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JAN ASSMANN

Das kulturelle GedchtnisSchrift, Erinnerung und politische Identitt in f rhen Hochkulturen

VERLAG C.H.BECK MNCHEN

Inhalt

Vorwort .. Einleitung .

Ir

ERSTER TEIL THEORETISCHE GRUNDLAGEN

ERSTES KAPITEL' ErinnerungskulturVorbemerkungen. . . .. .

.

.

1.

Die soziale Konstruktion der Vergangenheit: Maurice Halbwachs ..........1. 2..

34 35 37 38 39 4 4245

Individuelles und kollektives Gedchtnis Erinnerungsfiguren .. . a) Raum- und Zeitbezug b) Gruppenbezug. . . ..

cl Rekonstruktivitt4. Zusammenfassung

.

3. Gedchtnis versus Historie

....

II. Formen kollektiver Erinnerung: Kommunikatives un d kulturelles Gedchtnis .1. 2.

"T he Floating Gap": zwei Modi Memorandi .. Ritus und Fest als primre Organisationsformen des . . . . . . . .. .. kulturellen Gedchtnisses .. .

56 59 60 60 64

3. Erinnerungslandschaften. Das "Mnemotop" Palstina 4. bergnge

......... .

.

.. . a) Totengedenken . b) Gedchtnis und Tradition ..

. .

.

.

III. Optionen kultureller Erinnerung: "Heie" und "kalte" Erinnerung1. 2.

66 66

Der Mythos vom "historischen Sinn" Die "kalte" und die "heie" Option . .

68 71

3. Die Allianz zwischen Herrschaft und Gedchtnis . 4. Die Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen

8

Inhalt 5. Dokumentation - Kontrolle oder Sinngebung der Geschichte?6. Absolute und relative Vergangenheit . . . .. . . .

Inhalt

9

TI Ethnogenese als Steigerung der Grundstrukturen . kollektiver Identitt ... .I. Integration und Zentralitt2.

7. Mythomororik der Erinnerung .......... . a) Fundierende und kontraprsentische Erinnerung b) Erinnerung als Widerstand .......... .

144 145 151

Distinktion und Egalitt .

ZWEITES KAPITEL . Schriftkultur . 1.Von ritueller zu textueller Kohrenz.Repetition und Interpretation.. . .. 2. W iederholen und Vergegenwrtigen . 3. Frhe Schriftkulturen: der Strom der Tradition . 4. Kanonisierung und Interpretation .5. Repetition und Variation ..... .r.

87 87 88 9 9I 93 97 13 13 107 IIO HO III

ZWEITER TEIL FALLSTUDIEN

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163 167 167 167 169 174 177 I77 I85 I90

11. Kanon - zur Klrung eines BegriffsI. Antike Bedeutungsgeschichte .. . .

VIERTES KAPITEL' gypten und die Erfindung des Staates1.

Grundzge der gyptischen SchriftkulturI. Mythomotorik der Integration . . . . . 2.. Der "monumentale Diskurs":

a) b) c) d)

Mastab, Richtschnur, Kriterium Vorbild, Modell Regel, Norm . . . . . . . . Tabelle, Liste........

Die Schrift der Macht und der Ewigkeit3 Kanon und Identitt

.

.

. . . .

2. Neuere Bedeutungsgeschichte .

a) Kanon und Code ..... b) Das heiligende Prinzip: Einheitsformel oder Eigengesetzlichkeit c) Der geheiligte Bestand: Kanon und Klassik3. Zusammenfassung ....... . H6 118 121 I 2.2

11. Der Sptzeittempel als "Kanon"I. Tempel und Buch . . . . . . . . 2.. Der Nomos des Tempels . . . . 3. PlatOn und der gyptische Tempel

al Die Zuspitzung der Invarianz: Von Genauigkeit zu Heiligkeit . b) Die Bndigung der Varianz: Bindung und Verbindlichkeit im Zeichen der Vernunft cl Die Zuspitzung der Grenze: Polarisierung . ... . .. d) Die Zuspitzung der Wertperspektive: Idenrittsstiftung

FNFTES KAPITEL' Israel und die Erfindung der Religion. LReligion als Widerstand.. . . . . . . . . . . . . . . . .1. Die Errichtung der "ehernen Mauer": Israels und gyptens

196 196

Weg in die orthopraktische Abgrenzung . . . . . . .

197 200 202 204 207

2. Der Exodus als Erinnerungsfigur . . . . . . . . . . . 3. Die "Jahwe-allein-Bewegung" als gedchmisprgende

DRITTES KAPITEL' Kulturelle Identitt und politischeImagination. . . . . . . .. . . . .. . .13

Erinnerungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Religion als W iderstand Die Entstehung der Religion aus der Opposition gegen die (eigene) Kultur ..

1.

Identitt, Bewutsein, Reflexivitt.1.

. . . . . . . .

5. Repristinarion von Tradition als persische Kulturpolitik

Personale und kollektive Identitt .

2. Grundstrukturen und Steigerungsformen . 3. Identitt, Kommunikation, Kultur ...

11. Religion als Erinnerung: Das Deuteronomium als

Paradigma kultureller Mnemotechnik. . . . . . .I. Der Schock des Vergessens Die Grndungslegende der .

2I2

a) Symbolisierungsformen der Identitt . b) Zirkulation ............. . c) Tradition: Zeremonielle Kommunikation und rituelle Kohrenz ..................... .

kulturellen Mnemotechnik des Vergessens. . ..

. . . . . . . . . . . . . . .

215 222

2. Die Gefhrdung der Erinnerung und die sozialen Bedingungen . .. ..

. ... .. ..

.

. . ... .

10

Inhalt

SECHSTES KAPITEL' Die Geburt der Geschichte aus dem Geistdes Rechts I..

. . . . . . . . . .

.

. . . . . . . . . . . . .

229 229

Semiotisierung im Zeichen von Strafe und Rettung. . . . . . . . . . I. iustitia connectiva . 2. Hethitische Geschichtsschreibung um 1300 v. Chr. 3. Semiotisierung der Geschichte im Zeichen der Rettung..

. .

.

. .

.

.

2. 32

Vorwort

.

236 244

II. Theologisierung der Geschichte im Zeichen einer Theologie des Willens. Vom "charismatischen Ereignis" zur "charismatischen Geschichte" .1.

Seit einigen Jahren erleben wir die Virulenz des Themas

Gedchtnis

und Erinnerung.248 248 251

Vor ungefhr

IO

Jahren hat es begonnen, von den

Kpfen in Ost und West Besitz zu ergreifen. Ich halte das nicht fr einen Zufall. Vielmehr glaube ich, da wir eine Epochenschwelle berschreiten, in der mindestens drei Faktoren die Konjunktur des Gedchtnisthemas begrnden. Zum einen erleben wir mit den neuen elektronischen Medien externer Speicherung (und damit: des knstli chen Gedchtnisses) eine kulturelle Revolution, die an Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks und vorher der der Schrift gleichkommt. Zum anderen, und damit zusammenhngend, verbreitet sich gegen259 259 259 264 272 272 277

. . . . . . . . . . . . . . .

Zeichen und Wunder: Charismatische Ereignisse als erste Stufe der Theologisierung der Geschichte. . . . . . . . . . . . . 2. Charismatische Geschichte als zweite Stufe der Theologisierung der Geschichte . . . .3. Zur Genealogie der Schuld . .. . . .

, . . . . "

. .

255

SIEBTES KAPITEL' Griechenland und die Disziplinierungdes Denkens I..

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. .

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. . . . . . . . . .

ber unserer eigenen kulturellen Tradition eine Haltung der "Nach Kultur" (George Steiner), in der etwas Zu-Ende-Gekommenes - "Alt europa '" nennt es Niklas Luhmann - allenfalls als Gegenstand der Erinnerung und kommentierender Aufarbeitung weiterlebt. Drittens, und hier liegt vielleicht das entscheidende Motiv, kommt gegenwrtig etwas zu Ende, was uns viel persnlicher und existentieller betrifft. Eine Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Ka tastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte beginnt nun auszusterben. 40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kol lektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem wer den. Auch wenn die Debatte um Geschichte und Gedchtnis, Memo ria und Mnemotechnik teilweise hchst abstrakte und gelehrte For men annimmt, scheint mir doch dies der existentielle Kern des Diskurses zu sein. Alles spricht dafr, da sich um den Begriff der Er innerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phnomene und Felder - Kunst und Li teratur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zu sammenhngen sehen lt. Mit anderen Worten: die Dinge sind im flu, und dieses Buch hat auf seine Weise an diesem Flu Anteil. Es

Griechenland und die Folgen der Schriftkultur1.

Das alphabetische Schriftsystem

.

,

. . .

2. Schriftsysrem und Schriftkulrur . . . . . .

H. Homer und die griechische EthnogeneseI.

Das Heroische Zeitalter als homerische Erinnerung.

2. Erinnerung an Homer: Klassik und Klassizismus

III. HypolepseL

Schriftkultur und Ideenevolution. . . . . . . . . . . . . . . . . 280 282

in Griechenland

Formen hypoleptischer Diskursorganisation . . Autoritt und Kritik Proze. ..

2. Der hypoleptische Proze als Institutionalisierung von .

.

.

.

. . .

.

. . . . .

.

.

286 289

3. Hat Denken Geschichte? Geistesgeschichte als hypoleptischer.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das kulturelle Gedchtnis. Versuch einer Zusammenfassung.

293

ANHANG

Literatur

....

35 327 335

kann nicht den Anspruch erheben, irgendwo angekommen zu sein, sondern seinen Sinn nur darin erblicken, Fingerzeige zu geben und Zusammenhnge aufzuzeigen.

Namenregister Sachregister .

I2

Vorwort

Vorwort

I]

Ausgangspunkt dieser Untersuchungen sind Studien, die der Ver fasser zusammen mit Aleida Assmann whrend eines gemeinsamen einjhrigen Aufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1-98485 durchgefhrt hat. Dieser Institution gebhrt daher sein besonderer Dank. Ohne die Gelegenheit zu Lektren, Gesprchen und Diskussio nen in den verschiedensten Richtungen, wie sie das Kolleg bietet, htte er die Grenzen seines Faches, der gyptologie, nie so weit zu berschreiten gewagt wie das in diesem Versuch geschieht. Dabei ge bhrt ein besonderer Dank Christian Meier, Peter Machinist und Mi chel Strickman, den Mitgliedern der engeren Gesprchsrunde, die sich der Frage nach einer komparativen Kulturwissenschaft gewidmet hatte. Die Frage nach dem ",kulturellen Gedchmis" ist hervorgegangen aus den Aktivitten des Arbeitskreises Archologie der literarischen Kommunikation, die in den Bnden Schrift und Gedchtnis (1983), Kanon und Zensur (1987) sowie Weisheit (199I) dokumentiert sind und auch in verschiedenen Heidelberger Kolloquien und Ringvorle sungen aufgegriffen und weitergefhrt wurden. Aus der Vorbereitung und Auswertung dieser Kolloquien, besonders aber des im Januar 1985 am Wissenschaftskolleg zu Berlin veranstalteten zweiten Kollo quiums ber Kanon und Zensur, ging dieses Buch hervor. Eine erste Fassung, zusammen mit Aleida Assmann als Einleitung zu dem Band projektiert, wurde, noch in Berlin, beim Stande von IS0 Seiten abge brochen , weil eine sinnvolle Behandlung des Themas im engen Rah men einer Einfhrung nicht mglich schien. Nach einigen weiteren Jahren vielfach unterbrochener Zusammenarbeit erschien es sinnvol ler, die zwar vom selben Interesse geleiteten, aber in zu verschiedene Richtungen fhrenden Forschungen getrennt auszuarbeiten. Aleida Assmann wird ihre Untersuchungen unter dem Titel Erinnerungsru me. Zur Konstruktion kultureller Zeit vorlegen. Sie beziehen sich auf Formen und Funktionen des kulturellen Gedchtnisses von der Anti ke bis in die (Post-)Moderne und stellen daher gewissermaen die Fonsetzung des hier vorgelegten Buches dar, das seine Schwerpunkte in den frhen Schriftkulturen des Nahen Ostens und der Mittelmeer welt hat. Ein Freisemester 1987/88 ermglichte die Ausarbeitung der Fall studien des Zweiten Teils; die Vorbereitung der Ringvorlesungen ber Kultur und Gedchtnis (19861I988), zusammen mit Tonio Hl scher, Kultur und Konflikt (I9881I990), sowie Revolution und My-

thos (1990), zusammen mit Dietrich Harth, und der Kolloquien Kul tur als Lebenswelt und Monument (I987/r991) sowie Mnemosyne (19891r99I), zusammen mit Aleida Assmann und Dietrich Harth, frderte die Ausarbeitung des ersten, theoretisch orientierten Teils. Allen Arbeitsgefhrten verdankt dieses Buch unendliche Anregungen und Belehrungen. Vortrge am SFB Freiburg Mndlichkeit und Schriftlichkeit, am Stuttgarter Zentrum fr Kulturtheorie, am Frei burger Graduiertenkolleg Vergangenheitsbezug antiker Gegenwar ten, am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut, zumeist zusammen mit A. Assmann, boten die willkommene Gelegenheit zur Diskussion zentraler Thesen. Aber schlielich war es das ermutigende Drngen E.-P. Wieckenbergs, das aus den tastenden Vorsten vielleicht

immer noch voreilig - ein Buch werden lieK

EinleitungViermal begegnet im Pentateuch die Aufforderung, die Kinder ber den Sinn von Riten und Gesetzen zu belehren: "Wenn dich dann knftig dein Sohn fragt: ,Was sollen denn die Verordnungen, die Satzungen und Zeugnisse, die euch der Herr, unser Gott, gegeben hat?', so sollst du zu deinem Sohne sagen: ,Wir waren Sklaven des Pharao in gypten. Da fhrte uns der Herr mit starker Hand heraus . . .' (Dt.6.20 ff.) Wenn eure Kinder euch dann fragen: ,Was bedeutet denn der heilige Brauch, den ihr da bt?', so sollt ihr sagen: , Das ist das Passaopfer fr den Herrn, weil er an den Husern Israels vOIberschritt in gypten, als er die gypter schlug ...' (Ex 12.26 f. ) Wenn dich dann knftig dein Sohn fragt: ,Was hat das zu bedeuten?' so sollst du ihm antworten: ,Mit starker Hand hat uns der Herr aus gypten, aus dem Sklavenhause, herausgefhrt .. .' (Ex 13.14 f. ) Und du sollst das deinem Sohn an jenem Tage erklren und sagen: ,(Es geschieht) um dessen willen, was der Herr fr mich getan hat, als ich aus gypten zog . . .''' (Ex 13.8) Was wir hier vor uns haben, ist ein kleines Drama um Personalpro nomina und Geschichtserinnerung. Bald sagt der Sohn "ihr", bald "uns" (unser Gott), bald antwortet der Vater mit "wir" , bald mit "ich. In der Liturgie des j dischen Sedermahls, das nichts anderes ist als eine groe Belehrung der Kinder ber den Auszug aus gypten, wird daraus der Midrasch der vier Kinder. Die vier Fragen (auch die nichtgestellte in Ex. 13.8) werden auf vier Kinder verteilt: das kluge, das bse, das einfltige Kind und das Kind, das noch nicht zu fragen versteht. Die Klugheit des klugen Kindes zeigt sich in der differenzier ten Begrifflichkeit ( "die Verordnungen, die Satzungen und Zeugnis se") und in der Ergnzung des "euch" durch "unser Gott". Ihm er zhlt der Vater die Geschichte mit einem " Wir" , das den Frager einbezieht. Die Bosheit des Bsen uert sich in dem exklusiven Ihr: "Wie fragt das bse Kind? ,Was soll euch dieser Dienst?' ,Euch',

16

Einleitung

Einleitung

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nicht auch ihm selbst! Nun, so wie er sich aus der Gesamtheit aus schliet, so mache auch du ihm die Zhne stumpf und ;lntworte ihm: ,Deswegen hat Gott es mir getan, als ich aus gypten zog': mir, nicht ihm." (Pessach-Haggadah) Drei T hemen unserer Untersuchung klingen in diesem kleinen Drama an: das Thema der Identitt im "Wir", "Ihr" und "Ich", das Thema der Erinnerung in der Geschichte vom Auszug aus gypten, die dieses "Wir" fundiert und konstituiert, und das T hema der Kon tinuierung und Reproduktion in der Konstellation von Vater und Sohn. In der Feier des Seder lernt das Kind "wir" sagen, indem es hin eingenommen wird in eine Geschichte und in eine Erinnerung, die dieses Wir formt und fllt.l Es handelt sich dabei um ein Problem und einen Proze, der jeder Kultur zugrunde liegt, aber nur selten in so klarer Form anschaulich wird. Die vorliegenden Studien handeln vom Zusammenhang der drei Themen "Erinnerung" (oder: Vergangenheitsbezug), "Identitt" (oder: politische Imagination) und "kulturelle Kontinuierung" (oder: Traditionsbildung). Jede Kultur bildet etwas aus, das man ihre kon

sens und Selbstbilds, das sich zum einen auf die Bindung an gemein same Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine ge meinsam bewohnte Vergangenheit sttzt. Das Grundprinzip jeder konnektiven Struktur ist die Wiederholung. Dadurch wird gewhrleistet, da sich die Handlungslinien nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Mustern ord nen und als Elemente einer gemeinsamen "Kultur" identifizierbar sind. Auch dieses Prinzip lt sich am Beispiel des Seder-Mahls deut lich machen. Das hebrische Wort "seder" heit "Ordnung" und be zieht sich auf die Vorschrift der Festfeier, die einer streng festgelegten Ordnung zu folgen hat. Die Stichworte "Vor"-Schrift und "folgen" verweisen bereits auf den Kern der Sache: die Zeit. Damit wird zum einen die interne zeitliche Ordnung der einzelnen Begehung festgelegt und zum anderen jede Begehung an die vorhergehende geknpft. Indem jede Begehung derselben "Ordnung" folgt, wiederholt sie sich wie ein Tapetenmuster in der Form eines "unendlichen Rapports". Dieses Prinzip wollen wir "rituelle Kohrenz" nennen. Nun wieder holt aber ein Seder-Abend nicht nur die Feier des Vorjahres, indem er derselben Vorschrift folgt, sondern er vergegenwrtigt auch ein viel

nektive Struktur nennen knnte. Sie wirkt verknpfend und verbindend, und zwar in zwei Dimensionen: der Sozialdimension und der Zeitdimension. Sie bindet den Menschen an den Mitmenschen da durch, da sie als "symbolische Sinnwelt" (BergerlLuckmann) einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum bildet, der durch seine bindende und verbindliche Kraft Vertrauen und Ori entierung stiftet. Dieser Aspekt der Kultur wird in den fruhen Texten unter dem Stichwort "Gerechtigkeit" verhandelt. Sie bindet aber auch das Gestern ans Heute, indem sie die prgenden Erfahrungen und Erinnerungen formt und gegenwrtig hlt, indem sie in einen fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschliet und dadurch Hoffnung und Erinnerung stif tet. Dieser Aspekt der Kultur liegt den mythischen und historischen Erzhlungen zugrunde. Beide Aspekte: der normative und der narra tive, der Aspekt der Weisung und der Aspekt der Erzhlung, fundie ren Zugehrigkeit oder Identitt, ermglichen dem Einzelnen, "wir" sagen zu knnen. Was einzelne Individuen zu einem solchen Wir zu sammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen WisI

weiter zuriickliegendes Geschehen: den Auszug aus gypten. "Wie derholung" und "Vergegenwrtigung" sind zwei grundstzlich ver schiedene Formen eines Bezugs. Der Begriff "Seder" bezieht sich nur auf den Aspekt der Wiederholung. Der Aspekt der Vergegenwrti gung kommt in dem Wort "Haggadah" zum Ausdruck, mit dem man das am Seder-Abend gelesene Bchlein bezeichnet. Es handelt sich um eine oft reich illustrierte Sammlung von Segenssprchen, Liedern, An ekdoten, Homilien, die alle um den Auszug aus gypten kreisen. Sie verstehen sich als eine Auslegung der biblischen berlieferung, die vor allem den Kindern die Bedeutung dieser Vorgnge erklren will. Die Haggadah ist auch eine Vorschrift; hier aber liegt der Akzent auf der "Schrift". Es ist die Auslegung eines Textes. Die vergegenwrtigte Erinnerung vollzieht sich in der Deutung der berlieferung. Alle Riten haben diesen Doppelaspekt der Wiederholung und der Vergegenwrtigung. Je strenger sie einer festgelegten Ordnung folgen, desto mehr berwiegt der Aspekt der Wiederholung. Je grere Frei heit sie der einzelnen Begehung einrumen, desto mehr steht der Aspekt der Vergegenwrtigung im Vordergrund. Mit diesen beiden Polen ist der Spielraum einer Dynamik umrissen, innerhalb dessen die

Zur Katechese als Form der Gesch ichtserinnerung und Identittsstifrung s.

de PuryfRmer 1989.

T8

Einleitung

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Schrift fr die konnektive Struktur von Kulturen bedeutsam wird. Im Zusammenhang mit dem Schriftlich werden von berlieferungen voll zieht sich ein allmhlicher bergang von der Dominanz der Wieder holung zur Dominanz der Vergegenwrtigung, von "ritueller" zu "textueller Kohrenz". Damit ist eine neue konnektive Struktur ent standen. Ihre Bindekrfte heien nicht Nachahmung und Bewahrung, sondern Auslegung und Erinnerung. An die Stelle der Liturgie tritt die Hermeneutik. Die in diesem Band vereinigten Studien versuchen diesen Kulturbegriff fr eine typologische Analyse fruchtbar zu machen. Was uns hier inter essiert, sind Wandlungen und Ausprgungen der konnektiven Struktur in ihrer Verschiedenheit und Vergleichbarkeit. Gefragt wird nach der Dynamik des kulturellen Prozesses, nach Steigerungen und Verfesti gungen, Lockerungen und Auflsungen der konnektiven Struktur. Mit dem Begriff "Kanon" soll ein Prinzip identifiziert werden, das die kon nektive Struktur einer Kultur in Richtung Zeitresistenz und Invarianz steigert.Kanon ist die "memoire volontaire" einer Gesellschaft, die ge schuldete E rinnerung, im Gegensatz zum freier flieenden "Traditi onsstrom " der flhen Hochkulturen, aber auch zur selbstregulativen, autopoietischen "memoria" postkanonischer Kultur, deren Inhalte ihren verpflichtenden Charakter und ihre bindende Kraft aufgegeben haben. Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren ber die Generationenfolge hinweg eine Identitt, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden; und sie tun das - dieser Punkt ist fr uns e nt scheidend auf ganz verschiedene Weise. Diese Studien gehen der Frage nach, wie sich Gesellschaften erinnern, und wie sich Gesellschaf ten imaginieren, indem sie sich erinnern. Obwohl die gegenwrtige Debatte um ,.,posthistoire" und Postmo derne genug Anhaltspunkte fr diese Fragestellung bte, beschrnken sich die folgenden Studien auf die Alte Welt . Das liegt zum einen an der eingeschrnkten Fachkompetenz des Verfassers, zum anderen an der Tatsache, da sie in e nger Arbeitsgemeinschaft mit Aleida Ass manns Untersuchungen zum kulturellen Gedchtnis der Neuzeit ent standen sind und sich im Hinblick auf ihr Buch Erinnerungsrume. Zur kulturellen Konstruktion von Zeit und Identitt (Habil.-Schr. 1991) auf die Ursprunge und Anfnge beschrnken knnen. Aber auch in dieser Beschrnkung berschreitet dieses Buch den Fachhori zont eines gyptologen in einer Weise, die mancher als unzulssig-

empfinden mag und die jedenfalls ein Wort der Erklrung erfordert. Denn die Thesen und Begriffe, die der erste Teil entfaltet, werden im zweiten Teil anhand von Fallstudien illustriert, in die Mesopotamien, die Hethiter, Israel und Griechenland ebenso wie das Alte gypten einbezogen werden. Zu meiner Entschuldigung mchte ich betonen, da es diesem Buch nicht um die Darlegung von Forschungsarbeiten im eigentlichen Sinne geht, die sich natrlich auf mein eigentliches Fachgebiet, die gyptologie, beschrnken, sondern um die Rekon struktion kultureller Zusammenhnge, nherhin um den Zusammen hang von (kollektiver) Erinnerung, Schriftkultur und Ethnogenese, also um einen Beitrag zur allgemeinen Kulturtheorie. Beitrge zur allgemeinen Kulturtheorie wurden und werden von Wissenschaftlern hchst unterschiedlicher Observanz geliefert. Hierzu gehren Johann Gottfried Herder und Kar! Marx, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Aby Warburg, Max Weber und Ernst Cassirer, Johan Huizinga und T. S. Eliot, Arnold Gehlen und A. L. Kroeber, Clifford Geertz, Jack Goody und Mary Douglas, Sig mund Freud und Rene Girard - die Reihe liee sich endlos fortset zen. Dichter und Literaten, Soziologen, konomen, Historiker, Phi losophen, Ethnologen . . . nur die Altertumswissenschaftier haben sich in dieser Debatte auffallend selten zu Wort gemeldet. Dabei drfte es ohne weiteres einleuchten, da sich gerade in der Erfor schung der flhen Hochkulturen besonders reiche Aufschlsse fr das Wesen und Funktionieren, die Entstehung, Vermittlung und Ver nderung von Kultur gewinnen lieen. Damit wollen diese Studien einen Anfang machen. Definitionen stehen gewhnlich am Anfang einer Untersuchung . Daher hat der Leser ein Recht auf Erluterung, was mit dem Begriff des "kulturellen Gedchtnisses" gemeint 1st, warum dieses Konzept legitim und sinnvoll ist, welche Phnomene mit seiner Hilfe angemes sener als sonst beschrieben werden knnen und worin er ber den eingebrgerten Begriff der Tradition hinausgeht. Der Begriff des kulturellen Gedchtnisses" bezieht sich auf eine der Auendimen sionen des menschlichen Gedchtnisses. Das Gedchtnis denkt man sich zunchst als ein reines Innenphnomen, lokalisiert im Gehirn des Individuums, ein Thema der Gehirnphysiologie, Neurologie und Psy chologie, aber nicht der historischen Kulturwissenschaften. Was die ses Gedchtnis aber inhaltlich aufnimmt, wie es diese Inhalte;ni siert, wie lange es was zu behalten vermag, ist weitestgehend eine.I I I

j

I

20

Einleitung

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21

Frage nicht innerer Kapazitt und Steuerung, sondern uerer, d. h. gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen. Darauf hat als erster Maurice Halbwachs mit Nachdruck hingewiesen, dessen Thesen sich das erste Kapitel widmet. Ich mchte vier Bereiche dieser Auen dimension des Gedchtnisses unterscheiden, von denen das "kulturelle Gedchtnis" nur eine ist:1.

bauen sich im Einzelnen nur kraft seiner Teilnahme an solchen Inter aktionen auf. Diesen Aspekt brauchen wir hier nicht weiter auszufh ren, denn wir gehen im Zusammenhang mit der Gedchtnistheorie von Maurice Halbwachs nher darauf ein.4. Die berlieferung des Sinns:

das kulturelle Gedchtnis. Das

kulturelle Gedchtnis bildet einen Raum, in den alle drei vorgenannten Bereiche mehr oder weniger bruchlos bergehen. Wenn mimetTsche Routinen den Status von "Riten" annehmen, d. h. zustzlich zu ihrer Zweckbedeutung noch eine Sinnbedeutung besiten, wird der Bereich des mimetischen Handlungsgedchtnisses berschritten. Riten geh ren in den Bereich des kulturellen Gedchtnisses, weil sie eine berlie ferungs- und Vergegenwrtigungsform des kulturellen Sinnes darstel len. Dasselbe gilt fr Dinge, wenn sie nicht nur auf einen Zweck, sondern auf einen Sinn verweisen: Symbole, Ikone, Reprsentationen wie etwa Denksteine, Grabmale, Tempel, Idole usw. berschreiten den Horizont des Dinggedchtnisses, weil sie den impliziten Zeit- und Identittsindex explizit machen. Diesen Aspekt des von ihm sogenann ten "Sozialen Gedchtnisses" hat Aby Warburg ins Zentrum seiner Forschungen gestellt. In welchem Umfang hnliches fr den dritten Be reich, Sprache und Kommunikation, gilt und welche Rolle die Schrift dabei spielt, ist das eigentliche Thema dieses Buches. Hierfr mchte ich etwas weiter zurckgreifen und auf die Geschich te der Fragestellung eingehen. Ende der siebziger Jahre hatte sich ein Kreis von Kulturwissenschaftlern - Alttestamentler, gyptologen, Assyriologen, Altphilologen, Literatur- und Sprachwissenschaftler zusammengefunden, der sich die Erforschung einer Archologie des Textes, nherhin: des literarischen Textes, zur Aufgabe gemacht hatte. Damals wurden diese Fragen auf einer sehr abstrakten und theoretischen Ebene verhandelt. Die Devise dieses Arbeitskreises lau tete: heraus aus den theoretischen Konzepten, und zwar in zwei Rich tungen: in die zeitliche Tiefe und in die kulturelle Ferne. Unter dem Titel Archologie der literarischen Kommunikation sind aus diesen Forschungen mehrere Bnde hervorgegangen. Bereits auf der aller ersten Tagung dieses Kreises zum Thema "Mndlichkeit und Schrift lichkeit" kamen die Phnomene und Fragestellungen in den Blick, die einen Begriff wie "kulturelles Gedchtnis" nahelegten. Dabei ging es um den Textbegriff. In diesem Zusammenhang definierte Konrad Ehlich Text als "wiederaufgenommene Mitteilung" im Rahmen ei-

Das mimetische Gedchtnis. Dieser Bereich bezieht sich auf

das Handeln. Handeln lernen wir durch Nachmachen. Die Verwen dung von schriftlichen Handlungsanleitungen wie Gebrauchsanwei sungen, Kochbchern, Bauanleitungen ist eine verhltnismig spte und nie vollstndig durchgreifende Entwicklung. Handeln lt sich nie vollstndig kodifizieren. Noch immer beruhen weite Bereiche des Alltagshandelns, von Brauch und Sitte auf mimetischen Traditionen. Den Aspekt des mimetischen Gedchtnisses hat brigens Rene Girard in zahlreichen Bchern zum Zentrum einer Kulturtheorie gemacht, die aus solcher Vereinseitigung einen Groteil ihrer Durchschlags kraft bezieht.22.

Das Gedchtnis der Dinge. Von den alltglichen und intimen

Gertschaften wie Bett und Stuhl, E- und Waschgeschirr, Kleidung und Werkzeug bis hin zu Husern, Drfern und Stdten, Straen, Fahrzeugen und Schiffen ist der Mensch seit alters von Dingen umge ben, in die er seine Vorstellungen von Zweckmigkeit, Bequemlich keit und Schnheit, und damit in gewisser Weise sich selbst investiert. Daher spiegeln die Dinge ihm ein Bild seiner selbst wider, erinnern ihn an sich, seine Vergangenheit, seine Vorfahren usw. Die Dingwelt, in der er lebt, hat einen Zeitindex, der mit der Gegenwart zugleich auch auf verschiedene Vergangenheitsschichten deutet.3 Sprache und Kommunikation: das kommunikative Gedcht nis. Auch die Sprache und die Fhigkeit, mit anderen zu kommunizie

ren, entwickelt der Mensch nicht von innen, aus sich heraus, sondern nur im Austausch mit anderen, im zirkulren oder rckgekoppelten Zusammenspiel von Innen und Auen. Bewutsein und Gedchtnis sind individualphysiologisch und -psychologisch nicht zu erklren und erfordern eine "systemische" Erklrung, die die Interaktion mit anderen Individuen einbezieht. Denn Bewutsein und Gedchtnis2.

La violence et le sacre, Paris 1972.; Des ehoses cachees depuis La fondation du

monde, Paris 1978, dt. Das Ende der Gewalt, Freiburg 1983; Le boue emissaire,Paris 1982..

Einleitung

Einleitung

23

ner "zerdehnten Situation". Die Urszene des Textes ist das Boteninsti tut.3 Aus dem Begriff der zerdehnten Situation entwickelte sich, was Aleida Assmann und ich spter im Anschlu an Jurij Lotman und an dere Kulturtheoretiker das "kulturelle Gedchtnis" bezeichnet haben.+ Worum es hier geht, lt sich am einfachsten in einer techni schen Terminologie beschreiben. Zerdehnung der Kommunikations situation erfordert Mglichkeiten externer Zwischenspeicherung. Das Kommunikationssystem mu einen Auenbereich entwickeln, in den Mitteilungen und Informationen kultureller Sinn - ausgelagert wer den knnen, sowie Formen der Auslagerung (Kodierung), Speicherung und Wiedereinschaltung ("retrieval").5 Das erfordert institutionelle Rahmen, Spezialistentum und im Normalfall auch Notationssysteme wie Knotenschnre, "churingas ", Zhlsteine - mit Diapositiven frh sumerischer "calculi" illustrierte Konrad Ehlich seinen Vortrag ber den Textbegriff - und schlielich Schrift. Die Schrift ist berall aus solchen Notationssystemen hervorgegangen, die im Funktionszusam menhang zerdehnter Kommunikation und notwendiger Zwischen speicherung entwickelt worden waren. Drei Felder oder Funktionsrah men symbolischer Reprsentation treten dabei als typisch hervor: Wirtschaft (hierher gehren die vorderasiatischen Zhlsteine), politi sche Macht (gypten) und identittssichernde Mythen (dafr mgen die australischen "churingas" und "songlines" stehen). Es sind typi sche Bereiche der Zirkulation kulturellen Sinns. Mit der Erfindung der Schrift ist die Mglichkeit einer umfassen den revolutionierenden Transformation dieses Auenbereichs von Kommunikation gegeben und in den meisten Fllen auch eingetreten. Im Stadium reiner Gedchtniskultur oder vorschriftlicher Notations systeme bleibt der Zwischenspeicher und Auenspeicher der Kom munikation eng auf das Kommunikationssystem bezogen. Das kultu relle Gedchtnis deckt sich weitestgehend mit dem, was innerhalb der34 5 Ehlich I983 A. u. J. Assmann 1988; J. Assmann 1988 a. Unter dem Stichwort der exteriorisation beschreibt Leroi-Gourhan I965 die

Gruppe an Sinn zirkuliert. Erst mit der Schrift im strengen Sinne ist ses Auenbereichs der Kommunikation gegeben. Erst jetzt bildet sich ein Gedchtnis aus, das mehr oder weniger weit ber den Horizont des in einer jeweiligen Epoche tradierten und kommunizierten Sinns hinausgeht und den Bereich der Kommunikation ebenso berschrei tet wie das individuelle Gedchtnis den des Bewutseins. Das kultu relle Gedchtnis speist Tradition und Kommunikation, aber es geht nicht darin auf. Nur so erklren sich Brche, Konflikte, Innovatio nen, Restaurationen, Revolutionen. Es sind Einbrche aus dem Jen seits des jeweils aktualisierten Sinns, Rckgriffe auf Vergessenes, Re pristinationen von Tradition, Wiederkehr des Verdrngten - die typische Dynamik der Schriftkulturen, die Claude Levi-Strauss dazu veranlate, sie als "heie Gesellschaften" einzustufen. Wie bei allen ungleich schrferer Form, eine Dialektik von Ausdehnung und Entuerung. Das Automobil ermglicht als Externalisierung des na trlichen Bewegungsapparats eine ungeahnte Ausdehnung des menschlichen Bewegungsradius, fhrt aber bei bermigem Ge brauch zugleich zu einer Verkmmerung seiner natrlichen Beweg lichkeit. hnliches gilt fr die Schrift: sie ermglicht als externalisier tes Gedchtnis eine ungea-hnt Ausdehnung zur Wiederaufnahme gespeicherter Mitteilungen und Informationen, fhrt aber gleichzeitig zu einer Verkmmerung der natrlichen Gedchtniskapazitt. Dieses schon von Platon aufgezeigte Problem beschftigt die Psychologen noch heute.6 Von den Mglichkeiten externer Speicherung ist aber nicht nur das Individuum, sondern vor allem die Gesellschaft und die sie konstituierende Kommunikation betroffen. Hier erffnet sich mit der Externalisierung des Sinns eine Dialektik ganz anderer Art. Den positiven neuen Formen der Retention und des Rckgriffs ber die Jahrtausende hinweg entsprechen die negativen Formen eines Verges sens durch Auslagerung und eines Verdrngens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung. Um diese Dynamik beschreiben und in Beziehung setzen zu knnen zu geschichtlichen Wandlungen in der Technologie der Aufzeich nungssysteme, der Soziologie der Trgergruppen, der Medien und Organisationsformen von Speicherung, Tradition und Zirkulation6

die Mglichkeit einer Verselbstridigung und Komplexwerdung die

komplexeren Werkzeugen ergibt sich auch bei der Schrift, und hier in

technologische Evolution externer Datenspeicher zur Retention von Kommunika tion von den primitiven Werkzeugen ber die Schrift, den Zettelkasten, die Loch karte bis zum Computer, und bezeichnet sie als ein nexternalisiertes Gedchtnis" (memoire exteriorisee: 1965,64), dessen Trger nicht das Individuum, noch (wie bei den T ieren) die Gattung, sondern das ethnische Kollektiv (Ia collectivite ethnique) ist.

F. H. PiekaralK. G. Ciesinger/K. P. Muthig 1987.

Einleitung

Einleitung

kulturellen Sinns, kurz: als Oberbegriff fr den mit den Stichwrtern "Traditionsbildung" , "Vergangenheitsbezug" und "politische Identi tt bzw. Imagination" umrissenen Funktionsrahmen brauGhen wir den Begriff des kulturellen Gedchtnisses. Dieses Gedchtnis ist kul turell, weil es nur institutionell, artefiziell realisiert werden kann, und es ist ein Gedchtnis, weil es in bezug auf gesellschaftliche Kommuni kation genauso funktioniert wie das individuelle Gedchtnis in bezug auf Bewutsein. Der Vorschlag von CanciklMohr I990, anstelle der "Metapher" des kollektiven Gedchtnisses den eingebrgerten Be griff der Tradition zu verwenden, luft auf eine hnliche Verkrzung der kulturellen Phnomenologie und Dynamik hinaus wie es die Re duzierung des individuellen Gedchtnisbegriffs auf den des Bewut seins bedeutete. Dabei wollen wir keinen Streit um Worte entfachen. W ie immer man dieses Auen der gesellschaftlichen Tradition und Kommunikation bezeichnen will: wichtig ist nur, da es als ein Ph nomen sui generis in den Blick tritt, als eine kulturelle Sphre, in der sich Tradition, Geschichtsbewutsein, "Mythomotorik" und Selbst definition verknpfen und die - dieser Punkt ist entscheidend - viel fltig bedingten geschichtlichen Wandlungen, unter anderem: me dientechnologisch bedingten Evolutionsprozessen, unterworfen ist. Im Grenzfall gewinnt dieser umfassende, ber den Bereich des je weils kommunizierten und tradierten Sinns weit hinausgreifende Raum der Erinnerung eine so feste Konsistenz, da er in W iderspruch treten kann zu der sozialen und politischen Wirklichkeit einer Gegen wart. Diesen Fall kennzeichnen wir mit den Begriffen der "kontrapr sentischen Erinnerung" (G. T heien) und der "anachronen Struktu ren" (M. Erdheim). Hier haben wir es mit gesteigerten, artefiziellen Formen der kulturellen Erinnerung, mit kultureller Mnemotechnik zur : Erzeugung und Aufrechterhaltung von Ungleichzeitigkeit zu tun. Auf solche Prozesse der Transformation und der Steigerung konzen trieren sich unsere Studien zum kulturellen Gedchtnis. Gefragt wird jeweils nach den entscheidenden Wandlungen der konnektiven Struk tur einer Gesellschaft. Dabei kommt es uns vor allem darauf an, zwei Anstze aufzugreifen und weiterzufhren, die solche Wandlungen in den Blick bekommen haben, aber in ihrer Erklrung unseres Erach tens zu kurz greifen. Der eine Ansatz, der auf das 18. Jahrhundert zu rckgeht, von A. Weber ins Zentrum einer umfassenden Kulturtheo rie gestellt, von K.Jaspers auf die griffige Formel der "Achsenzeit"

gebracht und von S. N. Eisenstadt in seinen soziologischen Konse quenzen ausgeleuchtet wurde, fhrt diese Wandlungen auf Innovatio nen rein geistesgeschichtlicher Art zUlck: Visionen einer transzen denten Fundierung von Lebensordnungen und Deutungen, die von groen Einzelnen wie Konfuzius, Laotse, Buddha und Zoroaster, Mose und den Propheten, Homer und den Tragikern, Sokrates, Py thagoras, Parmenides, Jesus und Mohammad vorgetragen, von neuen intellektuellen Eliten aufgenommen und in einer durchgreifenden Umgestaltung der Wirklichkeit zum Tragen gebracht wurden. Der andere Ansatz, wesentlich neueren Datums und in unseren Tagen vor allem durch den Grzisten Eric A. Havelock und den Anthropologen Jack Goody sowie eine wachsende Gruppe von Evolutions- (Niklas Luhmann) und Medientheoretikern (Marshall McLuhan) vertreten, sieht in diesen und anderen Transformationen vor allem die Auswir kungen medientechnologischer Vernderungen wie Schriftgebrauch und Buchdruck. Beide Anstze haben das Verdienst, unser Augen merk auf diese Wandlungen gerichtet und wichtige Zusammenhnge aufgedeckt zu haben. Beide leiden andererseits darunter, die vom je weils anderen Ansatz hervorgehobenen Zusammenhnge nicht ge bhrend zu bercksichtigen. Die mediengeschichtliche Deutung luft Gefahr, die Prozesse monokausal auf einen reinen Mediendeterminis mus zu verkrzen, whrend die geistesgeschichtliche Deutung fr die zweifellos zentrale Bedeutung der Schrift und ihrer wachsenden Ein beziehung in kulturelle Traditionen und gesellschaftliche institutio nen in erstaunlicher Weise blind geblieben ist. ber diese Aporien mchten unsere Studien zum kulturellen Ge dchmis hinauskommen, indem sie die Fragen der Schriftkultur ein stellen in den greren Horizont der "Konstruktion kultureller Zeit" (Aleida Assmann) einerseits und kollektiver Identittsbildung bzw. politischer Imagination andererseits. Was sich in diesem erweiterten Horizont als Wandlungen des kulturellen Gedchtnisses beschreiben lt, versuchen wir an vier Beispielen aufzuzeigen. Diese Auswahl ist weder systematisch noch reprsentativ. Es handelt sich vielmehr um den Anfang einer offenen Reihe, die sich durch beliebig viele andere Studien fortsetzen liee. Ich habe mich aber bemht, in der Konfigu ration von gypten, Israel und Griechenland, mit einem Seitenblick auf die Keilschriftkulturen, mglichst verschiedenartige und typische Transformationsprozesse des kulturellen Gedchtnisses in den Blick treten zu lassen.

ERSTER TEIL

T HE ORETIS C HE GRUNDLAGEN

ERSTES KAPITEL

ERINNERUNGSKULTUR

VorbemerkungenGedchtniskunst und Erinnerungskultur Der Begriff der "Gedchtniskunst", "ars memoriae" oder "memorati va", ist fest in der abendlndischen Tradition verankert. Als ihr Erfin der gilt der griechische Dichter Simonides, der im 6.Jahrhundert v. Chr. lebte. Die Rmer kodifizierten diese Kunst als eines von fnf Gebieten der Rhetorik und berlieferten sie dem Mittelalter und der Renaissance. Das Prinzip dieser Mnemotechnik besteht darin, "be stimmte Orte auszuwhlen und von den Dingen, die man im Bewut sein behalten will, geistige Bilder herzustellen und sie an die bewuten Orte zu heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen.4< (Cicero, De Oratore II 86, 351-354). Der Verfasser der Rhetorica ad Herennium aus dem 1. Jahrhundert n.Chr., des bedeutendsten antiken Textes zur Gedchtniskunst, hat zwischen "natrlichem" und "arte fiziellem Gedchtnis:' unterschieden. Die Gedchtniskunst ist die Grundlage des "artefiziellen" Gedchtnisses. Mit seiner Hilfe vermag der Einzelne, ein ungewhnliches Ma von W issen aufzunehmen und bereitzuhalten, z. B. fr die rhetorische Argumentation. Diese bis weit ins 17. Jahrhundert hinein mchtige Tradition hat die englische Kul turwissenschaftlerin Frances Yates in einem inzwischen klassisch ge wordenen Werk aufgearbeitet, auf dem wiederum zahlreiche neuere und neueste Arbeiten aufbauen. I Mit dieser Gedchtniskunst hat das, was wir unter dem Begriff der Erinnerungskultur zusammenfassen wollen, kaum etwas gemein. Die Gedchtniskunst ist auf den Einzel nen bezogen und gibt ihm Techniken an die Hand, sein Gedchtnisr

Blum, 1969; D. F. Ei ckelmann 1:718; A. Ass mannID. Harth I991, darin beson

ders Teil II "Kunst des Gedchtnisses - Gedchtnis der Kunst"; A. Haverkamp und R. Lachmann 199I.

3

Erinnermtgskultur

Vergangenheits bezug

3I

auszubilden. Es handelt sich um die Ausbildung einer individuellen Kapazitt. Bei der Erinnerungskultur dagegen handelt es sich um die gen. Hier gehr es um die Frage: "Was drfen wir nichI vergessen?" Zu jeder Gruppe gehrt, mehr oder weniger explizit, mehr oder weniger zentral, eine solche Frage. Dort, wo sie zentral ist und Identitt und Selbstverstndnis der Gruppe bestimmt, drfen wir von "Gedchtnis gemeinschaften" (P. Nora) sprechen. Erinnerungskultur hat es mit "Gedchtnis, das Gemeinschaft stiftet", zu i:ri. Im Unterschied zur Gedchtniskunst, die eine antike Erfindung - wenn auch keine exklu siv abendlndische Erscheinung - darstellt, ist die Erinnerungskultur ein universales Phnomen. Es lt sich schlechterdings keine soziale Gruppierung denken, in der sich nicht - in wie abgeschwchter Form auch immer - Formen von Erinnerungskultur nachweisen lieen. Daher lt sich ihre Geschichte auch nicht in der Weise schreiben, wie dies fr Frances Yates mit der Gedchtniskunst mglich war. Es lassen sich nur einige allgemeine Aspekte aufzeigen und dann an ziemlich willkrlich herausgegriffenen Beispielen illustrieren. Allerdings mch te man einem bestimmten Volk in der Geschichte der Erinnerungskul tur einen hnlichen Platz einrumen, trotz der Universalitt des Phno- . mens, wie den Griechen fr die Gedchtniskunst: den Israeliten. Bei ihnen hat sie eine neue Form gewonnen, die dann fr die abendlndi sche - und nicht nur fr diese - Geschichte mindestens so bestimmend wurde wie die antike Gedchtniskunst. Israel hat sich als Volk unter dem Imperativ "Bewahre und Gedenke!"2 konstituiert und kontinu iert. So ist es zu einem Volk in einem ganz neuen, emphatischen Sinne geworden, zum Prototyp der Nation. Max Weber, der im Gegensatz zum Geist seiner Epoche einen klaren Blick fr das "Geglaubte", heute wrden wir sagen: das Imaginre des Volks begriffs hatte, schrieb: "Hinter allen ,ethnischen' Gegenstzen steht ganz naturgem irgend wie der Gedanke des ,auserwhlten Volks'" (Weber 1947, 22r) und gab damit der Einsicht Ausdruck, da Israel aus dem Prinzip des ethni schen Gegensatzes eine Form entwickelt hatte, die als Modell oder "Idealtyp" gelten kann. Jedes Volk, das sich als solches und im Gegen satz zu anderen V lkern sieht, imaginiert sich "irgendwie" als auser whlt. Dieser in der Bltezeit des Nationalismus niedergeschriebene2

Gedanke wird in seiner Tragweite erst heute so recht sichtbar. Aus dem Prinzip der Auserwhltheit folgt das der Erinnerung. Denn Auser whltheit bedeutet nichts anderes als einen Komplex von Verpflich tungen hchster Verbindlichkeit, die auf keinen Fall in Vergessenheit geraten drfen. Daher entwickelt Israel eine gesteigerte Form der Erin nerungskultur, die man geradezu als "artefiziell" im Sinne der Rheto

Einhaltung einer sozialen Verpflichtung. Sie ist auf die Gruppe bezo

rica ad Herennium auffassen kann. Vergangenheitsbezug.k!lltpr. Vielleicht darf man noch einen Schritt weitergehen: wie die Ge dchtniskunst zum Lernen, so grt die Erinnerungskultur zum PlaWas der Raum fr die Gedchtniskunst, ist die Zeit fr die Erinnerungs

nen und Hoffen, d. h. zur Ausbildung sozialer Sinn- und Zeithorizonte . . Erinnerungskultur beruht weitgehend, wenn auch keineswegs aus schlielich, auf Formen des Bezugs auf die Vergangenheit. Die_Vergan genheit nun, das ist unsere T hese, entsteht berhaupt erst dadurch, da man sich auf sie bezieht. Ein solcher Sarz mu zunchst befremden. Nichts erscheint natrlicher als das Entstehen von Vergangenheit: sie entsteht dadurch, da Zeit vergeht. So kommt es, da das Heute morgen "der Vergangenheit angehrt". Es ist zum Gestern geworden. Zu die

i

Vergangenheit anheimfallen lassen, die in diesem Fall Verschwinden und Vergessen bedeutet, sie knnen aber auch alle Anstrengungen dar

schiedene Weise verhalten. Sie knnen, wie es Cicero von den "Barba ren" behauptete, "in den Tag hinein leben" und das Heute getrost der

sem natrlichen Vorgang knnen sich aber Gesellschaften auf ganz ver

II 4.169) und wie der gyptische Herrscher "sich das Morgen vor Augen stellen" und sich " die Belange der Ewigkeit ins Herz setzen". Wer

auf richten, das Heute auf Dauer zu stellen, etwa dadurch, da sie, wie Ciceros Rmer, "alle Plne auf die Ewigkeit ausrichten" (De Oratore

fesrzuhalten suchen.ln..di!xEriImerungwird Vergangenheit rekonstru iert. In diesem Sinne ist die These gemeint, da Vergangenheit dadurch entsteht, da man sich auf sie bezieht. Mit diesen beiden Begriffen, Erin

in dieser Weise schon im "Heute" auf das "Morgen" blickt, mu das "Gestern" vor dem Verschwinden bewahren und es durch Erinnerung

dieser Studie eingrenzen und von dem absetzen, was demgegenber dem Komplex der " Gedchtniskunst" zugeordnet werden kann. Damit man sich auf die Vergangenheit beziehen kann, mu sie als solche ins Bewutsein treten. Das setzt zweierlei voraus:

nerung skultur und Vergangenheitsbezug, wollen wir das Programm

"shamor ve zakhor be-dibur echad", "Gedenke und Bewahre, in einem einzi

gen Ge bot", heit es in dem Sabbatlied Lekha Dodi.

Erin nerungskultur

Verga ngenheits bezug"

33

a) sie darf nicht vllig verschwunden sein, es mu Zeugnisse geben; b) diese Zeugnisse mssen eine charakteristische Differenz zum "Heute" aufweisen. Die erste Bedingung versteht sich von selbst. Die zweite kann man sich am besten am Phnomen des Sprachwanclels klarmachen. Wan del gehrt zu den natrlichen Bedingungen des Sprachlebens. Es gibt keine natrlichen, lebenden Sprachen, die sich nicht wandelten. Die ser Wandel ist "schleichend", cl. h. er wird den Sprechern normaler weise nicht bewut, weil er sich in zu langsamen Rhythmen vollzieht. Er tritt erst dann ins Bewutsein, wenn ltere Sprachstadien unter be stimmten Bedingungen erhalten bleiben, d. h. als Sondersprachen, etwa im Kult, oder als Sprachen bestimmter Texte, die in der berlie ferung von Generation zu Generation wortlautgetreu weitergegeben werden, z. B. heilige Texte, und wenn die Differenz des solchermaen bewahrten Sprachstadiums zur gesprochenen Sprache hinreichend gro geworden ist, um es als eigene Sprache und nicht lediglich als eine Variante des vertrauten Idioms ins Bewutsein treten zu lassen. Solche Dissoziation ist gelegentlich schon in der mndlichen berlie ferung nachweisbar. Typischerweise tritt sie aber erst in Schriftkultu ren auf: wenn die Sprache der heiligen und/oder klassischen Texte im Schulunterricht eigens erlernt werden mu) Die Differenz zwischen dem Alten und dem Neuen kann aber auch durch viele andere Faktoren und auf ganz anderen Ebenen als der sprachlichen ins Bewutsein treten. Jeder tiefere Kontinuitts- und Tra ditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit fhren, dann nmlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird. Neu anfnge, Renaissancen, Restaurationen treten immer in der Form eines Rckgriffs auf die Vergangenheit auf. In dem Mae, wie sie Zukunft er schlieen, produzieren, rekonstruieren, entdecken sie Vergangenheit. Man knnte das bereits am Beispiel der frhesten "Renaissance" aufzei gen, die die Menschheitsgeschichte kennt: der "neosumerischen" pro grammatischen Wiederankn pfung an die Ur III-Zeit nach dem akkadi schen Zwischenspiel der Sargonidenknige. Dem gyptologen freilich liegt der nur etwas sptere Fall des Mittleren Reichs nher, der auch des halb bedeutsam ist, weil er sich selbst als "Renaissance" versteht. Der programmatische Name, den sich der Grnder der I 2. Dynastie, Amen3Diesen Fall habe ich fr gypten dargestellt in: Verf. I 98 5 .

emhet 1., im Sinne eines Regierungsprogramms gibt, whm mswt Wie derholer der Geburten ", bedeutet nichts anderes als "Renaissance" .4 Die Knige der 12. Dynastie greifen Formen der 5. und 6. Dynastie wie der auf,5 stiften Kulte kniglicher Vorgnger;6 kodifizieren die literari schen berlieferungen der Vergangenheit,? nehmen sich in der Person des Snofru einen Knig der frhen 4. Dynastie zum VorbildS und schaf fen dadurch das " Alte Reich" im Sinne einer Vergangenheit, deren Ge dchtnis Gemeinschaft, Legitimitt, Autoritt und Vertrauen stiftet. Dieselben Knige legen in ihren Bauinschriften jenes Ewigkeitspathos an den Tag, von dem schon die Rede war. Die ursprnglichste Form, gewissermaen die Ur-Erfahrung jenes Bruchs zwischen Gestern und Heute, in der sich die Entscheidung zwi schen Verschwinden und Bewahren stellt, ist der Tod. Erst mit seinem . Ende, mit seiner radikalen Unfortsetzbarkeit, gewinnt das Leben die Form der Vergangenheit, auf der eine Erinnerungskultur aufbauen kann. Man knnte hier geradezu von der "Urszene" der Erinnerungs kultur sprechen. Der Unterschied zwischen dem natrlichen oder auch technisch ausgebildeten bzw. implementierten Sich-Erinnern des Ein zelnen, der von seinem Alter her einen Rckblick auf sein Leben wirft, und dem Andenken, das sich nach seinem Tode von seiten der Nachwelt a n dieses Leben knpft, macht das spezifisch kulturelleElement der kol lektiven Erinnerung deutlich.Wir sagen, da der Tote in derErinnerung der Nachwelt " weiterlebt" , so als handele es sich um eine fast natrliche Fortexistenz aus eigener Kraft. In Wirklichkeit handelt es sich aber um einen Akt der Belebung, den der Tote dem entschlossenen Willen der Gruppe verdankt, ihn nicht dem Verschwinden preiszugeben, sondern kraft der Erinnerung als Mitglied der Gemeinschaft festzuhalten und in die fortschreitende Gegenwart mitzunehmen. Die sprechendste Veranschaulichung dieser Form von Erinne rungskultur ist der rmisch-patrizische Brauch, die Ahnen in Gestalt von Portrts und Masken (lat. "persona": der Tote als "Person") in4In seiner noch ungedruckten Heidelberger Habilitationsschrift Studien zum Heiligtum des Heqaib. Das Mittlere Reich in Elephantine begrndet Derlei Fran

5 Der "Archaismus" der Il.. Dynastie ist besonders durch die Grabungen Dieter Arnolds auf dem Residenzfriedhof in Lischt zutage getreten.6

ke ausfhrlich und zwingend diese Deutung des Horusnamens Amenemhets 1.

78

Verf. I990, :/.. Kap. E. Graefe I990.

Redford I986, 1 5 I H.

34

Erinnerungskultur

Maurice Halbwachs

35

Familienprozessionen mitzufhren.9 Besonders eigenartig erscheint in diesem Zusammenhang der gyptische Brauch, diese Erinnerungskul tur, die nur die Nachwelt einem Verstorbenen in bewuter berbrk kung des durch den Tod bewirkten Bruchs angedeihen lassen kann, schon zu Lebzeiten selbst zu stiften . Der gyptische Beamte legt sich sein Grab selbst an und lt sich seine eigene Biographie darin auf zeichnen, und zwar nicht im Sinne von "Memoiren", sondern im Sinne eines vorweggenommenen Nekrologs. ' Der Fall des Toten gedenkens als der ursprnglichsten und verbreitetsten Form von Er innerungskultur macht zugleich deutlich, da wir es hier mit Ph nomenen zu tun haben, die mit dem herkmmlichen Begriff der "Tradition" nicht angemessen erfabar sind. Ilenn der Begriff Tradi tion vers..:hleiert den Bruch, der zum Entstehen von Vergangenheit fhrt, und rckt dafr den Aspekt der Kontinuitt, das Fortschreiben und Fortsetzen, in den Vordergrund. Gewi lt sich manches von dem, was hier mit den Begriffen Erinnerungskultur oder kulturelles Gedchtnis beschrieben wird, auch Tradition oder berlieferung nennen . Aber dieser Begriff verkrzt das Phnomen um den Aspekt der Rezeption, des Rckgriffs ber den Bruch hinweg, ebenso wie um dessen negative Seite: Vergessen und Verdrngen. Daher brauchen wir ein Konzept, das beide Aspekte umgreift. Tote bzw. das Anden ken an sie werden nicht " tradiert ". Da man sich an sie erinnert, ist Sache affektiver Bindung, kultureller Formung und bewuten, den Bruch berwindenden Vergangenheitsbezugs. Dieselben Elemente prgen das , was wir das kulturelle Gedchtnis nennen und heben es ber das Geschft der berlieferung hinaus.

( 1 9 2 5 , i m folgenden 1 9 8 5 a ) ; " La topographie tegendaire des evangiles en terre sainte. E'.tude de memoire collective (im folgenden 194 1 )

und La memoire collective ( r 9 50, nachgelassenes Werk, dessen Ab fassung weitgehend in die 3 0er Jahre zurckgeht; im folgenden: 1 9 8 5 b ) . I2 Halbwachs war auf dem Lycee Henri N Schler von Bergson, in dessen Philosophie das Thema Gedchtnis einen zentra len Platz einnimmt (H . Bergson 1 896), und studierte bei Durkheim, dessen Begriff des Kollektivbewutseins ihm die Grundlagen fr sein Bemhen lieferte, den Bergsonschen Subjektivismus zu berwinden und das Gedchtnis als ein soziales Phnomen zu interpretieren. Halbwachs lehrte Soziologie zunchst in Straburg, dann an der Sor bonne. 19 44, gleichzeitig mit seiner Berufung an das College de Fran ce, wurde er von den Deutschen deportiert und am r 6. 3 . 1 9 4 5 im Konzentrationslager Buchenwald umgebracht. 13

I.

Individuelles und kollektives Gedchtnis

Die zentrale These, die Halbwachs in all seinen Werken durchgehalten hat, ist die von der sozialen Bedingtheit des Gedchtnisses. Er sieht vollkommen ab von der krperlichen, d. h. neuronalen und hirnphy siologischen Basis des Gedchtnissesl4 und stellt statt dessen die sozia len Bezugsrahmen heraus, ohne die kein individuelles Gedchtnis sich konstituieren und erhalten knnte. " Es_gibt kein mgliches Gedcht ni,s auerhalb derjenigen Bezugsrahmen , deren sich die in der Gesell schaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden." ( 1 9 8 5 a, 1 2 1 ) Ein in vlliger Einsamkeit auf wachsendes Individuum - so seine allerdings nirgends in solcher Deut lichkeit formulierte These - htte kein Gedchtnis. Gedchtnis wchst J dem Menschen erst im Proze seiner Sozialisation zu. s ist zwar ,I I Die bersetzung von Lutz Geldsetzer erschien erstmals als &I_ 34 der Sozio logischen Texte ( hg. v. H. Maus und Fr. Frstenberg, BerlinlNeuwied 1 966). Hier zu gibt es eine ausfhrliche Besprechung von R. Heinz 1969 ( Hinweis Georg Stt zell. Fr eine ausfhrliche Wrdigung der Halbwachsschen Gedchmistheorie s. G. Namer 1 987. 12. Fr eine Bibliographie der Schriften von Maurice Halbwachs s. W. Bemsdorf (Hrsg.), Internationales Soziologen-Lexikon, Stuttgart 1 9 5 9 , 204. r 3 Zur Biographie von M. Halbwachs vgl. V. Karady 1 972. I4 Und damit von dem Bergsonschen Geist-Krper-Dualismus, s. H. Bergson r896.

L Die soziale Konstruktion der Vergangenheit:Maurice HalbwachsIn den 20er Jahren entwickelte der franzsische Soziologe Maurice Halbwachs seinen Begriff der "memoire collective", den er vor allem in drei Bchern entfaltet hat: Les cadres sociaux de La memoire9 Ein auffallend entsprechender Brauch entwickelte sich nach dem Alten Reich auch in gypten, s. H. Kees 1 9 :!o6, :!o 5 3 H. An den groen Prozessionsfesten zogen hlzerne Statuen bedeutender Vorfahren mit. ro S. hierzu Verf. I 9 8 } ; 1 9 87 .

Eril1llerul1gskultur

Mau1"ice Halbwachs

37

immer nur der Einzelne, der Gedchtnis "hat", aber dieses Gedchrnis ist kollektiv geprgt. Daher ist die Rede vom "kollektiven Gedchtnis" nicht metaphorisch zu verstehen. Zwar "haben" Kollektive -kein Ge dchtnis, aber sie bestimmen das Gedchtnis ihrer Glieder. Erinnerun gen auch persnlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, was uns andere erzhlen und was uns von anderen als bedeutsam besttigt und zurckgespiegelt wird. Vor allem erleben wir bereits im Hinblick auf andere, im Kontext sozial vorgegebener Rahmen der Bedeutsamkeit. Denn "es gibt keine Erinnerung ohne Wahrnehmung" ( 19 85 a, 3 64). Der Begriff der "sozialen Rahmen" ( "cadres sociaux" ) , den Halb wachs eingefhrt hat, beruhrt sich in erstaunlicher Weise mit der von E. Goffman entwickelten Theorie der " Rahmenanalyse" , die die sozi al vorgeprgte Struktur bzw. " Organisation " v.on Alltagserfahrungen untersucht ( Goffman 1977). Was Halbwachs ( I 9 85 a) unternimmt, ist eine "Rahmenanalyse" des Erinnerns - in Analogie zu Goffmans Rahmenanalyse der Erfahrung - und das unter Verwendung dersel ben Terminologie, denn die "cadres ", die nach Halbwachs die Erin nerung konstituieren und stabilisieren, entsprechen den ,,,frames", die bei Goffman die Alltagserfahrungen organisieren. Halbwachs ging so weit, das Kollektiv als Subjekt von Gedchtnis und Erinnerung einzu setzen und prgte Begriffe wie " Gruppengedchtnis" und " Gedcht nis der Nation", in denen der Gedchrnisbegriff ins Metaphorische umschlgt. 1 5 So weit brauchen wir ihm nicht zu folgen; Subjekt von Gedchtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhngigkeit von den "Rahmen", die seine Erinnerung organisie ren. Der Vorteil dieser Theorie liegt darin, da sie zugleich mit der Er innerung auch das Vergessen zu erklren vermag. Wenn ein Mensch -

bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme a n kommunikativen Prozes sen auf. Es ist eine Funktion ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige so ziale Gruppen, von der Familie bis zur Religions- und Nationsgemein schaft. Das Gedchtnis lebt und erhlt sich in der Kommunikation; bricht diese a b, bzw. verschwinden oder ndern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist Vergessen die Folge. 17 Man erin nert nur, was man kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des Kollektivgedchtnisses lokalisieren kann ( 1 9 85 a, Kap. 4: "Die Lokali sierung der Erinnerungen" ) . Vom Individuum aus gesehen stellt sich das Gedchtnis als ein Agglomerat dar, das sich aus seiner Teilhabe an einer Mannigfaltigkeit von Gruppengedchtnissen ergibt; von der Gruppe aus gesehen stellt es sich als eine Frage der Distribution dar, als ein Wis sen, das sie in ihrem Innern, d. h. unter ihren Mitgliedern verteilt. Die Er innerungen bilden jeweils ein " una bhngiges System" , dessen Elemente sich gegenseitig sttzen und bestimmen, sowohl im Individuum als auch im Rahmen der Gruppe. Daher ist es fr Halbwachs wichtig, individu elles und kollektives Gedchtnis zu unterscheiden, auch wenn das indi viduelle Gedchtnis immer schon ein soziales Phnomen ist. Individuell ist es im Sinne einer j e einzigartigen Verbindung von Kollektivgedcht nissen als Ort der verschiedenen gruppenbezogenen Kollektivgedcht nisse und ihrer je spezifischen Verbindung ( I9 85 b, 5. 1 27). Individuell im strengen Sinne sind nur die Empfindungen, nicht die Erinnerungen. Denn "die Empfindungen sind eng an unseren Krper geknpft" , wh rend die Erinnerungen notwendig " ihren Ursprung im Denken der ver schiedenen Gruppen ha ben, denen wir uns anschlieen".

2.

Erinnerungsfiguren

und eine Gesellschaft - nur das zu erinnern imstande ist, was als

So a bstrakt es beim Denken zugehen mag, so konkret verfhrt die Erinnerung. Ideen mssen versinnlicht werden, bevor sie als Gegen stnde ins Gedchtnis Einla finden knnen. Dabei kommt es zu

Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegen wart rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keine Bezugsrahmen mehr hat.16 Mit anderen Worten: lias individuelle Gedchtnis baut sich in einer

1 5 Gegen diesen Wortgebrauch hat sich ( bei im brigen hnlichen Anstzen) F. C. Bardett ( 1 93 2) energisch gewandt. r6 Einen Fall von Vergessen durch Rahmenwechsel werden wir im 5 . Kapitel be sprechen.

17 "Das Vergessen erklrt sich aus dem Verschwinden dieser Rahmen oder eines Teiles derselben, entweder weil unsere Aufmerksamkeit nicht in der Lage war, sich auf sie zu fixieren, oder weil sie anderswohin gerichtet war . . . Das Vergessen oder die Deformierung bestimmter Erinnerungen erklrt sich aber auch aus der Tatsache, da diese Rahmen von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln" ( I 9 8 5 a, 368). Nicht nur Erinnern, sondern auch Vergessen ist daher ein soziales Phnomen.

Erinnerungskultur

Maurice Halbwachs

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einer unauflslichen Verschmelzung von Begriff und Bild. "Eine Wahrheit mu sich, um sich in der Erinnerung der Gruppe festsetzen zu knnen, in der konkreten Form eines Ereignisses, einer Person, eines Ortes darstellen" ( I 9 4 I , I 57). Umgekehrt mu sich aber auch ein Ereignis, um im Gruppengedchtnis weiterzuleben, mit der Sinn flle einer bedeutsamen Wahrheit anreichern. "Jede Persnlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in die ses Gedchtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert; es erhlt einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft" ( I 9 8 5 a, 3 89 f.). Au. diesem Zusammenspiel von Be griffen und Erfahrungen IS entstehen, was wir Erinnerungsfiguren nennen wollen. 19 Ihre .Besonderheit lt sich an dIei Merkmalen nher bestimmen, dem konkreten Bezug auf Zeit und Raum, dem konkreten Bezug auf eine Gruppe und der Rekonstruktivitt als ei genstndigem Verfahren.a) Raum- und Zeitbezug

tia als "Heimat" festhlt. Zum Raum gehrt auch die das Ich umge bende, ihm zugehrige Dingwelt, sein "entourage materiel", das ihm als Sttze und Trger seines Selbst angehrt. Auch diese Dingwelt Gerte, Mbel, Rume, ihre spezifische Anordnung, die "uns ein Bild von Permanenz und Stabilitt bieten" ( I9 8 5 b, I 3 0)2.0 ist sozial ge . prgt: ihr Wert, ihr Preis, ihre status-symbolische Bedeutung sind so ziale Fakten (Appadurai I986). Diese Tendenz zur Lokalisierung gilt fr jegliche Art von Gemeinschaften. ]ede 9ruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schaupltze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identitt und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedchtnis braucht Orte, tendiert zur Verrumlichung. 2.I Halbwachs hat diesen Punkt am Beispiel der "Legendentopographie des Heiligen Landes" illustriert, ein Werk, auf das wir in anderem Zusammenhang noch nher eingehen werden. Gruppe und Raum gehen eine symboli sche Wesensgemeinschaft ein, a n der die Gruppe auch festhlt, wenn sie von ihrem Raum getrennt ist, indem sie die heiligen Sttten sym bolisch reproduziert.-

Erinnerungsfiguren wollen durch einen bestimmten Raum substanti iert und in einer bestimmten Zeit aktualisiert sein, sind also immer raum- und zeit-konkret, wenn auch nicht immer in einem geographi schen oder historischen Sinn. Die Angewiesenheit des Kollektivge dchtnisses auf konkrete O rientierung schafft Kristallisationspunkte. Zeithaltig sind die Erinnerungsgehalte sowohl durch das Anklam mern an urzeitliche oder hervorragende Ereignisse als auch durch den periodischen Rhythmus des Erinnerungsbezugs. Der Festkalender etwa spiegelt eine kollektiv erlebte Zeit, ob es sich nun, je nach Grup penzugehrigkeit, um das brgerliche und kirchliche, das buerliche oder militrische Jahr handelt. Eine entsprechende Verankerung der Erinnerung gilt fr den belebten Raum. Was das Haus fr die Familie ist, sind Dorf und Tal fr die buerliche, Stdte fr brgerliche, die Landschaft fr landsmannschaftliehe Gemeinschaften: rumliche Er innerungsrahmen, die die Erinnerung auch noch und gerade in ab senDas Paar erinnert natrlich an "Begriff" und "Anschauung" bei Kam. 19 Halbwachs selbst spricht in diesem Zusammenhang von " Erinnerungsbil dem", s. bes. 1 9 8 5 a, 2.5 H.; unter " Erinnerungsfiguren" verstehen wir demgegen ber kulturell geformte, gesellschaftlich verbindliche "Erinnerungsbilder" und ziehen den Begriff der "Figur" dem des "Bildes" deshalb vor, weil er sich nicht nur auf ikonische, sondern z. B. auch auf narrative Formung bezieht.I8

b) Gruppenbezug

Das Kollektivgedchtnis haftet an seinen Trgem und ist nicht beliebig bertragbar. Wer an ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugeh rigkeit. Es ist deshalb nicht nur raum- und zeit-, sondern auch, wie wir sagen wrden: identittskonkret. Das bedeutet, da es ausschlielich auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen ist. Die Raum- und Zeitbegriffe des kollektiven Gedchtnisses stehen mit den Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe in einem Lebenszusammenhang, der affektiv und wertbesetzt ist. Sie erscheinen darin als Heimat und Lebensgeschichte, voller Sinn und Bedeutung fr das Selbstbild und die Ziele der Gruppe . Erinnerungsfiguren "sind2.0 Nach Auguste Comte; vgl. auch den von A. Gehlen eingefhrten Begriff des "Auenhalts", in: Urmensch und Sptkultur ( 19 5 6), 2.5 f. und fter. 2.1 Vgl. schon Cicero: "tama vis admonitionis inest in locis, ur non sine causa ex iis memoriae ducta sit disciplina". (de finibus 5,1-2.: "Eine so groe Kraft der Er innerung ist in den Orten, da nicht ohne Grund von ihnen die Mnemotechnik abgeleitet ist" nach CanciklMohr 1 990, 3 12..). Diese Anstze fhrt P. Nora in sei nem groangelegten Werk Les lieux de 10 memoire (I984); (1986); (in Vorb.) wei ter.

Erinnerungskultur

Maurice Halbwachs

gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstcke. In ihnen drckt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie eproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und ihre Schwchen" ( 1 9 8 5 a, 209 f. ). Den Zusam menhang von Kollektivgedchtnis, Selbstbild einer Gruppe und sozia ler Funktion illustriert Halbwachs an der Hierarchie des mittelalter siert einen Anspruch auf Rechte und Privilegien. In diesem Falle ist der Rang einer Familie in hohem Mae "von dem bestimmt, was sie selbst und die anderen Familien von ihrer Vergangenheit wissen" ( 19 8 5 a, 308). Hier hat man "an das Gedchtnis der Gesellschaft appellieren (mssen), um Gehorsam zu finden, den man spter unter Hinweis auf den Nutzen der geleisteten Dienste oder auf die Kompetenz der Beam ten und Funktionre fordern wird" ( 19 8 5 a, 294). Die soziale Gruppe, die sich als eine Erinnerungsgemeinschaft kon stituiert, bewahrt ihre Vergangenheit vor allem unter zwei Gesichts punkten auf: der Eigenart und der Dauer. Bei dem Selbstbild, das sie von sich erstellt, wird die Differenz nach auen betont, die nach innen dagegen heruntergespielt. Zudem bildet sie "ein Bewutsein ihrer Identitt durch die Zeit hindurch" aus, so da die erinnerten Fakten stets auf Entsprechungen, hnlichkeiten, Kontinuitten hin ausgewhlt und perspekriviert zu werden pflegen. In dem Augen blick, in dem eine Gruppe sich eines entscheidenden Wandels bewut wrde, hrte sie auf, als Gruppe zu bestehen und machte einer neuen . Gruppe Platz. D'il aber jede Gruppe nach Dauer strebt, tendiert sie dazu, Wandlungen nach Mglichkeit auszublenden und Geschichte als vernderungslose Dauer wahrzunehmen .. '

Soziologe diese These an einem so entlegenen Material wie der Ge schichte der heiligen Sttten des Christentums in Palstina demon striert. Die christliche Topographie ist eine reine Fiktion. Die heiligen Sttten kommemorieren nicht durch Zeitzeugen gesicherte Fakten, sondern Glaubensideen, die in ihnen " nachtrglich" Wurzeln schla gen ( 1941, 1 57). Das authentische, auf lebendigem Umgang beruhen de Kollektivgedchtnis der jngergemeinschaft, heute wrden wir sagen: der Jesus-Bewegung (G. Theien 1977), als einer "com munaute affective", hat sich in der typischen Selektivitt der affekti ven Betroffenheit auf die Logien, die Parabeln, Aussprche und Lehr stze des Meisters beschrnkt. Die biographische Elaboration des Erinnerungsbildes setzt erst spter ein, nach dem Verblassen der apo kalyptischen Naherwartung. Nun galt es, die erinnerten Logien in ten. Es gab keine Orte, an denen sich die Erinnerung von sich aus er halten htte, so wurde sie nachtrglich, um 100 n. Chr., von Kennern der galilischen Geographie mit Orten verbunden. Mit dem Auftreten des Paulus verlagert sich jedoch das Schwergewicht der Erinnerung von Galila nach jerusalern. Hier gibt es berhaupt "keine authenti schen Erinnerungen", weil sich Proze und Hinrichtung Christi in biographische Episoden einzubetten und in Zeit und Raum zu veror

lichen Feudalsystems. Dessen System von Wappen und Titeln symboli

Abwesenheit der jnger abgespielt haben werden. jerusalem tritt ins Zentrum, weil jetzt unter verndertem theologischem Fokus das Leben jesu von Passion und Auferstehung als den entscheidenden Er eignissen her neu rekonstruiert wird und das ganze Wirken in Galila ids vorbereitende Vorgeschichte in den Hintergrund drngt. Die neue Idee, die sich mit dem Konzil von Nicaea als verbindlich durchsetzt, ist die Entshnung der Welt durch den Opfertod des menschgewordenen Gottes. Sie gewinnt memorierbare Gestalt, wird zur "Erinnerungsfigur" als Passionsgeschichte. Von Kreuz und Aufer stehung her wird die jesuserinnerung rekonstruiert und ]erusalem als kommemorativer Raum aufgebaut. Diese neue Lehre und die sie ver krpernde neue jesuserinnerung konkretisiert sich in einem "systeme de localisation" , das ihr in Kirchen, Kapellen, heiligen Sttten, Denk