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B 4/63 23. Januar 1963 aus politik und zett geschichte beilage zur wachen ze1tung das parlament ..... Gerhard Stoltenberg Was heißt heute eigentlich "links"? Helmut Schmidt Was bedeutet heute eigentlich "rechts"?

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B 4/63 23. Januar 1963

aus politik und

• zett geschichte

beilage zur wachen

• ze1tung das parlament .....

Gerhard Stoltenberg

Was heißt heute eigentlich "links"?

Helmut Schmidt

Was bedeutet heute eigentlich "rechts"?

Die in dieser Ausgabe veröffentlidlten Bei­träge wurden zuerst vom Norddeutschen Rund· funk im 3. Programm gesendet.

Ger h a r d S t o lt e n b er g, Dr. phil., Uni­versitätsdezent Mitglied des Deutschen Bun­destages (CDU). Geb. 29. 9. 1928 in Kiel.

H e 1m u t Sc h m i d t , Diplomvolkswirt, In­nensenator der Freien und Hansestadt Harn­burg. Von 1953 bis 1961 Mitglied des Deut­silien Bundestages (SPD). Geh. 23. 12. 1918 in Hamburg.

Herausgeber: Bundeszentrale für Heimatdienst 53 Bonn I Rhein, Königstraße 85.

Nachforderungen der Beilagen .Aus Politik und Zeitgeschichte• sind an die Vertriebsabteilung DAS PARLAMENT. Harnburg 36. Gänsemarkt 21/23, zu richten. AbonnementsbestellungP-D der Wochenzeitung DAS PARLAMENT zum Preise von 1.89 monatlich bel Postzustellung einschließlich Beilage ebenfalls nur ctn die Vertriebsabteilung Bestellungen von Sammel· mappen für die Beilage zum Preise von DM 6.­pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertriebsahteilung Harn· burg 36, Gänsemarkt 21/23. Telefon 34 12 51.

Die Veröffentlichungen in der Beilage .aus politik und zeitgesmichte• stellen keine Mei· nunq<:äußerunqen der herausgehenrlen Stelle dar. Sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.

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Gerhard Stoltenberg

Was heißt heute eigentlich II links II?

Viele Begriffe sind in den gängigen Tagesge­brauch der Politik, der Publizistik und auch in die wissenschaftliche Diskussion eingegangen. ohne daß ihr Ursprung noch bewußt und ihre Bedeutung im Wandel der Zeit klar umrissen ist. Dazu gehören die Vokabeln "rechts" und .. links" zur Unterscheidung politischer Par­teien und gleichzeitig gewisser Grundtypen politischen Denkens und Handelns. Sie tau­chen ständig auf, aber mit ihnen verbinden sich zunehmend nur unklare Assoziationen. Gefühle der Zu- und Abneigung, fragwürdig gewordene Stimmungen einer politischen und moralischen Wertung.

Begriffliche Unklarheit ist besonders in der Politik von Ubel. Es ist deshaib beklagens­wert, daß wir in vielen Debatten und im poli­tischen Journalismus seit 1945 - nach einer kurzen Phase des Bemühens um wirklid1 neue Denkformen - so stark in überholte Klischees und ungeprüfte Vorurteile zurückgefallensind.

Wer weiß noch, woh er die Vokabeln "rechts" und "links" eigentlich stammen? Die Erklärung ist recht einfach, fast banal. Sie kommen (wi e vieies in unserer poiitischen Terminoiogi e) aus der Frühzeit des konstitutionellen Systems in Europa, dem bürgerlichen Frankreich zwi­schen 1830 und 1848 nach Napoleon und der streng konservativen Restauration. Es waren zunächst formale, äußere Kriterien: In dem Pariser Parlament saßen um 1840 (vom Präsi­denten aus gesehen) die Konservativen auf der .,rechten", die Liberalen au f der .. linken" Seite des Hauses. eine Reg e lung, die später von den meisten westeuropäischen Volksver­tretungen übernommen wurde.

Aber nur für einige Jahrzehnte des 19. Jahr­hunderts war diese einfache Gleichung "kon­servativ= rechts", .,liberal = links" anwend· bar. Schon relativ früh gab es unter diesen Sammelbegriffen sehr unterschiedliche Kräfte. Aus ökonomischen und kontess.ionellen Span· nungen erwuchsen zudem andere Parteihil· dungen, für die dieses Schema nicht anwend­bar war. Seit den siebziger, achtziger Jahren gewannen dann in fast allen westeuropäischen Staaten im Gefolge der industriellen Revolu-

tion die sozialistischen Arbeiterparteien schnell an politischer W erbekraft. Sie veränderten die innenpolitische Szenerie unseres Kontinents ~rrundlegend.

Solange nur der Dualismus zwischen Liberalen und Konservativen bestand, erschien vielen die Klärung der Begriffe relativ einfach: .. Links • kämpften die Kräfte des Fortschritts, der entschiedenen Reform, die den monar­chisch-absolutistischen oder feudalen Staat in einen Verfassungsstaat umwandeln woll­ten, in dem das gebildete, besitzende Bürger­tum durch Parlamente das Schicksal ues Staates, der Nation mitbestimmen konnte. Die sozialistischen Parteien der neuen .. Linken M

standen aber mit ihrer zumeist klassenkämpfe­rischen, revolutionären Programmatik in einer Grundspannung nicht nur zu den konservati­ven Kräften der .. Rechten ", sondern auch zu den liberalen bürgerlichen Gruppen.

So ist im Grunde seit dem Ende des 19. Jahr­hunderts das Begriffspaar ., links" und .. rechts" zur Kennzeichnung der politischen Haupt­strömung Europas nicht mehr zureichend. Es hat sid1 dennoch bis in die politische Tages­sprache unserer Gegenwart behauptet.

Wir können wohl nicht von ungefähr manche Bemühungen verzeichnen, diese zählebigen, gleichsam unverwüstlichen Vokabeln durch neue Interpretationen wieder sinnvoll und auch für den reflektierten wissenschaftlichen Sprachgebrauch geeignet werden zu lassen. Diese r Versuch zielt in der Regel auf eine Typisierung. "Links" und .,rechts" sollen, von der geschichtlichen Situation abgelöst, unter bestimmten moralischen Prämis~en als Grund­positionen menschlichen Verhaltens zum Leben und zur Politik verstanden werden.

Der Publizist Horst Kruger hat sieb beispiels­weise unter diesem Vorzeichen im .,Monat" ( Oktoberheft 1961) um eine Antwort auf unsere Frage .. Was ist eigentlich links?" bemüht und eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Er schrieb: .. Links konnte man immer stehen: im Spar­takus-Aufstand des alten Roms, in den Bau­e rnaufständen des 16. Jahrhunderts, in der

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Bundesrepublik von 1961. Links ist in diesem Sinne eine ,ewige' Haltung. Es entspricht ihr eine bestimmte Konzeption von Gesellschaft schlechthin. In der Tiefe ist sie eine moralische Haltung." Der .. Linke" glaubt, so meint Krüger an die .. Veränderbarkeit der Welt", glaubt prinzipiell an den .. realisierbaren Glücksan­spruch jedes einzelnen Menschen". Er ist nicht .. Tragiker, sondern Optimist" ... Er glaubt an die gerechte Welt überhaupt. Sein Glaube ist ein sozialer Welthumanismus." Waltel Dirks, gleich Krüger um eine geistige Neube· gründung der .. linken" Position bemüht, mein· te etwas Ähnliches, als er schrieb: .. Nichts ohne Not ändern, ist das stille Bekenntnis de1 Rechten. Das Notwendige tun, ist der lautere Wille der Linken".

So geistvoll und fesselnd derartige defini · torisehe Bemühungen gelegentlich sind, sie können nicht befriedigen. Zu viele histori· sehe und politische Phänomene widersprechen diesem Typenschema und seinen moralischen Vorzeichen auf das entschiedenste.

Waren die Führer des amerikanischen Unab· hängigkeitskampfes von 1776/1783 Männer der .. Linken"? Von George Washington und Alex­ander Hamilton wird dies niemand ernsthaft behaupten. Otto Vossler und andere namhafte Historiker haben jedoch in sorgfältigen Un­tersuchungen dargestellt, daß auch Thomas Jefferson zu der Zeit, als er seine berühmte Unabhängigkeitserklärung schrieb, vom histo· rischen Redltsstandpunkt der Kolonien gegen­über dem Mutter land a usging. einem im Grun­de also konservativen Argument.

Kann man den Freiherrn vom Stein und Schamhorst _als Männer der .. Linken" bezeich­nen? Krüger meint. daß .,in Deutschland der Staatsbeamte und der Soldat stets rechts ge­wesen seien". Aber Stein. der große Verwal­tungsfachmann und moralische. schöpferische Geist, und Scharnhorst. der gebildete, reflek­tierende Offizier. verwirklichten a!s treue Diener der preuß ischen Monarchie einschnei­dende Reformen von weitreichender Bedeu­tung.

Wer hat die politischen Zustände Deutsch­lands im 19. Jahrhundert grundlegender ver­ändert als Bismarck? Und lange vor den mei­sten Politikern der liberalen .. Linken", die im Fortschritts- und Harmoniedenken be­fangen waren, erkannten manche Männer der konservativen .. Rechten" (Theodor Lohmann. Adolf Wagner, Hermann Wagener u. a.), wie einschneidend die gesellschaftlichen vVandlun-

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gen der industriellen Revolution waren und wie sehr sie eine aktive staatliche Sozialpoli­tik erforderlich machten. Diese wenigen Bei­spiele mögen genügen, um die Fragwürdig­keit der zitierten Typisierung zu verdeut­lichen.

Zu den alten Unterschieden zwischen Konser­vativen, Liberalen, Christlichen Demokraten und Sozialisten in ihren verschiedenen Schat­tierungen kommt seit einem halben Jahrhun­dert noch eine weitere grundlegende Diffe­renz, die das Begriffsschema .,rechts" und .. links" zusätzlich entwertet. Es ist das Ent­stehen totalitärer Parteien und Herrschafts­systeme aus Ideologien und Gruppierungen sowohl der überkommenen .,Rechten" wie .. Linken". Die kommunistische Partei Lenins - und später auch Stalins wie Chruschtschows - nahm (und nimmt) für sich in Anspruch, Vollstreckerirr der eigentlichen sozialistischen Ziele, Programme und Hoffnungen zu sein. Ihr ist nach der geltenden Doktrin die ge­schichtliche Verwirklichung der von Marx formulierten Aufgabe des Proletariats gelun· gen. So wird die kommunistisch-sozialistische Gesellschaft als Erfüllung des humanistischen und demokratischen Strebens der .,Linken" vergangeuer Generationen gepriesen.

In der zunächst verwirrenden und schwierigen Auseinandersetzung mit diesen Parolen hat sich in Europa eine moderne Form des demo­kratischen Sozialismus ausgeprägt, der einen deutlichen Trennungsstrich zu der in manchen ideologischen Wurzeln benachbarten kommu­nistischen .. Linken" zieht. Die Heraustorde~

rung des Totalitarismus ließ manche scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den gemäßigten sozialistischen, liberalen und kon­servativen Kräften geringer werden. Wesent­liche Unterschiede bestehen weiter, aber sie haben in der Regel ihre unversöhnliche, ein­ander nahezu ausschließende Schärfe verloren. Eine ganz ähnliche Wirkung hat dann auch das Aufkommen von totalitären Systemen unter .,rechten" Vorzeichen gehabt. des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland.

Es war für viele ein schmerzlicher und lang­wieriger Prozeß, aus überkommenen Denk­formen und .,Freund-Feind"-Vorstellungen herauszukommen und die neuen Fronten zwi­schen Freiheit und Unfreiheit klar zu erken­nen. Ohne die Hilfe der Deutschnationalen Partei Hugenbergs wäre Hitler am 30. Januar 1933 nicht Reichskanzler geworden. Aber Kon-

servative, frühere Deutschnationale, wie Karl Goerdeler, fanden sich mit evangelischen und katholischen Christen anderer Gruppierungen, mit Liberalen und demokratischen Sozialisten in der Widerstandsbewegung gegen den tota­litären Staat zusammen.

In ihren grundlegenden Reflexionen und Pla· nungen, vor allem im Kreisauer Kreis, wurden tief eingewurzelte Gegensätze überbrückt oder doch, angesichts der gemeinsamen Auf­gabe gegenüber der furchtbaren Zerstörungs­gewalt einer Diktatur für Freiheit und Recht einzutreten, in ihrer relativen Größenordnung erkannt. Auf der anderen Seite hat die frag­würdige kommunistische Parole von der so­zialistischen Solidarität der .Linken", der Ar­beiterschaft gegenüber Bürgertum und Kapi­talismus seit 1945 ihre einstmals werbende Kraft stark eingebüßt. Ihre zündende Wirkung ist vor allem durch die furchtbare Anschauung der Praxis kommunistischer Herrschaft in Mittel- und Osteuropa zurückgegangen. In Italien und Frankreich spürt man sie freilich noch deutlich, auch bei kleinen, lautstarken Gruppen der sogenannten .heimatlosen Lin­ken" in Deutschland, die sich als .,neue linke Intelligenz" deklarieren möchten.

Das Aufkommen der modernen Diktaturen unter verschiedenen Vorzeichen hat somit die alten Orientierungspunkte .,rechts" und .links" noch problematischer gemacht. Die Extreme berühren sich; diese Feststellung fin­den wir schon früh. In den zwanziger Jahren tauchen die Formulierungen vom .National­bolschewismus" auf, von den .Linken Leuten von rechts." In der Tat gibt es manche histo­rische Beispiele für ein nicht nur taktisches Zu­sammenwirken der Flügelparteien in Deutsch­land und anderswo, eine erstaunliche Uberein­stimmung im Absolutheitsanspruch, bestimm­ten Methoden des Terrors, der VerJolgung der christlichen Kirchen, der Einstellung zur Kunst, Gemeinsamkeiten, die trotz der unterschied­lichen ideologischen Begründung und Program­matik offenkundig sind.

Was ist denn heute, unter dem Schatten tota­litärer Erfahrungen und Drohungen eigentlich .links"?

Der sozialdemokratische Bundestagsabgeord­nete Fritz Erler hat dazu in der schon erwähnten Diskussion im .Monat" geschrieben: .Der rechte Pol ist gekennzeichnet durc:h die Be­harrung, die Bewahrung des Bestehenden, die Ordnung, die Form, der linke Pol durc:h die Dynamik, die Veränderung, den Geist, die

Freiheit, den Inhalt. • Erler ist in seiner Defi­nition subtiler als der eingangs erwähnte Krüger. Er meint, .daß die verschiedenen Er­scheinungen im politischen Leben immer nur ein Oberwiegen der Eigenschaften des e1nen oder anderen Pols kennen. Die Ordnungsbil­der des fortschrittlichen linken und des kon­servativen rechten Grundzuges finden sich daher in manchen Elementen bei jeder unserer Parteien wieder."

Aber auch dieser Versuch einer Neubewer­tung der Begriffe kann nicht überzeugen. Daß der Geist .. links" stehe und die Idee der Frei­heit bei der .Linken" zu Hause sei, entstammt der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. Es kann natürlich heute noch so sein, aber als Reservat der .. Linken" zur Abgrenzung nach .. rechts" sind Worte wie Geist und Freihelt nicht mehr geeignet.

Wie ist es mit der Dynamik, dem Willen zur Veränderung? Nachdem viele Staaten Jahre und Jahrzehnte hindurch sozialistisch regiert wurden, können sie sich genau so unter kon­servativen Vorzeichen manifestieren. Unter dem Motto .. Its time for a change" siegte Eisen­hower 1952 in den USA als Kandidat einer konservativ bestimmten Republikanischen Partei nach 20 Jahren der demokratischen Ära Roosevelt-Truman. Eine verjüngte, dyna­mische Konservative Partei gewann 1951 die Unterhauswahlen in England und löste dis sozialistische Regierung mit einem Programm ab, in dem individuelle Freiheit von einem Ubermaß an staatlichen Eingriffen in die Ge­sellschaft und die persönliche Sphäre gefor­dert wurde.

Diese Hinweise ersc:heinen mir notwendig, wenn wir den politischen Begriff • links" von übertriebenen Ambitionen und ideologischem Ballast befreien, ihn gleichsam ,.entmytholo­gisieren • wollen, um in vorsichtiger und be­besc:heidener We•ise seinen begrenzten Aus­sagewert zu begreifen. Dabei bleibt uns der Versuc:h einer ungefähren Definition nicht völ­lig erspart, nac:hdem wir das Fließende. Viel­deutige dieser Vokabel gegenüber • zu ein­geengten Kennzeichnungen be•ont haben. ihre Anwendung (vielleicht sogar Unentbehrlich­keit) im politischen Sprachgebrauch aber doch in Rechnung setzen müssen.

.,Links" und .rechts" können wir nur als Hilfs­wörter ansehen. Sie sind keine exakten Grö­ßen in sich, geschweige denn moralisch unter­sc:hiedene Werte. Die Vielfalt der Erscheinun­gen in Geschichte und Politik ist zu groß,

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Recht und Unrecht, Gut und Böse sind zu kom­plex, oft in einer Person, einer Gruppe und einern Ereignis unlösbnr miteinander verbun­den, um in ein so einfaches polares Begriffs­schema. eingefangen werden zu könMn. Je gründlicher wir uns mit historischen Phäno­menen auseinandersetzen, je eindringlicher und unvoreingenommener Wir da.s politische Ge­schehen unserer Zeit wirklich zu begreifen versuchen, desto mißtrauischer werden wir gegenüber allen Bemühungen einer vorschnel­len Systematisierung, des Einordnens von Per­sonen und Ereignissen in zu einfache Katego­rien, wie sie von einer populären Spielart der Soziologie und des politischen Journalismus leider oft geübt wird. ·

Mit dem Begriff "links" verbinden ·sich als gül­tiges Kennzeichen somit nur gewisse generelle Tendenzen. Die "Linke" erstrebt die Wand­lung der überkommenen politischen und ge­sellschaftlichen Ordnung mit dem Anspruch, den Menschen durch die Beseitigung hierar­chischer Ordnungen ein besseres und glück­liches Leben zu ermöglichen. Soweit sie selbst r egiert und ihre konkreten innenpolitischen Ziele zunächst verwirklicht hat, verlagert sich dieses Programm oft in die Sphäre der Außen­politik, sei es unter dem Vorzeichen einer all­gemeinen sozialistischen und humanistischen Solidarität, der kommunistischen W eltrevo­lution oder der antikolonialistischen Pa­rolen in den Entwicklungsländern. Die ,,lin­k en" Gruppen sind so durch revolutionäre oder grundlegende reformerische Zielsetzun­gen bestimmt. Diese entziehen sich jeder all ­gemeinen W ertung und können nur in der un­e ndlichen Vielfalt politischer Situationen in­dividuell begriffen und beurteilt werden. Der Kampf eines Fidel Castro 1 gegen eine Rechts­diktatur fi.ir innere Preiheit und soziale Ge­rechtigkeit in Kuba fand die Sympathien der ganzen westlichen Welt. Aber hinter diesen "linke.n" Parolen eines scheinbar dethokrä· tischeil Sozialismus verbarg sich ein neuer totalitärer Anspruch, der schließlieb in ein kommunistisches System einmundete. Die Rechtsdiktatur wurde von der Linksdiktatur abgelöst. Ob dies für d!e Menschen Kubas auch nur ein relativer Fortschritt ist, bleibt seht zweifelhaft.

Die "Linke" betont die Funktionen des Sta:l­tes im wl rtschaftlichen und sozialen ß(.)reich, zur Daseinsvorsorge füt den e,inzelnen und Einebnung überkommener fiierarch!en. Dies war nicht immer so; die europäischen Links­liberalen des au:;gehenden 19. Jahrhufid!'lrts

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standen einer aktiven staatlichen Sozialpollt.ik ungleich sk pt!scher gegenüber als die mei­sten Konservativen. Aber seitdem die Begriffe .. links'' und .. sozialistisch" in eine engere Be­ziel1ung traten, ist dle Oberzeugung von der Notwendigkeit umfassender staatlicher Inter­ventionen im Okonomischen ein typisches Merkmal der .. Linken". Auch hier bleibt die Kennzeichnung notwendigerweise vag_e. Ob ini kommunistischen System mit der Parole von der Diktatur des Proletariats der omnipo­tente Staat den einzelnen total beherrscht, oder ob die Eingriffe sich im demokratischen Verfassungsstaat mit sozialistischer Regierung in legalen Formen, also nach den Normen des Rechts, vollziehen, ist ein ganz entscheidender qualitativer Unterschied.

Aber auch innerhalb der nichtkommunistischen Welt ist eine weitgehende Differenzierung notwendig. Tiefgreifende soziale Reformen sind für viele Staaten Asiens Und Südameri· kas angeslchts des rapiden Bevölkerungs­wacllstums und der kommunistischen Heraus­forderung zweifellos ein lebenswichtiges Gebot. Doch die konkrete Gestalt der .. linken", auf einen Wandel drängende Gruppen ist gerade in diesen Kontinenten wenig einheitlch. In einigen Ländern, vor allem in Mexiko und Venezuela, haben sich .. linke" Parteien sozia­listischer, christlich-sozialer oder republika­nischer Prägung durch sichtbare Leistungen als wettbewerbs- und handlungsfähig gegen­über der totalitären Gefahr erwiesen. Ande­rerseits sind in Argentinien, Brasilien und mehreren kleineren Staaten .,linke" sozial­reformerische Kräfte aus ideologischer Verwor­renheit oder dilettantisChem taktischen Kal­kül politische Bündnisse mit den Kornmurristen eingegangen, über deren Gefährlichkeit nach dem kubanischen Beispiel kein Zweifel mehr bestehen kann. Das gleiche gilt für maßgeb­liche "linke" Gruppen in einigen asiatischen und afrikanischen Ländern, vor allem in Cey­lon, Lfidonesien und Ghana.

Jedoch selbst bei einer kl&ren Abgrenzung zu totalitären Tendenzen hat der "linke" Weg keineswegs immer die besten Ergebnisse für den politischen und sozialen Fortschritt in rückständigen Staaten gebracht. Die Forde­rung nath grundlegender Reform oder Revo· lution kann uneingest:hränkt geboten sein, wenn in mnnchen Entwic:klungsländern die Staatsführung mit kleinen, immobilen und korrupten Feudalgruppen identisch ist, die jedes Fortschreiten zu modernen formen öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens ver•

hindern. Sie erscheint jedoch in solchen Län­dern fragwürdig, ja gefährlich, die (wie z. B. Japan, Malaya oder die Philippinen) mit dem System einer freieren Wirtschaft und legal gewählten Regierungen für ihre Bürger we­sentliche größere Erfolge errungen haben, als vergleichbare sozialistische Staaten. Die Frage, ob und in welchem Umfang die .. lin­ken" Rufe nach einem grundlegenden Wandel und mehr staatlichen Interventionen begrün­det sind, ist somit auch für die &:ntwicklungs­länder nicht generell zu beantworten.

Dieser Hinweis auf praktische Beispiele, be­stimmte politische Gruppierungen und Kon­stellationen mag genügen. Er erscheint mir für die Diskussion von Begriffen unerläßlich, wenn sie nicht ih ideelogtscher Abstra.ktiön, Wunschdenken oder geis tvollem Feuilletonis­mus enden soll. Der kurze, durchaus spöta­dische Ausblick auf die politische Wirklichkeit in ihrer unendlichen VieHalt soll die These verdeutlichen, daß die Vokabeln "links" und .rechts" nur nocll Hilfswörter sein können, die ohne eigenen Aussagewert sind und in jedem Einzelfall der Präzisierung durch Hauptwör­ter und einer genauen, situationsbezogEmen Beschreibung bedürfen. Sie werden wahP scheinlieh auch in Zukunft unentbehrlich sein. Aber wenn wir uns gegen jeden Versuch wehren, sie absolut und autonom zu setzen, wenden wir uns zugleich gegen ein Denken in den Klischees und Fronten von vorgestern, die auch im modischen Aufputz avantgardisti• scher Literatur veraltet sind.

In Deutschland scheinen seit 1945 die geistes­gesdlichtlithen und realpölitischen Voraus· setzungen für neue, zeitgemäße Denk· und Organisatimisformen gütlstlger zu sein als jemals zuvör. Es gibt bei un! aber viele Men · sehen, die nach den Oberspanntheilen eiheJ totalitären Weltanschauung, eines verlogenen politischen Messianismus, tief enttäuscht sind

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und Politik jetzt nur noch vordergründig als nackten Macht· und Interessenkampf sehen wollen. Sie merken dabei nicht, wie sehr sie wieder einem falschen Vorurteil, diesmal un• ter den entgegengesetzten Vorzeichen der Verneinung oder Skepsis, verfallen.

Daneben bestehen die alten idMlogischen Positionen der .Rechten· und .,Linken" frag­mentarisch in e-iner gewandelten Welt weiter. DiM wird bei uns in bMonders peinlicher Weise bel manchen ze itgeschichtlichen und tagespolitlsthen Diskussionen über den Nati­onalsozialismus und Kommunismus, die .. rech­te" oder .linke" Diktatur, deutlich. Wir er­leben unter beiden konträren Vorzeichen imtnet wieder den offenen oder unausge­sprochenen Ver uch, die zwei Systeme unter moralischem Vorzeichen grundlegend quali­tativ zu unterscheiden, das aktive Bintreten für die eine öder die andere Herrsc:haftsform in der Bewertung von Persemen und Ereig­nissen a priori, ohfie genaue wissenschaft­liche Prüfung der Einzelsituation, verschieden zu bewerten.

Um so eindeutiger müssen wir den Trennungs­strich zur extremen ,.Rechten" und .Linken" gleichermaßen ziehen. Im freiheitlichen Rechts­staat sollen die wesentlichen Prinzipien Ge­meingut aller demokratischen Kräfte sein. Begritte wie Freiheit, Rech t, Loyalitä t zur Verfassung und soziale Veran twortung, sind nitht das Reservat einer politischen Richtung. Es bleibt genug an wiChtigen, ti efgreifenden ünterschieden. Aui poiitische Vokabeln zur Kennzeidmung der verschiedenen Gruppen und Tendenzen können wir nicht verzichten. Abet in den Namen unse rer Parteien, in Ihren Programmen und der allgemeinen ernsthaften Diskussion übet Fragen des Staates finden wir geeignetere Begriffe für h1Öglichst prä· zise Analysen und Aussagen, als in dem a lten Schema .. rechts" und .links''.

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Helmut Schmidt

Was bedeutet heute eigentlich "rechts"?

In den politischen Nachschlagewerken erfährt man, daß die Bezeichnungen rechts t1nd links aus der Anfang des 19. Jahrhunderts in Frank­reich aufgekommenen Sitzordnung der Parla­mente herrühren, wie sie sich in den meisten Ländern des europäischen Kontin~nts im Laufe der Zeit eingebürgert hat. Ursprünglich pflegten zum Beispiel - vom Präsidenten des Hauses aus gesehen - im Deutschen Reichs­tag im 19. Jahrhundert die Liberalen links zu sitzen. die katholische Fraktion in der Mitte und die Konservativen rechts. Wer in bezug auf jene ZeH von der sogenannten • Rechten" spricht, weiß also genau, was er meint. Und wenn eine von den Liberalen oder Freisinni­gen abgespaltene Gruppe sich zu~ politischen Zusammenwirken mit den Konservativen ent­schloß, so konnte man mit Eindeutigkeit sagen: sie schwenken nach rechts. Heute - ein Jahr­hundert später - ist das mit gleicher Eindeu­tigkeit auch nicht entfernt mehr möglich.

Liberal- Zentrum_: Konservativ: diese stark vereinfachte Reihe innerpolitischer Grund­attitüden oder Ideologien glich einem kon­tinuierlichen Spektrum von Farben - wenn auch mit vielen Zwischenschattierungen und . zum Teil unmerklichen Ubergängen. Die Par­teiprogramme und grundsätzlichen Schriften der politischen Parteien Deutschlands ließen in ihrer Entstehungszeit gleichwohl eine ziem­lich weitgehende Subsummierung unter die drei genannten Hauptrichtungen zu. Damit war auch die Identifizierung mit .links", .Zen­trum • und • rechts • als parlamentsinterne, quasi Sitz- geographische Ortsbestimmung eine klare Sache. Mit der Gründung des Bis­marck-Reiches kamen dann die Sozialdemo­kraten hinzu; sie saßen selbstverständlich links von den Liberalen, weil ihre Vorstellung von Parlament, Demokratie, Volksherrschaft, und sozialer Gestaltung wesentlich radikaler war als diejenige der Liberalen, die sid1 später endgültig spalteten, und zwar in einen Teil der links vom Zentrum, und einen ande­ren Teil, der rechts vom Zentrum lokalisiert war. Anno Weimar saßen dann also links die Sozialdemokraten und die fortschrittlich Libe­ralen (die sich damals Deutsche Demokratische

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Partei nannten); rechts saßen die National­liberalen, die sich nunmehr Deutsche Volks­partei nannten, und die ehemaligen Konserva­tiven, die sich jetzt Deutsch-Nationale nann­ten. Mit dem Ende des Weltkrieges waren je­doch schon neue politische Kräfte in Erschei­nung getreten; wenn wir im Bilde des Far­benspektrums bleiben wollen, so könnten wir die Kommunisten als Ultra-Linke und die Na­tionalsozialisten als Ultra-Rechte bezeichnen.

Diese beiden bewußten Totengräber des ersteil Demokratie-Versudles der Deutschen haben in mancher Leute Augen die Vorstellung von rechts und links suspekt gemadlt und diskre­ditiert. Da sie beide gleicherweise für totali­täre Herrsdlaft von ziemlidl ranggleidler Scheußlidlkeit stehen: wieso soll eigentlich Hit­ler zur sogenannnten .. Rechten", Ulbridlt zur . sogenannten .Linken• gezählt werden? Die Nationalbolschewisten der Weimarer Zeit hät­ten ja dann als .Zentrum" angesprodlen wer­den müssen! Und wenn wir von den Totalitä­ren absehen und nur unsere heutigen Parteien betrachten; was bedeutet heute eigentlidl: .rechter Flügel" der SPD oder .linker Flügel" der CDU? Sind die sogenannten .Rechten" in der SPD etwa konservative Sozialdemokraten, sind die sogenannten • Linken • in der CDU/ CSU etwa die liberalen Katholiken? Offenbar wäre eine solche Definition ziemlich irre­führend.

Wenn Männer wie Willy Brandt oder Herbert Wehner als .rechte Sozialdemokraten" be­zeidlnet werden (wie es aus kommunistisdlem Munde häufig gesdlieht - beiläufig gesagt -in der Absidlt, diese Männer herabzusetzen): werden sie so bezeidlnet, weil sie etwa kon­servativ sind? Sie sind in Wahrheit dodl sicher vnn sehr viel weniger konservativer Haltung als jene ihrer Parteifreunde, die krampfhaft an tradierten, angeblich .. marxistisdlen • Theo­rien festhalten und sich weigern, ihre Theo­rien entspredlend der längst veränderten ge­sellsdlaftlidlen, wirtsmattliehen und politi­schen Wirklichkeit zu korrigieren.

Was heißt also eigentlich heute .rechts"? Diese Frage erscheint beredltigt. aber schwer

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zu beantworten. Und mir will scheinen, daß viele Menschen sie - je nach ihrer politischen und historischen Bildung, je nach ihrem ge­sellschaftlichen Standort, ja nach ihren Tra­ditionen und ihrer persönlichen Umwelt -völlig verschieden beantworten.

Während fast jedermann weiß, welches die linke Seite seines KÖrpers ist, nämlich die­jenige, wo sein Herz sich befindet - und wel· ches die rechte Seite, nämlich diejenige, wo der Blinddarm sitzt, so wird doch jeder auf die Frage, was politisch die Kategorien .,links" und .. rechts" bedeuten, seine eigene, höchst· persönliche Antwort geben.

Da ich weder Soziologe noch Philologe, viel­mehr überhaupt kein Wissenschaftler bin, kann ich mich der Frage kaum wissenschaft­lich nähern. Jedoch muß ich gestehen, daß auch die Erfahrungen und Einsichten, die. mir als praktischem Politiker zur Verfügung stehen, die Antwort darüber, was denn eigent­lich .rechts" sei, nicht leicht machen. Vielleicht läßt sich die Antwort gar nicht mit solch hin­reichender · Allgemeinverbindlichkeit geben, als daß der Begriff .rechts• überhaupt noch brauchbar wäre.

Ich habe nun eine ganz kleine private Mei­nungsforschung betrieben und über zwölf Leute gefragt, die sich selbst zum größten Teil wohl für .Linke" halten würden. Sie haben auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs .rechts• folgende Antwort gegeben: Konservativ, reak­tionär, national, nationalistisch, faschistisch, nazistisch, antidemokratisch, autoritätsbedacht, autoritär, militärfromm, militaristisch, hier­archiebetont, völkisch, rassisch, antisemi­tisch, reichsbewußt, ständisch, bürgerlich, ari­stokratisch, feudalistisch. .Rechts• erweckte bei meinen Gesprächspartnern Assoziationen wie Thron und Altar, Reichsidee, Adel, Groß­kapital, Besitz, Privilegien, Oberklasse, ge­werkschaftsunfreundlich, unsozial, antisozial, rückschrittlich, Restauration, Metternich, Bis­marck, Wilhelm ll, Generalstab, .die Kriege werden immer von den Rechten angezettelt", Hugenberg, Kurt Schumacher, Bauerntum, Blut und Boden, Richter und Staatsanwälte, Gymnasial-Studienräte, Offiziere, Unterneh­mer, Bischöfe. • Rechts • sei ein Leitbild der Oberschichten, auf daß sie sich als Formel einigten, um ihre Privilegien zu verteidigen, .rechts• sei ein Leitbild, das sich an der .gu­ten alten Zeit" orientiere, .rechts• sei ein Leitbild der Konvention, der Ruhe und Ord· nung und schließlich: .rechts• sei ein bestimm­ter Stil.

Auf meine Frage: wie man diesen Stil denn bezeichnen könne, kamen folgende Assozia­tionen: Zylinder, steife Hüte, Handkuß, Frack, Orden, Marschmusik, Richard Wagner, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Oswald Spengler, Ortega y Gasset, Ferdinand Hodler, eigen­artigerweise auch Adolph v. Menzel (während übrigens sehr viele epochemachende Maler der letzten drei Generationen mit .,links" assoziiert wurden).

Eigentlich liefen alle diese Antworten darauf hinaus, .rechts• sei das, was man im Rahmen des immerhin zulässigen weniger sympathisch, weniger moralisch, weniger überzeugend, we­niger gerecht, weniger angemessen fand. Wahrscheinlich versteht derjenige, der sich selbst für einen Linken hält, unter .rechts" vornehmlich ihm unsympathische Dinge. Und derjenige, der sich für einen Rechten hält, versteht unter .rechts• vornehmlich ihm sym­pathische Inhalte. So war es zum Beispiel nicht unlogisch, von konservativen Gesprächs­partnern zu hören, Cool Jazz sei .links", Pi­casso sei .links", überhaupt die ganze ab· strakte Malerei, Umsturz und Revolution seien ., links", Auflehnung und Gewalt, ebenso Klassenkampf, Freidenkertum, Wohlfahrts· staat, . Die Masse •, sagte jemand.

Meine Gesprächspartner wa.ren alle nicht ge· rade ungebildet, im Gegenteil. Zunächst glaub­ten sie vielfach, es sei eine ganz leichte Sache, zu definieren, was .rechts• ist und was .links". Je länger aber das Gespräch, des to diffuser wurde der Begriff, um den es sich drehte. Ich muß gestehen: auch mir selbst wurde er immer diffuser.

. Rechts• und .links" sind offensichtlich sehr relative Begriffe, die nur noch sehr einge­schränkt von ihrer Entstehungsgeschichte her begriffen und benutzt werden. Sie sind offen­bar beide relative Begriffe: ihr Inhalt ergibt sich jeweils aus der Reactio, aus der Reagenz auf etwas Unerwünschtes. Und eigentlich läßt sich nicht viel mehr sagen, als dieses: nRechts• ist, wer sich selbst dafür hält.

Deutlich ist dieses: wenn wir die Ultra-Linken und die Ultra-Rechten außer Ansatz lassen dann haben sich in den letzten 100 Jahre~ die Begriffsinhalte von .rechts• und .links" gegenseitig weitgehend durchdrungen: auch die Rechten sind heute weitgehend für soziale Gerechtigkeit, für Demokratie und allgemein gleiches und geheimes Wahlrecht, für Voll­beschäftigung, für die Menschenrechte; auch die Linken sind heute gegen Umsturz, Revo-

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lution, gegen Enteignung, geg~Jn eine soge­nannta Diktatur des Proletärittts, gegen einen Ma.ssanmythos.

Am ehesten mogen viele unserer Mitbürger sich noc:h an ihrem personlichtln sozialen Sta­tus orientieren. So gibt es ohne Zweifel eine Menge Arbeiter, die auf Befragen ttotz eige­nen Grundbesitzes, Haus, Auttt oder ande­rer Attribute des Besitzes, stolz erklären wür­den, daß sie .. links" seien, weil aie Arbeiter sind. Es gibt gleichermaßen SeaitHe und An­gestellte ohne Grundbesitz und in wirtschaft­lich schlechteren Verhältnissen als jene Arbei­tet, die auf Befragen ebenso stolz erklären würden, daß sie .rechts" seien, weil sie sich zum Mittelstand rechnen. Das läßt aber eigent­lich nur den Schluß zu, daß es sich hier um er­erbte Vorurteile handelt. Politische Standort­bezeidmungen, die zur Zeit ihrer Väter oder Großväter noch durchaus bewußt zu begründen waren und Berechtigung in sich trugen, sind kritiklos übernommen worden, ohne daß der Tat~ache Rechnung getragen wurde, d.aß die Bedingungskonstellation unserer gesamten Umwelt sich in der Zwischenzeit so verändert hat, daß diese Standpunktbe:lieichnungen nach ihrem inneren Gehalt kaum noch viel aus­sagen.

Wer zu den sozial und wirtschaftlich schwäche­ren Schichten gehört, tendiert in größer Zahl nach .links'', und zwar weitgehend aus Tradi­tion ~ wer zu den Oberschichten gehört, na<::h .. rechts" - ebenso aus Tradition. Wir wissen allerdings, daß hiet die Ausnahmen immer zahlreicher werden, wie ja auch die Exklusivi­tät der Schichten und Klassen in einer fortge· schritteneu modernen Gesellschaft fortlaufend abnimmt. Und mit steigender Mobilität der Ges!:!llschalt verliel't der alte K1allSenbegrifJ ~t­wa Engelsscher odllr Matx~cMr Prägung sei­nen Inhalt. So werden heute tlie Obetsthic.'hten unsatet Gesilllsc!Hllt k~irU!sWegs auc:h nur eitligetmtt/Jen zutr(lflend durd1 däs Eigentum an Produktionsmitteln d'HltillWlt!siert. Die SO· ziologen sprechen heute st&tt de!iSen von drei verschiedenen ObE!rschichten:

a) der .. Macht-Elite",

b) det wirtsclläftlichen Oberschicht,

c) der Prestige-Oberschicht.

Unabhängig von seintun Anteil art der Macht und uhabhängig von seiner fil&nchnutl sehr b(!• scheidenen wirtschaftlichen La{Ie zählt ein Lord in England immer noch zur Prestige•Obersdlid1t, ein ordentlicher Professor in Deut11d1land des• gleichen. Unabhängig von dem Ausmaß ihres

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allgemein respektierten Prestigas und ihrer be&cheidenen Wirtschaftlicheil Lage muß man aber heute eben~o bestimmte Gewerkschafts­führer, politische Führer und Funktionäre der Linken, Funktionäre in Parlament oder Regie­rung zur Madlt•Elite rechnen. Und es gibt in der wirtschaftlichen Oberschicht Tausende, die abg~sehen von ihrer engeren Umgebung weder allgemein anerkanntes Prestige notll Antell an den Mathtfutiktionen vol'l Staat oder Ge­selischaft besitzeii. lm feudalen Zeitälter fiel das alles noch in der gleichen Person und in einer einheitlitnen Oberschicht zusa.l'hmen ~ heute scheint es auseil'lafider zu streben..

Zwar haben viele derjenigen, die zu den skiz­zierten heutigen drei Oberschichten gehören, sich den ursprunglic:hen pölitisehen Ctundatti­tüderl der früheren Oberschicht angepaßt, d. h. also: den ursprünglich Konservativen; insofern stehen sie sicherlich .rechts". Aber es sind audi viele it1 die ObersChichten gelangt, die sich als bewußte Gegner könsetv!Hiver Grund­haltung verstehen. Nicht nur, daß auch die Laböur-Patty selt mehr als einer Generation über Lords verfügt - auch in Deut~cnland gibt es umgekehrt in :zunehmend~r Zahl z. B. Bankiers, Kirchenfürsten und staatliche Macht­haber, die sich als linke verstehen.

Di~ soziologisch~ Zugehörigkeit zu den Ober­sthiCiiten legt ln :wnehmeMerrt Maße nicht mehr allgemein den politischen Standort lest. Ein gleiches -gilt cum grano salis fur die Mittel­sdJ.iehten und erst recht filr die Sc:hichten der wittsthaftlich Sthwätheren und derjenigen, die überhaupt keinen Anteil an irgendwelcher Macht Und kaum Prestige äi!!; Schicht besitzen: Gerade in det Arbeiterschaft finden wir heute viele, die seht bewußt und überlegt ablehnen, .. links" zu wählen. Und manche kleinen Leute wähien übrigens unbewußt deshalb .rechts'', weil sie ruehr gelten möChten, als sie tatsäch­lich gelten. Es wäre also wohl unzutreffend, wenn wir heute sdtlechthifi dit:! OberschidJ.ten ais .. rethts" und die unteren Schichten als .. links" einstufen Wöllten. Zwat vermag die Tradition sehr viel. und immer Iloch hält sich die Mehrheit unserer Offiziere und Juristert für Rethte, die Mehrheit der Atbelter für Linke, aber die Dinge sind im Fluß ~ und sie werden kaum Wieder etstatren.

Und so, wie die politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts verblassen, so verblassen auch die . ursprünglich klaren Grenzen zwischen .rechts" und .links". Sicher jedoch werden wir auch in Zukunft sozialpolitische Reaktio­näre nach .rechts" einstufen oder Fortschritts-

Fanatiker nadl .links". Aber warum eigent­lich der argentinisdle Diktator Peron als Rech­ter angesehen wird, der kuhanisehe Diktator Castro hingegen als Linker: das wird immer zweifelhafter werden; denn beide sind keine Demokraten, beide stützen sich politisch auf die gleichen großen Schichten der Besitzlosen jener Länder. Und warum ist Tito ein Linker, Franeo ein Recbter? Beide regieren mit Hilfe rücksichtsloser Staatsallmacht, der eine stützt sim auf alte Oberklassen, der andere auf neue Oberklassen; und beide werfen den ins Ge­fängnis, der dies zu kritisieren wagt. Beide benutzen totalitäre Ideologien zur Legitima­tion, belde lassen den Willen zur Gerechtig­keit auf das Schwerste vermissen.

Oder sollte für die Einstufung nadl • rechts" und .links" die Stellung zur Kirche maßge­bend sein? Soweit die Kirme in unserer Zeit politisiert, so tut sie es meist zugunsten der Rechten, die katholische übrigens stärker als die evangelische. Noch vor knapp 100 Jahren aber stand in Deutsmland die katholische Kirche links von jener evangelischen Kirche der Thron- und Altar-Epoche. Kann man des­halb sagen, die katholisd1e Kirche habe. in­zwismen ihren Standort gewechselt? Oder hat sie nur - in einem schnell fortschreitenden gesellsdlaftlichen Prozeß - besonders statio­när an ihren politischen Auffassungen festge­halten, die noch im 19. Jahrhundert (denken wir an Ketteler oder Kolping) besonders fort­schrittlich waren und ist insofern nur relativ nach rechts gerückt?

.Rechts" und .links" 'sind wohl nur relative Klassifizierungsbegriffe - übrigens von aller­gröbster Qualität. Wie ist es zum Beispiel mit den heutigen Nachfahren des deutschen Libe­ralismus, der ursprünglich als .links" ange­sehen wurde? Heute legt Eridl Mende großen Wert darauf, im Bundestag rechts von der CDU zu sitzen, die weiß Gott nicht nur Kon­servative beherbergt, sondern sicher auch Po­litiker, die sich dem liberalen oder sozialen Gedanken verschrieben haben, und außerdem sogar einige Leute, die in meinen Augen sdllidlt Reaktionäre sind.

Hält Mende sich für konservativer als die CDU-Vertreter sdlleswig-holsteinischen Bau­erntums oder für nationaler als Franz Josef Strauß? Oder geht es bei dieser Placierung nur ganz einfach um Wähler-Psymologie? Falls aber dies letztere der Fall sein sollte: wieso könnte denn ein Mann wie Thomas

sprüngliche Ideologie des Liberalismus ist in­zwischen weitgehend in die Vorstellungswelt der Sozialdemokraten, der Konservativen und auch sogar der Katholiken eingegangen: Die heutige FDP hat keine eigene, nur ihr zuge­hörige Ideologie, die sie als .links" von den Konservativen fixieren könnte. Auch die CDU/CSU besitzt keine eigene, nur ihr zuge­hörige Ideologie, sie hat aber den größten An­teil an der Macht, und in der Bestrebung, sid1 diese zu erhalten- nicht eines programmati­schen Konservatismus wegen -, verhält sie sid1 in dieser und jener Situation statisch und stationär. Und die Sozialdemokratie? Sie hat ihre Ideologie nach 1945 radikal überprüft, zum Teil erneuert, zum großen Teil beseitigt. Sie ist insofern keineswegs konservativ, was sie bis 1933 in erheblichem Maße war, sondern im eigentlichen Wortsinne fortschrittlich. Des­wegen also könnte man sagen, sie sitzt zu redlt auf der Linken.

Aber wenn ich mich selbst frage, ob ich ein Linker bin - so müßte ich sagen: wahrschein­lich, denn ich stimme überein mit dem Fort­schritt in der Sozialdemokratie. Aber ich müßte bekennen, daß ich auch an manchen Tendenzen und Auffassungen in der FDP und in der CDU Gefallen finde. Wer im Grundsatz alles ablehnen wollte, was die gegnerische Partei tut und denkt, der wäre wohl im eigent­lichen Wortsinn reaktionär. In diesem Zu­sammenhang mödlte ich ein Wort von Fritz Erler zitieren: ,.Die Vorstellung aber, daß die Opposition immer links sein müsse, höhlt das demokratische Wechselspiel aus. Die Freiheit des Bürgers ruht in der Chance des Wedlsels der Regierung. Nur eine Regierung, die fürch­ten muß, weggewählt zu werden, geht mit der Freiheit der Bürger sorgsam um. Nur eine Opposition, die damit rechnen muß, morgen zu regieren, ist gezwungen, sidl von skrupel­loser Demagogie freizuhalten. Deshalb darf man nidlt ,links' und Opposition gleichsetzen (und ich füge hinzu: ebensowenig "rechts" und Regierung), sondern muß die Funktionen von Regierung und Opposition zwischen ,links' und ,rechts' zu tauschen imstande sein. Dann sind wesentliche Aufgaben jeder Opposition die Kontrolle des Staatsapparates und der Schutz der Bürger vor Mißbrauch der staat­timen Gewalt. Die Partei ist immer nur ein Teil des Ganzen." ·) Und ich füge wieder hin­zu: Die Ultralinken und Ultrarechten aber sind Feinde des Ganzen! .

Dehler zustimmen? Andererseits: Die ur- *) in: Der Monat, Dezemberheft 1961, s. 48.

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Links und rechts sind relative Begriffe -ebenso wie groß und klein, laut oder leise, schnell und langsam. Der Maßstab ergibt sich immer nur aus der konkreten historischen Situation, er gilt auch nur für diese! Was heute vor 60 Jahren im 100-m-Lauf eine erstklassige, eine Weltklasse-Zeit gewesen ist, das errei · chen heute viele Primaner. Was vor 50 Jahren eine technische Großtat war, ist heute alltäg· lieh. Was 1914-1918 schrecklich war; ist durch Stalingrad, Auschwitz und Hiroshima weit überboten worden. Was 1891 Hauptbestand· teil einer linken Politik war, parlamentarische Demokratie, Menschenrechte, Sozialversiche· rung, Rechtsstaatlichkeit: heute wird es von der Rechtengenauso akzeptiert. Und wenn da· mals von der Rechten gewaltsamer Umsturz und Revolte als Mittel zum Fortschritt be­kämpft wurden, so hat heute die Linke gleiche Einstellungen.

Wir werden die Begriffe von .links" und ,.rechts" nicht ausrotten wollen- es auch gar nicht können. Wenn aber die Diskussion einen Zweck haben könnte, dann diesen: laßt uns in der politischen Auseinandersetzung nicht mit verschwommenen, diffus gewordenen Be· griffen und Begriffsnamen arbeiten, sondern konkret und greifbar sagen, was wir wollen, wie, wann, unter welchen Bedingungen, warum

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wir es wollen, zu wessen Nutzen, auf wessen Kosten, unter Inkaufnahme welcher Neben­effekte oder Nachteile. Und ebenso umge­kehrt: was wir nicht wollen.

Wir nützten und hülfen uns gegenseitig sehr viel mehr, als wenn wir damit fortführen, uns bei vielen unpassenden Gelegenheiten gegen­seitig Oblaten aufzukleben, wie .links" oder "rechts"; denn diese bedeuten im politischen Tagesgeschehen doch eigentlich nichts anderes, als Freund oder Feind, ohne das gegensei-tige Verständnis zu fördern.

Zum Schluß jedoch eine Diskussionsbemer­kung von Wa,lter Dirks: .. Nichts ohne Not än-

. dem, ist das stille Bekenntnis der echten Rech­ten. Das Notwendige tun, ist der lautere Wille der Linken". •) Offenkundig schließt aber das eine das andere nicht aus. Ich würde die Formel von Dirks akzeptieren: sie läßt gleich­zeitig erkennen, wie nahe sich im Grunde doch .. rechts" und .links" sind. Schließlich sitzen wir ja auch alle im gleichen Boot, und Backbord und Steuerbord können nicht unab­hängig voneinander operieren, sondern sie bilden zusammen ein Schiff, das seinen Kurs im Strom zu bestimmen hat.

*) Zitiert nach Horst Krüger, Was ist heute eigent­lich links?, in: Der Monat, Oktoberheft 1961, S. 15.