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Lernort Griechenland Mosaiksteinchen einer Griechenland-Erfahrung von Hermann Heiser Der Bus holt uns am Athener Flughafen ab. Wir lassen die Stadt aber buchstäblich links liegen und steuern als erstes Ziel Delphi an, den Nabel der Welt, den Mittelpunkt in der Abgeschiedenheit. Orest war hier und Kroisos, Themistokles und Chairephon und Sulla als Plünderer - nicht jeder per- sönlich, aber ihre Spuren haben sie (zumindest in der Literatur) hinterlassen. Stoff für Geschichten und Re- ferate auf dem Weg von der Marmaria über das Gym- nasion zur Kastalia, beim Gang von den ersten Schatz- häusern zum Apollontempel und weiter hinauf zu Theater und Stadion. Dokumente und Zeugnisse von Kleinstaaterei und Weltpolitik entlang der Heiligen Straße. Ein „Schatzhaus“ besonderer Art: das Muse- um. Kleobis und Biton begrüßen uns (wir schlagen den Bogen zu Herodots Glücksdebatte zwischen Kroi- sos und Solon); am anderen Ende erwartet uns im letzten Saal der Wagenlenker. Zwei exklu- sive Beispiele antiker Plastik: archaischer Kouros und frühklassische Bronze. Durch den silbrig-grünen Schatten 600jähriger Olivenbäume geht es vorbei an Itea am Korinthischen Golf entlang.

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Lernort Griechenland

Mosaiksteinchen einer Griechenland-Erfahrung

von Hermann Heiser

Der Bus holt uns am Athener Flughafen ab. Wir lassen die Stadt aber buchstäblich

links liegen und steuern als erstes Ziel Delphi an, den Nabel der Welt, den Mittelpunkt in der

Abgeschiedenheit.

Orest war hier und Kroisos, Themistokles und

Chairephon und Sulla als Plünderer - nicht jeder per-

sönlich, aber ihre Spuren haben sie (zumindest in der

Literatur) hinterlassen. Stoff für Geschichten und Re-

ferate auf dem Weg von der Marmaria über das Gym-

nasion zur Kastalia, beim Gang von den ersten Schatz-

häusern zum Apollontempel und weiter hinauf zu

Theater und Stadion. Dokumente und Zeugnisse von

Kleinstaaterei und Weltpolitik entlang der Heiligen

Straße.

Ein „Schatzhaus“ besonderer Art: das Muse-

um. Kleobis und Biton begrüßen uns (wir schlagen

den Bogen zu Herodots Glücksdebatte zwischen Kroi-

sos und Solon); am anderen Ende erwartet uns im letzten Saal der Wagenlenker. Zwei exklu-

sive Beispiele antiker Plastik: archaischer Kouros und frühklassische Bronze.

Durch den silbrig-grünen Schatten

600jähriger Olivenbäume geht es – vorbei an

Itea – am Korinthischen Golf entlang.

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Wir setzen über auf die Peloponnes, queren Achaia und erreichen Olympia. Ähnlich spekta-

kulär wie in Delphi die Exponate auch hier: Giebelplastik und weltberühmte Metopen „haut-

nah“, mit den Figuren der peloponnesischen Ursprungsmythen auf Augenhöhe. Und raffiniert

hinter einer Wand im eigenen Kabinett der Hermes des Praxiteles, spätklassischer Marmor,

geschliffen und poliert (zumindest vorn) und verbal pulverisiert durch die extremen Deutun-

gen von Barrès und Emilio Cecchi.

Der Bezirk von Olympia.

Wer sich unter dem Begriff

Hain nie etwas vorstellen

konnte – hier erlebt er ihn.

Natürlich interessiert die

Schüler alles, was mit Sport

und den antiken Olympi-

schen Spielen zusammen-

hängt, und einer von ihnen

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referiert vor aufmerksamen Zuhörern. Doch Olympia ist Kultstätte und panhellenischer Mit-

telpunkt. Auch hier verdeutlichen die Spuren prominenter Besucher diese Bedeutung des Orts,

der Zeus geweiht war: Alexander und Kleisthenes, Phidias und Herodot, Platon, Pindar, Sulla

(plündernd, was sonst?), Nero…und Herodes Atticus, der Gönner, der uns auf unserer Reise

noch mehrmals begegnen wird. – Die inzwischen in voller Höhe errichtete Säule an der

Nordwest-Ecke des Zeustempels lässt seine wirkliche Größe und die des Weltwunders, das er

in seinem Innern barg, erahnen.

Durch Arkadien in die Argolis – eine immer wieder atemberaubende Fahrt (wenn

man, was ratsam ist, die neue Autobahn meidet). Vor dem Serpentinenabstieg ein Blick über

ein imposantes Panorama: Argos, daneben das satte Grün der Orangenhaine, Nafplio mit der

Festung Palamidi und – vor allem – das Meer. Hier ist Baden ein Muss, ob in Nafplio oder

Tolon. Kaum irgendwo ist die historische Spanne größer als hier: Mykene und griechische

Neuzeit (Nafplio), Agamemnon und König Otto, Orest und Ioannis Kapodistrias, Tiryns und

Bourzi, Lerna, Kyklopen, Lord Byron und Schliemann. Und Argos ist die Heimat von Kleobis

und Biton.

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Die Orestie, die in

Epidauros aufgeführt worden

sein mag, spielte authentisch

im nur knapp 40 km Luftlinie

entfernten Mykene. Oder

Christa Wolfs Kassandra.

Am Ende jeder Griechen-

landreise befragt nach dem

Ort, der den größten Eindruck

hinterlassen hat, antworten

immer wieder die meisten

Schüler: Mykene. Die beste

Voraussetzung, sie hier bereits auf den Mykene-Saal des Athener Nationalmuseums gespannt

zu machen.

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Der Weg dorthin in Etappen: Nemea und Korinth (damit schließt sich der Kreis der

Stätten der panhellenischen Spiele). Sisyphos und das Medea-Referat täuschen darüber hin-

weg, dass wir uns in Korinth im Gelände einer römischen Stadt befinden. Forum statt Agora.

Die Zerstörung Korinths 146 v. Chr. wird zum epochalen Datum. Mit Paulus kommt das

Christentum ins Blickfeld. Diogenes, der Hund, der Kyniker, lebte zeitweise hier; Cäsar und

Herodes Atticus haben Wiederaufbauhilfe geleistet.

Der Weg nach Athen, gesäumt von berühmten Stationen am Weg: Megara, Salamis,

Eleusis. Und wer nicht Osios Loukas besuchte, mag im Kloster Daphni einkehren – bevor er,

hilflos im Athener Verkehr treibend – oder steckend –, in den Moloch der Großstadt ein-

taucht. Fluchtpunkte, Refugien: Käsariani, Ägina oder einfach die Pnyx, von der man den

denkbar besten Blick auf die Akropolis hat. Oder das Kykladenmuseum. Oder der Blick über

die nächtliche Stadt aus der erhabenen Höhe des Lykavettos.

Athen. Wo anfangen? Worauf verzichten? Selbst das antike, selbst das klassische zu

beschreiben, muss in diesem Rahmen misslingen. Athen hat von allem zuviel. Kein medén

ágan, sondern maßlos in allem. Maßlos an Schätzen und Elend, maßlos an Selbstbewusstsein

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und Selbstüberschätzung, maßlos im Geben und Nehmen, in all seinen Extremen. So, dass die

wenigen Tage des Aufenthalts trotz vollem Programm nur Impulse geben können und Anreize

für eine Wiederkehr.

1

2

1 Athen, Blick von Südosten

2 Kesarianí

3 Athen: Theater des Herodes Atticus

4 Lykavettos

3

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Ich telefoniere wegen des Transfers vom Hotel zum Flughafen: „Wie lange benötigen

wir mit dem Bus dorthin?“ – „Das weiß keiner.“

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Epilog

Eine Studienfahrt nach Griechenland bedeutet für jeden Griechischkurs immer noch

einen unvergesslichen Höhepunkt der gesamten Schulzeit. Alle großen historischen Epochen

der Antike – aber nicht nur ihre – lassen sich dort in unvergleichlicher Weise besichtigen und

studieren; die Bindung an einen Griechischkurs ermöglicht zudem eine intensive Vorberei-

tung im Unterricht. Der Wert, den Lernort Schule zu verlassen und die Bedeutung von Ge-

schichte und Kultur der Antike im Wortsinne zu erfahren und zu erleben, kann nicht hoch

genug eingeschätzt werden.

Trotz des Aufwandes einer solchen Reise hat diese Fahrt am Rabanus-Maurus-Gym-

nasium seit Jahrzehnten eine ungebrochene Tradition. Gerade wegen ihres Studienfahrt-

Charakters erfreut sie sich großer Zustimmung und Förderung durch Eltern, Schulleitung und

Förderverein. So war ich auch in diesem Herbst wieder mit einer Gruppe von begeisterten

Griechischschülerinnen und -schülern der 12. Klasse zehn Tage unterwegs auf „klassischer“

Rundreise. Nach unserer Rückkehr aus dem noch sommerlichen Athen ins herbstliche

Deutschland bin ich mir auch dieses Jahr sicher, dass die Erzählungen und Berichte der von

Eindrücken übervollen Schüler die Eltern in ihrer Unterstützung der Fahrt bestätigen und den

einen oder anderen noch unentschlossenen Schüler vielleicht dazu bewegen, sich bei der be-

vorstehenden Fächerwahl doch noch für das Fach Griechisch zu entscheiden.