Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

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DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD TOBIAS DÜRR : Tafelsilber und Lebenslügen MATTHIAS PLATZECK : Wir leben in einer neuen Welt GÜNTHER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE | MICHAEL MÜLLER | VOLKER SCHLOT- MANN | CORNELIUS WEISS : Neues Miteinander HUBERTUS SCHMOLDT | ULRICH FREESE : Flexibilität braucht Sicherheit GESINE SCHWAN : Freiheit, Gleichheit und Solidarität PATRICK DIAMOND : Für eine neue soziale Gerechtigkeit Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 32 OKTOBER 2006 www.perspektive21.de ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG : Was geschah in Halbe? GØSTA ESPING ANDERSEN : Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an

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DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD

TOBIAS DÜRR : Tafelsilber und Lebenslügen

MATTHIAS PLATZECK : Wir leben in einer neuen Welt

GÜNTHER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE | MICHAEL MÜLLER | VOLKER SCHLOT-

MANN | CORNELIUS WEISS : Neues Miteinander

HUBERTUS SCHMOLDT | ULRICH FREESE : Flexibilität braucht Sicherheit

GESINE SCHWAN : Freiheit, Gleichheit und Solidarität

PATRICK DIAMOND : Für eine neue soziale Gerechtigkeit

Auf dem Weg ins21. Jahrhundert

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 32 OKTOBER 2006 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

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Das Debattenmagazin

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Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert I n Zeiten, die von einem ökonomischen und politischen Gezeitenwechsel ge-

prägt werden, sind politische Grundsatzdebatten unabdingbar. Keine Partei hatdas in den vergangenen Jahren stärker erfahren als die SPD. Als sie 1998 die Bun-destagswahl gewann, war relativ schnell zu merken, dass sie zu wenig Antwortenhatte auf die nach 1989 eingetretenen Veränderungen: die deutsche Einheit, diebeschleunigte Globalisierung, der Weg zu einer wissensbasierten Ökonomie, dieneu entstehenden Spaltungslinien innerhalb der Gesellschaft. Gerhard SchrödersInitiativen zur programmatischen Erneuerung der Partei – wie etwa dasSchröder/Blair-Papier – lösten in der Partei Abwehrreaktionen aus oder waren –wie die Agenda 2010 – technokratisch und gefühllos. Spätestens aber mit derAgenda 2010 gab es innerhalb der SPD einen Bruch zwischen programmatischerAnalyse und politischer Praxis. Das hält keine Partei lange aus. Dieser Bruch hatentscheidend zu den Wahlniederlagen in den Jahren 2003 bis 2005 beigetragen.

Nach der Bildung der Großen Koalition im Bund nahm darum der damalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck die Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm mitHochdruck auf und legte Leitsätze für ein Grundsatzprogramm vor, die bis heute dieDiskussion prägen. Sein Begriff des „vorsorgenden Sozialstaates“ ist von Kurt Beckbewusst übernommen worden. Im Interview mit Perspektive 21 äußert sich MatthiasPlatzeck das erste Mal seit seinem Ausscheiden aus dem Amt des Parteivorsitzenden zudieser Debatte. Platzecks Stimme wird auch in den kommenden Monaten bei derinnerparteilichen Debatte zu diesem Thema ein entscheidendes Gewicht haben.

Am 18. November 2006 wollen wieder etwa 2.000 Nazis aus ganz Deutschlandin Halbe aufmarschieren. Ihr Ziel ist es, Geschichte im Sinne ihrer rechtsextremisti-schen Ideologie umzuinterpretieren. Viele demokratische Parteien und andere Grup-pen wollen mit einem „Tag der Demokraten“ ein deutliches Zeichen gegen den Auf-marsch und den wachsenden Rechtsextremismus setzen. Brandenburg Generalstaats-anwalt Erardo Rautenberg schildert in dieser Ausgabe, was sich in den letzten Krieg-stagen in und um Halbe wirklich ereignet hat. Ein lesenswerter Beitrag, weil er einwirksames Gegengift gegen alle Legendenbildung der Nazis ist.

KLAUS NESS

[ vorwort ]

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[ impressum ]

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J SPD-Landesverband Brandenburg

J Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

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Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD

MAGAZIN—

Die Rechtsextremisten und die Herausforderung für die Demokraten

TOBIAS DÜRR : Tafelsilber und Lebenslügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Über die Ursachen der schweren Krise und der Richtungsdebatte in der CDU

THEMA—MATTHIAS PLATZECK : Wir leben in einer neuen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Über seine Zeit als SPD-Vorsitzender und das Grundsatzprogramm

GÜNTHER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE | MICHAEL MÜLLER |VOLKER SCHLOTMANN | CORNELIUS WEISS : Neues Miteinander . . . . . . . . . . . . . 39Eine Intervention aus Ostdeutschland zum neuen Grundsatzprogramm der SPD

HUBERTUS SCHMOLDT | ULRICH FREESE : Flexibilität braucht Sicherheit . . . . . . 45Das Modell Deutschland muss zum politischen Raum Europa entwickelt werden

GESINE SCHWAN : Freiheit, Gleichheit und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Das neue Programm als Ausgleich zwischen Zivilgesellschaft und Unternehmen

PATRICK DIAMOND : Für eine neue soziale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Ziele des europäischen Wohlfahrtsstaats im 21. Jahrhundert

Welchen Wohlfahrtsstaat brauchen wir?

[ inhalt ]

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DIE RECHTSEXTREMISTEN UND DIE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE DEMOKRATENVON ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG

Was geschah in Halbe?

I. „Die neue Regierungskoalition ist sich einig, dass der Bekämpfung des Rechts-extremismus in Brandenburg herausragende Bedeutung zukommt. Der Rechts-

extremismus ist eine Gefahr auch für unser Land. Er schadet unserem Land unddem Wirtschaftsstandort Brandenburg. Mit einer offenen, freiheitlichen und demo-kratischen Gesellschaft sind solche Tendenzen völlig unvereinbar. Sie dürfen und siewerden in der Mitte der Brandenburger Gesellschaft keinen Platz finden. Die Bran-denburger Regierung hat in der Vergangenheit mit ihrer Strategie der Repressionrechtsextremistischer Tendenzen beträchtliche Erfolge erzielt. Diesen Kurs werdenwir entschlossen fortsetzen. Zugleich aber werden wir die gezielte Jugendarbeit ver-stärken und die politische Aufklärung intensivieren, um alle gesellschaftlichen Ab-wehrkräfte gegen Intoleranz, Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismusund Rassismus zu mobilisieren.“ So heißt es in der Regierungserklärung von Minis-terpräsident Matthias Platzeck am 27. Oktober 2004.

Diese Regierungserklärung bedeutet vor allem, dass die schon seit vielen Jahrenanhaltende konsequente Verfolgung rechtsextremistischer Straftaten im Land Bran-denburg unvermindert fortgesetzt wird und alle Möglichkeiten der Prävention aus-geschöpft werden. Nicht vernachlässigt wird auch die Ursachenforschung, die zur-zeit das Institut für angewandte Familien-, Kindheits-, Jugendforschung bei derUniversität Potsdam (IFK) auf der Grundlage einer seit 1998 bei der Generalstaats-anwaltschaft Brandenburg geführten Auflistung von personenbezogenen Gewaltta-ten mit rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Motivationbetreibt. Das Ergebnis dieses wichtigen Forschungsvorhabens wird helfen, die Re-pression und Prävention in diesem Bereich weiter zu optimieren. Brandenburg wirdzudem wie bisher jede Möglichkeit nutzen, um rechtsextremistische Vereinigungen(„Kameradschaften“) zu verbieten. Allerdings muss beachtet werden, dass der Staatbei der Verfolgung von Extremisten deren Grundrechte, die diese ihren Gegnernselbst nicht zubilligen, und die Gesetze penibel einzuhalten hat. Denn mit jeder

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Grenzüberschreitung wird nicht nur die rechtsstaatliche Grundordnung, die ja ge-rade verteidigt werden soll, verletzt, sondern man treibt auch – und das ist eine gro-ße Gefahr – Sympathisanten dem harten Kern zu.

Mit staatlichen Maßnahmen allein vermag jedoch das Phänomen des Rechtsextre-mismus nicht wirksam bekämpft werden. Hierzu bedarf es vielmehr einer gesamtge-sellschaftlichen Anstrengung. Brandenburg hat damit bereits Anfang 1997 mit derGründung des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremden-feindlichkeit“ begonnen. 1998 hat die Landesregierung das Handlungskonzept „To-lerantes Brandenburg“ beschlossen. Durch intensive Vernetzung und Kooperationaller staatlichen und nichtstaatlichen Stellen sowie bürgergesellschaftlichen Akteuresoll eine starke, lebendige Demokratie und Zivilgesellschaft erreicht werden. Keinanderes Bundesland hat sich früher als Brandenburg zu dem Problem des Rechtsex-tremismus offen bekannt und die erforderlichen Gegenmaßnahmen ergriffen.

Erfolge sind bereits festzustellen. Nach dem Ergebnis der Zeitreihenstudie „Ju-gend in Brandenburg 2005“ des IFK ist im Zeitraum von 1999 bis 2005 die Ver-breitung von Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit gesunken. Zudem hatdie Bereitschaft der Jugendlichen „deutlich zugenommen“, eine „Verantwortung ge-genüber der Ermordung von Juden im Dritten Reich einzugestehen“. Auch hat dieMobilisierung der zuvor „schweigenden Mehrheit“ dazu geführt, dass die Rechtsex-tremisten sich nicht mehr in dem Ausmaß, wie dies früher der Fall war, trauen, ihremenschenverachtende Gesinnung durch dreistes Auftreten im öffentlichen Raum zubekennen und so dafür bei jungen Menschen zu werben.

Halbe ist zum Wallfahrtsort geworden

Die „Gegenöffentlichkeit“, die vor zehn Jahren noch nicht vorhanden war, ist alsoin Brandenburg inzwischen hergestellt worden und zeigt Wirkung. Damit sinddie Rechtsextremen auf verdecktes Agieren unter bürgerlichem Anschein zurück-gedrängt worden, was allerdings auch Gefahren birgt. Das öffentliche Bekenntniszu ihrer Ideologie erfolgt in der Regel nur noch auf Großkundgebungen, wo sichdie Rechtsextremisten auf das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit berufenund deshalb staatlichen Schutz in Anspruch nehmen können.

Der Waldfriedhof im brandenburgischen Halbe als größter deutscher Soldaten-friedhof in Deutschland ist zu einem „Wallfahrtsort“ für die Rechtsextremistender Bundesrepublik geworden. Eine ähnliche Bedeutung haben für sie allenfallsnoch Aufmärsche in Dresden am 13. Februar, dem Tag der Zerstörung der Stadtdurch alliierte Bomber im Jahr 1945. Der bayrische Ort Wunsiedel, in dem der

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frühere Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß bestattet ist, steht ihnen für Großkund-gebungen nicht mehr zur Verfügung, weil Versammlungsverbote auf die 2005neu in das Strafgesetzbuch eingefügte – vom Bundesverfassungsgericht derzeitaber überprüfte – Vorschrift des § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch gestützt werden.

Ein auf diese Modalität der „Volksverhetzung“ gestütztes Versammlungsverbotwäre für Halbe hingegen nur möglich, wenn der Nachweis einer nationalsoziali-stischen Traditionspflege gelänge. Die Würdigung von angeblichen Heldentatender Wehrmacht oder der Waffen-SS wird aber noch nicht als Verherrlichung, Bil-ligung oder Rechtfertigung der „nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherr-schaft“ im Sinne von § 130 Abs. 4 StGB angesehen und dementsprechend habendie Rechtsextremisten ihre bisherigen Versammlungen in Halbe verharmlosend als„Ehrenbekundungen für die dort begrabenen deutschen Gefallenen“ deklariert.

Am 29. August 2006 hat die Landesregierung die Einbringung eines Gesetzeszur Novellierung des Versammlungsgesetzes, für das nach der Föderalismusreformseit dem 1. September 2006 die Länder zuständig sind, beschlossen. Danach sollenöffentliche Versammlungen und Aufzüge auf Grabstätten sowie in deren „unmit-telbarer und engen räumlichen Nähe“ verboten sein. Ob man damit künftigerechtsextremistische Aufmärsche in der Nähe des Friedhofs in Halbe wird unter-binden können, erscheint zweifelhaft, zumal das im Mai 2005 mit gleicher Inten-tion verabschiedete brandenburgische Gräbergesetz vom brandenburgischen Ober-verwaltungsgericht wenige Wochen später wegen Verstoßes gegen das Grundrechtder Versammlungsfreiheit kassiert wurde.

Auf jeden Fall wird man rechtlich nicht verhindern können, dass die Rechtsex-tremisten den Soldatenfriedhof in Halbe weiterhin für ihre propagandistischenZwecke missbrauchen, sei es nun auf Demonstrationen in der Nähe oder in eini-ger Entfernung zu den Grabstätten oder aber in den Medien. Dem muss durchAufklärung der Öffentlichkeit über die Hintergründe der „Kesselschlacht vonHalbe“ entgegengewirkt werden.

II. Am 16. April 1945 begann der Großangriff der Roten Armee an der Oder-front mit dem Ziel der Eroberung Berlins, während sich amerikanische

und britische Truppen bereits der Elbe näherten. Der Roten Armee gelang esnach schweren Kämpfen die deutsche Front an mehreren Stellen zu durchbrechenund am 25. April 1945 die Zange um Berlin zu schließen. Währenddessen wur-den große Teile der 9. Armee unter dem Oberbefehl von General Busse und Teileder 4. Panzerarmee mit einer Stärke von etwa 200.000 Mann in einem riesigenKessel im Bereich Halbe/Lübben eingeschlossen.

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Hitler hatte zwischenzeitlich den Entschluss gefasst, in Berlin zu bleiben undverfolgte zunächst den völlig unrealistischen Plan, eine neue Front ostwärts derStadt aufzubauen. Dann verlangte er, die Einschließung der Reichshauptstadt auf-zubrechen. Zu diesem Zweck sollte die erst vor kurzem aufgestellte 12. Armeeunter General Wenck von der Elbe aus vorrücken, sich mit der 9. Armee imSüden von Berlin vereinigen, um von dort aus die Reichshauptstadt freizukämp-fen. Der Grundstock dieser Armee bestand aus 15- und 16-Jährigen, die aus demReichsarbeitsdienst rekrutiert worden waren und nur eine kurze militärische Aus-bildung erhalten hatten. Von Norden aus sollte die Armeeabteilung des Generalsder Waffen-SS Steiner nach Berlin vorstoßen. Obwohl Steiner am 22. April dieAusführung dieses Befehls Hitlers telefonisch als „undurchführbar und sinnlos“ablehnte, weil die Rote Armee bereits in Oranienburg eingedrungen war, erfolgteam folgenden Tage ein halbherziger Angriff nach Süden, der bald abgebrochenwerden musste.

60.000 Opfer kurz vor Ende des Krieges

Auch General Wenck hielt es für unmöglich, den Befehl Hitlers auszuführen, ohnedies allerdings dem Generalstab mitzuteilen. Er plante vielmehr, sich mit den vonder Roten Armee eingeschlossenen Resten der 9. Armee entsprechend der Befehls-lage zu vereinigen, sich dann aber an der Elbe den dort – an der Grenze zur künf-tigen sowjetischen Besatzungszone – verharrenden amerikanischen Truppen zu er-geben.

Da General Busse ebenfalls diesen Plan verfolgte, lehnte er ein Angebot derRoten Armee zur Kapitulation seiner Truppen ab. Nach mehreren fehlgeschla-genen Versuchen und hohen Verlusten gelang bis zum 1. Mai etwa 25.000 deut-schen Soldaten und etwa 5.000 Zivilisten 1 mit General Busse an der Spitze derAusbruch aus dem nach Westen gewanderten Kessel südlich von Beelitz und dieVereinigung mit Teilen der 12. Armee.

Während sich die deutschen Soldaten an der Elbe den Amerikanern ergebenkonnten, erlaubten die getroffenen Kapitulationsbedingungen den Zivilisten denÜbergang an das westliche Elbufer nicht. Dennoch gelang dies einer unbekann-ten Zahl mit Hilfe der deutschen Soldaten und unter Duldung der Amerikaner.Dem größten Teil der im Kessel von Halbe befindlichen Truppen war der Aus-

1 Die Angaben in der Literatur über die Zahl der aus dem Kessel durchgebrochenen Menschen weichen erheblich voneinanderab. Gefolgt wird hier der Schätzung, die auch Richard Lakowski, der sich am intensivsten mit der Thematik befasst habendürfte, in seiner Monographie über den Kessel von Halbe vertritt.

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bruch jedoch nicht gelungen. Etwa 120.000 deutsche Soldaten gerieten nach denKämpfen im Südosten von Berlin in sowjetische Gefangenschaft.

Der Kampf um den Ausbruch aus dem Kessel von Halbe kostete 20.000 Rotar-misten, 30.000 deutschen Soldaten und 10.000 deutschen Zivilisten das Leben.Die deutschen Opfer wurden bis Juli 1945 von Einwohnern der Ortschaften Mär-kisch-Buchholz und Halbe, deutschen Kriegsgefangenen und sowjetischen Solda-ten in den Wäldern, auf den Feldern, an den Wegerändern und sogar in den Gär-ten der Dorfbevölkerung notdürftig begraben.

Vor allem dem Pfarrer Ernst Teichmann (1906 - 1983) ist es zu verdanken,dass die Regierung der DDR im Jahr 1951 die Genehmigung für den Bau eineszentralen Waldfriedhofs in Halbe erteilte. Hier werden bis zum heutigen Tag dieauf dem Gelände des früheren Kessels aufgefundenen sterblichen Überreste derdeutschen Opfer nach Abschluss von Identifizierungsmaßnahmen bestattet – ins-gesamt bisher über 23.000.

In aller Heimlichkeit und unter Aufsicht des MfS wurden auf den Friedhof inHalbe von März bis Mai 1952 auch 4.620 Opfer des von April 1945 bis zum Fe-bruar 1947 bestandenen sowjetischen Speziallagers Nr. 5 des sowjetischen Ge-heimdienstes in Ketschendorf umgebettet, die zuvor in Massengräbern zwischendem Lager und der nahe gelegenen Autobahn verscharrt worden waren.

„Trauernde“ auf dem Friedhof

In Halbe begraben liegen zudem 55 von der deutschen Militärjustiz als „Wehr-kraftzersetzer“ verurteilte und hingerichtete deutsche Soldaten sowie 37 1944/1945 verstorbene sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus denumliegenden Gemeinden.

Am 22. Juli 2001, 60 Jahre nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunionund 50 Jahre nach dem Beginn der Bauarbeiten für den zentralen Friedhof inHalbe, trafen sich Überlebende der Kesselschlacht aus Russland, der Ukraine,Belarus und Deutschland. Sie enthüllten auf dem Friedhof einen Abguss derSkulptur „Trauernde“ des russischen Bildhauers Sergej Schtscherbakow, die imOriginal auf dem russischen Soldatenfriedhof Rossoschka steht. WesentlichenAnteil an dieser Geste der Versöhnung hatten der damalige erste Vorsitzende des„Förderkreises Gedenkstätte Halbe e. V.“, Edwin Rapp, und der damalige Vize-präsident des Komitees der russischen Kriegsveteranen, Nicolai Quvaiski, die beieinem Treffen 1998 festgestellt hatten, dass beide im Kessel von Halbe gekämpftund Quvaiski den gefangen genommenen Rapp verhört und verbunden hatte.

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Im Jahr 2001 hat der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.“ dieInstandhaltung und Pflege des Waldfriedhofs Halbe übernommen. Seine Satzungverpflichtet ihn das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt zu wahren,Frieden unter den Völkern zu halten und die Würde des Menschen zu achten.Dementsprechend verfolgt der Volksbund als Ziel, den Waldfriedhof in Halbe alsOrt der Erinnerung, der Mahnung und der Versöhnung zu gestalten. Dabei legt erbesonderes Gewicht auf die unter dem Motto „Versöhnung über den Gräbern –Arbeit für den Frieden“ stehende Jugendarbeit.

III. Für die Rechtsextremisten ist die Ehrung der gefallenen deutschen Soldatendes Zweiten Weltkrieges ein wesentlicher Teil ihrer Ideologie. Sie nutzen

hierfür zum einen den „Volkstrauertag“2, der in der Bundesrepublik seit 1952 zweiSonntage vor dem 1. Advent und bereits in der Weimarer Republik auf Vorschlagdes „Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge“ als Gedenktag für die gefallenendeutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges am 5. Sonntag vor Ostern (Reminiscere)stattfand. Die Nationalsozialisten benannten ihn 1934 in „Heldengedenktag“ um,erhoben ihn zum Staatsfeiertag und entzogen dem „Volksbund“ die Zuständigkeitfür seine Ausgestaltung. Folglich stand nun nicht mehr das christlich geprägte Toten-gedenken im Mittelpunkt sondern Heldentum, Opferwille und Kampfbereitschaft.Mit Erlass Hitlers vom 25. Februar 1939 wurde der „Heldengedenktag“ auf den 16.März als Jahrestag der 1935 erfolgten Wiedereinführung der Allgemeinen Wehr-pflicht verlegt. Sofern dieser Tag nicht auf einen Sonntag fiel, sollte der „Heldenge-denktag“ am Sonntag vor dem 16. März begangen werden. Damit war der christli-che Bezug vollständig gelöst und der „Heldengedenktag“ zu einem nationalsozialisti-schen Feiertag geworden, dessen Zweck offiziell wie folgt zum Ausdruck gebrachtwurde: „Die Feiern zum Heldengedenktag sollen nicht im Zeichen der Trauer ste-hen, sondern Ausdruck der Stärke und des unbändigen Siegeswillens des DeutschenVolkes sein. Unser Heldengedenken an diesem Tage soll weniger vom Tode unsererGefallenen, als mehr von der Größe ihrer Leistungen und ihrer Opfer zeugen.“3

Diese Tradition haben die Rechtsextremisten fortgeführt, indem sie seit 2001jeweils am Sonnabend vor dem Volkstrauertag Aufmärsche am Waldfriedhof vonHalbe zum „Heldengedenken“ unter den schwarz-weiß-roten Farben 4 eines unde-mokratischen Deutschlands durchgeführt haben. Dieses Jahr haben sie den Bezug

2 Siehe dazu Thomas Peter Petersen, Die Geschichte des Volkstrauertages. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel1998; Verfassungsschutz des Landes Brandenburg, Die Glorifizierung des sinnlosen Sterbens. Datum und Bedeutung des„Volkstrauertages“ und des „Heldengedenktags“, Online- Publikation vom 9. März 2006

3 Gauring-Mitteilungsblatt, Propaganda und Kultur,1944, zitiert nach: Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland 1871 bis1945, Frankfurt a. M. 1990, S. 345

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zum Nationalsozialismus noch deutlicher werden lassen, indem sie sich in Halbeauch an dem Sonnabend vor dem 12. März versammelt haben. Der 12. März istsowohl der Reminiscere -Sonntag als auch der Sonntag vor dem 16. März. DerWebsite des „Freundeskreis Halbe“ 5, der die Aufmärsche seit 2004 propagandis-tisch vorbereitet, ist zu entnehmen, dass auch künftig sowohl zum „Volkstrauer-tag“ als auch zum „traditionellen Heldengedenktag“ in Halbe marschiert werdensoll, womit die Anknüpfung an den nationalsozialistischen Staatsfeiertag deutlichwird.

Inhaltlich stehen die Aufmärsche in Halbe ebenfalls in der Tradition des natio-nalsozialistischen „Heldengedenktags“, bei dessen Begehung die Propaganda nachdem Überfall auf die Sowjetunion 1941 besonderes Gewicht darauf legte, dieseals Todfeind des nationalsozialistischen Deutschland zu dämonisieren. Die Deut-sche Wochenschau 6 berichtete über die Begehung des Feiertags 1943 wie folgt: „Inseiner Rede wies der Führer auf die gigantischen Vorbereitungen hin, die der Bol-schewismus zur Vernichtung Europas getroffen hatte. Die Millionen Massen ausden Steppen des Ostens wälzten sich in satanischer Zerstörungswut gegen diesenKontinent. Dass diese Gefahr von Europa abgewendet wird, ist allein das unver-gängliche Verdienst jener Soldaten, derer wir heute gedenken. Heute erfüllt unsallein Liebe zu unserer Heimat, zu unserem Volke und brennender Hass gegenjeden Feind.“

Halbe war ohne Einfluss auf Kriegsverlauf

Dieser von den Nationalsozialisten geschürte Hass auf den früheren Feind wirdbeim „Heldengedenken“ in Halbe weiter gepflegt. Die Deutsche Nationalzeitungberichtete am 13. August 2006, der Kampf der deutschen Soldaten im Kessel vonHalbe sei „heldenhaft“ gewesen, weil mit dem geglückten Ausbruch viele deut-sche Soldaten vor der „stalinistischen Vernichtungsgefangenschaft“, der „mörderi-schen Deportation in Todeslager des Gulag“ und „abertausende Frauen und Kin-der vor martervoller Schändung und vor Ermordung“ bewahrt worden seien.Während des Aufmarsches in Halbe am 13. November 2004 äußerte sich einRedner über die im Kessel kämpfenden Soldaten ganz im nationalsozialistischenGeist wie folgt: „Sie kämpften, um das Leben von deutschen Frauen und Kin-

4 Dazu: Erardo Rautenberg, Schwarz-Rot-Gold, in: perspektive 21, 9. Jg. (2005), Heft 26, S. 87 ff. und Märkische AllgemeineZeitung, 22.6.2006, abrufbar unter www.aktionsbuendnis.brandenburg.de

5 www.fkhalbe.net (25.9.2006)6 655/14/1943

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dern, von Greisen und Babys zu schützen. Denn sie mussten gegen einen Feindantreten, der vielleicht ein menschliches Antlitz trug, der aber mordete, schände-te, brandschatzte, der Kinder vergewaltigte, Greise an Scheunentore nagelte …dem kein Haus, nichts heilig war, keine Kirche, keine Grabstätte. Sie wussten:Hier ging es um die Existenz nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas.Und sie haben doch gesiegt! Denn die Bolschewisten sind nicht über die Elbehinausgekommen …“ 7

Die Kämpfe um den Kessel von Halbe hatten indes nachweislich keinerlei Aus-wirkungen auf den Grenzverlauf zwischen dem sowjetischen und dem westalliier-ten Einflussbereich in Deutschland, denn dieser war auf der Konferenz von Jaltabereits im Februar 1945 festgelegt worden und endete an der Elbe, wo die ameri-kanischen Truppen bereits längst angelangt waren, als der Ausbruch aus dem Kes-sel erfolgte. Für die militärische Entscheidung zum Ausbruch war weder der „Füh-rerbefehl“ noch das Schicksal der im Kessel befindlichen Zivilisten maßgeblich,sondern die Verhinderung der Gefangennahme der eingeschlossenen deutschenTruppen durch die Rote Armee.

Rechtsextreme ignorieren Greueltaten der Deutschen

Der Ausbruch aus dem Kessel war zwar bei isolierter Betrachtung ein militäri-scher Erfolg, angesichts der Gesamtumstände handelte General Busse jedoch un-verantwortlich, als er das Kapitulationsangebot der sowjetischen Truppen nichtannahm. Er tat dies in der Erkenntnis des bereits verlorenen Krieges nämlich nur,um durch einen Ausbruch nicht in sowjetische, sondern in westalliierte Gefan-genschaft zu geraten. Dabei dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass die Chancengering waren, gegen die Übermacht der Roten Armee den Ausbruch aus demKessel zu erreichen, dies aber auf jeden Fall nur mit hohen Verlusten möglich seinwürde. Bedenkt man, dass der größte Teil der aus dem Kessel entkommenen Zivi-listen letztlich doch im sowjetischen Einflussbereich verblieben sein dürfte, ist dieÜberführung von 25.000 deutschen Soldaten in die westalliierte anstatt in diesowjetische Gefangenschaft mit 60.000 Menschenleben bezahlt worden.

Da auch die heutige rechtsextremistische Propaganda den „Bolschewisten“ dasMenschsein abspricht, wird einfach unterstellt, dass es gegen deutsche Soldatenund Zivilisten bei einer geordneten Kapitulation zu denselben Übergriffen durchdie Rote Armee gekommen wäre, wie sie sich nach Überwindung eines fanatisch

7 Rundfunk Berlin-Brandenburg, Brandenburg Aktuell, 13.11.2004

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kämpfenden Gegners bis zum Funktionieren einer geordneten Militärverwaltungereignet haben. Dabei wird von den Rechtsextremisten damals wie heute unter-schlagen, dass die Verbrechen der Roten Armee an deutschen Soldaten und Zivili-sten auch nicht annähernd die Anzahl der Verbrechen erreichten, die zuvor vonDeutschen an sowjetischen Soldaten und Zivilisten begangen wurden und darinzwar keine Entschuldigung, aber eine Erklärung für die späteren sowjetischenGräuel zu sehen ist.

Unmenschlichkeit gegenüber Sowjetunion

Der von Deutschland ausgehende Krieg gegen die Sowjetunion war kein her-kömmlicher Eroberungskrieg, sondern ein Vernichtungskrieg mit dem Ziel „Le-bensraum im Osten“ für die deutsche „Herrenrasse“ zu schaffen. Ein Teil der hei-mischen Bevölkerung sollte den deutschen „Herrenmenschen“ als Sklaven dienen,während der hierfür nicht benötigte Teil der „minderwertigen Rassen“ ausgerottetwerden sollte. Die nationalsozialistische Vorstellung vom „Herrenmenschen“ er-forderte als Gegenstück notwendigerweise den „Untermenschen“, zu denen auch„Slawen“ und „Bolschewisten“ gezählt wurden. Entsprechend wurden sowjetischeZivilisten und Soldaten behandelt.

Am 30. März 1941 äußerte Hitler in einer Rede vor Generälen: „Wir müssenvom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist istvorher kein Kamerad und hinterher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Ver-nichtungskampf... Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren.“ 8

Für die in die Sowjetunion einmarschierenden deutschen Soldaten der 6. Armeegalt die Weisung ihres Oberbefehlshabers, Generalfeldmarschall von Reichenau, be-treffend das „Verhalten der Truppe im Ostraum“ vom 10. Oktober 1941. Danachwar das „wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System… die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischenEinflusses im europäischen Kulturkreis“. Der deutsche Soldat „im Ostraum“ sei„auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitä-ten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden“. Von ihmwerde „die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit“erwartet, um der „geschichtlichen Aufgabe“ gerecht zu werden, „das deutsche Volkvon der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.“ Generalfeldmar-schall von Rundstedt, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, gab diesen Be-

8 Hans-Heinrich Nolte, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, Hannover 1991, Dokument 8

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fehl mit Schreiben vom 12. Oktober 1941 seinen Befehlshabern mit dem Bemer-ken bekannt, dass er sich „mit dessen Inhalt …voll einverstanden erkläre.“9 Vonden in deutsche Gefangenschaft geratenen 5,7 Millionen sowjetischen Soldatenkamen 3,3 Millionen zu Tode.

General Reinecke – Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes im Oberkomman-do der Wehrmacht und zuständig für das Kriegsgefangenenwesen – formulierte in„Anordnungen über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangenen …“ vom 8.September 1941, dass der „bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behand-lung als ehrenhafter Soldat nach dem Genfer Abkommen verloren“ habe10 undGeneral Wagner, Generalquartiermeister im Generalstab des Heeres, ordnete am13. November 1941 an: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenla-gern haben zu verhungern.“11

Hungersnot aufgrund Politik der „verbrannten Erde“

Juden, Staats- und Parteifunktionäre, Kommissare und Gefangene mit akademi-scher Bildung wurden nach einer Übereinkunft von Reichssicherheitshauptamtund Oberkommando der Wehrmacht vom Juli 1941 systematisch ausgesondertund ermordet, was in der Regel in Konzentrationslagern durch die SS erfolgte. 12

Die Vernichtungsbefehle der Nationalsozialisten bezüglich sowjetischer Kriegs-gefangener werden von der rechtsextremistischen Propaganda natürlich ignoriert.Andererseits wird von ihr geleugnet, dass entsprechende Befehle bezüglich deut-scher Kriegsgefangener nicht bekannt sind, die „Kriegsgefangenenpolitik derUdSSR nicht von Vernichtungs- und Rachemotiven“ geprägt war, wie dies JensNagel, der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, darge-legt hat. Damit waren die Überlebenschancen deutscher Kriegsgefangenen bedeu-tend besser als die der sowjetischen. Viele deutsche Kriegsgefangene wurden aller-dings Opfer des Hungers und unzureichender medizinischer Fürsorge. Die mei-sten Heimkehrer, auch solche aus unserer eigenen Familie, berichteten allerdings,dass ihre Versorgung nicht viel schlechter war, als die der allgemeinen Bevölke-rung in der Sowjetunion, die vor allem 1946/1947 unter einer großen Hungers-not litt. Dafür war mitursächlich, dass für die deutschen Truppen während ihres

9 Beide Dokumente sind über www.ns-archiv.de einsehbar10 Zitiert nach: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Sowjetische Kriegsgefangene…, Hannover 1991,

S.1311 Zitiert nach: Rolf Keller, in: Nolte (Fn.8), S.11412 Die einschlägigen Einsatzbefehle des RSHA (Nrn.8, 9, 14) sind erhalten. Dazu: Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und

sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd.77, München 1998, S. 48-57; Justiz und NS-Verbrechen, Lfd.Nr.683, ww1.jur.uva.nl/junsv/

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langen Rückzugs aus der Sowjetunion der Befehl galt, „verbrannte Erde“ zu hin-terlassen.

Als die sowjetischen Soldaten dann – nach tausenden Kilometern von denDeutschen verwüsteter Heimat – die ersten gepflegten ostpreußischen Vorgärtenerreichten, setzten die hinreichend bekannten schlimmen Ausschreitungen gegendie deutschen Zivilbevölkerung ein. Diese Gräuelgeschichten stellte die NS-Pro-paganda als Beweis für das seit Kriegsbeginn gepredigte „Untermenschentum“ dersowjetischen Menschen dar und schürte so die Angst der Soldaten vor einer Ge-fangennahme, um deren Kampfeswillen zu stärken.

„Männer, die nur nach Hause wollten“

Bei manchen verband sich die „Russenphobie“ mit der – nach Befreiung des erstendeutschen Konzentrationslagers – völlig realitätsfernen Hoffnung, die Westalliier-ten würden sich in letzter Minute entschließen, der Sowjetunion den Krieg zu er-klären und diesen Kampf gemeinsam mit den verbliebenen deutschen Truppen zuführen. Entsprechende Sondierungsversuche unternahm ausgerechnet der Reichs-führer SS Heinrich Himmler, der deswegen von Hitler kurz vor dessen Freitod am30. April 1945 noch verstoßen wurde. Andere fanatische Nationalsozialisten hiel-ten sich an Hitler, für den eine Kapitulation mit der nationalsozialistischen Ideolo-gie unvereinbar war, und der noch in seinem „politischen Testament“ vom 29.April 1945 13 die „Führer der Armeen“ aufgefordert hatte, „mit äußersten Mittelnden Widerstandsgeist unserer Soldaten im nationalsozialistischen Sinn zu verstär-ken“ und den Kampf bis zum Tod fortzuführen.14 Dies in der Hoffnung, „aus demOpfer unserer Soldaten und aus meiner eigenen Verbundenheit mit ihnen bis inden Tod, wird in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samenaufgehen zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung unddamit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft.“

Auch wenn General Busse mit seiner Entscheidung zum Ausbruch aus demKessel 40.000 deutsche Soldaten und Zivilisten nicht dieser nationalsozialisti-schen Ideologie sondern der „Russenangst“ geopfert hat, bleiben dies Opfer einesverbrecherischen und bereits verlorenen Krieges. Nur ein von der nationalsoziali-stischen Ideologie verblendeter Rechtsextremist vermag das Sterben der deutschen

13 Siehe www.ns-archiv.de14 Dies erwartete übrigens auch Stalin von seinen Soldaten, der in einem Befehl vom 16. August 1941 Gefangenschaft zu Deser-

tion und Verrat erklärte, so dass sowjetische Kriegsgefangene nach ihrer Befreiung in der UdSSR diskriminiert und verfolgtwurden.

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Soldaten im Kessel von Halbe als „Heldentum“ zu glorifizieren. Pfarrer Teich-mann fand für sie die folgenden Worte: „Es sind keine Helden, es sind Männer,die nur nach Hause wollten!“ 15

IV. Die Aufklärung über die Hintergründe der Kesselschlacht von Halbemuss von weiteren Reaktionen der Demokraten auf die Demonstrationen

der Rechtsextremisten in Halbe begleitet werden, wobei dem Bekenntnis zum„demokratischen Grundkonsens“ wesentliche Bedeutung zukommt.

Dazu zählt der am 19. September 2006 erfolgte gemeinsame Aufruf des Vorsit-zenden des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremden-feindlichkeit“, des Landtagspräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Stellver-tretenden Ministerpräsidenten zu einem „Tag der Demokraten“ am 18. November2006 in Halbe.16 Einen entsprechenden gemeinsamen Entschließungsantrag solltenauch SPD, CDU und Linkspartei.PDS in den Landtag Brandenburg einbringen,wie dies von den Abgeordneten Scharfenberg (Linkspartei.PDS) und Schippel(SPD) in der Sitzung des Landtags am 13. September 2006 gefordert worden ist.

Gemeinsame Anträge mit der Linkspartei.PDS lehnt die Führung der bran-denburgischen CDU aber bisher grundsätzlich ab, weil sie jener Partei, das heißt derMehrheit ihrer Mitglieder, die Zugehörigkeit zum demokratischen Spektrum ab-spricht (und sie insoweit der DVU gleichsetzt). In der CDU mehren sich allerdingsdie Stimmen, die diese Position 16 Jahre nach dem Ende der SED aufgrund der mitder Linkspartei.PDS gemachten Erfahrungen nicht mehr mittragen und es als un-glaubwürdig empfinden, wenn ehemaligen Mitgliedern der SED und der ebensostaatreuen DDR-„Blockparteien“ zwar ein Wandel zu Demokraten in der CDUnicht aber in der PDS abgenommen wird. Daher sollte die CDU-Parteiführungangesichts der Bedrohung durch den Rechtsextremismus nicht länger zur Schwä-chung des demokratischen Lagers beitragen und einer gemeinsamen Entschließungzustimmen. Andererseits sind aber gerade die „linken Demokraten“ aufgerufen, sichbei Gegendemonstrationen in Halbe von linksextremistischen Trittbrettfahrern abzu-grenzen, die unseren Rechtsstaat ebenfalls ablehnen und sich insoweit faschistoidgerieren als sie die Rechtsextremisten als „Schweine“ bezeichnen, denen sie keineGrundrechte zubilligen. Auch die Reaktionen der Demokraten dürfen jedoch denRahmen des rechtlich Zulässigen nicht überschreiten, worauf LandtagspräsidentGunter Fritsch mehrfach hingewiesen hat.

15 Zitiert nach: Jörg Mückler und Richard Hinderlich, Halbe – Bericht über einen Friedhof, Woltersdorf/ Schleuse 1997 16 Abrufbar über www.aktionsbuendnis.brandenburg.de

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Daher sollte künftig auf eine – am 18. November 2005 aber erfolgte – Blockadeeiner gerichtlich genehmigten Demonstration der Rechtsextremen verzichtet werden,auch wenn dies im letzten Jahr in den Medien als „Damm der Demokraten“ odererforderlicher „ziviler Ungehorsam“ gefeiert worden ist. Tatsächlich wird aber durcheine solche Missachtung einer gerichtlichen Entscheidung unserem demokratischenRechtstaat Schaden zugefügt und so letztlich den Extremisten in die Hände gespielt.Die Polizei ist verpflichtet, derartige Blockaden nach Möglichkeit zu verhindern, diesogar eine Straftat darstellen können. Nach § 21 Versammlungsgesetz macht sichnämlich strafbar, wer in der Absicht, eine nicht verbotene Versammlung zu verhin-dern, „Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht“.Eine entsprechende und nicht von vornherein abwegige Strafanzeige des HamburgerRechtsextremisten Christian Worch gegen die friedlichen Gegendemonstranten am18. November 2005 in Halbe ist allerdings erfolglos geblieben. Die Entscheidungder Polizei, nicht die Auflösung der Gegendemonstration anzuordnen, wodurch denRechtsextremisten ihre gerichtlich genehmigte Wegstrecke versperrt wurde, erfolgtezur Vermeidung von Konfrontationen aus präventiven Gründen angesichts einerbesonderen Konstellation, auf die die Polizei nicht vorbereitet war.

Mehr Demokraten als Rechtsextreme

Wider Erwarten war es 2005 nämlich erstmals gelungen, bedeutend mehr Demo-kraten zu mobilisieren als sich rechtsextreme Demonstranten in Halbe versammel-ten. Dies sollte entsprechend einer Forderung von Landtagspräsident Fritsch auchdieses Jahr wieder angestrebt werden. Die demokratischen Gegenmaßnahmen inHalbe dürfen sich jedoch nicht in jährlichen Großveranstaltungen erschöpfen, dieim Übrigen von den Bewohnern auch als Belastung empfunden werden. Daher hatder Landtagspräsident im Juni 2006 eine aus Angehörigen verschiedener staatlicherund nichtstaatlicher Einrichtungen bestehende Arbeitsgruppe unter Federführungvon Superintendent Heinz-Joachim Lohmann, dem Vorsitzenden des „Aktions-bündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“, ins Le-ben gerufen, die ein alle demokratischen Aktivitäten vor Ort einbeziehendes Ge-samtkonzept für eine „Gedenkstätte Halbe“ erarbeiten wird.

Für den Fall, dass trotz eines novellierten brandenburgischen Versammlungs-rechtes weiterhin Demonstrationen der Rechtsextremisten in der Nähe des Wald-friedhofes genehmigt werden müssen, sollten auf jeden Fall Maßnahmen getrof-fen werden, die die Attraktivität des Ortes für rechtsextremistische Aufmärschevermindern.

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Zuvörderst bietet sich an, rechtsextremistischen Demonstranten den Blick auf denWaldfriedhof als Kulisse für ihre Veranstaltungen zu nehmen. Denn dieses Szenario istein wesentlicher Bestandteil ihrer bisherigen Aufmärsche und erklärt ihr großes Inter-esse, auf der Teichmannstraße in Halbe zum Haupteingang des Friedhofs zu marschie-ren. Daher sollte der Blick von dem Platz vor dem Haupteingang auf den Friedhofdurch einen neu zu errichtenden massiven Eingangsbereich versperrt werden, durchden der Zugang künftig erfolgen müsste und in dem Besucher über den Waldfriedhofund seine Vorgeschichte informiert werden könnten.

Erinnerungskultur muss fortentwickelt werden

Zudem könnte der noch unbenannte Platz dem Reichstagsabgeordneten und früherenReichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) gewidmet werden17, der denNazis besonders verhasst war, weil er sich während des Ersten Weltkrieges für einenVerständigungsfrieden eingesetzt hatte und mit seiner Unterschrift unter den Waffen-stillstandsvertrag im November 1918 der Erste Weltkrieg beendet wurde. Deshalbwurde er als erste Symbolfigur der demokratischen Weimarer Republik noch vor demliberalen jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867-1922) von Rechts-extremisten ermordet. An der Verwirklichung einer derartigen baulichen Maßnahmesollte das Land Brandenburg mitwirken, weil das Vorliegen eines „wichtigen Landesin-teresses“ im Sinne der Landeshaushaltsordnung gegeben sein dürfte.

In seiner Rede im Landtag zur ersten Lesung des „Gesetzes zur Ersetzung von § 16des Versammlungsgesetzes“ am 14. September 2006 hat Innenminister Schönbohmdie Gründe für ein wichtiges Landesinteresse hinreichend dargelegt, indem er ausführ-te, dass die rechtsextremistischen Aufmärsche in Halbe „das Ansehen unseres Landesinnerhalb der Bundesrepublik Deutschland“ beschädigen und „das Vertrauen derMenschen in die Handlungsfähigkeit des Staates“ zerstören: „Die Würde der in Halberuhenden Opfer von Krieg- und Gewaltherrschaft zu bewahren, ist darum unserePflicht und unsere Verantwortung“. Es dürfe als „legitime Aufgabe des Staates verstan-den werden“, Gräberstätten vor der Beeinträchtigung ihrer „gesetzlich verankerten Bil-dungs- und Erziehungsfunktion“ zu schützen.

Des Weiteren sollte die Erinnerungskultur in Halbe dadurch fortentwickelt wer-den, dass die von der Gemeinde Halbe, dem Amt Schenkenländchen und dem Lan-desverband Brandenburg des „Volksbundes“ getragene, in der sanierungsbedürftigen

17 Dazu: Wolfgang Michalka (Hg.), Mathias Erzberger. Reichsminister in Deutschlands schwerster Zeit, Potsdam 2002. Als ersteGemeinde in Berlin und Brandenburg hat Schorfheide im Dezember 2004 einen Platz nach Erzberger benannt.

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Alten Schule in der Kirchstraße notdürftig untergebrachte „Denkwerkstatt Halbe“(www.denkwerkstatt-halbe.de) zu einer Jugendbegegnungsstätte für Schüler und jungeSoldaten erweitert wird, in der dem rechtsextremistischen „Heldengedenken“ durchfriedenspädagogische Projektarbeit entgegengewirkt werden könnte.

Eine Jugendbegegnungsstätte an dem Ort des größten deutschen Soldatenfriedhofsim Inland dürfte angesichts der dort stattfindenden rechtsextremistischen Aufmärscheüberfällig sein. Die Kultusministerkonferenz hat am 27. April 2006 in den Jahren1968 und 1988 gefasste Beschlüsse über die „Berücksichtigung der Arbeit des Volks-bundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. in den Schulen“ bekräftigt und gewürdigt,dass die vom „Volksbund“ unterhaltenen Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten „pä-dagogische Module zur fächerverbindenden und fachübergreifenden historisch-politi-schen Bildung, zur Gewalt- und Konfliktbewältigung“ anbieten: „Die Kultusministertreten dafür ein, dass die Schulen auch weiterhin an den Aufgaben des Volksbundesmitwirken und damit eine nachhaltige Erziehung zum Frieden fördern“.

Mit Schreiben vom 30. März 2006 hat der Präsident des Landtags Brandenburgdem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg ein „Pädagogisches Konzept der Ju-gendbegegnungsstätte Halbe“ übersandt und um Bereitstellung von Mitteln zur Reali-sierung des Vorhabens gebeten. Dabei hat der Landtagspräsident darauf hingewiesen,dass damit auch dem dringenden Bedürfnis der Bürger von Halbe entsprochen werdenwürde, in der Öffentlichkeit mit dem Ort nicht nur Aufmärsche von Rechtsextremi-sten zu verbinden. Das Land Brandenburg würde mit einer Unterstützung der Errich-tung auch baulicher Bollwerke der Demokraten gegen die Aufmärsche der Rechtsex-tremisten in Halbe einmal mehr beweisen, dass es den Kampf gegen den Rechtsextre-mismus mit beispielhafter Entschlossenheit führt. L

DR. ERARDO CRISTOFORO RAUTENBERG

ist Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg und seit 2000 Mitglied im„Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“.

KATRIN RAUTENBERG

ist Pressesprecherin des Landtags und Büroleiterin des Landtagspräsidenten.

Die Autoren danken Anita Wedel und Gudrun Baum vom „Volksbund“ (Potsdam),Amtsdirektor Ulrich Arnts (Teupitz), Pastorin Erdmute Labes (Halbe), Helmut Silbervon der Landeszentrale für politische Bildung (Potsdam), Richard Lakowski (Erkner),

Dr. Rüdiger Niehuus (Kiel), Thomas Peter Petersen (Bad Kleinen), Eleonore Yassine(Berlin) und André Wilksch (Potsdam) für die geleistete Hilfe.

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ÜBER DIE URSACHEN DER SCHWEREN KRISE UND DER RICHTUNGSDEBATTE IN DER CDUVON TOBIAS DÜRR

Tafelsilber undLebenslügen

D ie CDU war über Jahrzehnte hinweg die „gefühlte“ Staatspartei der altenBundesrepublik, in ihrer Selbstwahrnehmung, aber auch aus der Außenper-

spektive. Von Adenauer bis Kohl stellte die Union tatsächlich die authentischepolitische Verkörperung der rheinischen Republik dar. Als Institution von „Maßund Mitte“ nahm sie ganz selbstverständlich die politische Führerschaft in West-deutschland für sich in Anspruch. Nachdem die CDU zunächst in den prägendenzwei Gründungsjahrzehnten der Republik den Bundeskanzler gestellt hatte, kehr-te sie nach überwundener Schwächephase bereits ab Mitte der siebziger Jahre um-so stärker an die Macht zurück, zunächst in den Kommunen und Bundesländern,seit 1982 auch auf der Bundesebene.

Begleitet wurden diese Erfolge in den siebziger und achtziger Jahren von gran-diosen Mitgliederzuwächsen. Auch organisatorisch wurde die CDU in der ÄraKohl mit den Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler tatsächlichzur „modernen Volkspartei der Mitte“, in der jedoch zugleich traditionelle Orien-tierungen und Mentalitäten weiterlebten. Mit der deutschen Vereinigung 1989/90erreichte die Union den Gipfelpunkt ihres Erfolgs – seitdem befindet sie sich invieler Hinsicht in ständigem Sinkflug.

Diese langfristige Erosion ist zugleich strukturell und kulturell bedingt. Mat-thias Geis hat Recht: „Die Große Koalition ist Ausdruck und Katalysator diesesAbstiegs.“1 Denn was vor allem erodiert ist und ständig weiter erodiert, sind dieVoraussetzungen der früheren christdemokratischen Vormachtstellung. Wer denSchwund verstehen will, muss deshalb zunächst die Machtressourcen, gleichsamden „Kitt“ der alten, erfolgreichen Union kennen: J Die Christdemokraten knüpften in den Jahrzehnten systematisch an den be-

reits in Kaiserreich und Weimarer Republik tief verwurzelten Antisozialismus

1 Matthias Geis, Im Streit liegt die Kraft. Nur eine scharfe Kontroverse über die Krise ihrer Partei wird der Kanzlerin auf Dauerhelfen, in: Die Zeit vom 10.8.2006.

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und Antikommunismus in weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung an,den sie in den Jahrzehnten der Bonner Republik – mit Hilfe des Verweises aufdie Diktatur der SED in der DDR – zugleich politisch aktualisierten und ver-stärkten: „Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau.“

J Die Union war eindeutig die Sammelpartei der stabilen bürgerlichen undkleinbürgerlichen Lebenswelten und Orientierungen in Deutschland, also desbreiten gesellschaftlichen mainstream.

J Und die CDU war eindeutig die Partei der kirchlich geprägten, vor allem der(sozial)katholischen Milieus. Als interkonfessionelle Sammlungsbewegung wardie Union nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Partei in Deutschland, diekatholische und protestantische Christen unter einem breiten Dach versam-melte.

Die Erfolgsressourcen schwinden dahin

Dass sich dabei antisozialistische, (klein)bürgerliche sowie kirchliche Prägungenund Orientierungen überschnitten, wechselseitig stützten und bedingten, liegt aufder Hand. Ebenso klar ist allerdings seit längerer Zeit auch, dass alle diese Voraus-setzungen christdemokratischer Dominanz in rapider Auflösung begriffen sind. Esist ein ganzer Kosmos von Bedingungsfaktoren, der ins Rutschen gekommen ist:J Spätestens seit dem weltweiten „Sieg des Westens“ von 1989/90, dem Ende

von deutscher Teilung und realsozialistischer Bedrohung aus dem Osten, ergibtmilitanter Antisozialismus keinen nachvollziehbaren Sinn mehr und hat damitseine mobilisierende und integrierende Wirkung eingebüßt.

J Die alten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus sind unter den massivenDruck wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Modernisierungspro-zesse geraten; sie leben fort, sind aber nicht mehr gesellschaftlich dominantund kulturell prägend, sondern geraten mehr und mehr ins nörgelnde Abseits.

J Einfluss und Prägekraft der alten kirchlichen Milieus sind in den vergangenenJahrzehnten immer weiter geschwunden.

Zwar werden kurzfristige konstellationsbedingte Bodengewinne der Union auchin Zukunft immer wieder möglich sein – wie überhaupt mit dem Ende der gro-ßen gesellschaftlichen Milieus und ideologischen Glaubenssysteme größere politi-sche Sprunghaftigkeit der Wählerschaft einhergeht. Dennoch: Die langfristigeErosion der Erfolgsbedingungen der Union schreitet voran. Vor mittlerweile achtJahren schon, unmittelbar nach dem Machtverlust Helmut Kohls, haben die Poli-

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tikwissenschaftler Frank Bösch und Franz Walter die zentralen Dilemmata derCDU präzise benannt. Ihre damalige Analyse bleibt weiterhin völlig zutreffend:„Die Anhängerschaft der Union zerfällt in nur noch schwer kompatible Kulturen,Orientierungen und politische Einstellungen. Die europäischen Schwesterparteienkönnen davon schon länger ein Lied singen. Sie haben in allen Tonlagen versucht,zur richtigen Melodie zurückzufinden. Die einen haben es mit sozialkatholischerÜberzeugungstreue probiert, die anderen haben mit neoliberalen Rezepten experi-mentiert, mitunter wurden auch rüde rechtspopulistische Töne angeschlagen. Ge-nutzt hat alles nichts. Was man auf der einen Seite stabilisieren konnte, ging aufder anderen verloren. Zugewinne gab es nirgendwo mehr. Die Integrationskraftder Christdemokraten in Europa, die ihre Stärke in den Aufbaujahren nach demZweiten Weltkrieg ausmachte, ist gewiss nicht ganz erloschen, aber doch erkenn-bar geschwunden. Das goldene Zeitalter der christlichen Demokratie jedenfalls istvorüber.“2

Das beschriebene Verschwinden der christdemokratischen Erfolgsressourcenhat sich dadurch weiter verstärkt und beschleunigt, dass viele Akteure innerhalbder Unionsparteien die Veränderungen der Umweltbedingungen ignorieren undauf voluntaristische Weise die „Lösung“ der Probleme ihrer Partei in der Neu-oder Rückausrichtung gemäß diesem oder jenem politischen Patentrezept verlan-gen. Im Ergebnis ungenügender Analysen stehen einander in der CDU, wie diederzeitigen Auseinandersetzungen innerhalb der CDU zeigen, sowohl allzu simpleDiagnosen als auch einander ausschließende Therapievorschläge gegenüber. Wennauch selbstverständlich nicht jeder Einzelne innerhalb der Union die Orientie-rung verloren hat, so ist es doch zweifellos richtig, dass in der CDU insgesamtheute kein verbindender Konsens mehr darüber besteht, was diese Partei sein sollund wohin sie will.

Eine zutiefst westdeutsche Partei

Zwar stammt die heutige Vorsitzende der CDU aus Brandenburg, dies lässtjedoch nicht darauf schließen, dass Ostdeutsche der Union nach 1990 soziolo-gisch oder programmatisch ein neues Gesicht gegeben hätten. Das Gegenteil istder Fall. Ende 2005 gehörten mit 63.712 der insgesamt 571.881 Mitglieder derCDU nur 11,1 Prozent aller Christdemokraten einem ostdeutschen Landesver-

2 Frank Bösch und Franz Walter, Das Ende des christdemokratischen Zeitalters?, in: Tobias Dürr und Rüdiger Soldt (Hg.), DieCDU nach Kohl, Frankfurt am Main 1998, S. 46-58, hier S. 58.

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band (einschließlich Berlin) an. Damit sind in Ostdeutschland nur etwa 0,4 Pro-zent aller zum Parteibeitritt berechtigten Bürger ab 16 Jahre Mitglieder der CDU,während es auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik immerhin noch 1,1 Prozentsind.3 Man tritt den Christdemokraten in Ostdeutschland durchaus nicht zunahe, wenn man feststellt, dass ihr inhaltlicher und personeller Einfluss innerhalbder eigenen Partei sogar noch deutlich unterhalb ihres numerischen Anteils liegendürfte. Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung bleibt dieCDU eine zutiefst von Westdeutschen und den Konfliktlinien der alten, rheini-schen Bundesrepublik geprägte Partei.

Die drei Lager der Union

Heute setzt sich die Union, typisierend formuliert, in ihrer Wählerschaft wieunter ihren Mitgliedern aus drei Lagern zusammen, die sich – selbst in einzelnenPersonen – überschneiden können: erstens aus den marktfixierten Modernisierern,zweitens den Tafelsilberkonservativen und drittens aus den hier rheinische Nostalgi-ker genannten Christdemokraten, die den untergegangen westdeutschen Verhält-nissen nachtrauern. Die beiden zuletzt genannten Kategorien umfassen großeTeile der in den siebziger und achtziger Jahren in die CDU eingetretenen Mitglie-der. Sie sind vor allem in den Basiseliten der Kreis- und Ortsverbände sowie beiden einfachen Mitgliedern der alten Bundesländer stark vertreten. Das Verhältnisdieser drei Gruppen zueinander ist kompliziert:J Marktfixierte Modernisierer und Tafelsilberkonservative liegen typischerweise

dort auf derselben Linie, wo es um ökonomische Fragen, den Rückbau vonSozialstaat und Bürokratie, um mehr individuelle Eigenverantwortung, eineniedrigere Staatsquote und dergleichen geht.

J Hingegen sind die marktfixierten Modernisierer in gesellschaftspolitischer Hin-sicht sowie in Wertefragen (Ehe und Familie, Abtreibung, Homosexualität, Ein-wanderung, Gentechnologie, Rechtschreibung, Nation, Glauben etc.) typischer-weise agnostisch, stehen diesen Themen und Kategorien also in der Regel herzlichgleichgültig gegenüber.

J Die Tafelsilberkonservativen wiederum vermuten gerade auf dem Gebiet derSitten und Werte das wertvollste christdemokratische „Tafelsilber“ (Jörg Schön-bohm), also den Kern bürgerlich-christdemokratischer Identität schlechthin

3 Zu den Zahlen vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2005, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 37 (2006) 2,S. 376-383.

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und vertreten auf gesellschaftspolitischem Gebiet insofern klar antiliberale Posi-tionen.4

J In Wertefragen befinden sich damit die Tafelsilberkonservativen tendenziellstärker mit den rheinischen Nostalgikern im Einklang, die sowohl in ökonomi-scher wie in gesellschaftspolitischer Hinsicht im Wesentlichen eine defensive,beleidigte und rückwärts gewandte Haltung („Früher war irgendwie alles bes-ser“) an den Tag legen.

In der Ära Merkel gewannen, ermöglicht durch den ruhmlosen Zusammen-bruch des Systems Kohl, die marktfixierten Modernisierer in der CDU die Ober-hand und setzten sich 2003 auf dem Leipziger Parteitag auf triumphale Weisedurch. Die Partei feierte Bierdeckelsteuer, Kopfpauschale und sich selbst. Derbuchstäblich einzige offen bekennende Gegner des neuen Kurses war in Leipzigder Sozialstaatskonservative Norbert Blüm, während Tafelsilberkonservative wieJörg Schönbohm den wirtschaftsliberalen Modernisierungskurs (nicht den gesell-schaftspolitischen!) ihrer Parteivorsitzenden stets mittrugen oder sogar aktiv för-derten. Im Wahljahr 2005 jedoch fuhr die Union mit eben diesem marktradika-len Modernisierungskurs ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1949 ein. Die Partei-führung hielt es daraufhin für angezeigt, die in den vergangenen Jahren geradeerst gewonnenen Überzeugungen ohne jede Aussprache oder Erklärung wieder zukassieren, um mit der SPD eine Große Koalition zu bilden – mit der vorherseh-baren Folge, dass nunmehr sämtliche Strömungen innerhalb der CDU desorien-tiert und unzufrieden sind:J Die marktfixierten Modernisierer sind verbittert, weil sie nunmehr in einer

Regierung, die sie nicht wollten, eine „sozialdemokratische“ Politik machenund vertreten müssen, die sie ebenfalls nicht wollten – und immer noch nichtwollen. Die Anhänger dieser Lehre sind der tiefen Überzeugung, mit derUnion werde es so lange weiter bergab gehen, wie nicht die zwar bittere (unddaher zunächst unweigerlich unpopuläre), aber ihrer Ansicht nach notwendigeReformmedizin verabreicht worden ist. Nach dem Motto „Es gibt kein richti-ges Leben im falschen“ hält diese Strömung daher im Grunde jeden Tag derGroßen Koalition für einen Tag zu viel.

4 In einem Interview mit der Jungen Freiheit hat Jörg Schönbohm die gängigen Verdrussgründe der Tafelsilberkonservativen voreinigen Jahren einmal umfassend aufgezählt: „Doppelte Staatsangehörigkeit, Zuwanderungsgesetz, Auflösung der Familie, Homo-Ehe, Erhöhung der Staatsquote, Zurückdrängung des Leistungsgedankens, Negation der Elitenbildung, Minderheitenpolitik zuLasten der Mehrheit, Begrenzung der Wehrfähigkeit und Destabilisierung des Nato-Bündnisses. Hinzu kommen Ökosteuer,gestiegene Lohnnebenkosten, Rekordarbeitslosigkeit, Pleitewelle und, und, und. Für die Union heißt es deshalb, mit allen Mittelndiesen ideologisch vorgeprägten Weg in die Katastrophe abzuwenden.“ Siehe „Die Union muss auf konservative Werte setzen“,Interview mit Jörg Schönbohm, in: Junge Freiheit vom 15.11.2002 (http://www.jf-archiv.de/archiv02/472yy12.htm).

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J Die Tafelsilberkonservativen wiederum sind vor allem deshalb erzürnt, weilihnen der Kurs der Großen Koalition in gesellschaftspolitisch-kultureller Hin-sicht zu liberal und permissiv erscheint. (Stichworte: Vätermonate beim Eltern-geld, Ganztagsschulen, Antidiskriminierungsgesetz).

J Und auch die rheinischen Nostalgiker sind unzufrieden. Sie spüren, dass diealtbundesrepublikanische „Welt der Westdeutschen“ an ihr Ende gelangt – undschreiben die Veränderungen der ungeliebten Großen Koalition zu (etwa Ein-schnitte bei Mittelschichtsubventionen wie Eigenheimzulage und Entfernungs-pauschale, höhere Mehrwertsteuer oder die Debatte um die Ersetzung des Ehe-gattensplittings durch ein Familiensplitting).

Mürrisch regieren, beschleunigt wahren

Die Unzufriedenheit der jeweiligen Gruppen über die real existierende GroßeKoalition ist erklärlich und subjektiv nachvollziehbar. Tatsächlich aber machensich alle drei Gruppen etwas vor:J Den marktfixierten Modernisierern müsste klar sein: Hätte die Union gemein-

sam mit Guido Westerwelles FDP die Bundestagswahl gewonnen und wäre da-raufhin der in den Jahren 2003 bis 2005 angekündigte Reformkurs auf ganzerLinie verwirklicht worden, dann würde der öffentliche Gegenwind angesichtsradikaler Umbauten in den Sozial- und Steuersystemen heute noch weitaus hef-tiger ausfallen. Indem sie, aus Verbitterung über die ungewollte „Zwangsehe“mit der SPD, zum Regieren in der aktuellen Koalition erkennbar keine positiveund konstruktive Haltung entwickeln, schaden die marktfixierten Modernisierereben diesem Bündnis – und damit letztlich wiederum der eigenen Partei, diediese Regierung trägt. Wer mürrisch oder mit schlechtem Gewissen regiert,muss sich nicht wundern, wenn dies dem Publikum irgendwann auffällt.

J Den Tafelsilberkonservativen wiederum müsste bewusst sein: Jene Werte, dieihnen am wichtigsten sind, wären niemals so existentiell bedroht wie in denZeiten einer wirklich marktradikalen Reformpolitik. Es wird stets der unauflös-liche innere Widerspruch des Tafelsilberkonservatismus à la Jörg Schönbohmbleiben, dass er einerseits zwar die Bewahrung tradierter sittlicher Werte propa-giert, andererseits aber auch die Freisetzung von Individuum und Markt befür-wortet – was unweigerlich Tendenzen gesellschaftlicher Beschleunigung, Plura-lisierung und Entgrenzung zur Folge hat, die aus wahrhaft konservativer (alsotatsächlich bewahrender) Perspektive ganz und gar nicht hinnehmbar sein dürf-ten. Dass Jörg Schönbohm das „christliche Menschenbild“ und die „Freiheit“

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als die zentralen Alleinstellungsmerkmale der CDU bezeichnet, ohne jemalsauch nur ansatzweise das Spannungsverhältnis zwischen beidem zur Kenntniszu nehmen, veranschaulicht das Problem.

J Die rheinischen Nostalgiker schließlich müssten längst verstanden haben: Sowie es war, wird es nie wieder. Ihr diffuses Unbehagen gilt im Grunde derschwierigen und unübersichtlichen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts in einemganz umfassenden Sinne. Tatsächlich jedoch hat Deutschland gerade in dervon den rheinischen Nostalgikern verklärten Ära Kohl auf entscheidenden, engmiteinander verknüpften Feldern – Bildung, Frühförderung, Wissenschaft,Familie, Bevölkerungsentwicklung, Integration, Arbeitsmarkt, investiver undvorsorgender Sozialstaat – den Anschluss an die Standards erfolgreicher euro-päischer Nachbarstaaten dramatisch verpasst. Es ist heute und in Zukunftschlechterdings keine Bundesregierung mit Unionsbeteiligung mehr denkbar,in der noch einmal die konservativ-rheinische Version von Kapitalismus undkonservativem Sozialstaat aus dem vorigen Jahrhundert zum Leben erwecktwerden könnte. Die Voraussetzungen des „Goldenen Zeitalters“ (Eric Hobs-bawm) zwischen Währungsreform und erstem Ölschock, deren Andenkennicht nur in der SPD, sondern auch in der CDU noch immer viele Herzenwärmt, sind heute schlechterdings entfallen.

Jede Bundesregierung, geführt von wem auch immer, wird in Zukunft mit denbisherigen Üblichkeiten des konservativen deutschen Sozialstaatsmodells brechenmüssen, das den Status von Erwerbsinsidern sichert, aber viel zu wenig vorsor-gend in Menschen und Zukunft investiert. Jürgen Rüttgers aktuelle Intervention,„dass wir zum Verständnis des Grundsatzprogramms aus den siebziger Jahren zu-rückkehren sollten“, weckt insofern vor dem Hintergrund der oben beschriebe-nen Verhältnisse innerhalb der Union vor allem rückwärts gewandte und damitvöllig illusionäre Hoffnungen.5

Zu kapitalistisch? Zu sozialdemokratisch?

Hier verbirgt sich das eigentliche Problem der Union: Die gesellschaftlichen, öko-nomischen und kulturellen Voraussetzungen ihrer vergangenen Erfolge haben sichseit den siebziger Jahren rapide aufgelöst – im Osten Deutschlands bestanden sieseit 1989 ohnehin nie. Dennoch diskutieren und handeln die Parteiflügel und

5 „Manchmal tut mir Frau Merkel leid“, Interview mit Jürgen Rüttgers, in: stern vom 3.8.2006.

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Strömungen der CDU durchweg noch so, als hätten diese Veränderungen garnicht stattgefunden. Durchweg werden ausschließlich plakative Schlagworte inUmlauf gesetzt. Die Partei ist, wie die gegenwärtige „Debatte“ über den künftigenKurs der Union eindrucksvoll zeigt, zu einer zugleich zeitgemäßen und substanzi-ellen Erörterung ihres gesellschaftlichen Ortes offensichtlich nicht im Stande.

Die sterile Streiterei darüber, ob die CDU nun „zu kapitalistisch“ sei (wie Jür-gen Rüttgers meint) oder „zu sozialdemokratisch“ (wie Jörg Schönbohm findet),führt einstweilen nur vor, welches Maß an Desorientierung inzwischen unter demDach der deutschen Christdemokratie um sich gegriffen hat. Bedenklich ist estatsächlich, dass in einer einzigen Organisation so völlig widersprüchliche Selbst-beschreibungen und Problemdiagnosen nebeneinander stehen. Corinna Emundtshat Recht: „Wenn sich die Partei gleichzeitig selbst vorwirft, zu sozialdemokra-tisch zu sein und andererseits zu kapitalistisch, dann zeigt sich, wie richtungslosdie Union derzeit daherkommt.“6

Die Wurzeln der Richtungslosigkeit

Diese Richtungslosigkeit hat weit zurück reichende Wurzeln. Ihre Ursachen liegenim oben skizzierten Zerfall der sozialkulturellen Voraussetzungen der „altenChristdemokratie“. Wenn der „Urkitt“ der geteilten Selbstverständlichkeiten zer-bröselt, müssen sich Parteien über ihre Identität und ihre Alleinstellungsmerkmaleumso mehr diskursiv verständigen – die Verhältnisse verstehen sich eben nichtmehr von selbst. Dieser mühsamen Arbeit ist die Union in den vergangenen Jah-ren systematisch aus dem Weg gegangen – je nötiger sie wurde, desto mehr. Des-halb stehen sich heute gänzlich unvereinbare Thesen zu den Gründen für dasschwere Wahldebakel von 2005 sowie für die gegenwärtig miserablen Umfrageer-gebnisse völlig unverbunden gegenüber, und die CDU ist unfähig, ihre Lage inpräziseren gemeinsamen Begriffen und damit auch auf konstruktivere Weise zuanalysieren. Wo Akteure erst einmal dazu übergegangen sind, sich gegenseitig vorallem mit großformatigen Schlagwörtern in Schach zu halten – „christliches Men-schenbild“, „Sozialdemokratismus“, „Kapitalismus“, „Freiheit“, „ökonomistischeKälte“ –, da wird es ungeheuer schwer, eine neue und von allen geteilte Grund-lage zu erarbeiten.

Was der CDU als Gesamtpartei gegenwärtig so außerordentlich zu schaffenmacht, ist ihre Unfähigkeit, vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlichen

6 Corinna Emundts, Selbstdemontage. Der CDU gerät im Sommerloch die eigene Identität außer Kontrolle, kurz bevor sie darü-ber auf ihrem Grundsatzkongress diskutieren will, http://zeus.zeit.de/text/online/2006/32/Briefausberlin.

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[ tafelsilber und lebenslügen ]

und wirtschaftlicher Verhältnisse eine neue konzeptionelle Synthese zu entwickeln,die alle Strömungen der Partei integrieren könnte. Dabei ist es aus der Perspektivedes Wohls der Gesamtpartei ziemlich unerheblich, wer nun eigentlich „in derSache“ richtiger liegt: die marktfixierten Modernisierer, die Tafelsilberkonservativenoder die rheinischen Nostalgiker. Entscheidend ist, dass sie allesamt mit ihremjeweiligen Beharren auf einmal gewonnenen Überzeugungen eine evidenzbasierte,also an der Wirklichkeit ausgerichtete Weiterentwicklung der CDU verhindern.Ein Politiker wie Jörg Schönbohm etwa, der in einer weitgehend der Kirche ent-fremdeten Landstrich wie Brandenburg Jahr um Jahr mit derselben Melodie vom„christlichen Menschenbild“ aufwartet, sollte sich nicht ernstlich wundern, wennseiner Partei in dieser Region die Rolle einer „großen Volkspartei der Mitte“ dauer-haft versagt bleibt.

Eines immerhin ist Jörg Schönbohm oder auch den Gralshütern ordnungspoli-tischer Orthodoxie gewiss nicht vorzuwerfen: Prinzipienlosigkeit. Doch zwischenausgeprägter Prinzipientreue und elektoraler Erfolglosigkeit kann in der Politikein ziemlich direkter Zusammenhang bestehen – ein Zusammenhang, der seitdem Wahldebakel von 2005 und verstärkt im gegenwärtigen Umfragetief immermehr Christdemokraten (übrigens auch in Schönbohms Brandenburg) auffälltund erklärt, warum „das Soziale“, „Werte“ und Kapitalismuskritik in der CDUplötzlich wieder en vogue sind. „Das Lager derjenigen ist weitgehend verstummt,die sich für mehr Freiheit und weniger Steuern einsetzen. Früher wurde dazuauch Angela Merkel gezählt“, lamentiert bereits voller Verbitterung die Welt.7

Zurück in die siebziger Jahre?

Ganz so weit gekommen ist es zwar noch nicht, die verärgerten Reaktionen aufJürgen Rüttgers’ „Lebenslügen“-Interview im Stern haben es gezeigt. Es gibt siedurchaus noch, die knallharten Verfechter von „mehr Freiheit und weniger Steu-ern“ in der CDU. Richtig ist allerdings, dass es derzeit zunehmend auch diejeni-gen gibt, die wie Rüttgers „zum Verständnis des Grundsatzprogramms aus densiebziger Jahren zurückkehren“ wollen. Was es dagegen in der Union so gut wieüberhaupt nicht gibt, ist ein kluger und zeitgemäßer wirtschafts- und gesell-schaftspolitischer Diskurs für das 21. Jahrhundert. Solch ein Diskurs würde nichtauf das ebenso einfältige wie wahlpolitisch erfolglose Mantra „Mehr Freiheit undweniger Steuern“ setzen – aber er würde umgekehrt auch nicht die Wiederkehr

7 Margaret Heckel, Christsozialdemokratisch, in: Die Welt vom 3.8.2006.

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der vermeintlich heilen Welt des vergangenen Jahrhunderts beschwören. Schongar nicht würde er menschliche Freiheit vor allem als Ergebnis niedriger Steuernbetrachten, sondern sich stattdessen auf die Frage konzentrieren, welche Voraus-setzungen unter den heutigen Realbedingungen vorliegen müssen, damit mehrFreiheit für mehr Menschen überhaupt lebbar wird.

Es ist offensichtlich, dass dann heute unbedingt die Themen Lebenschancenund Humanvermögen in allen ihren Facetten auch auf einer zeitgemäßen christ-lich-demokratischen Tagesordnung ganz oben stehen müssten. Also etwa: gleicheund gute Bildungsmöglichkeiten für alle, Ganztagsschulen, Kindertagesstätten,hervorragende Hochschulen, Frühförderung und lebenslanges Lernen, Vereinbar-keit von Familie und Beruf, bessere Integration, auch die Anerkennung unter-schiedlichster Lebensformen. Dies sind allesamt Anliegen, deren Zeit unter Ge-sichtspunkten von Gerechtigkeit und Ökonomie zugleich gekommen ist, die aberin der CDU nirgendwo eine machtvolle Lobby besitzen – weder bei den marktfi-xierten Modernisierern noch bei den Tafelsilberkonservativen oder den rheini-schen Nostalgikern. Stattdessen hält man diese Dinge wahlweise für sozialdemo-kratisches Gedöns, für neumodisches Teufelszeug oder für Phänomene eines frei-heitsfeindlichen Etatismus.

Paradoxerweise führt dies im Ergebnis dazu, dass die CDU gerade auf demje-nigen Politikfeld, auf dem sie heute in der Bundesregierung eine angemessenemoderne Sozialpolitik betreibt, nämlich dem der Familienpolitik, nicht im Standeist, ein positives und emphatisches Verhältnis zur Arbeit der eigenen Ministerinzu entwickeln. Kaum etwas illustriert das Problem der Partei so prägnant wie derUmstand, dass Ursula von der Leyens Agieren in der Union gleichzeitig den einenhochgradig verdächtig ist und den anderen ziemlich egal. Richtig stolz auf dastatsächlich segensreiche Tun der eigenen Ministerin ist unter den Christdemokra-ten eigentlich niemand.

Rüttgers’ Lösung ist Teil des Problems

Was der CDU demnach heute fehlt, ist nach Jahrzehnten der ideenpolitischen Stagna-tion eine zugleich wertegestützte und realitätsbasierte eigene Modernisierungsidee. Dasgilt im Übrigen gerade auch für Jürgen Rüttgers und andere Christdemokraten, dieheute wie er beim beklommenen Blick auf klägliche Umfrageergebnisse die „Lebens-lügen“ der Ära Merkel zwischen Leipziger Parteitag 2003 und Bundestagswahl 2005beklagen. Einzuräumen ist durchaus, dass es in den vergangenen Jahren immer wiederJürgen Rüttgers gewesen ist, der seine Partei unter dem Motto „Ran an die Wirklich-

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keit“ dazu aufgefordert hat, veränderte gesellschaftlichen Rahmenbedingungen christ-demokratischer Politik zur Kenntnis zu nehmen. So akzeptiert Rüttgers inzwischenGesamt- und Ganztagsschulen ebenso wie die Homo-Ehe. Er sagt auch: „Eine Familiemit geringem Einkommen braucht Solidarität, um sich einen Rest von Freiheit be-wahren zu können“ – und kein progressiver Sozialdemokrat würde ihm hier wider-sprechen. Dennoch ist offensichtlich, dass jedenfalls von Jürgen Rüttgers keine ernstgemeinte und durchdachte, wirklichkeitsgesättigte und zeitgemäße Vorstellung vonChristdemokratie für das 21. Jahrhundert zu erwarten ist.

Jürgen Rüttgers findet, er jedenfalls habe sich „immer dafür eingesetzt, dass sozialeGerechtigkeit nicht hinten runterfällt“. Doch gute Absichten sind in der Politik niegenug. Auch in anderen deutschen Parteien sind keineswegs immer diejenigen diewirksamsten Vorkämpfer der sozialen Gerechtigkeit, die den Begriff am lautesten imMunde führen. Die eigentliche Frage ist deshalb, ob Rüttgers zeitgemäße Schlüsse ausseinen Bekenntnissen zu ziehen im Stande ist. Gut erinnerlich ist, dass er noch vorwenigen Jahren erste Ansätze zu einer zukunftsträchtigen Einwanderungspolitik fürDeutschland mit der Bemerkung „Kinder statt Inder“ kommentierte. Und noch imSommer 2006 war Jürgen Rüttgers mächtig stolz darauf, seiner Gattin nach 30 Ehe-jahren erstmals großzügig einen Geschirrspüler spendiert zu haben. Einem Christ-demokraten, der sich hinsichtlich seiner Orientierungen ausdrücklich auf das „Ver-ständnis des Grundsatzprogramms aus den siebziger Jahren“ beruft, kommen solcheSeltsamkeiten möglicherweise folgerichtig vor. Sie demonstrieren jedoch nochmals dra-stisch, dass eine zeitgemäße Gerechtigkeits- und Gesellschaftspolitik in der deutschenChristdemokratie heute weder Heimat noch energische Protagonisten besitzt.

Jürgen Rüttgers hat durchaus zu Recht auf „Lebenslügen“ seiner Partei hinge-wiesen. Zu diesen Lebenslügen gehört allerdings auch die Vorstellung, dass sichdie Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit Hilfe derDenkmuster und Vorstellungen des vorigen entdecken ließen – mittels eben jenenVorstellungen also, die viele der Schwierigkeiten der Gegenwart mit herbeigeführthaben. Für die CDU in ihrer tiefen Krise ist Rüttgers rheinische Nostalgie des-halb nicht Lösung, sondern Bestandteil des Problems. L

DR. TOBIAS DÜRR

ist Politikwissenschaftler und Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik.

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ÜBER SEINE ZEIT ALS SPD-VORSITZENDER UND DAS GRUNDSATZPROGRAMM SPRACHEN TOBIAS DÜRR UND THOMAS KRALINSKI MIT MATTHIAS PLATZECK

Wir leben in einerneuen Welt

Nach der fast verlorenen Bundestagswahlhaben Sie im November 2005 das Amtdes SPD-Vorsitzenden übernommen. ImRückblick nach fast einem Jahr: Warumhaben Sie sich das zugemutet?

Nach dem unerwarteten Rücktrittvon Franz Müntefering war die SPDin eine gefährliche Lage geraten. Wasdrohte, war ein Rückzug in die Oppo-sition – mit allen Risiken der Orien-tierungslosigkeit und der Selbstzerflei-schung, die solche Situationen mitsich bringen können. In dieser Kon-stellation wollte und musste ich Ver-antwortung übernehmen. Vor allemdafür, dass die SPD geschlossen in dieGroße Koalition einzieht. Im Rück-blick zeigt sich, dass diese Entschei-dung richtig war. Inzwischen kannjeder Tag für Tag erleben, dass diesozialdemokratischen Ministerinnenund Minister in der Bundesregierungdie stabilisierenden und konstruktivenFaktoren sind. Darum bin ich sehrfroh, dass es so gekommen ist. Ich binmir sehr sicher: Wären wir 2005 indie Opposition geraten, dann stünde

es heute erheblich weniger gut um diedeutsche Sozialdemokratie.

1989 war nicht vorherzusehen

War es allein der Wunsch, die SPD inder Großen Koalition zu stabilisieren,der Sie dazu veranlasst hat, den Partei-vorsitz zu übernehmen?

Nein. Es gab noch einen zweitenGrund, der mir genauso wichtig war –und weiterhin genauso wichtig ist.Nach meiner tiefen Überzeugungbraucht die SPD unbedingt ein neuesGrundsatzprogramm. Das alte Pro-gramm stammt aus dem Jahr 1989.Erdacht, entwickelt und geschriebenwurde es vor dem Fall der Mauer. Undzwar aus dem Erleben, aus den Kon-flikten und Erfahrungen der altenwestdeutschen Bundesrepublik heraus.Das ist überhaupt kein Vorwurf – eshätte ja gar nicht anders sein können.Aber die weitere Geschichte verliefdann eben radikal anders. Die Mauerfiel und unmittelbar darauf, im De-

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[ matthias platzeck ]

zember 1989, beschloss die SPD ihrlange geplantes Berliner Programm …

… als hätte sich überhaupt nichtsGrundlegendes verändert. War das imLichte der historischen Ereignisse nichtziemlich verrückt?

So hart würde ich es nicht formulie-ren. Die damals Handelnden und Den-kenden waren nun einmal mit demKaltem Krieg und der deutscher Tei-lung aufgewachsen, da fiel es natürlichschwer, sich das Ausmaß der bevorste-henden Umbrüche vorzustellen. Vieleswar ja im Dezember 1989 tatsächlichnoch nicht vorauszusehen, nicht ein-mal, dass schon im Jahr darauf diedeutsche Einheit möglich werden wür-de. Trotzdem ist im Rückblick klar,dass das beschlossene Berliner Pro-gramm nach der Wende in der DDRund in den anderen staatssozialistischenLändern hinten und vorne nichtreichte. Was oft so harmlos „Wende“heißt, war ja in Wirklichkeit weit mehr.

Eine ganz neue Welt ist entstanden

Nämlich?Das war eine ausgewachsene euro-

päische Revolution, die vieles anderemit ins Rollen brachte. In den andert-halb Jahrzehnten seither ist doch buch-stäblich eine ganz neue Welt entstan-den. Der Aufstieg von China, Indienund anderen asiatischen Staaten, die

gesamteuropäische Einigung, die offe-nen Grenzen, die internationale Wirt-schaftsintegration, die globalen Migrati-onsströme – das alles hätte es doch indieser Dynamik niemals geben können,wenn nicht der Kalte Krieg und dieglobale Systemkonkurrenz zwischenOst und West zu Ende gegangen wä-ren. Alle diese neuen Herausforderun-gen und Chancen der Gegenwart tau-chen im Berliner Programm schlichtnicht auf, weil dessen Autoren sie nochgar nicht kennen konnten. Nur als Bei-spiel: Wenn in der alten Bundesrepu-blik von Terrorismus die Rede war,dann ging es um Baader-Meinhof undum die RAF – heute verstehen wiranderes darunter. Oder: Im BerlinerProgramm steht der Satz „Wir wollenFrieden“, und natürlich hat sich darannichts geändert. Aber heute sind esnicht mehr die Atomarsenale und Pan-zerarmeen von zwei Supermächten, dieden Frieden bedrohen, sondern völligandere Kräfte. Ich sage es mit vollemErnst: Gegenüber dem Jahr 1988 lebenwir heute in einer neuen Welt, und dieVeränderungen gehen weiter. Und dar-auf müssen wir uns programmatischeinstellen, wenn wir wieder mehr Ein-fluss auf die Richtung des Wandelsbekommen wollen.

Dann hätte die SPD doch eigentlichviel früher damit anfangen müssen, ihrProgramm im Lichte der verändertenVerhältnisse zu erneuern?

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[ wir leben in einer neuen welt ]

Sicherlich. Aber das sagt sich natür-lich leichter, als es getan ist. EinGrundsatzprogramm hat ja denZweck, Orientierung für das zukünf-tige politische Handeln zu geben. Undzwar erst recht in unübersichtlichenZeiten – sonst bräuchte man ja keinProgramm. Aber andererseits ist eseben furchtbar schwierig, Grundlegen-des und Dauerhaftes über Verhältnissezu Papier zu bringen, wenn diese sichgerade sehr schnell verändern. Das warin den vergangenen anderthalb Jahr-zehnten der Fall, nicht nur bei uns,sondern weltweit. Diesen Widerspruchwird man auch nicht auflösen können:Der Wandel der Welt hört ja nichtauf, nur weil sich die deutschenSozialdemokraten gerne in aller Ruheein neues Programm geben wollen.Aber auf jeden Fall erklärt die unge-heure Dynamik der Verhältnisse zueinem guten Teil, warum sich die SPDso schwer damit getan hat, ihreProgrammarbeit zum Abschluss zubringen. Die Bemühungen dazu lau-fen ja mittlerweile seit sieben Jahren.Meine Position als Vorsitzender derSPD war vom ersten Tag an klipp undklar: Wir müssen diese Arbeit zumAbschluss bringen! Wir brauchen einErgebnis. Wir brauchen ein Pro-grammdokument, das unsere bleiben-den Grundwerte Freiheit, Gerech-tigkeit und Solidarität zu den neuenVerhältnissen in Beziehung setzt, weilwir überhaupt nur auf dieser Grund-

lage mit weiterem Wandel klarkom-men können.

Programm der mittlerenPerspektive

Anderswo in Europa waren die Sozial-demokraten mit dieser Einsicht aberschneller.

Ja. Und es hat mich auch geärgert,dass die Sozialdemokratien in Europa,in Großbritannien, in Schweden, inDänemark, den Niederlanden oder inSpanien, zügiger und weiter vorange-kommen waren als wir. Natürlich kannman zur Entschuldigung immer an-führen, mit der deutschen Einheit hät-ten wir noch viel mehr Veränderungenum die Ohren gehabt als unsere Nach-barn. Aber das ist letztlich keine über-zeugende Ausrede. Ich fürchte, inDeutschland und in der deutschen So-zialdemokratie haben wir immer so einbisschen das Bedürfnis, den ganz gro-ßen konzeptionellen Wurf hinbekom-men zu wollen – ein Programm dasalles erklärt, das nichts auslässt undmöglichst für die nächsten 100 JahreBestand hat. Ich habe, gelinde gesagt,meine Zweifel, ob es so funktionierenkann. Wenn man ein Grundsatzpro-gramm derartig überfrachtet und über-höht, dann lähmt man sich irgendwannselbst: Bevor man etwas Unvollständi-ges aufschreibt, lässt man es lieber ganz.Aber so ein Programm ist doch keinheiliger Text! Noch einmal: Sein Zweck

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[ matthias platzeck ]

besteht darin, politische Orientierungim Wandel zu geben. Dafür brauchtman sozusagen ein Programm der mitt-leren Perspektive.

Also kein Rundum-Sorglos-Paket? Das neue Programm muss sich auf

die wirklich wesentlichen Fragen be-schränken. Es geht um Ziele undWerte und nicht um einzelne Instru-mente. Mich hat beeindruckt, wieunsere niederländischen Freunde sichin ihrem neuen Programm konzen-triert und auf ein Dutzend Seiten be-schränkt haben. Wir reden schließlichüber ein Grundsatzprogramm zu denFragen der Zeit, nicht über einen Ge-setzentwurf.

Größere Lebenschancen fürmehr Menschen

Hat denn die SPD jetzt Antworten aufdie Fragen, die sich heute stellen?

Ja, wenn wir uns auf uns selbst be-sinnen. Die SPD ist nicht von unge-fähr die älteste Partei Deutschlands.Sie hat das Kaiserreich überdauert, dieWeimarer Republik getragen, den Na-tionalsozialismus überlebt, die Repu-blik von Bonn mit geprägt, und sie istauch heute in der Berliner Republikdie große Volkspartei der linken Mitte.Ohne innerlich auszutrocknen so altwerden – das konnte diese Partei nur,weil sich Sozialdemokraten politischund programmatisch immer wieder

auf neue Verhältnisse eingestellt ha-ben. Dass wir das können, haben wirschon häufig in unserer Geschichtebewiesen. Wenn wir heute für Men-schen eine bessere, eine lebenswerteund gerechte Zukunft schaffen wollen,müssen wir ihnen neue Perspektivenerschließen. In historischer Perspektiveist die Sozialdemokratie so etwas wieeine Befreiungsbewegung mit demeinen Ziel, größere Lebenschancen fürmehr Menschen zu erschließen. Men-schen zu stärken, damit sie ihr Lebenso leben können, wie sie es selbst wol-len – darum geht es. Die SPD warimmer dann am stärksten, wenn siesich als dynamische Fortschrittsparteibegriffen hat. Und deshalb werden wirneue Stärke nur dann gewinnen, wennwir neue Ideen dafür entwickeln, wieFortschritt, sozialer Aufstieg und Le-benschancen für alle unter den Bedin-gungen des 21. Jahrhunderts organi-siert werden können. Dann wird dieSPD wieder eine Partei mit Vorwärts-drang, dann wird sie interessant, inspi-rierend und spannend für neue Leute.Deshalb habe ich mich als Vorsitzen-der so intensiv für das neue Grund-satzprogramm eingesetzt.

Das Ergebnis dieser Bemühungen waren,kurz vor Ihrem Rücktritt, die „Leitsätzeauf dem Weg zu einem neuen Grund-satzprogramm“. Auf dieser Grundlageführt die SPD seither ihre programmati-sche Debatte.

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[ wir leben in einer neuen welt ]

Ich finde, in diesen Leitsätzen wirdder neue Offensivgeist erkennbar, denich mir für die deutsche Sozialdemo-kratie wünsche. Ich bleibe dabei: DieseErneuerung nach menschlichem Maßkann nur von Sozialdemokraten ausge-hen. Wir sind es, die diese Aufgabeüberall offensiv annehmen und schul-tern müssen, weil es sonst niemandgibt, der es tun wird. Wir sind es, diesich unerschrocken an die Spitze derErneuerung stellen müssen. Wenn wirdavor zurückschrecken und nur versu-chen, das Bestehende zu verteidigen,dann werden die Umbrüche diesesJahrhunderts ohne uns und gegen unsstattfinden – mit Folgen, die sich keineinziger Sozialdemokrat wünschenkann. Mir geht es darum, diese Grund-werte zu vereinen mit den schnellenwirtschaftlichen, sozialen und poli-tischen Veränderungen. Darum geht esin den Leitsätzen. Und deshalb findeich, dass sie eine gute Grundlage für dieweitere Arbeit am neuen Grundsatz-programm geschaffen haben.

Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik

Was soll denn im Mittelpunkt des neuenProgramms stehen?

Ein ganz zentraler Gedanke ist ausmeiner Sicht die Idee des vorsorgendenund aktivierenden Sozialstaats, derLebenschancen für Menschen schafft.Der Sozialstaat ist eine große histori-

sche Errungenschaft. Ich bin tief davonüberzeugt, dass wir ihn im 21. Jahr-hundert mehr als je zuvor brauchenwerden. Aber der tatsächlich bestehen-de Sozialstaat ist nicht gut genug. Inden Leitsätzen heißt es: „Wir wollenkeinen abgemagerten, sondern einenbesseren Sozialstaat.“ Deshalb müssenwir mehr als bislang in die Menschenund ihre Potenziale investieren. Heuteleistet der Sozialstaat vor allem „Nach-sorge“, wenn das Kind schon in denBrunnen gefallen ist. In Zukunft musses darum gehen, Krankheiten, Arbeits-losigkeit und Armut von Anfang an zuverhindern. Deshalb ist Bildungspolitikheute die wichtigste vorsorgende So-zial- und Arbeitsmarktpolitik über-haupt. Hier liegt dann auch der Zu-sammenhang zur wirtschaftlichenWertschöpfung – jede sozialstaatlicheUmverteilung muss schließlich ersteinmal ökonomisch erwirtschaftet wer-den. Wer in Bildung investiert, derstärkt die Menschen und schafft zu-gleich die Voraussetzungen für Wachs-tum und Wohlstand. Und nur das wie-derum ermöglicht es, in Bildung undMenschen zu investieren.

Sie haben einmal gesagt, Sie wünschtensich die SPD als „zupackende Partei“.Was meinen Sie? Hat die Sozialdemo-kratie Ihren Offensivgeist bereits verin-nerlicht?

Ich denke schon. Überall wo ichbin, werbe ich jedenfalls dafür. Gehol-

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[ matthias platzeck ]

fen hat im vergangenen Sommer auchJürgen Klinsmann. Es hat mich begei-stert, wie er und die Fußball-National-mannschaft uns gezeigt haben, dassman an sich glauben muss und immerin der Offensive spielen muss. Dashaben auch die letzten Zweifler ver-standen. Wer nicht an der Spitze der

Bewegung steht, muss sonst erleben,wie Veränderungen ohne uns oder gargegen uns stattfinden. Und dabei wür-den unsere Grundwerte schnell unterdie Räder kommen. Eines ist gewiss:Mit den Rezepten der Vergangenheitkönnen wir die Zukunft nicht gewin-nen. L

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.2005/06 war er Bundesvorsitzender der SPD.

Die Leitsätze für das neue SPD-Grundsatzprogramm veröffentlichte Perspektive 21 in Heft 30 (Mai 2006).

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EINE INTERVENTION AUS OSTDEUTSCHLAND ZUM NEUEN GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD VON GÜNTER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE |MICHAEL MÜLLER | VOLKER SCHLOTMANN UND CORNELIUS WEISS

Neues Miteinander

W ir streben einen Zustand des Frie-dens in Europa an, in dem das

deutsche Volk in freier Selbstbestim-mung seine Einheit findet.“ So heißt esim aktuell gültigen Grundsatzpro-gramm der SPD. Allein dieser Satzzeigt, dass das Berliner Programm einProgramm aus einer anderen Zeit ist.Die deutsche Einheit ist heute vollzo-gen, auf die neuen Herausforderungender sich seit 1989/ 90 schnell verän-dernden Welt hat das alte Grundsatz-programm jedoch kaum Antworten –wie auch, ist es doch noch vor der Wen-de in der DDR geschrieben worden.

Auf diese Wende können die Sozial-demokraten stolz sein. Die Gründungder Sozialdemokratie in der DDR warein wichtiger Baustein, um die Herr-schaft der SED zu brechen. Sozialde-mokraten haben an vorderster Stellegekämpft, damit Demokratie undFreiheit in der DDR möglich wurden.Und genau diese Wende in Ost-deutschland und Osteuropa war einwichtiger Grund dafür, dass wir heuteein neues Grundsatzprogramm schrei-ben.

I. Wir stehen für gleichwertigeLebensbedingungen in Ost und

West, Nord und Süd. In den vergange-nen Jahren hat sich in Deutschlandviel verändert. Besonders markant sinddie Veränderungen in Ostdeutschland.Wir haben viel geschafft. In den neun-ziger Jahren haben wir noch geglaubt,dass der Osten nach zehn, vielleicht15 Jahren auf einem Niveau mit demWesten sein könne.

Heute wissen wir, dass es noch viellänger dauern wird. Aber das Zielbleibt: Sozialdemokraten wollengleichwertige Lebensbedingungen inOst und West, genau wie in Nord undSüd. Das ist und bleibt das Ziel sozial-demokratischer Politik.

II. Das Grundsatzprogramm brauchtAussagen zur Deutschen Einheit.

Wir wissen auch, dass die sozialen undwirtschaftlichen Veränderungen in Ost-deutschland viele neue Chancen eröffnethaben, viele Menschen aber auch nichtmitgenommen wurden. Und es wirdimmer deutlicher, dass der demografi-sche Wandel unser Land in einer bis vor

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[ baaske | budde | matschie | müller | schlotmann | weiss ]

kurzem kaum vorstellbaren Weise verän-dert hat und weiter verändern wird.

Auf diese Veränderungen brauchenwir neue Antworten. Neue Antwortenauf der Basis unserer Grundwerte. DieseGrundwerte – Solidarität, Freiheit undGerechtigkeit – sind auch heute nochrichtig und gerade in Ostdeutschlandbesonders tief verankert. Unsere Grund-werte sind und bleiben die Basis unserespolitischen Handelns.

Gleichwohl müssen wir unsere Ant-worten, die wir auf die veränderte gesell-schaftliche Situation in Ostdeutschlandhaben, neu definieren. Und genau des-halb braucht das neue Grundsatzpro-gramm der SPD auch Aussagen zur wei-teren Gestaltung der deutschen Einheit.

III. Der „vorsorgende Sozialstaat“ist das zentrale Konzept, um

Regionen nicht abzuhängen. Die ost-deutschen Bundesländer haben in denvergangenen Jahren im Durchschnitt 10Prozent ihrer Einwohner verloren, inden kommenden fünfzehn Jahren wer-den es noch einmal so viele sein. Eswaren vor allem junge gut ausgebildeteMenschen, die aus den neuen Ländernfortgezogen sind, parallel dazu sank dieGeburtenrate um die Hälfte. Gleichzei-tig haben sich aber auch Entwicklungs-inseln herausgebildet – Berlin und seinUmland, Dresden, Rostock, Leipzig-Halle oder die Thüringer Städtekette.Die kommenden Jahre und Jahrzehntewerden deshalb auf der einen Seite von

einer schrumpfenden und alterndenGesellschaft gekennzeichnet sein – wäh-rend auf der anderen Seite Zukunfts-regionen entstehen, die es zweifellos mitden Kraftzentren in Ost- und Westeu-ropa aufnehmen können.

Das stellt die Politik, zumal die derSPD, vor große Herausforderungen.Wie wird es uns gelingen, trotz dieserdivergierenden Entwicklung, Lebens-chancen für alle zu ermöglichen? Wiewerden wir es schaffen, in schrumpfen-den Gesellschaften Zufriedenheit undZusammenhalt zu erhalten?

Zu viele Gedanken machen wir unsnoch darüber, wie wir Probleme derVergangenheit lösen. Entscheidend aberwird sein, welches die Herausforderun-gen der Zukunft sind – und vor allem:Wie wir sie lösen wollen. Das zentraleKonzept wird ein vorsorgender Staat, ein„vorsorgender Sozialstaat“ sein – der inMenschen, in Familien und Bildung in-vestiert. Dieses Konzept muss im Mittel-punkt des neuen Grundsatzprogrammsstehen.

IV. Stärken stärken und auf Eigen-initiative und Kreativität der

Menschen setzen. Speziell für Ost-deutschland werden wir uns daraufkonzentrieren müssen, Stärken zu stär-ken und auf dezentrale Lösungen, Ei-geninitiative und Kreativität der Men-schen zu setzen. Sozialdemokratenmüssen Menschen ermutigen, ihrSchicksal in die eigene Hand zu neh-

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[ neues miteinander ]

men. Langzeitarbeitslosigkeit und Ver-unsicherung über die zunehmend wis-sensintensive Wirtschaft haben vorallem dem Staat und der Politik vielVertrauen gekostet. Verloren gegangensind dabei Mut und Elan und Teilhabeam gesellschaftlichen Leben.

Deshalb brauchen wir eine Politikder sozialen Aktivierung, um Menschenin die Gesellschaft zu integrieren, sieam Leben teilhaben zu lassen, ihnendas Gefühl zu geben, dabei zu sein.Und auf der anderen Seite geht es umeine Debatte, wie wir eine moderneinnovative Wirtschaft nach „menschli-chem Maß“ gestalten können.

Abwanderung junger Menschen,Rückgang der Bevölkerung und Al-terung ganzer Regionen sind bisweilenschmerzhafte Prozesse. Der schnelledemografische Wandel ist in Ostdeutsch-land Realität – und zwar so stark wienirgendwo in Europa. Dennoch: Wirgeben keine Region auf. Wir wollenMenschen vor Ort unterstützen, ihreHeimat weiter lebenswert zu gestalten.Aktives bürgerschaftliches Engagementträgt dazu bei. Ein gutes Beispiel dafürsind die Bürgerbusse, die Mobilität auchin dünn besiedelten Gegenden ermögli-chen, die abseits der großen Verkehrs-achsen liegen.

V. Gleiche Lebenschancen überall –durch eine neue Kultur der Bil-

dung. Nicht alle Regionen haben im glo-balen Wettbewerb die gleichen Chancen.

Aber alle Menschen – unabhängig vonihrem Wohnort – sollen die gleichenLebenschancen haben. Entscheidenddafür ist eine umfassende und neue Kul-tur der Bildung. Ostdeutschland wirdauf Dauer nur eine Chance haben, wennes sich als lernende Region begreift. Des-halb brauchen wir qualitativ gute Kitas,hervorragende Schulen und leistungsfä-hige Hochschulen. Dort wird derGrundstein gelegt für Lebenschancenvon Kindern.

Neben guter Bildung muss eineaktive und aktivierende Familienpoli-tik stehen. Beide müssen eng ineinan-der greifen. Familien sollen frühzeitigunterstützt werden, Probleme rechtzei-tig behoben werden. Kein Kind darfzurück bleiben. Dies muss das Zieleiner Politik sein, die Familien stärktund Kindern eine optimale Entwick-lung ermöglicht. Aufstieg darf nichtvon der sozialen oder regionalen Her-kunft abhängig sein. Die Sozialdemo-kratie muss gerade in Ostdeutschland– mit seinem hohen Anteil an Fami-lien mit Langzeitarbeitslosigkeit – ihraltes Aufstiegsversprechen erneuernund erfüllen.

VI. Bildungs-, Familien- undWirtschaftspolitik müssen wie

ein Rad ins Andere greifen. Klar ist: Bil-dung und Familie sind längst keine„weichen“ Themen mehr. Die angeb-lich „harten“ Fragen von Wirtschaft,Arbeit und Finanzen hängen immer

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[ baaske | budde | matschie | müller | schlotmann | weiss ]

mehr von dem ab, was Menschen kön-nen und wissen. Und genau so klar ist,dass wir deshalb ganz intensiv in Men-schen investieren müssen, damit es inunseren Ländern in Zukunft Arbeit,Wachstum und Wohlstand gebenkann. So werden sich Bildungs-, Fami-lien- und Wirtschaftpolitik wechselsei-tig ergänzen und befruchten. Und sowerden sich in Zukunft auch mehrMenschen entscheiden, Kinder zu be-kommen.

VII. Solide Haushalte, die inKöpfe investieren. Wir brau-

chen ein hohes Maß an öffentlichenInvestitionen – aber intelligent müssensie sein. Wir sprechen uns deshalbauch dafür aus, öffentliche Investitio-nen in Zukunft danach zu beurteilen,ob sie tatsächlich wachstumsrelevantund nachhaltig sind – und dazu ge-hört für uns vor allem Bildung, Wis-senschaft und Technologie. Der heutenoch verwendete Investitionsbegriffstammt aus dem letzten Jahrhundert.Dabei ist heute jedem klar: Nicht jedeStraße führt in die Zukunft. Zu ofthaben wir in der Vergangenheit man-ches Problem dadurch gelöst, indemnoch ein Förderprogramm aufgelegtwurde, indem schlicht mehr Geld zurVerfügung gestellt wurde. Diese Stra-tegie ist auf absehbare Zeit vorbei. DieHaushalte der neuen Länder werdenzum Beispiel in den nächsten zehnJahren um etwa ein Viertel schrump-

fen. Deshalb ist eine neue Strategie derZukunftsvorsorge nötig.

Jeder weiß, dass Wirtschaftswachs-tum heute vor allem darauf basiert,dass unser Humanvermögen wächst.Und genau dies muss ein modernerInvestitionsbegriff berücksichtigen.Gerade in Ostdeutschland müssen wirdie knapper werdenden Mittel inZukunft nachhaltig einsetzen. Dafürsind auch ausgeglichene Landeshaus-halte wichtig. Deshalb werden wir imOsten alles daran setzen, schnellstmög-lich ohne Neuverschuldung auszu-kommen. So wollen wir die Belastungkünftiger Generationen verringernund Raum für zukünftige Investitio-nen schaffen: Investitionen in bessereBildung, in bessere Hochschulen, inbessere Kinderbetreuung.

VIII. Sozialdemokratie steht füreine Politik der Ermuti-

gung. Uns Sozialdemokraten geht es umErmutigung, damit die Erneuerung auseigener Kraft gelingen kann. Entschei-dend ist dabei das Miteinander. Wirkönnen es uns nicht leisten, das Poten-tial von Menschen und ganzen Regio-nen ungenutzt zu lassen. Das ist unserpolitischer Maßstab – und das muss derMaßstab der Sozialdemokratie sein.

Wir können versprechen: Die Ost-deutschen werden in den kommendenJahren alles tun, was sie können, umihre Heimat mit eigenen Kräften zugestalten und zu entwickeln. Dafür

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43perspektive21

[ neues miteinander ]

jedoch braucht es Voraussetzungen.Diese Voraussetzungen sind mit demSolidarpakt umrissen – und daraufmüssen wir uns verlassen können. Nurmit Hilfe der Solidarität der starken

Bundesländer wird sich Ostdeutsch-land dauerhaft erneuern können –und davon werden am Schluss alleprofitieren. Die SPD muss ein Garantdafür sein. L

DIE AUTOREN

sind die Fraktionsvorsitzenden der SPD in den Landtagen von Brandenburg,Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.

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DAS MODELL DEUTSCHLAND MUSS ZUM POLITISCHEN RAUM EUROPA ENTWICKELT WERDEN VON HUBERTUS SCHMOLDT UND ULRICH FREESE

Flexibilität brauchtSicherheit

D ie Arbeit der SPD an einem neuenGrundsatzprogramm ist unver-

zichtbar. Wer die gesellschaftlichen Um-brüche in Deutschland, Europa und imglobalen Rahmen begleiten und mitge-stalten will, muss sie in zeitgemäße Be-griffe fassen. Eine zeitgemäße Bestim-mung der Grundwerte Freiheit, Gerech-tigkeit und Solidarität könnte die ge-meinsamen Wurzeln von Sozialdemo-kratie und Gewerkschaften stärken.

Wir befinden uns auf dem Weg ineine Wissens- und Dienstleistungsge-sellschaft, die auf dem Fundament einerstarken und innovativen Industrie ste-hen wird. Damit verbunden sind neueHerausforderungen, die wir nicht mehrmit den Mitteln der Industriegesell-schaft angehen können. Doch nichtalles muss über Bord geworfen werden.Für den Übergang in die industrielleWissensgesellschaft sollten wir das Ge-staltungspotenzial und die Erfahrungenvon Arbeitgebern, Gewerkschaften undBetriebsräten in Deutschland nutzen,um Wohlstand, Beschäftigung und so-ziale Gerechtigkeit zu erhalten.

Die soziale Marktwirtschaft als einzentrales Element des Modells Deutsch-land muss das Ziel haben, den Wohl-stand zu sichern und eine wachsendeZahl von Menschen daran zu beteiligen.Günter Verheugen hat völlig Recht:„Die Schlüsselfrage für die Zukunftunserer Industrien ist die Fähigkeit zurInnovation.“ Ins Zentrum der Wirt-schaftspolitik gehören deshalb Innova-tionen in der Industrie und im Dienst-leistungssektor.

Unterstützung für die grüne Gentechnik

Viele innovative Produkte und Dienst-leistungen können das Leben einfacherund angenehmer machen. Innovatio-nen brauchen aber eine gegenüberNeuerungen aufgeschlossene Gesell-schaft. Wir könnten im Bereich Bio-und Gentechnologie weltweit Schritt-macher sein. Unser Gentechnikgesetzwird jedoch bis heute dem Anspruchnicht gerecht, Innovationen zu fördern.Und dass, obwohl Verbraucher neueren

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[ hubertus schmoldt | ulr ich freese ]

Umfragen zufolge gentechnisch verän-derte Lebensmittel nicht mehrgrundsätzlich ablehnen.

Gewiss, über die Skepsis der Bürgerkann man sich nicht einfach hinweg-setzen. Aber widerspruchslos solltenwir die Vorbehalte gegen basistechno-logische Entwicklungen nicht hinneh-men. Wenn wir verantwortungsvollhandeln, können wir die Chancen derBio- und Gentechnologie nutzen. Diejetzige Bundesregierung, aber auchjede weitere, muss die grüne Gentech-nik stärker unterstützen.

Offensive fürBildung

In der industriellen Wissensgesellschaftwerden Bildung und Qualifikationenwichtiger. Eine Politik der Innovationenmuss von angemessenen Investitionenin Bildung, Forschung und Infrastruk-tur begleitet werden, doch davon sindwir gegenwärtig noch ein gutes Stückentfernt. Wir brauchen eine Offensivefür Bildung auf der Grundlage einesumfassenden Bildungsverständnisses.

Die Menschen sollen nicht nur diegrundlegenden Kulturtechniken be-herrschen, sondern auch selbständigmit kritischen Situationen umgehenkönnen. Das wäre ein Schritt zu mehrFreiheit. Zu den Kernkompetenzenzählt zudem, zum gemeinsamen Han-deln fähig zu sein. Damit Freiheit undSolidarität nicht zu einem Privileg wer-

den, muss es sozial gerechte Bildungs-zugänge geben.

Selbstverständlich muss diese Bil-dungsoffensive finanzierbar sein. Des-halb müssen wir über eine neue „Fi-nanzarchitektur des Sozialstaates“nachdenken. Möglich wäre es zudem,den Bürgerstatus gegenüber dem Erwerbsstatus aufzuwerten. Dieser Gedanke muss durch überzeugendeoperative Lösungen noch an Überzeu-gungskraft gewinnen.

Kein Fortschritt ohne Stromversorgung

Die Grundlage des gesellschaftlichenFortschritts in unserem Land ist einesichere Stromversorgung. Besonders diegeopolitische Dimension der Energiepo-litik wurde lange unterschätzt. Diedeutsche Gesellschaft muss sich über dieSicherung ihrer Energiegrundlagenmehr Klarheit verschaffen.

Die Versorgungssicherheit muss derStaat gewährleisten, wir dürfen dieseAufgabe nicht den Märkten überlas-sen. Weil für die SPD der Ausstieg ausder Atomkraft derzeit unverzichtbarist, denkt sie über einen „neuen Ener-giemix“ aus Energieeinsparung, Ener-gieeffizienz, der intelligenten Nutzungvon Kohle und Gas und ErneuerbarenEnergien nach. Jedoch hat der G8-Gipfel in Sankt Petersburg gezeigt,dass ein internationaler Konsens füreinen Atomausstieg in Frage gestellt

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[ vom modell deutschland ]

ist. Deshalb wäre es klug, sich dieOption für eine Fortentwicklung derKernkrafttechnologie offen zu halten.

Soziale Sicherheit zu garantieren istzu einer wachsenden politischen Her-ausforderung geworden. Wirtschaft-liches Wachstum führt nicht mehr au-tomatisch zu einem hohen Beschäf-tigungsstand und zu Beschäftigungssi-cherheit. Auch der Staat kann keineabsoluten Sicherheiten bieten. DieGewerkschaften können einen Beitragdazu leisten, wenn sie mit Hilfe einermodernen Tarifpolitik Standorte siche-rer machen und durch die betrieblicheWeiterbildung Arbeitnehmer in dieLage versetzen, wachsende Arbeitsanfor-derungen besser zu erfüllen.

Deshalb ist es durchaus diskussions-würdig, wenn ein „vorsorgender Sozial-staat“ stärker als bisher soziale Risikenwie Arbeitslosigkeit, Bildungsmängelund Krankheiten schon in ihrer Entste-hung vereiteln will, indem er dieHandlungsmöglichkeiten der Men-schen stärkt und ihre Mithilfe fördert.

Flexibilität braucht Sicherheit

Dabei müssen mehrere Klippen um-schifft werden. So dürfen die Risikennicht einseitig zu Lasten der Arbeitneh-mer gehen. Wer mehr Flexibilität ver-langt, muss neue Sicherheiten bieten.Ein Aufweichen des Kündigungsschut-zes steht allerdings im krassen Wider-

spruch zu diesem Ansatz. Zudem müs-sen wir weiterhin schnelle, effektive Hil-fe in Notlagen ermöglichen. Menschenwerden immer in kritische Situationengeraten, die sich durch Prävention nichtvermeiden lassen.

Die Vorsorge und die Unterstüt-zung in Notlagen müssen einanderergänzen. Dabei verlangt das Vorsorge-prinzip in der Praxis klare Verhaltens-normen. Wer beispielsweise das le-benslange Lernen propagiert, wecktdamit Erwartungen an eine dauerhafteWeiterqualifizierung für alle. SolcheMaßnahmen dürfen aber nicht zueinem sozialen Abstieg derjenigenführen, die zu den Risikogruppen aufdem Arbeitsmarkt gehören.

Europäische Projekte mit klarem Nutzen

Wir müssen Europa zu einem politi-schen Raum ausgestalten. Die anhalten-de Stagnation im europäischen Verfas-sungsprozess zeigt allerdings, dass es hierviele Hürden gibt. Einige Erfahrungenkönnten weiterhelfen, die nicht aus demBereich der Europapolitik im engerenSinne stammen. So haben die Tarifpar-teien eine Europäische Bildungspolitikauf den Weg gebracht: Die EuropäischeFöderation der Bergbau-, Chemie- undEnergiegewerkschaften (EMCEF) hatsich im Jahr 2004 mit dem Chemiear-beitgeberverband (ECEG) auf eine ge-meinsame Initiative für Bildung, berufli-

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[ hubertus schmoldt | ulr ich freese ]

che Ausbildung und lebenslanges Lernenverständigt.

Ein weiteres Beispiel ist die nationaleTask Force „Pharma“. Sie hat beschrie-ben, warum eine Strukturreform imGesundheitswesen und der Ausbau dermedizinischen und pharmakologischenSpitzenforschung notwendig sind. DieseInitiative könnte zum Ausgangspunkteiner europäischen Pharmapolitik wer-den – mit dem Ziel, die europäische

Pharmaindustrie im Wettbewerb mitder leistungsstarken amerikanischenPharmaindustrie zu unterstützen.

Die Europäisierung braucht solcheProjekte, die einen klaren politischenNutzen haben. Industriepolitik mussnational fundiert sein und dann eu-ropäisch erweitert werden. Dies kannübrigens auch dazu beitragen, Euro-paskeptiker vom Gegenteil zu über-zeugen. L

HUBERTUS SCHMOLDT

ist Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie IG BCE.

ULRICH FREESE

ist stellvertretender Vorsitzender der IG BCE. Von 1994 bis 2004 war erLandtagsabgeordneter der SPD in Brandenburg.

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DAS NEUE PROGRAMM ALS AUSGLEICH ZWISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT UND UNTERNEHMEN VON GESINE SCHWAN

Freiheit, Gleichheitund Solidarität

I. In Deutschland herrscht nach wievor keine Aufbruchstimmung. Der

Kern dieser gegenwärtigen Haltung, dieviele Menschen zwischen Protest undResignation schwanken lässt, liegt inder tiefen Verunsicherung der europäi-schen Gesellschaften durch die Her-ausforderungen der globalisierten Wirt-schaft. Sie geht mit einer Vertrauens-krise gegenüber den jeweiligen Elitenund insbesondere den politischenFührungen einher. Die Menschen sindenttäuscht, weil sie keinen langfristigenAusweg aus der Krise erkennen könnenund die Machtlosigkeit der Politik ge-genüber den ökonomischen Prozessenspüren.

In den meisten europäischen Staa-ten herrscht eine hohe Arbeitslosig-keit, die ganz wesentlich auf ein zu ge-ringes Wirtschaftswachstum und einezu geringe Binnennachfrage zurückzu-führen ist. Hinzu kommen – ebenfallsim Zusammenhang mit der ökonomi-schen Globalisierung – verstärkte Ar-beitsmigrationen, die die Verunsiche-rung steigern. Damit wachsen soziale

Konfliktherde, deren Befriedung durchwachsenden Wohlstand gegenwärtignicht in Sicht ist. So droht ein Nega-tivzirkel zu entstehen, der die natio-nalstaatlichen Demokratien ebensowie die Europäische Union in ihrerSubstanz gefährdet.

Politik derkleinen Schritte

Die so kurz skizzierte Situation enthältAnalogien zur Zeit der Entstehung derSozialdemokratie im 19. Jahrhundert.Die rasante Entwicklung der kapitalis-tischen Wirtschaft hat damals sozialeMissstände und Krisen, zum Beispieldie große Depression in den siebzigerJahren des 19. Jahrhunderts, im Ge-folge gehabt, auf die die Arbeiter undHandwerker mit Protest und mit kon-struktiven Gegenprogrammen reagierthaben. In der Folge gab es innerhalbder Sozialdemokratie Jahrzehnte langeinen Streit darüber, wie man die re-formistische Politik der kleinen Schrit-te mit der grundsätzlichen Kritik am

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[ gesine schwan ]

Kapitalismus vereinbaren könnte. Einerheblicher Teil der Sozialdemokratie,auch außerhalb Deutschlands, glaubtenicht an die Möglichkeit, unter demDach des demokratischen Staates einesoziale Demokratie herstellen zu kön-nen, welche die scharfen sozialenGegensätze einer ungeregelten kapita-listischen Wirtschaft zugunsten vonAusgleich und demokratischerTeilhabe aller Bürger dauerhaft über-winden könnte. Dass dies in der Tatbis zur Mitte des 20. Jahrhundertsnicht gelungen ist, hat Deutschland,Europa und die Welt in eine Katastro-phe mit Millionen von Toten gestürzt.

Versöhnung mit der sozialenMarktwirtschaft

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dieWelt daraus Lehren gezogen. Eine derwichtigsten ist der Zusammenschlussder europäischen Staaten. Eine weitereLehre ist das von der Sozialdemokratieim Jahre 1959 verabschiedete Godes-berger Programm, das zum ersten Malin ihrer Geschichte eindeutig auf dieFähigkeit des demokratischen Staatessetzte, die wirtschaftliche Dynamikdes Kapitalismus zu nutzen und diesozialen Schäden in seinem Gefolgedurch die „soziale Marktwirtschaft“auszugleichen. Diese Politik hat derSozialdemokratie eine hohe Zustim-mung eingebracht und die unterenSchichten der Gesellschaft über Ar-

beits- und Mitbestimmungsgesetze zugleichberechtigten Bürgern des demo-kratischen Staates gewandelt. Damitwuchs auf der Grundlage eines wach-senden Wohlstands ein verantwortli-cher Grundkonsens heran, der in Be-griffen wie „Sozialpartnerschaft“ oder„antagonistische Kooperation“ seinenAusdruck fand. Der systematischeRahmen dieser Politik war der Natio-nalstaat, in Deutschland die westdeut-sche Bundesrepublik.

Der nationale Rahmenist verloren gegangen

Der Globalisierungsschub nach 1989hat dieses komplizierte Politikmodellnach und nach aus den Angeln geho-ben. Nach dem Ende der Systemkon-kurrenz und infolge der gleichzeitigentechnologischen Globalisierung gingdie nationalstaatliche Demokratie alsgemeinsamer normativer Bezugspunktund legitimer Handlungsrahmen ver-loren. Das Ende der Sowjetunionmachte auch dem Appell an die ge-meinsame politische und sozial stabili-sierte Freiheit in der Demokratie einEnde. Stattdessen wurden die politi-sche Freiheit und ihre Verankerung inder Würde aller Menschen mehr undmehr auf die wirtschaftliche Hand-lungsfreiheit, insbesondere der Kapi-taleigentümer eingeschränkt. Auch dasZiel der sozialen Marktwirtschaft tratin den Hintergrund.

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[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

Das Modell der „sozialen Markt-wirtschaft“, das den Wettbewerbdurch politische Regeln sichern, Kon-junkturkrisen einebnen und unsozialeAuswüchse des Marktes eindämmensoll, verlor aber auch deshalb an Bo-den, weil es in seiner nationalstaatli-chen Grundlegung gegenüber der glo-balen Marktwirtschaft nicht mehrohne weiteres „greift“. An seine Stelleist zunehmend ein Denken getreten,das den ungeregelten, den „entfessel-ten“ Markt als Modell für eine gelin-gende Wirtschaft propagiert und staat-liche Regelungen grundsätzlich alsStörfaktoren betrachtet.

II. Wenn die Sozialdemokratie überein neues Grundsatzprogramm

diskutiert, muss sie diese drei Faktoren– den Machtverlust des Nationalstaates,die wirtschaftliche Globalisierung undden Siegeszug einer neoliberalen Ideo-logie – zum Ausgangspunkt ihrer De-batte machen. Gefragt ist tatsächlichein neues Godesberg in dem Sinne,dass in der Analyse das Verhältnis vonwirtschaftlicher Marktdynamik, indivi-dueller Freiheit und sozialer Gerechtig-keit in der globalisierten Welt in eineneue Balance gebracht werden muss.

Die historisch angelegte Grundfrageder Sozialdemokratie war: Wie könnendie sozialen Gegensätze und Unge-rechtigkeiten der sich entwickelndenkapitalistischen Industriegesellschaftüberwunden werden, so dass alle Men-

schen ein freies, sinnvolles Leben füh-ren können, eines, das sie in Solidari-tät, also als gemeinschaftlich lebendeund verantwortliche Personen führen?Diese Frage hat die Sozialdemokratieim Lauf der Zeit immer wieder neuund anders beantwortet. An derGrundfrage allerdings hat sich nichtviel geändert.

Spannungsverhältnissewerden immer bleiben

Wir sind mit dem Widerspruch kon-frontiert, dass die Wirtschaft aus ihrerLogik heraus den Menschen nur als Pro-duktionsfaktor, als Mittel zum Zweckbegreift, während die Politik den Men-schen als Selbstzweck begreifen muss,um seiner selbst willen für ihn Politikmachen muss. Wenn dieses Spannungs-verhältnis, wie im Moment bei sehr vie-len Neoliberalen, zugunsten einer reinenInstrumentalisierung der Menschen auf-gelöst wird mit dem Scheinargument,das sei einfach wegen irgendwelcherSachzwänge nötig, damit die Wirtschaftfloriert, dann müssen wir Sozialdemo-kraten wissen, dass es gerade dieses Span-nungsverhältnis immer geben wird. Undwir lassen uns nicht darauf ein, deneinen Pol einfach wegzudiskutieren unddem anderen Pol die Herrschaft zu über-lassen. Wenn wir das klar aussprechenund diskutieren, haben wir eine breiteMehrheit der Gesellschaft hinter uns.Denn niemand will im Ernst der Öko-

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[ gesine schwan ]

nomie wirklich die alleinige Gestaltungs-macht überlassen.

Ich denke, dass es in der momenta-nen Situation darauf ankommt, denAusgangspunkt unserer Programmatikvon dem folgenden Punkt aus zu be-stimmen: Sozialdemokraten kommt esauf jede einzelne Person an, auf jedeneinzelnen Menschen, nicht nur aufsoziale Gruppen, nicht auf besondereSchichten, sondern auf jeden einzel-nen Menschen, und zwar so wie er imlokalen, regionalen, nationalen, euro-päischen und globalen Zusammen-hang steht und lebt. Natürlich könnenwir nicht für jeden Menschen in Afri-ka sorgen, aber dass das einzelne Indi-viduum und sein Schicksal für unswichtig sind und uns bewegt, ist trotz-dem gültig. Dies sollte unser Fokussein und das auf allen Ebenen, wo Po-litik gemacht wird. Damit ist zugleichklar, dass sozialdemokratische Politiknicht irgendwo anfängt und dannplötzlich endet, sondern das es – impositiven Sinne – um eine Sisyphus-Arbeit geht: Der Stein muss immererneut den Berg hinaufgerollt werden.

III. In diesem Sinne sind die vonMatthias Platzeck, Kurt Beck

und Hubertus Heil vorgelegten Leitli-nien unter dem Titel „Kraft der Erneu-erung“ eine gute und hilfreiche Grund-lage für die kommende Programmar-beit. Sie stellen das angestrebte neueProgramm in einen klaren Zusammen-

hang zu den vorangegangenen, wobeidas Godesberger Programm mit seinemÜbergang von der Arbeiter- zur Volks-partei und seinem klaren Bekenntniszum demokratischen Staat die entschei-dende Zäsur im Vergleich zu allen an-deren sozialdemokratischen Grundsatz-programmen brachte. Der Bestimmungder Herausforderungen, denen wir unsstellen müssen, schließe ich mich auchim wesentlichen an. Ebenso den Leitli-nien, vor allem dem Prinzip der Inklu-sion, das heißt dem Grundsatz, Men-schen oder Kontrahenten nicht vonvornherein oder achtlos auszugrenzen,sondern, wo immer möglich, mit ihnendie Probleme gemeinsam zu lösen.

Im Zentrum der bislang vorliegen-den Leitlinien stehen drei politischeProjekte. Es geht J darum, die Globalisierung zu ge-

stalten und zugleich Europa poli-tisch zu stärken und sozial weiterzu-entwickeln,

J um das Ziel, die soziale Marktwirt-schaft weltweit zu erneuern, und

J darum, einen vorsorgenden Sozial-staat aufzubauen.

Diese Schwerpunkte scheinen mirrichtig gesetzt. Einzig der Begriff des„vorsorgenden Sozialstaats“ klingt fürmich noch etwas schwammig, be-schreibt aber, worum es gehen muss:Von der nachträglichen Korrektur vonSchieflagen müssen wir zur Vorbeu-gung insbesondere durch Bildung

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[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

kommen. In einer immer unübersicht-licheren Welt müssen die Menschensich so weit wie möglich instand set-zen können, ihr Leben eigenständigund zusammen mit den Mitbürgern indie Hand zu nehmen.

Der Sozialstaat nur begrenzthandlungsfähig

Allerdings suggeriert das Festhalten amBegriff des „Sozialstaats“, dass Aktivie-rung und Sicherung der Menschenweiterhin vom Nationalstaat ausgehenkönnten. Das ist wegen der globali-sierten ökonomischen Rahmenbedin-gungen nur noch sehr begrenzt derFall. Zwar fordern die Leitsätze zuRecht „die umfassende Hinwendungzur europäischen Dimension der Poli-tikgestaltung“. Das überschreitet geo-grafisch schon den Nationalstaat. Fürdie Gestaltung der ökonomischenGlobalisierung und die Regelung vonfairem weltweitem Wettbewerb aberbleiben die in den Leitsätzen genann-ten Akteure unzureichend und inihrem Zusammenspiel unprofiliert. Ichplädiere ausdrücklich dafür, in Zu-kunft neben den – weiterhin unver-zichtbaren – traditionell legitimiertenpolitischen Akteuren die Unterneh-men und die organisierte Zivilgesell-schaft als Mitgestalter einzubeziehen.Das gilt von der globalen bis zur kom-munalen Ebene: Wenn Umweltstan-dards in der Wirtschaft ausgehandelt

und dann auch kontrolliert werdensollen, brauchen wir die Kompetenz,die Verantwortungsbereitschaft unddie Fantasie von Gewerkschaften, Um-weltverbänden, Unternehmen undParteien, um zu einem nachhaltigenErgebnis zu kommen.

Die Unternehmen müssen ange-sichts ihrer oft weltweiten Macht überihre legitime betriebswirtschaftlicheSicht hinaus unbeirrt auf ihre „Bür-gerverantwortung“ hin angesprochenund in die Pflicht genommen werden.Und die zivilgesellschaftlichen Zusam-menschlüsse sollten von der SPDnicht nur als ehrenamtliche Helfer, dieGutes tun, in den Blick genommenwerden, sondern auch als organisiertePartner, deren Sachverstand und Enga-gement notwendig, um die politischeWillensbildung voranzubringen.

Regieren durchInklusion

Dabei kann es zu Konflikten kommenund dafür muss sich auch die organi-sierte Zivilgesellschaft noch weiter qua-lifizieren: zum Beispiel durch Transpa-renz ihrer Ziele und Finanzierungenund durch den Abgleich ihrer Vorha-ben mit anderen gesellschaftlichen In-teressen. Deshalb müssen die letztenDebatten und Entscheidungen im Par-lament bleiben.

Aber: Die SPD sollte mutig zukünf-tige sozialdemokratische Politik als

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[ gesine schwan ]

good governance genauer entwerfenund praktizieren. Sie wäre dann aufder Höhe der diesbezüglichen wissen-schaftlichen Diskussion und hätte dieChance, Zugang zu einem riesigen Po-tenzial politisch engagierter Menschenweltweit zu finden, deren intelligenterTeil längst eingesehen hat, dass es um-gekehrt ohne Parteien und legitimeParlamente und Regierungen nichtgeht. Das verlangt von vielen in derPartei und in den Gewerkschafteneinen neuen – offenen und zugleichkritischen – Blick auf ihre Konkurren-ten von gestern, entspräche aber dempropagierten Ziel der „Inklusion“, dassich ja nicht nur auf die Integrationvon Ausländern beziehen kann.

Ein Grundkonsens bestehtheute nicht mehr

Sehr gut gefällt mir die Forderung derLeitlinien, zu einer „neuen sozialenÜbereinkunft“ zu kommen. In der Tathat der neue Schub der ökonomischenGlobalisierung nach 1989 radikal dieFrage nach der Möglichkeit und nachden Voraussetzungen von Politik ge-stellt, wie sie in den „Gesellschaftsver-trägen“ im 17. und 18. Jahrhundert pa-radigmatisch formuliert worden sindund eine zentrale Voraussetzung desdemokratischen Rechtstaats bis heutedarstellten. Eine solche grundlegendesoziale Übereinkunft – ich nenne sienach Ernst Fraenkel einen „Grund-

konsens“ – haben wir derzeit nichtmehr, weder in Deutschland noch inden anderen fortgeschrittenen Demo-kratien. Die mentale Zerrissenheit derUSA bietet dafür ein prägnantes Bei-spiel.

Gleichheit als Würde und Gleichberechtigung

Zu solch einer Übereinkunft gehörtaber zentral und heute ganz besonders– neben der Entscheidung über die(zum Beispiel für die EU) wesentlichenverfassungsmäßigen Institutionen – dieGrundlage der kulturellen Gemeinsam-keit, das also, was wir die demokrati-sche politische Kultur nennen. Alle po-litischen Hebel helfen nicht, wenn dieentsprechende Haltung der Menschen,ihre Initiativbereitschaft, Zuversicht,Vertrauensfähigkeit – also die politischeKultur dazu fehlt.

Die Bildung in Finnland ist viel er-folgreicher, weil die Menschen grund-sätzlich freundlich zueinander sind (dieFreundschaft wird schon bei Aristotelesals wichtige politische Tugend geprie-sen), weil sie von einem fundamentalenGefühl der Gleichheit als gleicher Würdeund als Gleichberechtigung ausgehen,weil sie ermutigen und stärken (empo-werment), anstatt zu demütigen, weilsie neugierig und offen sind und sichnicht in erster Linie an ihren Vorurtei-len festhalten wollen, weil sie inklusivhandeln und fühlen. Hier mangelt es

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[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

empfindlich in Deutschland. Hier liegtauch eine Verantwortung unserer sogenannten Eliten, die oft noch – vorallem wo sie Macht haben – sehr auto-ritär eingestellt sind und ihre Vorurteilepflegen (mit all den negativen politisch-kulturellen Konsequenzen). Anderer-seits können wir jeden Tag erkennen,dass wir in Deutschland auch starkeaufgeschlossene und zukunftgerichtetePotenziale haben. Eine Partei kann fürsich allein keine politische Kultur pro-duzieren, aber sie kann das Bewusstseindafür (auch in den eigenen Reihen)unterstützen und sie gerade auch durcheine gelungene Praxis von good gover-nance, die eben Zivilgesellschaft undUnternehmen einbezieht, stärken.Wenn das neue Grundsatzprogrammsich dieser Erkenntnis öffnet, ist ihmein zukunftsweisender Charakter sicher.

Die soziale Demokratie inEuropa verankern

Auch die Europäische Union wird beiden Bürgern in dem Maße Zustim-mung finden, wie es ihr gelingt, solchegood governance-Strukturen zum Wohlder Menschen herauszubilden. Gegen-wärtig lassen die Bürger ihre Enttäu-schung über ihre soziale Verunsicherungan der Europäischen Union aus. Dennnoch ist nicht deutlich genug geworden,dass sich soziale Demokratie, als sozialfundierte und für alle Bürger geöffnetepolitische Freiheit, heute nur noch ver-

wirklichen lässt, wenn sie in europä-ischen und globalen governance-Regelnverankert ist. Der große französischeLiberale Charles de Montesquieu hat inseinem berühmten Buch „Vom Geistder Gesetze“ nicht nur gegen überflüs-sige Gesetze gesprochen, sondern vorallem die politische Freiheit als die gei-stige Ruhe definiert, die jeder Bürgeraus seinem Gefühl der Sicherheit ge-winnt. Er bezog sich dabei auf dierechtsstaatliche Sicherheit vor obrig-keitsstaatlicher Willkür. Die Sozialde-mokratie hat aus ihrer Erfahrung dersozialen Verwerfungen im 19. und 20.Jahrhundert diese Sicherheit auf die „Si-cherheit vor Not und Furcht“ erweitert.

IV. Ich finde, am Ende einesGrundsatzprogramms sollte

eine Vision nach dem großen Vorbildvon Martin Luther Kings I have adream stehen, ein starkes und anspre-chendes Bild vom guten, gelungenenund sinnvollen Leben. Es gibt natürlichkein Paradies auf Erden. Die Politikkann auch nicht persönliches Leid auf-heben. Aber der Traum von einer Ge-sellschaft, in der wir die Haustür offenlassen können, in der wir von anderenfreundliche Antworten bekommen undihnen auch freundlich begegnen, in derwir uns um andere kümmern, in derwir das Gefühl haben, wir fallen nichthinten runter, wenn es mal schlechtgeht, eine Gesellschaft, in der wir unsereTalente entfalten können, in der wir die

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[ gesine schwan ]

vielfältige Kultur als Chance gelungenermenschlicher Begegnungen begreifenkönnen und in der wir uns wohl füh-len, gebraucht werden und anerkannt

sind – das wäre so ein Traum einer Ge-sellschaft, in der ich leben möchte undvon der ich denke, dass die Sozialdemo-kratie sie erstreben sollte. N

PROF. DR. GESINE SCHWAN

ist Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

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ZIELE DES EUROPÄISCHEN WOHLFAHRTSSTAATS IM 21. JAHRHUNDERTVON PATRICK DIAMOND

Für eine neue sozialeGerechtigkeit

D ie Erneuerung der sozialen De-mokratie und die Revitalisierung

der europäischen Wohlfahrtsstaaten fürdas 21. Jahrhundert sind große Aufga-ben. Um diese Ziele zu erreichen, müs-sen Sozialdemokraten die Werte derGerechtigkeit und der Gleichheit neuinterpretieren. Zugleich müssen sieneue politische Instrumente schaffen.Denn die traditionellen Ziele und Mit-tel sind nicht mehr angemessen.

Europäische Sozialdemokraten soll-ten eine Strategie egalitärer Moderni-sierung verfolgen. Dies bedeutet imKern eine doppelte konzeptionelleVerschiebung. Zunächst müssen dieIdeale der an Gleichheit ausgerichtetenSozialdemokratie neu interpretiertwerden. Sodann ist eine Begründungfür einen europäischen „Sozialstaat derMöglichkeiten“ zu formulieren. Daseuropäische Sozialmodell sollte nichtmehr ausschließlich darauf ausgerich-tet sein, Armut und Ungleichheit zubekämpfen oder Menschen gegen vor-hersehbare Risiken abzusichern. Diessind die Ziele des traditionellen Sozial-staates.

Stattdessen muss es zukünftig da-rum gehen, neue Möglichkeiten zuschaffen. Es kommt darauf an, dassalle Menschen die Chance erhalten,ihre Potentiale voll zu entwickeln. Derfrüher auch im Deutschen anstelle desBegriffs „Sozialstaat“ übliche Begriff„Wohlfahrtsstaat“ enthielt noch diesenSinngehalt von „Wohlergehen“ und„Wohlstand“. Der in diesem Sinn ak-tive Wohlfahrtsstaat muss ein Trampo-lin sein, der Erfolg ermöglicht, keinSicherheitsnetz, das Menschen für denRest ihres Lebens vor dem Scheiternschützt. Sein Ziel ist es, individuelleFreiheit für alle zu gewährleisten. Ge-nau das ist die historische Mission dereuropäischen Sozialdemokratie seitMitte des 19. Jahrhunderts.

Die Erneuerung muss in einer Zeitbewältigt werden, in der sich in denkapitalistischen Staaten die neue Or-thodoxie ausgebreitet hat, der Wohl-fahrtsstaat stecke in der Krise. Seit denfrühen neunziger Jahren haben füh-rende Mitgliedsstaaten der EU begon-nen, ihre Sozialsysteme neu auszurich-ten. Manche reformistischen Schritte

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[ patr ick diamond ]

sind gemacht, noch mehr bleibt zutun. Alle Wohlfahrtsstaaten müssenmit den neuen Ungleichheiten einesZeitalters der Individualisierung, derGlobalisierung und des beschleunigtendemografischen Wandels fertig wer-den. Bestehen bleibt der gesellschaftli-che Konsens, dass Bürger nötigenfallsvor den Unbilden des Marktgesche-hens geschützt werden müssen. Dochwenn die europäischen Wohlfahrts-staaten wirklich revitalisiert werdensollen, ist eine Fundamentalrevisionder traditionellen sozialdemokrati-schen Grundsätze nötig. Wo sich Ge-sellschaften wandeln, müssen ihreGrundlagen überprüft werden. Dielinke Mitte in Europa muss eine neueWelle der programmatischen Erneue-rung in Gang setzen.

Ideale von Solidarität und Gerechtigkeit

Der Wohlfahrtsstaat verkörpert dieIdeale der Solidarität und der Gerech-tigkeit, doch im Laufe der Zeit ist diegenaue Bedeutung dieser Werte verlo-ren gegangen. Im Westeuropa des 20.Jahrhunderts hielten Sozialsysteme dievom Markt geschaffenen Ungleichhei-ten in Grenzen und schützten zugleichdie Schwachen vor dem Druck des in-dustriellen Kapitalismus. Gleichwohlging es dem Wohlfahrtsstaat mehr umSicherheit als um soziale Gerechtig-keit.

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaateshilft, die Wurzeln der gegenwärtigenKrise zu erkennen. Im Laufe des 20.Jahrhunderts führte von Interessengrup-pen ausgeübter Druck zu einer Explo-sion der Ansprüche gegenüber demSozialsystem. Allzu leicht vergessenwird, dass Sozialisten den Wohlfahrts-staat nicht als Mittel zur Verringerungvon Ungleichheit betrachteten, sondernals Instrument, um „die Solidarität derArbeiter durch ihren Schutz vor derPeitsche des Marktes zu ermöglichen“(Daniel Wincott). Die noch Schwäche-ren mit ihren Bedürfnissen wurdenzunehmend an den Rand gedrängt.

Zugleich geriet in den siebziger Jah-ren des vergangenen Jahrhundertsauch die normative Philosophie dersozialen Gerechtigkeit, die den Wohl-fahrtsstaat begründet, unter Dauerbe-schuss. Der Neoliberalismus erschufeine intellektuell ernstzunehmendeRhetorik gegen den sozialdemokrati-schen Staat. Davon hat sich dieser inGroßbritannien und der angelsächsi-schen Welt kaum erholt. Auf dem eu-ropäischen Kontinent hingegen warder Einfluss des Neoliberalismus gerin-ger. Es lohnt sich, über das Wesen derneoliberalen Kritik an der Sozialdemo-kratie und deren Bekenntnis zu sozia-ler Gerechtigkeit und größerer wirt-schaftlicher Gleichheit nachzudenken.Genau diese Kritik hat die Verwirrungvon Zielen und Mitteln ausgelöst, dieheute zu besichtigen ist.

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Was war der Neoliberalismus? „Einemächtige Rhetorik der Reaktion“,schreibt der Philosoph RaymondPlant. Erst „vor dem Hintergrund ei-ner ziemlich matten moralischen Be-gründung der sozialen Demokratie“habe die neoliberale Kritik „moralischeKraft und politischen Scharfsinn ent-wickelt“. Die neoliberale Position –am schärfsten herausgearbeitet beiFriedrich von Hayek – besteht darin,soziale Gerechtigkeit als moralischeund politische Illusion zu beschreiben.Die Rechte schloss daraus, der Sozial-staat solle kein Mittel zur Verwirk-lichung größerer Gleichheit sein, son-dern nur ein Sicherheitsnetz für jene,die sich nicht selbst zu helfen wüssten.Dies war nicht nur eine Folge tatsäch-licher Schwächen des Sozialstaats, son-dern auch eine Konsequenz seinerwackeligen moralischen und philoso-phischen Rechtfertigung.

Wohlfahrtsstaat stattKlassenkampf

Intellektuell behäbige Sozialdemokra-ten haben die Dauerhaftigkeit deskollektivistischen Nachkriegsstaatesunterstellt. Liberale Theoretiker dereuropäischen Industriegesellschaftwiederum tendierten oft dazu, denWohlfahrtsstaat als ein Phänomen zubetrachten, das die stabile liberaleOrdnung des Kapitalismus im späten20. Jahrhundert stütze. Er wurde als

die Vervollständigung der jahrhunder-tealten Bewegung hin zu voller undgleicher Bürgerschaft betrachtet. Nachdieser Lesart löste der Wohlfahrtsstaatden Klassenkampf, wie Marx ihn ver-standen hatte, zugleich ab und auf.

KontinuierlicheWeiterentwicklung

Es ist jedoch zutreffender, dass Wohl-fahrtsstaaten den Klassenkampf nichtbeenden, sondern fortwährend in diesenverwickelt sind. Der Wohlfahrtsstaat ist,so gesehen, eine fragile Institution,hochgradig anfällig für ideologische Ver-schiebungen und Veränderungen desinnerstaatlichen Machtgleichgewichts.Er erwies sich als zunehmend labil, alsin den achtziger und frühen neunzigerJahren die Debatte mit den Neolibera-len verloren ging. Wenn also ein refor-mierter Wohlfahrtsstaat neue Ungleich-heiten bekämpfen soll, muss daher zu-nächst die soziale Demokratie als mora-lisches und politisches Projekt wiederinstand gesetzt werden.

Soziale Gerechtigkeit neu zu verste-hen erfordert eine Gegenkritik an derneoliberalen Position. Von Hayek hat-te beispielsweise Unrecht, als er be-hauptete, die Kategorie der sozialenGerechtigkeit sei von geringer Bedeu-tung, da die Ergebnisse des Marktesunbeabsichtigt seien und deshalb auchnicht ungerecht genannt werden könn-ten. Vielmehr entsteht soziale Unge-

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rechtigkeit unabhängig davon, ob daszu ihr führende Handeln vorhergese-hen oder beabsichtigt war.

Werte und Philosophieneu begründen

Nicht überzeugend ist auch die Be-hauptung, dass Freiheit die Hintanstel-lung sozialer Gerechtigkeit erfordere.Für die politische Rechte geht es umdie Freiheit von Menschen, ein Lebenentsprechend den eigenen Ziele undInteressen zu führen. Aber wenn Frei-heit nur die Freiheit von Zwang undBehinderung ist, in welchem positivenSinn ist sie dann wertvoll für uns? Esist offensichtlich, dass Freiheit und„Fähigkeit“ miteinander verbundensind. Exakt die Fähigkeit, zu tun undzu sein, macht Freiheit erst wertvoll.

Im Kontext dieser neoliberalen Kri-tik müssen Sozialdemokraten ihreWerthaltungen und ihre egalitäre Phi-losophie auf neue Weise interpretieren.Ein Regierungsprojekt ist nicht lebens-fähig oder nachhaltig, wenn Umvertei-lung und Sozialstaat allein aus prag-matischen Gründen aufrechterhaltenwerden. Eine explizite ideenpolitischeBegründung ist nötig, damit die hierbefürwortete doppelte konzeptionelleVerschiebung gelingen kann.

Es gibt einen Unterschied zwischenmoralischen und mechanischen Refor-mern in der Politik. Die Sozialdemo-kratie hat für bloß mechanische Refor-

men seit 1945 einen hohen Preis ent-richtet. Wo man versucht, eine politi-sche Strategie zu verfolgen, die nichteng an die Werte der Bevölkerung an-knüpft, wird diese Strategie schnellzusammenbrechen, sobald sie voneinem schlüssigeren und selbstbewusstvertretenen Glaubenssystem herausge-fordert wird. Den Wohlfahrtsstaat zurevitalisieren erfordert eine als morali-sche und nicht bloß mechanische Stra-tegie begriffene Erneuerung.

Verteilung ohne Effektivität?

Aber die philosophische Begründungmuss besser herausgearbeitet werden.Notwendig ist es, politische Argumen-te explizit so zu formulieren, dass siezum gesellschaftlich geteilten Ver-ständnis von Fairness und gerechtemVerdienst passen. Wir sollten uns inAcht nehmen vor allgemeinen Ideen,die bei näherer Betrachtung ohne prä-zisen Inhalt sind. Hochgradig grund-sätzliche Begriffe von Gerechtigkeitund Gleichheit sind weniger nützlich,nachdem die empirischen Analysenvon Armut und sozialer Exklusion seitden neunziger Jahren präziser gewor-den sind.

Wie also sollten Gerechtigkeit undGleichheit neu interpretiert werden?Traditionell haben die europäischenSozialstaaten egalitär verstandenesoziale Gerechtigkeit darin gesehen,

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die gerechte Verteilung von Güternund Dienstleistungen zu verlangen –ganz gleich, ob sich damit für diebetroffenen Menschen effektive Ergeb-nisse erzielen ließen. Dies aber reichtschlicht und einfach nicht aus, und esdemonstriert das ungenügende sozial-demokratische Verständnis für Kon-zepte der Gerechtigkeit. Bemühungen,wirtschaftliche Ergebnisse einanderanzugleichen, stärken nicht unbedingtauch die Lebenschancen der Men-schen, denn die Bedürfnisse der Indi-viduen sind höchst unterschiedlich.

„Gleiche Fürsorge ist nichtidentische Fürsorge“

Wie der Entwicklungsökonom AmartyaSen betont, sind Menschen mit gleichenfinanziellen Ressourcen dennoch un-gleich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. EinKonzept des Wohlfahrtsstaates als Wäch-ter der Gleichheit verdeckt die Notwen-digkeit, die verschiedenen Fähigkeitenvon Individuen zu berücksichtigen. Derbritische Soziologe R. H. Tawney brach-te dies bereits in den dreißiger Jahren aufden Punkt: „Gleiche Fürsorge bedeutetnicht identische Fürsorge. Sie wird nichterreicht, indem unterschiedliche Bedürf-nisse über einen Kamm geschert werden,sondern indem gleiche Mühe darauf ver-wandt wird, diese jeweils in angemesse-ner Weise zu befriedigen … Je mehr sicheine Gesellschaft bemüht, allen ihrenMitgliedern gleiche Beachtung zu wid-

men, desto differenzierter wird … dieBerücksichtigung der je besonderenBedürfnisse von Gruppen undIndividuen ausfallen.“

Unterschiedliche Bedürfnisseanerkennen

Die Voraussetzung für eine erneuerte Vor-stellung von sozialer Gerechtigkeit ist dieAnerkennung unterschiedlicher Bedürf-nisse. Uniformität schafft Gleichheitbestenfalls dem Namen nach. Das Indivi-duum und nicht der Staat ist die besteVertretungsinstanz eigener Interessen. Po-litik muss die Autonomie und Selbstach-tung der Menschen stärken, ihre Integra-tion in die Gesellschaft fördern und dieFähigkeit stärken, mit sich wandelndenwirtschaftlichen Bedingungen zurechtzu-kommen. Der Wohlfahrtsstaat bedarfpassgenauer, individuell zugeschnittenerMaßnahmen, die präzise und effizientdenjenigen helfen, die Hilfe am drin-gendsten brauchen. Aktive Wohlfahrtmuss den einheitlichen und interventioni-stischen Staat der Nachkriegszeit ersetzen.

Diese auf Amartya Sen und denamerikanischen Philosophen JohnRawls zurückgehende Konzeption hatmehrere Vorteile. Sie betrachtet deneinzelnen Menschen als Ausgangs-punkt und berücksichtigt damit dieIndividualisierung von Werten undLebensstilen in den postindustriellenGesellschaften des 21. Jahrhunderts.Rawls meinte, dass seine egalitären

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Prinzipien eher durch eine Form von„Eigentümerdemokratie“ oder „Libe-ralsozialismus“ zu verwirklichen seienals durch einen kapitalistischen Wohl-fahrtsstaat. Nachträgliche Umvertei-lung der Einkommen lässt große Un-gleichheiten des Eigentums und desHumanvermögens unberührt und per-petuiert auf diese Weise die wirtschaft-liche Ungleichheit, wie auch der Öko-nom James Meade bestätigt.

Rawls’ und Sens Vorstellungen vonGerechtigkeit betonen die Freiheit desEinzelnen, den Schutz der Menschenvor autoritären oder paternalistischenEingriffen durch Staat und Gesell-schaft. Zugleich erfordert Rawls’ inseiner Theorie der Gerechtigkeit ent-wickeltes „zweites Prinzip“ beträchtli-che Umverteilung, indem es gleicheund faire Lebenschancen für die amwenigsten Privilegierten verlangt.

Wie also sollte soziale Gerechtigkeitdefiniert werden? Der Politikwissenschaft-ler Wolfgang Merkel hat eine Ranglisteder Prioritäten sozialer Gerechtigkeit inder postindustriellen Gesellschaft aufge-stellt:J Den Kampf gegen die Armut –

nicht nur wegen ökonomischerUngleichheit selbst, sondern weilArmut (und besonders dauerhafteArmut) die Fähigkeit von Men-schen zu Autonomie und Selbstach-tung einschränkt.

J Die Schaffung höchstmöglicherStandards in Bildung und Ausbil-

dung, verbunden mit gleichen undfairen Zugangsmöglichkeiten füralle.

J Die Gewährung von Beschäftigungfür alle, die arbeiten wollen undarbeiten können.

J Ein Wohlfahrtsstaat, der Schutzbietet und Würde sichert.

J Die Begrenzung der Ungleichheitvon Einkommen und Besitz, sofernsie die Verwirklichung der erstenvier Ziele behindert oder den Zu-sammenhalt der Gesellschaft ge-fährdet.

Diese Formel liefert eine guteideenpolitische Grundlage für die hierentwickelte egalitäre Modernisierungs-strategie. Sie stellt die Wirklichkeiteiner hochgradig ausdifferenziertenGesellschaft ebenso in Rechnung wiewirtschaftliche Notwendigkeiten. Siemacht auch klar, weshalb der Kampfgegen Kinderarmut absolut entschei-dend ist.

Natürlich gibt es innerhalb der Lin-ken noch immer mit Leidenschaft ge-führte philosophische Auseinanderset-zungen über das Wesen der Gleichheit.Die traditionelle Lesart der Chancen-gleichheit (als Gegenstück zur Ergebnis-gleichheit) steht, wie sowohl Rawls alsauch der britische Theoretiker und Poli-tiker C. A. R. Crosland meinten, ge-danklich auf schwachen Füßen. Chan-cenbasierte Gleichheitspolitik achtet zuwenig auf ungleiche Startvoraussetzun-

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gen wie den familiären Hintergrundoder die genetische Veranlagung. Indivi-duelle Einkommensunterschiede habenihre Ursachen zu großen Teilen in Um-ständen, auf welche die Menschen kei-nen Einfluss haben; folglich sind solcheUnterschiede kaum je gerecht. Klar ist,dass Chancen und Ergebnisse untrenn-bar miteinander verbunden sind.

Perverserweise haben manche konti-nentalen Staaten Sozialleistungen beibe-halten, die eine tückische Vorstellungvon negativer Freiheit befördern. Das istdie vermeintliche Freiheit, zu möglichstgünstigen Einkommensbedingungenaußerhalb des Erwerbslebens zu bleiben.Dies untergräbt aktive Teilhabe: die Vor-aussetzung für Würde und Lebenszufrie-denheit. Und es verhindert die tatsächli-che Freiheit des eigenen Handelns undEntscheidens. Die sozialen Grundlagendes Selbstrespekts, wie es Rawls nennt,müssen gleich verteilt sein.

Unterstützung übergesamten Lebenszyklus

Diese Neuinterpretation führt zu einemauf Freiheit fokussierten Ideal sozialerGerechtigkeit: Es geht um die Förde-rung und die Pflege individueller Fähig-keiten, zugleich um die Neutralisierungder Nachteile, die sich aus der Geburtin benachteiligte Verhältnisse hinein er-geben. Es geht weniger darum, wo sichein Mensch zu einem bestimmten Zeit-punkt auf der Einkommensskala befin-

det, mehr hingegen um die individuelleWeiterentwicklung und die Vermeidungvon Armut. Niemand sollte gezwungensein, sein Leben in der Sackgasse kumu-lativer Benachteiligung, prekärer undunsicherer Arbeit verbringen zu müssen.Erforderlich ist eine Theorie der Vertei-lungsgerechtigkeit, die darauf abzielt, dasIndividuum über den gesamten Lebens-zyklus zu unterstützen und zugleich be-sondere Bedingungscluster der Benach-teiligung zu beseitigen.

Chancen füralle schaffen

Wenn egalitäre Prinzipien radikal revi-diert werden, wird der Wohlfahrtsstaatdes 21. Jahrhunderts effektiver helfen,die soziale Vererbung von Unterprivile-giertheit zu bekämpfen und zugleichChancen und Gerechtigkeit für alle zuschaffen. Die eigentliche Frage ist heutenicht, ob wir in Zukunft einen Wohl-fahrtsstaat haben werden, sondern wel-che Art von Wohlfahrtsstaat dies seinwird. Zu ihrer Beantwortung brauchtdie revisionistische Sozialdemokratieeine rigorose Wahrnehmung des sozia-len und wirtschaftlichen Wandels. DreiTrends sind von enormer Bedeutung.

Die erste Gruppe von Trends betrifftden demografischen Wandel. Die Be-völkerungen der westlichen Industrie-gesellschaften werden immer älter. DasVerhältnis von erwerbsaktiven zu nichterwerbsaktiven Erwachsenen wird in

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vielen EU-Mitgliedsstaaten ungünsti-ger. In den meisten Ländern Europasexistiert heute umfangreicher Schutzgegen die Risiken des Alters, hingegengibt es zu wenig Schutz vor den neuensozialen Risiken in früheren Lebens-phasen, etwa irreguläre Beschäftigung,familiäres Scheitern, Depression oderfehlende Qualifikation. Es gibt über-wältigende Gründe, den Sozialvertragzwischen den Generationen neu zuschreiben. Ganz besonders hängt dieZukunftsfähigkeit des Wohlfahrtsstaa-tes im 21. Jahrhundert davon ab, ob esgelingt, gleichzeitig die Erwerbsbeteili-gung von Frauen und deren verwirk-lichte Kinderwünsche zu steigern. Die-se Trends spiegeln die wachsendegegenseitige Isolation von Arbeitswelt,Sozialstaat und Familie wider. Hier-durch sind in vielen EU-Ländern dieGeburtenraten gefallen, während zu-gleich die Kinderarmut wuchs.

Kinderarmut istlangfristig schädlich

Die gesamte Einkommensverteilungeines Landes wird stark dadurch beein-flusst, wie viele Mitglieder der Haus-halte wirtschaftlich aktiv oder inaktivsind. Eine aktuelle Studie zur Einkom-mensverteilung in Finnland hat erge-ben, dass die Zusammensetzung desHaushalts (also: ein Verdiener oderzwei, Anzahl der Abhängigen) für dieHöhe des verfügbaren Einkommens

wichtiger ist als die Schichtzugehörig-keit. Von der Schichtzugehörigkeit hin-gen die Unterschiede im individuellenEinkommen nach Steuern und Trans-fers nur zu 15 Prozent ab, während dieZusammensetzung des Haushalts 25Prozent ausmachte. Gleichfalls belegenempirische Untersuchungen in Groß-britannien, dass der Anstieg der Un-gleichheit zwischen 1979 und 2004 inbeträchtlichem Umfang auf demografi-sche Faktoren zurückzuführen ist: aufVeränderungen der Haushaltszusam-mensetzung, Fertilitätsmuster und dasAltern der Bevölkerung. Andere Unter-suchungen belegen, dass hohe Gebur-tenraten und hohe weibliche Erwerbs-beteiligung sehr wohl zusammengehenkönnen, wo eine integrierte Sozialpoli-tik betrieben wird. Zwischen der Höheder Erwerbsbeteiligung von Frauen mitKindern und Frauen ohne Kinder be-steht in den nordischen Staaten keinUnterschied, sie liegt in beiden Fällenüber 75 Prozent.

Der Anstieg der Kinderarmut mitihren vielen langfristigen Folgen ist einweiterer schädlicher Trend. Die frühe-ste Lebensphase ist für die Entwick-lung des individuellen Humanvermö-gens von entscheidender Bedeutung.Es gibt einen wachsenden Berg vonBelegen für die Bedeutung frühkindli-cher Erfahrungen – von der Ernäh-rung über die elterliche Pflege undErziehung bis hin zur kognitiven Ent-wicklung in Kindergarten und Schule

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– für die spätere Leistungsfähigkeit. InLändern wie Deutschland, Spanien,Italien und den Niederlanden über-steigt die Rate der Kinderarmut mitt-lerweile die Rate der Altersarmut.

Erosion nationalstaatlicherPolitik

Bedeutsam ist zweitens der Einfluss derGlobalisierung auf den Nationalstaat.Die Erosion wirtschaftlicher Souveräni-tät hat traditionelle Formen von Nach-fragemanagement obsolet gemacht unddie Wirkung antizyklischer Maßnah-men geschwächt. Die schwindende Lei-stungskraft der kontinentalen Volkswirt-schaften und ihr Scheitern im Kampfgegen die Arbeitslosigkeit haben dieseSchwächen seit dem Beginn der neunzi-ger Jahre zusätzlich hervorgehoben.

Höhere Wachstums- und Beschäfti-gungsraten in der europäischen Wirt-schaft erfordern mehr als nur beschei-dene Korrekturen am Wachstums-und Stabilitätspakt. Fundamentale Re-formen der regulativen Strukturen undInstitutionen sind gefragt, ganz beson-ders auf den Arbeitsmärkten. DieGrundannahmen des Nachkriegssozi-alstaates erscheinen zunehmend frag-würdig. Versuche, sozialdemokratischePolitik in einzelnen Nationalstaaten zubetreiben, haben sich als wirkungsloserwiesen. Zugleich aber sind internesoziodemografische Faktoren weitwichtigere Gründe für den Umbau

von Wohlfahrtsarrangements als dieder Globalisierung zugeschriebeneökonomische Macht.

Eine dritte Gruppe von Variablenbetrifft die Nachfrage nach Arbeit. DieBarriere zum Einstieg in die Wissens-ökonomie liegt heute höher als zuvor.Das erforderliche Maß kognitiver Fä-higkeiten wie Lesen, Schreiben undRechnen ist seit den siebziger Jahrengestiegen. Die neue Wirtschaft hebtdas Niveau der Fertigkeiten und Kom-petenzen, die Menschen benötigen,um sichere und gut bezahlte Beschäfti-gung zu finden. Für die schlechterQualifizierten wird es immer schwieri-ger, dauerhafte Arbeitsplätze zu erlan-gen, wie sie in der industriellen Wirt-schaft der Nachkriegsjahrzehnte dieRegel waren. Zugleich wächst das Ri-siko, im Zustand dauerhafter Armutzu verharren.

Einkommensungleichheitwächst überall

Bis in die frühen neunziger Jahre hin-ein galt es als ausgemacht, dass stei-gende Einkommensungleichheit alleinGroßbritannien, die Vereinigten Staa-ten, Neuseeland und Australien betref-fe. Das deregulierte angelsächsischeModell ermöglicht die Preisbildungder Löhne am Markt. Dies schafft Ar-beitsplätze, nicht aber Gerechtigkeit.In der übrigen EU verhinderten höhe-re Sozialleistungen und schärfere Ar-

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beitsmarktregeln steigende Ungleich-heit.

Neueste Daten deuten jedoch dar-auf hin, dass die angelsächsischen Län-der überhaupt keine Ausnahmen sind.Die neue Ungleichheit ist ein struktu-reller Bestandteil fast aller fortgeschrit-tenen kapitalistischen Gesellschaften.Die meisten von ihnen erlebten einelange Periode der Einkommensanglei-chung zwischen 1945 und 1973 aufgrund verbesserter Bezahlung einfa-cher Arbeit sowie umverteilender Sozi-alpolitik.

Gesellschaft derzwei Geschwindigkeiten

Die Forschung zeigt jedoch, dass diemeisten Länder seit den frühen neun-ziger Jahren einen deutlichen Anstiegder Ungleichheit verzeichnen. DieSchere zwischen hohen und niedrigenEinkommen hat sich geöffnet.

Diese Trends sind in Deutschland,Frankreich, den Niederlanden, Däne-mark und Norwegen am dramatischsten.In Frankreich etwa hat sich das Verhält-nis, zwischen den Einkommen am obe-ren und am unteren Ende der Skala seit1991 von 1:8 zu 1:16 verändert. Groß-britannien hingegen weist – abweichendvon der verbreiteten Annahme, dass dieEinkommensunterschiede hier besondersgroß seien – durchschnittliche Werte auf;diese liegen niedriger als in Frankreich.Einkommensunterschiede sind exponen-

tiell gestiegen, weil niedrigere Einkom-men am unteren Ende der Skala zusam-menwirken mit der Schwächung ver-schiedener Schutzmechanismen wieMindesteinkommen, gewerkschaftlicherOrganisationsgrad oder Flächentarif.Dies schafft enorme soziale Dualismen:Heute sprechen selbst die Franzosen vonder societé de deux vitesses und die Deut-schen von der Zweidrittelgesellschaft.

Schließlich gibt es die Europäisierung.Hier geht es um die umkämpfte politi-sche Sphäre, in der sich Regierungen umstärkere wirtschaftliche, soziale und insti-tutionelle Koordination bemühen könn-ten. Die Entwicklung der EU bleibt je-doch dominiert von Argumenten negati-ver Integration, also dem neoliberalenGlauben an einen größeren Binnen-markt oder Freihandel, während diepositive Integration in Form der Stärkungder sozialen Dimension Europas wenigerGewicht besitz. Die Debatten hierüberdürften noch lange andauern.

Neue Lebenschancen,neue Risiken

Wie effektiv haben die europäischenWohlfahrtsstaaten auf diese Herausfor-derungen reagiert? Der sozioökonomi-sche Umbruch und die Transformatio-nen der Wirtschaft eröffnen ein Szena-rio größeren Wohlergehens, bessererLebenschancen und neuer Freiheiten inEuropa. Aber zugleich tauchen neuesoziale Risiken auf:

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J die Unvereinbarkeit von Arbeit undFamilie,

J fehlender Zugang zu Bildung, J die Überflüssigkeit traditioneller

Fertigkeiten,J und das Risiko des Ausschlusses aus

den Zusammenhängen der Gesell-schaft insgesamt.

Den üblichen Reflex in den traditio-nelleren Wohlfahrtsstaaten beschreibtMaurizio Ferrara so: „Rückgriff auf kom-pensatorische Maßnahmen, die daraufabzielen, den Schaden für die betroffe-nen Menschen oder Gruppen zu verrin-gern, nachdem dieser bereits eingetretenist.“ Erst wenn ein unerwünschtes Er-gebnis vorliegt, wird das soziale Sicher-heitsnetz aktiviert. Zu den Maßnahmendabei gehören Transferzahlungen, Um-schulungen, Lohnsubventionen für be-nachteiligte Arbeitnehmer sowie Instru-mente zur Bekämpfung von Exklusion.Solche Maßnahmen federn die Folgenvon Armut und Arbeitslosigkeit jedochbestenfalls ab, statt die Risiken zu antizi-pieren, die Menschen in diese Lage brin-gen.

Notwendig sind daher proaktive undvorsorgende Strategien, die sich auf dieschwächsten Gruppen konzentrieren,etwa auf Frauen, junge Familien undKinder. Solche Systeme müssen aus derSackgasse der „fürsorglichenNachsorge“ herausführen. Der sozialde-mokratische Wohlfahrtsstaat sollte sichdarauf konzentrieren, Lebenschancen

zu schaffen, statt Kompensation anzu-bieten, nachdem das Kind schon in denBrunnen gefallen ist. Das erfordert dieVerschiebung der Aufmerksamkeit vonalten zu neuen sozialen Risiken sowiedie gerechtere Verteilung von sozialenSchutzvorkehrungen, als sie die euro-päischen Sozialstaaten bislang zugelas-sen haben. Der neue Wohlfahrtsstaatmuss die Anforderungen der Effizienzund der wirtschaftlichen Modernisie-rung in Einklang bringen mit den Er-fordernissen der Verteilungsgerechtig-keit und der Chancengleichheit für alle.

Wie gut sind die Wohlfahrtsstaaten?

Wie gut sind unter diesem Gesichts-punkt die europäischen Wohlfahrtsstaa-ten? Wolfgang Merkel hat das Niveauder sozialen Gerechtigkeit für eine An-zahl von OECD-Staaten anhand vonfünf besonders wichtigen Indikatorenuntersucht: Armut, Bildung, Beschäfti-gung, Sozialstaat und Einkommensver-teilung.

Es überrascht nicht, dass die vierskandinavischen Wohlfahrtsstaaten mitBlick auf die soziale Gerechtigkeit ambesten abschneiden. Die kontinentaleu-ropäischen Staaten liegen in der Mitte.Deutschland beispielsweise schneidethinsichtlich der – für die individuellenLebenschancen entscheidenden – sozia-len Investitionen schlecht ab. Dies scha-det zugleich der Gleichheit unter den

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Generationen und Deutschlands langfri-stigen wirtschaftlichen Aussichten. Eben-falls beeinträchtigt die Struktur des deut-schen Sozialstaats massiv Fortschritte aufdem Gebiet der Geschlechtergerechtig-keit. Was Wolfgang Merkel die konserva-tive Orientierung des bismarckschen So-zialversicherungsstaates nennt, dientnicht dazu, Gerechtigkeit zu ermögli-chen und Chancen der Aufwärtsmobi-lität zu eröffnen, besonders nicht fürFrauen, Junge und Arbeitslose.

Mehr Gerechtigkeit durchmehr Flexibilität

Oft übersehen wird das britische„anglo-soziale“ Modell, das jedoch be-merkenswerte Stärken besitzt. Seit La-bour 1997 die Regierung übernahm,sind verschiedene Maßnahmen am Ar-beitsmarkt eingeführt worden, die diebritische Erwerbsquote auf 78 Prozentgesteigert haben – gegenüber durch-schnittlich 70,3 Prozent in der EU.Mehr als zwei Millionen Menschenzusätzlich haben Arbeit gefunden, dieArbeitslosigkeit liegt so niedrig wie niezuvor in den vergangenen drei Jahr-zehnten. Die Instrumente zur Steige-rung der Beschäftigung umfassen kon-ditionierte Sozialleistungen, zusätzlicheKinderbetreuungsplätze und Maßnah-men für mehr Flexibilität und Teilzeitar-beit, was die weibliche Erwerbsbeteili-gung deutlich gesteigert hat.

Auch im Kampf gegen die Armut

im Allgemeinen hat Großbritanniendeutliche Fortschritte gemacht. DieZahl der Menschen, denen die Mittelfehlen, ihre Wohnungen zu heizen, hatsich halbiert. Die Säuglingssterblich-keit liegt niedriger denn je. In wichti-gen Punkten hat sich Großbritannienvom amerikanischen Modell gelöst.Der britische Wohlfahrtsstaat kombi-niert wirtschaftliche Dynamik undhohe Erwerbsbeteiligung mit steuerfi-nanzierten öffentlichen Dienstleistun-gen und aktiver Sozialpolitik. DerWelfare-to-work-Ansatz der Labour-Regierung beispielsweise ist eher vonSkandinavien als von den VereinigtenStaaten beeinflusst. Durch kompetenteWirtschaftspolitik wird so das Funda-ment für eine deutlich gerechtere Ge-sellschaft gelegt.

Trotzdem großesoziale Lücken

Einige bedeutende Probleme bleibenjedoch bestehen. Der Sockel wirtschaft-licher Inaktivität in Großbritannien istnoch immer hoch. Über sieben Millio-nen Menschen partizipieren nicht amArbeitsmarkt. 1997 gab es in jedemfünften Haushalt (20,1 Prozent) keineerwerbstätige Person; bis 2003 fiel dieseRate nur geringfügig auf 17 Prozent.Auch Kinderarmut bleibt ein tief sitzen-des Problem der britischen Gesellschaft.Sehr viele trotz Erwerbsarbeit Arme(working poor) sind auf negative Steuern

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(tax credits) angewiesen, um Einkom-men zu erzielen, von denen sie lebenkönnen. In gewisser Hinsicht hat Groß-britannien seit 1997 Gleichheit undGerechtigkeit hintangestellt, um Wachs-tum zu erzielen. Auch sozialräumlichbetrachtet ist die Lücke zwischen denärmsten Vierteln und den übrigenGebieten gewachsen.

Konflikte mitpost-industrieller Wirtschaft

Zugleich entstehen bedeutsame neueParallelwelten am oberen Ende derGesellschaft, die Teile der Mittel-schichten von den öffentlichen Ge-sundheits- und Bildungssystemen aus-schließen. Beispielsweise besuchenmehr als eine halbe Million Kinderprivate und unabhängige Schulen au-ßerhalb des staatlichen Systems; mehrals ein Fünftel der Schüler in Londonbesucht Privatschulen. Auf den Zu-sammenhalt der Gesellschaft wirktsich dies schädlich aus. Der PhilosophMichael Sandel schreibt: „Die neueUngleichheit hindert nicht nur dieArmen daran, an den Früchten desKonsums teilzuhaben und ihre Zieleselbst zu wählen; sie bringt Reiche undArme auch dazu, zunehmend separatvoneinander zu leben. Dies alles zer-stört die Idee der Bürgerschaft.“

Die Herausforderungen für die kon-tinentalen Wohlfahrtsstaaten sind ganzanders gelagert. Ihre Schwierigkeiten

liegen nicht so sehr in verbreiteter Ar-mut und fehlenden Fertigkeiten, son-dern in der chronischen Unfähigkeit,steigende Erwerbstätigkeit zustande zubringen. Die wesentliche politischeAntwort auf die Massenarbeitslosigkeithat bis jetzt darin bestanden, Menschenzum Ausstieg aus der Erwerbsbevölke-rung zu bewegen, was jedoch zu einemnoch ungünstigeren Verhältnis von Ar-beitenden zu nicht Arbeitenden führt.

Zum einen leiden die kontinentalenSozialstaaten an Finanzierungsformen,die unmöglich aufrechtzuerhalten seinwerden, weil sie die Staatshaushalteüberfordern und zu höherer Arbeitslo-sigkeit führen. Zweitens bestehen indiesen Ländern scheinbar unlösbareInsider-Outsider-Trennlinien. Mauri-zio Ferrera zufolge sind diese Systeme„in hohem Maße charakterisiert durchdas Syndrom der Segmentierung ihrerArbeitsmärkte … es gibt übermäßigeVersicherungsvorteile für Erwerbstä-tige auf ‚garantierten‘ Arbeitsplätzen,die geradezu Eigentümer ihrer Jobssind; andererseits fehlt es am angemes-senem Schutz für jene, die in denschwächeren und randständigeren Sek-toren beschäftigt sind.“

Hohe Anteile unbefristeter Erwerbs-tätigkeit behindern zugleich die Schaf-fung neuer Arbeitsplätze. Das Haupt-hindernis für mehr Jobs im privatenSektor liegt im bestehenden hohenGehaltsniveau. Zugleich fehlt es demöffentlichen Sektor an Mitteln, neue

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Beschäftigung zu schaffen, weil derStaat außerordentlich große wirtschaft-lich inaktive Bevölkerungsgruppenfinanzieren muss. Nach Gøsta Esping-Andersens Einschätzung „kommen diekontinentalen westeuropäischen Wohl-fahrtsstaaten in Konflikt mit den Erfor-dernissen der entstehenden postindu-striellen Ökonomie“.

Sozialsysteme mitAnreizen verbessern

Anders steht das sozialdemokratischeModell der skandinavischen Staatenda. Diesen Ländern scheint die schwie-rige Kombination von sozialer Gleich-heit und ökonomischer Effizienz ge-lungen zu sein. Es handelt sich umkleine, offene Volkswirtschaften, die inhohem Maße von wettbewerbsfähigenExporten abhängen. Besonders Schwe-den wird immer wieder als paradigma-tisches Beispiel einer zeitgemäßen so-zialen Demokratie genannt. Hier sorgtder hohe Anteil von Doppelverdiener-haushalten für geringe Kinderarmut.Ebenfalls erfolgreich sind die skandina-vischen Methoden der Aktivierung aufdem Arbeitsmarkt. Die nordischenStaaten haben ihre Sozialsysteme durchfein abgestimmte Anreize verbessert.Sie haben Teilzeitarbeit und Produkt-märkte liberalisiert. Und sie haben ihreInvestitionen in zukünftiges Wachstumbeträchtlich ausgeweitet. Hinsichtlichihrer Aufwendungen für Forschung

und Entwicklung, für Bildung sowiefür Innovation auf dem Gebiet derInformations- und Kommunikations-technologien haben die Skandinavierihre größeren europäischen Nachbarnklar überholt.

Flexibler Arbeitsmarkt undBildung kombinieren

Wenn es der Sozialdemokratie gelingensoll, intellektuell und politisch in Euro-pa wieder Fuß zu fassen, dann müssensowohl ihre fundamentalen Grundsätzeals auch die politischen Instrumente,mit denen sie ihre Ziele verfolgt,gründlich überprüft werden. Dabeimuss der moderne Wohlfahrtsstaat soeingerichtet sein, dass er sozialenSchutz in einer Welt des Wandels undder Unsicherheit bieten kann. Dazugehört mehr als nur die Schaffungzusätzlicher Einrichtungen für lebens-langes Lernen. Flexibilität am Arbeits-markt und ein stärker pro-aktiv ausge-richtetes Bildungssystem schaffen alleinnoch keinen angemessenen Schutz inder weltweit im Wettbewerb stehendenWirtschaft. In vielen Ländern und Sek-toren entstehen neue und sichere Jobsnicht schnell genug, um diejenigen auf-zunehmen, die in Landwirtschaft, In-dustrie oder Handwerk ihre Arbeit ver-lieren. Zudem erfordern moderneArbeitsplätze typischerweise moderneQualifikationen, die viele Beschäftigtein traditionellen Berufen nicht besitzen.

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Zwar ist das langfristige Ziel einerwissensintensiven Wirtschaft in hohemMaße erstrebenswert. Schließlich wür-den so viele der Konflikte und Proble-me gelöst, die dem Wohlfahrtsstaat seitden siebziger Jahren zu schaffen ma-chen. Aber dieses Endziel zu erreichenist schwierig. Nur eine Minderheit derBevölkerung ist damit beschäftigt, inter-national gehandelte Güter und Dienst-leistungen zu schaffen. Zugleich erfor-dert internationale Wettbewerbsfähig-keit steigende Produktivität – zur Her-stellung eines bestimmten Gutes sindimmer weniger Arbeitskräfte nötig. Mitanderen Worten: Strategien zugunstenhöherer Qualifikation schaffen nichtunbedingt mehr Arbeitsplätze.

Mehr Wohlfahrtsstaatund nicht weniger

Heute braucht die EU nicht wenigerWohlfahrtsstaatlichkeit, sondern mehr.Zugleich jedoch schafft die Formulierungeiner neuen Sozialpolitik sehr handfesteSpannungen. Möglicherweise reicht dasWirtschaftswachstum in Europa nichtaus, um einen aktiven Wohlfahrtsstaat zufinanzieren. Eine Aktivierungspolitik, dieoft jenen gelten muss, die am schwierig-sten zu erreichen sind, ist notwendiger-weise teuer. Hinzu kommt: Die gesell-schaftliche Koalition, die einen universel-len Wohlfahrtsstaat unterstützt, ist brü-chig. Bestimmte politische Instrumentesind heute weniger brauchbar als in den

sechziger und siebziger Jahren. Darausfolgt nicht, dass traditionelle sozialdemo-kratische Werte über Bord geworfen wer-den müssen, wohl aber, dass sie neu zuinterpretieren sind. Der sozialdemokrati-sche Wohlfahrtsstaat ist das Ideal der Lin-ken – unberührbar darf er jedoch nichtsein. Überwunden werden müssen diepsychologischen Barrieren gegen denRevisionismus.

Gesundheit ist Themader Zukunft

Die Geschwindigkeit des Wandels inEuropa bedeutet auch, dass sich dieAufmerksamkeit innerhalb der nächs-ten 15 Jahre völlig neuen Problemenzuwenden wird, die Sozialdemokratenheute noch kaum wahrnehmen. Diesoziale Immobilität von Menschen ingering bezahlten und niedrig qualifi-zierten Dienstleistungsjobs wird sichverstärken. In der EU steigt der Anteilder Haushalte ohne erwerbstätige Mit-glieder. Gleichzeitig wird der Zusam-menhang zwischen schlechter Gesund-heit und sozialer Exklusion immerdeutlicher erkennbar. Auch die multi-plen Nachteile, die Mitglieder ethni-scher Minoritäten in Europa erleiden,geraten klarer in den Fokus. Hier sindKontroversen über Fragen der Kulturund Familienstruktur unausweichlich.

Die Probleme, vor denen die Politiksteht, befinden sich in schnellem Um-bruch; das Gesamtbild ist heute kom-

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[ patr ick diamond ]

plexer, als es noch vor einem Jahrzehntwahrgenommen wurde. Es umfasst zu-nehmend Fragen des individuellenVerhaltens und der Kultur ebenso wiewirtschaftliche Gesichtspunkte. AlsFolge der notwendigen Neuinterpreta-tion von Gerechtigkeit und Gleichheitmuss der europäische Wohlfahrtsstaatneue Ziele anpeilen. Genau darumgeht es bei der doppelten konzeptio-nellen Verschiebung, die dieser Aufsatzbeschrieben hat.

Stillstehen bedeutetScheitern

Die europäischen Sozialdemokraten desspäten 19. Jahrhunderts waren ebensomutig wie radikal darin, im Gefolgevon Industrialisierung und Urbanisie-rung die traditionellen Werte der Ge-meinschaft und Gerechtigkeit, der Soli-darität und Sicherheit neu zu definie-ren. Ihre Bereitschaft, kühn und inno-

vativ zu sein, hat den europäischenWohlfahrtsstaat des 20. Jahrhundertsermöglicht. Die Aufgabe für das 21.Jahrhunderts besteht darin, genausoambitioniert auf die doppelte Heraus-forderung von Globalisierung undpost-industrieller Wirtschaft zu reagie-ren. Dazu bedarf es eines neuen Revi-sionismus – einer an Werten und Le-benschancen orientierten erneuertenKonzeption von Sozialdemokratie undWohlfahrtsstaat.

Für Optimismus bleibt genugGrund. Politische Reformen, ethischeVisionen, ökonomische Ideen und So-zialpolitik müssen – als Kern jedesRevisionismus – sorgfältig neu mitein-ander verwoben werden müssen, wennsoziale Demokratie und Wohlfahrts-staat erneuert werden sollen. Aber wieDonald Sassoon zu Recht festgestellthat: „Voranzuschreiten verschafft keineErfolgsgarantie. Aber stillzustehen be-deutet sicheres Scheitern.“ N

Aus dem Englischen von Tobias Dürr.

PATRICK DIAMOND

ist Direktor des progressiven Think Tanks Policy Network in London. Zuvor arbeitete er im Amt des britischen Premierministers.

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WELCHEN WOHLFAHRTSSTAAT BRAUCHEN WIR?

Gute Rentenpolitikfängt mit Babys an

W enn es um die Diagnose derMissstände unseres gegenwärti-

gen Sozialsystems geht, dominiert fol-gende Analyse: Die Alterung unsererGesellschaften stellt uns vor ein großesProblem, nämlich das der Nachhaltig-keit. Wie können wir das ganze Wohl-fahrtsstaats-Gebäude, das wir in derNachkriegszeit errichtet haben, künftigfinanzieren? Problemverschärfend wirktdie Tatsache, dass für die Jungen inZukunft wenig übrig bleiben wird,wenn die Alten einen immer größerenAnteil unserer Ressourcen verbrauchen.

Ich möchte diese Standardformelumkehren. Wie ich die Dinge seheund, bisher ohne allzu großen Erfolg,den Politikern nahe zu bringen versu-che, müsste unser Slogan etwa so lau-ten: Eine gute Rentenpolitik beginntmit Babys. Das mag banal klingen,aber der Punkt ist ziemlich wichtig.

Ich bin überzeugt, dass jeder Ver-such, unsere Sozialpolitik zu erneuernund zu einer Neukonzeption desWohlfahrtsstaats zu kommen, miteiner konsistenten Lebensverlaufsana-lyse beginnen muss. Wer eine solide

Sozialpolitik für das 21. Jahrhundertentwickeln will, muss über Lebenszy-klen nachdenken und darüber, wassich in unserem Lebensablauf verän-dert. Nach dieser Methode werde ichverfahren, um zu zeigen, dass jede gutePolitik mit Babys anfängt. Das ist imGrunde nichts Neues. Der Gedankestammt von Plato, und eigentlich wie-derhole ich nur, was dieser vor Tausen-den von Jahren sagte.

Wenn wir vom Lebensverlauf aus-gehen, lässt sich die Zukunft unsererGesellschaften von zwei entgegenge-setzten Enden her anpacken. Da mei-ner Auffassung nach alles mit Babysanfängt, lassen Sie mich mit den Altenbeginnen. In demografischer Hinsichtund im Blick auf unsere Ressourcen,das Bruttoinlandsprodukt (BIP) insge-samt, ist die Geschichte bereits gelau-fen. Ich glaube nicht, dass wir unsernstlich vormachen können, wir wür-den die Lebensstandards der Alten inden kommenden 40 Jahren wesentlichsenken. Wenn wir aber ein mehr oderweniger konstantes Lebenshaltungsni-veau für die Alten ins Auge fassen, so

VON GØSTA ESPING ANDERSEN

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1 Vgl. Gøsta Esping-Andersen, Why We Need a New Welfare State, Oxford 2002.

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wird uns allein die Demografie gewal-tige Zusatzausgaben abverlangen. Ren-ten und Pensionen werden ungefähr50 Prozent zusätzlich kosten, und –darüber wird weniger gesprochen, aberes ist vielleicht sogar noch wichtiger –wenn wir uns auch um Altenpflegekümmern wollen, werden wir unge-fähr vier oder fünf Prozent des BIPzusätzlich dafür aufwenden müssen.

Neue Verteilungskonflikte

Die demografischen Daten besagen,dass der Bevölkerungsanteil der Altenum etwa 50 Prozent anwachsen wird.Allerdings vergessen wir oft, dass dieAnzahl der Hochbetagten sich unge-fähr alle 20 Jahre verdoppelt. Ob dieFinanzierung nun eher über Staats-haushalte, Pensionsfonds oder sonstwie erfolgt: In jedem Fall kommenenorme Mehrausgaben auf uns zu.Insofern ist die Geschichte, wie ichschon sagte, gelaufen. Es geht also imKern nicht darum, ob und wie wir dieAufwendungen für die Alten vermin-dern. Die Schlüsselfragen handeln vonden verteilungspolitischen Konsequen-zen, welche die eine oder andere Fi-nanzierungsweise nach sich zieht.

Zwei Verteilungsfragen stehen hierzur Debatte.1 Einmal die intergenera-tionelle Fairness: Wer wird für denLöwenanteil des erhöhten Finanzie-

rungsbedarfs aufkommen? Werden esdie Jungen sein, indem wir für alleZukunft am Umlagesystem festhalten,oder, im Falle der Umstellung auf einFondssystem, die Alten? Ich denke,weder die eine noch die andere Lö-sung würde irgendwelche Zustim-mung finden, weil sie die ganze Lastschlicht der einen oder anderen Grup-pe aufladen und deshalb ungerechtsein würde. Aus diesem Grund werdenwir ein System festgelegter Anteile ent-wickeln müssen.

Die viel bedeutsamere Verteilungs-frage ist intra-generationeller Natur: Inallen OECD-Ländern beruht die Ren-tenfinanzierung gegenwärtig nicht aufGegenseitigkeit, sondern sie ist degres-siv. Je mehr sie auf den Lohn- undGehaltszahlungen beruht, desto de-gressiver ist sie. Denn man darf nichtvergessen, dass Langlebigkeit undSterblichkeit nicht gleichmäßig verteiltsind. Die sozial gehobenen Schichtenleben durchschnittlich etwa fünf bissieben Jahre länger als die Durch-schnittsarbeiter. Und diejenigen, diedie Sonnenseite des Alterns genießenwerden, sind eben jene, die das privile-gierteste Leben geführt, die größtenEinkommen und die meiste Lebens-zeit akkumuliert haben. Es werden dieReichen sein, die sowohl hinsichtlichder Altersbezüge als auch hinsichtlichder Altenpflege profitieren.

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

Bei dem Finanzierungssystem, wiewir es in Ländern wie Deutschlandhaben, handelt es sich um ein reindegressives Verfahren, das über dienächsten 30, 40 Jahre hin den Alte-rungstrend finanzieren soll. Das giltinsbesondere für die Altenpflege. Undwenn wir uns in den kommendenJahrzehnten nicht in Richtung auf einSystem progressiver Finanzierung desAlterns hin bewegen, wird unser ei-gentliches Problem nicht in der (man-gelnden) Nachhaltigkeit, sondern inder Legitimationskrise eines Systemsbestehen, dass unausgewogen undungerecht ist. Und dieses würde sichim Verlauf der Alterskurve der näch-sten 20, 30 Jahre erheblich verschär-fen. Wir sollten deshalb unsere Öko-nomen nachdrücklich darum bitten,über dem buchhalterischen Blick aufgegenwärtige Finanzierungsfragen dieverteilungspolitischen Konsequenzendes Alterns in den kommenden Jahrennicht zu vergessen.

Die glücklichen Babyboomer

Konzentrieren wir uns also auf denLebensverlauf. Nehmen wir diejeni-gen, die heute Renten oder Pensionenbeziehen. Das sind in der Regel unsereVäter und Mütter oder in manchenFällen die Großeltern. Diese Genera-tion ist auf historisch beispiellose Wei-se vom Glück begünstigt worden. Eshandelt sich um die Ende der dreißi-

ger Jahre Geborenen, die während desNachkriegsbooms erwachsen wurden,um dann von den stabilen Arbeitsplät-zen und der jahrzehntelang anhalten-den Steigerung der Realeinkommenprofitieren zu können. Diese Genera-tion verfügt jetzt im Alter über enor-me Ressourcen.

Generation und Qualifikation

Jetzt befassen wir uns mit einer Ren-tenreform und mit Entwürfen füreinen Wohlfahrtsstaat, die 2040 oder2050 zum Tragen kommen. Was wis-sen wir über das Glück oder das mög-liche Schicksal derjenigen, die heuteKinder sind? Wird es ihnen eher soergehen wie unseren Vätern, die heuteim Ruhestand leben, oder eher wiejener unglücklichen Generation, derenAngehörige gerade rechtzeitig geborenwurden, um im Ersten Weltkrieg Sol-dat zu werden? Dies ist eine Rechnungmit vielen Unbekannten. Und dochbraucht man keine Kristallkugel, dennwir kennen bereits eine Reihe Fakto-ren, die wir für eine Projektion odereine Vorstellung davon, wie das wei-tere Leben der heutigen Kinder ausse-hen wird, heranziehen können.

Wir wissen erstens, dass die Ansprü-che an Fähigkeiten und Fertigkeitengewaltig wachsen und weiter wachsenwerden. Wir befinden uns im Über-gang zu einer überaus wissensintensi-ven Wirtschaftsweise, in der alle Le-

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benschancen entscheidend von derQualifikation abhängen. Wer heuteüber keine hohe Qualifikation verfügt,wird sich morgen im B-Team wieder-finden. Wir können also festhalten,dass Jugendliche, die heute ohneOberschulabschluss oder vergleichba-res die Schule verlassen, aller Wahr-scheinlichkeit nach die prekären Stel-len und Niedriglohnjobs von morgenhaben werden – und dies ihr ganzesLeben lang. Das bedeutet auch, dasssie in der Regel arm sein werden,wenn sie gegen 2040 vom Arbeits-leben in den Ruhestand überwechseln.

Mindestrente für alle

Eine Rolle spielen wird zweitens auchdie Tatsache, dass die steigende Ein-kommensungleichheit kein vorüberge-hendes Phänomen unserer Tage, son-dern ein dauerhafter Trend ist. Wiedramatisch sie ausfallen wird, lässt sichnicht vorhersagen. Viel wird von Kon-junkturzyklen und anderen Faktorenabhängen, aber fest steht, dass unsererWirtschaftsweise ein Trend zu verstärk-ter Einkommensdifferenzierung inne-wohnt. Das bedeutet natürlich auchmehr Ungleichheit bei den lebenslangakkumulierten Einkommen, was sichebenfalls auf die Situation im Ruhe-stand 2040 auswirken wird.

Drittens gehört auch der „Job fürsLeben“ mehr oder weniger der Ge-schichte an. Es wird viel mehr prekäre

Beschäftigungsverhältnisse geben.Diese mögen gut oder schlecht sein,jedenfalls werden sie ein mehr oderweniger stabiles Beschäftigungsmusterin unserem Lebensverlauf bilden.Wenn das so ist, wäre es meines Er-achtens mehr als gewagt, in SachenAltersversorgung heute radikale Strate-giewechsel vorzunehmen, ohne dabeidie Tatsache in Betracht zu ziehen,dass wir in 50 Jahren eine ziemlichgroße Klientel haben könnten, diebettelarm sein und kaum über Res-sourcen verfügen wird. Was würdenSie in dieser Lage tun? Eines ganzsicher nicht: Sollten Sie schon irgend-einen Anspruch auf Grundversorgungoder eine Mindestrente haben, würdenSie ihn heutzutage wohl kaum ausdem Fenster werfen.

Natürlich hängt es von der Bevöl-kerungsgröße ab, und es macht einengroßen Unterschied, ob der Prozent-satz der Kinder oder Jugendlichen, diedie Schule vorzeitig verlassen, heutenur 10 Prozent beträgt wie in einerdurchschnittlichen skandinavischenStatistik oder 30 Prozent wie gegen-wärtig in Spanien. Aber mögen es nun10 oder 30 Prozent sein, voraussagenlässt sich vermutlich, dass zumindesteiner beträchtlichen Minderheit lang-fristige Lebensrisiken drohen – undzwar in hohem Maße. Das ist ein star-kes Argument dafür, dass wir irgend-eine Art garantierter Mindestrente füralle Bürgerinnen und Bürger brau-

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

chen, wenn es im Alter künftig zumin-dest eine Grundsicherung geben soll.Je mehr wir die Altersversorgung unterder Voraussetzung, dass sie bezuschusstwird, dem privaten Rentenmarkt über-lassen, desto klarer lässt sich hierausein vorzügliches Grundprinzip ablei-ten: Für jeden Prozentpunkt, um dendie aus Steuermitteln bezuschusstenPrivatpensionen wachsen, sollte esauch ein Prozent Wachstum bei dergarantierten Mindestrente für alle ge-ben. Dieses Prinzip könnte das Herz-stück eines Systems langfristiger Ren-tensicherung sein.

Nun hängt das Ausmaß des Pro-blems, vor dem wir morgen stehenwerden, von dem ab, was wir heutetun, und dies nicht so sehr im Hin-blick auf Renten und Pensionen, son-dern darauf, was wir heute mit unse-ren Kindern machen. Wie viel werdenwir in sie investieren? Das ist dieSchlüsselfrage und der Grund, warumeine gute Rentenreform bei den Kin-dern anfängt.

Kinderwunsch ist weiter groß

In Kinder zu investieren, hat zwei Sei-ten. Einerseits geht es um quantitative,andererseits um qualitative Dimensio-nen. Bei der quantitativen Seite kannich mich kurz fassen. In allen entwi-ckelten Ländern wünscht sich der typi-sche erwachsene Bürger heute ungefähr2,2 oder 2,3 Kinder. Zwischen Mann

und Frau gibt es in dieser Hinsicht kei-nen großen Unterschied. Es spielt auchkeine große Rolle, ob man hoch- oderunqualifizierte Frauen fragt. So siehtdie Kinderzahl aus, die der typischeEuropäer gern hätte. Die Anzahl derKinder, die ein typisches europäischesPaar tatsächlich bekommt, liegt inmanchen Ländern hingegen bei derHälfte der Wunschzahl. Insgesamt istdie Kinderlücke enorm, weniger ausge-prägt in Nordeuropa, in Skandinavien,Großbritannien und Frankreich, drasti-scher in Süd- und geradezu dramatischin Mitteleuropa.

Geburtenrate mit großer Wirkung

Nun ist die Kinderlücke aus meinerSicht wahrscheinlich der beste Indika-tor dafür, dass mit unserem Wohl-fahrtsstaat etwas grundlegend falschläuft. Wenn die Leute nicht in derLage sind, sich die Familie zu schaffen,die sie wirklich wollen, ist mit unsererGesellschaft etwas ernstlich nicht inOrdnung, und ein Teil des Problemssteckt möglicherweise in der ArtWohlfahrtsstaat, die wir heute haben.Vielleicht liegt das Problem auch inder Art Arbeitsmarkt, den wir haben,und vielleicht ebenso im dramati-schen, geradezu revolutionären Wan-del der weiblichen Biographien. Tat-sächlich liegt es an allen dreien.

Eine kurze Bemerkung zur Bedeu-tung der Geburtenrate. Nehmen wir

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zur Veranschaulichung den Unter-schied zwischen einer Geburtenratevon rund 1,3, dem deutschen Niveau,und einer Rate von 1,9. Wenn diedeutsche Rate so bleibt, wie sie heuteist, wird die Bundesrepublik am Endedieses Jahrhunderts nur noch 25 Pro-zent seiner gegenwärtigen Bevölke-rungszahl haben. Bei einer Geburten-rate von 1,9 betrüge der Verlust nuretwa 15 Prozent der gegenwärtigenBevölkerungszahl. Auf lange Sichtbewirkt eine kleine Veränderung alsogewaltige demografische Unterschiede.

Kosten steigen, Hilfe nicht

Man muss kein Naturapostel sein, umsich über geringe Fertilität Sorgen zumachen. Die wichtigsten Argumentedafür habe ich vorgetragen. Aber wasist die eigentliche Ursache des Phäno-mens? Ich denke, sie besteht darin, dassdie Kosten dafür, Kinder zu haben,rapide gestiegen sind, die finanzielleUnterstützung dafür jedoch nicht.Andererseits ist aber parallel zum An-stieg der Kosten, die Kinder verur-sachen, auch der allgemeine gesell-schaftliche Wert des Kinderhabensrapide gewachsen. Nehmen Sie nurmich als Beispiel: In etwa 15 Jahrenwerde ich wahrscheinlich in den Ru-hestand gehen, und wenn wir heutenicht produktiv sind und eine MengeKinder bekommen, die meine Rentebezahlen werden, habe ich morgen ein

Problem. Es liegt in meinem persönli-chen Interesse, dass es heute gesunde,produktive Kinder gibt.

Kinderbetreuung ist Schlüssel

Das ist ein externer Effekt, mit demvermutlich alle einverstanden sein kön-nen. Der wahre Preis, den Kinder kos-ten, hat weniger mit den Pampers-Prei-sen zu tun, als vielmehr damit, mitwelchen Zusatzkosten Frauen rechnenmüssen, die Kinder bekommen. DieseKosten können enorm hoch sein, jenach dem Ausmaß, in dem Frauen sichgezwungen sehen, Unterbrechungenihrer Karrieren in Kauf zu nehmen.

Wir alle kennen die Grundausstat-tung, die eine mütter- oder familien-freundliche Politik ermöglichen kann.Der Schlüssel liegt – welche Überra-schung! – im Zugang zu bezahlbarerund qualitativ hochwertiger Kinderbe-treuung. Kinderbetreuung allein wirdim Hinblick auf die Steigerung derFertilität keine Wunder bewirken, abereine gewisse Zunahme steht schon zuerwarten. Man rechnet mit einer um0,1 bis 0,3 Punkte erhöhten Gebur-tenrate. Und auf diesem Felde haben,worauf ich bereits hinwies, schon ge-ringfügige Veränderungen enorme Fol-gen. Gäbe es in der Bundesrepublikeine Kinderbetreuung, die die Gebur-tenrate um etwa 0,3 Punkte steigerte,könnte Deutschland in dieser Hinsichtmit Dänemark gleichziehen.

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

Es gibt aber noch eine andere Di-mension, und aus diesem Grunde istKinderbetreuung eine zentrale, aberkeine hinreichende Erfolgsbedingung.Die einschlägige Forschung zeigt im-mer deutlicher, dass ein zweiterSchlüssel in den wirtschaftlichen Ver-hältnissen liegt. Manche Arbeitsplätzesind frauenfreundlich und manchenicht. Arbeitsplatzsicherheit ist funda-mental. Zeitverträge haben erheblicheAuswirkungen auf die weibliche Ge-burtenrate. In bestimmten Ländern,wo Zeitverträge üblich sind, wie etwaSpanien, lassen sich geradezu dramati-sche Folgen beobachten.

Ein dritter Aspekt betrifft die Män-ner. Wollte man den Wandel der Le-bensverläufe kartographieren, der sichin den vergangenen 50, 60 Jahrenvollzogen hat, so würde sich zeigen,dass all diese Veränderungen die Frau-en betreffen, während die Männer sichfast überhaupt nicht gewandelt haben.Nach meiner Überzeugung ist die Lo-gik der postindustriellen Gesellschaftvor allem weiblich bestimmt, vorange-trieben von den Veränderungen imLebensverlauf der Frauen. In vielenLändern ist der weibliche Lebensver-lauf wahrscheinlich „maskulinisiert“worden – ganz gewiss in Nordamerikaund in Nordeuropa. Der Lebensver-lauf der Männer hat sich demgegenü-ber fast gar nicht verändert. Es gibtimmer mehr Belegmaterial dafür, dassGeburten, besonders bei den gebilde-

teren Frauen, zunehmend davon ab-hängen, ob sie eine Garantie oder diebegründete Erwartung haben, dass ihrEhemann oder Partner Mitverantwor-tung übernimmt, sich also an der Be-treuung des Babys beteiligen wird, ander Hausarbeit etc. Das wird mehrund mehr zur Vorbedingung der Ge-burten, besonders unter den gebildete-ren Paaren. Wahrscheinlich ist es zurErhöhung der Geburtenrate auf langeSicht erforderlich, dass die Männeranfangen, Teile ihres Lebensverlaufs zu„feminisieren“.

Politik der Entfamilisierung

Schließlich wirken die Kosten derKinderbetreuung wie das Äquivalenteiner degressiven Besteuerung berufs-tätiger Frauen. Das gilt besonders,wenn ausschließlich kommerzielleKinderbetreuungseinrichtungen denZugang zu derartigen Dienstleistungeneröffnen, denn die verlangen hohePreise und nehmen dabei keine Rück-sicht darauf, ob jemand viel oder we-nig Geld hat. Deshalb wirkt diesesSystem degressiv, als eine enorme Bela-stung weiblicher Berufstätigkeit. WennSie zwei kleine Kinder haben, die siein einem kommerziellen Kinderbe-treuungszentrum unterbringen müs-sen, dann frisst das mehr als 50 Pro-zent des mittleren Fraueneinkommensauf, egal in welchem europäischenLand Sie leben. Das ist eine gewaltige

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Steuer und überaus regressiv.Zusammengefasst handelt es sich

bei der quantitativen Seite des ThemasKinder in der Tat um ein Problem dertraditionellen familialistischen Annah-men der Sozialpolitik. Die gehen da-von aus, dass Familien das ThemaKinder intern regeln und es deshalbdarauf ankommt, die Verantwortunginnerhalb der Familie selbst zu stär-ken. Da dieser Ansatz offensichtlichunwiderruflich gescheitert ist, benöti-gen wir jedoch ein anderes Konzept:Um die Familie zu retten, brauchenwir paradoxerweise eine Politik derEntfamilialisierung. Wir müssen Prak-tiken einführen, die traditionellerweisevon den Familien selbst erbrachte Lei-stungen nach und nach übernehmenund externalisieren.

Hindernisse für Familien

Wir stimmen vermutlich alle darinüberein, dass eine Rückkehr der Frau-en in die Haushalte während dernächsten Jahrzehnte ebenso wenigmöglich wie wünschenswert ist. Eslohnt nicht einmal, darüber auch nurzu diskutieren. Jedenfalls würden wir,käme es doch so, an unserer Renten-höhe wenig Freude haben. Gehen wiralso zu der qualitativen Seite des The-mas über, die ich für die entscheiden-de halte.

Hier gilt zunächst einmal, um einenAusdruck der Pokerspieler zu verwen-

den, dass die Einsätze steigen. Wasetwa die Qualifikationen angeht, dieman heute braucht, um gut leben zukönnen, steigen die Einsätze unauf-hörlich. Noch in der Generation mei-nes Vaters konnte man gut leben, auchwenn man nur gering qualifizierte Tä-tigkeiten ausübte. Morgen wird dasnicht mehr gehen. Es steigen die for-malen Anforderungen an Ausbildungs-gänge und Abschlüsse, aber wohl nochwichtiger sind die steigenden Anforde-rungen an Qualifikationen, von denenin der Vergangenheit kaum die Redewar. Ich denke an Stichworte wieemotionale Intelligenz und Sozialkom-petenz, vor allem aber kognitive Fä-higkeiten.

Unsere Ökonomie ist zunehmendwissensintensiv. Sie verlangt die Fähig-keit, Wissen aufzunehmen, es schöpfe-risch anzuwenden und produktiv um-zusetzen. Genau darum geht es, wennwir von kognitiven Fähigkeiten reden,und eben deshalb werden diese immerwichtiger. Wenn sie Leute einstellen,testen amerikanische Firmen heutzu-tage erst einmal deren kognitive Kom-petenz. In Europa dürfte künftig ähn-lich verfahren werden. Wie dem auchsei: Kognitive Kompetenz ist jedenfallsdas sine qua non.

Nun liegt, wenn man Psychologenfragt, ein wesentlicher Aspekt kogniti-ver Fähigkeiten darin, dass diese aufdie allerersten Phasen der Kindheitzurückgehen. Der kritische Lebensab-

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

schnitt liegt vor dem Einschulungsal-ter, also bevor die Kinder mit derSchule überhaupt in Berührung kom-men. Von Null bis Sechs – in dieserSpanne liegt den Psychologen zufolgeein „Fenster“, von dem sehr viel ab-hängt. Das ist aber genau das Alter, inwelchem Kinder traditionellerweiseprivatisiert werden. Ihre wichtigstenAnregungen erhalten sie während die-ser Zeit innerhalb der familiären vierWände.

Anstieg der Kinderarmut

Die zweite grundlegende Tatsache istdie zunehmende Einkommensdifferen-zierung. Wir werden künftig mehrund mehr Einkommensungleichheithaben. Dies geht einher mit einer Ver-schlechterung der Lage junger Fami-lien, besonders solcher mit Kindern.Ein Blick auf die Armutsstatistiken derletzten zehn Jahre zeigt, dass es in fastallen Ländern einen Anstieg der Kin-derarmut gibt. Familien mit Kindernpassiert das Gleiche: Sie geraten ineinen relativen Rückstand zu anderenTeilen der Bevölkerung. Familien mitKindern schwimmen also gegen denStrom, während die Kosten für dasAufziehen von Kindern steigen. Hierzeichnet sich ein alarmierendes Span-nungsverhältnis ab.

Die strukturelle Transformationunserer Gesellschaften zeigt sich drit-tens auch in dem stark zunehmenden

Streben nach „Bildungshomogenität“in der Partnerschaft, das heißt danach,einen Partner gleichen Bildungsstandszu finden. Anders ausgedrückt: DieMenschen suchen ihre Partner zuneh-mend unter dem Aspekt des Human-kapitals aus, über das sie verfügen. Dasgilt besonders für die oberen Rängeder Gesellschaft und hat auf langeSicht massive, tendenziell polarisieren-de Konsequenzen. Wenn zwei Yuppie-Manager sich zusammentun und hei-raten, versprechen sich beide davoneine Stärkung ihrer Position. Auf deranderen Seite wird man, spiegelbild-lich, zwei Menschen mit sehr begrenz-ten Ressourcen sehen, weniger gebil-dete und weniger gut ausgebildeteLeute, die auch dazu tendieren, unter-einander zu heiraten.

Entscheidend sind die Eltern

Das hat offensichtlich große Konse-quenzen für die Fähigkeit von Fami-lien, in ihre Kinder zu investieren. DasInvestitionspotential von Eltern wirddie Ungleichheiten, die unterschiedli-chen Ressourcen unter den verschiede-nen Elterngruppen ziemlich genauwiderspiegeln. Zwei beruflich erfolg-reiche Menschen mit Vollzeitstellenund zwei vollen Einkommen besitzen,sofern sie Kinder haben, enorme Res-sourcen, sich um diese zu kümmernund in sie zu investieren. Das Problembesteht darin, dass wir am anderen

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Ende die Arbeitslosenhaushalte finden,wo beide Elternteile ohne Job sind.Diese haben nur sehr geringe Ressour-cen, die sie ihren Kindern weitergebenund mit denen sie deren Entwicklungsicherstellen können. Je weiter diesePolarisierung geht, desto ungleicherwerden die Kinder sich entwickeln.

Ein letzter Punkt: Es wird immerdeutlicher, dass Bildungsreformen dasProblem nicht lösen können, ebensowenig lebenslanges Lernen oder Aktivie-rungsmaßnahmen oder sonstige Inter-ventionen im Nachhinein. Sie bewirkennicht viel, weil alles davon abhängt,stark zu starten, und die Zeit für einenstarken Start liegt im frühen Kindesal-ter. Spätere Korrekturversuche bleibenim Allgemeinen wirkungslos und kostenviel. Wenn überhaupt, liefern sie nursehr bescheidene Ergebnisse. Deshalbmüssen wir unser Denken umstellenund uns stärker auf die frühe Kindheitkonzentrieren anstatt, wie bisher, aufaktive Arbeitsmarktpolitik für Erwach-sene, seien sie jung oder alt.

Soziale Vererbung

Aber was wissen wir über die Vermitt-lung von Lebenschancen an Kinder?Nun, wir kennen beispielsweise denZusammenhang zwischen sozialer Ver-erbung und Einkommensmobilität. Jehöher die Kennziffer der Sozialverer-bung ausfällt, desto weniger Mobilitätgibt es. In Großbritannien ist die Ein-

kommensverteilung unter den Kin-dern zu etwa 50 Prozent von der El-terngeneration ererbt. Soziale Verer-bung spielt also eine gewaltige Rolle.

In Dänemark werden die niedrigstenintergenerationellen Korrelationen ver-zeichnet. Das verblüfft, denn in Däne-mark gibt es die im Vergleich zu allenanderen europäischen Ländern wahr-scheinlich heftigste öffentliche Debatteüber das, was man bei uns „negative So-zialvererbung“ nennt. Das ist eines derheißesten Themen in der dänischen Dis-kussion. Dabei schneidet Dänemark hierinternational am besten ab. Auch wennwir uns den Einfluss der sozialen Her-kunft auf das Bildungsniveau anschauen,finden wir Dänemark wiederum unterden Besten, während Länder wie Groß-britannien oder die Vereinigten Staaten –und übrigens auch Deutschland – ziem-lich schlecht abschneiden.

Je ungleicher die Einkommensver-teilung ist, die wir in einer Gesell-schaft haben, desto ungleicher inves-tieren die Eltern in das Leben und dieZukunft ihrer Kinder. Nun würdeman annehmen, dass es in Ländernmit einem hohen Maß an Gleichheitauch ein hohes Maß an sozialer Verer-bung gibt.

Mehr Ungleichheit …

Überraschenderweise schneidet jedochdas Land, das für Mobilität und Le-benschancen steht wie kein anderes –

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

die USA mit einem Rockefeller, der alsSchuhputzjunge beginnt und als Mil-lionär endet – gerade im Hinblick aufdie Mobilität mit am schlechtesten ab.

… weniger Mobilität

Das Folgende möchte ich deshalb vier-mal unterstreichen: Je mehr Ungleich-heit wir haben, desto weniger sozialeMobilität und Einkommensmobilitätkönnen wir erwarten. Gleiches giltauch auf anderen Gebieten, etwa beider Langlebigkeit von Armut oder vonNiedrigeinkommen. Wo immer Siehinschauen, finden Sie ziemlich genaudie gleiche Korrelation.

Was steckt nun hinter diesem Sozial-vererbungs-Effekt und der Auswirkungelterlicher Ressourcen auf den Weg derKinder? Wir kennen zwei Grundquellender Ungleichheit. Die eine könnten wirals das „Geld-Problem“ bezeichnen, dieandere als das „Kultur-Problem“. Wirwissen, dass wirtschaftliche Unsicherheitund Armut im Kindesalter potentiellverheerende Konsequenzen für die Ent-wicklung von Kindern haben. For-schungen aus den USA zeigen, dass,wenn ein Kind in Armut geboren wirdoder aufwächst, sich die frühkindlicheArmut besonders schlimm auswirkt. Einarmes Kind wird im Durchschnitt zweiJahre weniger auf der Schule verbrin-gen. Amerikanische Forschungen kom-men in der Regel zu dramatischerenErgebnissen als europäische, aber auch

hier bestätigt sich überall mehr oderweniger dieselbe Geschichte: Kinder-armut und wirtschaftliche Unsicherheitsind außerordentlich schädlich für dasschulische Vorankommen und die allge-meine Entwicklung der Kinder. Daserzeugt natürlich das ganze Leben desKindes hindurch Folgewirkungen. Wirdjemand beispielsweise in den USA armgeboren, so wird er oder sie höchst-wahrscheinlich später ein armer Vateroder eine arme Mutter sein. Wir über-tragen die Ungleichheit von Generationzu Generation.

Armutsbekämpfung ist billig

Die gute Nachricht für Politiker, diedas Armutsproblem lösen wollen, lau-tet, dass dies in makroökonomischerPerspektive kaum etwas kosten muss.Makroökonomisch gesehen, entsprichtder Aufwand etwa den Kosten, wennwir nachmittags ausgehen und unseine Extratasse Kaffee gönnen. In Län-dern wie den skandinavischen ist dieAbschaffung der Kinderarmut gerade-zu ein Kinderspiel, ganz einfach des-halb, weil es so wenig Kinderarmutgibt und auch die Einkommensunter-schiede recht bescheiden sind. In Län-dern wie Großbritannien fällt Kinder-armut viel schwerer ins Gewicht, aberauch hier müssten lediglich 0,26 Pro-zent des BIP zusätzlich aufgebrachtwerden, um das Übel auszurotten. Dasist wirklich sehr wenig.

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Und es gibt eine noch bessere Nach-richt: Der Preis geht sogar gegen Null –jedenfalls unter dänischen Umständen–, wenn die Mütter arbeiten. DieWahrscheinlichkeit, dass in FamilienKinderarmut auftritt, schrumpft umden Faktor 3 oder 4, wenn die Mütterberufstätig sind. Die sich abzeichnendelebenslange Berufstätigkeit von Frauenund Müttern ist daher unter demAspekt sehr positiv zu beurteilen, dasssie zur Lösung des Kinder- und desEntwicklungsproblems beiträgt. Hierhandelt es sich um echte Lebenschan-cen.

Kulturelle Faktoren

Damit kommen wir zu der kulturellenSeite der Medaille. Die Beweislage ver-dichtet sich, dass dieses vergleichsweiseunbestimmte Phänomen, das wir Kul-tur nennen, vielleicht wichtiger ist alsdas greifbare Phänomen namens Geld.Um dieser Frage nachzugehen, kannman beispielsweise die PISA-Datenuntersuchen. Die PISA-Studien ent-halten eine Reihe von Kriterien, diedas kulturelle Niveau und die Inten-sität kultureller Stimulierung in derEltern-Kinder-Beziehung erfassen: J die Zahl der Bücher, die die Eltern

besitzen, J ob Eltern ihren Kindern vorlesen,J ob in der Familie regelmäßig mit-

einander über kulturelle Angelegen-heiten gesprochen wird.

Nehmen wir nur die Korrelationzwischen der Zahl der Bücher im el-terlichen Haushalt und dem Abschnei-den der Kinder in den von PISA un-tersuchten Schulen unter dem Aspektkognitiver Leistungen. Diese Korrela-tion ist viel stärker als die zwischendem Einkommen der Eltern und derschulischen Leistung der Kinder. Esgibt eine Menge Studien hierzu, diealle zu dem gleichen Ergebnis kom-men. Zwischen Kultur und Geld gibtes interessanterweise keine unmittel-bare Korrelation.

Wer Lehrer ist, weiß, dass er unter-bezahlt ist, aber er verfügt über jedeMenge Kultur. Andererseits gibt es alldiese Leute in der Baubranche, dieeine Menge Geld haben, aber nullKultur. Zwischen Geld und Kulturgibt es eben kaum einen, zumindestkeinen direkten Zusammenhang.

Kindern beim Start helfen

Das klingt zunächst einmal schlecht,denn wie könnten wir gesetzlich ver-ordnen, dass Eltern ihren Kindern vor-lesen oder dass sie Bücher kaufen oderganz allgemein die kognitive Entwick-lung ihrer Kinder stimulieren? Wirhaben es eben mit der privatisiertenWelt hinter den vier Wänden derFamilie zu tun.

Aber indirekt können wir im Hin-blick auf die Lösung des Stimulations-problems eine Reihe von Lehren aus

[ gøsta esping andersen ]

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[ gute rentenpolitik fängt mit babys an ]

den PISA-Studien ziehen. Das wahr-scheinlich berühmteste Beispiel ist dasamerikanische Headstart-Programm.Über dieses Programm wird seit mitt-lerweile 40 Jahren geforscht und wirwissen heute ziemlich genau, woraufes ankommt und worauf nicht. Wirwissen, dass Programme einer frühenIntervention in der Kindheit potentiellaußerordentlich wirksam sein können,indem sie den Kindern beim Start hel-fen oder sozusagen die Startlinie an-gleichen, von der aus Kinder, wenn siein die Schule kommen, loslegen.

Das Problem ist Folgendes: WennKinder mit niedrigen kognitiven Fä-higkeiten und schlechter Lernmotiva-tion in die Schule kommen, kann dieSchule an dieser frühen Ungleichheitnicht wirklich etwas ändern. Das Sys-tem der Leistungsbewertung reprodu-ziert sie ganz einfach immer weiter,von Jahr zu Jahr. Es ist deshalb sehrhilfreich zu wissen, dass Programmezur frühzeitigen Intervention dieseUngleichheiten in früher Kindheitwirkungsvoll korrigieren können. Dasscheint sowohl bei Headstart als auchbei anderen Programmen dieser Artsehr gut zu funktionieren und beson-ders den Kindern, die aus den mitBlick auf ihre ökonomischen und kul-turellen Ressourcen schwächsten Fa-milien kommen, zu nutzen. Und wirwissen, dass es möglich ist, kognitiveFähigkeiten oder kognitive Entwick-lung anzugleichen.

Eine besondere Rolle kommt beihochwertigen Stimulierungsprogram-men der Kinderbetreuung zu. Der wir-kungsvollste Teil der Start-Programme,auch in den USA, besteht in pädago-gisch intensiver, sehr hochwertiger,kognitiv stimulierender Kinderbetreu-ung. Hier dürfte auch der Grund dafürliegen, dass in Skandinavien die sozialeVererbung eine wesentlich geringereRolle spielt als irgendwo sonst.

Vorbild Skandinavien

Wenn Sie sich die Zahlen anschauen,sehen sie, dass die Reduzierung derSozialvererbung auf dramatische Weisemit den um 1970 geborenen Altersko-horten einsetzt. Dabei handelt es sichzufälligerweise um genau den Zeit-raum, in dem die skandinavischen Län-der die frühzeitige Kinderbetreuung aufqualitativ hohem Niveau landesweit zurealisieren begannen. Die Tatsache, dassseit Mitte der achtziger Jahre so gut wiealle Kinder vom ersten Lebensjahr anVollzeitkinderbetreuung erhielten, dürf-te die Ursache dafür sein, dass Skandi-navien die Auswirkungen der sozialenHerkunft auf die Bildungserfolge einesKindes drastisch reduziert hat.

Nun könnten Sie sagen, das ist jaalles gut und schön – wir könntenzwei Fliegen mit einer Klappe schla-gen, indem wir ganz einfach ein allge-meines Kinderbetreuungssystem ein-führen. Das würde das Problem der

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Doppelbelastung lösen helfen undwäre zugleich eine gute Investition indie Entwicklung der Kinder.

Im ersten Jahr bei den Eltern

Wenn beide Eltern einer Vollzeitbe-schäftigung nachgehen, braucht manein wenig Glück im Hinblick auf dieFolgen: Wenn sie ihre Berufstätigkeitnur sehr kurz in der allerersten Zeitnach der Geburt unterbrechen, hatdies möglicherweise negative Auswir-kungen auf die Entwicklung des Kin-des. Diese Frage ist in der Forschungziemlich umstritten. Es gibt Belegepro und contra. Die meisten sprechendafür, dass eine Berufstätigkeit derMutter keine negativen Konsequenzenhat, aber das hängt von mehreren Fak-toren ab. Erstens vom Alter des Kin-des: Es ist mittlerweile ziemlich klarbewiesen, dass es Kindern schadenkann, wenn sie während ihres erstenLebensjahrs ohne Vater oder Mutterauskommen müssen. Was daraus zulernen ist, liegt auf der Hand. Wirmüssen dafür sorgen, dass das Systemdes Eltern- plus Erziehungsurlaubesgarantiert, dass das Kind in seinemersten Lebensjahr oder zumindestwährend seiner ersten neun Monatemit den Eltern zusammenlebt.

Ein zweiter Punkt ist, dass wir zwarnegative Auswirkungen mütterlicherBerufstätigkeit auf kleine Kinder ken-nen, aber wenig darüber wissen, wie

die je spezifischen Auswirkungen sind,wenn man Jungen und Mädchen sepa-rat betrachtet. Wenn irgendjemandunter der Berufstätigkeit der Mutterleidet, sind es nicht die Mädchen. Diekommen gut zurecht, was wahrschein-lich mit dem Rollenmuster zusam-menhängt, das die Mutter für dieMädchen ausübt – das Modell einererfolgreichen, unabhängigen Frau.Weniger klar ist, inwiefern und warumJungen unter mütterlicher Berufstätig-keit leiden können. Dagegenzuhaltenwäre, dass man dem schwedischenVorbild folgen kann. Wenn es immermehr Anreize für die Männer gibt,einen großen Teil des Eltern- bzw.Erziehungsurlaubs zu nehmen, dannwürde das den Vätern ermöglichen,die Vaterrolle gegenüber den Jungenstärker auszufüllen und auf diese Wei-se zu kompensieren, was an mütterli-cher Präsenz wegfällt. Das würde denEffekt auf die Kinder ausgleichen.Aber das ist alles noch ziemlich speku-lativ, muss ich einräumen.

Es kommt hinzu, dass sehr viel vonder Qualität des Jobs der Mutter ab-hängt. Natürlich bleibt es nicht ohneAuswirkungen, wenn die Beschäftigungder Mutter stressig und extrem for-dernd ist. Hier stoßen wir wieder aufein Thema, das auch für die Fertilitätsehr wichtig ist: Einigermaßen ange-nehme Jobs, stressfreie und sichere Be-schäftigungen sind unter beiden Aspek-ten von entscheidender Bedeutung.

[ gøsta esping andersen ]

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Hier stehen wir vor einer der größ-ten Herausforderungen, und zwarnicht in einem traditionellen Bereichder Sozialpolitik, sondern in dem, waswir herkömmlicherweise Arbeits-marktpolitik nennen. Nun kann ichmir nicht vorstellen, dass wir irgendje-manden dazu bringen könnten, zweiArbeitsmärkte zu schaffen, einen fürMütter und einen für den Rest derBevölkerung. Die Frage lautet deshalb:Wie können wir die Qualität der Ar-beitsstellen und eine Gleichartigkeitder – auf die Lebenszeit berechneten –Beschäftigung für Frauen und Männergewährleisten? Wie gut wir diese Din-ge unter einen Hut bringen, hat ent-scheidende Auswirkungen auf die Be-rufstätigkeit der Mutter.

Anfang und Ende verbunden

Hier kommt die Qualität der Kinder-betreuung ins Bild. Wir brauchen abernicht lange darüber zu diskutieren,weil wir schon wissen, dass hochwer-tige Kinderbetreuung zugleich einegute Investition in die kognitive Ent-wicklung der Kinder ist, besonders imHinblick auf die Korrektur kognitiverDefizite bei unterprivilegierten Kin-dern. Eine Reihe von Untersuchungenzeigt, dass der Staat später alles zu-rückbekommt, was er heute zur Sub-ventionierung von Kinderbetreuungs-plätzen ausgibt, weil sie erheblich län-gere Lebensarbeitszeiten und damit

auch -einkünfte für Frauen ermögli-chen.

Ich habe nicht über den Wohl-fahrtsstaat gesprochen, sondern überdie Wendungen des Lebensverlaufs,besonders über seinen Anfang undsein Ende. Ich habe versucht zu zei-gen, dass und wie die beiden Endenmiteinander verbunden sind. MeinerMeinung nach sollten wir unsere poli-tischen Analysen zur Reform desWohlfahrtsstaates darauf ausrichtenund die wechselseitigen Verknüpfun-gen innerhalb von Lebensverläufenberücksichtigen.

Abschied von der Familie

Es ist sehr schwer vorherzusagen, wel-che globalen Krisen eintreten werden,aber in der Sozialpolitik lässt sich fürgute Analytiker recht einfach vorherse-hen, wie die Lebenszyklen der Men-schen sich gestalten. Es gibt dafür vielegute Instrumente, also auch viele Ins-trumente dafür, gute Politik zu ma-chen. Diese Instrumente werden aberzu selten benutzt. Ich möchte daherauch dazu einladen, von diesen Instru-menten der Lebensverlaufsanalyse vielintensiver Gebrauch zu machen.

Meine Geschichte handelt davon,was Plato einmal auf ziemlich kühleWeise angesprochen hat: Kinder vondummen Eltern, sagte er, solle manihren Eltern wegnehmen, damit siegute Bürger werden können. Es gibt

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[ gøsta esping anderson ]

einen freundlicheren Weg, der auchphilosophisch begründet ist, nämlichKindern aus den am meisten benach-teiligten Familien zu helfen. Eine all-gemeine Kinder- und Tagesbetreuungkann dies, wenn sie nur energischgenug betrieben wird, auf gesamt-gesellschaftlicher Ebene leisten. Ichdenke, soweit es um die Stimulationder Kinder geht, an eine Art nationa-les Kibbuz-System, allerdings mit demUnterschied, dass die Kinder dengrößten Teil ihres Lebens weiterhinmit den Eltern zusammen verbringen.

An dieser Stelle widersprechen aller-dings viele sozial konservative Bürge-rinnen und Bürger und politisch Ver-antwortliche. „Sie wollen unsere Kin-der in die Vorschule oder in den Kin-dergarten zwingen“, sagen sie, „aberwir sind für stärkere Familien!“ Dochdie Wirklichkeit sieht anders aus:Nimmt man die Daten der letzten 15Jahre, sowohl amerikanische wie skan-dinavische, so zeigt sich, dass die Zeit,die die Eltern zusammen mit ihrenKindern verbringen, de facto gestiegenund nicht etwa zurückgegangen ist –

und dass, obwohl die meisten Frauenheute vollzeitberufstätig sind. In Dä-nemark verbringen Eltern heute mehrZeit zusammen mit ihren Kindern alsin den sechziger Jahren. In den gutenalten Zeiten der traditionellen Familie,mit Hausfrau und alledem, widmetedie Familie den Kindern also viel we-niger Aufmerksamkeit, als sie das heu-te tut – und dies unter den Umstän-den des beschriebenen Szenarios, dasvielen Konservativen so wenig behagt.

Hier haben wir also weiteres Be-weismaterial, das unter den konserva-tiven Gegnern des vorgeschlagenenReformpakets vielleicht doch vieledavon überzeugen könnte, dass dieSache nicht so übel ist, wie sie denken.Das überzeugendste Argument jedochdürfte darin liegen, dass wir uns, wennwir den vorgeschlagenen Weg nichtakzeptieren, vermutlich gänzlich vonder Familie werden verabschiedenmüssen. Die Entwicklung wird nichtso verlaufen, wie die Bürgerinnen undBürger es sich wünschen, wenn wirnicht zu einer umfassenden Neugestal-tung unserer Familienpolitik finden. N

Wir danken den Blättern für deutsche und internationale Politikfür die freundliche Unterstützung bei der Veröffentlichung des Beitrages.

ist Soziologe und lehrt an der Universität Barcelona. PROF. DR. GØSTA ESPING ANDERSEN

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Das Debattenmagazin

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,– EUR inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo 25,– EUR

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Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD

ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG : Was gschah in Halbe?

TOBIAS DÜRR : Tafelsilber und Lebenslügen

MATTHIAS PLATZECK : Wir leben in einer neuen Welt

GÜNTHER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE | MICHAEL MÜLLER | VOLKER SCHLOT-

MANN | CORNELIUS WEISS : Neues Miteinander

HUBERTUS SCHMOLDT | ULRICH FREESE : Flexibilität braucht Sicherheit

GESINE SCHWAN : Freiheit, Gleichheit und Solidarität

PATRICK DIAMOND : Für eine neue soziale Gerechtigkeit

GØSTA ESPING ANDERSON : Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an

Auf dem Weg ins21. Jahrhundert

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 32 OKTOBER 2006 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun, Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in Köpfe H

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