vergeblich nachdir, uber die Jahrhunderte und die Lichtjahre hinweg, die zwischen uns liegen.

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Auf dem Buch, das du in der Hand haltst, ist die Aufschrift deutlich zulesen: AD MAJOREM DEI GLORIAM2 heißt die Botschaft, aber es ist eineBotschaft, an die ich nicht langer zu glauben vermag. Wurdest du noch daranglauben, wenn du sehen konntest, was wir gefunden haben?

Wir wußten naturlich, was der Phoenixnebel war. Jedes Jahr explodie-ren allein in unserer Galaxis mehr als einhundert Sterne, sie erstrahlen einpaar Stunden oder Tage lang in einem Licht, das mehrere tausendmal sostark ist wie normal, dann sinken sie zuruck in Tod und Finsternis. Das sinddie gewohnlichen Novae – die alltaglichen Katastrophen des Universums. Ichhabe von Dutzenden die Spektogramme und Lichtkurven aufgezeichnet, seit-dem ich anfing, im Mondobservatorium zu arbeiten.

Aber drei- oder viermal in jedem Jahrtausend geschieht etwas, das sogareine Nova zu volliger Bedeutungslosigkeit verblassen laßt.

Wenn ein Stern zu einer Supernova wird, kann er eine kleine Weile alleSonnen der Galaxis zusammen uberstrahlen. Die chinesischen Astronomenbeobachteten ein solches Ereignis im Jahre 1054 n. Chr., ohne zu wissen,was sie da eigentlich sahen. Funfhundert Jahre spater, 1572, flammte in derKassiopeia eine Supernova so strahlend hell auf, daß sie bei Tageslicht amHimmel zu sehen war. In den tausend Jahren, die seitdem vergangen sind,hat es noch weitere drei davon gegeben.

Unsere Aufgabe war es, die Uberreste einer solchen Katastrophe aufzusu-chen, die Ereignisse zu rekonstruieren, die dazu fuhrten, und wenn moglich,die Ursache dafur in Erfahrung zu bringen. Wir kamen langsam durch diekonzentrischen Gashullen, die sechstausend Jahre vorher ausgeschleudert wor-den waren, sich aber immer noch ausdehnten. Sie waren unermeßlich heiß undstrahlten noch immer ein scharf violettes Licht aus, waren aber viel zu dunn,um uns irgendwelchen Schaden zuzufugen. Als der Stern explodierte, warenseine außeren Schichten mit solcher Geschwindigkeit hinausgeschleudert wor-den, daß sie vollstandig aus seinem Anziehungsbereich geraten waren. Nunbildeten sie eine Hohlkugel, die groß genug war, um tausend Sonnensystemeaufzunehmen, und in deren Mitte gluhte der winzige, phantastische Gegen-stand, zu dem der Stern jetzt geworden war – ein weißer Zwerg, kleiner als dieErde, aber millionenmal so schwer. Wir waren ringsum von gluhenden Gas-schichten umgeben, sie verdrangten die normale Finsternis des interstellarenRaumes. Wir flogen in das Zentrum einer kosmischen Bombe, die vor Jahr-tausenden explodiert war, und deren weißgluhende Bruchstucke immer noch

2zum hoheren Ruhme Gottes, Leitmotiv des Jesuiten-Ordens

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auseinanderrasten. Die unermeßliche Große der Explosion und die Tatsache,daß ihre Trummer schon jetzt ein Volumen von vielen Milliarden Kilometernerfullten, bewirkten, daß man in dieser Szenerie keinerlei Bewegung erkennenkonnte. Es wurde Jahrzehnte dauern, ehe das Auge ohne Hilfsmittel in die-sen sich drehenden Gasfetzen und -wirbeln irgendeine Bewegung entdeckenkonnte, aber das Gefuhl rasender Ausweitung war uberwaltigend.

Wir hatten Stunden zuvor unseren Primarantrieb gedrosselt und schweb-ten jetzt langsam auf den grellen, kleinen Stern vor uns zu. Einst war er eineSonne wie unsere gewesen, aber er hatte innerhalb von ein paar Stunden dieEnergie vergeudet, mit der er eine Million Jahre lang hatte leuchten sollen.Jetzt war er ein zusammengeschrumpfter Geizhals, der seine letzten Reservenhortete, als wolle er seine zugellose Jugend wiedergutmachen.

Niemand erwartete ernsthaft, Planeten zu finden. Wenn es vor der Explo-sion welche gegeben hatte, waren sie zu Wolken verdampft worden, und ihreMasse ware in den großeren Trummern des eigentlichen Stern untergegangen.Aber wir leiteten die automatische Suchaktion ein, wie wir es immer tun,wenn wir uns einer unbekannten Sonne nahern, und schließlich fanden wireine einzelne, kleine Welt, die den Stern in gewaltiger Entfernung umkreiste.Sie mußte der Pluto dieses verschwundenen Sonnensystems gewesen sein undan den Grenzen der Nacht ihre Umlaufbahn gehabt haben. Der Planet warzu weit entfernt vom Sonnenzentrum, um je Leben gekannt zu haben, aberseine Ferne hatte ihn vor dem Schicksal all seiner verschwundenen Gefahrtenbewahrt.

Die vorbeiziehenden Feuerbrande hatten seine Felsen versengt und dieSchicht aus gefrorenem Gas weggebrannt, die ihn in der Zeit vor der Kata-strophe bedeckt haben mußte. Wir landeten und fanden das Gewolbe.

Seine Erbauer hatten dafur gesorgt, daß wir es fanden. Der Monolith, derals Wegweiser uber dem Eingang stand, war jetzt ein zusammengeschmolze-ner Stummel, aber schon die ersten Fernaufnahmen zeigten, daß wir hier dasWerk intelligenter Lebewesen vor uns hatten. Ein wenig spater entdecktenwir das den ganzen Kontinent uberspannende, radioaktive Muster, das in denFelsen eingegraben worden war. Selbst wenn der Pfeiler uber dem Gewolbezerstort gewesen ware, das Muster ware erhalten geblieben, ein beinahe ewi-ges Leuchtfeuer, das unzerstorbar zu den Sternen hinausrief. Unser Schiffschoß wie ein Pfeil auf dieses gigantische Scheibenzentrum zu.

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Der Pfeiler mußte zur Zeit seiner Erbauung einen Kilometer hoch ge-wesen sein, aber jetzt sah er aus wie eine Kerze, die zu einer Wachspfutzezusammengeschmolzen war.

Wir brauchten eine Woche, um eine Offnung in das zusammengeschmolze-ne Gestein zu bohren, da wir fur eine solche Aufgabe nicht die richtigen Werk-zeuge hatten. Wir waren Astronomen, keine Archaologen, aber wir konntenimprovisieren. Unser unsprungliches Programm war vergessen: dieses einsa-me Monument, das mit solcher Muhe in der großtmoglichen Entfernung vonder dem Untergang geweihten Sonne errichtet worden war, konnte nur eineBedeutung haben. Eine Zivilisation, die wußte, daß sie bald sterben wurde,hatte den letzten Versuch gemacht, unsterblich zu werden.

Wir werden Generationen brauchen, um all die Schatze zu erforschen, diein dem Gewolbe lagerten. Diese Wesen hatten viel Zeit gehabt, um Vorbe-reitungen zu treffen, denn ihre Sonne mußte viele Jahre vor der endgultigenDetonation erste Warnzeichen gegeben haben. Alles, was sie hatten erhaltenwollen, alle Fruchte ihres Geistes, hatten sie in den Tagen vor dem Ende hierauf diese ferne Welt gebracht, in der Hoffnung, daß eine andere Rasse sieeines Tages finden, daß sie nicht vollig dem Vergessen anheimfallen wurden.

Wenn sie nur ein wenig mehr Zeit gehabt hatten! Sie konnten ohne großeSchwierigkeiten zwischen den Planeten ihrer eigenen Sonne hin- und herrei-sen, aber sie hatten noch nicht gelernt, die Abgrunde zwischen den Sternen zuuberqueren, und das nachste Sonnensystem war hundert Lichtjahre entfernt.

Selbst wenn sie nicht, wie ihre Plastiken zeigen, beunruhigend menschlichgewesen waren, wir hatten sie bewundern und um ihre Schicksal trauernmussen. Sie hinterließen Tausende von optischen Aufzeichnungen und Gerate,um sie zu projizieren, zusammen mit detaillierten Anweisungen in Bildern,die es uns nicht schwer machen werden, ihre Schriftsprache zu entziffern. Wirhaben viele dieser Aufzeichnungen untersucht und zum erstenmal seit 6000Jahren die Warme und Schonheit einer Zivilisation zum Leben erweckt, dieunserer eigenen in vielem uberlegen gewesen sein muß. Vielleicht zeigten sieuns nur ihre besten Seiten, und das kann man ihnen kaum vorwerfen. Aberihre Welten waren herrlich, ihre Stadte waren mit einer Anmut erbaut, die esmit allem aufnehmen kann, was wir haben. Wir haben ihnen bei der Arbeitund beim Spiel zugesehen und ihrer musikalischen Sprache gelauscht, dieuber die Jahrhunderte hinweg zu uns drang. Eine Szene steht immer noch

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vor meinem geistigen Auge – eine Gruppe von Kindern, die an einem Strandaus seltsam blauem Sand in den Wellen spielt, wie es auch die Kinder aufder Erde tun.

Und ins Meer sinkt, immer noch warm, freundlich und lebensspendend,die Sonne, die bald zum Verrater werden und all dieses unschuldige Gluckausrotten wird.

Vielleicht hatte uns das alles nicht so tief beruhrt, wenn wir nicht so weitfort von zu hause und nicht so der Einsamkeit ausgesetzt gewesen waren.Viele von uns hatten schon die Trummer uralter Zivilisationen auf anderenWelten gesehen, aber das war uns nie so sehr ans Herz gegangen.

Diese Tragodie war einzigartig. Wenn eine Rasse ihre Krafte verliert undstirbt, wie es bei vielen Nationen und Kulturen auf der Erde der Fall war, soist das eine Sache. Aber so vollig in der Blute ihres Schaffens vernichtet zuwerden, ohne Uberlebende zu hinterlassen – wie war das mit Gottes Gute zuvereinbaren?

Das haben mich meine Kollegen gefragt, und ich habe ihnen geantwortet,so gut ich konnte. Vielleicht hattest du es besser gemacht, Vater Loyola, aberich habe in den Exercitia Spiritualia nichts gefunden, was mir hier geholfenhatte. Es war kein schlechtes Volk: ich weiß nicht, welche Gotter diese Leuteverehrten, wenn sie uberhaupt welche hatten. Aber ich habe sie uber dieJahrhunderte hinweg gesehen, habe beobachtet, wie die Schonheit, die siemit letzter Kraft zu bewahren suchten, im Licht ihrer geschrumpften Sonnewieder zum Leben erweckt wurde.

Ich weiß, welche Antworten meine Kollegen geben werden, wenn sie zurErde zuruckkommen. Sie werden sagen, daß es im Universum weder Sinnnoch Plan gibt, daß in unserer Galaxis jedes Jahr hundert Sonnen explodie-ren, und daß daher genau in diesem Augenblick irgendwo in den Tiefen desRaums eine Rasse stirbt. Ob diese Rasse zu ihren Lebzeiten Gutes oder Bosesgetan hat, wird am Ende keinen Unterschied machen: es gibt keine gottlicheGerechtigkeit – denn es gibt keinen Gott.

Und doch beweist das, was wir bisher gesehen haben, nichts dergleichen.Jedermann, der so argumentiert, laßt sich von Emotionen leiten, nicht vonLogik. Gott hat es nicht notig, seine Handlungen vor dem Menschen zu recht-fertigen. Er, der das Universum baute, kann es auch wieder zerstoren, wenndas sein Wille ist. Es ist Anmaßung, ja es grenzt sogar gefahrlich nahe anBlasphemie, wenn wir sagen wollen, was er tun darf und was nicht.

Das hatte ich akzeptieren konnen, so schwer es auch ist, wenn man sieht,wie ganze Welten und Volker in den Feuerofen geworfen werden. Aber es gibt

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einen Punkt, an dem selbst der festeste Glaube ins Wanken geraten muß, undwenn ich jetzt meine Berechnungen ansehe weiß ich, daß ich diesen Punkterreicht habe.

Wir konnten, ehe wir den Nebel erreichten, nicht sagen, vor wie langerZeit die Explosion stattgefunden hat. Jetzt konnte ich aus den astronomi-schen Zeugnissen und den Aufzeichnungen im Gestein dieses einen, ubrigge-bliebenen Planeten den Zeitpunkt sehr genau feststellen. Ich weiß, in welchemJahr das Licht dieser gewaltigen Feuersbrunst die Erde erreichte. Ich weiß,wie strahlend die Supernova, deren Leichnam jetzt hinter unserem immerschneller werdenden Schiff zusammenschrumpft, einst am irdischen Himmelleuchtete! Ich weiß, wie sie vor Sonnenaufgang tief im Osten gelodert habenmuß wie ein Leuchtfeuer in jener orientalischen Dammerung.

Es kann keinen vernunftigen Zweifel mehr geben: das uralte Geheimnisist endlich gelost. Und doch – o Gott, es gab so viele Sterne, die du hattestbenutzen konnen.

Warum war es notig dieses Volk ins Feuer zu werfen, damit das Symbolseines Untergangs uber Bethlehem erstrahlen konnte?

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Uber den Autor:

1917 in Minehead/Somerset geboren, wuchs Arthur C. Clarke auf einemBauernhof auf. Im Krieg war er technischer Offizier der RAF und mitbeteiligtan der Entwicklung und Erprobung des Radar. Nach 1945 studierte er Physikund Mathematik am Kings’s College in London, bestand mit Auszeichnungund wurde stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Science Abstracts.1950 entschloß er sich, es als freiberuflicher Schriftsteller zu versuchen, ver-faßte Artikel fur Zeitschriften, Sachbucher und widmete sich der Unterwas-serfotografie und Unterwasserforschung, vor allem an der Sudwestkuste vonCeylon, wo er heute ein touristisches Tauchunternehmen betreibt und seinenWohnsitz hat.

Schon in den vierziger Jahren schrieb Clarke neben SF-Stories, die indem englischen Magazin Fantasy und ab 1946 in dem amerikanischen MagzinAstounding erschienen, darunter auch die Erzahlung The Sentinel, nach derStanley Kubrik seinen Film 2001 - A Space Odyssey drehte. Durch diesenFilm und den Roman, der wiederum nach dem Drehbuch enstand, wurdeArthur C. Clarke weltberuhmt.

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Quellennachweis:

Der gefiederte Freund:

• Originaltitel: Feathered Friend

• Entstehungsjahr: 1957

• Ubersetzung: H. Bingenheimer, Tony Westmayr

Die neun Milliarden Namen Gottes:

• Originaltitel: The Nine Billion Names of God

• Entstehungsjahr: 1953

• Ubersetzung: Yoma Cap

Der Stern:

• Originaltitel: The Star

• Entstehungsjahr: 1955

• Ubersetzung: Irene Holicki

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Build-Date: 30. Juni 2002 — Build-#: 34

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