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ATHENÄUM Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft Sonderheft Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799 Ein romantischer Streitfall

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ATHENÄUM

Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft

Sonderheft

Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799

Ein romantischer Streitfall

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ATHENÄUM

Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft

Sonderheft

Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799

Ein romantischer Streitfall

25. Jahrgang 2015

Herausgegeben von

Dirk von Petersdorff (Jena) und Ulrich Breuer (Mainz)

Ferdinand Schöningh

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Redaktion: Christiane Klein, Betty Pinkwart

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Titelabbildung: Kupferstich von Eduard Helmke (1863): Orthopädisch-

gymnastische Heilanstalt Jena. Zugleich Ansicht der ehemaligen Schlegel-Wohnung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erscheint jährlich. – Aufnahme nach Jg. 1. 1991

© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1,

D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich

zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-506-78108-6

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INHALTSVERZEICHNIS

DIRK VON PETERSDORFF/ ULRICH BREUER

Einleitung 9

ABHANDLUNGEN

BETTY PINKWART In der „Republik von lauter Despoten“. Die räumliche Situierung und gesell-schaftlich-literarische Bedeutung des Schlegel-Hauses

17

LUDWIG STOCKINGER

Provokantes Christentum. Friedrich von Hardenbergs Beitrag zum Jenaer Romantikertreffen im November 1799

41

OLIVER KOCH „Enthusiasmus für die Irreligion“. Schellings Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens

65

CLAUDIA STOCKINGER

Tiecks Genoveva und das Jenaer Roman-tikertreffen 1799

95

CHRISTIANE KLEIN „[S]o sind wir beyde sehr gesonnen uns-re Hoffnung auf die Frauen zu setzen“. Die Positionen von Caroline Schlegel und Dorothea Veit auf dem Jenaer Romantikertreffen

119

ULRICH BREUER Making-of. Zur Vorgeschichte von Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie

139

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8 STEFAN KNÖDLER „[E]soterisches und exoterisches“. August Wilhelm Schlegel, Goethe und das Jenaer Romantikertreffen im November 1799 Anhang: August Wilhelm Schlegel: Der Bund der Kirche mit den Künsten

167

FRIEDRICH VON

HARDENBERG Die Christenheit oder Europa 203

FRIEDRICH WILHELM

JOSEPH SCHELLING Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens

223

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITER UND MITARBEITERINNEN 233

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DIRK VON PETERSDORFF/ULRICH BREUER

Einleitung

Das Treffen der Akteure der frühromantischen Gruppe, das im No-vember 1799 in Jena stattfand, wird in allen einschlägigen Literaturge-schichten genannt und gilt als wichtiges Ereignis in der Entwicklung der Romantik als literarischer Strömung. Als sich in den Tagen vom 11. bis 14./15. November 1799 die wichtigsten Mitglieder der Grup-pe zu einer Lesung neuer Texte und zur Diskussion versammeln, trägt Friedrich von Hardenberg (Novalis) die Rede Die Christenheit oder Europa vor. Mehrere Briefzeugnisse belegen, dass die Stellungnahmen zu diesem Text divergierten.1 Novalis hatte die Christenheit den Brü-dern Schlegel darüber hinaus auch „fürs Athen[aeum] gegeben“2. Als Reaktion auf Hardenbergs Vortrag verfasste Friedrich Wilhelm Jo-seph Schelling ein polemisches Gedicht in Knittelversen mit dem Ti-tel Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens, das sich explizit-polemisch auf die Christenheit, auf die Geistlichen Lieder Hardenbergs und auf Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion bezieht.

Damit liegt ein Konflikt in der Gruppe vor, den man zunächst in-tern zu lösen versucht. Friedrich Schlegel plädiert dafür, die beiden in einem Spannungsverhältnis stehenden Texte im Athenaeum zu dru-cken, und beruft sich dabei auf einen zentralen Baustein des roman-tischen Programms, auf die Ironie.3 Mit diesem Vorschlag, in iron-ischer Weise Rede (Christenheit) und Gegenrede (Widerporst) nebenei-nander zu stellen, kann er sich nicht durchsetzen. Sein Bruder macht

1 Dokumentiert im Kommentar von Hans-Joachim Mähl in: Novalis. Werke,

Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von ders. u. Richard Samuel. Bd. 3: Hans-Jürgen Balmes (Hg.): Kommentar. München 1987, S. 578-604.

2 Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher, 15.11.1799. In: Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u.a. Abt. III: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bd. 25: Hermann Patsch (Hg.): Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799-1802). Paderborn u.a. 2009, S. 23-25, hier: S. 23.

3 Ebenda (s. Anm. 2), S. 24: „Unsere [Phil]ironie ist sehr dafür, es [Schellings Gedicht] auch im Athen[äum] zu drucken, wenn die Deinige nichts dagegen hat.“

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10 sich zum Anwalt der Bedenken, findet aber für seinen Vorschlag, beide Texte nicht zu drucken, ebenfalls keine Mehrheit, wird „über-stimmt“.4 Da die Gruppe in ihren Binnenprozessen zu keiner Ent-scheidung gelangt, schlägt August Wilhelm Schlegel einen externen Lösungsweg vor, der akzeptiert wird. Man übergibt die Christenheit und den Widerporst an Goethe, der in der Gruppe einhellig als Autori-tät akzeptiert wird. Dieser „Schiedsrichter“, wie Dorothea Schlegel formuliert, rät dann zur Nichtaufnahme in das Athenaeum; beide Tex-te blieben zunächst ungedruckt.5

Schon diese grobe Rekonstruktion der Ereignisse zeigt, dass das aufgeworfene Problem von Brisanz ist. Es entsteht in der Phase der größten Gruppendynamik: Die ersten wichtigen Texte der Autoren sind erschienen, die Tage in Jena stellen zumindest quantitativ den Höhepunkt der Gruppenaktivitäten dar; so viele und wichtige Akteu-re waren davor und danach nicht mehr versammelt.6 Der Konflikt entzündet sich an Texten von zwei Mitgliedern, denen jeweils beson-dere Kompetenz zugesprochen wird: Novalis in ästhetischer, Schel-ling in philosophischer Hinsicht. Beide erheben den Anspruch, das romantische Programm mit einem Beitrag im zentralen Werkmedium der Gruppe, im Athenaeum, weiterzuentwickeln. Verschärft werden die Schwierigkeiten dadurch, dass die Gruppe keine Hierarchien be-sitzt, die eine Entscheidungsfindung sichern würden. Zwar überneh-men die Brüder Schlegel und Schleiermacher die organisatorischen und publizistischen Aufgaben, wobei August Wilhelm Schlegel als der

4 August Wilhelm Schlegel in einem Brief an Schleiermacher, 16.12.1799. In:

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans-Joachim Birkner u.a. Abt. V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 3: Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond (Hg.): Briefwechsel 1799-1800. Berlin u.a. 1992, S. 295-305, hier: S. 303.

5 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 09.12.1799. In: Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (s. Anm. 2), Abt. III, Bd. 25, S. 30f., hier: S. 30.

6 Eine Ausnahme bildet freilich das Dresdner Romantikertreffen im Sommer 1798, an dem u.a. August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel, Dorothea Veit, Caroline Schlegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich von Hardenberg, Rahel Levin, Johann Gottlieb Fichte sowie Ludwig und Amalie Tieck teilnahmen. Man besichtigte bei Fackelschein die berühmte Antikengalerie. Friedrich Schlegel hat noch Jahre später vom tiefgreifenden Eindruck einer Dynamisierung und Verlebendigung der antiken Plastiken berichtet.

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Einleitung

11am wenigsten in die Theoriearbeit der Gruppe involvierte Autor und damit als vergleichsweise neutrale Instanz die Federführung besitzt. Doch ergeben sich daraus keine klaren Entscheidungsbefugnisse. Auch eine ironische Bearbeitung des Konflikts scheitert. Aus dieser Bestandsaufnahme ergibt sich die Notwendigkeit, nach jener Pro-grammstelle zu fragen, über die gestritten wird.

Erstaunlicherweise aber ist dieses Treffen bisher nicht mit den zur Verfügung stehenden Quellen dokumentiert worden; ebenso hat es noch keine Analyse der an diesem Punkt der Diskursentwicklung auf-tretenden Dynamiken und Konflikte gegeben. Die Forschungssitua-tion lässt sich wie folgt charakterisieren: Die außerordentlich produk-tive jüngere Forschung zur Frühromantik hat den originären Beitrag frühromantischer Autoren zu den denkgeschichtlichen Herausforde-rungen des späten 18. Jahrhunderts oder die Impulsfunktion der Frühromantik für die gesamte literarische Moderne gründlich erfasst; beispielhaft herausgehoben seien nur die Arbeiten Manfred Franks.7 In jüngster Zeit sind die ideengeschichtlichen Konstellationen des frühidealistischen und frühromantischen Denkraums bis in Veräste-lungen hinein erforscht worden.8

Ist damit auch ein dichter Zusammenhang wechselseitig aufeinan-der wirkender Personen, Ideen und Probleme sichtbar geworden, so hat man sich für die konkreten Interaktionen der Akteure nur am Rande interessiert und daher auch ein zentrales Ereignis wie das Jenaer Romantikertreffen nicht näher analysiert. Diese Vernachlässi-gung hat einen konkreten Grund darin, dass die Brief-Abteilungen der Historisch-kritischen Ausgaben, die die wichtigste Quelle darstel-len, erst in den vergangenen Jahren erschienen sind oder sich aktuell in der Erschließung befinden. So stammt der entscheidende Brief-band der Friedrich-Schlegel-Ausgabe aus dem Jahr 2009,9 so existiert

7 Vgl. zuletzt: Manfred Frank: ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen

Frühromantik. Frankfurt a.M. 2008. 8 Vgl. dazu methodisch im Anschluss an Dieter Henrich zuletzt: Konstellations-

forschung. Hg. von Martin Mulsow u. Marcelo Stamm. Frankfurt a.M. 2005. 9 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u.a.

Abt. III: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bd. 25: Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799-1802). Hg. von Hermann Patsch. Paderborn u.a. 2009.

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12 zu Tieck erst seit kurzem wenigstens ein Brief-Repertorium,10 und so werden große Teile der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels erst gegenwärtig in einer Hybridedition erschlossen.11

Die wichtigste monographische Arbeit, die das Jenaer Treffen aus-führlicher thematisiert, stammt von Theodore Ziolkowski.12 Das nar-rativ strukturierte Buch erhebt aber nicht den Anspruch, dieses Er-eignis systematisch und mit Bezug auf das romantische Programm zu erschließen. Die zum Romantikertreffen bisher publizierten Aufsätze sind in der Zahl erstaunlich gering und weitgehend deskriptiv orien-tiert.13

Einige regionalgeschichtliche Arbeiten stellen schon Quellenmate-rial zur Verfügung, aber nur vereinzelt und nicht immer auf wissen-schaftlich abgesicherter Textbasis.14 Auch aus der Perspektive der an

10 Repertorium der Briefwechsel Ludwig Tiecks. Hg. von Walter Schmitz u. Jochen

Strobel. Dresden 2003. 11 „Digitalisierung und Hybridedition der Korrespondenz August Wilhelm

Schlegels“. Leitung: Prof. Dr. Thomas Bürger, Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Prof. Dr. York-Gothart Mix, Universität Marburg, Prof. Dr. Jochen Strobel, Universität Marburg (Federführung des Gesamtprojekts). http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/.

12 Vgl. Theodore Ziolkowski: Vorboten der Moderne. Eine Kulturgeschichte der Frühromantik. Stuttgart 2006.

13 Stephan Bialas: „Ein Tempel der Wissenschaft im Vorgarten der Musen. Die Universitätsstadt Jena und ihr literarisches Leben am Ausgang des 18. Jahrhunderts“. In: Wolfgang Stellmacher (Hg.): Stätten deutscher Literatur. Studien zur literarischen Zentrenbildung 1750-1815. Frankfurt a.M. 1998, S. 393-416; Gisela Horn: „Romantische Geselligkeit um 1800. Die Jenaer Frühromantik“. In: Detlef Ignasiak (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Literatur in Thüringen. Rudolstadt 1995, S. 200-213; Ulrich Kaufmann: „Leben als Kunstwerk. Das Jenaer Romantikertreffen vor 200 Jahren“. In: Palmbaum 7 (1999), Heft 3, S. 6-8; Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten. Die Frühromantiker in Jena. Anstöße – Wohnungen – Geselligkeit. Jena 2010.

14 „Hin sind meyne Zaubereyen ...“. Literarisches Leben um 1800. Hg. von Heidi-Melanie Maier u. Thomas Neumann. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2004; „Die schöne Geselligkeit kostet gar viel Zeit“. Geselliges Leben um 1800. Hg. von Thomas Neumann. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2004; „Gestern Abend schlief er auf dem Sofa ein ...“. Alltägliches Leben um 1800. Hg. von Heidi-Melanie Maier. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2004; Katja Deinhardt:

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Einleitung

13dem Treffen beteiligten Autoren hat es einige Forschungsarbeiten gegeben. Herauszuheben ist die Rekonstruktion von Hans-Joachim Mähl, der im Zusammenhang mit der Entstehungs- und Textge-schichte von Friedrich von Hardenbergs Europa-Rede die Auseinan-dersetzungen in Jena darstellt, und sich dabei auf Novalis kon-zentriert.15 Bezeichnend für den Forschungsstand ist aber, dass in der jüngsten Friedrich Schlegel-Biographie16 das Treffen nur knapp er-wähnt wird und dass auch das außerordentlich hilfreiche und ver-dienstvolle jüngst erschienene Tieck-Handbuch17 dieses Ereignis nur streifen kann, obwohl Tiecks Genoveva in Jena gelesen und diskutiert wurde. Das Fehlen detaillierter Einzelstudien schlägt sich auch in den neuesten Überblicksdarstellungen18 nieder, die weder in der Darstel-lung noch in der Bibliographie Material zum Romantikertreffen bie-ten können.

Einige systematische Anknüpfungspunkte bieten Arbeiten unter dem Geselligkeits- oder Identitätsparadigma,19 die sich aber nur peri-pher auf das Jenaer Treffen beziehen. Die gut erforschte Salonkultur um 180020 überschneidet sich mit der frühromantischen Organisation nur zu einem Teil, nämlich in der Berliner Phase 1797/98; die Jenaer Gruppenbildung wird zu Recht nicht diesem Phänomen zugerechnet.

Wichtig für das Verständnis der in Jena auftretenden Konflikte sind Studien, die sich zwar nicht mit dem Romantikertreffen, aber

Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830. Köln 2007.

15 Vgl. Hans-Joachim Mähl: „Die Christenheit oder Europa“. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 578-604.

16 Vgl. Harro Zimmermann: Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland. Paderborn u.a. 2009, S. 167-171.

17 Vgl. Claudia Stockinger u. Stefan Scherer (Hg.): Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Berlin/Boston 2011, S. 61-65.

18 Vgl. Romantik. Epoche – Autoren – Werke. Hg. von Wolfgang Bunzel. Darmstadt 2010.

19 Vgl. dazu zum Beispiel Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999; Romantische Identitätskonstruk-tionen. Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hg. von Sheila Dickson. Tübingen 2003.

20 Vgl. etwa Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin 1997.

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14 mit den dort vorgetragenen und kontrovers diskutierten Texten be-schäftigen. Das sind Friedrich von Hardenbergs Rede Die Christenheit oder Europa, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Knittelversgedicht Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens sowie Ludwig Tiecks Drama Leben und Tod der heiligen Genoveva. Dabei ist die Europa-Rede sehr gut erforscht. Seit Herbert Uerlings Gesamtdarstellung und For-schungssynthese,21 sind nur wenige wirkliche Neuperspektivierungen hinzugekommen.22

Viel weniger Beachtung hat Tiecks Genoveva gefunden. Einen bib-liographischen Überblick bietet das genannte Tieck-Handbuch.23

Fast gar nicht beachtet worden ist Schellings Beitrag zum Roman-tikertreffen, was auch deshalb erstaunlich ist, weil Schelling dieses Gedicht für so ergiebig gehalten hat, dass er es später in Vorlesungen vortrug, um die Studierenden in seine Naturphilosophie einzuführen. Aber auch die Tatsache, dass dieser Text als polemische Antwort auf Tendenzen innerhalb der Frühromantik (Novalis und Schleierma-cher) konzipiert ist, hätte eine genauere Beschäftigung gerechtfer-tigt.24

Der Beitrag der Frauen zum Romantikertreffen stellt ein weiteres Forschungsdesiderat dar, obwohl Caroline Schlegel und Dorothea

21 Vgl. Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung.

Stuttgart 1991. 22 Vgl. etwa Jonas Maatsch: „‚… wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie

auf der Höhe schwebend erhält.‘ Novalis’ ‚Europa‘-Text und die Kraft der Poesie“. In: Hellmuth Th. Seemann (Hg.): Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents. Göttingen 2008, S. 239-255.

23 Aus der Forschungsliteratur ist herauszuheben: Ludwig Stockinger: „Ludwig Tiecks ‚Leben und Tod der heiligen Genoveva‘. Konzept und Struktur im Kontext des frühromantischen Diskurses“. In: Uwe Japp, Stefan Scherer u.a. (Hg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Tübingen 2000, S. 89-118.

24 Grundlageninformationen bieten: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Wiederporsts. Kritische Edition von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond“. In: Walter Jaeschke (Hg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799-1812). Hamburg 1994, S. 21-31 sowie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Epikurisch Glaubensbekenntniss Heinz Widerporstens“. In: Luigi Pareyson (Hg.): Schellingiana rariora. Turin 1977, S. 86-97. In den folgenden Beiträgen wird nach der letztgenannten Ausgabe zitiert.

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Einleitung

15Veit eine wichtige Rolle in der Gruppe einnehmen, da sie den geselli-gen Rahmen organisieren.

Vor dieser Ausgangslage fand im Februar 2014 ein Workshop an der Friedrich-Schiller-Universität Jena statt, der sich mit dem Jenaer Romantikertreffen beschäftigte und der so aufgebaut war, dass die ReferentInnen das Treffen jeweils aus der Perspektive eines der Pro-tagonisten beleuchteten. Der Workshop wurde im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts durchgeführt, das ne-ben der Analyse auch der Sammlung der Quellen zum Romantiker-treffen und ihrer Dokumentation im chronologischen Zusammen-hang dient. Die Beiträge des vorliegenden Sonderheftes zum Athen-äum sind aus diesem Workshop hervorgegangen. Wir haben uns ent-schlossen, die beiden im Zentrum des Jenaer Konflikts stehenden Texte, also Hardenbergs Europa und Schellings Widerporst, ebenfalls hier abzudrucken. Das mag das Verständnis der Aufsätze erleichtern; vor allem aber können so die Rede und das Gedicht, deren Veröf-fentlichung 1799 abgelehnt wurde, gut zweihundert Jahre später doch noch gemeinsam im Athenäum erscheinen.

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BETTY PINKWART

In der „Republik von lauter Despoten“1

Die räumliche Situierung und gesellschaftlich-literarische Bedeutung

des Schlegel-Hauses

Abbildung 1: Eduard Helmke: Orthopädisch-gymnastische Heilanstalt Jena, Kupfer-stich 1863. Rückansicht der ehemaligen Schlegel-Wohnung. Quelle: Städtische Muse-en Jena.

[…] ohne Freund, ohne herzliches Gespräch, ohne Wechsel zwischen Arbeit und geselligem Genuß ist für mich kein Leben

1 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 16.01.1800. In: Friedrich Schlegel:

Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Abt. III. Bd. 25. Paderborn u.a. 2009, S. 45f., hier: S. 46. Die Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe wird künftig mit der Sigle KFSA, Abteilungs- und Bandangabe zitiert.

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Betty Pinkwart

18 und wenn ich ein Paar Jahre so existiren müßte würde es mir schwer werden mich selbst beisammen zu halten.2

Am Ende des 18. Jahrhunderts zählte Jena gerade einmal 4300 Ein-wohner und 971 Häuser.3 Eines davon war das Döderleinsche Haus in der Leutragasse „am Ende des ersten Drittels […] [des] östlichen Abschnitts, der sich zwischen Brüdergasse und Rathausgasse er-streckte“4, direkt zwischen der alten Post und dem Oberappelations-gerichtsgebäude.5 Jahrhundertelang von der „Legende“ vom Haus „am Löbdergraben, neben dem Roten Turm“6, dem Wohnhaus des Philosophen Johann Gottlieb Fichte, überdeckt, lag dessen Geschich-te im Dunkeln und bildete neben den immer wieder gestellten Fragen zum konkreten Ablauf des Jenaer Romantikertreffens im November 1799 ein weiteres Rätsel für die Jenaer Stadtgeschichte.

Um 1800 war die Stadt von einem „rege[n], intellektuelle[n] Le-ben“7 erfüllt. Eine weitere Steigerung sollte durch das Auftauchen ei-ner kleinen Gruppe von jungen, provokanten, kritisch-polemischen Intellektuellen geschehen, „die mit ihrem Ich hoch hinaus woll[t]en“8. Dieser „Zirkel der Freunde“, „ein wahrhaft geweihete[r] Kreis“9, im Kern bestehend aus den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel, deren Frauen beziehungsweise Lebensgefährtinnen Caroline

2 Friedrich Schleiermacher an Charlotte Schleiermacher, 23.05.1799. In: Friedrich

Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hermann Fischer, Andreas Arndt u.a. Abt. V. Bd. 3. Berlin u.a. 1992, S. 120f., hier: S. 121. Die Kritische Gesamtausgabe Friedrich Schleiermachers wird zukünftig mit der Sigle KGA, Abteilungs- und Bandnummer zitiert.

3 Vgl. Richard van Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik 1795-1820. Bd. 1. Köln/Weimar 2002, S. 162.

4 Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten. Die Frühromantiker in Jena. Anstöße – Wohnungen – Geselligkeit. Jena 2010, S. 25.

5 Ebenda (s. Anm. 4), S. 24. Siehe Abbildung 2: Matthäus Seutter: Stadtplan Jena 1758 (Ausschnitt). Im Original Bleistiftdatierung: Mitte 18. Jahrhundert, S. 30.

6 Ebenda (s. Anm. 4), S. 5. 7 Richard van Dülmen: Poesie des Lebens (s. Anm. 3), S. 163. 8 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München/Wien 2010, S. 84. 9 Caroline an August Wilhelm Schlegel, 07./08.05.1801. In: Caroline. Briefe aus der

Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt hg. von Erich Schmidt. Bd. 2. Leipzig 1913, S. 120-133, hier: S. 126. Die Ausgabe der Briefe Caroline Schlegels durch Erich Schmidt wird zukünftig mit der Sigle Caroline und der Bandnummer zitiert.

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In der „Republik von lauter Despoten“

19Schlegel und Dorothea Veit sowie dem Kreis literaturprogramma-tisch verbundener Freunde wie Friedrich von Hardenberg (Novalis), Friedrich Schleiermacher, Ludwig Tieck und Friedrich Wilhelm Josef Schelling, knüpfte an die bereits kursierenden Diskussionen und De-batten der Zeit an, holte das geistig stimulierende, kulturelle Klima der kleinen Stadt an der Saale in sein Haus und verstärkte es wieder-rum. Ein „ewiges Concert von Witz und Poesie und Kunst und Wis-senschaft“10 entfaltete sich in der Wohngemeinschaft und polarisierte nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern auch übergreifend die Jenaer Gesellschaft.

Doch wo genau befand sich eigentlich dieses intellektuell funken-sprühende Haus in Jena? Und wie gestaltete sich der Alltag der früh-romantischen Feuerköpfe zwischen der Produktion von Werken, die die deutsche Literatur revolutionieren sollten, und einer unvergleich-lichen Geselligkeitskultur, wie es sie nach dem Zerfall der Gruppe nie wieder gegeben hat?

Besonders die Lokalisierung des Hauses und die dort gelebte Ge-selligkeitskultur stellten lange Zeit Desiderate der Forschung dar und sind es zum Teil bis heute noch.11 Dieser Aufsatz soll in gebotener Kürze die wichtigsten und aktuellsten Studien zum Standort des Schlegel-Hauses, zum gelebten Alltag zwischen Literaturproduktion und einer ihr programmatisch verbundenen Geselligkeit in den Tagen des Jenaer Romantikertreffens vorstellen.

10 Dorothea Veit an Rahel Levin, 23.01.1800. In: KFSA (s. Anm. 1), Abt. III,

Bd. 25, S. 48-51, hier: S. 49. 11 Peer Kösling ist, wie im Folgenden beschrieben, der Erste und Einzige, der „der

Legende des Romantikerhauses am roten Turm“ eingehend nachging und handfeste Forschungsergebnisse lieferte. Alle bis weit in die 1990er Jahre hinein erschienenen Publikationen vertreten die These des Hauses am roten Turm (vgl. zum Beispiel Sigrid Damm: Caroline Schlegel-Schelling. Ein Lebensbild in Briefen. Frankfurt a.M./Leipzig 2009, S. 53). Kösling konstatiert weiterhin in seiner Studie, dass eine „detaillierte Untersuchung des geselligen Lebens im Jenaer Haus der Schlegels“ noch aussteht (vgl. Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten [s. Anm. 4], S. 60). Er hat die aktuellen Forschungsergebnisse der letzten Jahre zum Schlegel-Haus gesichtet, aber als unzureichend empfunden (vgl. ebenda, S. 87). Jedoch gibt er keinerlei konkrete Begründung für die behauptete Unzulänglichkeit der Forschungsbeiträge.

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20 1. „Ein jeder hat sein eignes wohl eingerichtetes kleines Quartier in demselben Hause“12 – Lokalisierung und Charakterisierung des

Schlegelschen Hauses in Jena

Lange Zeit hielt man in der Forschung an der „Legende“ vom Ro-mantikerhaus „am Löbdergraben neben dem Roten Turm“13 fest. Erste Vermutungen zur konkreten Verortung der Schlegelschen Wohnstätte in Jena kamen erst in der neueren Forschung auf, wie die Recherchen von Theodore Ziolkowski14 zeigen. Seine Beobachtun-gen fielen auf fruchtbaren Boden, fanden nur wenig später Bestäti-gung bei Brigitte Roßbeck15 und schließlich in einer ausführlichen Studie von Peer Kösling, der durch akribische Recherchen anhand von zeitgenössischen Archivalien das Schlegel-Haus letztlich eindeu-tig identifizieren und lokalisieren konnte. Bereits 1998 veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse in einem augenscheinlich wenig beach-teten Aufsatz,16 da die Forschung auch zu diesem Zeitpunkt noch an der allgegenwärtigen Legende festhielt.

Den Anlass der fälschlichen Lokalisierung des Schlegel-Hauses und damit der Legendenentstehung sieht Kösling in der Arbeit einer Kommission zur Anbringung von Gedenktafeln berühmter Persön-lichkeiten, die in Jena gearbeitet, gelebt und gewirkt haben, anlässlich des 300-jährigen Gründungsjubiläums der Universität im Jahre 1858. Ziel dabei war es, einen „Leitfaden durch die Litteraturgeschichte Deutschlands, ein Stammbuch der edelsten Deutschen in dieser Her-berge der freien und ernsten Wissenschaft“17 zu erarbeiten. Die Aus-wahl der zu ehrenden Persönlichkeiten sowie die Recherchen zu den betreffenden Bewohnern der Häuser führten nicht zu den erhofften

12 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 11.10.1799. In: KFSA (s. Anm. 1),

Abt. III, Bd. 25, S. 12-15, hier: S. 12. 13 Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 5. 14 Vgl. Theodore Ziolkowski: Vorboten der Moderne. Eine Kulturgeschichte der

Frühromantik. Stuttgart 2006, S. 100 und 263. 15 Vgl. Brigitte Roßbeck: Zum Trotz glücklich. Caroline Schlegel-Schelling und die

romantische Lebenskunst. München 2008, S. 139f. und 310. 16 Vgl. Peer Kösling: „Die Wohnungen der Gebrüder Schlegel in Jena“. In:

Athenäum 8 (1998), S. 97-100. 17 Hermann Schaeffer: Zu den Gedenktafeln. Jena 1858, S. 3.

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In der „Republik von lauter Despoten“

21Ergebnissen, sodass man auch die Anbringung der Gedenktafeln „Leute[n], welche ihre Häuser damit schmücken und ehren woll-ten“18, überließ. Der Stadtplan von Jena aus dem Jahr 1758 weist das Haus Rößler am damaligen Fichte-Platz, welches sich „nach Süden versetzt, unmittelbar östlich an das Fichte-Haus“ anschloss und „sich mit seiner anderen Seite an den südöstlichen Eckturm der Stadt“ an-lehnte, als Schlegelsche Wohnstätte aus.19 Allerdings wurde es nicht mit einem Stern versehen, welcher für nicht eindeutig identifizierbare Wohnungen und deren Bewohner üblich war. Das Fehlen dieses De-tails schuf „Tatsachen“ an deren Echtheit niemand Gründe zweifelte. Im Zuge der Neugestaltung des Stadtbildes 1876, besonders des Vier-tels zwischen der Johannisstraße und dem Markt, wurde letztlich der Grundstein für das Bild vom „Romantikerhaus am Löbdergraben neben dem roten Turm“20 gelegt: Die benachbarte Ruine des Stadt-mauerturms wurde abgerissen und zu einem Wohnturm aus rotem Backstein umgestaltet. Seither erst kann die Legende um die Woh-nung und den gleichzeitigen Mittelpunkt der Frühromantischen Gruppe entstanden sein.21 Hinzukommend bildete das Rößlersche Haus seit 1887 den Abschluss der Unterlauengasse zum Löbdergra-ben. Diese Baumaßnahmen rundeten das bisher künstlich konstruier-te und nur vage lokalisierte Bild des Schlegel-Hauses ab. Um 1900 setzten erneute Umbaumaßnahmen in der Stadt ein. Gustav Heuen-hahn, Herausgeber und Redakteur der Jenaischen Zeitung, engagierte sich für den Erhalt der Gedenktafeln und für die Würdigung der Leistungen der geehrten Persönlichkeiten. „Was lag da näher, als den ohnehin 1858 von den Initiatoren zugestandenen Spielraum zu nut-zen und sämtliche Tafeln der Umgebung am geschichtsträchtigen Nachbargebäude, dem Fichte-Haus, anzubringen, das als einziges Gebäude von der Umgestaltung des Viertels verschont geblieben war?“22 Zudem ermöglichte diese „kleine“ Umdisponierung die Auf-rechterhaltung der literarischen Adresse „am roten Turm“. Ende

18 Hermann Schaeffer: Zu den Gedenktafeln. Jena 1858, S. 5. 19 Vgl. Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 13. 20 Vgl. ebenda (s. Anm. 4), S. 14. 21 Vgl. ebenda (s. Anm. 4), S. 14. 22 Vgl. ebenda (s. Anm. 4), S. 15f.

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Betty Pinkwart

22 1927 fand eine durch die Universität eingesetzte Kommission zur Überwachung und Ergänzung der Professoren-Gedenktafeln bereits sieben Gedenktafeln am Fichte-Haus vor, darunter jene für die Ge-brüder Schlegel. Anfang der 1930er Jahre kam es noch einmal zu ei-ner Verlagerung der Schlegelschen Ehrentafeln, nebst einer neu er-stellten für Caroline, und vier weiteren, die an das Haus Markt 23 an-gebracht wurden.23 Mit diesen Tafeln war die fälschliche Verortung und verwirrende Geschichte des Schlegelschen Hauses besiegelt. Bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde demnach das heutige zur romantischen Begegnungsstätte und Kunstsammlung ausgestalte-te Fichte-Haus gar nicht als „Romantikerhaus“ angesehen, sondern erst „ganz gewiß durch die um 1910 dahin versetzten Tafeln“24 dazu erklärt. Dass sich niemand an der Definition des Fichte-Hauses als Versammlungsort der frühromantischen Geister stieß, erklärt Kösling aus der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Zusammenführung der Gruppe im September/Oktober 1799 der durch den Atheismusstreit geächtete Philosoph Fichte bereits die Stadt verlassen hatte.25 Doch wenn nicht das Rößlersche Haus Domizil der intellektuell-geselligen Zusammenkünfte dieser „revolutionären Menschen“26 war, welche „geweiheten“27 vier Wände bildeten dann den Rahmen der experi-mentellen Wohngemeinschaft?

Ausschlaggebend sind nach Köslings Recherchen vier Aspekte: Zum einen ist die Erwähnung einer Hinterhofsituation beziehungs-weise eines „Hinterhauses“ in den Briefen Caroline Schlegels und Dorothea Veits anzuführen: „wir wohnen alle in einer Art von Hin-terhause, alle Fenster gehen nach dem Hofe zu“28. Diese vorteilhafte 23 In diesem Haus befand sich die erste Wohnung des Ehepaares Schlegel, welche

sie im Jahre 1796 übergangsweise bewohnten. Besitzer dieses Logis war der Kaufmann Beyer (vgl. Friedrich Schlegel an Novalis, 23.07.1796. In: KFSA [s. Anm. 1], Abt. III, Bd. 23, S. 323).

24 Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 18. 25 Vgl. ebenda (s. Anm. 4), S. 18. 26 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 28.10.1799. In: KFSA (s. Anm. 1),

Abt. III, Bd. 25, S. 17-19, hier: S. 17. 27 Caroline an August Wilhelm Schlegel, 07./08.05.1801. In: Caroline (s. Anm. 9),

Bd. 2, S. 120-133, hier: S. 126. 28 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 11.10.1799. In: KFSA (s. Anm. 1),

Abt. III, Bd. 25, S. 12-15, hier: S. 14.

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23Lage der Wohnung in einem Hinterhofcarré schützte die Wohnge-meinschaft vor marodierenden Studenten, welche gelegentlich Fens-terscheiben einwarfen.29 Ein zweites aussagekräftiges Zeugnis zur Lokalisierung des Gebäudes ist die Vorlesungsankündigung August Wilhelm Schlegels aus dem Wintersemester 1798/99: „Obige Vorle-sungen werde ich in dem Hörsaale des Herrn Justizrath Hufeland, im Döderleinschen Hause auf der Leitragasse [d.h. Leutragasse] halten, wo auch meine Wohnung ist.“30 Darüber hinaus erklärt ein Brief Caroline Schlegels an ihren Ehemann August Wilhelm vom 20./21. Dezember 1801 die Suche einer neuen Unterkunft nach ihrer Rück-kehr nach Jena im Frühjahr desselben Jahres mit folgenden Worten: „Niethammers ziehn in das Unsrige [Haus], ihres ist verkauft.“31 Köslings Interpretation zufolge forderte Niethammer seine alte Wohnstätte, welche er durch die Heirat mit Rosine Eleonore Döder-lein, geborene Eckard, der Witwe Johann Christoph Döderleins, 1797 erhalten und den Schlegels als eine Art Freundschaftsdienst zur Ver-fügung gestellt hatte, wieder zum Eigenbedarf zurück.32 Schlussend-lich belegt ein Brief Friedrich Schlegels vom Februar 1797 bereits die Adresse des Döderleinschen Hauses in der Leutragasse als gemein-same Wohnung der „heiligen Dreyzahl“33 (Caroline, August Wilhelm und Friedrich Schlegel). Nicht zuletzt stimme das Döderleinsche Haus mit den Beschreibungen aus den Briefen der Bewohner über-ein. Nach diesen Indizien besteht für Kösling „so gut wie kein Zwei-fel daran, dass A.W. Schlegel und Caroline […] und F. Schlegel (nach Ablauf des Mietvertrages mit dem Kaufmann Beyer) vom Markt aus im Oktober 1796 in das Döderleinsche Haus gezogen sind.“34 Dieses durch eine Vielzahl städtischer Unterlagen (Heberegister, Adressbü-cher, etc.) sehr genau lokalisierbare Haus zählte zu den zahlreichen

29 Vgl. Caroline Schlegel an Luise Gotter, 04.09.1796. In: Caroline (s. Anm. 9),

Bd. 1, S. 396-398, hier: S. 397. 30 Zitiert nach: Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 20. 31 Caroline an August Wilhelm Schlegel, 20./21.12.1801. In: Caroline (s. Anm. 9),

Bd. 2, S. 235-242, hier: S. 236. 32 Vgl. Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 20. 33 Caroline Schlegel an Luise Gotter, 04.09.1796. In: Caroline (s. Anm. 9), Bd. 1,

S. 396-398, hier: S. 397. 34 Peer Kösling: Die Familie der herrlichen Verbannten (s. Anm. 4), S. 22.