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Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag X B Sandbostel: Verwaltung, Arbeitseinsatz, Massensterben Auf der Kriegsgräberstätte in dem kleinen Dorf Sandbostel, ungefähr 60 km nordöstlich von Bremen, ist eine unbekannte Anzahl von sowjetischen Kriegsgefangenen beigesetzt. Knapp 4.600 der Toten sind namentlich bekannt, 1 die Gesamtzahl lässt sich nicht seriös schätzen, lag aber deutlich höher. Gepflegt wird der Friedhof von der Gemeinde Sandbostel und vom Volksbund Deutsche Kriegsgräber- fürsorge. Das Engagement für die Pflege dieser Grabstätte wird gera- de auch von den Familien der Toten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wahrgenommen und hoch gelobt. Und dennoch wird hier nicht nur der Toten gedacht, gleichzeitig wird – ob bewusst oder unbewusst – ihr Schicksal verschleiert. Denn die Bezeichnung als Kriegsgräberstätte impliziert, dass es sich hier um Opfer von Kampf- handlungen handelt, ähnlich der toten deutschen Soldaten auf den Friedhöfen. Verdeckt wird dadurch jedoch, dass es sich nicht – wie nach der offiziellen Diktion – um Kriegsopfer handelt, sondern um Opfer eines Verbrechens, eines Gesellschaftsverbrechens des natio- nalsozialistischen Deutschlands mit vielen Verantwortlichen, noch mehr Zuschauern und nur Wenigen, die sich ihm entgegengestellt haben. Im Kern geht es darum, dass der Tod der sowjetischen Kriegs- gefangenen keine bedauerliche, aber unabwendbare Kriegsfolge war, sondern zwingende Konsequenz der Umstände ihrer Behandlung und ihres Arbeitseinsatzes. Dies wird im Folgenden exemplarisch an eini- gen Vorgängen im Bereich des Stalag X B Sandbostel verdeutlicht. Die Gedenkstätte Lager Sandbostel gestaltet derzeit eine neue Dauer- ausstellung. Daher wird am Schluss auch knapp auf die Frage einge- gangen, welche Inhalte in den Gedenkstätten an den Orten ehemali- ger Kriegsgefangenenlager vermittelt werden können und welche Unterschiede es dabei zu den KZ-Gedenkstätten gibt. 11 Jens Binner

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Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag X B Sandbostel: Verwaltung, Arbeitseinsatz, Massensterben

Auf der Kriegsgräberstätte in dem kleinen Dorf Sandbostel, ungefähr60 km nordöstlich von Bremen, ist eine unbekannte Anzahl vonsowjetischen Kriegsgefangenen beigesetzt. Knapp 4.600 der Totensind namentlich bekannt,1 die Gesamtzahl lässt sich nicht seriösschätzen, lag aber deutlich höher. Gepflegt wird der Friedhof von derGemeinde Sandbostel und vom Volksbund Deutsche Kriegsgräber-fürsorge. Das Engagement für die Pflege dieser Grabstätte wird gera-de auch von den Familien der Toten in den Nachfolgestaaten derSowjetunion wahrgenommen und hoch gelobt. Und dennoch wirdhier nicht nur der Toten gedacht, gleichzeitig wird – ob bewusst oderunbewusst – ihr Schicksal verschleiert. Denn die Bezeichnung alsKriegsgräberstätte impliziert, dass es sich hier um Opfer von Kampf-handlungen handelt, ähnlich der toten deutschen Soldaten auf denFriedhöfen. Verdeckt wird dadurch jedoch, dass es sich nicht – wienach der offiziellen Diktion – um Kriegsopfer handelt, sondern umOpfer eines Verbrechens, eines Gesellschaftsverbrechens des natio-nalsozialistischen Deutschlands mit vielen Verantwortlichen, nochmehr Zuschauern und nur Wenigen, die sich ihm entgegengestellthaben.

Im Kern geht es darum, dass der Tod der sowjetischen Kriegs-gefangenen keine bedauerliche, aber unabwendbare Kriegsfolge war,sondern zwingende Konsequenz der Umstände ihrer Behandlung undihres Arbeitseinsatzes. Dies wird im Folgenden exemplarisch an eini-gen Vorgängen im Bereich des Stalag X B Sandbostel verdeutlicht. DieGedenkstätte Lager Sandbostel gestaltet derzeit eine neue Dauer-ausstellung. Daher wird am Schluss auch knapp auf die Frage einge-gangen, welche Inhalte in den Gedenkstätten an den Orten ehemali-ger Kriegsgefangenenlager vermittelt werden können und welcheUnterschiede es dabei zu den KZ-Gedenkstätten gibt.

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Jens Binner

Jens Binner
Notiz
Quelle: Das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener 1941 bis 1945 (Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz 7), hg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, Mainz 2012, S. 11-35.
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Die grundsätzliche Politik gegenüber den sowjetischen Kriegsge-fangenen bzw. gegenüber der Bevölkerung in der Sowjetunion istinzwischen allgemein bekannt, so dass darauf an dieser Stelle nurkursorisch eingegangen wird.2 Bei dem Krieg gegen die Sowjetunionhandelte es sich um einen Vernichtungskrieg, der sich grundlegendvon den vorangegangenen Feldzügen im 2. Weltkrieg unterschiedenhat. Die rassistische Ideologie, mit der die Vernichtung des „jüdischenBolschewismus“ begründet wurde, teilte ein Großteil der in diesemFeldzug eingesetzten Funktionsträger, auch von der Wehrmacht undder Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten. Speziell gegenüberden sowjetischen Kriegsgefangenen wurde diese Ideologie durch denKomplex der sogenannten „verbrecherischen Befehle“ durchgesetzt,mit denen etwa die Erschießung angeblicher „Politkommissare“ in derRoten Armee angeordnet wurde oder Straftaten von Wehrmachtsan-gehörigen gegen die Zivilbevölkerung der Sowjetunion ungeahndetblieben. In der älteren Historiographie und vor allem auch in Erinne-rungsberichten deutscher Wehrmachtsangehöriger wurde immer wiederbehauptet, der sogenannte „Kommissarbefehl“ sei nicht bis zu den unte-ren Einheiten übermittelt und in der Regel nicht befolgt worden. Doch jedetaillierter man diese Frage wissenschaftlich untersucht, desto genauerkann man nachweisen, dass der Befehl jedem Wehrmachtsangehörigenbekannt war und flächendeckend befolgt wurde, während dieWiderstände gegen diesen Befehl Einzelfälle darstellten.3

Wenn die sowjetischen Kriegsgefangenen in Gefangenschaft gerieten,kamen sie in ein System, das ihnen – kurz gesagt – das Lebensrechtabsprach bzw. ihnen nur zugestand, wenn sie einen Nutzen für dieBesatzungsmacht darstellten, vorzugsweise als Arbeitskraft. Dass hier-in die Ursache für das Massensterben vor allem des ersten Winters1941/42 liegt und nicht in etwaiger Überforderung der deutschenMilitärbürokratie durch die Menge an Gefangenen, ist inzwischenklar herausgearbeitet worden. Der Krieg war darauf angelegt, in kur-zer Zeit enorme Massen an gegnerischen Soldaten gefangen zu neh-men und dass die Wehrmacht sich darauf nicht vorbereitet hatte lag

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schlicht daran, dass das Leben der sowjetischen Soldaten für die deut-schen Stellen keinen Wert hatte. In der allgemeinen Selbstüberschätzungnach dem Sieg gegen Frankreich, als der Überfall auf die Sowjetuniongeplant wurde, hatte man die Soldaten der Roten Armee nicht einmal innennenswertem Umfang als Arbeitskräfte vorgesehen, obwohl derMangel an Arbeitern zu den drängendsten Problemen der überhitztendeutschen Kriegswirtschaft gehörte. Man verließ sich darauf, dieSowjetunion noch 1941 endgültig besiegt zu haben und dadurch diedeutschen Soldaten wieder in die Fabriken entlassen zu können.

Das Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager Stalag X B in Sand-bostel spielte ursprünglich in Bezug auf die sowjetischen Kriegs-gefangenen keine Rolle.4 Die Planungen sahen vor, den Großteil derGefangenen hinter dem Frontgebiet oder im besetzten Polen zu belas-sen und ca. 500.000 Gefangene zur Arbeit ins Reichsgebiet zu trans-portieren. Diese Gefangenen sollten in den einzelnen Wehrkreisenjedoch nicht in den bestehenden Kriegsgefangenenlagern unterge-bracht werden, sondern in neu zu gründenden sogenannten„Russenlagern“. Im Wehrkreis X, der seine Zentrale in Hamburg hatteund Norddeutschland von der dänischen bis zur niederländischenGrenze umfasste, war dafür das Lager X D in Wietzendorf vorgese-hen. Die Zustände in den „Russenlagern“ konterkarierten den geplan-ten Arbeitseinsatz jedoch vollständig. Die erschöpften und unterer-nährten Gefangenen kamen in Lager, die im Wesentlichen aus derUmzäunung und der Bewachung bestanden, während die Unter-künfte noch nicht fertiggestellt waren. Schnell grassierten Seuchen,und ein Massensterben setzte ein. Trotz des schlechten Allgemein-zustandes versuchte man, die Gefangenen zur Arbeit einzusetzen,zunächst bei schweren Arbeiten an abgelegenen Orten, etwa zumBau von Entwässerungsgräben. Ab Herbst 1941 begannen auch Ver-suche, den Arbeitskräftemangel in der Rüstungsindustrie durch denEinsatz sowjetischer Gefangener zu beheben. Die daraufhin von denBetrieben eingehenden Berichte sprechen eine eindeutige Sprache.Bei den Francke-Werken in Bremen etwa waren innerhalb von knapp

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drei Wochen von 78 sowjetischen Gefangenen bereits acht gestorben– „infolge Unterernährung“, wie es offen hieß. Und dies, obwohl dasWerk die Gelegenheit gehabt hatte, ihre Arbeiter selbst in Wietzen-dorf aus einer Vorauswahl von 500 Gefangenen auszusuchen. DasWerk machte den festgelegten Verpflegungssatz des Oberkommandosder Wehrmacht, nach dem sich die Lebensmittelzuteilungen richte-ten, für den Hungertod verantwortlich.5 Aber natürlich trägt auch dasUnternehmen selbst Verantwortung: Trotz des sichtbaren körperlichenVerfalls der Gefangenen wurden sie weiterhin im normalen Arbeits-

ablauf des Werkes eingesetzt, und man war mit ihrer Leistung „sehrzufrieden“.6 Und so hängt die Beschwerde über die unzulänglichenLebensmittelrationen nicht so sehr mit der Sorge um die Menschenzusammen, sondern vielmehr damit, dass der Nachschub an

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Abb. 1: Sowjetische Kriegsgefangene auf dem Marsch vom Bahnhof Bremervördezum Stalag X B, Herbst 1941. Das Foto wurde von einem deutschen Wachmannaufgenommen. Originalkommentar auf der Rückseite: „Russen zum Kgf.-LagerSandbostel (Vermummt vor Kälte u. Hunger!)! (Gedenkstätte Lager Sandbostel)

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Arbeitskräften stockte. Denn im gleichen Schriftstück wird darauf hin-gewiesen, dass momentan aus den Lagern Wietzendorf und Sand-bostel keine weiteren Gefangenen zugeteilt werden können, weilbeide Lager wegen Flecktyphusseuchen unter Quarantäne standen.Trotz der Feststellung, dass die Vorschriften zur Behandlung der sow-jetischen Gefangenen die Produktion gefährdeten, änderte sichwenig. Noch ein Jahr später waren die Klagen der Unternehmen imBereich des Rüstungskommandos Bremen fast gleichlautend, nach-dem die zwischenzeitliche zusätzliche Verpflegung mit Schlachthof-abfällen wieder verboten worden war.7

Um die zunehmend chaotischer werdende Situation in Wietzendorfzu entspannen, wurden ab Ende September/Anfang Oktober 1941sowjetische Gefangene nach Sandbostel versetzt, das damit zum zen-tralen Aufnahme- und Verteilungslager für sowjetische Kriegsge-fangene im Wehrkreis X wurde, während Wietzendorf bald vorwie-gend Todkranke aufnahm und sich so zum Sterbelager entwickelte. InSandbostel wurde ein Lagerteil mit serbischen, französischen und bel-gischen Gefangenen sowie das mit polnischen Offizieren belegteOflag X A für die neu ankommenden Transporte geräumt. Die Gefan-genen wurden per Bahn bis nach Bremervörde transportiert undmussten dann die letzten knapp zehn Kilometer zu Fuß zurücklegen.Dass die Gefangenen extrem geschwächt in Bremervörde ankamenund es auf dem Weg in das Lager zu Gewalttaten bis hin zuErschießungen kam, ist durch die Fotoserie eines deutschenWachmannes belegt, die insgesamt sechs Aufnahmen umfasst. In denKommentaren des Fotografen auf der Rückseite der Abzüge wird offenausgesprochen, dass die Neuankömmlinge von „Hunger und Kälte“geschwächt waren. Ein Foto mit einem totem Kriegsgefangenen undeinem weiteren, der verängstigt im Gras liegend den Kameramannanblickt, wird nicht ohne Stolz kommentiert: „Erschossener Russe vonuns, weil Flucht auf Gemüseacker“. Aus zeitgenössischen Berichtenist jedoch bekannt, dass es sich bei dem Ausbrechen einzelnerGefangener in Richtung Ackerflächen in der Regel nicht um – in die-

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ser Lage völlig ausweglose – Fluchtversuche gehandelt hat, sondernum das verzweifelte Bemühen, im Vorbeigehen etwas Essbares mit-nehmen zu können. Ein Verhalten, das auch von vielen Arbeitgebernauf den Kommandos geschildert wurde, in der speziellen Situationdes bewachten Marsches jedoch schnell tödlich endete, denn die

Regeln der Wehrmacht für die Bewachung von Kriegsgefangenenschrieben klar vor, dass bei sowjetischen Gefangenen im Falle vermu-teter Fluchtversuche sofort gezielt geschossen werden sollte, währendGefangene anderer Nationen erst durch Warnrufe zum Anhaltenbewegt werden sollten. Das gezielte Schießen der Wachmannschaf-ten wurde auch praktiziert, wie zahlreiche entsprechende Belobigun-gen belegen.8

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Abb. 2: Sowjetische Kriegsgefangene auf dem Marsch vom Bahnhof Bremervördezum Stalag X B, Herbst 1941. Das Foto wurde von einem deutschen Wachmannaufgenommen. Originalkommentar auf der Rückseite: „Erschossener Russe vonuns, weil Flucht auf Gemüseacker. Auf d. Wege zum Kgf.-Lager Sandbostel.“(Gedenkstätte Lager Sandbostel)

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Bei der Versetzung nach Sandbostel wurde der Versuch gemacht, dieGefangenen nach Ukrainern und Gefangenen aus den übrigenGebieten der Sowjetunion zu trennen. Dazu wurden die Gefangenenzwei unterschiedlichen Kommandos zugeteilt, dem Kommando 110X D für die Ukrainer und dem Kommando 124 X D für den Rest. Ausden Markierungen auf den Personalkarten9 geht hervor, dass dieseNationalitätenzuschreibung auch überprüft wurde. Praktische Folgendieses Versuchs der nationalen Differenzierung – wie etwa eine mög-liche Besserbehandlung der Ukrainer – lassen sich nicht nachweisenund diese Kommandos tauchen auch nur bei den ersten Transportenim Oktober und November 1941 in den Quellen auf. Am ehestenlässt sich vermuten, dass die Lagerleitung versuchen wollte, aus den-jenigen Gefangenen mit der Nationalitätszuschreibung „Ukrainer“geschlossene Kommandos für besondere Arbeiten oder Hilfswach-mannschaften zu gewinnen. In mehreren Zeitzeugenberichten über-lebender sowjetischer Kriegsgefangener wird von ukrainischen„Polizisten“ berichtet, die in einer gesonderten Baracke innerhalb desLagerteils für die sowjetischen Gefangenen untergebracht waren.10

Selektionen hat es bei diesen ersten Transporten von Wietzendorfnach Sandbostel nicht gegeben; diese waren schon vorher in Wietzen-dorf durchgeführt worden, so dass sozusagen „saubere“ Transportedas Stalag X B erreichten. Auch später lassen sich keine Ausson-derungen nachweisen. Allerdings war im Juni/Juli 1942 mit mehrerenTransporten eine kleine Gruppe weibliche sowjetische Kriegsgefan-gene in Sandbostel angekommen, von denen bisher 15 namentlichbekannt sind. Es handelte sich dabei ausnahmslos um medizinischesPersonal, also Krankenschwestern und Ärztinnen. Diese Frauen wurdenAnfang August 1942 entweder den Arbeitsämtern als „Ostarbeiter-innen“ – also zivile Arbeiterinnen – zur Verfügung gestellt oder demKZ Neuengamme überstellt. Bis jetzt ist es aufgrund der lückenhaftenQuellenlage nicht gelungen, ein Muster darin zu erkennen, wer als„Ostarbeiterin“ eingesetzt und wer nach Neuengamme gebrachtwurde. Aus irgendeinem Grund waren sie bei der vorgesehenen

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„abwehrmäßigen Überprüfung“ ausgesondert worden.11 Von den 15namentlich bekannten sind vermutlich fünf im KZ Neuengammeerhängt worden.12

Im Oktober/November 1941, als die ersten sowjetischen Gefangenenin Sandbostel eintrafen, war auf der obersten politischen Ebene diegrundsätzliche Entscheidung für den „Russeneinsatz“ gefallen. DieVerwendung der Gefangenen als Arbeitskräfte sollte jetzt systemati-siert werden und ihren provisorischen Charakter verlieren. Der bereitserwähnte verheerende allgemeine Zustand der Gefangenen ließ der-artige Bemühungen jedoch zunächst Makulatur werden. Anstatt dieGefangenen auf Arbeitskommandos weiterverteilen zu können, muss-te man zunächst das Lager wegen Flecktyphus unter Quarantäne stel-len. Damit begann im Dezember 1941 in Sandbostel der katastropha-le Hunger- und Seuchenwinter, dem Tausende zum Opfer gefallensind. Die Zustände im Lager waren trotz der abgeschiedenen Lagedurchaus breites öffentliches Gesprächsthema. Jedenfalls musste derLandrat Freiherr Schenck zu Schweinsberg noch im Dezember einöffentliches Rundschreiben verfassen, in dem er feststellte, dass „ent-gegen anderslautenden Gerüchten in Sandbostel keine Cholera oderPest herrschen, sondern lediglich einige wenige Fälle von Fleckfieberaufgetreten sind“.13

Welche Priorität der Arbeitseinsatz inzwischen hatte, lässt sich daranablesen, dass man noch kurz vor der Sperrung des Lagers aus dengeschwächten Gefangenen umfangreiche Transporte zusammenstell-te, etwa zur Sprengstofffabrik Allendorf in Hessen oder nach Glindebei Hamburg. Dort gab es in der Folge bis Frühjahr 1942 zahlreicheTodesfälle, bei denen als Ursachen in der Regel „Auszehrung“,„Entkräftung“, „Hungerödeme“, „Allgemeine Schwäche“ oder auchdirekt „Unterernährung“ angegeben waren. Mittlerweile lassen sichfür fast jeden Werktag ab dem 5. November bis zur Sperrung desLagers Anfang Dezember 1941 Transporte in Arbeitskommandosnachweisen, die ersten davon sämtlich in den Wehrkreis IX.14

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Zwar ist die Gesamtzahl der in Sandbostel gestorbenen sowjetischenKriegsgefangenen nicht seriös zu schätzen, auch wenn klar ist, dasssie weit über die 4.600 namentlich bekannten Opfer hinausgeht.Dennoch lässt sich anhand der vorläufigen Liste der namentlichbekannten Opfer der Verlauf des Massensterbens nachvollziehen. Sosind von diesen 4.600 Toten knapp über 2.000 im Zeitraum zwischenNovember 1941 und März 1942 gestorben. Die Sperrung des Lagerswar bereits Mitte Februar aufgehoben worden, das Sterben hieltjedoch noch einige Zeit an. Während der Quarantäne waren diesowjetischen Gefangenen weitgehend sich selbst überlassen. So gab

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Abb. 3: Sowjetische Kriegsgefangene bei der Ankunft im Stalag X B, undatiert(Gedenkstätte Lager Sandbostel)

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es nur eine provisorische medizinische Versorgung in denKrankenrevieren, die sich im gesperrten Lager selbst befanden, wäh-rend nur vereinzelt Kranke in das Lazarett gebracht wurden, das sichwenige Hundert Meter vom Lager entfernt befand. Dabei scheint essich vorrangig um Fälle gehandelt zu haben, die als heilbar eingestuftwurden, denn die meisten wurden nach einiger Zeit wieder als„dienstfähig“ entlassen.

Aber selbst wenn die genauen Todeszahlen im Lager während desWinters 1941/42 bekannt wären, hätte man noch nicht alle Opfer die-ses Verbrechens der Wehrmacht erfasst. Denn unmittelbar nachAufhebung der Quarantäne schickte man aus den überlebenden, aberextrem geschwächten Gefangenen sofort wieder Transporte in dieArbeitskommandos. Dort setzte sich das Massensterben ungebrochenfort. Erhalten ist eine Liste von 150 Gefangenen des Kommandos5885 X C in Tannenhausen bei Aurich in Ostfriesland.15 Dort befandsich ein Marinedepot zur Herstellung und Lagerung von Munition.Von über der Hälfte dieser 150 Gefangenen sind die Personalkarten Ierhalten. Daran lässt sich nachweisen, dass der Transport am 24.Februar 1942 von Sandbostel abgegangen und zwei Tage später inTannenhausen angekommen ist. Von den 150 Mann sind nachweis-lich 54 überwiegend bis Ende März 1942 direkt auf dem Kommandogestorben und auf dem Friedhof „Zum Ewigen Meer“ beigesetzt wor-den, während weitere 22 noch in die Lazarette Wietzendorf undSandbostel gebracht worden sind und dort starben. 76 der 150 sindalso kurz nach dem Transport nach Tannenhausen gestorben, wobeinoch eine geringe Dunkelziffer einzukalkulieren ist. Nur bei einerMinderheit der Toten ist die Todesursache notiert worden; es handeltsich in der Regel um Krankheiten, die mit der mangelhaftenVersorgung in Verbindung gebracht werden können. Am häufigstenwaren Ruhr und Tuberkulose. Daneben gab es „Resorptions-störungen“ oder „Darmkatarrh“, beides entzündliche Erkrankungen,die ebenfalls mit Mangelernährung in Zusammenhang stehen. Oftwurde jedoch nur „Körperschwäche“ oder „Allgemeine Schwäche“

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vermerkt. Die Toten von Tannenhausen sind Opfer des erbarmungslo-sen Willens, möglichst viele Gefangene zur Arbeit einzusetzen. Dabeiwurde nur oberflächlich untersucht, ob der Einzelne überhaupt arbeits-fähig war. Und bei dieser Prüfung ging es vorrangig darum, dieAusbreitung ansteckender Krankheiten im Reichsgebiet zu verhin-dern. Sobald diese Gefahr gebannt war, wurden die Gefangenen rück-sichtslos zur Arbeit angetrieben, weitgehend unabhängig von ihremjeweiligen körperlichen Zustand. Man hatte sich ja auch Anfang 1942

noch nicht vollständig von der Illusion verabschiedet, dass Arbeits-kräfte aus der Sowjetunion – seien es Kriegsgefangene oder Zivilisten– unbegrenzt zur Verfügung standen und nur bis zum bald erwarteten„Endsieg“ gebraucht würden.

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Abb. 4: Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag X B Sandbostel, Mai 1942(Gedenkstätte Lager Sandbostel)

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Mit der Intensivierung des Arbeitseinsatzes traten auch die unter-schiedlichen Funktionen der Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stamm-lager im Wehrkreis deutlicher hervor. Während Sandbostel vorwie-gend der Aufnahme, Registrierung und Weiterleitung derGefangenen diente, hatten die Stalags in Nienburg und Schleswigstärker die Verwaltung der Arbeitskommandos übernommen. Dieswird besonders daran deutlich, dass die beiden Großstädte imWehrkreis X, Hamburg und Bremen, mit ihren besonders zahlrei-chen Kommandos in der Zuständigkeit von Schleswig bzw. Nienburglagen, während Sandbostel nur die Kommandos in der näherenUmgebung zugeteilt waren. Aber auch so handelte es sich bereits ummehrere Hundert Kommandos mit Kriegsgefangenen verschiedenerNationalitäten.16 Daher ist es wichtig, den gesamten Wehrkreis X alsSystem zu behandeln, in dem die Stalags mit ihren unterschiedlichenAufgaben zusammenwirkten. Dies wird auch an der zentralenStellung des Lazaretts in Sandbostel deutlich, in das Gefangene ausdem gesamten Wehrkreis transportiert wurden. Bisherige Dar-stellungen zur Geschichte von Kriegsgefangenenlagern konzentrie-ren sich häufig sehr auf den unmittelbaren Ort und können dadurchdie Gesamtverantwortungen im System der Stalags nur unzureichendaufzeigen. Insgesamt waren eine Vielzahl von Stellen und Personenmit dem Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen befasst. DieArbeitsämter steuerten die Verteilung, Polizei und Gestapo sorgtenfür die Überwachung, Parteistellen bis hinunter zum Orts-bauernführer kontrollierten die Einhaltung der Vielzahl vonVerhaltensregeln, die der Bevölkerung immer wieder propagandi-stisch eingehämmert wurden, Gastwirte und Bauern verdienten ander Unterbringung der Gefangenen. Aber wichtig bleibt: DieGesamtverantwortung für den Arbeitseinsatz der sowjetischenKriegsgefangenen blieb bei der Wehrmacht und speziell bei denStalags. So musste etwa jeder Arbeitgeber von Kriegsgefangeneneinen Überlassungsvertrag mit dem Stalag abschließen, in dem auchdie Höhe der Abgabe an das Stalag genau geregelt war.17

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Für die weit überwiegende Mehrzahl der Arbeitskommandos fehlenuns genaue Kenntnisse über die Arbeits- und Lebensbedingungen,auch Fotos sind – im Gegensatz zu Aufnahmen mit westlichenGefangenen – selten. Unzweifelhaft rangierten die sowjetischenGefangenen ganz am unteren Ende der rassistischen Hierarchie, inwelche die ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland während desKrieges eingeteilt waren. Diese Hierarchie war unter den deutschenWachmannschaften allgemein akzeptiert und wurde in Form gestaf-felter Rechte und Pflichten für die Gefangenen auch umgesetzt.Dadurch waren die Überlebenschancen der sowjetischen Kriegs-gefangenen von vornherein beeinträchtigt und es lassen sich zahlrei-che Kommandos mit hohen Sterberaten nachweisen. Nur ausnahms-weise sind umfangreichere Quellenbestände erhalten, die den Einsatzder sowjetischen Kriegsgefangenen auch im zeitlichen Ablauf nach-vollziehbar werden lassen. Ein Beispiel dafür sind die Planungen desWasserwirtschaftsamtes Verden zur Sanierung des Teufelsmoores.18

Hier hatten bereits im Juli 1941, also kurz nach Beginn des Angriffsauf die Sowjetunion, Gerüchte über die Ankunft von sowjetischenKriegsgefangenen Begehrlichkeiten geweckt. Das Regierungs-präsidium in Stade regte daraufhin beim Wehrkreiskommando inHamburg an, die sowjetischen Soldaten beim Bau von Be- undEntwässerungsanlagen (Meliorationsarbeiten) im Moor einzusetzenund erhielt dabei Unterstützung durch die LandesbauernschaftNiedersachsen. Auch hier wird sowohl das institutionelle Zusammen-spiel als auch die verbreitete Kenntnis über die Einsatzbedingungenfür sowjetische Gefangene deutlich. Die Arbeit im Moor erfüllte diezu diesem Zeitpunkt noch sehr eng gefassten Voraussetzungen zumEinsatz der sowjetischen Gefangenen: Es handelte sich um aufwändi-ge und schwere Arbeit unter harten Bedingungen an Orten, die weit-ab von deutscher Bevölkerung lagen. Die Landesbauernschafterwähnte denn in ihrem Unterstützungsschreiben vom 17. Juli 1941auch folgerichtig: „Nach den Planunterlagen […] sind grosse Flächenvon Hand zu kuhlen [umzugraben und von Bepflanzung undWurzelwerk zu befreien]. Auch hier könnten ähnlich wie im Emsland

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für Strafgefangene die russischen Kriegsgefangenen in grösserenKolonnen arbeiten, ohne mit der Bevölkerung in Berührung zu kom-men. Ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, durch den Einsatz vonGefangenen einen Teil der ausführungsbedürftigen Meliorationen fer-tigzustellen und bin bereit, Ihre Bemühungen um den Einsatz derGefangenen zu unterstützen.“19 In der Folge wurde die Angelegenheitmit dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes in Hannover – ein wei-terer Akteur – besprochen, der die Forderungen ebenfalls befürworte-te. Man wartete jedoch noch auf die generelle Zustimmung des OKWzum Einsatz sowjetischer Gefangener für Meliorationsarbeiten undverhandelte solange mit dem Gebietsbeauftragten für die Regelungder Bauwirtschaft, um sein Einverständnis zu erhalten. Damit war dienächste Institution in die Planungen involviert.

Bis zum Herbst tat sich jedoch wenig im SanierungsgebietTeufelsmoor. So waren Ende September 1941 erst 180 sowjetischeGefangene in dem riesigen Gebiet eingesetzt. Aber man nahm jetztkonkrete Planungen für den Einsatz weiterer knapp 2.000 von ihnenin Angriff. Dazu bereiste eine vierköpfige Kommission, der auch zweiörtliche Zimmermeister aus der Region angehörten, das Gebiet undschätzte den Rohstoffbedarf für den Umbau der als Unterkunft vorge-sehenen Räumlichkeiten ab. Dabei handelte es sich um Scheunen,Stallungen – zweimal wird auch explizit ein Schweinestall genannt –,ungenutzte Schulgebäude, Säle von Gastwirtschaften und Wohn-häuser. Die Belegungsstärken sollten zwischen 30 und 300 Mann proUnterkunft betragen. Man war hier also schon von den zu dieser Zeitnoch geltenden rigorosen Vorschriften zur Unterbringung der sowjeti-schen Gefangenen abgegangen: Die Mehrzahl war mit geplanten 30bis 50 Mann eher klein und befand sich mitten in den Dörfern, weilfür Neubauten in unbewohntem Gebiet bereits die Rohstoffe fehlten.Die Unterkünfte sollten in drei bis acht Wochen fertiggestellt sein,d.h. man rechnete mit der Zuweisung der Gefangenen ab EndeOktober 1941. Gleichzeitig liefen beim Wasserwirtschaftsamt Verdenerste Erfahrungsberichte über den schon laufenden Einsatz ein. Die

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Straßenbaufirma Wegener und Möller aus Bremen, die bereits seitEnde August sowjetische Gefangene einsetzte, schrieb am 1. Oktober1941: „Die Russen waren bei ihrer Ankunft [aus Wietzendorf] voll-ständig heruntergekommen, sodaß viele bei der geringsten Anstrengungzusammenbrachen und nicht fähig waren, sich zu erheben. Sie warenin den ersten Tagen nicht davon abzuhalten, sämtl. irgendwo liegen-den Speise- oder Obstreste gierig zu verzehren. Auch wurde von vie-len Sauerampfer, Pilze und sogar Gras in Mengen gegessen. Wir habenunser Möglichstes getan bei der knappen Zuteilung an markenpflich-tigen Lebensmitteln, die Gefangenen mit frischem Gemüse satt zubekommen. Trotzdem sind die Russen aber immer noch zu schwach,um richtig arbeiten zu können.“20

Man könnte in diesem Dokument zunächst einen Beleg für die Sorge umdie Gesundheit der Gefangenen sehen. Der Hinweis auf dieMangelernährung bildet jedoch nur den Auftakt des dreiseitigen Schrei-bens. Im Folgenden geht es nur noch um die strengen Bewachungs-vorschriften, die einen Einsatz in kleineren Gruppen erschweren. ZurAbhilfe wird u.a. vorgeschlagen, dass „einige zuverlässige Vorarbeiterzur Bewachung Waffen bekommen“.21 Man war also in erster Liniedarum besorgt, bürokratische Hemmnisse abzubauen, durch welchedie Allmacht des Unternehmens beim Einsatz der sowjetischenGefangenen eingeschränkt wurde. Die lebensbedrohliche Ernährungs-lage, die das Unternehmen ja nicht dazu veranlasst hatte, die eigent-lich arbeitsunfähigen sowjetischen Gefangenen zu schonen, wurdenur angemerkt, weil sie die Durchführung der Aufträge gefährdete.

Die Mangelernährung, die einen effektiven Arbeitseinsatz so gut wieunmöglich machte, wirkte sich bis weit in das Jahr 1942 hinein aus,obwohl offizielle Anweisungen zur besseren Ernährung ständigzunahmen, jedoch auch widersprüchlich waren. So informierte dasStalag X B im April 1942 über einen Erlass des OKW, in dem es aufder einen Seite hieß, dass „die Verpflegungssätze der Zivilbe-völkerung“ gelten würden, auf der anderen Seite aber darauf

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hingewiesen wurde, dass minderwertiges „Pferdefleisch undFreibankfleisch in weitestgehendem Umfang heranzuziehen“ 22 seiund außerdem die Knochen mitgewogen werden sollten. Auchdadurch, dass die sowjetischen Gefangenen nach der Aufhebung derLagersperre sofort wieder in den Arbeitseinsatz gebracht wordenwaren, entwickelten sich in den Kommandos enorm hohe Sterblich-keitsraten.23 Die ab Mitte 1942 verstärkten Bemühungen um einenbesseren Ausgleich zwischen Arbeitsanforderungen und Nahrungs-bedürfnissen zeigten daher in der Folge nur geringe Wirkung, weil diesowjetischen Soldaten durch die monatelange Gefangenschaft grund-legend geschwächt waren.

Der großflächige Einsatz sowjetischer Gefangener im Teufelsmoorstockte jedoch trotz der frühen Maßnahmen noch bis November1941. Nun war die Genehmigung des Reichsarbeitsministers abzu-warten, der wiederum zunächst mit dem OKW in Verbindung tretenmusste. Dabei hatte der „Staatliche Beauftragte für das Teufelsmoor“– eine Dienststelle des Wasserwirtschaftsamtes Verden – seine Ansprüchebereits heruntergeschraubt und beantragte nunmehr nur noch „300Russen“ als „erste Rate“.24 Erst Anfang Dezember wurden dann dieersten Überlassungsverträge zwischen dem Stalag X B Sandbostel unddem Wasserwirtschaftsamt Verden geschlossen. Darin waren dieEinsatzbedingungen der Gefangenen festgelegt und auch die Abgabe,welche die Unternehmen an das Stalag zu entrichten hatten.Paragraph 8 des Vertrages diente angesichts der tatsächlichenZustände, die allen Beteiligten bekannt waren, nur dem Abschiebender Verantwortung: „Der Unternehmer soll die Kr.-Gef. mitMenschlichkeit behandeln und sie insbesondere gegen Gewalt-tätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugierde schützen.“ 25

Im Folgenden gab es zahlreiche Schreiben des Stalag an das Wasser-wirtschaftsamt, durch welches die zahlreichen Vorschriften und insbe-sondere deren häufige Änderungen mitgeteilt wurden. Lohn- und Ver-sicherungsfragen waren dabei wichtiger als überlebenswichtige

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Ernährungs- oder Unterkunftsprobleme. Dennoch lassen die Schreibenzwischen den Zeilen die bis dahin herrschenden Zustände erahnen.So weist die Kommandantur in Sandbostel Anfang Januar 1942, alsdas Lager unter Quarantäne steht, in einem Schreiben an das Wasser-wirtschaftsamt Karlshöfen darauf hin, dass „auch die Unterkünfte dersowjetischen Kgf. geheizt sein müssen“.26 Bei den vorgesehenenVerpflegungssätzen wurde häufig darauf gedrungen, dass nur minder-wertige Produkte verabreicht werden sollten. Brot sollte danach zueinem Viertel aus Zuckerrübenschnitzeln bestehen, die geringeFleischportion von 250 g pro Woche sollte möglichst aus Pferde- undFreibankfleisch bestehen. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen,dass hier die Erlasse zitiert werden und diese Mengen nur selten zurvollen Verteilung kamen. Versuche zur Verarbeitung von Fuchsfleischwurden wegen der hohen Seuchengefahr rasch wieder eingestellt.

Auch nachdem ab Mitte 1942 angesichts des anhaltenden und sichzunehmend verschärfenden Arbeitskräftemangels versucht wurde,durch geänderte Vorschriften die Einsatzfähigkeit der sowjetischenGefangenen zu erhöhen, blieben die grundsätzlichen Problemebestehen. Exemplarisch dafür ist das Schreiben eines Bewohners desDorfes Nordsode, der eine Unterkunft für 30 sowjetische Gefangenevermietet hatte, vom März 1943 an das Wasserwirtschaftsamt Verden:„Leider müssen wir Ihnen eine unangenehme Mitteilung machen,denn da wir uns vor Flöhe[n] nicht mehr helfen können, möchten wirSie dringend bitten[,] das Lager zu reinigen. Da wir sonst gezwungensind, es dem Gesundheitsamt zu melden. Wir haben 3 kleine Kinder,die bunt von Flohstiche sind und die Sie sich zu jeder Zeit ansehenkönnen. Also bitte seien Sie so freundlich und beschleunigen Sie dieSache, denn es ist nicht mehr menschlich, was wir des Abends den[die] Kindern und uns selbst [nach] Flöhe[n] absuchen.“ 27 Das Leidder Gefangenen selbst, die vermutlich schon die ganze Zeit unter derunhygienischen Unterkunft zu leiden hatten, werden mit keinemWort erwähnt.

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Ab Mitte 1942 gehörten sowjetische Kriegsgefangene zum Alltag derdeutschen Kriegsgesellschaft. Die Beschränkungen, die man ihremEinsatz aus ideologischen Gründen zunächst noch auferlegt hatte, fielennach und nach. Schließlich waren sowjetische Gefangene in jedemWirtschaftsbereich eingesetzt, sei es Rüstungsindustrie, Bauwirtschaft,Bergbau, Handwerk oder Landwirtschaft. Und sie waren auch in unmit-telbarer Nähe zur deutschen Bevölkerung untergebracht, so dass fastjeder mit ihnen in Kontakt kam. Die heutige Überlieferung vor allem derdeutschen Zeitzeugen ist in der Regel sehr einseitig geprägt. In der Regelwird davon berichtet, dass die sowjetischen Gefangenen es allgemeinnicht gut gehabt hätten, aber auf dem Hof des Zeitzeugen anständigbehandelt worden seien. Dazu gibt es noch Geschichten vomTauschhandel mit kleinen kunsthandwerklichen Gegenständen, die vonden sowjetischen Gefangenen gebastelt worden sind. Andere Aspekte,wie Gewalt gegen die Gefangenen, wird selten thematisiert, und auchdie Überlegung, dass es für die Gefangenen sehr belastend war, in ihremabgearbeiteten Zustand während ihrer knappen Freizeit nochTauschgegenstände herstellen zu müssen, um ihr Überleben zu sichern,wird ausgeblendet. So besteht die Gefahr, dass die Einbeziehung deut-scher Zeitzeugenstimmen beispielsweise in Ausstellungen an den Ortenfrüherer Kriegsgefangenenlagern zu einem idealisierten Bild derGefangenschaft führt.

Bisweilen gibt es aber doch Einblicke in den Alltag der kleinen dörfli-chen Kommandos. Dabei wird zum einen sichtbar, wie viele Stellen undPersonen mit dem Arbeitseinsatz befasst waren oder davon Kenntnis hat-ten. Zum anderen wird die ausschlaggebende Rolle der Wehrmachts-angehörigen deutlich, die selbstherrlich agieren konnten, auch wenn sienur niedrige Dienstgrade bekleideten. Die Forstverwaltung Axstedt bei-spielsweise beschwerte sich ab März 1943 in mehreren Schreiben andas Stalag X B wiederholt über den Gefreiten Kappelmann, der Führereines Kommandos mit 20 sowjetischen Kriegsgefangenen war.28

Kappelmann gebe „sehr häufig Sonntags die Kriegsgefangenen anBauern zur Arbeitsleistung ab. Nach der schweren Waldarbeit haben

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daher die Gefangenen nicht die Möglichkeit, sich Sonntags auszuruhenund ihre Sachen wieder in Ordnung zu bringen.“29 Die Gefangenennahmen zwar die Gelegenheit war, an zusätzliche Lebensmittel zu kom-men, ihre permanente Überforderung wurde von der Forstverwaltungjedoch durch nachlassende Arbeitsleistungen festgestellt. Vermutlichwird Kappelmann dafür eine finanzielle Entschädigung bekommenhaben, dies konnte von der Forstverwaltung jedoch nicht bewiesen wer-den. Die Vorgesetzten von Kappelmann in Sandbostel deckten seineigenmächtiges Verhalten und revanchierten sich mit Hinweisen auf diemangelnde materielle Ausstattung der Gefangenen durch dieForstverwaltung. Es würde trotz ständiger Hinweise an Schutzkleidungund Seife fehlen. Außerdem wurde angemerkt, dass es sich bei denBauern der Umgegend um Neusiedler handelte, die „aus wehrtechni-schen Gründen enteignet und hier auf dem Gut Karlshorst angesiedeltworden“30 waren. Die sowjetischen Kriegsgefangenen „haben sich gernund freiwillig wegen des zusätzlichen Essens zur Arbeit bei den Bauerngedrängt“. Dies sei „dem Forstamt durch die hiermit erzielte Kräftigungder Kgf. für die schwere Waldarbeit zugute gekommen“.31 Aufgrund derBeschwerde der Forstverwaltung entfalle diese Möglichkeit jetzt.Kappelmann habe „Bestes gewollt und auch erzielt“.32

Im weiteren Schriftwechsel wird am Verhalten des GefreitenKappelmann gewissermaßen die Selbstermächtigung des kleinenMannes deutlich, die der Einsatz der ausländischen Zwangsarbeiteran so vielen Stellen im nationalsozialistischen Deutschland ermög-lichte. Kappelmann gewährte dem gesamten Kommando eine Leistungs-zulage in Form von Zigaretten, obwohl dies eigentlich an strengeVorgaben geknüpft war.33 Außerdem hatte Kappelmann eine Unter-kunft für seine Familie angemietet, die er aus dem Brennholz-kontingent für das Kriegsgefangenenlager heizte, und er hatte eigen-mächtig einen Lagerraum für eine umfangreiche Kaninchenzuchtzweckentfremdet, „sodaß die Kaninchenjauche durch den Bodentropft“.34 Er hatte sich einen kleinen Bereich kaum eingeschränkterSelbstherrschaft geschaffen.

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Und auch wenn die Geschichten der deutschen Zeitzeugen von punk-tueller Hilfe im Einzelfall stimmen mögen, zweifelsfrei bleibt, dass dierassistische Ideologie bis zuletzt die Richtschnur für das Verhalten densowjetischen Gefangenen gegenüber blieb. Von allen Gefährdungenwaren die sowjetischen Gefangenen in besonderem Maße betroffen,seien es nun Nahrungsmittelknappheit, mangelnde Hygiene,Krankheiten und Seuchen oder ab 1943 zunehmend die alliiertenBombenangriffe. Und die Diskriminierung dauerte bis in den Tod. DieVerwaltung des Friedhofes Hamburg-Ohlsdorf beschwerte sich Anfang1942 wiederholt darüber, dass die Leichen von sowjetischen Kriegs-gefangenen nicht ordnungsgemäß eingeliefert worden waren: „Am 22.Januar 1942 wurde der russische Kriegsgefangene Schalow von derUnterkunft Hansamühle in Hamburg-Neuhof als Leiche vom sowjeti-schen Arbeitskommando 7072 Neuhof eingeliefert. Die Leiche befandsich bei der Einlieferung ohne jede Bekleidung und musste nackend ausdem Anhänger eines Personenwagens in die Leichenhalle der Kapellegebracht werden und dann in demselben Zustand von unseren Leutenbeigesetzt werden.“35 Die Friedhofsverwaltung protestierte „schärfstens“gegen diese Art der Einlieferung, denn: „Es lässt sich nicht vermeiden,dass Besucher des Friedhofes die Leichen in diesem Zustand sehen.“36

Zukünftig sollte daher die Einlieferung angekündigt werden, damit manvorher eine Gruft ausheben konnte. Außerdem sollten die Toten in einemTransportsarg eingeliefert werden, der wiederverwendet werden konnte:Die Vorschriften sahen dagegen für sowjetische Kriegsgefangene keinenSarg für die Beisetzung vor, sondern nur spezielles Papier.37 Aber selbstgegen diese Vorschrift wurde hier verstoßen, denn Schalow wurde nacktbeigesetzt. Schalow, der eigentlich Schkalew hieß, wurde um den 20.November 1941 in Sandbostel registriert und dann unmittelbar vor derVerhängung der Quarantäne des Lagers Sandbostel Anfang Dezember1941 weiter zum Arbeitskommando nach Hamburg gebracht. Dort hater dann keine zwei Monate überlebt.38

Knapp vier Wochen später hatten sich die Zustände noch nicht wesent-lich geändert. Ende Februar 1942 schrieb die Friedhofsverwaltung: „Die

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Leiche des russischen Kriegsgefangenen Skuratow ist am 24.2.1942 um10.30 Uhr zur Beerdigung eingeliefert. Die Leiche war nur in Papier ein-gewickelt, welches vollkommen mit Blut besudelt war. Da die Gruftnicht fertig war, weil die Anmeldung zu spät erfolgte, lag die Leichesolange in der Leichenkammer zwischen anderen Särgen. DieForderung der Bauverwaltung, die russischen Leichen zumindestens ineinem Transportsarg einzuliefern, sind unbeachtet geblieben.“ 39 In derFolge einigte man sich in einem längeren Briefwechsel zwischenFriedhofsverwaltung, übergeordneter Bauverwaltung, Arbeitskommando– also Wehrmacht – und Beerdigungsunternehmen darauf, dieMindeststandards künftig zu beachten. Aus der Personalkarte vonWassilij Skuratow geht hervor, dass er unmittelbar nach Aufhebung derQuarantäne über das Lager Sandbostel am 13. Februar 1942 nachHamburg transportiert worden war. Dort hat er dann nur zehn Tage über-lebt. Diese kurze Spanne würde dafür sprechen, dass er durch denWinter so geschwächt war, dass dieser kurze Arbeitseinsatz ihn umge-bracht hat. Das „vollkommen mit Blut besudelte Papier“, in das seinKörper bei der Einlieferung auf dem Friedhof eingewickelt war, zeugtjedoch von einem gewaltsamen Tod, über dessen Hintergründe wirnichts Näheres wissen.

Die Vorgänge zeigen, dass es nicht darum ging, die Würde der Totenzu wahren, sondern die Abläufe des Friedhofes nicht zu beeinträchti-gen. Nicht, dass die Toten nackt waren oder deutliche Spuren vonGewaltverbrechen aufwiesen, war das Problem, sondern diese Zuständesollten vor fremden Blicken verborgen bleiben.

Abschließend sollen ein paar knappe Überlegungen zum didakti-schen Potential des Themas in Gedenkstätten angestellt werden. DieStiftung Lager Sandbostel befindet sich dabei in einer besonderenSituation. Im Unterschied zu den reinen sogenannten „Russenlagern“wie Wietzendorf, Zeithain oder Senne, befanden sich in SandbostelKriegsgefangene aller Nationalitäten, von Polen bis zu Amerikanern.Daneben waren hier zeitweise Zivilinternierte, hauptsächlich Ange-

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hörige der britischen Handelsmarine, untergebracht, so dass nachoffizieller Zählung die Gefangenen im Stalag X B aus über 70 Natio-nen stammten. Diese Situation bietet die Möglichkeit, in derAusstellung und in der pädagogischen Arbeit Vergleiche zur unter-schiedlichen Behandlung der verschiedenen Gruppen von Gefange-nen direkt vor Ort herzustellen. Darin liegt die große Chance desLernortes Sandbostel.

Auf der anderen Seite muss gegen die verschiedenen Erwartungen ange-kämpft werden, mit denen die Besucherinnen und Besucher – jedenfallsdiejenigen ohne persönlichen Bezug zum Ort – nach Sandbostel kom-men. Viele erwarten z.B. eine KZ-Gedenkstätte. Gegen Ende des Kriegeswurde Sandbostel zu einem sogenannten KZ-Auffanglager für Räu-mungstransporte aus verschiedenen Außenlagern des KZ Neuengammeund dem Stammlager selbst. Die Bilder der überlebenden KZ-Häftlingehaben die Nachkriegswahrnehmung stark geprägt. Dieser Gruppe vonBesucherinnen und Besuchern muss zunächst vermittelt werden, dass essich in erster Linie um ein Kriegsgefangenenlager gehandelt hat und dieGeschichte des KZ-Auffanglagers ein besonders Kapitel der unmittelba-ren Kriegsendphase darstellt. Ein eminent wichtiges und aufschlussrei-ches Kapitel, aber nicht den Hauptstrang der Erzählung.

Demgegenüber stehen Besucherinnen und Besucher, die Sandbostelals „normales“ Kriegsgefangenenlager wahrnehmen, wie es sie injedem Krieg und in jedem kriegführenden Land gibt. Typisch für dieseGruppe ist z.B. der Verweis auf das Leiden und Sterben der deutschenKriegsgefangenen in der Sowjetunion. Daher muss besonderer Wertauf die Schilderung der typisch nationalsozialistischen Elemente derTätigkeit der Wehrmacht im Stalag X B gelegt werden. Entscheidendist, zu zeigen, dass das Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht bereitsin der Planungsphase die nationalsozialistischen Ideologeme aufge-nommen hatte und alle Facetten der Existenz des Lagers davon beein-flusst waren. Dadurch erklärt sich die bedeutende Rolle, die demSchicksal der sowjetischen Gefangenen zukommt, weil bei ihnen der

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Rassismus am deutlichsten zu Tage trat. Letztlich muss es das Zielsein, nicht neutral ein Kriegsgefangenenlager zu erklären, sondern dasFunktionieren der deutschen Gesellschaft im zweiten Weltkrieg amBeispiel des Kriegsgefangenenlagers Stalag X B darzustellen.

Zentral dafür ist der Bereich des Arbeitseinsatzes, an dem dieVergesellschaftung der verbrecherischen Behandlung der sowjetischenKriegsgefangenen am deutlichsten wird. Die Gedenkstätte Lager Sand-bostel verfügt über die Abrechnungsunterlagen des Kommandos 410Oelstorf bei Lüneburg. Die französischen und sowjetischen Gefangenendieses Kommandos waren in fünf benachbarten Dörfern in derLandwirtschaft eingesetzt. Aus den Unterlagen lassen sich über Hun-dert Akteure erkennen, die in Beziehung zu dem Arbeitskommandostanden. Dabei handelte es sich neben den eigentlichen Arbeitgebernum Lieferanten oder auch Handwerker, die Arbeiten an derUnterkunft ausführten oder Hilfswachleute. Eine besondere Positionnahmen der Bürgermeister und der Ortsbauernführer ein, die offiziellgegenüber dem Stalag als Arbeitgeber auftraten und von den einzel-nen Landwirten den Lohn eintrieben, um ihn an die Wehrmachts-verwaltung zu überweisen. Auch die KZ-Gedenkstätten betonen seiteinigen Jahren stark die Einbindung und das Wissen der deutschenUmgebungsgesellschaft. Bei der Behandlung der sowjetischenKriegsgefangenen tritt dieser Aspekt jedoch vielleicht noch stärkerhervor, weil sie mit der Zeit in jedem Dorf zu finden waren, die mei-sten Einwohner mit ihnen umgehen mussten und sich vielfältigeKontaktflächen ergaben. Überspitzt gesagt, kann man so dieErwartung vieler Besucherinnen und Besucher, dass es in einerAusstellung über ein Kriegsgefangenenlager ja eher um ein allgemei-nes und kein spezifisch nationalsozialistisches Phänomen geht, fürdidaktische Überraschungseffekte nutzen, wenn man den Ver-brechenscharakter der Behandlung der sowjetischen Gefangenen, dieumfassende Verantwortung der Wehrmacht und die ideologischeKomponente im Verhalten der deutschen Zivilbevölkerung akzentu-iert. In einer KZ-Gedenkstätte erwartet man eine Konfrontation mit

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den Verbrechen, bei einer Gedenkstätte am Ort eines ehemaligenKriegsgefangenenlagers nicht unbedingt.

Dies sind nur erste Überlegungen zu einer eigenständigen Rolle vonGedenkstätten an Orten ehemaliger Kriegsgefangenenlager, die aus-gebaut und systematisiert werden müssen. Vielleicht ist dazu eineeigenständigere Zusammenarbeit dieser Gedenkstätten und eine stär-kere Abgrenzung zu den KZ-Gedenkstätten notwendig, ohne dass mansich von ihnen ganz abkoppelt.

1Ich danke Wolfgang Scheder von der Dokumentationsstelle Dresden für die Erstellung der vorläufigen Totenliste der sowjetischen Kriegsgefangenen des Stalag X B Sandbostel.

2Die grundlegenden Quellen sind ediert in: Rüdiger Overmans, Andreas Hilger und Pavel Polian (Hg.): Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 2012.

3Detaillierte Nachweise bei: Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Paderborn 2008.

4Grundlegend jetzt: Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung undArbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011. Allgemein zum Stalag X B: Werner Borgsen, Klaus Volland: Stalag X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland 1939-1945, 4., um einen Anhang ergänzte Aufl., Bremen 2010.

5Staatsarchiv Bremen, 4,29/1 Nr. 1293.

6Ebd.

7Ebd.

8Entsprechende Bereichsbefehle des Kommandeurs der Kriegsgefangenen im Wehrkreis X in: The National Archives (London), WO 309/414.

9Die überlieferten Dokumente der Wehrmacht zur Registrierung der sowjetischen Kriegsgefangenen stellen heute die wichtigste Quellengrundlage für die Erforschung ihres Schicksals dar. Lange ging man davon aus,dass sie verschollen sind. Sie sind jedoch im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums erhalten undmittlerweile durch ein groß angelegtes deutsch-russisches Forschungsprojekt erschlossen. Zentral sind diePersonalkarten I, auf denen neben den persönlichen Angaben auch Kommandierungen zuArbeitskommandos, Versetzungen in andere Lager, Lazarettaufenthalte und Bestrafungen eingetragen wurden; vgl. Keller: Kriegsgefangene (wie Anm. 4), S. 33-43.

10Bericht Sergej Litvin, Archiv der Gedenkstätte Lager Sandbostel.

11Vgl. die Anordnung des OKH über die Behandlung kriegsgefangener sowjetischer Frauen vom März 1943 in: Overmans u.a. (Hg.): Rotarmisten (wie Anm. 2), S. 328f.

12Ich danke Christian Römmer, der das Schicksal dieser Gruppe detailliert untersucht hat.

13Kreisarchiv Bremervörde.

14Eigene Auswertung der unter www.obd-memorial.ru einsehbaren Personalkarten I der sowjetischen Kriegsgefangenen.

15ITS Archives, 1145a: 5885 Tannenhausen. Ich danke Hans-Jürgen Sonnenberg für den Hinweis auf diese Quelle.

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16Derzeit sind in der Gedenkstätte Lager Sandbostel ca. 1.100 Arbeitskommandos mit Kriegsgefangenen aller Nationalitäten erfasst, die zu irgendeinem Zeitpunkt in der Verwaltung des Stalag X B lagen. Gleichzeitig wurden bis zu 660 Kommandos verwaltet; die höhere Zahl kommt durch zahlreiche Umbenennungen und Umstrukturierungen zustande.

17Beispiel eines derartigen Vertrages in: Staatsarchiv Stade, Rep 97 Verden Nr. 274.

18Der gesamte Vorgang in: Ebd. und Nr. 275.

19Staatsarchiv Stade, Rep 97 Verden Nr. 274: Abschrift des Schreibens der Landesbauernschaft Niedersachsenan den Regierungspräsidenten in Stade, 17. Juli 1941.

20Ebd.: Schreiben der Arbeitsgemeinschaft Straßenbau Osterholz an das Wasserwirtschaftsamt Verden/Aller vom 1. Oktober 1941.

21Ebd.

22Ebd., Nr. 275: Schreiben der Bezirksstelle des Mannschaftsgefangenenlagers X B Rotenburg an das Wasserwirtschaftsamt Verden/Aller, 9. April 1942.

23Vgl. Keller: Kriegsgefangene (wie Anm. 4), S. 354.

24Staatsarchiv Stade, Rep 97 Verden Nr. 274: Schreiben des Staatlichen Beauftragten für das Teufelsmoor an den Regierungspräsidenten in Stade (Entwurf), 4. November 1941.

25Ebd.: Vertrag zwischen dem Deutschen Reich, vertreten durch den Kommandanten des Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlagers (Stalag) X B und dem Wasserwirtschaftsamt Verden/Aller, Dienststelle Teufelsmoor zur Überlassung von 150 Kriegsgefangenen, 8. Dezember 1941.

26Ebd., Nr. 275: Schreiben der Kommandantur des Stalag X B an das Wasserwirtschaftsamt, Carlshöfen, Krs. Bremervörde, 7. Januar 1942.

27Ebd.: Schreiben von J.D. Schröder, Nordsode 14 an das Wasserwirtschaftsamt Verden, 25. März 1943.

28Der Vorgang in: Staatsarchiv Stade Rep 82 Osterholz Nr. 458.

29Schreiben vom 16. März 1943.

30Staatsarchiv Stade Rep 82 Osterholz Nr. 458 Meldungder Kommandantur des Stalag X B, Gruppe III,2. April 1943.

31Ebd.

32Schreiben vom 2. April 1943.

33Schreiben der Forstverwaltung Axstedt vom 6. April 1943.

34Schreiben der Forstverwaltung Axstedt vom 12. April 1943.

35Staatsarchiv Hamburg 325-1 Nr. 229. Danach auch das Folgende.

36Ebd.: Schreiben der Friedhofsverwaltung Ohlsdorf an das Garten- und Friedhofsamt der Hansestadt Hamburg, 23. Januar 1942.

37Rotarmisten (wie Anm. 2), S. 303 (Schnellbrief des Reichsministeriums des Innern vom 27. Oktober 1941 über die „Bestattung von Leichen sowjetischer Kriegsgefangener“).

38Eintragungen auf der Personalkarte I; Dokumentationsstelle Dresden.

39Staatsarchiv Hamburg 325-1 Nr. 229: Schreiben der Friedhofsverwaltung Ohlsdorf an das Garten- und Friedhofsamt der Hansestadt Hamburg, 25. Februar 1942.

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