Arthur Miller Brennpunkt - · PDF fileLange stand er da und starrte auf sein Spiegelbild; auf...

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The Spirit of America www.amerikanische-literatur.de Leseprobe: Arthur Miller Brennpunkt (Seiten 37 - 38) © 1987 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

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The Spirit of America www.amerikanische-literatur.de

Leseprobe:

Arthur Miller Brennpunkt

(Seiten 37 - 38)

© 1987 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

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Lange stand er da und starrte auf sein Spiegelbild; auf seine Stirn, sein Kinn, seine Nase. Es bedurfte vieler Augenblicke detaillierter Betrachtung der einzelnen Teile, ehe er sein Gesicht als Ganzes sehen konnte. Er hatte ein Gefühl, als erhöbe er sich vom Boden. Das verstärkte Klopfen seines Herzens bewirkte, daß sein Kopf in leichtem Rhythmus auf und ab nickte. Speichel sammelte sich in seiner Kehle, und er mußte husten. Im Spiegel seines Badezimmers, des Badezimmers, das er seit fast sieben Jahren benützte, sah er ein Gesicht, das nicht ohne Berechtigung für das Gesicht eines Juden gehalten werden mußte. Ein Jude stand in seinem Badezimmer. Die Gläser hatten genau die Wirkung, die er befürchtet hatte; doch dieser Anblick war schlimmer als die Furcht, denn er war Wirklichkeit. Es war um vieles ärger als vor drei Wochen beim Augenarzt, als er die leeren Rahmen anprobiert hatte. Die schienen ihn mehr zu dem Hindeburg-Typus zu machen, denn er hatte flache, senkrechte Wangen, einen eckigen Schädel, eine sehr blonde Hautfarbe und – was das Ausschlaggebende war – Andeutungen von Tränensäcken. Das wäre schon schlimm genug gewesen, aber nicht unmöglich, nicht wie dieses. Nun, da die Linsen seine Augäpfel vergrößerten, verloren die farblosen Tränensäcke an Bedeutung, und die Augen schienen förmlich herauszutreten. Die Brille zog seine flache Stirn herab und betonte seine Nase, so daß sie, die immer ein bißchen scharf gewesen war, sich nun wie ein Schnabel vorbog. Er nahm die Gläser herunter und setzte sie dann wieder auf, um die Verzerrung genau zu studieren. Er versuchte zu lächeln. Es war das Lächeln eines Menschen, der widerwillig vor einer Kamera posieren muß, es war nicht mehr sein Lächeln. Unter diesen Stielaugen wurde es zu einem Grinsen, und seine ungleichmäßigen Zähne schienen es in die schlaue, unaufrichtige Karikatur eines Lächelns zu verwandeln, in einen Ausdruck, dessen erheuchelte Heiterkeit durch die semitische Prominenz der Nase und die ostentativ-horchende Position der Ohren Lügen gestraft wurde. Das ganze Gesicht erschien nach vorn verlagert wie das Gesicht eines Fisches. Er nahm die Gläser herunter. Nun konnte er noch schlechter sehen als vorher – sekundenlang schossen seine Blicke unruhig umher. Dann verließ er mit weichen Knien das Badezimmer und ging den Korridor hinunter zu seinem Schrank, in den er seine Jacke hineinhängte. Danach begab er sich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dort saß seine Mutter mit der Zeitung Brooklyn Eagle auf ihrem Schoß, sie hatte die Stehlampe angedreht, was sie immer erst tat, nachdem ihr Sohn heimgekommen war. Sie betrachtete ihn, wie er in der Tür stand, und wartete auf die kurze Abendkonversation, die er täglich mit ihr führte. Er roch den Duft seines Abendessens, das auf dem Herd in der Wohnküche auf ihn wartete. Er wußte genau, wo jedes Möbelstück stand und wieviel es gekostet hatte, er wußte, wie lange es noch dauern würde, ehe sein Haus, sein Heim, und diese alte Frau, die im Rollstuhl beim abgestellten Radio saß, war seine Mutter. Und doch bewegte er sich so steif und unsicher, als wäre er hier fremd. Er setzte sich ihr gegenüber, und sie sprachen miteinander. "Hast du deine Jacke aufgehängt? War es heute sehr heiß in der Stadt? War ein großes Gedränge in der Bahn? Hattest du viel zu tun? Wie geht es Herrn Gargan?"

Nachdem er ihre Fragen beantwortet hatte, ging er hinaus, um nebenan sein Abendessen zu verzehren, daß das Mädchen bereitgestellt hatte. Ohne es zu schmecken, ohne es zu verdauen, aß er davon, wobei er die Hälfte der Speisen stehen ließ. Dann wusch er sein Gesicht bei der Wasserleitung und trocknete es mit einem Handtuch, welches er zu diesem Zweck hier aufhob. Sonderbarerweise konnte er an nichts anderes denken als an die Deutlichkeit, mit der er die Borsten seiner Zahnbürste wahrgenommen hatte. Er nahm das gestrige Abendblatt, das er noch nicht fertiggelesen hatte – er las die vortägige Zeitung immer wieder zu Ende, ehe er die neue begann –, und ließ sich wieder auf der Couch nieder. Dann setzte er die Gläser auf. Nach einer Weile rief die Mutter seinen Namen. Er blickte von der Zeitung auf und wandte ihr langsam sein Gesicht zu. Sie musterte es neugierig, wobei sie sich

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immer weiter vorbeugte. Er lächelte leichthin, als handelte es sich um einen neugekauften Anzug. "Mein Gott", sagte sie schließlich lachend, "du siehst beinahe aus wie ein Jude."