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Aus der Welt fallen. Die Verschollenen der Literatur (Wolfgang Struck) BA Literaturwissenschaft/BA Germanistik: Di, 10-12, LG 1, Raum 247a MA Literaturwissenschaft: Di, 14-16, LG 1, Raum 218 Während die Oberfläche der Erde immer lückenloser vermessen, kartographiert, medien- und verkehrstechnisch erschlossen wird, gewinnt zugleich ein Phantasma an Bedeutung: das des Verschollenen, aus der Welt Gefallenen. Durfte der wohl berühmteste Verschollene der Antike, Odysseus, immerhin nach zehnjähriger Irrfahrt doch noch in die Heimat zurückkehren, so wird sein frühneuzeitlicher Nachfahre, der Odysseus Dantes, erst im Höllenfeuer wiedergefunden werden. Im 19. Jahrhundert sind es dann Polarfahrer und Afrikareisende, Wüstenwanderer und Bergsteiger, für die die letzten ‚blank spaces’ zum Land ohne Wiederkehr werden. Ihr Verschwinden bleibt jedoch nicht unbeobachtet. Mit den im australischen ‚Outback’ verschollenen Burke und Wills, den jahrelang vom Nachrichtenverkehr abgeschlossenen Timbuktu-Besuchern Rohlfs und Vogel, den in der Arktis abgestürzten Luftschiffern Andrée und Nobile, und einer Vielzahl im Eis eingeschlossener Polarschiffer oder in Gletscherspalten hängender Bergsteiger geraten jene geographischen Räume, in denen man noch verloren gehen kann, in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Ein Ort, an dem solche Öffentlichkeit organisiert wird, liegt im 19. Jahrhundert in Gotha, wo mit „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ eine der weltweit erfolgreichsten geographischen Zeitschriften erscheint, die nicht nur die Vermessung der Welt vehement vorrantreibt, sondern auch das Schicksal der Verschollenen, der „Märtyrer der Wissenschaft“, wie August Petermann die Verschollenen nennt, minutiös und mit unverkennbarer Faszination verfolgt. Von hier führen die Spuren in die Literatur, die sowohl die spektakulären Fälle noch einmal erzählt als auch, wie etwa Franz Kafkas Roman „Der Verschollene“, von weniger medienwirksamen Fällen des Verschwindens zu berichten weiß. Semesterplan 13.10. Vorbesprechung 20.10. Abgetaucht Friedrich Schiller: Der Taucher (1797) außerdem: Ludwig Tieck: Der Wassermensch (1835) 27.10. Irrfahrten Die Odyssee Dante, La Divina Commedia, Inferno, 26. Gesang, V. 52-142 Gottfried August Schnabel: Die Insel Felsenburg (1732) ("Lebens-Beschreibung des Don Cyrillo de Valero") dazu: Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1973 (S. 138-149, 257f.) Jorge Luis Borges, Die letzte Reise des Odysseus, in ders.: Die letzte Reise des Odysseus. Essays, München 1987, S. 152-161 Manfred Frank: Die unendliche Fahrt

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Aus der Welt fallen. Die Verschollenen der Literatur(Wolfgang Struck)

BA Literaturwissenschaft/BA Germanistik: Di, 10-12, LG 1, Raum 247aMA Literaturwissenschaft: Di, 14-16, LG 1, Raum 218

Während die Oberfläche der Erde immer lückenloser vermessen, kartographiert, medien- und verkehrstechnisch erschlossen wird, gewinnt zugleich ein Phantasma an Bedeutung: das des Verschollenen, aus der Welt Gefallenen. Durfte der wohl berühmteste Verschollene der Antike, Odysseus, immerhin nach zehnjähriger Irrfahrt doch noch in die Heimat zurückkehren, so wird sein frühneuzeitlicher Nachfahre, der Odysseus Dantes, erst im Höllenfeuer wiedergefunden werden. Im 19. Jahrhundert sind es dann Polarfahrer und Afrikareisende, Wüstenwanderer und Bergsteiger, für die die letzten ‚blank spaces’ zum Land ohne Wiederkehr werden. Ihr Verschwinden bleibt jedoch nicht unbeobachtet. Mit den im australischen ‚Outback’ verschollenen Burke und Wills, den jahrelang vom Nachrichtenverkehr abgeschlossenen Timbuktu-Besuchern Rohlfs und Vogel, den in der Arktis abgestürzten Luftschiffern Andrée und Nobile, und einer Vielzahl im Eis eingeschlossener Polarschiffer oder in Gletscherspalten hängender Bergsteiger geraten jene geographischen Räume, in denen man noch verloren gehen kann, in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Ein Ort, an dem solche Öffentlichkeit organisiert wird, liegt im 19. Jahrhundert in Gotha, wo mit „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ eine der weltweit erfolgreichsten geographischen Zeitschriften erscheint, die nicht nur die Vermessung der Welt vehement vorrantreibt, sondern auch das Schicksal der Verschollenen, der „Märtyrer der Wissenschaft“, wie August Petermann die Verschollenen nennt, minutiös und mit unverkennbarer Faszination verfolgt. Von hier führen die Spuren in die Literatur, die sowohl die spektakulären Fälle noch einmal erzählt als auch, wie etwa Franz Kafkas Roman „Der Verschollene“, von weniger medienwirksamen Fällen des Verschwindens zu berichten weiß.

Semesterplan

13.10. Vorbesprechung

20.10.Abgetaucht

• Friedrich Schiller: Der Taucher (1797)außerdem: Ludwig Tieck: Der Wassermensch (1835)

27.10.Irrfahrten

• Die Odyssee• Dante, La Divina Commedia, Inferno, 26. Gesang, V. 52-142• Gottfried August Schnabel: Die Insel Felsenburg (1732) ("Lebens-Beschreibung des Don

Cyrillo de Valero")

dazu:• Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1973 (S.

138-149, 257f.)• Jorge Luis Borges, Die letzte Reise des Odysseus, in ders.: Die letzte Reise des

Odysseus. Essays, München 1987, S. 152-161• Manfred Frank: Die unendliche Fahrt

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3.11. / 10.11.Spuren 1: Flaschenpost

• Edgar Allan Poe: MS Found in a Bottle (1833)• Jules Verne: Les enfants du Capitaine Grant/Die Kinder des Kapitäns Grant (1868)

dazu: • Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes

nimmt die Lupe, Sigmund Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst (1979), in ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 7-57

17.11. / 24.11.Märtyrer der Wissenschaft. August Petermann und die Organisation des Aus-der-Welt-Fallens

• Petermann: "Vorwort", in: "Mittheilungen", 1855, S. 1-2• Petermann: Die Expedition nach Central-Afrika. Dr. H. Barth's Reise von Kuka nach

Timbuktu, in: Mittheilungen, 1855, S. 3-14• Petermann: Stuart's und Burke's Reisen durch das Innere von Australien im Jahre

1861, in: Mittheilungen, 1862, S. 57-80

außerdem: Heroische Landschaft• Karl May: Die Gum (1877/1893)• Henry Rider Haggard: King Solomon's Mines• Joseph Conrad: Heart of Darkness• Alex Capus: Munzinger Pascha

1.12. / 8.12. / 15.12.Spuren 2: Eis

• Wilkie Collins: The Frozen Deep (1874)• Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit (1983)• Ingenjör Andrées luftfärd (Der Flug des Adler; Schweden 1982, Jan Troell)

zu Collins, Nadolny (John Franklin): • Owen Beattie/John Geiger: Frozen in Time. The Fate of the Franklin Expedition,

London 2004

zu Andrée: • Per Olof Sundman: Ingenjör Andrées luftfärd, 1967; dt.: Ingnieur Andrées Luftfahrt.

Aus dem Schwedischen von Udo Brickholz, Zürich: Benziger 1967• Salomon August Andrée: Dem Pol entgegen. Auf Grund der während Andrées

Polarexpedition 1897 geführten und 1930 auf Vitö gefundenen Tagebücher S. A. Andrés, N. Strindbergs u. K. Fraenkels hrsg. von der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie. [dt. Übersetzung von Theodor Geiger] , Leipzig: F.A.Brockhaus 1930

außerdem:• Edgar Allan Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838)• Jules Verne: Le Sphinx des glaces/Die Eissphinx (1897)• Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984)• Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg (2006)

5.1. / 12.1. / 19.1.Programmiertes Verschwinden

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• Franz Kafka: Der Verschollene (1912/1927)• Franz Kafka: Das Urteil (1913)• Bertolt Brecht: Aus einem Lesebuch für Städtebewohner (1930)

außerdem: • Klassenverhältnisse (BRD 1984, Jean-Marie Straub, Danièlle Huillet)

26.1.Spurlos

• Picnic at Hanging Rock (Aus 1975, Regie: Peter Weir)• Spoorloos (Spurlos; NL 1988, George Sluizer)

2.2.Leere

• Burke&Wills (Aus 1985, Regie Graeme Clifford)• Patrick White: Voss (1957)• Walkabout (Nicholas Roeg)• Georg Heym: Das Tagebuch Shakletons

dazu: • Roslynn D. Haynes: Seeking the Centre. The Australian Desert in Literature, Art and

Film, Cambridge/Melbourne 1998• Ross Gibson: Seven Versions of Australian Badland, St. Lucia 2002