Auf, Lasst Uns Gehen! - Johannes Paul II.

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Johannes Paul II. Auf, lasst uns gehen! scanned by unknown corrected by bg Lebenserinnerungen und Gedanken des Heiligen Vaters Das Vermächtnis von Papst Johannes Paul II. an die Welt – seine Erinnerungen an die Zeit von seiner Bischofsweihe über sein Wirken als Erzbischof von Krakau bis zu seiner Ernennung zum Papst. Wir erleben seinen Weg in die Verantwortung, seine Nähe zu den Menschen, die Bürde des Amtes … Bewegende Zeilen voller Warmherzigkeit und Güte, die zeigen, dass der Pontifex ein väterlicher Mensch mit großem Herzen ist. ISBN: 3-89897-045-0 Original: WSTANCIE, CHODZMY! Deutsch von Ingrid Stampa Verlag: Weltbild Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: X-Design, München Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Auf lasst uns gehen! von Johannes Paul II.

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Johannes Paul II.

Auf, lasst uns gehen!

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Lebenserinnerungen und Gedanken des Heiligen Vaters Das Vermächtnis von Papst Johannes Paul II. an die Welt – seine Erinnerungen an die Zeit von seiner Bischofsweihe über sein Wirken als Erzbischof von Krakau bis zu seiner Ernennung zum Papst. Wir erleben seinen Weg in die Verantwortung, seine Nähe zu den Menschen, die Bürde des Amtes … Bewegende Zeilen voller Warmherzigkeit und Güte, die zeigen, dass der Pontifex ein väterlicher Mensch mit großem Herzen ist.

ISBN: 3-89897-045-0 Original: WSTANCIE, CHODZMY!

Deutsch von Ingrid Stampa Verlag: Weltbild

Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: X-Design, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Buch »Auf, lasst uns gehen!« Dieses Jesus-Wort stellt Johannes Paul II. als Motto über seine Erinnerungen aus den zwanzig Jahren seines Lebens als Bischof von Krakau – eine Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs. Er berichtet von den Schwierigkeiten, die die polnische Kirche nach der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten unter der kommunistischen Herrschaft zu bestehen hatte, gibt Ein-blicke in die Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils, an dem er vom ersten bis zum letzten Tag teilnehmen konnte, berichtet von vielen menschlichen Begegnungen und lässt dabei immer wieder allgemeine Reflexionen einfließen, die den Leser in die spirituellen Hintergründe des Geschilderten einführen und ihm eine unmittelbare Freude am gelebten Glauben vermitteln. Wir erleben einen dynamischen, jungen Bischof, der als Vater und Hirte der Gläubigen immer bemüht ist, ganz nah bei den Menschen zu sein, einen weltoffenen Förderer der Wissenschaft und der Künste, einen Freund der Literatur und des Theaters, vor allem aber einen Menschen, der aus der Kraft des Gebetes lebt. Und wir dürfen ihn begleiten auf einem Teil seines Weges, der ihn schließlich auf den Stuhl Petri nach Rom führen sollte.

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Autor Johannes Paul II. wurde am 18. Mai 1920 als Karol Wojtyta im polnischen Wadowice geboren. Er studierte zunächst Literaturwissenschaften und war Schauspieler in einer Krakauer Theatergruppe. Nach seinem Theologie-studium, das wegen der deutschen Besatzung in Polen weitgehend im Untergrund stattfinden musste, wurde er 1946 zum Priester und knapp zwölf Jahre später, im Jahre 1958, bereits zum Bischof geweiht. Ab 1964 Erzbischof von Krakau, wurde er 1967 zum Kardinal ernannt und 1978 als Nachfolger Johannes’ Pauls I. zum Papst ge-wählt. Johannes Paul II. ist der erste polnische und seit 1522/23 der erste nicht italienische Papst. 1981 wurde er bei einem Attentat auf dem Petersplatz schwer verletzt.

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Inhalt

Einleitung...........................................................................6

TEIL I DIE BERUFUNG ..................................................8 Die Quelle der Berufung .................................................9 Die Berufung.................................................................12 Nachfolger der Apostel .................................................17 Wawel – der Burgberg ..................................................21 Die weihenden Bischöfe ...............................................29 Die liturgischen Handlungen der Weihe .......................31 Der heilige Chrisam ......................................................34 Die Mitra und das Pastorale ..........................................40 Die Pilgerfahrt zum Marien-Wallfahrtsort....................46

TEIL II DIE TÄTIGKEIT DES BISCHOFS...................51 Die Aufgaben des Bischofs...........................................52 Hirt ................................................................................55 »Ich kenne meine Schafe« ............................................57 Die Ausspendung der Sakramente ................................60 Der Kampf für die Kirche .............................................66

TEIL III WISSENSCHAFTLICHER UND PASTORALER EINSATZ ..............................................70

Der Bischof und die Welt der Kultur ............................72 Die Bücher und das Studium.........................................74 Die Kinder und die Jugendlichen..................................78 Die Katechese................................................................83 Caritas – die Nächstenliebe...........................................85

TEIL IV DIE VATERSCHAFT DES BISCHOFS..........88 Die Zusammenarbeit mit den Laien..............................89 Die Zusammenarbeit mit den Ordensgemeinschaften ...........................................93

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Die Priester....................................................................97 Das Haus des Bischofs ................................................102 Bei den eigenen Leuten sein .......................................111

TEIL V BISCHÖFLICHE KOLLEGIALITÄT.............114 Der Bischof in der Diözese .........................................115 Das Pallium .................................................................117 Der Bischof in seiner Lokalkirche ..............................118 Die Kollegialität ..........................................................121 Die Konzilsväter..........................................................125 Das Kardinals-Kollegium............................................128 Die Synoden ................................................................130 Die Verwirklichung des Konzils .................................135 Die polnischen Bischöfe .............................................139

TEIL VI GOTT UND DER MUT..................................143 Stark im Glauben.........................................................144 Die Heiligen von Krakau ............................................147 Martyres – die Märtyrer ..............................................150 Das Heilige Land.........................................................156 Abraham und Christus: ...............................................158

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EINLEITUNG

Nach der Veröffentlichung des Buches »Geschenk und Geheimnis«, das Erinnerungen und Betrachtungen enthält, welche die Anfangszeit meines Priestertums betreffen, erhielt ich, vor allem von Jugendlichen, zahlreiche Zeug-nisse herzlicher Dankbarkeit dafür. Wie mir berichtet wurde, hat sich für nicht wenige von ihnen diese persön-liche Ergänzung des Apostolischen Schreibens Pastores dabo vobis als eine wertvolle Hilfe erwiesen, um die eigene Berufung in rechter Weise zu erkennen. Das hat mir Freude bereitet. Möge Christus sich auch in Zukunft dieser Betrachtungen bedienen, um weitere Jugendliche dahin zu führen, auf seine Einladung zu hören: »Folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen« (Mk 1,17). Anlässlich des 45. Jahrestags meiner Bischofs-weihe und des 25. Jahres meines Pontifikats wurde ich gebeten, die Fortsetzung dieser Erinnerungen von 1958 an – dem Jahr also, als ich Bischof wurde – nieder-zuschreiben. Ich hatte den Eindruck, dieser Aufforderung ebenso nachkommen zu müssen wie der Anregung zu dem vorhergehenden Buch. Ein weiteres Motiv, diese Erinnerungen und Überlegungen zu sammeln und neu zu ordnen, war die fortschreitende Ausarbeitung eines Dokumentes, das dem bischöflichen Dienst gewidmet ist: das Apostolische Schreiben Pastores gregis. Darin habe ich die Gedanken und Vorstellungen zusammenfassend dargelegt, die im Laufe der 10. Ordentlichen General-versammlung der Bischofssynode im Großen Jubiläums-jahr 2000 zum Ausdruck gebracht worden waren. Als ich im Auditorium die Beiträge der Bischöfe hörte und später

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die Texte mit den Vorschlägen zur Hand nahm, die sie mir unterbreitet hatten, spürte ich, wie in mir viele Erinne-rungen erwachten – sowohl aus den Jahren, in denen es meine Aufgabe war, der Kirche in Krakau zu dienen, als auch aus diesen Jahren in Rom, wo ich als Nachfolger Petri neue Erfahrungen sammelte. So habe ich den Versuch gemacht, diese Gedanken zu Papier zu bringen, denn es ist mein Wunsch, auch anderen das Zeugnis der Liebe Christi mitzuteilen, der durch die Jahrhunderte hindurch immer neue Nachfolger der Apostel beruft, um seine Gnade mit Hilfe von »zerbrechlichen Gefäßen« in die Herzen der Menschen auszugießen. In diesen Erinnerungen begleiteten mich ständig die Worte, die Paulus an den jungen Bischof Timotheus richtet: »Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde« (2 Tim 1,9).

Dieses Schreiben biete ich an als ein Zeichen der Liebe zu meinen Mitbrüdern im Bischofsamt und zum ganzen Volk Gottes. Möge es denen hilfreich sein, die die Größe des bischöflichen Dienstes kennen lernen möchten und die Mühe, die er mit sich bringt, aber auch die Freude, die ihn in seiner täglichen Erfüllung begleitet. Alle lade ich ein, mit mir in das Te Deum des Lobes und des Dankes einzustimmen. Mit dem Blick auf Christus gerichtet und gestützt auf die Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt, wollen wir gemeinsam auf den Wegen des neuen Jahrtausends voranschreiten: »Auf, lasst uns gehen!« (Mk 14,42).

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TEIL I DIE BERUFUNG

»Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt«

(Joh 15,16).

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Die Quelle der Berufung

Ich suche die Quelle meiner Berufung. Sie pulsiert dort, im Abendmahlssaal von Jerusalem. Und ich danke Gott, dass es mir während des Großen Jubiläums des Jahres 2000 vergönnt war, gerade dort, in jenem Raum im Obergeschoss (vgl. Mk 14,15) zu beten, in dem das Letzte Abendmahl stattfand. Auch jetzt versetze ich mich im Geist an jenen denkwürdigen Donnerstag, als Christus, nachdem er den Seinen seine Liebe bis zur Vollendung erwiesen hatte (vgl. Job 13,1), die Apostel als Priester des Neuen Bundes einsetzte. Ich sehe ihn, wie er sich auch vor jedem von uns Nachfolgern der Apostel niederbeugt, um uns die Füße zu waschen. Und ich höre seine Worte: »Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe« (Job 13,12–15). Ich höre diese Worte, als seien sie an mich, an uns, gerichtet. Hören wir, gemeinsam mit Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes …, hören wir weiter: »Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für

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seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage« (Joh 15,9–14). Ist in diesen Worten nicht das ganze mysterium caritatis unserer Berufung enthalten? In den Worten, die Christus in »seiner« Stunde sprach, für die er gekommen war (vgl. Joh 12,27), liegt die Wurzel jeder Berufung in der Kirche. Aus diesen Worten fließt der Lebenssaft, der jede Berufung nährt – die der Apostel und ihrer Nachfolger, wie auch die eines jeden Menschen, denn der Sohn Gottes will »Freund« eines jeden sein: hat er doch für alle sein Leben hingegeben. In diesen Worten begegnet man dem Wichtigsten, Kostbarsten und Heiligsten: der Liebe des Vaters und der Liebe Christi zu uns, seiner und unserer Freude, sowie auch unserer Freundschaft und unserer Treue, die in der Erfüllung der Gebote ihren Ausdruck finden. In diesen Worten ist auch das Ziel, der Sinn unserer Berufung angesprochen: Wir sollen uns nämlich aufmachen und Frucht bringen, und unsere Frucht soll bleiben (vgl. Joh 15,16). Die Liebe ist schließlich das Band, das alles zusammenhält: Sie eint wesensmäßig die göttlichen Personen, und sie eint ebenfalls – wenn auch auf ganz anderer Ebene – die Menschen und ihre verschiedenen Berufungen untereinander. Wir haben unser Leben Christus anvertraut, ihm, der uns zuerst geliebt und als guter Hirt sein Leben für uns hingegeben hat. Die Apostel Christi hörten jene Worte, fühlten sich durch sie unmittelbar angesprochen und erkannten in ihnen ihre persönliche Berufung. In gleicher Weise müssen zwangs-läufig auch wir, ihre Nachfolger und Hirten der Kirche Christi, uns verpflichtet fühlen, als Erste auf diese Liebe zu antworten, und zwar in der Treue, in der Erfüllung der Gebote und darin, täglich unser Leben für die Freunde unseres Herrn hinzugeben. »Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe« (Joh 10,11). In der Homilie, die ich

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anlässlich meines 25-jährigen Pontifikats am 16. Oktober 2003 auf dem Petersplatz hielt, sagte ich in diesem Zu-sammenhang: »Als Jesus diese Worte sprach, wussten die Apostel nicht, dass er von sich selber redete. Nicht einmal der Lieblingsjünger Johannes wusste es. Er begriff es erst auf dem Kalvarienberg unter dem Kreuz, als er sah, wie er still sein Leben hingab ›für seine Schafe‹. Als dann für ihn und die anderen Apostel die Zeit kam, dieselbe Sendung zu übernehmen, da erinnerten sie sich gemeinsam an seine Worte. Und es wurde ihnen bewusst, dass sie nur deshalb imstande sein würden, die Sendung zu erfüllen, weil Jesus ihnen versichert hatte, er selbst werde es sein, der durch sie handelt.«

»Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt, und dass eure Frucht bleibt« (Joh 15,16). Nicht ihr, sondern Ich, sagt Christus – Das ist der Grund, auf dem die Wirksamkeit der pastoralen Sendung des Bischofs beruht.

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Die Berufung

Es war im Jahre 1958. Mit einer Gruppe begeisterter Paddelboot-Fahrer befand ich mich im Zug nach Olsztyn (Allenstein). Wir waren im Begriff, unsere Ferien nach dem seit 1953 praktizierten Programm zu beginnen: Einen Teil der Ferien verbrachten wir in den Bergen, meist auf den Bieszczady, und einen Teil an den Masurschen Seen. Unser Ziel war der Fluss Lyna. Und genau deshalb waren wir im Zug nach Olsztyn; es war im Juli. Ich wandte mich an den, der bei uns als »Admiral« fungierte – wenn ich mich recht erinnere, war das damals Zdzislaw Heydel – und sagte zu ihm: »Zdzislaw, bald werde ich das Boot verlassen müssen, denn der Primas (nach dem Tod von Kardinal August Hlond im Jahr 1948 war das Kardinal Stefan Wyszynski) hat mich zu sich bestellt und ich muss mich bei ihm vorstellen.« Der »Admiral« antwortete mir: »Einverstanden, ich nehme das in die Hand.«

So verließen wir also am festgesetzten Tag die Gruppe, um nach Olsztynek (Hohenstein), zur nächstgelegenen Bahnstation zu kommen. Da ich wusste, dass ich mich während unserer Flussreise beim Kardinal Primas vor-stellen musste, hatte ich in weiser Voraussicht bereits meinen Festtags-Talar in Warschau bei Freunden gelassen. Es wäre nämlich kaum angebracht gewesen, in dem Talar zum Primas zu gehen, den ich während der Bootsfahrten mitnahm. (Tatsächlich hatte ich auf unseren Ausflügen immer einen Talar und die Paramente für die Messfeier bei mir.) So machte ich mich also auf den Weg nach Olsztynek, zuerst auf den Wellen des Flusses im Paddel-boot und dann auf einem Lastwagen, der mit Mehlsäcken

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beladen war. Der Zug nach Warschau fuhr spät in der Nacht ab. Deshalb hatte ich meinen Schlafsack mit-genommen, weil ich während der Wartezeit auf dem Bahnhof ein kleines Schläfchen zu halten gedachte: Irgendjemand, den ich darum bitten würde, könnte mich dann rechtzeitig wecken. Das war jedoch nicht nötig, denn ich schlief überhaupt nicht.

In Warschau meldete ich mich zur festgesetzten Zeit im Bischofshaus in der Miodowa-Straße. Dort stellte ich fest, dass zusammen mit mir noch drei andere Priester bestellt waren: Wilhelm Pluta aus Schlesien, der Pfarrer von Bochnia in der Diözese Tarnów, Michal Blecharczyk, und Józef Drzazga aus Lublin. Im ersten Moment maß ich dem Zusammentreffen keine Bedeutung bei; erst später begriff ich, dass wir alle aus demselben Grund dorthin bestellt worden waren. Im Arbeitszimmer des Primas vernahm ich dann aus seinem Munde, dass der Heilige Vater mich zum Weihbischof des Erzbischofs von Krakau ernannt hatte. Im Februar desselben Jahres (1958) war nämlich Bischof Stanislaw Rospond verstorben, der unter dem damaligen Ordinarius der Erzdiözese, dem Metropoliten Kardinal Fürst Adam Sapieha, viele Jahre lang Weihbischof in Krakau gewesen war.

Als ich die Worte hörte, mit denen der Primas mir die Entscheidung des Apostolischen Stuhls verkündete, sagte ich: »Eminenz, ich bin zu jung, kaum 38 Jahre alt.«

Doch der Primas antwortete: »Das ist ein Fehler, den Sie bald überwinden werden. Ich bitte Sie, sich dem Willen des Heiligen Vaters nicht zu widersetzen.«

Darauf sagte ich nur noch: »Ich akzeptiere.« »Dann gehen wir zum Mittagessen«, schloss der Primas.

Er hatte uns alle vier zum Mittagessen eingeladen. So erfuhr ich, dass Wilhelm Pluta zum Bischof von Gorzów

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Wielkopolski (Landsberg), der damals größten Aposto-lischen Administration Polens, ernannt worden war. Sie umfasste Szczecin (Stettin) und Kolobrzeg (Kolberg), eine der ältesten Diözesen: Kolobrzeg war nämlich im Jahr 1000 gleichzeitig mit der Metropolie Gniezno (Gnesen) errichtet worden, zu der außer Kolobrzeg noch Krakau und Breslau gehörten. Józef Drzazga war zum Weih-bischof von Lublin ernannt worden (später kam er nach Olsztyn), und Michal Blecharczyk zum Weihbischof von Tarnów. Nach dieser für mein Leben so bedeutenden Audienz wurde mit klar, dass ich nicht sofort zu den Freunden und meinem Boot zurückkehren konnte; zuerst musste ich mich nach Krakau begeben, um meinen Ordinarius, den Erzbischof Eugeniusz Baziak, zu infor-mieren. Während ich auf den Nachtzug wartete, der mich nach Krakau bringen sollte, betete ich stundenlang in der Kapelle der Warschauer Ursulmen in der Wislana-Straße. Erzbischof Eugeniusz Baziak hatte als lateinischer Metropolit von Lemberg das Schicksal aller so genannten Evakuierten geteilt und die Stadt verlassen müssen. Er hatte sich in Lubaczów niedergelassen, jenem Zipfel der Erzdiözese Lemberg, der sich nach den Entscheidungen von Jalta innerhalb der Grenzen der Volksrepublik Polen befand. Der Erzbischof von Krakau, Fürst Sapieha, hatte im letzten Jahr vor seinem Tod darum gebeten, dass Erzbischof Baziak, der gezwungenermaßen seine eigene Erzdiözese hatte verlassen müssen, nun sein Koadjutor würde. So ist also mein Episkopat chronologisch mit der Person dieses so sehr geprüften Bischofs verbunden.

Am folgenden Tag ging ich zu Erzbischof Eugeniusz Baziak in die Franciszkanska-Straße 3 und übergab ihm den Brief des Kardinal Primas. Ich erinnere mich, als sei es heute, wie der Erzbischof mich unter den Arm nahm und in den Warteraum führte, wo einige Priester saßen,

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und sagte: »Habemus papam!« Im Licht der späteren Ereignisse könnte man sagen, dass dies prophetische Worte waren.

Als ich am Schluss dem Erzbischof sagte, dass ich nun gern in die Masuren zur Gruppe meiner Freunde zurückkehren würde, die sich mit dem Boot auf der Lyna befanden, antwortete er: »Das ist jetzt wohl nicht mehr angemessen!« Ziemlich traurig über diese Antwort, begab ich mich in die Kirche der Franziskaner und ging dort betend den Kreuzweg nach, wobei ich die von Józef Mehoffer gemalten Stationen betrachtete. Ich ging gern zum Kreuzweg in diese Kirche, weil mir diese originellen, modernen Darstellungen der Stationen gefielen. Danach kehrte ich noch einmal zum Erzbischof Baziak zurück und legte ihm erneut meine Bitte vor. Ich sagte: »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Exzellenz. Trotzdem bitte ich Sie, mir zu gestatten, in die Masuren zurückzukehren.« Diesmal antwortete er: »Ja, ja, gehen Sie nur. Ich bitte Sie aber«, fügte er lächelnd hinzu, »für die Weihe zurückzukehren.«

Noch am gleichen Abend stieg ich darum erneut in den Zug nach Olsztyn. Ich hatte das Buch von Hemingway, »Der alte Mann und das Meer« bei mir. Das las ich fast die ganze Nacht hindurch, denn nur für ganz kurze Zeit gelang es mir, ein wenig einzuschlafen. Ich fühlte mich ziemlich seltsam … Als ich in Olsztyn ankam, traf ich die Freunde aus meiner Gruppe, die mit ihren Booten den Fluss Lyna entlang dorthin gepaddelt waren. Der »Admiral« kam mir auf dem Bahnhof entgegen und sagte: »Nun, Onkel, hat man Sie zum Bischof gemacht?«

Ich bejahte. Und er: »Genau so …, in meinem Herzen habe ich mir genau das vorgestellt und Ihnen gewünscht.«

In der Tat war dies gar nicht allzu lange vorher anlässlich der Feier des zehnten Jahrestags meiner Priesterweihe sein Glückwunsch gewesen. Am Tag meiner

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Ernennung zum Bischof hatte ich erst knapp zwölf Jahre Priestertum hinter mir. Ich hatte wenig geschlafen, und darum war ich bei meiner Ankunft müde. Trotzdem ging ich noch vor dem Ausruhen in die Kirche, um die heilige Messe zu zelebrieren. Die Kirche wurde vom damaligen Universitäts-Seelsorger Ignacy Tokarczuk geführt, der später Bischof wurde. Dann endlich konnte ich mich dem Schlaf überlassen. Als ich bald darauf wieder erwachte, merkte ich, dass die Nachricht sich bereits verbreitet hatte, denn Ignacy Tokarczuk sprach mich an und sagte: »Nun, neuer Bischof, herzlichen Glückwunsch!« Ich lächelte und ging davon, um zur Gruppe meiner Freunde zu stoßen, wo ich mein Boot wiederbekam. Als ich aber zu paddeln begann, fühlte ich mich erneut ein wenig seltsam. Das Zusammenfallen der Daten hatte mich beeindruckt: Die Ernennung war mir am 4. Juli bekannt gegeben worden, und das war der Weihetag der Kathedrale auf dem Wawel – eine Jahresfeier, die in meinem Innern immer eine starke Resonanz gefunden hat. Es schien mir, als habe dieses Zusammenfallen der beiden Ereignisse etwas zu bedeuten. Gleichzeitig dachte ich, es werde wohl dieses das letzte Mal sein, dass ich mein Boot benutzen könne. In Wirklichkeit – das muss ich sofort anmerken – konnte ich noch viele Male paddeln gehen und auf den masurschen Flüssen und Seen im Boot meine Kräfte stärken. Das dauerte praktisch fort bis 1978.

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Nachfolger der Apostel

Nach der Sommerpause kehrte ich nach Krakau zurück, und es begannen die Vorbereitungen für die Weihe, die auf den 28. September, das Fest des hl. Wenzel (Wenzeslaus), des Patrons der Kathedrale des Wawel, festgesetzt war. Dass dieses historische Gotteshaus dem hl. Wenzel gewidmet ist, lässt die alten Verbindungen zwischen dem polnischen Land und Böhmen deutlich werden. Der hl. Wenzel war nämlich ein böhmischer Her-zog, der durch die Hand seines Bruders zum Märtyrer wurde. Auch Böhmen verehrt ihn als seinen Patron.

Eine grundlegende Etappe in meiner Vorbereitung auf die Bischofsweihe waren die geistlichen Exerzitien. Ich machte sie in Tyniec. Oft hatte ich mich in diese histo-rische Abtei begeben. Diesmal war es für mich ein Aufent-halt von besonderer Bedeutung. Ich sollte Bischof werden, war bereits ernannt. Aber bis zur Weihe war noch ziemlich viel Zeit, über zwei Monate. Die musste ich so gut wie möglich ausnutzen.

Die Exerzitien dauerten sechs Tage – sechs Tage der Meditation. Mein Gott, wie viele und was für Inhalte! »Nachfolger der Apostel« – genau diese Worte hatte ich während jener Tage aus dem Munde eines meiner Bekannten, eines Physikers, gehört. Offensichtlich messen diejenigen, welche glauben, dieser apostolischen Sukzes-sion eine besondere Bedeutung bei. Ich – ein »Nach-folger« – dachte mit großer Demut an die Apostel Christi und an die lange, ununterbrochene Kette von Bischöfen, die durch Handauflegung ihren jeweiligen Nachfolgern die Teilhabe am Apostelamt übertragen hatten. Und nun

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sollten sie sie auch mir übertragen. Ich fühlte mich mit jedem von ihnen persönlich verbunden. Einige von denen, die uns in der Kette der Nachfolge vorausgegangen sind, Bischöfe von heute, kennen wir namentlich. In zahlreichen Fällen sind ihrer Denkwürdigkeit wegen sogar ihre pasto-ralen Werke bekannt. Doch auch im Fall der Bischöfe aus der Frühzeit der Kirche, die uns heute nicht mehr bekannt sind, kann man sagen, dass ihre bischöfliche Berufung und ihr Werk fortdauern – und dass eure Frucht bleibt (vgl. Joh 15,16). Und das geschieht auch durch uns, ihre Nach-folger, die wir eben gerade durch ihre Hände kraft der Wirksamkeit des Sakramentes dahin gelangen, uns mit Christus zu verbinden, der sie und uns »vor der Er-schaffung der Welt« (Eph 1,4) erwählt hat. Wunderbare Gabe, wunderbares Mysterium!

»Ecce sacerdos magnus, qui in diebus suis placuit Deo … Ideo iureiurando fecit ilium Dominus crescere in plebem suam« – so wird es in der Liturgie gesungen. Dieser einzige Hohepriester des neuen und ewigen Bundes ist Jesus Christus selbst. Er brachte das Opfer des eigenen Priestertums dar, indem er am Kreuz starb und sein Leben hingab für seine Herde, für die ganze Menschheit. Er selbst war es, der am Tag vor seinem blutigen Kreuzes-opfer während des Letzten Abendmahls das Sakrament des Priestertums einsetzte. Er selbst war es, der das Brot in seine Hände nahm und darüber die Worte sprach: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.« Er selbst war es, der dann den Kelch mit Wein in seine Hände nahm und darüber die Worte sprach: »Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.« Und am Ende fügte er hinzu: »Tut dies zu meinem Gedächtnis.« Das sagte er vor den Aposteln, vor jenen Zwölf, deren Erster Petrus war. Zu ihnen sagte er: »Tut dies zu meinem

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Gedächtnis.« Auf diese Weise setzte er sie ein als Priester nach seinem Bild, als Abbild des einzigen Hohenpriesters des Neuen Bundes.

Vielleicht verstanden die Apostel, die am Letzten Abendmahl teilnahmen, nicht sofort die volle Bedeutung jener Worte, die sich am nächsten Tag erfüllen sollten, als der Leib Christi tatsächlich dem Tod übergeben und sein Blut am Kreuz tatsächlich vergossen wurde. Vielleicht begriffen sie im ersten Augenblick nur, dass sie den Ritus des Abendmahls mit dem Brot und dem Wein wiederholen sollten. Tatsächlich berichtet die Apostelgeschichte, dass nach den österlichen Ereignissen die ersten Christen am Brechen des Brotes und an den Gebeten festhielten (vgl. Apg 2,42). Zu diesem Zeitpunkt war allerdings bereits allen die Bedeutung des Ritus ganz klar.

Nach der Liturgie der Kirche ist der Gründonnerstag der Gedenktag des Letzten Abendmahls, der Einsetzung der Eucharistie. Vom Abendmahlssaal in Jerusalem aus breitete sich die Feier der Eucharistie nach und nach über die ganze damalige Welt aus. Zunächst waren es die Apostel, die in Jerusalem dieser Feier vorstanden. Später, mit der allmählichen Verbreitung des Evangeliums, zele-brierten sie selbst und diejenigen, denen sie »die Hände aufgelegt« hatten, sie an immer neuen Orten, angefangen in Kleinasien. Schließlich gelangte die Eucharistie mit den Heiligen Petrus und Paulus nach Rom, der Hauptstadt der damaligen Welt. Jahrhunderte später kam sie über die Weichsel. Ich erinnere mich, dass ich während der Exer-zitien vor der Bischofsweihe Gott in besonderer Weise gerade dafür dankte, dass das Evangelium und die Eucharistie über die Weichsel gekommen waren, dass sie auch nach Tyniec gekommen waren. Die Abtei Tyniec bei Krakau, deren Anfänge bis ins 11. Jahrhundert zurück-reichen, war wirklich der passende Ort, um mich darauf

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vorzubereiten, in der Kathedrale des Wawel die Weihe zu empfangen. Während meines Besuches in Krakau im Jahre 2002 gelang es mir, vor dem Rückflug nach Rom noch einen – wenn auch sehr kurzen – Besuch in Tyniec zu machen. Es war wie die Abzahlung persönlicher »Schul-den« an Dankbarkeit. Tyniec verdanke ich sehr viel. Vielleicht nicht nur ich, sondern auch ganz Polen.

Langsam rückte der 28. September näher. Noch bevor ich geweiht war, trat ich anlässlich des silbernen Bischofs-jubiläums von Erzbischof Baziak in Lubaczów offiziell als nominierter Bischof auf. Es war am Gedenktag der »Schmerzen Mariens« – ein Fest, das in Lemberg am 22. September gefeiert wurde. Ich war dort zusammen mit zwei Bischöfen von Przemysl: Mons. Franciszek Barda und Mons. Wojciech Tomaka, beide bereits in sehr fortgeschrittenem Alter, und ich zwischen ihnen – 38 Jahre jung. Ich empfand eine gewisse Verlegenheit. Genau dort fanden die ersten »Proben« für mein Bischofs-amt statt. Eine Woche später war die Weihe auf dem Wawel.

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Wawel – der Burgberg

Von Kind an habe ich eine ganz spezielle Liebe zur Kathedrale auf dem Wawel. Ich erinnere mich nicht, wann ich das erste Mal dort war, aber seit ich begann, sie zu besuchen, fühlte ich mich in besonderer Weise von ihr angezogen und mit ihr verbunden. Irgendwie enthält der Wawel die ganze Geschichte Polens. Ich habe eine tragische Zeit erlebt, als die Nazis den Sitz ihres Gouverneurs Frank in das Schloss des Wawel legten und über ihm die Hakenkreuz-Fahne hissten. Das war für mich eine besonders schmerzliche Erfahrung. Aber am Ende kam der Tag, an dem die Fahne mit der Swastika verschwand und die polnischen Embleme zurückkehrten.

Die heutige Kathedrale existiert seit der Zeit Kasimirs des Großen. Ich habe die verschiedenen Teile des Gotteshauses mit den jeweiligen Monumenten lebendig vor Augen. Ein Gang durch das Hauptschiff und die Seitenschiffe genügt, um die Sarkophage der polnischen Könige zu sehen. Und wenn man dann in die Krypta der Dichter hinabsteigt, findet man die Grabstätten von Mickiewicz, Slowacki und als letzte die von Norwid. Wie ich in meinem Buch »Geschenk und Geheimnis« erwähnte, hatte ich mir so sehr gewünscht, meine erste heilige Messe auf dem Wawel, in der Krypta des hl. Leonhard in den unterirdischen Gewölben der Kathedrale feiern zu können; und so geschah es. Sicher war dieser Wunsch aus der tiefen Liebe entsprungen, die ich für alles empfand, was eine Spur meiner Heimat in sich trug. Dieser Ort, an dem jeder Stein von Polen, von der polnischen Größe spricht, ist mir lieb. Lieb ist mir der

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gesamte Komplex des Wawel: die Kathedrale, das Schloss und der Arkadenhof. Als ich letztlich in Krakau war, bin ich auch zum Wawel gegangen, und dort habe ich am Grab des hl. Stanislaus gebetet. Ein Besuch dieser Kathedrale, deren Gast ich zwanzig Jahre lang war, konnte unmöglich ausbleiben. Mein Lieblingsort in der Kathe-drale des Wawel ist die Krypta des hl. Leonhard. Es ist der Teil des alten Domes, der auf die Zeit des Königs Boleslaw III. Krzywousty (»Schiefmaul«) zurückgeht. Die Krypta selbst ist Zeuge noch älterer Zeiten. Sie erinnert nämlich noch an die ersten Bischöfe zu Beginn des 11. Jahrhunderts: damals beginnt die Genealogie des Episkopats von Krakau. Die ersten Bischöfe tragen geheimnisvolle Namen: Prokop und Prokulf, als seien sie griechischer Herkunft. Allmählich erscheinen dann immer häufiger slawische Namen wie Stanislaus von Szczepanów, der 1072 Bischof von Krakau wurde. 1079 wurde er ermordet von Männern, die König Boleslaw II. Smialy (»der Kühne«) beauftragt hatte. Später musste dieser König außer Landes fliehen; wahrscheinlich ver-brachte er seinen letzten Lebensabschnitt als Büßer in Ossiach (Osjak).

Als ich Metropolit von Krakau wurde, zelebrierte ich auf dem Heimweg von Rom nach Krakau in Ossiach die heilige Messe. Dort entstand die dichterische Beschrei-bung jenes Ereignisses, das so viele Jahrhunderte zurück-lag: Ich schrieb das Gedicht mit dem Titel »Stanislaus«.

Sankt Stanislaus, »Vater der Heimat«: Am Sonntag nach dem 8. Mai gibt es eine große Prozession vom Wawel nach Skalka. Während des ganzen Weges singen die Teilnehmer Hymnen im Wechsel mit der Antiphon: »Heiliger Stanislaus, unser Patron, bitte für uns!« Der Zug kommt vom Wawel herab, zieht durch die Stradom- und die Krakowska-Straße und geht weiter bis nach Skalka,

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wo die heilige Messe zelebriert wird, gewöhnlich unter dem Vorsitz eines Bischofs, der eigens dazu eingeladen wird. Nach der Messfeier kehrt die Prozession auf demselben Weg zur Kathedrale zurück. Dort werden dann die Schädel-Reliquien des hl. Stanislaus, die in dem herrlichen Reliquiar in der Prozession mitgetragen wurden, auf dem Altar niedergelegt. Die Polen waren von Anfang an überzeugt von der Heiligkeit dieses Bischofs, und mit großem Eifer setzten sie sich für seine Heiligsprechung ein, die im 13. Jahrhundert in Assisi stattfand. Bis heute sind in der umbrischen Stadt die Fresken erhalten, die den hl. Stanislaus darstellen. Neben der Confessio des hl. Stanislaus – einem Schatz von ungeheurem Wert, der in der Kathedrale des Wawel gehütet wird – befindet sich das Grabmal der heiligen Königin Hedwig (Jadwiga). Ihre Reliquien wurden anlässlich meiner dritten Pilgerfahrt in die Heimat im Jahre 1987 unter dem berühmten Kruzifix von Wawel beigesetzt. Zu Füßen dieses Kruzifixes fällte Hedwig im Alter von 12 Jahren die Entscheidung, den litauischen Großfürsten Wladislaw Jagiello zu heiraten. Diese Entscheidung – sie fiel im Jahre 1386 – reihte Litauen in die Familie der christlichen Nationen ein. Mit Ergriffen-heit erinnere ich mich an den 8. Juni 1997, als ich während der Heiligsprechung auf den Blonia in Krakau die Homilie begann mit den Worten: »Hedwig, lange hast du auf diesen Tag gewartet (…) beinahe sechshundert Jahre.« Zu dieser Verspätung hatten verschiedene Umstände bei-getragen, die jetzt schwerlich zu erläutern sind. Seit langer Zeit hatte ich den Wunsch gehegt, die »Herrin vom Wawel« möge auch im kanonischen Sinn offiziell als Heilige anerkannt werden, und an jenem Tag wurde es nun wahr. Ich dankte Gott, dass es mir vergönnt war, nach so vielen Jahrhunderten nun die Bestrebungen zu erfüllen, die

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das polnische Volk viele Generationen lang im Herzen getragen hatte. Alle diese Erinnerungen verbinden sich in irgendeiner Weise mit dem Tag meiner Weihe, der in gewissem Sinne ein historisches Ereignis war. Die letzte Bischofsweihe hatte nämlich vor langer Zeit, im Jahr 1926 stattgefunden. Damals war Bischof Stanislaw Rospond geweiht worden. Nun sollte ich es sein.

Der Tag der Weihe: im Mittelpunkt der Kirche

Und so kam der 28. September, der Gedenktag des hl. Wenzel. Auf diesen Tag war meine Bischofsweihe festgelegt. Dieses große Ereignis steht mir noch immer vor Augen. Ich möchte wohl sagen, dass die Liturgie damals noch reicher war als die heutige. Ich erinnere mich an die einzelnen Personen, die daran teilnahmen. Es existierte der Brauch, dem weihenden Bischof symbolische Geschenke mitzubringen. Einige meiner Kameraden brachten ein Fässchen Wein und einen Laib Brot: allen voran Zbyszek Silkowski, ein Schulkamerad, und Jurek Ciesielski, heute »Diener Gottes«; dann als zweites Paar Marian Wójtowicz und Zdzislaw Heydel. Mir scheint, dass auch Stanislaw Rybicki dabei war. Der aktivste war sicher Kazimierz Figlewicz. Es war ein wolkenverhangener Tag, aber am Ende erschien die Sonne. Als ein Zeichen von guter Vorbedeutung fiel ein Strahl auf den armen Neu-geweihten.

Nach der Lesung des Evangeliums sang der Chor: »Veni Creator Spiritus, / mentes tuorum visita: / imple superna gratia, / quae tu creasti pectora …« Ich hörte den Gesang, und in mir erwachte von neuem das Bewusstsein, das ich schon während der Priesterweihe hatte und diesmal

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vielleicht mit noch größerer Klarheit empfand, dass nämlich der eigentliche Urheber der Weihe der Heilige Geist ist. Das war für mich ein Trost und eine Ermutigung angesichts all der menschlichen Furcht und Besorgnis, die mit der Übernahme einer so großen Verantwortung verbunden ist. Dieser Gedanke erzeugte in meinem Innern eine große Zuversicht: Der Heilige Geist wird mich erleuchten, mich stärken, mich trösten und mich lehren … War es nicht genau das, was Christus selbst seinen Aposteln versprochen hatte?

In der Liturgie folgen verschiedene symbolische Hand-lungen aufeinander; jede hat ihre eigene besondere Bedeutung. Der weihende Bischof stellt Fragen, die den Glauben und das Leben betreffen. Die letzte lautet: »Bist du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum allmächtigen Gott zu beten und das hohepriesterliche Amt untadelig auszuüben?« Der Kandidat antwortet darauf: »Mit Gottes Hilfe bin ich bereit.« Und dann ergänzt der weihende Bischof: »Gott selbst vollende das gute Werk, das er in dir begonnen hat.« Und wiederum tauchte in meinem Innern ein Gedanke auf, der es mit gelassener Zuversicht erfüllte: Der Herr beginnt jetzt sein Werk in dir; keine Angst, vertraue ihm deinen Weg an – er selbst wird handeln und vollenden, was er eingeleitet hat (vgl. Ps 36 [37],5). Bei jedem der drei Weihe-Typen (zum Diakon, zum Priester wie auch zum Bischof) legt sich der Erwählte flach auf den Boden. Das ist das Zeichen seiner völligen Hingabe an Christus, an den, der zur Erfüllung seiner priesterlichen Sendung »sich entäußerte und wie ein Sklave wurde, den Menschen gleich, und der als Mensch sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (vgl. Phil 2,7–8). Etwas Ähnliches ge-schieht an jedem Karfreitag, wenn der Priester, der der liturgischen Versammlung vorsteht, sich schweigend zu

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Boden wirft. An diesem Tag des heiligen Triduums wird keine heilige Messe zelebriert: Die Kirche sammelt sich, um die Passion Christi zu meditieren, angefangen bei seiner Agonie in Getsemani, wo auch er sich zu Boden warf und betete. In der Seele des Zelebranten hallt mit Nachdruck Jesu Bitte wider: »Bleibt hier und wacht mit mir …« (Mt 26,38).

Ich erinnere mich an jenen Moment, als ich ausgestreckt auf der Erde lag und die Anwesenden die Aller-heiligenlitanei sangen. Der weihende Bischof hatte die Gemeinde aufgefordert: »Lasst uns beten zu Gott, dem allmächtigen Vater: Er wache in seiner Güte über das Wohl seiner Kirche und schenke diesem Erwählten Gnade und Segen in Fülle.« Dann setzte der Litanei-Gesang ein:

»Kyrie, eleison. Christe, eleison … Heilige Maria, Mutter Gottes, Heiliger Michael, Heilige Engel Gottes … bittet für uns!«

Meine besondere Verehrung gilt dem Schutzengel. Von Kind an habe ich, wie wahrscheinlich alle Kinder, ihn immer und immer wieder angerufen: »Engel Gottes, mein Beschützer, erleuchte, beschütze, regiere und leite mich …« Mein Schutzengel weiß, was ich tue. Mein Vertrauen auf ihn, auf seine schützende Gegenwart, wird ständig tiefer. Michael, Gabriel und Raffael sind die Erzengel, die ich im Gebet oft anrufe. Ich denke auch an den wunderschönen Traktat des hl. Thomas über die Engel, die reinen Geister.

»Heiliger Johannes der Täufer, Heiliger Josef, Heilige Petrus und Paulus, Heiliger Andreas, Heiliger Karl … betet für uns!«

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Bekanntlich fand meine Priesterweihe am Hochfest Allerheiligen statt. Für mich war dieser Tag immer ein großes Fest. Und durch Gottes Güte habe ich das Glück, den Jahrestag meiner Priesterweihe an dem Tag feiern zu können, wo die ganze Kirche der Bewohner des Himmels gedenkt. Diese treten dort oben fürbittend für die kirchliche Gemeinschaft ein, damit sie unter dem Wirken des Heiligen Geistes, der sie zu praktizierter Nächstenliebe drängt, in ihrem Zusammenhalt gestärkt werde: »Denn wie die christliche Gemeinschaft unter den Erdenpilgern uns näher zu Christus bringt, so verbindet auch die Gemeinschaft mit den Heiligen uns mit Christus, von dem als Quelle und Haupt jegliche Gnade und das Leben des Gottesvolkes selbst ausgehen« (Lumen gentium, 50). Nach der Litanei erhebt sich der Weihekandidat und geht zum Hauptzelebranten, und dieser legt ihm die Hände auf – eine Geste, die nach der Überlieferung, welche auf die Apostel zurückgeht, die Übertragung des Heiligen Geistes bedeutet. Auch die beiden Mitkonsekratoren legen, einer nach dem anderen, ihre Hände auf das Haupt des Erwählten und sprechen dann gemeinsam mit dem Haupt-zelebranten das Weihegebet. Das ist der Höhepunkt der Bischofsweihe. Hier soll an die Worte aus der Konzils-Konstitution Lumen gentium erinnert werden: »Um solche Aufgaben zu erfüllen, sind die Apostel mit einer be-sonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen Geistes von Christus beschenkt worden (vgl. Apg 1,8; 2,4; Job 20,22–23). Sie hinwiederum übertrugen ihren Helfern durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe (vgl. 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6–7), die in der Bischofsweihe bis auf uns gekommen ist. (…) Aufgrund der Überlieferung nämlich, die vorzüglich in den liturgischen Riten und in der Übung der Kirche des Ostens wie des Westens deutlich wird, ist es klar, dass durch die Handauflegung

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und die Worte der Weihe die Gnade des Heiligen Geistes so übertragen und das heilige Prägemal so verliehen wird, dass die Bischöfe in hervorragender und sichtbarer Weise die Aufgabe Christi selbst, des Lehrers, Hirten und Priesters, innehaben und in seiner Person handeln« (Nr. 21).

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Die weihenden Bischöfe

An dieser Stelle möchte ich unbedingt die Person des Haupkonsekrators, Erzbischof Eugeniusz Baziak, er-wähnen. Über die komplizierte Geschichte seines Lebens und seines bischöflichen Dienstes habe ich bereits be-richtet. Eine nicht geringe Bedeutung hat in meinen Augen seine »Abstammung« als Bischof, denn er ist für mich das Verbindungsglied in der Kette der apostolischen Sukzes-sion. Er war von Erzbischof Boleslaw Twardowski ge-weiht worden und dieser wiederum von Bischof Józef Bilczewski, den ich zu meiner Freude kürzlich in Lemberg in der Ukraine selig sprechen konnte. Bilczewski nun wurde von Kardinal Jan Puzyna, dem damaligen Erz-bischof von Krakau geweiht, und die beiden Mit-konsekratoren waren der sel. Józef Sebastian Pelczar, Bischof von Przemysl, und der »Diener Gottes« Andrzej Szeptycki, griechisch-katholischer Erzbischof. Ist das alles etwa nicht verpflichtend? Musste ich mir nicht die Tradition an Heiligkeit dieser großen Hirten der Kirche deutlich vor Augen halten? Bei meiner Weihe waren die beiden mitkonsekrierenden Bischöfe Mons. Franciszek Jop von Opole (Oppeln) und Mons. Boleslaw Kominek von Wroclaw (Breslau). Ich erinnere mich an sie mit großer Ehrfurcht und Achtung. Während der Zeit des Stalinismus war Bischof Jop für Krakau ein wie von der Vorsehung bestimmter Mann. Erzbischof Baziak wurde isoliert, und Mons. Jop in Krakau als Kapitelsvikar ein-gesetzt. Ihm ist es zu verdanken, dass die Kirche dieser Stadt die harte Prüfung jener Zeit ohne größere Schäden überlebte. Auch Bischof Boleslaw Kominek hatte Ver-

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bindungen zu Krakau. In der Stalinzeit, als er bereits Bischof von Breslau war, untersagten ihm die kommunis-tischen Behörden den Einzug in seine Diözese. So ließ er sich in Krakau als fulierter Prälat nieder. Erst später wurde es ihm möglich, kanonisch von seiner Diözese Besitz zu ergreifen; 1965 wurde er zum Kardinal ernannt. Beide waren große Männer der Kirche, die in schwierigen Zeiten durch ihr Zeugnis der Treue zu Christus und zum Evangelium ein Beispiel persönlicher Größe gaben. Diese mutigen geistigen »Vorfahren« – wie könnte man eine solche geistige »Aszendenz« außer Acht lassen?

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Die liturgischen Handlungen der Weihe

Weitere bedeutungsvolle liturgische Handlungen steigen in meiner Erinnerung auf. Unter ihnen vor allem die Auflegung des Evangelienbuches auf die Schultern, während ein eigens dazu bestimmtes Weihegebet gesungen wird. Hier ist die Verbindung des Zeichens mit den Worten besonders aussagekräftig. Der erste Eindruck lenkt die Gedanken dahin, zu erwägen, welche Last der Verantwortung gegenüber dem Evangelium der Bischof auf sich nimmt: die Tragweite der Aufforderung Christi, es bis an die Enden der Erde zu verkünden und mit dem eigenen Leben zu bezeugen. Wenn man jedoch der Bedeutsamkeit dieses Zeichens noch tiefer auf den Grund geht, bemerkt man, dass gerade das, was dort vollzogen wird, im Evangelium seinen Ursprung, seine Wurzeln hat. Derjenige, welcher die Bischofsweihe empfängt, kann deshalb aus dieser Kenntnis Trost und Inspiration gewinnen. Im Licht der Frohen Botschaft von der Auf-erstehung Christi werden die Worte des Gebetes nämlich verständlich und wirksam: »Effunde super hunc Electum eam virtutem, quae a te est, Spiritum principalem, quem dedisti dilecto Filio tuo lesu Christo, quern ipse donavit sanctis Apostolis … Gieße jetzt aus über deinen Diener, den du erwählt hast, die Kraft, die von dir ausgeht, den Geist der Leitung. Ihn hast du deinem geliebten Sohn Jesus Christus gegeben, und er hat ihn den Aposteln verliehen …« (Römisches Pontifikale, Weihegebet).

In der Liturgie der Bischofsweihe folgt dann die Salbung mit dem heiligen Öl. Diese Handlung ist tief verwurzelt in

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den vorangegangenen Sakramenten, angefangen bei der Taufe und der Firmung. Bei der Priesterweihe werden die Hände gesalbt, bei der Bischofsweihe das Haupt. Auch das ist eine Geste, die von der Übertragung des Heiligen Geistes spricht, der in den Menschen, der gesalbt wird, eindringt, von ihm Besitz ergreift und ihn zu seinem Werkzeug macht. Die Salbung des Hauptes bedeutet eine Berufung zu neuen Aufgaben: Der Bischof wird nämlich in der Kirche leitende Aufgaben haben, die ihn ganz und gar in Anspruch nehmen. Auch diese Salbung durch den Heiligen Geist entspringt wieder der gleichen Quelle: Jesus Christus – dem Messias.

Der Name Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes »masiah« – »Messias«, das heißt »Gesalbter«. In Israel wurden diejenigen im Namen Gottes gesalbt, die von ihm erwählt waren, eine besondere Sendung zu erfüllen. Das konnte eine prophetische, eine priesterliche oder eine königliche Sendung sein. Die Bezeichnung »Messias« bezog sich jedoch vor allem auf den, der kommen sollte, um endgültig das Reich Gottes einzusetzen, in dem alle Heilsverheißungen ihre Erfüllung finden würden. Und eben dieser musste durch den Geist des Herrn zum Propheten, zum Priester und zum König »gesalbt« werden.

Das Wort Gesalbter – Christus wurde der Eigenname Jesu, denn in ihm erfüllte sich die göttliche Sendung, die mit diesem Begriff ausgedrückt wird, in vollkommener Weise. Das Evangelium berichtet nichts von einer äußerlichen Salbung Jesu, wie sie im Alten Testament David gespendet wurde und Aaron, auf dessen Bart »köstliches Salböl« herabfloss (vgl. Ps 132 [133],2). Wenn wir bei ihm von »Salbung« sprechen, denken wir an jene direkte Salbung durch den Heiligen Geist, deren Anzeichen und Zeugnis darin bestand, dass Jesus die ihm

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vom Vater übertragene Aufgabe in vollkommener Weise erfüllte. Der heilige Bischof Irenäus hat das sehr gut beschrieben: »Im Namen ›Christus‹ verbirgt sich derjenige, der gesalbt hat, derjenige, der gesalbt wurde, und die Salbung selbst, mit der er gesalbt worden ist. Der Salbende war der Vater, der Gesalbte der Sohn, und dieser wurde gesalbt im Geist, der die Salbung ist« (vgl. Adversus haereses, III, 18,3: PG 7,934).

Bei der Geburt Jesu verkünden die Engel den Hirten: »Heute ist euch in der Stadt Davids ein Retter geboren, welcher ist Christus, der Herr« (vgl. Lk 2,11). Christus, das heißt: der Gesalbte. Mit ihm wird sowohl die allgemeine, messianische und rettende Salbung »ge-boren«, an der alle Getauften teilhaben, als auch jene spezifische, an der er, der Messias, den Bischöfen und Priestern Anteil gewähren wollte, die zur apostolischen Verantwortung für die Kirche ausersehen sind. Das heilige Chrisam-Öl, ein Zeichen der Kraft des Geistes Gottes, ist auf unser Haupt herabgekommen und hat uns in das messianische Heilswerk eingefügt. Und zusammen mit dieser Salbung haben wir in qualitativ spezifischer Weise die dreifache Aufgabe des Propheten, des Priesters und des Königs erhalten.

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Der heilige Chrisam

Ich danke dem Herrn für die erste Salbung mit dem heiligen Chrisam, die ich in meinem Geburtsort Wadowice erhielt. Das geschah bei der Taufe. Durch jenes sakramentale Bad sind wir alle gerecht gemacht und in Christus eingegliedert. Wir empfangen zum ersten Mal auch die Gabe des Heiligen Geistes. Gerade die Salbung mit dem heiligen Chrisam ist ein Zeichen für die Ausgießung des Geistes, der das neue Leben in Christus schenkt und uns fähig macht, in der göttlichen Gerechtigkeit zu leben. Diese erste Salbung wird im Sakrament der Firmung durch das Siegel des Heiligen Geistes vervollständigt. Der tiefe, direkte innere Zusammenhang der beiden Sakramente kommt in der Liturgie der Erwachsenen-Taufe besonders deutlich zum Ausdruck. Die Ostkirchen ihrerseits haben diesen un-mittelbaren Zusammenhang auch in der Kindtaufe be-wahrt, wo die Täuflinge mit dem ersten Sakrament zugleich auch das der Firmung erhalten. Die Verbindung dieser ersten beiden Sakramente und des allerheiligsten Mysteriums der Eucharistie mit der Priester- und Bischofsberufung ist so stark und tief, dass wir den darin enthaltenen Reichtum mit dankbarem Herzen immer wieder neu entdecken können. Wir Bischöfe haben diese Sakramente nicht nur erhalten, sondern wir sind aus-gesandt, um zu taufen, die Kirche um den Tisch des Herrn zu versammeln und die Jünger Christi im Sakrament der Firmung mit dem Siegel des Heiligen Geistes zu festigen und zu stärken. Immer wieder hat der Bischof in seinem Dienst die Gelegenheit, die Firmung zu spenden und den

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Menschen bei der Salbung mit dem heiligen Chrisam die Gabe des Heiligen Geistes, der Quelle des Lebens in Christus ist, zu übertragen.

An vielen Orten kann man während der Weihen die Gläubigen singen hören: »Priesterliches Volk, königliches Volk, heilige Versammlung, Volk Gottes, singe deinem Herrn!« Dieser inhaltlich tiefe Gesang gefällt mir:

»Dir singen wir, du geliebter Sohn des Vaters! Dich verherrlichen wir, du ewige Weisheit, lebendiges Wort Gottes. Dir singen wir, einziger Sohn der Jungfrau Maria, Dich beten wir an, Christus, unser Bruder, Du bist gekommen, uns zu retten. Dir singen wir, du Messias, den die Armen ›empfangen‹, Dich beten wir an, du unser milder und demütiger König (…)

Dir singen wir, o Weinstock, der das Leben gibt uns, deinen Reben.«

Jede Berufung hat in Christus ihren Ursprung, und genau das wird jedes Mal in der Salbung mit dem Chrisam zum Ausdruck gebracht – von der Taufe an bis zur Salbung des Hauptes des Bischofs. Gerade daraus geht die gemeinsame Würde aller christlichen Berufungen hervor; unter diesem Gesichtspunkt sind sie alle gleich. Die Unterschiede beruhen dagegen auf der Rolle, die Christus jedem Berufenen in der Gemeinschaft der Kirche zuweist, und auf der Verantwortung, die sich daraus ergibt. Mit großer Aufmerksamkeit muss darauf geachtet werden, dass nichts verloren geht (vgl. Joh 6,12): Keine Berufung darf vernachlässigt bzw. beeinträchtigt werden, denn jede ist wertvoll und nötig. Für jedes Leben hat der gute Hirt sein eigenes Leben hingegeben (vgl. Joh 10,11). Gerade dafür trägt der Bischof die Verantwortung. Er muss sich darüber im Klaren sein, dass es seine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass in der Kirche jede Berufung aufkeimen und sich entfalten kann, jede Erwählung des Menschen durch

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Christus, auch die kleinste. Darum ruft der Bischof wie Christus selbst die Menschen um den Tisch des Herrn zum Mahl seines Leibes und Blutes zusammen und lehrt sie. Er leitet und dient zugleich. Er muss der Kirche treu sein, also jedem einzelnen ihrer Glieder – auch dem kleinsten –, das Christus berufen hat und mit dem er sich identifiziert (vgl. Mt 25,45). Als Zeichen dieser Treue empfängt der Bischof den Ring.

Der Ring und das Rationale

Der Ring, der dem Bischof an den Finger gesteckt wird, bedeutet, dass er eine heilige Vermählung mit der Kirche eingegangen ist. »Accipe anulum, fidei signaculum – Empfange diesen Ring als Zeichen deiner Treue. Und in der Unversehrtheit des Glaubens und der Reinheit des Lebens sollst du die heilige Kirche, die Braut Christi, hüten und bewahren.« »Esto fidelis usque ad mortem …«, lautet die Ermahnung aus dem Buch der Apokalypse: »Sei treu bis in den Tod; dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben« (Offb 2,10). Dieser Ring, ein hoch-zeitliches Symbol, ist ein besonderer Ausdruck der Verbindung des Bischofs mit der Kirche. Für mich ist er eine tägliche Mahnung zur Treue, eine Art lautlose Frage, die sich im Gewissen vernehmen lässt: Schenke ich mich meiner Braut, der Kirche, ganz und gar? Bin ich in ausreichendem Maße da »für« die Gemeinschaften, die Familien, die Jugendlichen und die Alten, und auch »für« jene, die noch geboren werden müssen? Der Ring erinnert mich auch an die Notwendigkeit, ein starkes, robustes »Glied« in der Kette der Sukzession zu sein, die mich mit den Aposteln verbindet – die Haltbarkeit einer Kette wird nämlich an ihrem schwächsten Glied gemessen. Ein

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starker Ring muss ich sein, stark aus der Kraft Gottes: »Der Herr ist meine Kraft und mein Schild« (Ps 27 [28],7). »Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht« (Ps 22 [23],4).

Die Bischöfe von Krakau haben ein besonderes Privileg, das – so viel ich weiß – nur vier Diözesen in der Welt besitzen: Sie haben das Recht, das so genannte »Rationale« zu tragen. In seiner äußeren Form ist es ein Zeichen, das an das Pallium erinnert. In Krakau befindet sich im Schatz von Wawel das Rationale, das ein Geschenk der Königin Jadwiga war. Für sich allein genommen, hat dieses Zeichen gar nichts zu sagen. Es ist nur bedeutsam, wenn der Erzbischof es trägt: Dann ist es ein Anzeichen für seine Autorität und für seinen Dienst – gerade weil er Autorität besitzt, muss er dienen. In gewissem Sinne kann man darin ein Symbol der Passion Christi und aller Märtyrer sehen. Wenn ich es anlegte, kamen mir mehr als einmal die Worte des Apostels Paulus in den Sinn, die er in schon fortgeschrittenem Alter an den noch jungen Bischof Timotheus richtete: »Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft« (2 Tim 1,8).

»Bewahre, was dir anvertraut ist« (1 Tim 6,20) Nach dem Weihegebet sieht das Ritual die Übergabe des

Evangelienbuches an den geweihten Bischof vor. Diese Geste zeigt, dass der Bischof die Frohe Botschaft annehmen und verkünden muss. Es ist ein Zeichen der Gegenwart Jesu in der Kirche als Lehrer. Das bedeutet, dass die Unterweisung zum Wesen der Berufung des Bischofs gehört, dass er also ein Lehrender sein muss.

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Und wir wissen, wie viele herausragende Bischöfe vom Altertum bis in unsere Zeit hinein diese Berufung in beispielhafter Weise verwirklichten. Sie beherzigten die kluge Ermahnung des Apostels Paulus, durch die sie sich persönlich angesprochen fühlten: »Timotheus, bewahre [das Glaubensgut], was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der so genannten ›Erkenntnis‹!« (1 Tim 6,20). Sie waren wirkungsvolle Lehrer, weil sie ihr geistliches Leben auf das Hören und die Verkündigung des Wortes Gottes ausrichteten. Oder, um es mit anderen Worten aus-zudrücken: Sie verstanden es, überflüssige Worte zu vermeiden, um sich mit ihrer ganzen Energie dem einzig Notwendigen (vgl. Lk 10,42) zu widmen.

In der Tat ist es Aufgabe des Bischofs, sich zum Diener des Wortes Gottes zu machen. Und gerade in seiner Funktion als Lehrer sitzt er auf der »Kathedra« – auf jenem nur ihm vorbehaltenen Sitz, der sinnbildlich im Chorraum der eben danach benannten »Kathedrale« aufgestellt ist –, um zu predigen, das Wort Gottes zu ver-künden und es auszulegen. Unsere Zeit stellt an die Bischöfe als Lehrer neue Anforderungen, bietet ihnen aber auch neue, großartige Mittel, die ihnen bei der Verkündigung des Evangeliums hilfreich sind. Die unkomplizierten Reisemöglichkeiten erlauben ihnen, die verschiedenen Kirchen und Gemeinden der eigenen Diözese oft zu besuchen. Radio, Fernsehen, Internet und das gedruckte Wort stehen ihnen zur Verfügung. Bei der Verkündigung des Wortes Gottes stehen ihnen außerdem die Priester und Diakone, die Katecheten und Lehrer, die Theologie-Professoren und in zunehmendem Maße auch gebildete und dem Evangelium treue Laien hilfreich zur Seite.

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Trotzdem kann die Anwesenheit des Bischofs, der auf der Kathedra Platz nimmt oder an den Ambo seiner Bischofskirche tritt und denen, die er um sich versammelt hat, persönlich das Wort Gottes auslegt, durch nichts ersetzt werden. Wie der Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleicht auch er einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt (vgl. Mt 13,52). An dieser Stelle möchte ich gern den ehemaligen Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, erwähnen, dessen Kate-chesen im Mailänder Dom Scharen von Menschen anzogen, denen er den Schatz des Wortes Gottes enthüllte. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die beweisen, wie groß bei den Leuten der Hunger nach dem Wort Gottes ist. Wie wichtig ist es, dass dieser Hunger gestillt wird!

Immer hat mich die Überzeugung begleitet, dass ich, wenn ich diesen inneren Hunger der anderen stillen will, zuerst einmal nach dem Beispiel Marias dieses Wort Gottes selbst hören und in meinem Herzen bewahren und darüber nachdenken muss (vgl. Lk 2,19). Zugleich habe ich immer deutlicher begriffen, dass der Bischof es ebenfalls verstehen muss, den Leuten, denen er die Frohe Botschaft verkündet, auch selbst zuzuhören. Angesichts der heutigen Flut von Worten, Bildern und Geräuschen ist es wichtig, dass der Bischof sich nicht ablenken und zerstreuen lässt. Aus der Überzeugung heraus, dass wir alle vereint sind in demselben Geheimnis des Wortes Gottes vom Heil, muss er ein Hörender sein, offen für Gott und seine Gesprächspartner.

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Die Mitra und das Pastorale

Die Berufung zum Bischof ist sicherlich eine Ehre. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kandidat gewählt worden ist, weil er sich unter vielen anderen als hervorragender Mensch und Christ ausgezeichnet hat. Die Ehre, die man ihm erweist, hat ihren Grund in seinem Auftrag, sich inmitten der Kirche als der Erste im Glauben, der Erste in der Liebe, der Erste in der Treue und der Erste im Dienen zu zeigen. Wenn einer im Bischofsamt nur die Ehre für sich selbst sucht, wird es ihm nie gelingen, die besondere bischöfliche Sendung gut zu erfüllen. Das erste und wichtigste Merkmal der dem Bischof zukommenden Ehre liegt in der Verantwortung, die mit seinem Amt verbunden ist. »Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben« (Mt 5,14). Der Bischof befindet sich immer »auf dem Berg«, »auf dem Leuchter«, sichtbar für alle. Er muss sich darüber im Klaren sein, dass alles, was in seinem Leben geschieht, in Bezug auf die Gemeinschaft von Bedeutung ist: Die Augen aller sind auf ihn gerichtet (vgl. Lk 4,20). Wie ein Familienvater seine Kinder in erster Linie durch das Beispiel seiner Religiosität und seines Betens zum Glauben erzieht, so erzieht auch der Bischof seine Gläubigen durch sein gesamtes Verhalten. Darum fordert der Verfasser des Ersten Petrusbriefs mit solchem Nachdruck, dass die Bischöfe »Vorbilder für die Herde« sein sollen (5,3). Gerade unter diesem Gesichtspunkt besitzt in der Weiheliturgie das Zeichen des Aufsetzens der Mitra eine besondere Aussagekraft. Der neu gewählte Bischof empfängt sie als Mahnung, sich darum zu bemühen, dass in ihm »der Glanz der Heiligkeit

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leuchte«, um würdig zu sein, »den nie verwelkenden Kranz der Herrlichkeit« zu empfangen, wenn Christus, der »Hirt aller Hirten« erscheint (vgl. Römisches Pontifikale).

In besonderer Weise ist der Bischof zu persönlicher Heiligkeit aufgefordert, um so die Heiligkeit der ihm anvertrauten kirchlichen Gemeinschaft zu mehren. Er ist verantwortlich für die Verwirklichung der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit, von der im 5. Kapitel der Konzils-Konstitution Lumen gentium die Rede ist. Wie ich am Ende des Großen Jubiläumsjahres schrieb, liegt in dieser Berufung die »innere Dynamik« der Ekklesiologie (vgl. Novo millennio ineunte, 30). »Das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk« (Lumen gentium, 4) ist ein Volk, das dem gehört, der dreimal heilig ist (vgl. Jes 6,3). »Das Bekenntnis zur ›heiligen‹ Kirche bedeutet auf ihr Antlitz als Braut Christi zu verweisen, für die er sich gerade deshalb hingegeben hat, um sie zu heiligen« (Novo millennio ineunte, 30). Es ist Heiligkeit als eine Gabe, die zur Aufgabe wird. Man muss sich ständig neu ins Bewusstsein rufen, dass das ganze Leben des Christen auf diese Aufgabe hin ausgerichtet sein sollte: »Das ist es, was Gott will: eure Heiligung« (1 Thess 4,3). Zu Beginn der siebziger Jahre schrieb ich in Anlehnung an die Konstitu-tion Lumen gentium: »Die Heilsgeschichte ist die Ge-schichte des ganzen Gottesvolkes, und diese Geschichte verläuft auch über das Leben der einzelnen Personen und konkretisiert sich in jeder von ihnen aufs Neue. Die wesentliche Bedeutung der Heiligkeit besteht darin, dass sie stets Heiligkeit der Person ist. Dies wird von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit bestätigt. Sämtliche Glieder des Gottesvolkes sind berufen, doch jedes von ihnen auf einzigartige, unwiederholbare Weise« (Quellen der Erneuerung. Zur Verwirklichung des Zweiten

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Vatikanischen Konzils, Freiburg 1981, S. 166f.; Original-ausgabe: U podstaw odnowy. Studium o realizacji Vaticanum II, Krakau 1972, S. 165). Die Heiligkeit jedes Einzelnen trägt allerdings dazu bei, das Gesicht der Kirche, der Braut Christi, immer schöner werden zu lassen, und fördert so die Annahme ihrer Botschaft in der Welt von heute.

Im Ritus der Bischofsweihe folgt die Übergabe des Hirtenstabs. Er ist Zeichen der Autorität, die dem Bischof zukommt, damit er seine Pflicht, sich um die Herde zu kümmern, erfüllen kann. Auch dieses Zeichen steht unter dem Aspekt der Sorge für die Heiligkeit des Gottesvolkes. Der Hirt muss nämlich wachen und schützen, er muss jedes Schaf »auf grüne Auen« führen (vgl. Ps 22 [23],2), auf jene Weiden, wo es entdeckt, dass die Heiligkeit nicht »eine Art außerordentlichen Lebens [ist], das nur von einigen ›Genies‹ der Heiligkeit geführt werden könnte. Die Wege der Heiligkeit sind vielfältig und der Berufung eines jeden angepasst« (Novo millennio ineunte, 31). Welch ein Potential an Heiligkeit schlummert in der zahllosen Schar der Getauften! Ich bete unaufhörlich, der Heilige Geist möge mit seinem Feuer die Herzen von uns Bischöfen entzünden, so dass wir Lehrmeister der Heiligkeit werden, fähig, die Gläubigen durch unser Beispiel mitzureißen.

Es kommt mir der ergreifende Abschied des hl. Paulus von den Ältesten der Gemeinde von Ephesus in den Sinn: »Gebt acht auf euch und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist zu Bischöfen bestellt hat, damit ihr als Hirten für die Kirche Gottes sorgt, die er sich durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben hat« (Apg 20,28). Der Befehl Christi drängt jeden Hirten: »Geht zu allen Völkern (…) und lehrt sie« (Mt 28,19f.). Geht, macht niemals halt! Die Erwartung des göttlichen Meisters ist

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uns wohl bekannt: »Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt, und dass eure Frucht bleibt« (Joh 15,16).

Der Hirtenstab mit dem Gekreuzigten, den ich zur Zeit benutze, ist eine Kopie des Hirtenstabs von Paul VI. In ihm sehe ich drei Aufgaben symbolisiert: Fürsorge, Führung und Verantwortung. Er ist nicht ein Zeichen der Autorität im üblichen Sinne dieses Wortes: nicht ein Zeichen des Vorrechtes oder der Vorherrschaft über die anderen. Er ist ein Zeichen des Dienens. Und als solches ist er ein Zeichen der pflichtgemäßen Sorge für die Bedürfnisse der Schafe: »damit sie das Leben haben und es in Fülle haben!« (Joh 10,10). Der Bischof muss leiten, er muss die Rolle des Wegweisenden übernehmen. Seine Gläubigen werden in dem Maße auf ihn hören und ihn lieben, in dem er Christus, den guten Hirten nachahmt, »der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). »Dienen!« – Wie sehr ich dieses Wort schätze! Was im Deutschen mit »Amts-priestertum« bezeichnet wird, müsste wörtlich übersetzt eigentlich »Dienst«-Priestertum heißen (sacerdozio ministeriale) – eine erstaunliche Bezeichnung … Gele-gentlich kommt es vor, dass die als Vorrecht verstandene bischöfliche Macht mit dem Argument verteidigt wird: »Die Schafe müssen dem Hirten folgen, nicht der Hirt den Schafen.« Dem kann man zustimmen, jedoch in dem Sinn, dass der Hirt vorangehen muss, indem er sein Leben hingibt für seine Schafe: Im Opfer und in der Hingabe muss er der Erste sein. »Der Gute Hirt ist auferstanden, der sein Leben gab für seine Schafe: Er starb für seine Herde« (Stundenbuch, Lesehore, 2. Responsorium des 4. Sonntags der Osterzeit). Der Bischof hat den Vorrang in der großherzigen, selbstlosen Liebe zu den Gläubigen und

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zur Kirche nach dem Vorbild des hl. Paulus: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1,24). Sicher gehört zur Rolle des Hirten auch das Ermahnen. Ich denke, unter diesem Aspekt habe ich vielleicht zu wenig getan. Es besteht immer die Frage der Beziehung zwischen Autorität und Dienst. Vielleicht muss ich mir vorwerfen, dass ich mich nicht genügend bemüht habe, zu befehlen. Bis zum gewissen Grad hängt das von meinem Temperament ab. Irgendwie kann es aber auch auf den Willen Christi zurückgeführt werden, der von seinen Aposteln nicht so sehr verlangte, zu befehlen, als vielmehr, zu dienen. Natürlich kommt die Autorität dem Bischof zu, aber viel hängt von der Art und Weise ab, in der sie ausgeübt wird. Wenn der Bischof sich ein bisschen zu sehr auf die Autorität stützt, meinen die Leute sofort, dass er nur zu befehlen versteht. Wenn er sich dagegen in eine Grundhaltung des Dienens begibt, fühlen sich die Gläubigen spontan veranlasst, auf ihn zu hören, und unterwerfen sich gern seiner Autorität. Es scheint, dass hier ein gewisses Gleichgewicht eingehalten werden muss. Wenn der Bischof sagt: »Hier befehle nur ich«, oder aber: »Ich bin hier nur, um zu dienen«, dann fehlt jeweils etwas. Er muss dienen, indem er regiert, und regieren, indem er dient. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür finden wir in Christus selbst: Er diente unaufhörlich, jedoch im Geist des göttlichen Dienens konnte er auch die Händler aus dem Tempel jagen, wenn es nötig war. Ich glaube jedoch, dass ich trotz der inneren Widerstände, die ich spürte, wenn ich Vorwürfe machen musste, alle notwendigen Entscheidungen getroffen habe. Als Metropolit von Krakau tat ich alles, um auf kollegiale Weise zu solchen Entscheidungen zu gelangen, das heißt, indem ich mich

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mit den Weihbischöfen und den anderen Mitarbeitern beriet. Jede Woche hatten wir unsere Kurien-Sitzungen, in denen alle Fragen unter dem Gesichtspunkt des größeren Nutzens für die Erzdiözese diskutiert wurden. Gern stellte ich meinen Mitarbeitern zwei Fragen. Erstens: »Welche Glaubenswahrheit gibt es, die dieses Problem erhellen kann?« Und zweitens: »Wen können wir zu Hilfe nehmen oder auf eine solche Hilfe vorbereiten?« Die religiöse Motivation zum Handeln zu finden und die richtige Person für eine bestimmte Aufgabe, war immer ein guter Anfang, der bezüglich des Erfolgs pastoraler Initiativen hoffnungs-voll stimmte.

Die Übergabe des Hirtenstabs beschließt den Weiheritus. Danach beginnt die heilige Messe, die der neue Bischof gemeinsam mit den weihenden Bischöfen zelebriert. All das hat einen so tiefen Inhalt und ist so intensiv durch-drungen von Gedanken und persönlichem Bewusstsein, dass man es unmöglich vollständig ausdrücken, ge-schweige denn etwas hinzufügen könnte.

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Die Pilgerfahrt zum Marien-Wallfahrtsort

Nach der heiligen Messe begab ich mich vom Wawel aus direkt zum Priesterseminar, denn dort war der Empfang für die geladenen Gäste. Doch noch am selben Abend brach ich mit dem »Kreis« der engsten Freunde nach Czestochowa (Tschenstochau) auf, wo ich am Morgen des folgenden Tages in der Kapelle des Gnadenbildes der »Schwarzen Madonna« die heilige Messe zelebrierte. Für die Polen ist Czestochowa ein besonderer Ort. In gewissem Sinne wird er mit Polen und seiner Geschichte identifiziert, vor allem mit der Geschichte der Kämpfe um die nationale Unabhängigkeit. Hier befindet sich das National-Heiligtum »Jasna Gora« (Mons clarus – Heller Berg). Dieser Name, der sich auf das Licht bezieht, das die Finsternis vertreibt, gewann für die Polen, die in dunklen Zeiten der Kriege, Teilungen und Besatzungen lebten, eine besondere Bedeutung. Alle wussten, dass die Quelle dieses Lichtes der Hoffnung die Gegenwart Marias in ihrem Gnadenbild war. Wohl zum ersten Mal wurde das deutlich während der schwedischen Invasion, die unter der Bezeichnung »Sintflut« in die Geschichte einging. In dieser Situation – und das ist bedeutungsvoll – wurde das Heiligtum zu einer Festung, die der eindringende Feind nicht zu bezwingen vermochte. Die Nation verstand diese Tatsache damals als eine Sieges-Verheißung. Das Vertrauen auf den Schutz Marias verlieh den Polen die Kraft, den Invasor zu schlagen. Seit dieser Zeit ist das Heiligtum von Jasna Góra in gewissem Sinne zu einem Bollwerk des Glaubens, des Geistes, der Kultur und all

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dessen geworden, was die nationale Identität ausmacht. Das galt in besonderer Weise für die lange Zeit der Teilungen und des Verlustes der staatlichen Souveränität. Darauf bezog sich Papst Pius XII., als er während des Zweiten Weltkrieges betonte: »Polen ist nicht verschwunden, und es wird nicht verschwinden, denn Polen glaubt, Polen betet, Polen hat Jasna Góra.« Gott sei Dank haben sich diese Worte bewahrheitet.

Später jedoch gab es eine weitere dunkle Zeit in unserer Geschichte: die der kommunistischen Herrschaft. Die Machthaber der Partei wussten sehr wohl, was Jasna Góra, das Gnadenbild und die von Anfang an damit verbundene glühende Marien-Verehrung für die Polen bedeutete. Und als auf Initiative des Episkopats, und speziell von Kardinal Wyszynski, von Czestochowa aus die Pilgerreise des Gnadenbildes der »Schwarzen Madonna« startete, die alle Pfarreien und Gemeinden Polens besuchen sollte, unter-nahmen darum die kommunistischen Behörden alles, um einen solchen »Besuch« zu verhindern. Als das Gnaden-bild von der Polizei »festgenommen« wurde, setzte die Wallfahrt ihren Weg mit dem leeren Rahmen fort, und ihre Botschaft wurde so noch beredter. In diesem Rahmen ohne Bild konnte man ein stummes Zeichen der fehlenden Religionsfreiheit sehen. Die Nation wusste, dass sie ein Recht darauf hatte, und betete noch inständiger um sie. Diese Pilgerreise dauerte ungefähr fünfundzwanzig Jahre und bewirkte unter den Polen eine außergewöhnliche Festigung im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe.

Alle gläubigen Polen wallfahren nach Czestochowa. Auch ich habe mich von Kind an dort hinaufbegeben, indem ich an der einen oder anderen Wallfahrt teilnahm. 1936 gab es eine große Wallfahrt der Universitätsjugend aus ganz Polen, die mit einem feierlichen Eid vor dem

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Gnadenbild schloss. Das wurde in der Folge alljährlich wiederholt.

Während der nationalsozialistischen Besatzung machte ich diese Wallfahrt, als ich schon Student polnischer Literatur an der philosophischen Fakultät der Jagiello-nischen Universität war. Daran erinnere ich mich in besonderer Weise, denn um die Tradition nicht abreißen zu lassen, gingen wir – Tadeusz Ulewicz und ich zusammen mit einem Dritten – als Delegierte nach Czestochowa. Jasna Góra war umzingelt vom hitlerschen Heer. Die Eremiten-Patres des hl. Paulus gewährten uns Gastfreundschaft. Sie wussten, dass wir eine Delegation waren. Alles blieb geheim. So hatten wir die Befriedigung, dass es uns trotz allem gelungen war, diese Tradition aufrechtzuerhalten. Auch danach begab ich mich mehr-mals zum Heiligtum, indem ich an verschiedenen Wallfahrten teilnahm – besonders an der aus Wadowice. In jedem Jahr – gewöhnlich Anfang September – fanden in Jasna Góra die geistlichen Exerzitien der Bischöfe statt. Als ich zum ersten Mal daran teilnahm, war ich erst nominierter Bischof. Erzbischof Baziak nahm mich mit. Ich erinnere mich, dass der Prediger damals Jan Zieja war, ein Priester von herausragender Persönlichkeit. Den ersten Platz nahm natürlich der Primas, Kardinal Stefan Wyszynski ein – ein Mann, der für die Zeiten, die wir durchmachten, von wahrhaft schicksalhafter Bedeutung war.

Vielleicht lag in diesen Wallfahrten nach Jasna Góra der Grund für meinen Wunsch, die ersten Schritte meiner Pilgerreisen als Papst zu einem marianischen Heiligtum zu lenken. Dieser Wunsch war es, der mich auf meiner ersten apostolischen Reise nach Mexiko zu Füßen der Jungfrau von Guadalupe führte. In der Liebe, die die Mexikaner und allgemein die Bewohner Mittel- und Süd-Amerikas

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zur Jungfrau von Guadalupe haben – eine spontan und emotiv geäußerte, aber sehr intensive und tiefe Liebe – gibt es viele Analogien zur polnischen Marien-Verehrung, die auch meine Spiritualität prägte. Liebevoll nennen sie Maria La Virgen Morenita – ein Name, der frei übersetzt »Schwarze Madonna« lautet. Es gibt dort ein sehr be-kanntes Volkslied, das von der Liebe eines jungen Mannes zu einem Mädchen spricht; die Mexikaner beziehen dieses Lied auf die Madonna: Noch immer habe ich diese wohl-klingenden Worte im Ohr:

»Conocí a una linda Morenita … y la quise mucho. Por las tardes iba yo enamorado y carinoso a verla. Al

contemplar sus ojos, mi pasion crecia. Ay Morena, Morenita mia, no te olvidare. Hay un Amor muy grande que existe entre los dos, Entre los dos …«

Ich besuchte das Heiligtum von Guadalupe, wie gesagt, im Januar 1979 während meiner ersten apostolischen Reise. Die Reise wurde entschieden als Antwort auf die Einladung, an der Versammlung der Bischofskonferenz von Lateinamerika (CELAM) in Puebla de los Angeles teilzunehmen. Diese Reise war in gewissem Sinne inspirierend und richtungweisend für alle folgenden Jahre des Pontifikats.

Zuerst machte ich in Santo Domingo Station, und von da aus ging ich dann nach Mexiko. Es war außerordentlich bewegend, als wir auf dem Weg zu unserem Nachtquartier durch die von Menschen überfüllten Straßen fuhren. Man konnte die Verehrung dieser unzähligen Menschen so-zusagen mit Händen greifen. Als wir endlich den Ort erreichten, wo wir übernachten sollten, sangen die Leute unentwegt weiter, und dabei war es schon Mitternacht. So sah Stanislaw (Stanislaw Dziwisz) sich schließlich ge-nötigt, hinauszugehen und sie zum Schweigen zu bringen,

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indem er ihnen erklärte, der Papst müsse jetzt schlafen. Daraufhin beruhigten sie sich.

Ich erinnere mich, dass ich jene Reise nach Mexiko wie eine Art »Passierschein« ansah, der mir den Weg frei-machen konnte zu einer Pilgerreise nach Polen. Tat-sächlich dachte ich mir, die Kommunisten Polens könnten mir die Erlaubnis zur Wiedereinreise in die Heimat nicht verweigern, nachdem ich in einem Land wie dem dama-ligen Mexiko, das eine völlig laikale Verfassung besaß, empfangen worden war. Ich wollte nach Polen, und das wurde noch im Juni desselben Jahres Wirklichkeit. Guadalupe, der größte Wallfahrtsort von ganz Amerika, ist für jenen Kontinent das, was Czestochowa für Polen ist. Es sind zwei etwas unterschiedliche Welten: In Guadalupe ist es die lateinamerikanische, in Czestochowa die sla-wische Welt, ist es Ost-Europa. Das wurde besonders deutlich während des Weltjugendtreffens 1991, als in Czestochowa erstmalig Jugendliche eintrafen, die aus Ländern jenseits der polnischen Ostgrenzen kamen: Ukrainer, Letten, Weißrussen, Russen … Alle Territorien Ost-Europas waren vertreten.

Kehren wir noch einmal nach Guadalupe zurück. Im Jahr 2002 war es mir vergönnt, in diesem Wallfahrtsort die Heiligsprechung von Juan Diego zu zelebrieren. Das war eine wunderbare Gelegenheit, Gott Dank zu sagen. Nach-dem er die christliche Botschaft empfangen hatte, ent-deckte Juan Diego, ohne auf seine Identität als Ein-geborener zu verzichten, die tiefe Wahrheit der neuen Menschheit, in der alle dazu berufen sind, in Christus Kinder Gottes zu sein. »Ich preise dich, Vater (…), weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Un-mündigen aber offenbart hast …« (Mt 11,25). Und in diesem Geheimnis kam Maria eine einzigartige Rolle zu.

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TEIL II DIE TÄTIGKEIT DES

BISCHOFS

»Erfülle treu deinen Dienst«

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Die Aufgaben des Bischofs

Als ich von meiner ersten Wallfahrt nach Jasna Góra, die ich als Bischof unternommen hatte, nach Krakau zurückgekehrt war, begann ich, die Kurie zu besuchen. Sofort wurde ich zum Generalvikar ernannt. Ich kann freimütig sagen, dass ich mit allen Angestellten der Krakauer Kurie Freundschaft geschlossen habe. Stefan Marszowski, Mieczyslaw Satora, Mikolaj Kuczkowski, Bohdan Niemczewski, fulierter Probst. Letzterer war später als Dekan des Kapitels der entschiedenste Be-fürworter meiner Ernennung zum Erzbischof, obwohl ihr eigentlich die aristokratische Tradition im Wege stand. In Krakau wurden nämlich die Erzbischöfe gewöhnlich aus der Aristokratie gewählt. Deshalb war es eine Über-raschung, als nach dieser langen Reihe von Aristokraten ich, ein »Proletarier«, ernannt wurde. Das geschah jedoch erst einige Jahre danach, nämlich 1964. Ich werde später darauf zurückkommen.

In der Kurie fühlte ich mich wohl, und ich erinnere mich an die in Krakau verbrachten Jahre mit großer Sympathie und Dankbarkeit. Nach und nach kamen die Priester mit ihren verschiedenen Problemen zu mir. Mit Begeisterung machte ich mich an die Arbeit. Im Frühjahr begannen die Pastoralbesuche.

Zunehmend fand ich mich in meine neue kirchliche Rolle ein. Mit der Berufung zum Bischof und der Weihe hatte ich neue Aufgaben übernommen. Diese waren andeutungsweise bereits in der Liturgie der Bischofsweihe zum Ausdruck gekommen. Wie gesagt, hatte der Weihe-Ritus bereits zur Zeit meiner Weihe im Jahre 1958 einige

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Wandlungen erfahren, im Wesentlichen war er aber unverändert geblieben. Der alte, von den Kirchenvätern festgesetzte Brauch sieht vor, den zukünftigen Bischof in Gegenwart des Volkes zu fragen, ob er sich verpflichtet, den Glauben unversehrt zu bewahren und den ihm anvertrauten Dienst zu erfüllen. In ihrer jetzigen Form lauten die Fragen:

»Lieber Mitbruder, bist du bereit, in dem Amt, das von den Aposteln auf uns gekommen ist und das wir dir heute durch Handauflegung übertragen, mit der Gnade des Heiligen Geistes bis zum Tod zu dienen?

Bist du bereit, das Evangelium Christi treu und unermüdlich zu verkünden?

Bist du bereit, das von den Aposteln überlieferte Glaubensgut, das immer und überall in der Kirche bewahrt wurde, rein und unverkürzt weiterzugeben?

Bist du bereit, am Aufbau der Kirche, des Leibes Christi, mitzuwirken und zusammen mit dem Bischofskollegium unter dem Nachfolger des heiligen Petrus stets ihre Einheit zu wahren? Bist du bereit, dem Nachfolger des Apostels Petrus treuen Gehorsam zu erweisen?

Bist du bereit, zusammen mit deinen Mitarbeitern, den Presbytern und Diakonen, für das Volk Gottes wie ein Vater zu sorgen und es auf dem Weg des Heiles zu führen?

Bist du bereit, um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein?

Bist du bereit, den Verirrten als guter Hirte nach-zugehen und sie zur Herde Christi zurückzuführen?

Bist du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum allmächtigen Gott zu beten und das hohepriesterliche Amt untadelig auszuüben?« (Römisches Pontifikale, Bischofs-weihe)

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Diese Worte haben sich sicher tief ins Herz eines jeden Bischofs eingegraben. In ihnen klingen die Fragen an, die Jesus dem Petrus am See von Galiläa stellte: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? (…) Weide meine Lämmer.« Zum zweiten Mal fragte er ihn: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? (…) Weide meine Schafe!« Zum dritten Mal fragte er ihn: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?« Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: »Hast du mich lieb?« Er gab ihm zur Antwort: »Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich lieb habe.« Jesus sagte zu ihm: »Weide meine Schafe!« (Joh 21,15–17), Nicht deine Schafe, nicht eure, sondern meine! Er war es nämlich, der den Menschen erschaffen hat. Er war es, der ihn erlöst hat. Er war es, der alle freigekauft hat – alle bis zum Letzten – und mit seinem Blut für sie bezahlt hat!

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Hirt

Die christliche Tradition hat das biblische Bild des Hirten auf dreierlei Weise dargestellt: Er ist derjenige, der das verlorene Schaf auf seinen Schultern trägt, der seine Herde auf grüne Auen führt und der seine Schafe mit dem Hirtenstab sammelt und sie vor Gefahren schützt.

In allen drei Darstellungen kehrt dieselbe Botschaft wieder: Der Hirt ist für die Schafe da und nicht die Schafe für den Hirten. Wenn er ein wirklicher Hirt ist, dann fühlt er sich ihnen so verbunden, dass er bereit ist, sein Leben hinzugeben für die Schafe (vgl. Joh 10,11). Jedes Jahr bringt das Römische Brevier als Lektüre für die Lesehore während der 24. und der 25. Woche im Jahreskreis die lange Predigt des hl. Augustinus über die Hirten, »Depastoribus« (vgl. Ad Officium lectionis). Ausgehend vom Buch Ezechiel macht der Bischof von Hippo den schlechten Hirten, denen es nicht um die Schafe, sondern um sich selbst geht, harte Vorwürfe: »Schauen wir, was das Wort Gottes, das niemandem schmeichelt, zu den Hirten sagt, die sich selbst nähren und nicht die Herde: ›Ihr trinkt die Milch, nehmt die Wolle für eure Kleidung und schlachtet die fetten Tiere; aber die Herde führt ihr nicht auf die Weide. Die schwachen Tiere stärkt ihr nicht, die kranken heilt ihr nicht, die verletzten verbindet ihr nicht, die verscheuchten holt ihr nicht zurück, die verirrten sucht ihr nicht, und die starken misshandelt ihr. Und weil sie keinen Hirten hatten, zerstreuten sich meine Schafe‹« (Lesehore, Montag der 24. Woche). Trotzdem kommt er zu einem Schluss voller Optimismus: »Es fehlt nämlich nicht an guten Hirten, sondern sie alle befinden sich in

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einem einzigen. (…) Alle guten Hirten identifizieren sich mit der Person eines einzigen, sie sind alle eins. Christus ist es, der in ihnen [die Herde] weidet (…) in ihnen ist seine Stimme, in ihnen ist seine Liebe« (Lesehore, Freitag der 25. Woche). Eindrucksvoll sind in diesem Zusammen-hang auch die Bemerkungen des hl. Gregors des Großen: »Die Welt ist voller Priester, aber Arbeiter in der Ernte sind selten. Wir haben das priesterliche Amt übernommen, doch die Arbeit des Amtes tun wir nicht. (…) Wir ver-nachlässigen den Dienst der Predigt und werden Bischöfe genannt – ein Ehrentitel, der uns zur Verurteilung gereicht, da wir seine Tugenden nicht besitzen. Die uns anvertraut sind, verlassen Gott, und wir schweigen. (Römisches Brevier, Lesehore, Samstag der 27. Woche). Das ist die alljährliche Mahnung, welche die Liturgie an unser Gewissen richtet, indem sie unser Verantwortungsgefühl für die Kirche wachruft!«

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»Ich kenne meine Schafe«

(vgl. Joh 10,14)

Der gute Hirt kennt seine Schafe und die Schafe kennen ihn (vgl. Joh 10,14). Natürlich ist es Pflicht des Bischofs, mit Umsicht dafür zu sorgen, dass möglichst viele von denen, die mit ihm zusammen die Lokalkirche bilden, ihn direkt kennen lernen können. Er wird von sich aus versuchen, ihnen nahe zu sein, um zu erfahren, wie sie leben, was ihr Herz erfreut und was sie betrübt. Die Basis für solch gegenseitiges Kennen sind weniger die zufälligen Begegnungen als vielmehr ein echtes Interesse für das, was in den Herzen der Menschen vorgeht, unabhängig vom Alter, von der sozialen Stellung oder von der Nationalität eines jeden. Es ist ein Interesse, das die Nahen wie auch die Fernen einbezieht (vgl. Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe, 16). Es ist schwierig, eine systematische Theorie über die Art und Weise des Umgangs mit den Menschen zu formulieren. Für mich war jedoch der Personalismus eine große Hilfe, mit dem ich mich in meinen philosophischen Studien eingehend beschäftigt habe. Jeder Mensch ist in seiner Persönlichkeit eine Einmaligkeit, und darum kann ich nicht a priori eine bestimmte Art der Beziehung planen, die für alle gilt, sondern muss diese Beziehung sozusagen jedes Mal wieder neu lernen. Das kommt eindrucksvoll zum Ausdruck in dem Gedicht von Jerzy Liebert:

»Mensch, ich erlerne dich, ich erlerne dich ganz allmählich. An diesem schwierigen Lernen freut sich und leidet das Herz« (Poezje, Warschau 1983, S. 144).

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Für einen Bischof ist es sehr wichtig, Zugang zu den Menschen zu finden und die Fähigkeit zu erwerben, in angemessener Weise auf sie zuzugehen. Was mich betrifft, ist es bezeichnend, dass ich nie den Eindruck hatte, übertrieben viele Kontakte zu haben. Wie dem auch sei, ich war stets darum besorgt, in jedem Fall den persönlichen Charakter der Beziehung zu wahren. Jeder ist ein Kapitel für sich. Diese Überzeugung hat mein Vorgehen immer bestimmt. Ich bin mir jedoch bewusst, dass man diesen Stil nicht erlernen kann. Es ist etwas, das einfach da ist, weil es aus dem Innern kommt. Das Interesse für den Anderen beginnt beim Gebet des Bischofs, bei seinem Gespräch mit Christus, der ihm »die Seinen« anvertraut. Das Gebet bereitet ihn auf diese Begegnungen mit den anderen vor. Es sind Begegnungen, in denen es – wenn man innerlich offen ist – trotz zeitlich knapper Begrenzung möglich ist, sich gegenseitig kennen zu lernen und zu verstehen. Ich bete Tag für Tag einfach für alle. Wenn ich einen Menschen treffe, bete ich bereits für ihn, und das erleichtert den Kontakt immer. Ich kann kaum sagen, wie die Leute das wahrnehmen, man müsste sie selbst danach fragen. Mein Grundsatz ist es jedoch, jeden als einen Menschen zu empfangen, den der Herr mir schickt und zugleich mir anvertraut.

Das Wort »Masse« gefällt mir nicht, es klingt zu sehr nach Anonymität; mir ist der Begriff »viele Menschen« bzw. »Scharen von Menschen« (griechisch: plethos; vgl. Mk 3,7; Lk 6,17; Apg 2,6; 14,1 u.a.m.) lieber. Christus wanderte auf den Straßen Palästinas, und »Scharen von Menschen« folgten ihm; Ähnliches geschah dann auch bei den Aposteln. Natürlich bringt es das Amt, das ich bekleide, mit sich, dass ich vielen Leuten begegne, manchmal wirklich großen Scharen von Menschen. So zum Beispiel in Manila, wo Millionen von Jugendlichen

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zusammengekommen waren. Und doch wäre es auch in diesem Fall nicht recht, von anonymer Masse zu sprechen. Es handelte sich um eine von einem gemeinsamen Ideal beseelte Gemeinschaft. Darum war es leicht, einen Kontakt herzustellen. Und das ist es, was mehr oder weniger überall geschieht.

In Manila hatte ich ganz Asien vor Augen. Wie viele Christen auf jenem Kontinent, und wie viele Millionen von Menschen, die Christus noch nicht kennen! Ich setze eine sehr große Hoffnung auf die dynamische Kirche der Philippinen und Koreas. Asien – das ist unsere gemeinsame Aufgabe für das dritte Jahrtausend!

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Die Ausspendung der Sakramente

Die Sakramente sind der größte Schatz, der größte Reichtum, über den der Bischof verfügt. Die von ihm geweihten Priester helfen ihm bei deren Ausspendung. Diesen Schatz hat Christus durch sein »Testament« – im tiefsten theologischen Sinn dieses Wortes wie auch in seiner rein menschlichen Bedeutung – in die Hände der Apostel und ihrer Nachfolger gelegt. Als er wusste, »dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen« (Joh 13,1), »gab in Brot und Wein zur Speise sich der Herr den Seinen dar« (Hymnus Pange lingua) und befahl ihnen, den Ritus des Abendmahls »zu seinem Gedächtnis« zu wiederholen: das Brot zu brechen und den Kelch mit Wein darzubringen – sakramentale Zeichen seines für uns hingegebenen Leibes und seines vergossenen Blutes. In der Folge, nach seinem Tod und seiner Auferstehung, vertraute er ihnen den Dienst der Vergebung der Sünden an und die Ausspendung der anderen Sakramente, angefangen mit der Taufe. Die Apostel gaben diesen Schatz an ihre Nachfolger weiter. Neben der Verkündigung des Wortes ist also die Ausspendung der Sakramente die erste Aufgabe der Bischöfe – ihr müssen alle anderen Verpflichtungen unter-geordnet werden. Alles im Leben des Bischofs muss diesem Zweck dienen.

Wir wissen, dass wir dazu der Hilfe bedürfen: »Darum bitten wir dich, Herr, gib auch uns solche Helfer; denn mehr noch als die Apostel bedürfen wir der Hilfe in unserer Schwachheit (…) Uns Bischöfen seien sie

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treffliche Helfer.« (Römisches Pontifikale, Priesterweihe). Das ist der Grund, warum wir geeignete Kandidaten auswählen und vorbereiten und sie dann zu Priestern und Diakonen weihen. Gemeinsam mit uns haben sie die Aufgabe, das Wort Gottes zu verkünden und die heiligen Sakramente auszuspenden.

Aus dieser Perspektive müssen die täglichen Aufgaben und all die Verpflichtungen, die unseren Terminkalender füllen, beleuchtet und geordnet werden. Selbstverständlich geht es nicht nur darum, im Zentrum der kirchlichen Versammlung die Eucharistie zu feiern oder die Firmung zu spenden, sondern auch darum, Kinder zu taufen und vor allem den Erwachsenen, die durch die Gemeinde der Lokalkirche darauf vorbereitet werden, Jünger Christi zu sein, dieses heilige Sakrament zu spenden. Ebenso wenig sollte das persönliche Hören der Beichte unterschätzt werden, wie auch Krankenbesuche mit der Spendung der eigens für sie eingesetzten Krankensalbung. Zu den Aufgaben des Bischofs gehört es außerdem, für die Heiligkeit der Ehe Sorge zu tragen, und zwar nicht nur indirekt über den Einsatz der Pfarrer, sondern auch persönlich, indem er, soweit möglich, auch selbst die Eheschließung segnet. Natürlich übernehmen die Priester als Mitarbeiter des Bischofs den größten Teil dieser Verpflichtungen. Jedoch gibt der Hirt der Diözese durch seinen persönlichen Einsatz bei der Zelebration der Sakramente dem ihm anvertrauten Gottesvolk – sowohl den Laien als auch den Priestern – ein gutes Beispiel. Für alle ist dies das deutlichste Zeichen seiner Verbundenheit mit Christus, der in allen sakramentalen Mysterien handelnd gegenwärtig ist. Christus selbst möchte, dass wir Werkzeuge des Heilswerkes sind, das er durch die Sakramente der Kirche verwirklicht. Gerade in diesen wirksamen Zeichen der Gnade steht vor den Augen der

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Seele das Angesicht Christi, des barmherzigen Erlösers und guten Hirten. Ein Bischof, der persönlich die Sakramente ausspendet, erscheint vor allen deutlich als Zeichen des in seiner Kirche lebendigen und handelnden Christus.

Die Pastoralbesuche

Wie schon erwähnt, begab ich mich regelmäßig zur Arbeit in die Kurie; ganz besonders aber schätzte ich die Pastoralbesuche. Sie gefielen mir so sehr, weil sie mir die Möglichkeit gaben, in direkten, lebendigen Kontakt mit den Menschen zu kommen. Dann vermittelten sie mir das Gefühl, sie zu »formen«. Es kamen zu mir Laien und Priester, ganze Familien, Jugendliche und Alte, Gesunde und Kranke, Eltern mit ihren Kindern und ihren Problemen … es kamen einfach alle mit allem. Das war das Leben.

Gut erinnere ich mich noch an meinen ersten Pastoralbesuch. Es war in Mucharz bei Wadowice. Der Pfarrer dort, ein alter Prälat, war ein besonders guter Priester. Er hieß Józef Motyka. Er wusste, dass es mein erster Pastoralbesuch war, und er war innerlich bewegt. Er sagte, für ihn werde es wohl der letzte sein. Er meinte, mich irgendwie anleiten zu müssen. Der Besuch umfasste die gesamte Präfektur und dauerte zwei Monate: Mai und Juni. Nach den Ferien besuchte ich dann meine Heimat-Präfektur Wadowice.

Die Pastoralbesuche fanden im Frühling und im Herbst statt. Es ist mir nicht gelungen, in meiner Zeit alle Pfarreien – über dreihundert an der Zahl – zu besuchen. Obwohl ich zwanzig Jahre lang Bischof von Krakau war, konnte ich die Pastoralbesuche nicht rechtzeitig zu Ende

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führen. Ich erinnere mich, dass die letzte Pfarrei der Erzdiözese Krakau, die ich besuchte, Sankt Josef in Zlote Lany, einem neuen Wohngebiet von Bielsko-Biala war. In jener Stadt war der Pfarrer der Pfarrei der »Göttlichen Vorsehung« Józef Sanak; bei ihm übernachtete ich. Nach der Rückkehr von diesem Pastoralbesuch zelebrierte ich die heilige Messe für den eben verstorbenen Papst Johannes Paul I. und begab mich nach Warschau, um an den Arbeiten der Bischofskonferenz teilzunehmen. Dann reiste ich ab nach Rom … ohne zu wissen, dass ich für die Zukunft dort bleiben sollte.

Meine Pastoralbesuche dauerten immer ziemlich lange; vielleicht war das auch der Grund, warum ich nicht rechtzeitig alle Pfarreien besuchen konnte. Ich hatte für die Abwicklung dieser pastoralen Aufgabe ein eigenes Modell entwickelt. Tatsächlich gab es schon ein überkommenes Modell, und mit ihm hatte ich – wie bereits erwähnt – in Mucharz begonnen. Der alte Prälat, den ich dort traf, war mir diesbezüglich ein guter Führer. Aufgrund der allmählich gesammelten Erfahrungen hielt ich es jedoch für nützlich, einige Neuerungen einzuführen. Der eher juridische Ansatz, den der Besuch vorher hatte, befriedigte mich nicht; ich wollte ihm mehr pastoralen Gehalt geben. So erarbeitete ich ein gewisses Schema. Der Besuch begann immer mit einer Begrüßungs-Zeremonie, an der verschiedene Personen und Gruppen teilnahmen: Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Danach wurde ich in die Kirche geführt, wo ich eine Ansprache hielt mit der Absicht, einen ersten Kontakt mit den Leuten herzustellen. Am folgenden Tag ging ich zuerst einmal in den Beichtstuhl, wo ich mich je nach den Umständen eine oder zwei Stunden aufhielt, um Beichtende zu empfangen. Dann folgten die heilige Messe und anschließend die Hausbesuche, vor allem bei den Kranken, aber nicht nur

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dort. Leider gestatteten die Kommunisten nicht den Zutritt zu den Krankenhäusern. Die Kranken wurden auch in die Kirche gebracht, um eine Begegnung zu ermöglichen. Um diesen Aspekt des Besuches kümmerte sich in der Diözese die »Dienerin Gottes« Hanna Chrzanowska. Immer war mir deutlich bewusst, welch fundamentalen Beitrag die Leidenden zum Leben der Kirche leisten. Ich erinnere mich, dass die Kranken mich während der ersten Kontakte irgendwie einschüchterten. Es brauchte einigen Mut, vor dem zu erscheinen, der litt, und sich, ohne in Verlegenheit zu geraten, in gewissem Sinne in seinen körperlichen oder seelischen Schmerz einzufühlen und es fertig zu bringen, wenigstens ein klein bisschen liebevolles Mitleid zu zeigen. Der tiefe Sinn des Geheimnisses menschlichen Leidens enthüllte sich mir erst später. In der Schwäche der Kranken trat für mich immer deutlicher sichtbar die Kraft hervor, die Kraft der Barmherzigkeit. In gewissem Sinne »provozieren« sie die Barmherzigkeit. Durch ihr Gebet und ihr Opfer erflehen sie nicht nur Barmherzigkeit, sondern bilden den »Raum der Barmherzigkeit«, oder besser: »geben« der Barmherzigkeit »Raum«. Mit ihrer Gebrechlichkeit und ihrem Leiden provozieren sie nämlich Taten der Barmherzigkeit und schaffen die Möglichkeit, sie zu vollbringen. Ich hatte die Gewohnheit, dem Gebet der Kranken die Probleme der Kirche anzuvertrauen, und das Ergebnis war immer sehr positiv. Während der Pastoralbesuche spendete ich auch die Sakramente: Ich firmte die Jugendlichen und segnete die Eheschließungen.

Dann traf ich mich separat mit verschiedenen Gruppen, zum Beispiel mit den Lehrern, mit denen, die in der Pfarrei arbeiteten, mit den Jugendlichen. Es gab auch ein eigenes Treffen in der Kirche mit allen Ehepaaren; das war mit der heiligen Messe verbunden und schloss mit einem besonde-ren Segen, der jedem Paar einzeln gegeben wurde. Bei

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dieser Art von Treffen gab es natürlich eine speziell für die Ehepaare bestimmte Predigt. Ich war immer besonders gerührt, wenn ich kinderreiche Familien traf sowie auch Frauen, die ein Kind erwarteten. Dann hatte ich den Wunsch, meine besondere Wertschätzung für die Mutter-schaft und die Vaterschaft auszudrücken. Den pastoralen Einsatz für die Ehepaare und die Familien habe ich vom Beginn meines Priestertums an immer gepflegt. Als Universitäts-Seelsorger organisierte ich gewöhnlich Ehe-Vorbereitungs-Kurse, und später als Bischof förderte ich die Familienpastoral. Aus diesen Erfahrungen, aus diesen Begegnungen mit den Verlobten, den Eheleuten und den Familien gingen mein poetisches Drama Der Laden des Goldschmieds und das Buch Liebe und Verantwortung her-vor, und dann, in neuester Zeit, der Brief an die Familien.

Es gab auch getrennte Begegnungen mit den Priestern. Jedem wollte ich die Gelegenheit geben, sich aus-zusprechen und die Freuden und Sorgen des eigenen Dienstes mitzuteilen. Für mich erwiesen sich diese Begegnungen als wertvolle Gelegenheiten, von ihnen einen wahren Schatz an Weisheit zu erfahren, den sie in Jahren seelsorglicher Mühen gesammelt hatten.

Der Ablauf des Pastoralbesuches hing von den Be-dingungen der jeweiligen Pfarrei ab. Tatsächlich gab es sehr unterschiedliche Situationen. So dauerte der Besuch der Pfarrgemeinde der Basilika der »Assumpta« in Krakau zwei Monate; es gab dort nämlich zahlreiche Kirchen und Oratorien. Völlig anders war der Fall von Nowa Huta: Dort gab es trotz mehrerer zehntausend Einwohner keine Kirche. Nur eine kleine, an die Schule angebaute Kapelle existierte. Man muss sich vor Augen halten, dass es in der ersten Zeit nach Stalin war und der Kampf gegen die Religion noch andauerte. Die Regierung in einer »sozialistischen Stadt« wie Nowa Huta gestattete nicht den Bau neuer Kirchen.

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Der Kampf für die Kirche

Gerade in Krakau-Nowa Huta wurde ein harter Kampf für den Bau der Kirche ausgefochten. In diesem Stadtteil mit vielen Tausend Einwohnern lebten zum größten Teil Arbeiter einer großen Metall-Industrie, die aus allen Teilen Polens dorthin gekommen waren. Nach dem Plan der Machthaber sollte Nowa Huta ein Musterbeispiel eines »sozialistischen« Bezirks sein, das heißt frei von jeglicher Verbindung mit der Kirche. Man konnte jedoch unmöglich außer Acht lassen, dass diese Leute, die auf der Suche nach Arbeit dorthin gelangt waren, nicht beabsichtigten, auf ihre katholische Verwurzelung zu verzichten. Der Kampf ging aus von einem großen Wohnbezirk in Bienczyce. Anfangs erteilten die kommunistischen Behörden auf das erste beharrliche Drängen hin die Genehmigung zum Bau einer Kirche und wiesen sogar das Grundstück aus. Sofort setzten die Leute ein Kreuz darauf. In der Folge wurde jedoch die noch zur Zeit von Erzbischof Baziak gewährte Genehmigung zurück-gezogen, und die Behörden ordneten die Entfernung des Kreuzes an. Dem leisteten die Leute entschiedenen Widerstand. Darauf folgte sogar eine Auseinandersetzung mit der Polizei; es gab Opfer und Verletzte. Der Bürger-meister der Stadt forderte uns auf, die Leute zu beruhigen. Das war einer der ersten Akte des langen Kampfes für die Freiheit und Würde dieser Bevölkerung, die das Schicksal in den neuen Teil Krakaus verschlagen hatte. Am Ende wurde die Schlacht gewonnen, jedoch zum Preis eines aufreibenden »Nervenkriegs«. Ich führte die Verhand-lungen mit den Behörden, hauptsächlich mit dem Leiter

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des Provinzialbüros für die Angelegenheiten der Reli-gionen. Dieser Mann hatte in den Gesprächen ein liebenswürdiges Auftreten, war jedoch besonders hart und unnachgiebig in den nachfolgenden Entscheidungen, die einen übel gesinnten und voreingenommenen Geist verrieten.

Der Pfarrer Józef Gorzelany übernahm die Aufgabe der Errichtung der Kirche und führte sie zum guten Ende. Ein weiser pastoraler Schritt war die Einladung an die Pfarrei-mitglieder, ein jeder möge einen Stein zum Bau des Fundamentes und der Mauern mitbringen. Auf diese Weise fühlte sich jeder an der Errichtung der Mauern des Gotteshauses persönlich beteiligt.

Eine ähnliche Situation erlebten wir im Seelsorgzentrum von Mistrzejowice. Die Hauptfigur in jener Angelegenheit war der heldenhafte Priester Józef Kurzeja, der zu mir kam und sich spontan zur Verfügung stellte, seinen Dienst in jenem Bezirk zu tun. Es gab dort ein kleines Kapellchen, und er hatte sich vorgenommen, darin mit der Katechese zu beginnen, in der Hoffnung, dann ganz allmählich eine neue Pfarrei bilden zu können. Und so geschah es. Doch Józef bezahlte die Kämpfe für die Kirche in Mistrzejowice mit dem Leben. Von den kommunistischen Behörden schikaniert, erlitt er einen Infarkt und starb im Alter von neununddreißig Jahren.

In dem Kampf für die Kirche von Mistrzejowice half ihm der Priester Mikolaj Kuczkowski. Er stammte wie ich aus Wadowice. Ich erinnere mich an ihn aus jenen Zeiten, als er noch Advokat war und eine Verlobte hatte, ein schönes Mädchen namens Nastka, Präsidentin der Jugend der Katholischen Aktion. Als sie starb, entschloss er sich, Priester zu werden. 1939 trat er ins Seminar ein und begann die philosophischen und theologischen Studien. Er schloss sie 1945 ab. Ich hatte sehr engen Kontakt zu ihm,

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und auch er hatte mich gern. Seine Absicht war es, »etwas aus mir zu machen«, wie man so sagt. Nach meiner Bischofsweihe kümmerte er sich persönlich um meinen Umzug in den bischöflichen Palast von Krakau in der Franciszkariska-Straße 3. Viele Male konnte ich feststellen, wie sehr er Józef Kurzeja, dem ersten Pfarrer von Mistrzejowice, zugetan war. Was Józef selbst angeht, so kann ich sagen, dass er ein einfacher und guter Mensch war. (Eine seiner Schwestern ist Ordensschwester bei den Mägden vom Heiligen Herzen.) Wie gesagt, Mikolaj Kuczkowski half ihm sehr in seiner pastoralen Tätigkeit, und als Józef starb, legte er sein Amt als Kanzler der Kurie nieder, um seine Nachfolge in der Pfarrei von Mistrzejowice anzutreten. Beide sind dort begraben, in der Krypta unter der Kirche, die sie erbaut haben. Vieles könnte ich von ihnen erzählen. Sie bleiben für mich ein beredtes Beispiel priesterlicher Brüderlichkeit, die ich als Bischof beobachtet und mit Bewunderung unterstützt habe: »Ein treuer Freund ist wie ein festes Zelt; wer einen solchen findet, hat einen Schatz gefunden« (Sir 6,14). Die echte Freundschaft hat in Christus ihren Ursprung: »Ich habe euch Freunde genannt …« (vgl. Joh 15,15). Wirklich vorangetrieben wurde die Angelegenheit des Kirchenbaus in der Volksrepublik Polen von Bischof Ignacy Tokarczuk, dem Hirten der Nachbardiözese Przemysl. Er trotzte dem Gesetz und baute die Kirchen, wenn auch unter großen Opfern und vielen Schikanen durch die lokalen kommunistischen Behörden, die er dafür einstecken musste. In seinem Fall bot die Situation jedoch einen gewissen Vorteil, denn die Gemeinden seiner Diözese bestanden mehrheitlich aus ländlichen Dörfern, und das war eine weniger schwierige Umgebung. Die ländliche Bevölkerung ist nämlich nicht nur empfänglicher

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für das Religiöse, sondern unterliegt auch weniger der Kontrolle der Polizei, als das in der Stadt der Fall ist.

Mit Dankbarkeit und Bewunderung denke ich an die Pfarrer, die in jener Zeit Kirchen bauten. Meine Bewun-derung erstreckt sich darüber hinaus auf alle Kirchenbauer in der ganzen Welt. Immer habe ich mich bemüht, sie zu unterstützen. Eine Manifestation dieser Unterstützung waren in Nowa Huta die Zelebrationen der Mitternachts-messe zu Weihnachten unter freiem Himmel trotz des Frostes. Schon vorher hatte ich sie in Biericzyce und später auch in Mistrzejowice und auf den Hügeln von Krzeslawice gefeiert. Das stellte ein zusätzliches Argu-ment dar in den Verhandlungen mit den Behörden, da ich mich auf das Recht der Gläubigen auf menschliche Bedingungen für ihre öffentlichen Glaubenskundgebungen berufen konnte.

Ich habe das alles erwähnt, weil unsere damaligen Erfahrungen zeigen, wie verschiedenartig die pastoralen Aufgaben eines Bischofs sein können. In diesen Begeben-heiten klingt nach, was ein Hirt im Kontakt mit der ihm anvertrauten Herde alles erlebt. Ich habe persönlich fest-stellen können, wie wahr es ist, was im Evangelium über die Schafe gesagt wird, die ihrem Hirten folgen: Einem Fremden folgen sie nicht, denn sie kennen die Stimme ihres Hirten. Er weiß jedoch, dass er noch andere Schafe hat, die nicht aus seinem Stall sind. Auch sie muss er führen (vgl. Joh 10,4–5; 16).

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TEIL III WISSENSCHAFTLICHER UND

PASTORALER EINSATZ

»… voller Güte und reich an Erkenntnis« (Röm 15,14)

Die Fakultät für Theologie im Umfeld der anderen Universitäts-Fakultäten

Als Bischof von Krakau sah ich mich genötigt, mich für die theologische Fakultät an der Jagiellonischen Universi-tät einzusetzen. Ich hielt das einfach für meine Pflicht. Die staatlichen Behörden behaupteten, diese Fakultät sei nach Warschau verlegt worden. Der Vorwand, den sie ergriffen, war die dortige Einrichtung der Akademie für katholische Theologie im Jahr 1953, die der staatlichen Verwaltung unterstellt wurde. Dieser Kampf wurde dank der Tatsache gewonnen, dass später in Krakau die autonome Päpstliche theologische Fakultät entstand und dann die Päpstliche Akademie für Theologie gegründet wurde.

In diesem Kampf bestärkte mich die Überzeugung, dass die Wissenschaft in ihren vielgestaltigen Ausprägungen ein unschätzbares Erbe für eine Nation ist. Natürlich war in den Gesprächen mit den kommunistischen Behörden das Objekt meiner Verteidigung in erster Linie die Theolo-gie, denn sie war ganz besonders in Gefahr. Nie vergaß ich

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jedoch die anderen Wissenschafts-Zweige, auch wenn sie anscheinend nicht mit der Theologie verbunden sind.

Kontakte mit den anderen Bereichen der Wissenschaft pflegte ich hauptsächlich auf dem Weg über die Physiker. Mit ihnen traf ich mich oft, und wir sprachen über die neuesten Entdeckungen der Kosmologie. Das war faszinierend und bestätigte die Behauptung des hl. Paulus, nach der eine gewisse Erkenntnis Gottes auch auf dem Weg über die Erkenntnis der geschaffenen Welt erreicht werden kann. (vgl. Röm 1,20–23). Diese Treffen von Krakau finden ab und zu ihre Fortsetzung in Rom und in Castel Gandolfo. Ihr Organisator ist Prof. Jerzy Janik.

Ich war immer darum bemüht, für eine angemessene Seelsorge der Wissenschaftler zu sorgen. In Krakau war dafür eine Zeit lang Prof. Stanislaw Nagy zuständig, den ich kürzlich zur Kardinalswürde erhoben habe, weil ich damit auch meine Dankbarkeit gegenüber der polnischen Wissenschaft zum Ausdruck bringen wollte.

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Der Bischof und die Welt der Kultur

Bekanntlich zeigen nicht alle Bischöfe ein besonderes Interesse am Dialog mit den Forschern. Nicht wenige von ihnen ziehen die pastoralen Aufgaben – im weitesten Sinne dieses Wortes – dem Kontakt mit den Männern der Wissenschaft vor. Meiner Meinung nach lohnt es sich jedoch, dass Mitglieder des Klerus – Priester und Bischöfe – eine persönliche Beziehung zur Welt der Wissenschaft und ihren Protagonisten pflegen. Besonders um seine katholischen Hochschulen müsste der Bischof sich kümmern. Aber nicht nur um sie. Er müsste auch einen engen Kontakt mit dem gesamten Universitätsleben unterhalten: lesen, sich treffen, diskutieren, sich informieren über alles, was in jenem Bereich geschieht. Selbstverständlich ist der Bischof nicht dazu berufen, Wissenschaftler zu sein, sondern Hirt. Als Hirt jedoch darf er an dieser Komponente seiner Herde nicht uninteressiert vorübergehen, da es ihm obliegt, die Forscher an ihre Pflicht zu erinnern, der Wahrheit zu dienen und so das Allgemeinwohl zu fördern.

In Krakau bemühte ich mich auch um den Kontakt mit den Philosophen: mit Roman Ingarden, Wladyslaw Strózewski, Andrzej Póltawski, und auch mit den Philo-sophen im priesterlichen Dienst: mit Kazimierz Klósak, Józef Tischner und Józef Zycinski. Mein persönlicher philosophischer Standort bewegt sich sozusagen zwischen zwei Polen: zwischen dem aristotelischen Thomismus und der Phänomenologie.

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In besonderer Weise interessierte mich das Gedankengut Edith Steins, einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, auch wegen ihres Lebensweges: Als in Breslau geborene Jüdin begegnete sie Christus, ließ sich taufen, trat in den Karmel ein und lebte für einige Zeit in Holland, von wo aus sie die Nazis nach Auschwitz deportierten. Dort erlitt sie den Tod in der Gaskammer, und ihr Leib wurde im Krematorium verbrannt. Sie hatte bei Husserl studiert und war Kollegin unseres Philosophen Ingarden gewesen. Ich hatte die Freude, sie in Köln selig und dann in Rom heilig zu sprechen. Ich habe Edith Stein, Schwester Theresia Benedicta a Cruce, zusammen mit der hl. Brigitta von Schweden und der hl. Katharina von Siena zur Mit-patronin Europas erklärt. Drei Frauen neben den drei Patronen Cyrill, Methodius und Benedikt. Ihre Philosophie interessierte mich, und ich las ihre Schriften, besonders Endliches und Ewiges Sein, vor allem aber faszinierte mich ihr außergewöhnliches Leben und ihr tragisches Schicksal, das mit dem von Millionen anderer wehrloser Opfer unserer Zeit verflochten ist. Eine Schülerin von Edmund Husserl, eine leidenschaftliche Sucherin nach der Wahrheit, eine Klausur-Nonne, ein Opfer des hitlerschen Systems: wirklich ein nicht nur seltener, sondern wohl eher einzigartiger »menschlicher Fall«.

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Die Bücher und das Studium

Die Verpflichtungen, die auf den Schultern eines Bischofs lasten, sind sehr zahlreich. Das habe ich selbst erfahren, und ich habe bemerkt, wie sehr es an der nötigen Zeit fehlen kann. Dieselbe Erfahrung hat mich aber auch gelehrt, wie nötig für den Bischof Sammlung und Studium sind. Er braucht eine vertiefte, ständig auf dem Laufenden gehaltene theologische Bildung und darüber hinaus auch ein weites Interesse für Geist und Sprache – Schätze, die denkende Menschen miteinander teilen. Und darum möchte ich hier einiges über die Rolle der Literatur in meinem Leben als Bischof sagen. Ich stand immer vor dem Dilemma: Was soll ich lesen? Ich versuchte, das zu wählen, was am wesentlichsten war. Die Buchproduktion ist so umfangreich! Nicht alles ist wertvoll und nützlich. Man muss es verstehen, auszuwählen, und sich bezüglich der Lektüre beraten lassen. Von Kind an hatte ich Gefallen an Büchern. Mein Vater hatte mich in das Bücherlesen eingeführt. Gewöhnlich setzte er sich neben mich und las mir vor, zum Beispiel etwas von Sienkiewicz oder von anderen polnischen Schriftstellern. Als meine Mutter starb, blieben wir beide übrig: er und ich. Und er ließ nicht nach, mich zur Lektüre wertvoller Literatur zu ermuntern. Er hat auch nie mein Interesse für das Theater behindert. Wäre nicht der Krieg ausgebrochen und hätte sich nicht die Situation radikal verändert, dann hätten wohl die Perspektiven, die das Philologie-Studium mir eröffnete, mich völlig vereinnahmt. Als ich Mieczystaw Kotlarczyk meinen Entschluss, Priester zu werden, mitteilte, sagte er:

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»Was hast du nur vor? Willst du etwa dein Talent vergeuden?« Nur Erzbischof Sapieha hatte keine Zweifel.

Noch als Philologie-Student las ich verschiedene Autoren. Zuerst wendete ich mich der großen Literatur zu, besonders den Dramen. Ich las Shakespeare, Molière, ich las die polnischen Dichter Norwid und Wyspianski. Selbstverständlich Aleksander Fredro. Ich hatte eine Leidenschaft fürs Theaterspielen, als Darsteller auf die Bühne zu steigen. Viele Male kam es vor, dass ich mir überlegte, welche Rollen ich wohl gern dargestellt hätte. Als Kotlarczyk noch lebte, teilten wir uns oft rein theoretisch die möglichen Rollen zu: wer eine bestimmte Gestalt hätte darstellen können. Alles längst vorbei … Später hat mir jemand gesagt: »Du bist begabt …; du wärest ein großer Darsteller geworden, wenn du beim Theater geblieben wärest.« Die Liturgie ist auch eine Art dargestelltes, in Szene gesetztes Mysterium. Ich erinnere mich an den tiefen Eindruck, den ich davontrug, als der Priester Figlewicz mich als fünfzehnjährigen Jungen zum Triduum Sacrum auf den Wawel einlud und ich am auf Mittwochnachmittag vorgezogenen Offizium, der Lese-hore, teilnahm. Es war eine tiefe, geistliche Erschütterung. Bis heute ist für mich das österliche Triduum ein auf-rüttelndes Erlebnis. Es kam der Moment der philo-sophischen und der theologischen Literatur. Als Semina-rist im Untergrund erhielt ich das Handbuch der Meta-physik von Prof. Kazimierz Wais aus Lemberg, und Kazimierz Klósak sagte mir: »Studiere es. Wenn du es gelernt hast, machst du die Prüfung.« Für einige Monate vertiefte ich mich in den Text. Dann meldete ich mich zur Prüfung und bestand sie. Das kennzeichnete eine Wende in meinem Leben. Es öffnete sich mir eine neue Welt. Ich begann, mich an theologische Werke heranzuwagen. Später, während meiner Studien in Rom, beschäftigte ich

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mich dann eingehend mit der Summa Theologiae des hl. Thomas.

Es gab also zwei Etappen in meinem intellektuellen Werdegang: Die erste bestand in dem Übergang von der literarischen Denkweise zur Metaphysik; die zweite führte mich von der Metaphysik zur Phänomenologie. Das war meine wissenschaftliche »Werkbank«. Die erste Etappe fiel – zumindest anfänglich – mit der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung zusammen, als ich in der Fabrik »Solvay« arbeitete und heimlich im Seminar Theologie studierte. Ich erinnere mich, dass der Rektor des Seminars, Jan Piwowarczyk, bei meiner Vorstellung zu mir sagte: »Ich nehme Sie an, aber nicht einmal Ihre Mutter darf wissen, dass Sie hier studieren.« Das war damals die Situation. Trotzdem gelang es mir, weiter-zukommen. Später empfing ich große Hilfe von Ignacy Rózycki, der mir die Möglichkeit bot, in seinem Hause zu wohnen, und mir die Basis für die wissenschaftliche Arbeit schaffte.

Geraume Zeit später schlug mir dann Prof. Rózycki das Thema der These für die Privatdozentur vor, die auf dem Werk von M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik, basierte. Während ich den Text der These redigierte, übersetzte ich für mich selbst das Buch ins Polnische. Das war wiederum eine Wende. Ich beendete die These und verteidigte sie im November 1953. Die Koreferenten der Dissertation waren Aleksander Usowicz, Stefan Swiezawski und der Theologe Wladyslaw Wicher. Es war die letzte Habilitation für Privatdozentur an der theologischen Fakultät der Jagiello-nischen Universität vor deren Auflösung durch die Kommunisten. Die Fakultät wurde, wie bereits erwähnt, an die Akademie für katholische Theologie in Warschau verlegt, und ich begann im Herbst 1954 meine Lehr-

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tätigkeit an der katholischen Universität von Lublin – eine Arbeit, die mir Prof. Swiezawski ermöglichte, mit dem ich bis heute freundschaftlich verbunden bin. Prof. Rózycki nannte ich Ignac. Ich hatte ihn gern, und er erwiderte diese Zuneigung mit ebensolcher Freundschaft. Er war es, der mich ermutigte, die Habilitations-Prüfung für die Privatdozentur zu machen. In gewisser Weise war er der Referent.

Einige Jahre lang wohnten und aßen wir zusammen. Frau Maria Gromek kochte für uns. Ich hatte dort ein Zimmer, an das ich mich noch genauestens erinnere. Es befand sich im Kanonikat des Wawel in der Kanonicza-Straße 19 und war sechs Jahre lang mein »Haus«. Anschließend richtete ich mich in der Nummer 21 ein, und schließlich zog ich mit Hilfe des Kanzlers Mikolaj Kuczkowski in den bischöflichen Palast in der Francisz-kanska-Straße 3.

In meinem Lesen und Studieren habe ich mich immer bemüht, die Fragen des Glaubens, des Geistes und des Herzens harmonisch miteinander zu vereinen. Es sind nämlich keine getrennten Gebiete. Jedes von ihnen durchdringt und belebt die anderen. In dieser gegen-seitigen Durchdringung von Glaube, Geist und Herz kommt ein besonderer Einfluss dem Staunen zu – einem Staunen über das Wunder der Person, über die Eben-bildlichkeit des Menschen mit dem einen und dreifaltigen Gott, einem Staunen über die so tiefe Beziehung zwischen Liebe und Wahrheit, über das Geheimnis der gegen-seitigen Hingabe und das Leben, das daraus entspringt, einem Staunen bei der Betrachtung des Vergehens der menschlichen Generationen.

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Die Kinder und die Jugendlichen

In diesen Überlegungen soll sich ein gesonderter Abschnitt mit den Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Außer den Begegnungen mit ihnen während der Pastoralbesuche gab es noch weitere Treffen. Besonders der Welt der Studenten habe ich immer große Aufmerk-samkeit gewidmet, und aus dem Bereich der Universitäts-seelsorge sind mir sehr schöne Erinnerungen geblieben – ein Bereich, auf den meine Aufmerksamkeit schon durch den Charakter der Stadt Krakau gelenkt wurde, die eine lange Tradition als Zentrum akademischer Studien aufweist. Es gab verschiedenste Gelegenheiten zu Begeg-nungen, von Vorträgen und Diskussionen bis zu Einkehrtagen und geistlichen Exerzitien. Selbstverständ-lich pflegte ich enge Kontakte zu den Priestern, die mit der Seelsorge in diesem Sektor beauftragt waren.

Die Kommunisten hatten alle katholischen Jugend-verbände aufgelöst. Also musste eine Möglichkeit gefun-den werden, diesen Verlust auszugleichen. Und hier trat Franciszek Blachnicki, heute »Diener Gottes«, auf den Plan. Er war der Initiator der so genannten »Oase-Bewegung«. Ich verband mich dieser Bewegung sehr und suchte ihr auf vielfältige Weise zu helfen. Ich verteidigte die »Oasen« gegen die kommunistischen Behörden, bot ihnen materielle Unterstützung und nahm selbstverständ-lich an ihren Treffen teil. Wenn die Ferien kamen, begab ich mich oft in die »Oasen«, das heißt in die Sommer-Jugendlager, die der Bewegung gehörten. Ich predigte, unterhielt mich mit ihnen, schloss mich ihren Gesängen rund ums Lagerfeuer an und nahm an ihren Berg-

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besteigungen teil. Nicht selten zelebrierte ich die heilige Messe für sie im Freien. All das war die Verwirklichung eines recht intensiven Pastoral-Programms.

Während meiner Pilgerreise im Jahre 2002 in mein Krakau sangen die Mitglieder der Oasen:

»Einst kam der Herr an das Ufer, suchte Menschen, bereit, ihm zu folgen und die Herzen mit ihm zu fangen. Du, Herr, blicktest mir tief in die Augen, lächelnd nanntest du heut’ meinen Namen; und mein Boot lass’ ich am Strande zurück, zu beginnen neuen Fischfang mit Dir.«

Ich sagte zu ihnen, dass in gewissem Sinne dieses Lied der Oasen mich aus der Heimat heraus nach Rom geführt hatte. Sein tiefer Inhalt hatte mich auch dann gestützt, als ich mit der vom Konklave gefällten Entscheidung kon-frontiert wurde. Und danach habe ich mich mein ganzes Pontifikat hindurch niemals von diesem Lied getrennt. Außerdem wurde es mir ständig in Erinnerung gerufen, nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern der Welt. Wenn ich es hörte, fühlte ich mich immer innerlich zurückversetzt in meine Begegnungen als Bischof mit den Jugendlichen. Diese große Erfahrung bewerte ich sehr positiv. Ich habe sie mit nach Rom genommen. Auch hier habe ich versucht, Nutzen daraus zu ziehen, indem ich die Gelegenheiten zur Begegnung mit den Jugendlichen ver-vielfachte. In gewissem Sinne sind die Weltjugendtage aus dieser Erfahrung hervorgegangen.

Eine zweite Bewegung der Jugend traf ich auf meinem Weg als Bischof: den »Sacrosong«. Das war eine Art Festspiel der Musik und des religiösen Liedes, das von Gebet und Betrachtung begleitet war. Die Treffen fanden an verschiedenen Orten in Polen statt und zogen viele Jugendliche an. Mehrmals nahm auch ich daran teil und unterstützte ihre Organisation auch unter finanziellen Gesichtspunkten. Diese Treffen habe ich in guter Erinne-

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rung. Ich hatte immer Freude am Singen. Ehrlich gesagt habe ich jede Gelegenheit zum Singen wahrgenommen. Vor allem aber mit den Jugendlichen habe ich gern gesungen. Die Texte waren unterschiedlich, das hing von den Umständen ab: Am Lagerfeuer waren es die Volkslieder der Pfadfinder; anlässlich der National-feiertage, des Jahrestages des Kriegsausbruchs oder des Warschauer Aufstands wurden Soldatenlieder gesungen und patriotische Gesänge. Unter ihnen gefallen mir besonders Der rote Mohn auf Monte Cassino, Die erste Brigade und allgemein die Lieder des Aufstands und die der Partisanen. Der Rhythmus des liturgischen Jahres orientiert in seiner eigenen Weise die Wahl der Lieder. Zu Weihnachten werden in Polen immer viele Weihnachts-lieder gesungen, während man vor Ostern eher solche wählt, die sich auf die Passion beziehen. Diese alten Lieder enthalten die ganze christliche Theologie. Sie stellen einen Schatz der lebendigen Überlieferung dar, der die Herzen jeder Generation anspricht und ihren Glauben formt. Im Mai und im Oktober singen wir in Polen außer den Marienliedern auch die Litaneien und die Hören des Offiziums der seligen Jungfrau Maria. Es ist unmöglich, alles aufzuzählen. Welch ein Reichtum an Poesie liegt in diesen bis heute gebräuchlichen Volksliedern! Als Bischof bemühte ich mich, dieses Brauchtum zu pflegen, und die Jugendlichen hatten den besonderen Wunsch, die Tradi-tion fortzusetzen. Ich denke, wir zogen gemeinsam Ge-winn aus diesem Schatz einfachen und tiefen Glaubens, den unsere Vorfahren in die Lieder eingebracht haben.

Am 18. Mai 2003 habe ich Mutter Urszula Ledóchowska heilig gesprochen, eine große Erzieher-Gestalt. Sie wurde in Österreich geboren, doch gegen Ende des 19. Jahr-hunderts übersiedelte die ganze Familie nach Lipnica Murowana in der Diözese Tarnów. Einige Jahre lang lebte

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sie auch in Krakau. Ihre Schwester Maria Theresa, »Mutter Afrikas« genannt, ist selig gesprochen worden. Ihr Bruder Wlodzimierz war General der Jesuiten. Das Beispiel dieser Geschwister zeigt, wie sich der Wunsch nach Heiligkeit mit besonderer Kraft entwickelt, wenn er in das günstige Klima einer guten Familie eingebettet ist. Wie wichtig ist doch die familiäre Umgebung! Die Heiligen zeugen und formen weitere Heilige.

Wenn ich an derartige Erzieher denke, kommen mir instinktiv die Kinder in den Sinn. Auf den Pastoral-besuchen – auch auf denen, die ich hier in Rom mache – war und bin ich immer darum bemüht, die Zeit für eine Begegnung mit den Kindern zu finden. Nie habe ich es aufgegeben, die Priester zu ermahnen, ihnen im Beicht-stuhl großzügig ihre Zeit zu widmen. Eine gründliche Gewissenbildung der Kinder und Jugendlichen ist außerordentlich wichtig. Kürzlich habe ich von der Pflicht gesprochen, die Kommunion würdig zu empfangen (vgl. Ecclesia de Eucharistia, 37); die Erziehung zu einer solchen Grundhaltung beginnt bereits mit der Beichte, die der ersten heiligen Kommunion vorangeht. Wahrschein-lich kann jeder von uns sich mit Rührung an seine erste Beichte in seiner Kindheit erinnern.

Ein bewegendes Zeugnis der pastoralen Liebe zu den Kindern gab mein Vorgänger, der heilige Papst Pius X., mit seiner Entscheidung bezüglich der Erstkommunion. Es setzte nicht nur das notwendige Mindestalter für den Empfang der Kommunion herab – eine Entscheidung, die im Mai 1929 auch mir selbst zugute kam –, sondern gab die Möglichkeit zum Kommunionempfang sogar vor Vollendung des siebenten Lebensjahres, wenn das Kind das nötige Unterscheidungsvermögen zeigt. Die vor-gezogene heilige Kommunion war eine pastorale Ent-scheidung, die es verdient, würdigend erwähnt zu werden.

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Sie hat sehr viele Früchte an Heiligkeit und an Apostolat unter den Kindern gebracht und auch das Aufkeimen von Priesterberufungen gefördert.

Ich war immer der Überzeugung, dass wir ohne das Gebet die Kinder nicht gut erziehen können. Als Bischof habe ich versucht, die Familien und die Pfarrgemeinden zu ermuntern, in den Kindern den Wunsch nach der Begegnung mit Gott im persönlichen Gebet heran-zubilden. In diesem Geist habe ich kürzlich geschrieben: »Das Rosenkranzgebet für die Kinder, und noch wichtiger mit den Kindern (…) ist eine geistliche Hilfe, die nicht unterschätzt werden darf« (Apostolisches Schreiben Rosarium Virginis Mariae, 42). Die Seelsorge der Kinder muss selbstverständlich bei den heranwachsenden Jugendlichen fortgeführt werden. Die häufige Beichte und eine geistliche Führung helfen den jungen Leuten beim Erkennen der eigenen Berufung und schützen sie beim Eintritt in das Leben der Erwachsenen vor Irrwegen. Ich erinnere mich, dass Papst Paul VI. mir im November 1964 in einer Privataudienz sagte: »Heute, lieber Bruder, müssen wir sehr besorgt um die studierende Jugend sein. Die Hauptaufgabe unserer bischöflichen Pastoral sind die Priester, die Arbeiter und die Studenten.« Ich denke, es war die persönliche Erfahrung, die diese Worte geprägt hat. Während seiner Zeit im Staatssekretariat war Giovanni Battista Montini nämlich viele Jahre lang als General-Assistent der »Federazione Universitaria Cattolica Italiana« (FUCI) in der Jugendseelsorge tätig.

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Die Katechese

Es ist uns die Sendung aufgetragen, zu allen Völkern zu gehen und sie zu lehren (vgl. Mt 28,19f.). Im heutigen sozialen Kontext können wir diese Aufgabe vor allem durch die Katechese erfüllen. Sie muss sowohl aus dem Nachdenken über das Evangelium als auch aus dem Ver-stehen der Dinge dieser Welt hervorgehen. Man muss die Erfahrungen der Menschen nachempfinden und den Sprachgebrauch ihres Alltags kennen. Das ist eine große Aufgabe für die Kirche. Ganz besonders die Hirten müssen großzügig sein im Aussäen, auch wenn dann andere es sein werden, die die Früchte ihrer Mühen ernten. »Ich sage euch: Blickt umher und seht, dass die Felder weiß sind und reif zur Ernte. Schon empfängt der Schnitter seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, so dass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät und ein anderer erntet. Ich habe euch gesandt, zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr erntet die Frucht ihrer Arbeit« (Joh 4,35–38).

Wir wissen sehr wohl, dass die Katechese sich nicht nur abstrakter Begriffe bedienen kann. Sie sind selbst-verständlich nötig, denn wenn wir von übernatürlichen Wirklichkeiten sprechen, ist es nicht möglich, philoso-phische Begriffe zu vermeiden. An die erste Stelle setzt die Katechese jedoch den Menschen und die Begegnung mit ihm in den Zeichen und Symbolen des Glaubens. Die Katechese ist immer Liebe und Verantwortung, eine Ver-antwortung, die aus der Liebe zu denen hervorgeht, die man unterwegs trifft.

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Der neue Katechismus der katholischen Kirche, der mir 1992 zur Approbation vorgelegt wurde, ist aus dem Willen geboren, den Menschen von heute die Sprache des Glaubens zugänglicher zu machen. Sehr bedeutungsvoll ist das Bild des guten Hirten, das als »Logo« (Bildsymbol) auf dem Buchdeckel aller Ausgaben des Katechismus erscheint. Es stammt von dem Grabstein eines christlichen Grabes aus dem 3. Jahrhundert, der in den Domitilla-Katakomben aufge-funden wurde. Wie in der Anmerkung hervorgehoben, ruft das Bild »den gesamten Sinn des Katechismus« ins Bewusst-sein: »Christus, der Gute Hirt, leitet und beschützt seine Gläubigen (Schaf) durch seine Autorität (Stab), er ruft die Gläubigen durch die Melodie der Wahrheit (Flöte) und lässt sie im Schatten des ›Lebensbaumes‹ ruhen, des rettenden Kreuzes, das das Paradies öffnet« (Kommentar zum »Logo« auf Umschlag und Titelseite des Katechismus). Aus dem Bild kann man die Fürsorge des Hirten für jedes Schaf ab-lesen. Es ist eine Fürsorge voller Geduld, so viel auch immer erforderlich ist, um den einzelnen Menschen in der ihm angemessenen Weise zu erreichen. Auch darin besteht die Gabe der Sprachen, das heißt: die Gabe, in einer für unsere Gläubigen verständlichen Sprache zu sprechen. Um diese Gabe zu erhalten, können wir den Heiligen Geist anrufen.

Manchmal erreicht der Bischof die Erwachsenen leichter, indem er ihre Kinder segnet und ihnen etwas Zeit widmet. Das wiegt mehr als eine lange Predigt über die Achtung der Schwachen. Heute ist viel Phantasie und Einfühlungs-vermögen nötig, um zu lernen, über den Glauben und die grundlegendsten Fragen des Menschen ins Gespräch zu kommen. Das bedeutet, dass Menschen gebraucht werden, die lieben und denken, denn das phantasievolle Einfüh-lungsvermögen lebt von Liebe und Geist, und umgekehrt ist es auch dieses Einfühlungsvermögen, das unser Denken nährt und unsere Liebe entzündet.

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Caritas – die Nächstenliebe

Zu den Pflichten des Bischofs gehört auch die Sorge für die Kleinsten im Wortsinn des Evangeliums. Schon in der Apostelgeschichte und in den Briefen des hl. Paulus lesen wir von den Kollekten, welche die Apostel organisierten, um der Not der Armen abzuhelfen. Hier möchte ich an das Beispiel des hl. Nikolaus erinnern, der im 4. Jahrhundert Bischof von Myra in Kleinasien war. In der Verehrung dieses Heiligen, dessen Episkopat in eine Zeit fällt, in der die Christen des Westens und des Ostens noch nicht getrennt waren, begegnen sich beide Traditionen: die östliche und die westliche. Er wird nämlich auf der einen wie auf der anderen Seite gleichermaßen verehrt. Seine Gestalt, obschon legendenumwoben, übt nach wie vor eine bemerkenswerte Faszination aus, vor allem wegen der Güte dieses Bischofs. Besonders die Kinder wenden sich in zuversichtlichem Vertrauen an ihn. Wie viele materielle Fragen lassen sich lösen, wenn man mit einem zuversichtlichen Gebet beginnt! Als Kinder erwarteten wir alle den hl. Nikolaus wegen der Geschenke, die er brachte. Die Kommunisten wollten ihn der Heiligkeit berauben, und zu diesem Zweck erfanden sie »Väterchen Frost«. Leider ist in letzter Zeit der hl. Nikolaus auch im Westen in konsumorientiertem Zusammenhang populär geworden. Anscheinend hat man heute vergessen, dass seine Güte und Großzügigkeit an erster Stelle das Maß seiner Heiligkeit waren. Er tat sich nämlich als ein für die Armen und Notleidenden aufmerksam besorgter Bischof hervor. Ich erinnere mich, dass ich als Kind eine persönliche Beziehung zu ihm hatte. Natürlich erwartete ich wie alle

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Kinder die Geschenke, die er mir am 6. Dezember bringen würde. Dennoch hatte diese Erwartung auch eine religiöse Dimension. Wie meine Altersgenossen verehrte ich diesen Heiligen, der in selbstloser Weise Geschenke an die Leute verteilte und ihnen damit seine liebevolle Fürsorge zeigte. In der Realität der Kirche wird die Rolle des hl. Nikolaus, also dessen, der sich der Not der Kleinsten annimmt, von der qualifizierten Institution der Caritas übernommen. Die Kommunisten schafften in Polen auch diese Organisation ab, deren Protektor nach dem Krieg Kardinal Sapieha gewesen war. Als sein Nachfolger versuchte ich, sie erneut ins Leben zu rufen und ihre Tätigkeit zu unterstützen. Auf diesem Gebiet war mir Mons. Ferdynand Machay, Erzpriester der Basilika »Maria Assumpta« in Krakau, eine große Hilfe. Über ihn lernte ich die bereits erwähnte »Dienerin Gottes«, Hanna Chrzanowska kennen, eine Tochter des großen Professors Ignacy Chrzanowski, der zu Beginn des Krieges verhaftet wurde. Ich erinnere mich gut an ihn, auch wenn ich ihn nicht näher kennen lernen konnte. Dank dem Einsatz von Hanna Chrzanowska entstand und entwickelte sich die Krankenseelsorge im Erzbistum. Vielfältig waren ihre Initiativen: unter anderem die geistlichen Exerzitien für die Kranken in Trzebinia. Das war eine Initiative, die sich als sehr bedeutend herausstellte: Viele Menschen wurden daran beteiligt, einschließlich zahlreicher Jugendlicher, die bereit waren zu helfen.

In dem apostolischen Schreiben aus Anlass des Beginns des neuen Jahrtausends habe ich alle an die Notwendigkeit erinnert, eine kreative Liebe zu pflegen: »Es ist Zeit für eine neue Phantasie der Liebe« (Novo millennio ineunte, 50). Wie könnte man in diesem Zusammenhang nicht diejenige erwähnen, die wir als eine wahre »Missionarin der Nächstenliebe« kennen, Mutter Theresa? Bereits in

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den ersten Tagen nach meiner Wahl auf den Stuhl Petri begegnete ich dieser kleinen, großen Schwester, die seitdem häufig zu mir kam, um mir zu erzählen, wo und wann es ihr gelungen war, neue Häuser zu eröffnen, Heimstätten der aufmerksamen Fürsorge für die Ärmsten. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Partei in Albanien hatte ich die Möglichkeit, das Land zu besuchen. Auch Mutter Theresa war da. Albanien war nämlich ihr Heimatland. Ich traf sie noch andere Male und bekam immer neue Zeugnisse ihrer leidenschaftlichen Hingabe an die Sache der Ärmsten der Armen. Mutter Theresa starb in Kalkutta und hinterließ eine bewegende Erinnerung und das Werk einer weit ausgedehnten Schar von geistlichen Töchtern. Bereits zu Lebzeiten wurde sie von vielen für eine Heilige gehalten. Als solche wurde sie allgemein anerkannt, als sie starb. Ich danke Gott, weil es mir vergönnt war, sie im Oktober 2003, in unmittelbarer Nähe zum 25. Jahrestag meines Pontifikats, selig zu sprechen. Damals sagte ich: »Mit ihrem Lebenszeugnis erinnert Mutter Theresa alle daran, dass die Evangelisierungs-mission der Kirche über die Nächstenliebe geht, die im Gebet und im Hören des Wortes Gottes ihre Nahrung findet. Typisch für diesen missionarischen Stil ist das Bild, das die neue Selige zeigt, während sie mit der einen Hand die eines Kindes festhält, während sie durch die andere die Perlen des Rosenkranzes laufen lässt. Kontemplation und Aktion, Evangelisierung und menschliche Entwicklungs-förderung: Mutter Theresa verkündet das Evangelium mit ihrem Leben – hingegeben für die Armen, aber zugleich eingehüllt in das Gebet« (19.10.2003).

Das ist das Geheimnis der Evangelisierung durch die Liebe zum Menschen, die aus der Liebe zu Gott ent-springt. Darin besteht jene caritas, die den Bischof immer in all seinem Tun inspirieren müsste.

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TEIL IV DIE VATERSCHAFT DES

BISCHOFS

»Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dem jede Vaterschaft im Himmel und auf der Erde benannt wird«

(Eph 3,14–15)

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Die Zusammenarbeit mit den Laien

Die Laien können die eigene Berufung in der Welt verwirklichen und zur Heiligkeit gelangen, nicht nur, indem sie sich aktiv zugunsten der Armen und Not-leidenden einsetzen, sondern auch, indem sie durch die Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten und das Zeugnis eines beispielhaften Familienlebens die Gesellschaft mit christlichem Geist beleben. Ich denke nicht nur an diejenigen, die im Leben der Gesellschaft Posten ersten Ranges bekleiden, sondern an alle, die es verstehen, ihre Alltäglichkeit in Gebet zu verwandeln, indem sie Christus ins Zentrum ihrer Tätigkeit stellen. Er selbst wird alle an sich ziehen und ihren Hunger und Durst nach Gerechtig-keit stillen (vgl. Mt 5,6). Ist nicht das die Lehre, die sich aus dem Schlussteil des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ergibt (vgl. Lk 10,34–35)? Nach der ersten Heilbehandlung wendet sich der barmherzige Samariter für die weitere Pflege an den Herbergsvater. Was hätte man ohne ihn tun können? Tatsächlich führte der Her-bergsvater, der im Verborgenen blieb, den größeren Teil der Arbeit aus. Alle können handeln wie er und die eigenen Aufgaben im Geist des Dienens erfüllen. Jede Arbeit bietet die mehr oder weniger direkte Gelegenheit, den Notleidenden zu helfen. Natürlich bewahrheitet sich das im Besonderen in der Arbeit eines Arztes, eines Lehrers, eines Unternehmers, vorausgesetzt, es handelt sich um Menschen, die vor den Nöten der anderen nicht die Augen verschließen. Doch auch ein Angestellter, ein Arbeiter, ein Bauer kann viele Möglichkeiten finden, dem

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Nächsten zu helfen, selbst wenn er sich inmitten persönlicher, manchmal drückender Schwierigkeiten be-findet. Die treue Erfüllung der eigenen beruflichen Pflichten ist bereits Verwirklichung der Liebe zu den Einzelnen und zur Gesellschaft.

Der Bischof ist seinerseits berufen, nicht nur selbst christliche soziale Initiativen dieser Art zu fördern, sondern auch zuzulassen, dass in seiner Kirche Werke entstehen und sich entwickeln, die von anderen ins Leben gerufen wurden. Er muss nur darüber wachen, dass alles in der Liebe und Treue zu Christus, dem »Urheber und Voll-ender des Glaubens« (Hebr 12,2) geschieht. Man muss die Personen auswählen, aber auch jedem, der guten Willen zeigt, erlauben, sich im gemeinsamen Haus, der Kirche, wohl zu fühlen.

Als Bischof habe ich zahlreiche Laien-Initiativen unterstützt. Sie waren sehr verschieden: so zum Beispiel das Büro für die Familienpastoral, die Fortbildungstreffen für Seminaristen und Medizinstudenten, Klermed genannt, das Institut für die Familie. Vor dem Krieg war die Katholische Aktion mit ihren vier Zweigen – Männer, Frauen, männliche und weibliche Jugend – sehr lebendig. Zur Zeit beginnt sie in Polen wieder aufzuleben. Ich war auch Präsident der Kommission für das Laien-Apostolat in der polnischen Bischofskonferenz. Ich unterstützte die katholische Zeitschrift »Tygodnik Powszechny« und versuchte, der Personengruppe, die sich um sie scharte, Mut zu machen. Das war in jener Zeit sehr notwendig. Es kamen zu mir Redakteure, Wissenschaftler, Mediziner, Künstler … Manchmal kamen sie heimlich herein, denn es waren die Zeiten der kommunistischen Diktatur. Es wurden auch Symposien organisiert: Das Haus war fast immer besetzt, voller Leben. Und die Schwestern, »Mägde des Heiligen Herzens«, mussten allen zu essen geben …

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Ich stand auch einigen neuen Initiativen zur Seite, in denen ich den Atem des Geistes Gottes spürte. Dem Neukatechumenalen Weg bin ich hingegen erst in Rom begegnet. Ebenso war es mit dem Opus Dei, das ich 1982 als persönliche Prälatur errichtete. Es handelt sich um zwei kirchliche Realitäten, die großen Einsatz seitens der Laien bewirken. Beide Initiativen sind von Spanien aus-gegangen, einem Land, das der geistlichen Erneuerung viele Male in der Geschichte providenzielle Impulse gegeben hat. Im Oktober 2002 hatte ich die Freude, Josemariá Escrivá de Balaguer, den Gründer des Opus Dei, einen eifrigen Priester und Apostel der Laien für die neuen Zeiten, ins Register der Heiligen einzuschreiben. In den Jahren meines Dienstes in Krakau habe ich immer die geistliche Nähe der Mitglieder des Werkes Marias, der Focolare-Bewegung, empfunden. Ich bewunderte ihre intensive apostolische Tätigkeit, deren Ziel es ist, dafür zu sorgen, dass die Kirche immer mehr »Haus und Schule der Gemeinsamkeit« wird. Seit ich auf den Bischofssitz von Rom berufen wurde, habe ich mehrmals Chiara Lubich gemeinsam mit Vertretern der vielen Zweige der Foco-lare-Bewegung empfangen. Eine weitere, aus der Lebendigkeit der Kirche in Italien hervorgegangene Bewegung ist Comunione e Liberazione; ihr Initiator ist Mons. Luigi Giussani. Zahlreich sind die Initiativen in der Welt der Laien, mit denen ich in diesen Jahren in Kontakt getreten bin. Für den französischen Bereich denke ich zum Beispiel an L’Arche und an Foi et lumière von Jean Vanire. Es gibt noch andere, aber es ist unmöglich, sie hier alle aufzuführen. Ich beschränke mich darauf, zu erklären, dass ich sie unterstütze und dass sie mir in meinem Gebet gegenwärtig sind. Ich setze große Hoffnungen auf sie und wünsche mir, dass sich auf diese Weise der Aufruf erfüllt: »Geht auch ihr in meinen Weinberg!« (Mt 20,4). Im

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Hinblick auf sie habe ich in dem Apostolischen Schreiben Christifideles laici gesagt: »Der Ruf ergeht nicht nur an die Hirten, an die Priester, an die Ordensleute. Er umfasst alle. Auch die Laien sind persönlich vom Herrn berufen, und sie empfangen von ihm eine Sendung für die Kirche und für die Welt.« (Nr. 2).

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Die Zusammenarbeit mit den Ordensgemeinschaften

Ich habe immer gute Beziehungen zu den Ordens-gemeinschaften gehabt und mit ihnen zusammen-gearbeitet. Krakau ist in Polen wohl die Erzdiözese mit der größten Konzentration männlicher und weiblicher Ordens-gemeinschaften. Viele von ihnen sind dort entstanden, andere haben dort Zuflucht gefunden, wie zum Beispiel die Felicianerinnen, die aus den Gebieten des ehemaligen Polnischen Reichs kamen. In dem Zusammenhang denke ich an den sel. Honorat Kozminski, der zahlreiche Frauen-orden in Zivilkleidung gründete – ein Ergebnis seines eifrigen Einsatzes im Beichtstuhl. Unter diesem Gesichts-punkt war er ein Genie. Auch die sel. Angela Truszkow-ska, die Gründerin der Felicianerinnen, stand unter seiner Führung. Sie ist in der Kirche der Schwestern in Krakau beigesetzt. Es lohnt sich, die Tatsache hervorzuheben, dass die Ordensfamilien mit der höchsten Mitgliederzahl in Krakau die alten, mittelalterlichen sind, wie Franziskaner und Dominikaner, oder die aus der Renaissance wie Jesuiten und Kapuziner. Die Patres dieser Orden stehen allgemein im Ruf, gute Beichtväter zu sein, auch bei den Priestern. (In Krakau gehen die Priester gern zu den Kapuzinern beichten.) Viele Orden befanden sich zur Zeit der Teilungen Polens in der Erzdiözese, denn da sie sich im Polnischen Reich nicht entwickeln konnten, strömten sie auf dem Gebiet der ehemaligen Republik Krakau zusammen, wo sie eine relative Freiheit genossen. Der beste Beweis für meine guten Kontakte zu den Orden ist Bischof Albin Malysiak von der Missions-Kongregation.

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Vor seiner Ernennung zum Bischof war er eifriger Pfarrer in Krakau-Nowa Wies. Ich war es, der ihn als Kandidaten vorschlug, zusammen mit Stanislaw Smolenski, und ich weihte sie alle beide. Die Orden haben mir nie das Leben schwer gemacht. Zu allen hatte ich gute Beziehungen und erkannte in ihnen eine große Hilfe für die Sendung des Bischofs. Ich denke auch an jene großen Reserven an geistlicher Energie, die die kontemplativen Orden dar-stellen. In Krakau gibt es zwei Karmelitinnen-Klöster (in der Kopernika-Straße und in der Lobzowska-Straße), es gibt die Klarissen, die Dominikanerinnen, die Heim-suchungsschwestern und die Benediktinerinnen in Staniatki. Das sind große Zentren des Gebetes – des Ge-bets und der Buße – und auch der Katechese. Ich erinnere mich, einmal zu Nonnen in der Klausur gesagt zu haben: »Möge dieses Gitter euch mit der Welt vereinen, nicht von ihr trennen. Bedeckt die Erdkugel mit dem Mantel des Gebetes!« Ich bin überzeugt, dass diese lieben Schwestern, die über den ganzen Erdkreis verteilt sind, unablässig in dem Bewusstsein leben, für die Welt da zu sein, und dass sie nicht aufhören, der Weltkirche zu dienen durch ihre Hingabe, ihr Schweigen und ihr tiefes Gebet. Jeder Bischof kann in ihnen eine große Unterstützung finden. Das habe ich oftmals erfahren, wenn ich mich vor schwierigen Problemen befand und die einzelnen kon-templativen Orden um Gebetsunterstützung bat. Ich spürte die Kraft dieser Fürbitte, und viele Male dankte ich den Menschen, die in diesen Abendmahlssälen des Gebetes vereint sind, dass sie mir geholfen hatten, Situationen zu bewältigen, die nach menschlichem Ermessen hoffnungs-los waren.

Die Ursulinen hatten in Krakau ein Pensionat. Mutter Angela Kurpisz lud mich immer ein für die Exerzitien der Studentinnen. Oft besuchte ich auch die grauen Ursulinen

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in Jaszczurówka (Zakopane). Jedes Jahr genoss ich ihre Gastfreundschaft. Es bildete sich eine Tradition: Zu Sil-vester zelebrierte ich um Mitternacht die heilige Messe bei den Franziskanern in Krakau, und am nächsten Morgen begab ich mich zu den Ursulinen nach Zakopane zum Skifahren. In dieser Zeit lag dort normalerweise Schnee. So blieb ich gewöhnlich bis zum 6. Januar bei ihnen. Am Nachmittag dieses Tages reiste ich dann ab, um rechtzeitig in Krakau zu sein und dort um 18 Uhr in der Kathedrale die heilige Messe zu feiern. Danach gab es das Treffen auf dem Wawel, wo Weihnachtslieder gesungen wurden. Einmal – wenn ich mich recht erinnere, war ich zusammen mit Józef Rozwadowski (dem späteren Bischof von Łódź) – verirrten wir uns in der Nähe des Chochołowska-Tals. Dann mussten wir – wie man so sagt – »wie verrückt« rasen, um noch rechtzeitig anzukommen.

Häufig ging ich zu den Albertinen-Schwestern in Prędnik Czerwony, auch für die Einkehrtage. Bei ihnen fühlte ich mich sehr wohl. Ich besuchte auch Rzęska in der Nähe von Krakau. Mit den Kleinen Schwestern von Charles de Foucauld war ich befreundet; ich kannte sie und arbeitete mit ihnen zusammen.

Viel Zeit verbrachte ich in der Benediktiner-Abtei von Tyniec. Dort machte ich meine geistlichen Exerzitien. Pater Piotr Rostworowski kannte ich gut; mehrmals beichtete ich bei ihm. Auch den Bibelwissenschaftler Pater Augustyn Jankowski kannte ich, weil er ein Unterrichts-kollege von mir war. Er schickt mir stets seine neuen Bücher. Nach Tyniec und auch zu den Kamaldolenser-Patres in Bielany ging ich für die Einkehrtage. Als junger Priester leitete ich in Bielany die Exerzitien-Kurse für die Studenten der Pfarrei Sankt Florian, und ich erinnere mich, dass ich eines Nachts in die Kirche hinabstieg. Zu meiner Überraschung fand ich dort die Studenten im

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Gebet und erfuhr, dass sie sich abwechselten, um eine ununterbrochene Präsenz während der ganzen Nacht sicherzustellen. Die Orden dienen der Kirche und auch dem Bischof. Ihr auf die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gegründetes Glaubens-zeugnis und ihren von der Regel des Gründers oder der Gründerin inspirierten Lebensstil muss man hoch schätzen: Dank dieser Treue können die verschiedenen Ordensfamilien im Aufeinanderfolgen der Generationen das ursprüngliche Charisma fruchtbringend bewahren. Auch das Beispiel der brüderlichen und schwesterlichen Liebe, das an der Basis jeder religiösen Gemeinschaft steht, ist nicht zu vergessen. Es ist menschlich, dass ab und zu auch einmal Probleme auftreten können, jedoch lässt sich immer eine Lösung finden, wenn der Bischof versteht, die Religionsgemeinschaft anzuhören und ihre legitime Autonomie zu respektieren, und wenn die Reli-gionsgemeinschaft ihrerseits den Bischof als den letztlich Verantwortlichen für die Pastoral im Gebiet der Diözese anzuerkennen vermag.

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Die Priester

In der Erzdiözese Krakau waren die Berufungen ziemlich zahlreich, in einigen Jahren besonders reichlich. So erfuhr das Seminar zum Beispiel nach dem Oktober 1956 einen bedeutenden Anstieg der Aufnahme-Gesuche. Dasselbe geschah während des tausendjährigen Jubiläums der »Taufe Polens«. Vielleicht ist es eine Regel, dass im Anschluss an die großen Ereignisse die Berufungen ansteigen. Sie keimen nämlich im Erdreich des konkreten Lebens des Gottesvolkes auf. Kardinal Sapieha sagte, das Seminar sei für den Bischof wie die pupilla oculi – wie die Pupille seines Auges, und genauso verhalte es sich mit dem Noviziat für den Ordensoberen. Und das ist leicht verständlich: Die Berufungen sind die Zukunft der Diözese oder des Ordens und schließlich auch die Zukunft der Kirche. Ich persönlich trug eine besondere Sorge für die Seminarien. Auch jetzt bete ich täglich für das Seminario Romano und allgemein für alle Seminarien in Rom, wie auch in ganz Italien, in Polen und in der Welt. Ganz besonders bete ich für das Seminar in Krakau. Aus ihm bin ich hervorgegangen, und wenigstens auf diese Weise möchte ich meine Schuld an Dankbarkeit bezahlen. Als ich Bischof von Krakau war, verfolgte ich die Berufungen mit spezieller Sorgfalt. Gegen Ende des Monats Juni informierte ich mich immer, wie viele um Zulassung zum Seminar für das folgende Jahr gebeten hatten. Danach, wenn sie bereits im Seminar waren, traf ich sie einzeln und sprach mit jedem, erkundigte mich nach seiner Familie und prüfte gemeinsam mit ihm seine Berufung. Ich lud die Seminaristen auch zur morgend-

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lichen heiligen Messe in meine Kapelle ein und an-schließend zum Frühstück. Das war eine sehr gute Ge-legenheit, um sie kennen zu lernen. Das Abendessen am Vorabend von Weihnachten nahm ich im Seminar ein oder lud die Seminaristen zu mir in die Franciszkanska-Straße ein. Sie kehrten für die Feste nicht in ihre Familien nach Hause zurück, und ich wollte ihnen für diesen Verzicht irgendwie einen Ausgleich bieten. All das war durch-führbar, als ich in Krakau war. In Rom ist es schwieriger, denn der Seminare sind viele. Dennoch habe ich sie alle persönlich besucht und, wenn sich die Gelegenheit ergab, ihre Rektoren in den Vatikan eingeladen.

Der Bischof darf es nicht vernachlässigen, den Jugend-lichen das große Ideal des Priestertums vor Augen zu stellen. Ein junges Herz ist imstande, die »verrückte Liebe« zu verstehen, die für eine totale Hingabe erforder-lich ist. Es gibt keine größere Liebe als die LIEBE! Während meiner letzten Pilgerreise nach Spanien habe ich den Jugendlichen gestanden: »Ich bin zum Priester ge-weiht worden, als ich 26 Jahre alt war. Seitdem sind 56 Jahre vergangen. Wenn ich zurückblicke und mich an diese Jahre meines Lebens erinnere, kann ich euch versichern, dass es sich lohnt, sich der Sache Christi zu widmen, sich aus Liebe zu ihm dem Dienst am Menschen zu weihen. Es lohnt sich, das Leben für das Evangelium und für die Brüder und Schwestern hinzugeben!« (Madrid, 3.5.2003). Die Jugendlichen verstanden die Botschaft und ließen meine Worte widerhallen, indem sie im Chor wie ein Ritornell skandierten: »Es lohnt sich! Es lohnt sich!«

Der Eifer für die Berufungen findet seinen Ausdruck auch in der sorgfältigen Auswahl der geeigneten Kandi-daten für das Priestertum. Der Bischof überträgt seinen Mitarbeitern, die im Seminar für die Ausbildung zuständig sind, viele mit diesem Amt verbundene Aufgaben, die

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Hauptverantwortung für die Formung der Priester bleibt jedoch bei ihm. Der Bischof ist es, der im Namen Christi endgültig wählt und beruft, wenn er während des Weihe-Ritus sagt: »Mit dem Beistand Gottes und der Gnade unseres Erlösers Jesus Christus erwählen wir diese Mit-brüder zu Priestern« (Römisches Pontifikale, Priester-weihe). Das ist eine große Verantwortung. Der hl. Paulus ermahnt Timotheus: »Lege keinem vorschnell die Hände auf!« (1 Tim 5,22). Es handelt sich nicht um eine beson-dere Strenge, sondern einfach um Verantwortungsgefühl angesichts einer Realität von höchstem Wert, die unseren Händen anvertraut ist. Im Namen der Gabe und des Mysteriums des Heils werden diese anspruchsvollen Anforderungen mit dem Priestertum verbunden.

Ich möchte hier den hl. Józef Sebastian Pelczar (1842–1924), Bischof der Diözese Przemysl erwähnen, den ich – gemeinsam mit der schon genannten hl. Orsola Ledóchowska – an meinem 83. Geburtstag heilig sprechen durfte. Der hl. Bischof Pelczar war in Polen auch wegen seiner Schriften bekannt. Eines seiner Bücher möchte ich hier gern erwähnen: Rozmyslania o zyciu kaplanskim czyli ascetyka kaplanska (Meditationen über das priesterliche Leben. Die priesterliche Askese). Das Werk wurde in Krakau veröffentlicht, als er noch Professor an der Jagiellonischen Universität war (vor einigen Monaten ist eine neue Ausgabe erschienen). Das Buch ist die Frucht seines reichen geistlichen Lebens und hat auf ganze Generationen polnischer Priester, besonders zu meinen Zeiten, einen tiefen Einfluss ausgeübt. Auch mein Priestertum ist in gewisser Weise von diesem asketischen Werk geprägt worden.

Tarnów und das nahe gelegene Przemysl gehören zu den Diözesen, die weltweit die höchsten Berufungszahlen haben. Der Ordinarius der Diözese Tarnów, Erzbischof

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Jerzy Ablewicz, war mein Freund. Er kam aus Przemysl, aus dem geistlichen Erbe des hl. Józef Pelczar. Das waren Hirten, die sehr hohe Anforderung stellten, zuerst an sich selbst und dann an ihre Priester und Seminaristen. Ich denke, dass darin das Geheimnis der hohen Berufungs-zahlen in diesen Diözesen liegt. Die hohen und anspruchs-vollen Ideale ziehen die jungen Leute an.

Immer lag mir die Einheit der Priesterschaft am Herzen. Um den Kontakt unter den Priestern zu fördern, habe ich sofort nach dem Konzil (1968) dafür gesorgt, den Priesterrat ins Leben zu rufen, in dem die Seelsorg-Programme der Priester diskutiert wurden. Im Laufe des Jahres wurden periodisch Treffen in den verschiedenen Teilen der Erzdiözese organisiert, in denen die konkreten Fragen der Priester behandelt wurden. Mit seinem eigenen Lebensstil zeigt der Bischof, dass »das Vorbild Christus« nicht überholt ist; auch unter den gegenwärtigen Bedingungen bleibt es stets aktuell. Man kann sagen, dass eine Diözese die Seinsweise seines Bischofs wider-spiegelt. Seine Tugenden – seine Keuschheit, die Verwirk-lichung der Armut, der Geist des Gebetes, die Einfachheit, das feine Gewissen – schreiben sich in gewissem Sinne in die Herzen der Priester ein, die dann ihrerseits diese Werte auf die ihnen anvertrauten Gläubigen übertragen: Auf diese Weise werden die Jugendlichen angezogen, auf den Ruf Christi eine großherzige Antwort zu geben.

Wenn von diesem Thema die Rede ist, kann man unmöglich diejenigen unerwähnt lassen, die das Priester-tum verlassen haben. Der Bischof darf auch sie nicht vergessen; auch sie haben das Anrecht auf einen Platz in seinem Vaterherzen. Ihre Dramen offenbaren bisweilen die Nachlässigkeiten in der Priesterausbildung. Zu ihr gehört auch die mutige brüderliche Ermahnung, wenn es nötig ist, und ebenso die Bereitschaft auf Seiten des

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Priesters, eine solche Ermahnung anzunehmen. Christus hat zu seinen Jüngern gesagt: »Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurück-gewonnen« (Mt 18,15).

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Das Haus des Bischofs

Gelegenheiten zur Begegnung mit den Menschen boten sich nicht nur durch die Pastoralbesuche und andere öffentliche Auftritte. Im Haus in der Franciszkanska-Straße 3 war die Tür für alle offen. Der Bischof ist Hirte; genau deshalb muss er mit den Leuten und für die Leute da sein und ihnen dienen. Die Menschen hatten immer direkten Zugang zu mir, allen war der Eintritt gewährt. Der bischöfliche Palast war der Ort verschiedener Treffen und wissenschaftlicher Sitzungen. Es war auch der Ort, wo sich das »Studium für die Familie« entwickelte. In einem der Räume wurde eine Familien-Beratungsstelle ein-gerichtet. Es waren damals die Zeiten, wo jede An-sammlung von Laien eines gewissen Ansehens von den Behörden als Aktivität gegen den Staat behandelt wurde. So wurde das Haus des Bischofs ein Zufluchtsort. Ich lud verschiedene Personen ein – Forscher, Philosophen, Humanisten. Hier fanden auch regelmäßige Treffen mit den Priestern statt. Mehrmals diente das Wohnzimmer als Aula für die Vorlesungen. Man versammelte sich dort zum Beispiel zu den bereits erwähnten Treffen des Institutes für die Familie und der Universitäts-Seminare »Klermed«. Dieses Haus – so kann man wohl sagen – »pulsierte vor Leben«.

Mit dem Wohnsitz des Erzbischofs von Krakau ver-binden sich viele Erinnerungen bezüglich der Gestalt meines großen Vorgängers, der Generationen von krakauer Priestern als unvergleichlicher Zeuge des Ge-heimnisses der Väterlichkeit in Erinnerung geblieben ist. Der »unerschrockene Fürst«, so wurde Erzbischof Adam

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Stefan Sapieha allgemein bezeichnet. Mit diesem Titel durchlebte er Krieg und Besatzungszeit. Er hat in der Geschichte meiner Berufung unzweifelhaft einen be-sonderen Platz. Er war es, der ihr erstes Aufkeimen an-genommen hat. Darüber habe ich in meinem Buch »Geschenk und Geheimnis« gesprochen. Kardinal Fürst Sapieha war ein polnischer Aristokrat im Vollsinn dieses Wortes. Er war in Krasiczyn in der Nähe von Przemysl geboren. Einmal ging ich dorthin, eigens um das Schloss zu sehen, wo er geboren war. Er wurde Priester in der Diözese Lemberg. Zur Zeit Pius’ X. leistete er als Cameriere segreto partecipante Dienst im Vatikan. In jener Zeit tat er sehr viel für die Sache Polens. 1912 wurde er zum Bischof von Krakau ernannt und von Pius X. persönlich geweiht. Der Einzug in die Diözese fand im selben Jahr statt, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Nach Ausbruch des Krieges gründete er das Bischöfliche Komitee von Krakau zur Hilfe für Kriegsgeschädigte, das allgemein »Komitee des Fürstbischofs« genannt wurde. Im Laufe der Zeit weitete das Komitee seine Tätigkeit aus, bis es das ganze Land umfasste. Sapieha war außerordentlich aktiv während der Kriegsjahre und erwarb sich auf diese Weise große Achtung in ganz Polen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Kardinal. Seit der Zeit von Olesnicki waren vor ihm die Erzbischöfe Dunajewski und Puzyna Kardinale von Krakau. Sapieha jedoch verdiente in besonderer Weise den Titel »unerschrockener Fürst«. Ja, Sapieha war für mich ein wirkliches Vorbild, denn vor allem war er ein Hirt. Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sagte er zum Papst, er wolle sein Amt in Krakau niederlegen, um in Pension zu gehen. Pius XII. gab jedoch nicht seine Zustimmung. Er sagte zu ihm: »Jetzt droht der Krieg, man wird dich brauchen.« Er starb als Kardinal von Krakau im Alter von 82 Jahren. In

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der Homilie während der Trauerfeier stellte der Primas Wyszynski einige bezeichnende Fragen: Er sagte: »Wenn wir, eure Gäste und Freunde, auf euch sehen, liebe Priesterbrüder, wie ihr diesen Sarg mit einem dichten Kranz der Herzen umgebt, diesen Sarg, der die sterbliche Hülle seiner kleinen Erscheinung birgt, die euch weder durch ihre Statur noch durch physische Kraft faszinieren konnte, dann möchte ich euch, ihr Priester von Krakau, fragen, um meine Erfahrung zu erweitern und die für einen Hirten notwendige Weisheit zu vertiefen: Was liebtet ihr an ihm? Was hatte er an sich, das eure Herzen fesselte? Was saht ihr in ihm? Warum habt ihr euch wie ganz Polen diesem Menschen ergeben? Hier kann man wahrhaftig von einer Liebe der Diözesan-Priesterschaft zum eigenen Erzbischof sprechen« (Wolny, Jerzy (Hrsg.), Ksiega Sapiezynska, Krakau 1986, S. 776). Wirklich, diese Beisetzungsfeier im Juli 1951 war ein außerordentliches Ereignis zu Stalins Zeiten: Ein großer Trauerzug schritt in dichten Reihen von Priestern, Ordensleuten und Laien von der Franciszkanska-Straße zum Wawel hinauf. Sie gingen voran, und die Behörden wagten nicht, den Zug zu stören. Sie fühlten sich machtlos vor dem, was da geschah. Möglicherweise wurde aus diesem Grund später, nach dem Prozess gegen die Kurie von Krakau, der Prozess post mortem gegen Sapieha eingeleitet. Die Kommunisten wagten zu seinen Lebzeiten nicht, ihn anzurühren, obwohl er das für möglich hielt, besonders als sie Kardinal Mindszenty verhafteten. Aber sie hatten nicht den Mut dazu. Unter ihm absolvierte ich das Seminar: Zuerst war ich Seminarist, dann wurde ich Priester. Ich hatte zu ihm eine Beziehung festen Vertrauens, und ich kann sagen, dass ich ihn liebte, wie die anderen Priester ihn liebten. Oft wird in den Büchern die Meinung geäußert, dass Sapieha mich irgendwie vorbereitete – vielleicht stimmt

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das. Auch das ist eine Aufgabe des Bischofs: den vorzubereiten, der ihn eventuell ersetzen kann.

Die Priester schätzten ihn vielleicht, weil er ein Fürst war, aber sie liebten ihn vor allem, weil er ein Vater war; er kümmerte sich um den Menschen. Und das ist es, worauf es in erster Linie ankommt: Ein Bischof muss ein Vater sein. Sicher, kein Mensch bringt die Vaterschaft in vollendeter Weise zum Ausdruck, denn diese verwirklicht sich in ihrer ganzen Fülle allein in Gottvater. Wir haben jedoch in gewisser Weise Anteil an der Vaterschaft Gottes. Diese Wahrheit habe ich in der Meditation über das Geheimnis »Vater« unter dem Titel »Strahlen der Vaterschaft« ausgedrückt: »Ich will noch mehr sagen: Ich habe beschlossen, aus der Liste der Worte, die ich gebrauche, das Wort ›mein‹ zu streichen. Wie kann ich mich dieses Wortes bedienen, wenn weiß, dass alles Dein ist? Auch wenn nicht Du es bist, der in jeder menschlichen Zeugung der Zeugende ist, so ist doch der, welcher zeugt, bereits Dein. Ich selbst bin mehr Dein als ›mein‹. Deshalb bin ich mir bewusst geworden, dass es mir nicht erlaubt ist, ›mein‹ zu nennen, was Dein ist. Ich darf so nicht reden, denken und empfinden. Ich muss mich davon befreien, mich dessen entäußern – nichts haben, nichts zu eigen haben wollen (›mein‹ bedeutet ›mein eigen‹).«

Eine Vaterschaft nach dem Beispiel des hl. Josef

Die Bischofswürde beinhaltet zweifellos ein Amt, jedoch muss der Bischof mit aller Energie dagegen ankämpfen, ein »Angestellter« zu werden. Niemals darf er vergessen, dass er ein Vater ist. Wie ich schon sagte, wurde Fürst Sapieha so geliebt, weil er für seine Priester ein Vater war.

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Wenn ich überlege, wer als Hilfe und Vorbild betrachtet werden könnte für alle, die zur Vaterschaft berufen sind – in der Familie oder im Priestertum und noch mehr im bischöflichen Dienst –, dann kommt mir der hl. Josef in den Sinn.

Auch die Verehrung für den hl. Josef verbindet sich für mich mit der Erfahrung, die ich in Krakau gemacht habe. In der Poselska-Straße, in der Nähe des bischöflichen Palastes, sind die Schwestern des hl. Bernhard. In ihrer Kirche, die dem hl. Josef geweiht ist, haben sie die ständige Aussetzung des Allerheiligsten Sakramentes. In freien Momenten ging ich dorthin, um zu beten, und häufig fiel mein Blick auf das schöne Bild des Putativ-Vaters Jesu, das in jener Kirche sehr verehrt wird. Dort predigte ich einmal auch die geistlichen Exerzitien für die Juristen. Ich habe immer gern an den hl. Josef im Zusammenhang mit der Heiligen Familie gedacht: Jesus, Maria, Josef. Bei verschiedenen Problemen rief ich die Hilfe aller drei an. Ich verstehe die Einheit und die Liebe gut, die in der Heiligen Familie gelebt wurde: drei Herzen, eine Liebe. In besonderer Weise vertraute ich dem hl. Josef die Familien-Pastoral an.

In Krakau gibt es noch eine weitere Kirche, die dem hl. Josef geweiht ist; sie liegt in Podgórze. Ich suchte sie während der Pastoralbesuche auf. Eine außergewöhnliche Bedeutung kommt dann dem Wallfahrtsort des hl. Josef in Kalisz zu. Dort kommen die Danksagungs-Wallfahrten der einst in Dachau internierten Priester zusammen. Eine Gruppe von Priestern in jenem nationalsozialistischen Lager hatte sich dem hl. Josef anvertraut – und sie wurden gerettet. Als sie nach Polen zurückgekehrt waren, be-gannen sie, sich jedes Jahr in einer Danksagungs-Wall-fahrt zum Heiligtum von Kalisz zu begeben, und immer luden sie mich zu diesen Treffen ein. Unter ihnen sind

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Erzbischof Kazimierz Majdanski, Bischof Ignacy Jez und auch Kardinal Adam Kozlowiecki, Missionar in Afrika.

Die Vorsehung bereitete den hl. Josef darauf vor, die Rolle des Vaters Jesu Christi zu übernehmen. In dem ihm gewidmeten Apostolischen Schreiben Redemptoris Custos habe ich gesagt: »Wie man aus der Heiligen Schrift ableitet, bildet die Ehe mit Maria die Rechtsgrundlage der Vaterschaft Josefs. Um Josefs väterlichen Schutz für Jesus sicherzustellen, hat Gott ihn als Mann Mariens auserwählt. Daraus folgt, dass Josefs Vaterschaft – eine Beziehung, die ihn in größtmögliche Nähe zu Christus, dem Ziel jeder Erwählung und Vorherbestimmung, stellt – über die Ehe mit Maria (…) führt« (Nr. 7). Josef wurde eigens dazu berufen, der enthaltsame Bräutigam Marias zu sein, um für Jesus die Vaterfigur zu werden. Die Vaterschaft des hl. Josef hat wie die Mutterschaft der hl. Jungfrau Maria einen ursprünglich christologischen Charakter. Alle Privilegien Marias leiten sich aus der Tatsache ab, dass sie die Mutter Christi ist. Analog leiten sich alle Privilegien des hl. Josef aus der Tatsache ab, dass er die Aufgabe hatte, für Christus ein Vater zu sein. Wir wissen, dass Christus sich mit dem Wort Abba an Gott wandte – ein liebevoller Begriff der Vertrautheit, mit dem die Kinder seiner Nation ihre Väter anredeten. Möglicherweise hat er wie die anderen Kinder mit demselben Wort auch den hl. Josef angeredet. Kann man noch mehr aussagen über das Geheimnis der menschlichen Vaterschaft? Als Mensch erfuhr Christus selbst die Vaterschaft Gottes über seine Kind-Vater-Beziehung zum hl. Josef. Die Begegnung mit Josef als Vater hat sich eingeschrieben in die späteren offenbarenden Aussagen Christi über den väterlichen Namen Gottes. Das ist ein tiefes Geheimnis!

Als Gott hatte Christus die persönliche Erfahrung der göttlichen Vaterschaft und des Sohnseins inmitten der

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Heiligsten Dreifaltigkeit. Als Mensch erfuhr er das Sohn-sein dank dem hl. Josef. Dieser bot seinerseits dem heranwachsenden Kind an seiner Seite die Unterstützung durch die männliche Ausgeglichenheit, die Klarheit im Erkennen der Probleme und den Mut. Er erfüllte seine Aufgabe mit den Eigenschaften des besten aller Väter, denn er schöpfte aus der erhabensten Quelle, nach der »jede Vaterschaft im Himmel und auf der Erde benannt wird« (Eph 3,15). Zugleich lehrte er den Sohn Gottes, dem er auf Erden das »zu Hause« baute und bot, vieles, was den menschlichen Bereich betrifft.

Das Leben mit Jesus war für den hl. Josef ein ständiges Entdecken der eigenen Berufung, Vater zu sein. Er war es geworden auf außergewöhnliche Weise, ohne dem Sohn den Leib zu geben. Ist das nicht genau die Verwirklichung der Vaterschaft, wie sie uns Priestern und Bischöfen als Vorbild vor Augen gestellt wird? Tatsächlich erlebte ich alles, was ich in meinem Dienst tat, als eine Äußerung dieser Vaterschaft: taufen, Beichte hören, die Eucharistie feiern, predigen, zurechtweisen, ermutigen – all das war für mich immer eine Verwirklichung derselben Vater-schaft. An das »zu Hause«, das der hl. Josef für den Sohn Gottes schuf, muss man besonders dann denken, wenn das Thema des priesterlichen und bischöflichen Zölibats angesprochen wird. Das Zölibat gibt nämlich die un-eingeschränkte Möglichkeit, diesen Typ der Vaterschaft zu verwirklichen: Eine Vaterschaft in Enthaltsamkeit, die ganz Christus und seiner jungfräulichen Mutter geweiht ist. Der Priester, der frei ist von der persönlichen Sorge um die Familie, kann sich mit ganzem Herzen der pastoralen Sendung widmen. Von daher versteht sich auch die Un-nachgiebigkeit, mit der die Kirche des lateinischen Ritus die Tradition des Zölibats für ihre Priester verteidigt und dem Druck widersteht, der im Laufe der Geschichte von

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Zeit zu Zeit dagegen aufkommt. Sicher ist es eine anspruchsvolle Tradition, sie hat sich aber als spirituell äußerst fruchtbar erwiesen. Dennoch ist es ein Grund zur Freude, festzustellen, dass auch die verheiratete Priester-schaft der katholischen Ostkirche hervorragende Beweise pastoralen Eifers geliefert hat. Besonders im Kampf gegen den Kommunismus waren die orientalischen verheirateten Priester nicht weniger heldenhaft als die zölibatären. Wie Kardinal Josyf Slipyj einmal bemerkte, zeigten sie gegenüber den Kommunisten den gleichen Mut wie ihre unverheirateten Kollegen. An dieser Stelle muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass es tiefe theologische Gründe gibt, die für das Zölibat sprechen. Die Enzyklika Sacerdotalis caelibatus, die 1967 von meinem verehrten Vorgänger, Paul VI., publiziert wurde, fasst sie folgendermaßen zusammen (vgl. 19–34): • Vor allem gibt es eine christologische Begründung:

Da Christus als Mittler zwischen Gottvater und der Menschheit eingesetzt war, blieb er unverheiratet, um sich uneingeschränkt in den Dienst Gottes und der Menschen zu stellen. Wem das Schicksal vergönnt, an der Würde und der Sendung Christi teilzuhaben, der ist berufen, auch diese völlige Hingabe zu teilen.

• Dann gibt es eine ekklesiologische Begründung: Christus hat die Kirche geliebt und sich selbst ganz und gar für sie hingegeben, mit dem Ziel, sie zu seiner herrlichen, heiligen, makellosen Braut zu machen. Mit seiner zölibatären Wahl macht sich der priesterliche Diener diese jungfräuliche Liebe Christi zu seiner Kirche zu eigen und zieht daraus übernatürliche Kraft geistlicher Fruchtbarkeit.

• Schließlich gibt es eine eschatologische Begründung: Nach der Auferstehung von den Toten – hat Christus gesagt – »werden die Menschen nicht mehr heiraten,

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sondern sein wie die Engel im Himmel« (Mt 22,30). Das Zölibat des Priesters kündigt das Kommen der letzten Zeiten des Heils an und antizipiert in gewisser Weise den Anbruch des Himmelreiches, indem es seine höchsten Werte bestätigt, die eines Tages in allen Kindern Gottes erstrahlen werden.

In der Absicht, den Sinn des Zölibats zu bestreiten, wird gelegentlich mit der Einsamkeit des Priesters und des Bischofs argumentiert. Dieses Argument muss ich auf-grund meiner Erfahrung entschieden zurückweisen. Ich persönlich habe mich niemals einsam gefühlt. Abgesehen von dem Bewusstsein der Nähe des Herrn war ich auch rein menschlich immer umgeben von vielen Personen und pflegte zahlreiche herzliche Kontakte zu den Priestern – Präfekten, Pfarrern, Pfarreivikaren – und zu Laien jeden Standes.

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Bei den eigenen Leuten sein

An das »zu Hause«, das der hl. Josef für den Sohn Gottes schuf, muss man auch denken, wenn von der väterlichen Pflicht des Bischofs die Rede ist, bei denen zu sein, die ihm anvertraut sind. Das Haus des Bischofs ist nämlich die Diözese. Nicht nur, weil er in ihr wohnt und arbeitet, sondern in einem viel tieferen Sinn: Das Haus des Bischofs ist die Diözese, weil sie der Ort ist, wo er jeden Tag seine Treue zur Kirche, seiner Braut, bekunden muss. Als das Konzil von Trient angesichts der dauernden Nach-lässigkeiten auf diesem Gebiet die Pflicht des Bischofs, in seiner Diözese zu wohnen, unterstrich und festsetzte, brachte es damit zugleich eine tiefe Intuition zum Aus-druck: Der Bischof muss in allen wichtigen Momenten bei seiner Kirche sein. Ohne fundierten Grund darf er sie nicht für länger als einen Monat verlassen – ebenso wie ein guter Familienvater, der stets bei den Seinen ist und, wenn er sich von ihnen trennen muss, Sehnsucht nach ihnen hat und so bald wie möglich zu ihnen zurückkehren möchte. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den treuen Bischof von Tarnów, Jerzy Ablewicz. Die Priester seiner Diözese wussten, dass er freitags keine Besuche empfing. An diesem Tag begab er sich nämlich zu Fuß auf Pilgerschaft nach Tuchów, zum Marien-Wallfahrtsort der Diözese. Unterwegs bereitete er betend die Sonntags-predigt vor. Es war bekannt, dass er sehr ungern die Diözese verließ. Immer war er bei den Seinen, zuerst im Gebet, dann im Tun. Zuerst jedoch im Gebet. Das Ge-heimnis unserer Vaterschaft keimt auf und entwickelt sich aus dem Gebet. Als Männer des Glaubens erscheinen wir

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im Gebet vor Maria und Josef, um ihre Hilfe zu erbitten und so gemeinsam mit ihnen und all denen, die Gott uns anvertraut, das Haus für den Sohn Gottes aufzubauen: seine heilige Kirche.

Die Kapelle in der Franciszkanska-Straße 3

Die Kapelle im Palast der Erzbischöfe von Krakau hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. In ihr wurde ich am 1. November 1946 von Kardinal Sapieha zum Priester geweiht, obwohl der gewöhnliche Ort für die Weihen die Kathedrale war. Ort und Zeit meiner Priesterweihe waren beeinflusst von der Entscheidung des Ordinarius, mich zum Studium nach Rom zu schicken. Der hl. Paulus schreibt als bereits erfahrener Apostel gegen Ende seines Lebens an Timotheus: »Übe dich in der Frömmigkeit! Denn körperliche Übung nützt nur wenig, die Frömmigkeit aber ist nützlich zu allem: Ihr ist das gegenwärtige und das zukünftige Leben verheißen« (1 Tim 4,7–8). Die Kapelle im Haus, so nah, dass man nur die Hand auszustrecken braucht, um sie zu erreichen – das ist das Privileg jedes Bischofs, aber zugleich ist es auch eine große Verpflichtung für ihn. Die Kapelle ist so nah, damit im Leben des Bischofs alles – die Predigt, die Ent-scheidungen, die Pastoral – zu Füßen Christi beginnt, der im Allerheiligsten Sakrament verborgen ist. Ich habe persönlich gesehen, welches die diesbezüglichen Gewohn-heiten des Erzbischofs von Krakau, Fürst Adam Sapieha, waren. Der Primas, Kardinal Wyszynski, sprach darüber in der Homilie während der Trauerfeier auf dem Wawel mit folgenden Worten: »Eine der vielen Besonderheiten dieses Lebens hat mich zum Nachdenken gebracht. Wenn

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während der Versammlungen der Bischofskonferenz am Ende eines langen, manchmal sehr mühevollen Arbeits-tages alle ziemlich erschöpft waren und sich beeilten, nach Hause zu kommen, begab sich dieser unermüdliche Mann stattdessen in seine kalte Kapelle und blieb dort im Dunkel der Nacht vor Gott. Wie lange? Ich weiß es nicht. Niemals habe ich in den späten Arbeitsstunden im erzbischöflichen Haus die Schritte des Kardinals gehört, der aus der Kapelle zurückkam. Eines weiß ich: dass sein fort-geschrittenes Alter ihm eigentlich ein Anrecht auf Ruhe gewährte. Der Kardinal jedoch musste die Mühen der Arbeit des ganzen Tages mit einer Fibel aus Gold schließen, und er schloss sie mit dem Diamanten des Gebetes. Er war wirklich ein Mann des Gebets!« (Wolny, Jerzy (Hrsg.), Ksiega Sapiezynska, Krakau 1986, S. 776).

Ich habe mich bemüht, dieses unvergleichliche Beispiel nachzuahmen. In der Privatkapelle betete ich nicht nur, sondern ich blieb auch sitzen und schrieb. Dort schrieb ich meine Bücher, darunter auch die Monographie »Person und Akt«. Ich bin überzeugt, dass die Kapelle ein Ort ist, von der eine besondere Inspiration ausgeht. Es ist ein enormes Privileg, im Umfeld dieser GEGENWART leben und arbeiten zu können. Eine GEGENWART, die anzieht, gleichsam ein großer Magnet. Mein lieber Freund André Frossard, der schon verstorben ist, hat in seinem Buch »Gott existiert, ich bin ihm begegnet« die Kraft und die Schönheit dieser GEGENWART tief greifend beschrieben. Um geistig in den Raum des Allerheiligsten Sakramentes einzutreten, ist es nicht immer nötig, physisch in die Kapelle zu gehen. Ich habe stets die innere Wahrnehmung gehabt, dass er, Christus, der Eigentümer meines bischöfl-ichen Hauses ist und dass wir, die Bischöfe, nur die zeitwei-ligen Mieter sind. So war es in der Franciszkanska-Straße fast zwanzig Jahre lang, und so ist es hier im Vatikan.

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TEIL V BISCHÖFLICHE KOLLEGIALITÄT

»Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten«

(Mk 3,14)

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Der Bischof in der Diözese

Das Zweite Vatikanische Konzil war für mich ein sehr starker Ansporn, die pastorale Tätigkeit zu intensivieren. Alles müsste nun von da aus seinen Anfang nehmen. Am 3. Juni 1963 starb Papst Johannes XXIII. Er war es gewesen, der das Konzil einberufen hatte, das am 11. Oktober 1962 eröffnet wurde. Es war mir vergönnt, von Anfang an daran teilzunehmen. Die erste Sitzungsperiode begann im Oktober und endete am 8. Dezember. Ich nahm an den Sitzungen mit den Konzilsvätern als Kapitular-Vikar der Erzdiözese Krakau teil. Nach dem Tod Johannes’ XXIII. wählte das Konklave am 21. Juni 1963 den Erzbischof von Mailand, Kardinal Giovanni Battista Montini, zum Papst, der den Namen Paul VI. annahm. Im Herbst desselben Jahres begann das Konzil mit seiner zweiten Sitzungsperiode, an der auch ich in derselben Eigenschaft teilnahm. Am 13. Januar 1964 wurde ich zum Erzbischof Metropolit von Krakau ernannt. Die Ernennung wurde im Januar 1964 bekannt gegeben, und am 8. März, dem Sonntag Laetare, fand mein feierlicher Einzug in die Kathedrale auf dem Wawel statt. Ich erinnere mich, dass Prof. Franciszek Bielak und Mons. Bohdan Niemczewski, fulierter Propst, mich auf der Schwelle der Kathedrale willkommen hießen. Sie führten mich in die Kathedrale hinein, wo ich den bischöflichen Thronsitz einnehmen musste, der nach dem Tode von Kardinal Sapieha und Erzbischof Baziak leer geblieben war. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten meiner Rede, die ich damals hielt, aber ich erinnere mich noch gut, dass es sehr bewegte Worte waren wegen des Bezugs zur Kathedrale des Wawel

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und seinem kulturellen Erbe, dem ich »seit jeher« verbunden war, wie ich früher bereits betont habe.

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Das Pallium

Ich denke auch an das tiefe und bewegende Zeichen des Palliums, das ich im selben Jahr 1964 erhielt. In der ganzen Welt tragen die Metropoliten zum Zeichen der Einheit mit Christus, dem guten Hirten, und mit seinem Vikarius, der die Aufgabe des Petrus übernimmt, auf den Schultern dieses Zeichen, das aus der Wolle der Lämmer gewebt wird, die am Gedenktag der hl. Agnes geweiht werden. Viele Male habe ich es als Papst am Fest der heiligen Apostel Petrus und Paulus den neuen Metro-politen übergeben können. Welch schöne Symbolik! In der Form des Palliums können wir das Bild eines Schafes erblicken, das der gute Hirt auf seine Schultern hebt und mitnimmt, um es zu retten und zu nähren. In diesem Symbol wird sichtbar, was uns alle als Bischöfe in erster Linie eint: die Fürsorge und die Verantwortung für die uns anvertraute Herde. Gerade aufgrund dieser Fürsorge und dieser Verantwortung müssen wir die Einheit pflegen und wahren. Seit dem 8. März 1964, dem Tag meines Einzugs, nahm ich dann am Konzil bereits als Erzbischof und Metropolit von Krakau teil, und so blieb es bis zu seinem Ende, am 8. Dezember 1965. Die Erfahrung des Konzils, die Begegnungen im Glauben mit den Bischöfen der Weltkirche und zugleich die neue Verantwortung gegen-über der mir anvertrauten Kirche von Krakau ermög-lichten mir, die Position des Bischofs in der Kirche gründ-licher zu verstehen.

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Der Bischof in seiner Lokalkirche

Welches ist die Position, die die Güte Gottes dem Bischof innerhalb der Kirche zuweist? Von Anbeginn hat er kraft der Eingliederung in die apostolische Sukzession vor sich die Weltkirche. Er ist in alle Welt gesandt, und eben deshalb wird er zum Zeichen der Katholizität der Kirche. Diese universale Dimension der Kirche habe ich von früher Kindheit an begriffen, das heißt, seit ich gelernt habe, das Glaubensbekenntnis zu sprechen: »Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.« Genau diese allumfassende Gemeinschaft ist es, die in sich die Zeugnisse so vieler Orte, Zeiten und Menschen vereint, die von Gott erwählt und zusammengeführt sind, »von Adam an, von dem gerechten Abel bis zum letzten Erwählten« (Lumen gentium, 2). Diese Zeugnisse und Bindungen werden in beredter Weise in der Liturgie der Bischofsweihe spürbar, so dass sie die gesamte Heilsgeschichte mit ihrem Ziel, der Einheit aller Menschen in Gott, ins Bewusstsein rufen. Während jeder Bischof die Verantwortung für die Weltkirche in sich trägt, sieht er sich ins Zentrum einer Teilkirche gestellt, in die Gemeinschaft also, die Christus eigens ihm anvertraut hat, damit sich durch seinen bischöflichen Dienst das Geheimnis der Kirche Christi als Zeichen des Heiles für alle immer vollständiger verwirklicht. In der dogmatischen Konstitution Lumen gentium steht: »Diese Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen (…) In jedweder Altargemeinschaft erscheint unter dem heiligen

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Dienstamt des Bischofs das Symbol jener Liebe und jener ›Einheit des mystischen Leibes, ohne die es kein Heil geben kann‹. In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen Kraft die eine, heilige und apostolische Kirche geeint wird« (Nr. 26).

Das Geheimnis der Berufung des Bischofs besteht gerade in der Tatsache, dass er sich in dieser einzelnen, sichtbaren Gemeinde befindet, für die er eingesetzt ist, und zugleich ebenso in der Weltkirche steht. Man muss diese einzigartige Bindung sehr genau verstehen. Zweifellos wäre es eine Simplifizierung und im Endeffekt ein grundlegendes Missverstehen des Geheimnisses, wenn man der Meinung wäre, der Bischof vertrete die Weltkirche in der eigenen Diözesangemeinschaft – die für mich Krakau war – und zugleich diese seine Diözesangemeinschaft vor der Weltkirche in der Weise, wie zum Beispiel die Botschafter ihre jeweiligen Staaten und internationalen Organismen vertreten. Der Bischof ist Zeichen der Gegenwart Christi in der Welt. Und das ist eine Gegenwart, die den Menschen dort entgegenkommt, wo sie sich befinden. Er ruft sie beim Namen, richtet sie auf, tröstet sie mit der Frohen Botschaft und versammelt sie alle zu dem einen Mahl. Deshalb lebt der Bischof, der der ganzen Welt und der Weltkirche gehört, seine Berufung entfernt von den anderen Mitgliedern des Bischofskollegiums, um in enger Verbindung zu den Menschen zu stehen, die er im Namen Christi in seiner Teilkirche versammelt. Zugleich wird er gerade für jene, die er versammelt, zum Zeichen der Überwindung ihrer Isoliert-heit, denn er bringt sie in Verbindung mit Christus und in ihm sowohl mit allen, die Gott vor ihnen von Anbeginn der Welt erwählt hat, als auch mit denen, die er heute in der ganzen Welt versammelt, wie auch mit jenen, die er nach ihnen noch in seiner Kirche versammeln wird, bis zu den

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Berufenen der letzten Stunde. Alle sind durch den Dienst und durch das Zeichen des Bischofs in der Lokalkirche gegenwärtig. Der Bischof übt seinen Dienst in wirklich verantwortungsvoller Weise aus, wenn er es versteht, in seinen Gläubigen ein lebendiges Empfinden der Einheit mit sich selbst und über seine Person mit allen Gläubigen der Kirche in der ganzen Welt zu erwecken. Ich habe diese herzliche Verbundenheit in meinem Krakau persönlich erfahren durch Priester, Orden und Laien. Gott möge es ihnen lohnen! Wenn der hl. Augustinus um Hilfe oder Verständnis bat, pflegte er zu seinen Gläubigen zu sagen: »Vielleicht gelangen viele einfache Christen auf einem leichteren Weg als dem unseren zu Gott: Sie gehen um so viel schneller voran, als das Gewicht der Verantwortung, die sie auf ihren Schultern tragen, geringer ist als das unsere. Wir hingegen werden Gott vor allem für unser Leben als Christen Rechenschaft ablegen müssen, dann aber werden wir im Besonderen Rede und Antwort stehen müssen für die Ausübung unseres Dienstes als Hirten« (Serm. 46,1–2: PL 38,271). Das ist das Geheimnis der mystischen Begegnung von Menschen »aus allen Nationen und Stämmen, Sprachen und Völkern« (Offb 7,9) mit Christus, der im Diözesanbischof gegenwärtig ist, um den sich in einem präzisen geschichtlichen Moment die Lokalkirche versammelt. Wie stark ist doch diese Verbindung! Mit welch erhabenen Banden vereint er uns und fügt uns zusammen! Das war für mich eine Erfahrung während des Konzils. In besonderer Weise spürte ich die Kollegialität: der gesamte Episkopat mit Petrus! Diese Erfahrung wiederholte sich für mich in besonderer Weise während der geistlichen Exerzitien, die ich 1976 für die um Papst Paul VI. versammelte Römische Kurie leitete. Aber darauf werde ich später noch zurückkommen.

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Die Kollegialität

Gehen wir gedanklich an die Anfänge zurück. Durch den Willen unseres Herrn und Meisters wurde das apostolische Amt eingesetzt. Die Gemeinde derer, die er erwählt hatte (vgl. Mk 3,13), wuchs in seiner Umgebung. Innerhalb dieser Gemeinde bildeten und vertieften sich die Persön-lichkeiten der einzelnen Mitglieder, angefangen mit Simon Petrus. In dieses Kollegium von Jüngern und Freunden Christi wird jeder neue Bischof durch die Berufung und die Weihe eingegliedert. Das Kollegium! Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft des Glaubens, des Zeugnisses, der Liebe und der Verantwortung ist eine Gabe, die wir zusammen mit der Berufung und der Weihe empfangen. Welch große Gabe!

Für jeden von uns Bischöfen bedeutet die Gegenwart der anderen eine Unterstützung, die in der Verbundenheit in Gebet und Amt und durch das Zeugnis und das Miteinander-Teilen der Ergebnisse der pastoralen Arbeit zum Ausdruck kommt. Unter diesem Gesichtspunkt sind heute für mich besonders trostreich die Begegnungen und Relationen der Bischöfe während der Besuche ad limina Apostolorum. Ich wünsche mir sehr, dass das, was die Gnade Gottes durch das Herz, den Geist und die Hände jedes Einzelnen von ihnen wirkt, allen bekannt werde und lieb und teuer sei. Die heutige Leichtigkeit der Kommuni-kation ermöglicht häufigere und fruchtbringende Begeg-nungen. Das versetzt uns Bischöfe der katholischen Kirche alle in die Lage, nach Wegen zu suchen, um die bischöf-liche Kollegialität zu stärken – auch über eine eifrige Zusammenarbeit in den Bischofskonferenzen und einen

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weltweiten Erfahrungsaustausch in der großen Familie der Kirche. Wenn die Bischöfe sich untereinander treffen und sich gegenseitig ihre Freuden und ihre Sorgen anvertrauen, wird ihnen das sicherlich helfen, jene »Spiritualität der Gemeinschaft« zu wahren, von der ich im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte gesprochen habe (vgl. Nr. 43–45).

Schon bevor ich auf den Stuhl Petri berufen wurde, traf ich mich mit zahlreichen Bischöfen aus aller Welt, häufiger natürlich mit denen der näher gelegenen europäischen Länder. Das waren Begegnungen gegen-seitiger Ermutigung. Einige von ihnen, besonders mit Bischöfen aus Ländern unter kommunistischer Diktatur, waren manchmal geradezu dramatisch. Ich denke zum Beispiel an die Beisetzung von Kardinal Stefan Trochta in der damaligen Tschechoslowakei, als die Kontakte mit der Lokalkirche von den kommunistischen Behörden be-hindert oder sogar unmöglich gemacht wurden. Das letzte pastorale Treffen mit den Bischöfen eines Nachbarlandes, bevor die Kardinale beschlossen, dass ich es sein sollte, der den Stuhl Petri innehat, war im September 1978 in Deutschland, wohin ich gemeinsam mit dem Primas Wyszynski zu einem Pastoralbesuch kam. Dieses Treffen war außerdem ein bedeutendes Zeichen der Versöhnung zwischen den beiden Nationen. Alle diese Begegnungen finden eine außergewöhnliche und intensive Weiter-führung in den täglichen Begegnungen mit den Bischöfen aus den verschiedenen Teilen der Welt, die ich seit der Wahl auf den Stuhl Petri durchführen kann.

Die Besuche ad limina Apostolorum sind ein besonderer Ausdruck der Kollegialität. Im Prinzip kommen im Turnus von fünf Jahren (manchmal gibt es allerdings Verzöge-rungen) die Bischöfe der ganzen Welt in den Vatikan. Es sind über zweitausend Diözesen. Jetzt bin ich es, der sie

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empfängt; vorher, zur Zeit Pauls VI., wurde ich vom Papst empfangen. Ich schätzte die Begegnungen mit Paul VI. sehr. Von ihm habe ich auch über den Ablauf dieser Be-gegnungen viel gelernt. Dennoch habe ich dann ein eigenes Schema ausgearbeitet: Zuerst empfange ich jeden Bischof persönlich, dann lade ich die ganze Gruppe zum Mittagessen ein, und am Ende zelebrieren wir gemeinsam die heilige Messe mit einem anschließenden kollektiven Treffen. Ich ziehe großen Gewinn aus den Begegnungen mit den Bischöfen. In aller Einfachheit könnte ich sagen, dass ich von ihnen »die Kirche lerne«. Und das muss ich unaufhörlich tun, denn von den Bischöfen lerne ich immer wieder Neues. Aus den Gesprächen mit ihnen erfahre ich die Situation der Kirche in den verschiedenen Teilen der Welt: in Europa, in Asien, in Amerika, in Afrika und in Ozeanien.

Der Herr hat mir die nötigen Kräfte verliehen, um viele dieser Länder – ich möchte wohl sagen: den größten Teil – besuchen zu können. Das ist von großer Bedeutung, denn der persönliche Aufenthalt in einem Land gestattet, auch wenn er nur kurz ist, vieles zu sehen. Darüber hinaus ermöglichen diese Begegnungen einen direkten Kontakt mit den Menschen, was sowohl auf zwischenmenschlicher als auch auf ekklesialer Ebene besonders wichtig ist. So war es auch für den hl. Paulus; er war unaufhörlich unterwegs. Gerade darum spürt man, wenn man liest, was er an die verschiedenen Gemeinden geschrieben hat, dass er bei ihnen gewesen war, dass er die Leute dieses Ortes und ihre Probleme kennen gelernt hatte.

Ich bin immer gern gereist. Für mich ist klar, dass diese Aufgabe dem Papst in gewissem Sinne von Christus selbst gegeben worden ist. Schon als Diözesanbischof machten die Pastoralreisen mir Freude, und ich hielt es für sehr wichtig, zu wissen, was in den Pfarreien geschieht, die

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Menschen zu kennen und ihnen direkt zu begegnen. Das, was eine rechtliche Norm darstellt, eben der Pastoral-besuch, ist in Wirklichkeit von der Erfahrung des Lebens aufgegeben. Das Vorbild ist hier der hl. Paulus. Auch Petrus, an erster Stelle jedoch Paulus.

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Die Konzilsväter

Während der ersten Sitzungsperiode des Konzils hatte ich – noch als Weihbischof der Erzdiözese Krakau – die Gelegenheit, Kardinal Giovanni Battista Montini für das großzügige und wertvolle Geschenk zu danken, das die Erzdiözese Mailand der Kollegiats-Kirche Sankt Florian in Krakau gemacht hatte: drei neue Glocken (ein symbolisches und sehr aussagekräftiges Geschenk, auch wegen der Namen, die den Glocken gegeben waren: »Jungfrau Maria«, »Ambrosius – Karl Borromäus« und »Florian«). Tadeusz Kurowski, der Propst des Kollegiats von Sankt Florian, hatte um diese Gabe gebeten. Erzbischof Montini, der den Polen immer viel Wohlwollen entgegenbrachte, zeigte sich großherzig angesichts dieses Planes und hatte auch viel Verständnis für mich, der ich damals ein noch sehr junger Bischof war.

Die italienischen Kollegen, die im Konzil und im Vatikan sozusagen als Hausherren fungierten, setzten mich immer in Erstaunen wegen ihrer Herzlichkeit und ihres Universalismus. Außerordentlich beeindruckt war ich während der ersten Sitzungsperiode des Konzils von der zahlenmäßig starken Präsenz afrikanischer Bischöfe. Sie saßen an verschiedenen Stellen in der Basilika von Sankt Peter, wo sich bekanntlich die Konzilsarbeiten abspielten. Unter ihnen befanden sich herausragende Theologen und eifrige Seelsorger. Sie hatten vieles zu sagen. Mehr als alle anderen hat Erzbischof Raymond-Marie Tchidimbo von Conakry in meiner Erinnerung einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er hatte viel zu leiden unter dem kommunistischen Präsidenten seines Landes,

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und schließlich musste er ins Exil gehen. Mit Kardinal Hyacinthe Thiandoun, einem Mann von außer-gewöhnlicher Persönlichkeit, hatte ich häufigen und herz-lichen Kontakt. Eine weitere herausragende Gestalt war Kardinal Paul Zoungrana. Beide waren von französischer Bildung und Kultur und beherrschten die Sprache, als sei es ihre Muttersprache. Mit diesen Bischöfen hatte ich Freundschaft geschlossen, als ich im polnischen Kolleg wohnte. Sehr verbunden fühlte ich mich dem franzö-sischen Kardinal Gabriel Marie Garonne. Er war zwanzig Jahre älter als ich und behandelte mich mit großer Herzlichkeit, ich würde sogar sagen freundschaftlich. Er wurde zusammen mit mir zum Kardinal erhoben und war nach dem Konzil Präfekt der Erziehungskongregation. Mir scheint, er habe auch am Konklave teilgenommen. Ein weiterer Franzose, mit dem ich freundschaftliche Bin-dungen einging, war der Theologe Henri de Lubac SJ, den ich selbst Jahre später zum Kardinal erhob. Das Konzil war eine bevorzugte Periode, um Bekanntschaft mit Bischöfen und Theologen zu machen, besonders in den einzelnen Kommissionen. Als das Schema 13 behandelt wurde (das man in der Folge zur Pastoral-Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, ausarbeitete) und ich über Personalismus sprach, kam Pater de Lubac zu mir und sagte: »Genauso, genauso, ganz genau so, in dieser Richtung!« Auf diese Weise machte er mir Mut, und das war für mich von besonderer Bedeutung, denn ich war ja noch relativ jung. Auch mit den Deutschen schloss ich Freundschaft. Mit Kardinal Alfred Bengsch, der ein Jahr jünger war als ich. Mit Joseph Höffner aus Köln und Joseph Ratzinger – alles Kirchenmänner von außergewöhnlicher theologischer Bildung. Besonders an den damals sehr jungen Prof. Ratzinger erinnere ich mich. Er begleitete als theologischer Experte den Erzbischof von

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Köln, Kardinal Joseph Frings. Später wurde er von Papst Paul VI. zum Erzbischof von München ernannt und zum Kardinal erhoben. Er war in dem Konklave dabei, das mir das Petrus-Amt übertrug. Als Kardinal Franjo Seper starb, bat ich ihn, dessen Nachfolge als Präfekt der Glaubens-kongregation anzutreten. Ich danke Gott für die Gegen-wart und die Hilfe von Kardinal Ratzinger – er ist ein zuverlässiger Freund. Leider gibt es mittlerweile nur noch wenige lebende Bischöfe und Kardinale, die am Konzil (11.10.1962–8.12.1965) teilgenommen haben. Das Konzil war ein außerordentliches kirchliches Ereignis, und ich danke Gott, dass ich vom ersten bis zum letzten Tag daran teilnehmen konnte.

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Das Kardinals-Kollegium

Das Herz des Bischofs-Kollegiums ist in gewissem Sinne das Kollegium der Kardinale, die den Nachfolger Petri umgeben und ihn in seinem Glaubenszeugnis vor der ganzen Kirche unterstützen. In dieses Kollegium bin ich im Juni 1967 eingegliedert worden.

Die Versammlung der Kardinale lässt den Grundsatz der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Stärkung im Glauben, auf dem das gesamte missionarische Werk der Kirche aufgebaut ist, in besonderer Weise sichtbar werden. Die Aufgabe des Petrus ist die, welche Jesus ihm zugewiesen hat: »Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder« (Lk 22,32). Die Nachfolger Petri stützten sich von den ersten Jahrhunderten an auf die Mitarbeit des Kollegiums der Bischöfe, Priester und Diakone, die gemeinsam mit ihnen für die Stadt Rom und die nächstgelegenen (»suburbikaren«) Diözesen ver-antwortlich waren. Man begann, sie als »viri cardinales« zu bezeichnen. Natürlich nahm im Laufe der Jahrhunderte diese Mitarbeit andere Formen an. Aber die wesentliche Bedeutung, die ein Zeichen für die Kirche und für die Welt ist, bleibt unverändert.

Da die pastorale Verantwortlichkeit des Nachfolgers Petri sich auf die ganze Welt erstreckt, schien es in zunehmendem Maße angebracht, dass in der ganzen christlichen Welt solche »viri cardinales« vorhanden seien, die ihm besonders nahe stünden im Sinne der Verantwortung und in der absoluten Bereitschaft, den Glauben zu bezeugen, falls nötig bis zum Blutvergießen (deshalb ist die Farbe ihrer Talare purpurrot wie das Blut

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der Märtyrer). Ich bin Gott dankbar für diese Unter-stützung und dafür, dass die Kardinäle der Römischen Kurie und der ganzen Welt die Verantwortung für die Leitung der Kirche gemeinsam mit mir tragen. Je mehr sie bereit sind, den anderen Stütze zu sein, um so mehr bestätigen sie sie im Glauben und sind folglich ent-sprechend geeigneter, die enorme Verantwortung der unter dem Wirken des Heiligen Geistes durchgeführten Wahl dessen auf sich zu nehmen, der das Amt Petri bekleiden wird.

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Die Synoden

Mein Leben als Bischof begann praktisch mit der Ankündigung des Konzils. Ein Ergebnis des Konzils war bekanntlich die Einsetzung der Bischofssynode durch Papst Paul VI. am 15. September 1965. Seither sind zahl-reiche Synoden abgehalten worden. Eine große Rolle kommt darin dem General-Sekretär zu. Zuerst hatte diese Aufgabe Kardinal Wladyslaw Rubin, dessen wechsel-volles Schicksal während des Krieges ihn schließlich nach Rom führte, wohin er über den Libanon gekommen war. Paul VI. beauftragte ihn mit der Bildung des Synoden-Sekretariats. Das war keine leichte Aufgabe. Ich ver-suchte, ihn zu unterstützen, soweit es mir möglich war, hauptsächlich mit guten Ratschlägen. Später wurde diese Aufgabe von Kardinal Josef Tomko und in dessen Nach-folge von Kardinal Jan Pieter Schotte übernommen. Wie gesagt, gab es zahlreiche Synoden. Außer denen, die bereits unter Papst Paul VI. veranstaltet wurden, waren es die Synoden über die Familie, über das Sakrament der Versöhnung und der Buße, über die Rolle der Laien im Leben der Kirche, über die Priesterausbildung, über das gottgeweihte Leben und über das Bischofsamt. Darüber hinaus wurden einige Synoden unter speziellen Gesichts-punkten abgehalten, wie jene für die Niederlande, die Synode zum zwanzigsten Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Sonder-versammlung für den Libanon. Und dann gab es auch Kontinental-Synoden: für Afrika, für Amerika, für Asien, für Ozeanien und die beiden Synoden für Europa. Die Idee war die, vor dem Jahrtausendwechsel alle Kontinente

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einmal durchzugehen, sie zu kennen und in Vorbereitung auf das Große Jubiläum ihre Probleme zur Kenntnis zu nehmen. Nachdem dieses Programm realisiert worden ist, muss jetzt an die neue Synode gedacht werden, deren Thema das Sakrament der Eucharistie sein wird.

In meinem Leben als Bischof hatte ich bereits Gelegenheit gehabt, mich mit der synodalen Erfahrung vertraut zu machen: Es hatte nämlich die sehr wichtige Synode der Erzdiözese Krakau gegeben, die anlässlich des 900-jährigen Jubiläums des hl. Stanislaus organisiert wurde. Natürlich handelte es sich nur um eine Diözesan-synode. Sie entfaltete sich nicht in der Perspektive der Weltkirche, sondern in der bescheideneren der Lokal-kirche. Dennoch hat auch die Diözesansynode ein bedeutsames Gewicht für eine Gemeinschaft von Gläu-bigen, die Tag für Tag die gleichen Probleme erlebt, die mit der Ausübung des Glaubens in ganz bestimmten sozialen und politischen Umständen verbunden sind. Die Synode von Krakau hatte die Aufgabe, in das Leben jener Lokalgemeinde das einzuführen, was das Konzil bestimmt hatte. Ich setzte diese Synode für die Jahre von 1972 bis 1979 auf das Programm, denn der hl. Stanislaus war – wie ich schon sagte – genau in den Jahren 1072 bis 1079 Bischof. Ich wollte, dass diese Daten nach neunhundert Jahren noch einmal neu nachgelebt würden. Die wichtigste Erfahrung war die Arbeit von sehr zahlreichen und engagierten synodalen Gruppen. Eine echt pastorale Synode: Bischöfe, Priester und Laien, alle arbeiteten zusammen. Ich beschloss diese Synode bereits als Papst während meiner ersten Polen-Reise.

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Die geistlichen Exerzitien für die Kurie während des Pontifikats Pauls VI.

Nie werde ich diese wirklich besonderen geistlichen Exerzitien vergessen. Geistliche Exerzitien sind eine Übung, die sich für jeden, der sie vollzieht, als großes Geschenk Gottes erweist: eine Zeit, in der man alles andere hinter sich lässt, um Gott zu begegnen und ihn allein zu hören. Das bietet natürlich eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit für den »Übenden«. Und gerade deshalb darf man ihn in keiner Weise drängen, sondern muss vielmehr in ihm das innere Bedürfnis nach einer solchen Erfahrung erwecken. Nun gut, bisweilen kann man auch einmal zu jemandem sagen: »Geh zu den Kamaldulensern oder nach Tyniec, um wieder zu dir selbst zu finden!«, grundsätzlich jedoch sollte es eher ein inneres Bedürfnis sein. Die Kirche als Institution empfiehlt die Exerzitien besonders den Priestern (vgl. CIC can. 276, §2, 4), aber die rechtliche Norm ist nur ein Element, das zum Impuls aus dem Herzen hinzukommt. Ich erwähnte bereits, dass ich selbst meine Exerzitien meist in der Benediktiner-Abtei Tyniec machte. Jedoch war ich auch bei den Kamaldulensern in Bielany, im Seminar von Krakau und in Zakopane.

Seit ich nach Rom gekommen bin, mache ich die geistlichen Exerzitien zusammen mit der Kurie in der ersten Fastenwoche. Sie wurden in diesen Jahren von immer wieder anderen Predigern geleitet. Einige waren großartig in ihrer gekonnten Redeweise, in Bezug auf den Inhalt ihrer Predigten und manchmal sogar wegen ihres Humors. Das war zum Beispiel bei dem tschechischen Jesuiten P. Tomás Spidlik der Fall. Während seiner Vorträge haben wir viel gelacht, und auch das ist nützlich.

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Er verstand es, tiefe Wahrheiten in geistreicher Weise zu präsentieren, und darin bewies er ein großes Talent. Diese Exerzitien stiegen in meiner Erinnerung auf, als ich P. Spidlik während des letzten Konsistoriums das Kardinals-Birett überreichte. Die Prediger waren ganz unterschiedlich und im Allgemeinen hervorragend. Ich selbst lud Bischof Ablewicz ein, und er war außer mir der einzige Pole, der die geistlichen Exerzitien im Vatikan geleitet hat. Ich hielt die Exerzitien im Vatikan vor Paul VI. und seinen Mitarbeitern. In der Vorbereitungs-Phase hatte es ein Problem gegeben. Anfang Februar 1976 rief mich Mons. Wladislaw Rubin an mit der Nachricht, dass Papst Paul VI. mich bat, im März die geistlichen Exerzitien zu predigen. So hatte ich knapp zwanzig Tage Zeit, um die Texte vorzubereiten und übersetzen zu lassen. Der Titel, den ich jenen Meditationen gab, lautete: »Zeichen des Widerspruchs«. Er war nicht vorgeschlagen worden, sondern ergab sich am Schluss, gleichsam als Synthese dessen, was ich zu sagen beabsichtigte.

In Wirklichkeit war es nicht ein Thema, sondern in gewissem Sinne ein Schlüsselwort, in das alles ein-mündete, was ich in den verschiedenen Vorträgen aus-geführt hatte. Ich erinnere mich an die Tage, die der Vorbereitung gewidmet waren. Zwanzig Meditationen waren zu erarbeiten. Ich musste sie allein bestimmen und ausarbeiten. Um die nötige Ruhe zu finden, ging ich nach Zakopane zu den grauen Ursulinen von Jaszczurówka. Bis zum Mittag schrieb ich die Meditationen, am Nachmittag ging ich Skifahren, und später, am Abend, schrieb ich wieder.

Diese Begegnung mit Paul VI. im Zusammenhang mit den Exerzitien war für mich besonders wichtig, denn es führte mir zu Bewusstsein, wie notwendig für den Bischof eine unverzügliche Bereitschaft ist, über seinen Glauben

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zu sprechen, wo auch immer der Herr ihm das gebietet. Diese Promptheit braucht jeder Bischof, auch der Nach-folger Petri selbst, so wie Paul VI. damals meine Bereit-schaft nötig hatte.

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Die Verwirklichung des Konzils

Das Konzil war ein großes Ereignis und für mich eine unvergessliche Erfahrung. Ich ging sehr bereichert daraus hervor. Nach Polen zurückgekehrt, schrieb ich ein Buch, in dem ich die Richtlinien darstellte, die im Laufe der Konzilssitzungen herangereift waren. Ich versuchte, darin sozusagen den Kern der Lehren des Konzils zusammen-zufassen, und gab ihm den Titel: Quellen der Erneuerung. Zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es wurde 1972 in Krakau von der Polnischen Theologischen Gesellschaft (PTT) veröffentlicht. Das Buch wollte auch eine Art ex voto der Dankbarkeit sein für das, was die göttliche Gnade durch die Konzilsversammlung in mir persönlich als Bischof gewirkt hatte. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht nämlich in besonderer Weise über die Aufgaben des Bischofs. Das Erste Vatikanische Konzil hatte den Primat des Papstes behandelt; das Vatikanum II beschäftigte sich speziell mit den Bischöfen. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die Dokumente zur Hand zu nehmen, vor allem die dogmatische Konstitu-tion Lumen gentium. Die tiefe Lehre des Konzils über das Bischofsamt fußt auf der Bezugnahme auf die dreifache Aufgabe (munus) Christi: die prophetische, die priester-liche und die königliche. Die Konstitution Lumen gentium spricht davon in den Nummern 24 bis 27. Aber auch andere Konzilstexte erwähnen diese drei Aufgaben (tria munera). Unter ihnen gebührt dem Dekret Christus Dominus besondere Aufmerksamkeit, das gerade vom pastoralen Amt der Bischöfe handelt.

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Als ich aus Rom nach Polen zurückkehrte, erregte gerade der Fall der bekannten Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtskollegen großes Auf-sehen. In ihrem Schreiben erklärten die Bischöfe Polens, im Namen ihrer Landsleute das Unrecht zu verzeihen, das sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Deutschen erfahren hatten. Zugleich baten sie um Verzeihung für das Unrecht, an dem sich die Polen gegenüber den Deutschen schuldig gemacht haben konnten. Leider provozierte besagte Botschaft viele Polemiken, Unterstellungen und Verleumdungen. Dieser Akt der Versöhnung, der – wie sich später herausstellte – entscheidend war für die Normalisierung der polnisch-deutschen Beziehungen, ge-fiel den kommunistischen Behörden überhaupt nicht. Die Folge war eine Verhärtung gegenüber der Kirche. Das bot natürlich nicht den besten Hintergrund für die Tausendjahr-Feiern der Taufe Polens, die im April 1966 von Gniezno (Gnesen) aus beginnen sollten. In Krakau fanden die Zelebrationen am 8. Mai, dem Fest des hl. Stanislaus, statt. Noch heute ist mir das Bild lebendig vor Augen von diesen Scharen von Menschen, die in der Prozession vom Wawel nach Skatka zogen. Die Behörden sahen sich außerstande, diesen massiven und geordneten Zustrom von Menschen zu stören. In den Tausendjahr-Feiern schwächten sich die durch die Botschaft der Bischöfe ausgelösten Spannungen ab und verschwanden fast völlig, so dass es möglich war, eine angemessene Katechese über die Bedeutung des Jubiläums für das Leben der Nation fortzusetzen.

Gewöhnlich bot auch die jährliche Fronleichnams-Prozession eine gute Gelegenheit zur Predigt. Vor dem Krieg zog die große Prozession zu Ehren des Leibes und Blutes Christi von der Kathedrale auf dem Wawel aus durch die Straßen und Plätze der Stadt bis nach Rynek

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Glowny. Während der Besatzung verbot der deutsche Gouverneur Hans Frank die Prozession. Später, zur Zeit des Kommunismus, willigten die Behörden in eine kleinere Form der Prozession ein: von der Kathedrale des Wawel aus rund um den Hof des königlichen Schlosses. Erst 1971 konnte die Prozession wieder über den Hügel des Wawel hinausgehen. Daraufhin versuchte ich, die Themen der Reden, die an den einzelnen Altären zu halten waren, so zu gliedern, dass sie mir ermöglichten, im Rahmen der Katechese über die Eucharistie auch die verschiedenen Aspekte des großen Themas der Religions-freiheit anzuschneiden, das zu der Zeit außerordentlich aktuell war.

Ich denke, dass sich in diesen vielgestaltigen Formen der Volksfrömmigkeit die Antwort verbirgt auf eine Frage, die gelegentlich erhoben wird: die Frage nach der Bedeutung der Tradition in ihren lokalen Manifestationen. Die Antwort ist im Grunde einfach: Die Übereinstimmung der Herzen stellt eine große Kraft dar. Sich in dem verwurzeln, was alt, stark, tief und zugleich dem Herzen lieb ist, vermittelt eine außergewöhnliche innere Energie. Wenn diese Verwurzelung dann mit einer kühnen Ge-dankenkraft verbunden ist, gibt es keinen Grund mehr, um die Zukunft des Glaubens und der menschlichen Be-ziehungen innerhalb der Nation zu fürchten. Im reichen humus der Tradition findet nämlich die cultura ihre Nahrung, die das Zusammenleben der Bürger festigt und ihnen das Gefühl vermittelt, eine große Familie zu sein, indem sie ihren Überzeugungen Stütze und Kraft verleiht. Unsere große Aufgabe besteht gerade heute, im Zeitalter der so genannten Globalisierung, darin, die gesunden Traditionen zu pflegen, indem man in gleicher Weise den Mut der Phantasie und des Denkens, einen offenen Blick in die Zukunft und einen liebevollen Respekt vor der

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Vergangenheit fördert. Es ist eine Vergangenheit, die in den Herzen der Menschen in der Form alter Worte, alter Zeichen, Erinnerungen und Bräuche fortlebt, die sie von den vorangegangenen Generationen ererbt haben.

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Die polnischen Bischöfe

Zur Zeit meines Dienstes in Krakau war ich den Bischöfen von Gorzów durch eine besondere Freundschaft verbunden. Es waren drei: Wilhelm Pluta, heute bereits »Diener Gottes«, Jerzy Stroba und Ignacy Jez. Ich empfand sie als wahre Freunde. Und deshalb besuchte ich sie auch unabhängig von dienstlichen Gründen. Die Bekanntschaft mit Stroba ging auf Krakau zurück, wo er Rektor des Schlesischen Seminars gewesen war. In demselben Seminar war auch ich Professor gewesen; ich unterrichtete dort Ethik, fundamentale Moraltheologie und Sozialethik. Von dem oben erwähnten Trio lebt noch der Bischof Ignacy Jez. Er ist mit einem lebendigen Sinn für Humor begabt, den er zum Beispiel auch darin zum Ausdruck bringt, dass er versteht, über seinen Nachnamen Jez zu scherzen (der auf polnisch »Igel« bedeutet). Als residierender Bischof hatte ich in meiner Erzdiözese einige Weihbischöfe: Julian Groblicki, Jan Pietraszko, Stanislaw Smolenski und Albin Malysiak – die letzten beiden wurden von mir persönlich geweiht. Ich schätzte Mons. Malysiak wegen seiner Dynamik. Ich erinnere mich noch an ihn als Pfarrer in Nowa Wies, einem Krakauer Stadtteil. Bisweilen gefiel es mir, ihn mit dem charakteri-sierenden Beinamen »Albin, der Eifrige« zu benennen. Bischof Jan Pietraszko war ein großartiger Prediger, ein Mann, der seine Hörer begeisterte. Kardinal Franciszek Macharski, mein Nachfolger in Krakau, konnte 1994 seinen Seligsprechungs-Prozess eröffnen. Inzwischen liegt dieser Prozess bereits in Rom. Auch die anderen beiden Weihbischöfe sind mir in guter Erinnerung: Jahrelang

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haben wir uns bemüht, gemeinsam im Geist brüderlichen Miteinanders der geliebten Kirche von Krakau zu dienen. Im nahe gelegenen Tarnów war Bischof Jerzy Ablewicz, den ich schon erwähnte. Ich begab mich ziemlich oft zu ihm; wir waren im Übrigen nahezu gleichaltrig – er war nur ein Jahr älter als ich. Der Bischof von Czestochowa, Stefan Barela, behandelte mich mit großer Herzlichkeit. Während seines 25-jährigen Priester-Jubiläums sagte ich in der Predigt: »Das Bischofsamt ist gleichsam eine zusätzliche und – unter einem gewissen Aspekt – neue Entdeckung des Priestertums. Auch diese verwirklicht sich jedoch auf der Basis desselben Kriteriums: Man muss sich vor allem Christus, dem einzigen Hirten und Bischof unserer Seelen, zuwenden. Und es ist ein noch tieferes, glühenderes, anspruchsvolleres Sich-Zuwenden. Es voll-zieht sich durch die Zuwendung, die man den Seelen, den unsterblichen, von Christi Blut erlösten Seelen, schenkt. Dieses sich den Seelen Zuwenden geschieht vielleicht nicht mehr so unmittelbar wie in der täglichen Arbeit eines Priesters, der als Pfarrer oder Pfarrvikar in der Pfarrei lebt. Zum Ausgleich dafür hat es einen weiteren Blick, denn vor dem Bischof tut sich die gesamte Gemeinschaft der Kirche auf. In unserem Bewusstsein als Bischöfe des Vatikanum II ist die Kirche der Ort der Begegnung der gesamten menschlichen Familie, der Ort der Versöhnung, der Annäherung trotz allem, der Annäherung durch den Dialog, der Annäherung zum Preis des Leidens. Mag sein, für uns polnische Bischöfe der Epoche des Vatikanum II mehr zum Preis des Leidens als des Dialogs« (Adam Boniecki, Kalendarium zycia Karola Wojtyty, Krakau 2000, SS. 286–287).

In Schlesien entfaltete Bischof Herbert Bednorz seinen pastoralen Dienst, und noch vor ihm Bischof Stanislaw Adamski. Mons. Bednorz war zu seinem Koadjutor

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ernannt worden. Als ich Metropolit geworden war, begab ich mich zu allen Bischöfen der Metropolie und also auch nach Katowice (Kattowitz), wo ich mich Mons. Adamski vorstellte. Bei ihm waren Bischof Julian Bieniek und Bischof Józef Kurpas. Ich verstand mich gut mit den Bischöfen Schlesiens. Regelmäßig am letzten Sonntag im Mai traf ich sie im Marien-Wallfahrtsort Piekary, wo sich an diesem Tag der große Pilgerstrom der Grubenarbeiter versammelte. Bischof Bednorz lud mich stets für die Homilie ein. Der letzte Sonntag im Mai war ein Ereignis: Diese Pilgerfahrt hatte die Gestalt eines besonderen Zeugnisses in der Volksrepublik Polen. Die Anwesenden erwarteten die Predigt und unterstrichen mit Applaus jede Äußerung, in der sie eine Beanstandung irgendeiner frag-würdigen Linie der von der Regierung verfolgten Politik in Sachen Religion oder Moral wahrnahmen, wie zum Beispiel in der Frage der sonntäglichen Ruhe. In diesem Zusammenhang ist in Schlesien der Ausspruch von Bischof Bednorz: »Der Sonntag gehört Gott und uns« zu einem Sprichwort geworden. Am Ende der Feiern wendete sich Bischof Bednorz gewöhnlich an mich mit den Worten: »Nun, wir erwarten Sie im nächsten Jahr zu einer weiteren Predigt dieser Art.« Die Grubenarbeiter von Piekary mit ihrer grandiosen Wallfahrt bleiben für mich ein wunderbares Zeugnis, das etwas Außerordentliches an sich hat.

Einen besonderen Platz in meinem Herzen hat Andrzej Maria Deskur, heute emeritierter Präsident des Päpstlichen Medienrates. Ich habe ihn am 25. Mai 1985 in das Kardinals-Kollegium berufen. Seit Beginn meines Pontifikats war er mir viele Male eine Stütze, besonders durch sein Leiden, aber auch durch seinen weisen Rat. Während ich die Bischöfe erwähne, kann ich es nicht unterlassen, auch auf meinen Patron, den hl. Karl

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Borromäus, zu sprechen zu kommen. Beim Gedanken an diese Gestalt beeindruckt mich die Übereinstimmung der Fakten und der Aufgaben. Er war im 16. Jahrhundert zur Zeit des Konzils von Trient Bischof von Mailand. Mir hat es der Herr vergönnt, im 20. Jahrhundert Bischof zu sein, und zwar genau während der Zeit des Zweiten Vatika-nischen Konzils, gegenüber dem er mir die gleiche Aufgabe übertragen hat, nämlich seine praktische Um-setzung. Ich muss sagen, dass in diesen Jahren meines Pontifikats die Verwirklichung des Konzils in meinen Gedanken stets an erster Stelle stand. Diese Überein-stimmung hat mich immer in Erstaunen versetzt, und an diesem heiligen Bischof hat mich insbesondere sein enormer pastoraler Einsatz fasziniert: Nach dem Konzil widmete sich der hl. Karl den Pastoralbesuchen in der Diözese, die damals 800 Pfarreien umfasste. Die Erz-diözese Krakau war kleiner, und dennoch ist es mir nicht gelungen, die Besuchsreihe, die ich begonnen hatte, zu vollenden. Auch die Diözese Rom, die mir jetzt anvertraut ist, ist groß: Sie zählt 333 Pfarreien. Bis jetzt habe ich 317 davon besucht; es bleiben also noch sechzehn.

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TEIL VI GOTT UND DER MUT

»Ja, ich komme!« (Hebr 10,7)

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Stark im Glauben

In meiner Erinnerung klingen noch die Worte nach, die Kardinal Stefan Wyszynski am 11. Mai 1946, dem Tag vor seiner Bischofsweihe in Jasna Góra sagte: »Bischof zu sein, hat etwas vom Kreuz in sich, darum setzt die Kirche das Kreuz auf die Brust des Bischofs. Am Kreuz muss man sich selber sterben; ohne das gibt es keine Fülle des Priestertums. Das Kreuz auf sich zu nehmen, ist nicht einfach, auch wenn es aus Gold und mit Edelsteinen besetzt ist.« Zehn Jahre später, am 16. März 1956, sagte der Kardinal: »Der Bischof hat die Pflicht, nicht nur durch das Wort und den liturgischen Dienst zu wirken, sondern auch durch das Opfer des Leidens.« Und bei einer anderen Gelegenheit kam Kardinal Wyszynski noch einmal auf diese Gedanken zurück, als er sagte: »Für einen Bischof bedeutet der Mangel an Stärke den Anfang der Niederlage. Kann er weiter Apostel sein? Für einen Apostel ist nämlich wesentlich, dass er für die Wahrheit Zeugnis ablegt! Und das erfordert immer Stärke« (Stefan Wyszynski, Zapiski wiezienne, Paris 1982, S. 251). Und auch dies sind seine Worte: »Der größte Fehler des Apostels ist die Angst. Die Angst wird erweckt durch einen Mangel an Vertrauen auf die Macht des Meisters; das ist es, was das Herz bedrückt und die Kehle verschnürt. Dann hört der Apostel auf, zu bekennen. Bleibt er Apostel? Die Jünger, die ihren Meister verließen, steigerten den Mut der Folterknechte. Wer über eine Rechtssache angesichts der Feinde schweigt, macht diese übermütig. Die Furcht des Apostels ist der erste Ver-bündete der Feinde der Sache. ›Durch Angst zum

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Schweigen bringen‹ ist die erste Aufgabe in der Strategie der Gottlosen. Der in jeder Diktatur angewendete Terror rechnet mit der Angst der Apostel. Das Schweigen besitzt seine apostolische Aussagekraft nur dann, wenn es das Gesicht nicht verbirgt vor dem, der es schlägt. So verhielt sich Christus in seinem Schweigen. In diesem Zeichen bewies er jedoch seine Stärke. Christus ließ sich von den Menschen nicht in Schrecken versetzen. Als er hinausging und sich der Kohorte stellte [vgl. Joh 18,4–5], sagte er mutig: ›Ich bin es‹« (ebd., S. 94). Wirklich, man darf der Wahrheit nicht den Rücken kehren, aufhören, sie zu verkündigen, und sie verbergen, selbst wenn es sich um eine schwierige Wahrheit handelt, deren Offenbarung großen Schmerz mit sich bringt. »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,32) – das ist unsere Aufgabe und zugleich unsere Unterstützung! Es gibt darin keinen Raum für Kompro-misse, noch für einen opportunistischen Rückgriff auf die menschliche Diplomatie. Man muss für die Wahrheit Zeugnis ablegen, auch wenn das Verfolgungen kostet, sogar zum Preis des eigenen Blutes, wie Christus selbst es getan hat, und wie es seinerzeit auch mein heiliger Vor-gänger in Krakau, der Bischof Stanislaus von Szczepanów tat.

Mit Sicherheit werden wir auf Prüfungen stoßen. Darin liegt nichts Außergewöhnliches. Es gehört zum Glaubens-leben. Manchmal sind die Prüfungen leicht, manchmal sehr schwer oder sogar dramatisch. In der Prüfung können wir uns allein fühlen, jedoch die göttliche Gnade, die Gnade eines siegreichen Glaubens verlässt uns nie. Des-halb können wir damit rechnen, aus jeder Prüfung sieg-reich hervorzugehen, auch aus der schwierigsten. Als ich 1987 auf der Westerplatte in Danzig zur polnischen Jugend darüber sprach, berief ich mich auf diesen Ort als

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ein aussagekräftiges Symbol der Treue in einem drama-tischen Moment. Dort stellte sich 1939 eine Gruppe junger polnischer Soldaten im Kampf gegen den militärisch eindeutig überlegenen deutschen Invasor der äußersten Prüfung und legte ein siegreiches Zeugnis des Mutes, der Ausdauer und der Treue ab. Ich berief mich auf dieses Ereignis, um die Jugendlichen vor allem zum Nachdenken zu bringen über das Verhältnis von »mehr sein und mehr haben«, und ich ermahnte sie: »Niemals darf das nur mehr Haben Oberhand gewinnen. Denn dann kann der Mensch das Wertvollste verlieren: seine Menschlichkeit, sein Gewissen und seine Würde.« In dieser Hinsicht rief ich sie auf: »Ihr müsst euch selbst fordern, auch wenn die anderen nichts von euch fordern sollten.« Und ich erklärte: »Auch ein jeder von euch, ihr Jugendlichen, begegnet in seinem Leben seiner ›Westerplatte‹. Eine Dimension der Auf-gaben, die er annehmen und erfüllen muss. Eine gerechte Sache, für die man kämpfen muss. Eine Aufgabe, eine Pflicht, der man sich nicht entziehen, vor der man unmöglich ›fahnenflüchtig werden‹ kann. Schließlich: eine gewisse Wahrheits- und Werteordnung, die man ›wahren‹ und ›verteidigen‹ muss – in sich selbst und in seiner Umgebung. Ja: verteidigen für sich selbst und für die anderen« (12. Juni 1987). Die Menschen brauchten immer Vorbilder, denen sie nacheifern konnten. Die brauchen sie vor allem heute, in dieser unserer Zeit, die veränderlichen und in sich widersprüchlichen Beeinflussungen so stark ausgesetzt ist.

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Die Heiligen von Krakau

Da von Vorbildern die Rede ist, denen man nacheifern muss, kann man unmöglich die Heiligen vergessen. Welch großes Geschenk sind für jede Diözese die eigenen Heiligen und Seligen! Ich denke, dass es für jeden Bischof besonders bewegend ist, wenn er ganz bestimmte Männer und Frauen als Vorbilder vorschlagen kann, die sich durch außergewöhnliche, vom Glauben getragene Tugenden aus-gezeichnet haben. Die innere Anteilnahme wächst, wenn es sich um Menschen handelt, die zu Zeiten gelebt haben, die uns noch nahe sind. Ich hatte die Freude, Heiligkeits-Prozesse großer Christen zu eröffnen, die in Verbindung mit der Erzdiözese Krakau standen. Später, als Bischof von Rom, konnte ich ihren »heroischen Tugendgrad« deklarieren und sie nach Abschluss der jeweiligen Prozesse ins Buch der Seligen und Heiligen eintragen.

Ich erinnere mich, dass ich, als ich während des Krieges als Arbeiter in der Fabrik »Solvay« tätig war, die in der Nähe des Klosters Lagiewniki liegt, oftmals am Grab von Schwester Faustina verweilte, die damals noch nicht selig gesprochen war. Alles an ihr war außerordentlich, weil unvorhersehbar bei einem so einfachen Mädchen. Wie hätte ich mir damals vorstellen können, dass es mir einst vergönnt sein würde, sie zuerst selig und dann heilig zu sprechen? Sie war in einen Konvent in Warschau ein-getreten, wurde dann nach Vilna und schließlich nach Krakau versetzt. Gerade sie war es, die wenige Jahre vor dem Krieg die große Vision von Jesus, dem Barm-herzigen, hatte, der sie bat, sich zur Verfechterin der Ver-ehrung der Göttlichen Barmherzigkeit zu machen, die in

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der Kirche eine große Verbreitung finden sollte. Schwester Faustina starb 1938. Von da an zog diese Verehrung von Krakau aus immer größere Kreise und breitete sich über die ganze Welt aus. Als ich Erzbischof geworden war, beauftragte ich Prof. Ignacy Rózycki mit der Prüfung ihrer Schriften. Zuerst wich er aus. Dann nahm er schließlich an und studierte die verfügbaren Dokumente gründlich. Am Ende sagte er: »Sie ist eine wunderbare Mystikerin.« Einen besonderen Platz in meiner Erinnerung und – mehr noch – in meinem Herzen hat Bruder Albert (Adam Chmielowski). Er kämpfte während des Januar-Aufstands, und dabei zertrümmerte ihm ein Geschoss ein Bein. Seitdem war er Invalide; er trug eine Prothese. Für mich war er eine wunderbare Gestalt. Ich war ihm geistlich sehr verbunden und schrieb über ihn ein Drama mit dem Titel »Bruder unseres Gottes«. Seine Persönlichkeit faszinierte mich. Ich sah in ihm ein Vorbild, das auf mich zu-geschnitten war: Er hatte die Kunst aufgegeben, um Diener der Armen – der »Angeschwollenen«, wie die Landstreicher genannt wurden – zu werden. Seine Ge-schichte half mir sehr, die Kunst und das Theater hinter mir zu lassen, um ins Seminar einzutreten.

Jeden Tag bete ich die Litaneien der polnischen Nation, in denen auch der hl. Albert aufgeführt ist. Unter den Heiligen Krakaus erinnere ich mich auch an den hl. Jacek Odrowaz: ein großer Heiliger dieser Stadt. Seine Reliquien ruhen in der Dominikaner-Kirche. Viele Male bin ich in dieses Heiligtum gegangen. Sankt Jacek war ein großer Missionar: Von Danzig aus drang er in den Osten vor bis nach Kiew.

In der Kirche der Franziskaner ist auch das Grab der sel. Aniela Salawa, eines einfachen Dienstmädchens. Ich sprach sie am 13. August 1991 in Krakau selig. Ihr Leben ist der Beweis, dass die Arbeit eines Dienstmädchens,

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wenn sie im Geist des Glaubens und der Opferbereitschaft verrichtet wird, zur Heiligkeit führen kann. Oft habe ich ihr Grab besucht.

Diese Krakauer Heiligen betrachte ich als meine Beschützer. Ich könnte eine lange Reihe von ihnen auf-zählen: den hl. Stanislaus, die hl. Königin Jadwiga, den hl. Johannes von Kety, den hl. Kasimir, den Sohn des Königs, und viele mehr. Ich denke an sie und bete zu ihnen für meine Nation.

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Martyres – die Märtyrer

»Kreuz Christi, dich lobe ich , /du seist immer gelobt! / Aus dir kommen Macht und

Stärke, / in dir liegt unser Sieg.«

Nie ist es mir passiert, mein bischöfliches Brustkreuz mit Gleichgültigkeit anzulegen. Es ist eine Handlung, die ich immer mit einem Gebet begleite. Seit über 45 Jahren liegt das Kreuz auf meiner Brust, nahe an meinem Herzen. Das Kreuz lieben heißt: das Opfer lieben. Vorbilder dieser Liebe sind die Märtyrer, wie zum Beispiel Michal Kozal, der am 15. August 1939, zwei Wochen vor Ausbruch des Krieges, zum Bischof geweiht wurde. Er verließ seine Herde während des Konfliktes nicht, auch wenn der Preis, den er dafür zahlen musste, vorhersehbar war. Er verlor sein Leben im Konzentrationslager Dachau, wo er für die mitgefangenen Priester Vorbild und Stütze war.

Im Jahre 1999 war es mir vergönnt, 108 Märtyrer, Opfer der Nationalsozialisten, selig zu sprechen, darunter drei Bischöfe: Erzbischof Antoni Julian Nowowiejski, Ordina-rius von Plock, sein Weihbischof, Mons. Leon Wetmanski, und Mons. Wladyslaw Goral von Lublin. Zusammen mit ihnen sind Priester, Ordensleute und auch Laien zur Ehre der Altäre gelangt. Diese Einheit im Glauben, in der Liebe und im Martyrium von Hirten und Herde, die um das Kreuz Christi versammelt sind, ist bedeutsam.

Ein weit bekanntes Modell eines Opfers der Liebe im Martyrium ist der polnische Franziskaner Maximilian Kolbe. Er gab sein Leben im Konzentrationslager Ausch-

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witz hin im Tausch für einen anderen Gefangenen, einen Familienvater, den er nicht kannte.

Es gibt auch andere Märtyrer, die unseren Tagen noch näher sind. Mit Ergriffenheit erinnere ich mich an die Begegnungen mit Kardinal Francois-Xavier Nguyen Van Thuân. Im denkwürdigen Jubiläumsjahr 2000 predigte er die geistlichen Exerzitien für uns im Vatikan.

In meinem Dank für die von ihm vorgetragenen Meditationen sagte ich: »Als persönlicher Zeuge des Kreuzes in den langen Jahren der Haft in Vietnam hat er uns häufig Fakten und Episoden aus seiner erlittenen Gefangenschaft erzählt und uns so in der tröstlichen Sicherheit bestärkt, dass dann, wenn alles um uns und vielleicht auch in uns zusammenbricht, Christus unser zuverlässiger Rückhalt bleibt« (18.03.2000).

Ich könnte noch viele andere unerschrockene Bischöfe erwähnen, die mit ihrem Beispiel anderen den Weg wiesen … Welches ist ihr gemeinsames Geheimnis? Ich denke, es ist die Kraft im Glauben. Der Vorrang, der im ganzen Leben und in allem Tun dem Glauben eingeräumt wird, einem mutigen, furchtlosen Glauben, einem in der Prüfung gefestigten Glauben, der bereit ist, jeglichem Ruf Gottes in großherziger Zustimmung zu folgen: fortes in fide …

Sankt Stanislaus

Mit den Augen des Herzens sehe ich, wie sich vor dem Hintergrund so vieler leuchtender Gestalten polnischer Heiliger das überragende Profil des Bischofs und Märtyrers Sankt Stanislaus abzeichnet. Wie ich schon erwähnte, habe ich ihm eine Dichtung gewidmet, in der ich das Schicksal seines Martyriums wachgerufen habe, in

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dem ich gleichsam ein Spiegelbild der Geschichte der Kirche in Polen sehe. Hier einige Ausschnitte dieses Gesanges:

1.

Ich möchte die Kirche besingen – meine Kirche, die gemeinsam mit mir geboren wird, nicht aber mit mir stirbt – und ich sterbe nicht mit ihr, die mich immer überragt – Kirche: Grund und Gipfel meines Seins. Kirche: Wurzel, die ich ausstrecke in die Vergangenheit und in die Zukunft, Sakrament meines Seins in Gott, der Vater ist.

Ich möchte die Kirche besingen – meine Kirche, gebunden an mein Land mein Land auf dieser Erde

(»was du auf Erden binden wirst – wurde ihr gesagt – wird auch im Himmel gebunden sein«) und an mein Land hat sich meine Kirche gebunden.

Das Land liegt im Becken der Weichsel, mit über-strömenden Zuflüssen im Frühjahr, wenn die Schneemassen schmelzen in den Karpaten.

Die Kirche hat sich gebunden an mein Land, damit, was dort gebunden ist, gebunden bleibe im Himmel.

2.

Es gab einen Mann, in dem mein Land sich an den Himmel gebunden wusste. Es gab diesen Mann, diese Männer … Zu allen Zeiten gibt es sie … Dank ihnen sieht sich die Erde im Sakrament einer neuen Existenz. Sie ist ein Vaterland: denn dort wird empfangen das Haus des VATERS, dort wird es geboren. Ich möchte meine Kirche besingen in einem Mann namens Stanislaus, der Name,

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eingeschrieben in die ältesten Chroniken durch das Schwert von König Boleslaw. Er zeichnete diesen Namen auf den Boden der Kathedrale, als Bäche von Blut sich ergossen.

3.

Ich möchte meine Kirche besingen in dem Namen, in dem das Volk eine zweite Taufe erhielt, eine Bluttaufe; um dann, und nicht nur einmal, ausgesetzt zu sein der Taufe unterschiedlicher Prüfungen – der Taufe des Sehnens, in der man entdeckt den verborgenen Atemhauch des GEISTES – in einem NAMEN, eingepflanzt in die Erd-scholle der menschlichen Freiheit noch vor dem Namen Stanislaus.

4.

Schon wurden auf der Erdscholle der menschlichen Freiheit geboren der LEIB und das BLUT, durchschnitten vom königlichen Schwert im zentralen Kern des priester-lichen Wortes, durchschnitten an der Basis des Schädels, durchschnitten im lebendigen Rumpf … hatten LEIB und BLUT nicht die Zeit, geboren zu werden – das Schwert zerschlug das Metall des Kelches und das Brot aus Korn.

5.

Der König dachte wohl: am dir wird heute die Kirche noch nicht geboren werden – nicht geboren werden wird das Volk aus dem Wort, das ein Vorwurf ist für Fleisch

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und Blut; geboren werden wird es aus dem Schwert, aus meinem Schwert, das in der Mitte durchschneiden wird deine Worte, geboren werden wird es aus dem vergossenen Blut … so dachte wohl der König. Der ver-borgene Atemhauch des GEISTES jedoch wird zusammen-fügen das durchschlagene Wort und das Schwert: den durchschlagenen Nacken, die blutbesudelten Hände … Er sagt: zusammen werdet ihr gehen in Zukunft, nichts wird euch trennen können! Ich möchte meine Kirche besingen, in der durch die Zeiten Wort und Blut gemeinsam voran-gehn, vereint durch den verborgenen Atemhauch des GEISTES.

6.

Vielleicht dachte Stanislaus: mein Wort wird dich verwunden und dich bekehren, an die Pforten der Kathe-drale wirst du kommen als Büßer, erschöpft vom Fasten wirst du kommen, durchbohrt vom Strahl einer inneren Stimme … zum Tisch des Herrn wirst du treten wie der verlorene Sohn.

Das Wort hat nicht bekehrt, das Blut wird bekehren – vielleicht fehlte dem Bischof die Zeit, zu denken: nimm diesen Kelch von mir.

7.

Auf die Erdscholle unserer Freiheit fällt das Schwert. Auf die Erdscholle unserer Freiheit fällt das Blut.

Welches der beiden wird obsiegen?

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Das erste Zeitalter wendet sich seinem Ende zu und es beginnt das zweite. Nehmen wir den Entwurf in die Hand, den Entwurf einer Zeit, die untrüglich kommen wird.

Karol Woityla, Stanislow, I, 1–7, in: Poezje i dramaty, Krakau 1979, S. 103–105

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Das Heilige Land

Seit langer Zeit bewegte ich im Herzen den Gedanken, eine Pilgerreise auf den Spuren Abrahams zu machen, da ich ja schon zahlreiche andere Pilgerreisen in alle Teile der Welt unternommen hatte … Paul VI. hatte sich auf seiner ersten Reise gerade an diese Heiligen Stätten begeben. Ich wünschte mir, dass diese meine Reise im Jubiläumsjahr stattfände. Sie hätte in Ur in Chaldäa beginnen sollen, das im Territorium des heutigen Irak liegt und von wo aus vor vielen Jahrhunderten Abraham aufbrach, als er dem Ruf Gottes folgte (vgl. Gen 12,1–4). Anschließend hätte ich mich nach Ägypten und auf die Spuren Moses begeben, der die Israeliten dort herausführte und am Fuße des Berges Sinai die Zehn Gebote als Funda-ment des Bundes mit Gott empfing. Und dann wollte ich meine Pilgerreise im Heiligen Land vollenden, angefangen mit dem Ort der Verkündigung. Anschließend hätte ich mich dann nach Betlehem begeben, wo Jesus geboren wurde, und an die anderen Orte, die mit seinem Leben und Wirken verbunden sind. Meine Reise verlief dann nicht genau so, wie ich sie geplant hatte. Es war mir nicht möglich, ihren ersten Teil, den auf den Spuren Abrahams, zu verwirklichen. Es war der einzige Ort, den ich nicht erreichen konnte, weil die irakischen Behörden es nicht gestatteten. Nach Ur in Chaldäa versetzte ich mich im Geist während einer eigens dafür organisierten Zeremonie in der Aula Pauls VI. Hingegen konnte ich mich per-sönlich nach Ägypten begeben, an den Fuß des Berges Sinai, wo der Herr dem Mose seinen Namen offenbarte.

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Dort wurde ich von den orthodoxen Mönchen empfangen. Sie waren sehr gastfreundlich.

Anschließend ging ich nach Betlehem, nach Nazaret und nach Jerusalem. Ich begab mich zum Ölberg, in den Abendmahlssaal und natürlich auf den Kalvarienberg, nach Golgatha. Es war das zweite Mal, dass ich an diese Heiligen Stätten kam. Das erste Mal war ich dort als Erzbischof von Krakau während des Konzils gewesen. Am letzten Tag dieser Jubiläums-Pilgerreise ins Heilige Land konzelebrierte ich mit dem Kardinal Staatssekretär Angelo Sodano und anderen Vertretern der Kurie die heilige Messe am Grab Christi. Was kann man nach all dem sagen? Diese Reise war ein großes, riesengroßes Erlebnis. Der bedeutendste Augenblick der ganzen Pilgerreise war zweifellos der Aufenthalt auf dem Kalvarienberg, auf dem Berg der Kreuzigung, und am Grab, an jenem Grab, das zugleich der Ort der Auferstehung war. Und in meinen Gedanken erinnerte ich mich an die Empfindungen, die mich während meiner ersten Pilgerreise ins Heilige Land bewegten. Damals hatte ich geschrieben:

»O Ort, du Ort des Heiligen Landes – welchen Raum nimmst du ein in mir! Darum kann ich dich nicht mit meinen Schritten zertrampeln, ich muss mich niederknien. Und so heute bezeugen, dass du ein Ort der Begegnung gewesen bist. Ich knie nieder – und drücke so mein Siegel ein. Du wirst hier bleiben mit meinem Siegel – du wirst bleiben, wirst bleiben – und ich werde dich mitnehmen, dich in mir umformen in einen Ort neuen Zeugnisses. Ich scheide als ein Zeuge, der sein Zeugnis ablegen wird über die Jahrhunderte hin«

Der Ort der Erlösung! Zu sagen: »Ich bin froh, dort gewesen zu sein«, ist zu wenig. Es handelt sich um etwas Größeres: um das Zeichen des großen Leidens, um das Zeichen des heilbringenden Todes, um das Zeichen der Auferstehung.

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Abraham und Christus:

»Ja, ich komme (…) um deinen Willen, Gott, zu tun« (Hebr 10,7)

Der Vorrang des Glaubens und der Mut, der aus ihm entspringt, haben dazu geführt, dass jeder von uns dem Ruf Gottes folgte und weg zog, ohne zu wissen, wohin er kommen würde (vgl. Hebr 11,8). Der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt diese Worte im Zusammenhang mit der Berufung Abrahams, doch sie betreffen jede menschliche Berufung, auch jene besondere Berufung, die sich im bischöflichen Dienst verwirklicht: die Berufung, im Glauben und in der Liebe die Ersten zu sein. Wir sind erwählt und berufen, weg zu ziehen, und nicht wir bestimmen das Ziel dieses Weges. Das wird Derjenige tun, der uns befohlen hat, aufzubrechen: der treue Gott, der Gott des Bundes. Auf Abraham bin ich vor kurzem zurückgekommen mit einer dichterischen Meditation, aus der ich hier einen Abschnitt wiedergebe:

»O Abraham, ER, der in die Geschichte des Menschen eingetreten ist, will durch dich das Mysterium, das seit Anbeginn der Welt verborgen war, nur offenbar werden lassen, jenes Mysterium, das schon bestand vor Erschaffung der Welt!

Wenn wir heute zu jenen Orten pilgern, von denen Abraham einst auszog, wo er die Stimme vernahm, wo sich die Verheißung erfüllte, so deshalb, um an der Schwelle zu stehen – und zum Ursprung des Bundes zu gelangen«

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(Komisches Triptychon: Der Berg im Lande Morija, Herder, Freiburg im Breisgau 2003, S. 47).

Auch in der vorliegenden Meditation über die bischöf-liche Berufung möchte ich mich Abraham zuwenden, unserem Vater im Glauben, und insbesondere dem Geheimnis seiner Begegnung mit Christus, dem Retter, der dem Fleische nach Sohn Abrahams ist (vgl. Mt 1,1), zugleich jedoch existiert, noch ehe Abraham wurde, weil er seit Ewigkeit ist (vgl. Joh 8,58). Diese Begegnung wirft ein Licht auf das Geheimnis unserer Berufung im Glauben und vor allem unserer Verantwortung und des nötigen Mutes, um ihr zu entsprechen. Man kann sagen, dass es ein zweifaches Geheimnis ist. Da ist zunächst das Geheimnis dessen, was dank der Liebe Gottes bereits in der menschlichen Geschichte geschehen ist. Und dann ist da das Geheimnis der Zukunft, das heißt der Hoffnung: Es ist das Geheimnis der Schwelle, die jeder von uns kraft eben dieser Berufung überschreiten muss, gestützt auf einen Glauben, der vor nichts zurückweicht, weil er weiß, wem er sich anvertraut hat (vgl. 2 Tim 1,12). In diesem Geheimnis vereint sich darum all das, was seit Anbeginn war, was vor der Erschaffung der Welt war, und das, was noch kommen wird. So wird der Glaube, die Ver-antwortung und der Mut eines jeden von uns einbezogen in das Geheimnis der Erfüllung des göttlichen Planes. Der Glaube, die Verantwortung und der Mut eines jeden von uns erweisen sich als notwendig, damit das Geschenk Christi an die Welt sich in seinem ganzen Reichtum offenbaren kann. Nicht nur ein Glaube, der den un-versehrten Schatz der Mysterien Gottes im Gedächtnis hütet, sondern ein Glaube, der den Mut besitzt, diesen Schatz wieder zu öffnen und in immer neuer Weise vor den Menschen, zu denen Christus seine Apostel sendet, auszubreiten. Das ist eine Verantwortlichkeit, die sich

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nicht nur darauf beschränkt, zu schützen und zu bewahren, was ihr anvertraut ist, sondern die den Mut hat, mit den Talenten zu wirtschaften, um sie zu vervielfältigen (vgl. Mt 25,14–30). Angefangen bei Abraham, verlangt der Glaube von jedem seiner Nachkommen die ständige Überwindung dessen, was lieb, eigen und wohl bekannt ist, um sich dem unbekannten Raum zu öffnen, indem man sich auf die gemeinsame Wahrheit und die gemeinsame Zukunft unser aller in Gott stützt. Alle sind wir aufgefordert, an diesem Prozess der Überwindung des bekannten, nächstliegenden Kreises teilzunehmen; wir sind aufgefordert, uns jenem Gott zuzuwenden, der in Jesus Christus sich selbst überwunden hat, indem er die trennende Wand der Feindschaft niederriss (vgl. Eph 2,14), um uns durch das Kreuz zu sich zurück-zuführen. Jesus Christus – das will heißen: Treue zur Berufung durch den Vater, offenes Herz gegenüber jedem Menschen, dem man begegnet, Weg, auf dem man vielleicht nicht einmal einen Ort hat, wo man »sein Haupt hinlegen kann« (vgl. Mt 8,20), und schließlich Kreuz, durch das man zum Sieg der Auferstehung gelangt. Das ist Christus, derjenige, der unerschrocken voranschreitet und sich nicht aufhalten lässt, bevor er nicht alles vollbracht hat, bevor er nicht zu seinem Vater und zu unserem Vater hinaufgegangen ist (vgl. Joh 20,17), er, der derselbe gestern, heute und in Ewigkeit ist (vgl. Hebr 13,8).

Der Glaube an ihn ist also das unaufhörliche Sich-Öffnen des Menschen für das unaufhörliche Eintreten Gottes in die Welt der Menschen, ist das Sich-Bewegen des Menschen auf Gott zu, auf einen Gott, der seinerseits die Menschen zueinander führt. So geschieht es, dass alles, was dem Einzelnen gehört, Eigentum aller wird, und alles, was dem Anderen gehört, zugleich auch mein wird. Genau das ist der Gehalt der Worte, die der Vater an den

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älteren Bruder des »verlorenen Sohnes« richtet: »Alles, was mein ist, ist auch dein« (Lk 15,31). Es ist be-zeichnend, dass diese Worte im Hohepriesterlichen Gebet Jesu als an den Vater gerichtete Worte des Sohnes wieder erscheinen: »Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein« (Job 17,10).

Während er sich dem nähert, was er als »seine Stunde« ansieht (vgl. Joh 7,30; 8,20; 13,1), spricht Christus selbst von Abraham, und zwar mit einem Ausdruck, der bei seinen Hörern Überraschung und Staunen verursacht: »Euer Vater Abraham jubelte, weil er meinen Tag sehen sollte. Er sah ihn und freute sich« (Joh 8,56). Welches ist die Quelle der Freude Abrahams? Ist es nicht die Voraussicht der Liebe und des Mutes, mit denen sein Sohn dem Fleische nach, unser Herr und Retter Jesus, bis zum Letzten gehen würde, um den Willen des Vaters zu tun (vgl. Hebr 10,7)? Ausgerechnet in den Ereignissen der Passion des Herrn begegnen wir der erschütterndsten Bezugnahme auf das Geheimnis Abrahams, der, vom Glauben getragen, seine Stadt und sein Vaterland verlässt und wegzieht, dem Unbekannten entgegen, und vor allem des Abrahams, der mit angstvollem Herzen seinen so sehr erwarteten und so sehr geliebten Sohn zum Berg Morija führt, um ihn zu opfern.

Als »seine Stunde« gekommen war, sagte Jesus zu denen, die mit ihm im Garten von Getsemani waren, zu Petrus, Jakobus und Johannes, den besonders geliebten Jüngern: »Auf, lasst uns geben!« (Mk 14,42). Nicht er allein musste »gehen«, auf die Erfüllung des Willens des Vaters zugehen, sondern auch sie mit ihm.

Diese Aufforderung – »Auf, lasst uns geben!« – ist in besonderer Weise an uns Bischöfe, seine auserwählten Freunde, gerichtet. Auch wenn diese Worte eine Zeit der Prüfung bedeuten, eine große Anstrengung und ein

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schmerzvolles Kreuz, dürfen wir uns nicht von der Angst packen lassen. Es sind Worte, die auch jene Freude und jenen Frieden mit sich bringen, die Frucht des Glaubens sind. Bei einer anderen Gelegenheit drückte Jesus gegen-über denselben drei Jüngern die Aufforderung genauer aus: »Steht auf, habt keine Angst!« (Mt 17,7). Die Liebe Gottes lädt uns keine Lasten auf, die wir nicht tragen können, noch stellt sie Anforderungen, die zu erfüllen unmöglich ist. Während er fordert, bietet Gott auch die nötige Hilfe. Ich spreche über diese Dinge von einem Posten aus, an den mich die Liebe Christi, des Retters, geführt hat, indem sie mich aufforderte, wegzuziehen aus meinem Heimatland, um mit seiner Gnade woanders Frucht zu bringen, eine Frucht, die dazu bestimmt ist, zu bleiben (vgl. Joh 15,16). Als Nachhall der Worte unseres Meisters und Herrn wiederhole deshalb auch ich einem jeden von euch, liebe Brüder im Bischofsamt: »Auf, lasst uns gehen!« Gehen wir im Vertrauen auf Christus. Er wird uns begleiten auf unserem Weg bis zu dem Ziel, das nur er kennt.

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