B1**( Der bestvermessene See der Welt...Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, geh rt zu den...

1
Nik Walter Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, gehört zu den spekta- kulärsten Landschaften in der Schweiz. Die weissen, bis zu 400 Meter hohen Kalksteinfelsen, durch die sich der Vorderrhein schlängelt, sind als «Grand Can- yon der Schweiz» weltberühmt. Dass der Rhein nur 100 Kilo- meter flussabwärts einen ähnlich imposanten Canyon geformt hat, weiss hingegen kaum jemand. Bei Altenrhein, dort, wo der Rhein bis vor gut hundert Jahren in den Bo- densee floss, stürzte er sich einst, für das menschliche Auge weitge- hend verborgen, in eine 70 Meter tiefe, steilwandige Schlucht unter Wasser. Auf dem Seeboden mäan- drierte der Rhein zeitweise wei- ter, in einem 20 bis 30 Meter tie- fen Flussbett, bis weit in den See hinaus. Erst auf der Höhe von Ro- manshorn verlieren sich die Fluss- spuren am Grund. Die Schlucht und das einstige Flussbett sind noch heute am See- boden gut zu erkennen. Dies ist vielleicht eine der verblüffends- ten, aber bei weitem nicht die ein- zige aussergewöhnliche neue Er- kenntnis, die das Projekt «Tiefen- schärfe – Hochauflösende Ver- messung Bodensee» zutage geför- dert hat. Im Rahmen des länder- übergreifenden, noch bis 2015 laufenden Projekts wird der Bo- densee – nach Platten- und Gen- fersee der drittgrösste See Mittel- europas – komplett neu kartiert und dreidimensional modelliert. Finanziert wird das Projekt von der Internationalen Gewässer- schutzkommission für den Bo- densee (IGKB) und vom EU- Regionalprogramm Interreg IV. Verblüffendes Zusammenspiel von See- und Grundwasser «Kein See in dieser Grössenord- nung ist je so präzise vermessen worden», sagt Projektkoordinator Martin Wessels vom Institut für Seenforschung in Langenargen (D). Das hat damit zu tun, dass am «Schwäbischen Meer» gleich zwei neue hochpräzise Technolo- gien zum Einsatz kamen: zum ei- nen die neuste Generation eines Fächerecholots, bei dem vom For- schungsschiff Kormoran aus gleichzeitig 400 Sonarstrahlen den Seegrund abtasteten; zum an- deren das Airborne Hydromap- ping, eine brandneue Weiterent- wicklung der laserbasierten Fern- erkundungstechnologie Lidar, mit der auch Strukturen unter Wasser bis zu einer Tiefe von etwa acht Metern kartiert werden können (s. Grafik). «Mit der Kombination der bei- den Technologien kann man das Objekt Seeboden aus einem Guss erfassen», sagt Wessels. Derzeit sind die Forscher damit beschäf- tigt, die beiden Datensätze mitei- nander zu verschmelzen. Mitte 2015 sollen die hochauflösenden Geländemodelle und Seekarten fertig und laut Wessels vielseitig nutzbar sein. Sie sollen zu einem verbesserten Schutz der Pfahl- bausiedlungen in Flachwasser- zonen beitragen, sie sollen auch helfen, mögliche Gefahren durch instabile Hänge und daraus resul- tierende Hangrutschungen zu er- kennen oder das Zusammenspiel von See- und Grundwasser besser zu verstehen. Gerade dieses Zusammenspiel war eine der grossen Überra- schungen der bisherigen Auswer- tungen. Wie die Tiefenbilder er- ahnen lassen, tritt im Überlinger- see Grundwasser aus. Jedenfalls fehlen an mehreren Stellen grosse Stücke der Sedimentbedeckung der felsigen Molasse. Jetzt müssen die Forscher vor Ort noch bewei- sen, dass da tatsächlich «Wasser rausgeht», wie es Wessels formu- liert. Erhärten sich die Vermutun- gen, dann wankt ein Dogma: «Bislang ging man davon aus, dass Seewasser und Grundwasser weitgehend voneinander getrennt sind», sagt Wessels. Sowieso: Überraschungen er- lebte das Tiefenschärfe-Team bei der Analyse der Daten zuhauf: eine unterseeische Quelle etwa, wo Wasser aus dem Seegrund aus- tritt und einen kleinen Fluss bil- det; kreisrunde 6 bis 7 Meter tiefe Löcher vor Kreuzlingen, über de- ren Entstehung die Forscher der- zeit nur rätseln können; oder Spu- ren gigantischer Hangrutschun- gen vor der Mündung der Gol- dach. «Es ist wirklich ein Entde- cken», sagt der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern. «Das gibt es heute in der Wissenschaft nicht mehr oft.» Schiffswracks und abgestürzte Flugzeuge als «Beigemüse» Anselmetti war wesentlich an dem Projekt Tiefenschärfe betei- ligt. Er führte mit seinem Team die Fächerecholot-Messungen durch. Seine Arbeitsgruppe ist die einzige in der Schweiz, die ein sol- ches Gerät besitzt – es kostet meh- rere Hunderttausend Franken. Rund drei Monate lang fuhren die Forscher über den See, immer schön parallel zum Hang und peinlich darauf achtend, dass die Bahnen zur Hälfte überlappen, damit jeder Bereich doppelt abge- deckt ist. Mehr als 5000 Kilome- ter legten die Forscher dabei zu- rück. «Das ist ein sehr, sehr lang- weiliger Job.» Dafür entschädigen die unzähligen Entdeckungen. Dazu zählen auch nicht geolo- gische Funde wie etwa Wracks versenkter Schiffe oder abge- stürzter Flugzeuge. An diesem «üblichen Beigemüse» seien die Forscher zwar nicht primär inter- essiert, sagt Anselmetti, aber be- fassen müssen sie sich damit trotzdem. Um einen Ansturm von Tauchern und Hobbyarchäologen zu verhindern, hat die Projektlei- tung daher entschieden, grössere Wracks gar nicht in die Karte auf- zunehmen. Dasselbe gilt für Trinkwasserfassungen und weite- re sensible Installationen – ein Giftanschlag auf die Trinkwasser- versorgung am Überlingersee vor neun Jahren hat diesbezüglich die Bevölkerung aufgeschreckt. Der Wissenschaft öffnen die neuen 3-D-Bodenseekarten ganz neue Welten. So gibt es Beweise für Methanvorkommen im See- grund oder Hinweise auf mögli- che geologische Bruchzonen. «Da sind wir sehr scharf drauf», sagt Anselmetti. Wessels seinerseits möchte ein besonderes Auge auf die Entwicklung der (neuen) Rheinmündung werfen. Wie viel Wasser fliesst einfach oben rein, wie viel stürzt in die Tiefe? Wie verändert sich die Durchmi- schung mit der Klimaerwärmung? Und wie entwickelt sich das Fluss- bett unter Wasser weiter? Möglicherweise entsteht da ja gerade der nächste Rhein-Can- yon, den noch niemand kennt. 67 sonntagszeitung.ch | 8. Juli 2014 Wissen Der bestvermessene See der Welt Löcher vor Kreuzlingen, eine unterseeische Quelle und Methanvorkommen: Bei der Erkundung des Bodensees stiess das Team des Projekts Tiefenschärfe auf jede Menge Überraschungen «Zürichsee ist vor Tsunamis nicht gefeit» In Schweizer Seen finden sich Spuren vergangener Erdbeben Vor 13 800 Jahren erlebte Zürich eine Naturkatastrophe gewaltigen Ausmasses. Der Zürichsee war da- mals viel grösser als heute. Die Lin- denhof-Endmoräne staute den See, sein Spiegel lag 12 Meter über den heutigen 406 m ü. M. Er sei wohl mit dem Walensee und über das Seez- und das Rheintal möglicherweise so- gar mit dem Bodensee verbunden ge- wesen, erzählt Flavio Anselmetti von der Universität Bern. Dann bebte die Erde. Massive Hangrutschungen im See und ein Binnensee-Tsunami waren die Fol- ge. Die Riesenwelle schwappte über die Endmoräne, diese durchbrach – entweder wegen des Erdbebens oder des Tsunamis – an vier Stellen, und eine gigantische Wassermasse flute- te das Limmattal. Eine Gefahrenkarte für alle Schweizer Seen «Massive Rutschungen, die Tsu- namis auslösen, passieren in der Schweiz etwa alle 1000 Jahre», sagt Anselmetti. Der Paläoseismologe ist spezialisiert auf prähistorische Erd- beben. 1601 zum Beispiel löste ein Erdbeben in der Innerschweiz Hang- rutschungen im Vierwaldstättersee und damit eine rund vier Meter hohe Tsunamiwelle aus. Die Spuren für die historischen und prähistorischen Erdbeben fin- det Anselmetti am Grund der Schweizer Seen. Seit gut zwei Jahren besitzt seine Arbeitsgruppe ein hoch modernes Fächerecholot (s. Haupt- text / Grafik oben), mit dem er seit- her im Auftrag von Swisstopo und anderen Organisationen schon ver- schiedene Schweizer Seen neu ver- messen hat, darunter den Genfer-, den Vierwaldstätter- und den Zürichsee. Anders als beim Boden- see wurde bei diesen Seen die seich- te Uferzone nicht zusätzlich mit Lidar-Vermessungen ergänzt. Anselmettis Ziel ist es, Unter- wassergefahrenkarten von allen Schweizer Seen zu erstellen. «Wir können gefährdete Hänge identifi- zieren», sagt Anselmetti. Allerdings sei es sehr schwierig bis unmöglich vorauszusagen, wann genau sich ein Tsunami ereignen könnte. «Auch der Zürichsee ist nicht gefeit vor sol- chen Ereignissen.» Nik Walter 536 km 2 gross ist der Bodensee 0,1 Grad Kelvin. Diese minimen Temperaturunterschiede konnte eine Wärmebildkamera an Bord des Flugzeugs in der Uferzone registrieren 1893 wurde der Bodensee zum ersten Mal vermessen, durch Ferdinand Graf von Zeppelin 5550 km hat das Forschungsschiff Kormoran beim Sammeln der Fächerecholotdaten zurückgelegt 254 Meter tief ist der Bodensee an seiner tiefsten Stelle (zwischen Uttwil und Fischbach) 612 000 Euro kostet das Projekt. Die Schweiz beteiligt sich mit 159 120 Euro 400 Sonarstrahlen tasten beim Fächerecholot den Untergrund gleichzeitig ab 280 km Uferzone vermassen die Forscher mit der Hydromapping- Technologie aus dem Flugzeug in nur vier Tagen 1000-fach höhere Auflösung mit den neuen Technologien als bei der zweiten Vermessung 1986–1990 Zahlen und Fakten Der im Oktober 1933 absichtlich versenkte Raddampfer Helvetia III Mit 400 Ultraschall- Strahlen in Form eines Fächers tastete das mehrere hunderttausend Franken teure Gerät an Bord des Forschungs- VFKLNjV «Kormoran» den Seegrund ab einer Tiefe von fünf Metern ab. Jeder Quadratmeter Grund wurde dabei mehrfach abgedeckt. Insgesamt fuhr das 6FKLNj .RUPRUDQ Vermessungslinien und legte dabei 5550 Kilometer zurück. Bild 1: «Rheinschlucht» bei der Mündung des alten Rheins %LOG Mäander des Rheins auf dem Seegrund vor Langenargen Bild 3: Rutschungen in der Molasse am Überlingersee deuten auf Grundwasser- austritte hin Fächerecholot 1 3 Ein grüner Laserstrahl an Bord eines 0HVVǍXJ]HXJV GHU )LUPD Airborne +\GURPDSSLQJ scannt den Boden XQG GLH )ODFKZDVVHU]RQH DE 'HU Laserstrahl kann in Wassertiefen bis FD 0HWHU HLQGULQJHQ 'HU /DVHU HU]HXJW SUR 6HNXQGH FD 0HVVLPSXOVH FD ELV SUR P 2 0LW DQ %RUG GHV )OXJ]HXJV LVW DXFK HLQH :¦UPHELOGNDPHUD XQG HLQH KRFKDXǍ¸VHQGH /XIWELOGNDPHUD Laserscanning 1 Prozessierte Laserscanning-Aufnahme der Hafenanlage Romanshorn Wärmebild der Hafenanlage Immenstaad 2 Unprozessierte Punktwolke (Hafenanlage am Überlingersee) 3 6R= &DQGULDQ 4XHOOH Tiefenschärfe %RGHQVHH AHM Illustration: Martin Haake

Transcript of B1**( Der bestvermessene See der Welt...Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, geh rt zu den...

Page 1: B1**( Der bestvermessene See der Welt...Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, geh rt zu den spekta - kul rsten Landschaften in der Schweiz. Die weissen, bis zu 400 Meter hohen

Nik Walter

Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, gehört zu den spekta-kulärsten Landschaften in der Schweiz. Die weissen, bis zu 400 Meter hohen Kalksteinfelsen, durch die sich der Vorderrhein schlängelt, sind als «Grand Can-yon der Schweiz» weltberühmt.

Dass der Rhein nur 100 Kilo-meter flussabwärts einen ähnlich imposanten Canyon geformt hat, weiss hingegen kaum jemand. Bei Altenrhein, dort, wo der Rhein bis vor gut hundert Jahren in den Bo-densee floss, stürzte er sich einst, für das menschliche Auge weitge-hend verborgen, in eine 70 Meter tiefe, steilwandige Schlucht unter Wasser. Auf dem Seeboden mäan-drierte der Rhein zeitweise wei-ter, in einem 20 bis 30 Meter tie-fen Flussbett, bis weit in den See hinaus. Erst auf der Höhe von Ro-manshorn verlieren sich die Fluss-spuren am Grund.

Die Schlucht und das einstige Flussbett sind noch heute am See-boden gut zu erkennen. Dies ist vielleicht eine der verblüffends-ten, aber bei weitem nicht die ein-zige aussergewöhnliche neue Er-kenntnis, die das Projekt «Tiefen-schärfe – Hochauflösende Ver-messung Bodensee» zutage geför-dert hat. Im Rahmen des länder-übergreifenden, noch bis 2015

laufenden Projekts wird der Bo-densee – nach Platten- und Gen-fersee der drittgrösste See Mittel-europas – komplett neu kartiert und dreidimensional modelliert. Finanziert wird das Projekt von der Internationalen Gewässer-schutzkommission für den Bo-densee (IGKB) und vom EU-Regio nalprogramm Interreg IV.

Verblüffendes Zusammenspiel von See- und Grundwasser

«Kein See in dieser Grössenord-nung ist je so präzise vermessen worden», sagt Projektkoordina tor Martin Wessels vom Institut für Seenforschung in Langenargen (D). Das hat damit zu tun, dass am «Schwäbischen Meer» gleich zwei neue hochpräzise Technolo-gien zum Einsatz kamen: zum ei-nen die neuste Generation eines Fächer echolots, bei dem vom For-schungsschiff Kormoran aus gleichzeitig 400 Sonarstrahlen den Seegrund abtasteten; zum an-deren das Airborne Hydromap-ping, eine brandneue Weiterent-wicklung der laserbasierten Fern-erkundungstechnologie Lidar, mit der auch Strukturen unter Wasser bis zu einer Tiefe von etwa acht Metern kartiert werden können (s. Grafik).

«Mit der Kombination der bei-den Technologien kann man das Objekt Seeboden aus einem Guss

erfassen», sagt Wessels. Derzeit sind die Forscher damit beschäf-tigt, die beiden Datensätze mitei-nander zu verschmelzen. Mitte 2015 sollen die hochauflösenden Geländemodelle und Seekarten fertig und laut Wessels vielseitig nutzbar sein. Sie sollen zu einem verbesserten Schutz der Pfahl-bausiedlungen in Flachwasser-zonen beitragen, sie sollen auch helfen, mögliche Gefahren durch instabile Hänge und daraus resul-tierende Hangrutschungen zu er-kennen oder das Zusammenspiel von See- und Grundwasser besser zu verstehen.

Gerade dieses Zusammenspiel war eine der grossen Überra-schun gen der bisherigen Auswer-tungen. Wie die Tiefenbilder er-ahnen lassen, tritt im Überlinger-see Grundwasser aus. Jedenfalls fehlen an mehreren Stellen grosse Stücke der Sedimentbedeckung der felsigen Molasse. Jetzt müssen die Forscher vor Ort noch bewei-sen, dass da tatsächlich «Wasser rausgeht», wie es Wessels formu-liert. Erhärten sich die Vermutun-gen, dann wankt ein Dogma: «Bislang ging man davon aus, dass Seewasser und Grundwasser weitgehend voneinander getrennt sind», sagt Wessels.

Sowieso: Überraschungen er-lebte das Tiefenschärfe-Team bei der Analyse der Daten zuhauf:

eine unterseeische Quelle etwa, wo Wasser aus dem Seegrund aus-tritt und einen kleinen Fluss bil-det; kreisrunde 6 bis 7 Meter tiefe Löcher vor Kreuzlingen, über de-ren Entstehung die Forscher der-zeit nur rätseln können; oder Spu-ren gigantischer Hang rutschun-gen vor der Mündung der Gol-dach. «Es ist wirklich ein Entde-cken», sagt der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern. «Das gibt es heute in der Wissenschaft nicht mehr oft.»

Schiffswracks und abgestürzte Flugzeuge als «Beigemüse»

Anselmetti war wesentlich an dem Projekt Tiefenschärfe betei-ligt. Er führte mit seinem Team die Fächerecholot-Messungen durch. Seine Arbeitsgruppe ist die einzige in der Schweiz, die ein sol-ches Gerät besitzt – es kostet meh-rere Hunderttausend Franken. Rund drei Monate lang fuhren die Forscher über den See, immer schön parallel zum Hang und peinlich darauf achtend, dass die Bahnen zur Hälfte überlappen, damit jeder Bereich doppelt abge-deckt ist. Mehr als 5000 Kilome-ter legten die Forscher dabei zu-rück. «Das ist ein sehr, sehr lang-weiliger Job.» Dafür entschädigen die unzähligen Entdeckungen.

Dazu zählen auch nicht geolo-gische Funde wie etwa Wracks

versenkter Schiffe oder abge-stürzter Flugzeuge. An diesem «üblichen Beigemüse» seien die Forscher zwar nicht primär inter-essiert, sagt Anselmetti, aber be-fassen müssen sie sich damit trotzdem. Um einen Ansturm von Tauchern und Hobbyarchäologen zu verhindern, hat die Projektlei-tung daher entschieden, grössere Wracks gar nicht in die Karte auf-zunehmen. Dasselbe gilt für Trinkwasserfassungen und weite-re sensible Installationen – ein Giftanschlag auf die Trinkwasser-versorgung am Überlingersee vor neun Jahren hat diesbezüglich die Bevölkerung aufgeschreckt.

Der Wissenschaft öffnen die neuen 3-D-Bodenseekarten ganz neue Welten. So gibt es Beweise für Methanvorkommen im See-grund oder Hinweise auf mögli-che geologische Bruchzonen. «Da sind wir sehr scharf drauf», sagt Anselmetti. Wessels seinerseits möchte ein besonderes Auge auf die Entwicklung der (neuen) Rheinmündung werfen. Wie viel Wasser fliesst einfach oben rein, wie viel stürzt in die Tiefe? Wie verändert sich die Durchmi-schung mit der Klimaerwärmung? Und wie entwickelt sich das Fluss-bett unter Wasser weiter?

Möglicherweise entsteht da ja gerade der nächste Rhein-Can-yon, den noch niemand kennt.

67sonntagszeitung.ch | 8. Juli 2014 Wissen

Der bestvermessene See der WeltLöcher vor Kreuzlingen, eine unterseeische Quelle und Methanvorkommen: Bei der Erkundung des Bodensees stiess das Team des Projekts Tiefenschärfe auf jede Menge Überraschungen

«Zürichsee ist vor Tsunamis

nicht gefeit»In Schweizer Seen finden sich Spuren vergangener

Erdbeben

Vor 13 800 Jahren erlebte Zürich eine Naturkatastrophe gewaltigen Ausmasses. Der Zürichsee war da-mals viel grösser als heute. Die Lin-denhof-Endmoräne staute den See, sein Spiegel lag 12 Meter über den heutigen 406 m ü. M. Er sei wohl mit dem Walensee und über das Seez- und das Rheintal möglicherweise so-gar mit dem Bodensee verbunden ge-wesen, erzählt Flavio Anselmetti von der Universität Bern.

Dann bebte die Erde. Massive Hangrutschungen im See und ein Binnensee-Tsunami waren die Fol-ge. Die Riesenwelle schwappte über die Endmoräne, diese durchbrach – entweder wegen des Erdbebens oder des Tsunamis – an vier Stellen, und eine gigantische Wassermasse flute-te das Limmattal.

Eine Gefahrenkarte für alle Schweizer Seen

«Massive Rutschungen, die Tsu-namis auslösen, passieren in der Schweiz etwa alle 1000 Jahre», sagt Anselmetti. Der Paläo seis mologe ist spezialisiert auf prähistorische Erd-beben. 1601 zum Beispiel löste ein Erdbeben in der Innerschweiz Hang-rutschungen im Vierwaldstättersee und damit eine rund vier Meter hohe Tsunamiwelle aus.

Die Spuren für die historischen und prähistorischen Erdbeben fin-det Anselmetti am Grund der Schweizer Seen. Seit gut zwei Jahren besitzt seine Arbeitsgruppe ein hoch modernes Fächerecholot (s. Haupt-text / Grafik oben), mit dem er seit-her im Auftrag von Swisstopo und anderen Organisationen schon ver-schiedene Schweizer Seen neu ver-messen hat, darunter den Genfer-, den Vierwaldstätter- und den Zürichsee. Anders als beim Boden-see wurde bei diesen Seen die seich-te Uferzone nicht zusätzlich mit Lidar-Vermessungen ergänzt.

Anselmettis Ziel ist es, Unter-wassergefahrenkarten von allen Schweizer Seen zu erstellen. «Wir können gefährdete Hänge identifi-zieren», sagt Anselmetti. Allerdings sei es sehr schwierig bis unmöglich vorauszusagen, wann genau sich ein Tsunami ereignen könnte. «Auch der Zürichsee ist nicht gefeit vor sol-chen Ereignissen.»

Nik Walter

536 km2 gross ist der Bodensee

0,1Grad Kelvin. Diese minimen Temperaturunterschiede konnte eine Wärmebildkamera an Bord des Flugzeugs in der Uferzone registrieren

1893wurde der Bodensee zum ersten Mal vermessen, durch Ferdinand Graf von Zeppelin

5550 kmhat das Forschungsschiff Kormoran beim Sammeln der Fächerecholotdaten zurückgelegt

254 Meter tief ist der Bodensee an seiner tiefsten Stelle (zwischen Uttwil und Fischbach)

612 000 Euro kostet das Projekt. Die Schweiz beteiligt sich mit 159 120 Euro

400Sonarstrahlen tasten beim Fächerecholot den Untergrund gleichzeitig ab

280 kmUferzone vermassen die Forscher mit der Hydromapping- Technologie aus dem Flugzeug in nur vier Tagen

1000-fachhöhere Auflösung mit den neuen Technologien als bei der zweiten Vermessung 1986–1990

Zahlen und Fakten

Der im Oktober 1933 absichtlich versenkte Raddampfer Helvetia III

Mit 400 Ultraschall-Strahlen in Form eines Fächers tastete das mehrere hunderttausend Franken teure Gerät an Bord des Forschungs-

«Kormoran»den Seegrund ab einer Tiefe von fünf Metern ab. Jeder Quadratmeter Grund wurde dabei mehrfach abgedeckt. Insgesamt fuhr das

Vermessungslinienund legte dabei 5550 Kilometer zurück.

Bild 1: «Rheinschlucht» bei der Mündung des alten Rheins

Mäander des Rheins auf dem Seegrund vor Langenargen

Bild 3:Rutschungen in der Molasse am Überlingersee deuten auf Grundwasser-austritte hin

Fächerecholot1

3

Ein grüner Laserstrahl an Bord eines Airborne

scannt den Boden

Laserstrahl kann in Wassertiefen bis

2

Laserscanning

1

Prozessierte Laserscanning-Aufnahme der Hafenanlage Romanshorn

Wärmebild der Hafenanlage Immenstaad

2

Unprozessierte Punktwolke(Hafenanlage am Überlingersee)

3

Tiefenschärfe

AHM

Illu

stra

tio

n: M

arti

n H

aake