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ALBER LEHRBUCH A

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Dieses Lehrbuch führt systematisch in die Wissenschaftstheorieund Methodologie ein, indem es vier zentrale Themen darstelltund eigenständig weiterentwickelt: 1) Wissenschaft besteht aussozialen Systemen und Handlungen, muß in dieser Dimensionvon Religion und Politik abgegrenzt werden und einen eigenenTyp von Verantwortung definieren. 2) Wissenschaft ist geprägtvon geistigen Repräsentationen in Form von Strukturen, Modellen,Theorien, Computerprogrammen, die meist durch Sprache be-schrieben werden. 3) Wissenschaft ist an Erfahrung gebundendurch Daten, Experimente, Messung sowie deren statistische Auf-bereitung. 4) Wissenschaft ist geprägt von charakteristischen Vor-gehensweisen (Methoden), die je nach Disziplin und Gegenstandvariieren. Die Behandlung dieser Themen ist für Natur-, Sozial-und Informationswissenschaften und für statistische Theorien glei-chermaßen zutreffend. Die allgemeinen Begriffe werden durchdetaillierte Beispiele aus den verschiedensten Fachgebieten belegt.Zu jedem Abschnitt wird ergänzende und weiterführende Literaturangegeben, vor allem für die Dimensionen des Sozialen und derMethoden.

Der Autor, Professor Dr. phil. Wolfgang Balzer, forscht im Bereichder – hauptächlich strukturalistischen – Wissenschaftstheorie, eruntersucht speziell soziale Praktiken, Institutionen und Simulatio-nen. Er lehrte fast drei Jahrzehnte an der Universität München undist durch zahlreiche Bücher und Aufsätze in internationalen Fach-zeitschriften hervorgetreten.

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Wolfgang Balzer

Die Wissenschaft und ihre Methoden

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Wolfgang Balzer

Die Wissenschaftund ihre MethodenGrundsätze derWissenschaftstheorie

Ein Lehrbuch

Verlag Karl Alber Freiburg /München

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2., völlig überarbeitete Auflage

Druckvorlage durch den Autor

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperAlle Rechte vorbehalten – Printed in Germany© Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 1997, 22009www.verlag-alber.deDruck und Bindung: Difo-Druck, BambergISBN 978-3-495-48377-0

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Inhalt

Vorwort 9

Kapitel 1 Soziales

1.1 Wissenschaft als Prozess 111.2 Dimensionen und Faktoren im Wissenschafts-

prozess 151.3 Selbstorganisation in der Wissenschaft 251.4 Wissen 291.5 Wissenschaft versus Offenbarung 331.6 Verantwortung in der Wissenschaft 38

Erganzende Lekture zu Kapitel 1 45

Kapitel 2 Strukturen

2.1 Empirische Theorien 462.2 Die Sprache einer Theorie 582.3 Einige Ableitungsregeln 662.4 Definitionen 712.5 Strukturen 782.6 Interpretation und Gultigkeit 862.7 Aspekte von mengentheoretischen Sprachen 962.8 Mengentheoretische Pradikate 1032.9 Modelle 1082.10 Morphismen 1162.11 Praktische Disziplinen 1212.12 Statistische Theorien 1252.13 Computerprogramme 1352.14 Umfassende Theorien 142

Erganzende Lekture zu Kapitel 2 151

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Kapitel 3 Daten

3.1 Daten 1533.2 Harte und weiche Daten 1633.3 Datengewinnung 1693.4 Fundamentale Messung 1783.5 Theoriegeleitete Messung 1863.6 Das Messproblem 1963.7 Datenstrukturen 2063.8 Teilstrukturen 2123.9 Passung von Modellen und Daten 2173.10 Approximative Passung 2283.11 Test statistischer Hypothesen 2423.12 Wissensbasierte Systeme 2503.13 Die Anwendung formaler Theorien 254

Erganzende Lekture zu Kapitel 3 263

Kapitel 4 Methoden

4.1 Grundmuster wissenschaftlicher Ubergange 2644.2 ”Dialektische“ Entwicklungsmuster 2684.3 Induktive Methode 2734.4 Maschinelle Entdeckung 2844.5 Deduktive Methode 2904.6 Identifikation im Limes 2964.7 Hermeneutische Methode 2994.8 Bestatigung 3134.9 Computersimulation 3244.10 Erklarung 333

Erganzende Lekture zu Kapitel 4 340

Literatur 341Autorenregister 355Sachregister 359Liste der Symbole 366

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Vorwort

Die zweite, vollstandig neubearbeitete Auflage dieses Buch sollals einfuhrendes Lehrbuch in die allgemeine Wissenschafts-theorie dienen. Dieser Bereich umfasst die Strukturen, die Ent-wicklung, die Methoden der Wissenschaften und die Einpas-sung dieser Dinge in eine -hier insbesondere: unsere- Gesell-schaft. Das Buch wendet sich an Studierende und Lehrendealler Disziplinen, die sich mit Grundlagenfragen und methodi-schen Problemen auseinandersetzen.

Die Wissenschaftstheorie ist im Moment auf Univer-sitatsebene kaum prasent. Dies ist schade. Denn unsere Ge-sellschaft ist wohlhabend geworden durch Bildung, die in meh-reren Generationen aufgebaut wurde. Im Moment soll die Ge-sellschaft durch Ausbildung in produktnahen Wissenschaftsbe-reichen zukunftsfahig gemacht werden. Aber wo ist die Bildunggeblieben? Das Nachdenken uber Wissen und das Nachdenkenuber das Schaffen von Wissen ist ein Kernbestandteil der Bil-dung. Dies wussten die Gebildeten immer.

Ich habe mich bemuht, die Naturwissenschaften nicht alsubermachtiges Vorbild darzustellen und den Sozialwissenschaf-ten und anderen Disziplinen einen angemessenen Platz ein-zuraumen. Die strukturellen und die methodischen Problemesind in den Sozial- und Geisteswissenschaften im Vergleich zurNaturwissenschaft wesentlich schwieriger. Normalerweise wer-den in jedem Wissenschaftsbereich solche Probleme anders iso-liert und diskutiert. Mein Ziel in diesem Buch war, die Na-turwissenschaften und die anderen Wissensgebiete zu einemzunachst einheitlichen Bild zusammenzufugen, innerhalb des-sen dann die interessanten Unterscheidungen getroffen werdenkonnen. Ohne diesen Rahmen wird der wissenschaftliche Wett-bewerb ausgelagert, auf Neudeutsch: ”outgesourced“, namlichin den Bereich der Politik und der Wirtschaft.

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Die Abschnitte in den Kapiteln 2 und 3 bauen -mitAusnahmen- systematisch aufeinander auf und vermitteln einprazises Modell von Theorie und Anwendung, das fur jedenwissenschaftlich Arbeitenden von Nutzen sein durfte. In Kapi-tel 4 werden die wichtigsten allgemeinen Typen wissenschaftli-chen Vorgehens jeweils kurz behandelt; diese Abschnitte sollenin der akademischen Lehre jeweils als Ausgangspunkt fur eintieferes Eindringen in das jeweilige Thema dienen. Dazu sindan den Kapitelenden ausgewahlte, weiterfuhrende Arbeiten an-gegeben.

Aufgrund der allgemeinen Ausrichtung geht das Buch nichtauf schwierige Beispiele ein und enthalt keine umfangreichenFallstudien; auch hier finden sich in den Literaturangaben ein-schlagige Hinweise.

Aus der Munich Simulation Group habe ich viele Anregun-gen bekommen. Ich bedanke mich speziell bei Karl Brendel,Solveig Hofmann, Klaus Manhart, Joseph Urban und Die-ter Will. Bei der Vorbereitung und der Abfassung des Manus-kripts habe ich durch Phillio Marcou und Stefanie Seithwertvolle Diskussionen und Hilfen erhalten.

Munchen, im Mai 2009

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Kapitel 1: Soziales

1.1 Wissenschaft als Prozess

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bilden mit ihremVerhalten ein Teilsystem der Gesellschaft, welches im Laufeder Zeit interessante Anderungen durchmacht. Eine allgemei-ne Abgrenzung dieses ”Systems“ Wissenschaft ist schwierigund wird hier nicht versucht, obwohl sich in einigen speziellenFallen, wie etwa bei den Universitatsprofessoren, leicht ent-scheiden lasst, ob eine Person oder eine ihrer Handlungen zudiesem System gehort oder nicht.

Das Wissenschaftssystem definiert in seinem Ablauf einenProzess. Dieser ”Wissenschaftsprozess“ lasst sich auf minde-stens zwei verschiedenen Ebenen analysieren, namlich einmalauf der strukturellen Ebene des Wissens, wie es in materiellfixierter Weise in Buchern, Aufsatzen und Manuskripten dar-gestellt ist und sich im Laufe der Zeit andert und entwickelt.Solches Wissen kann als Produkt, als ”Output“ der Wissen-schaft und des Wissenschaftsprozesses angesehen werden. Esdient als ”Rohstoff“ oder ”Input“ fur andere gesellschaftlicheTeilsysteme: Technik, Wirtschaft, Politik, Medizin, Armee, Bil-dung. Der Wissenschaftsprozess kann aber auch auf einer zwei-ten Ebene analysiert werden, namlich der Ebene der Menschen,ihrer Handlungen, Ziele, Werte, der Ebene der sozialen Grup-pen und Institutionen, kurz: der sozialen Ebene.

Auf beiden Ebenen bietet der Wissenschaftsprozess einvielfaltiges und lebendiges Bild. Auf der Wissensebene ent-wickeln sich immer komplexere Strukturen von Theorien undModellen, die sowohl miteinander, als auch mit zugehorigenDaten in einer Beziehung der Koharenz oder des Passens ste-hen. Ausgehend von ziemlich allgemeinen Grundmodellen, dieeinen großen Bereich realer Systeme abdecken, werden immerfeinere Spezialisierungen erfunden, die immer speziellere Teileder Realitat modellieren. Dieses Bild eines sich ausdifferenzie-

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renden Theoriennetzes finden wir in den verschiedensten Ob-jektbereichen und Disziplinen. Zwischen Theoriennetzen ent-stehen begriffliche Querverbindungen und zwischen den realenSystemen aus verschiedenen Bereichen werden direktere Iden-titatsbeziehungen geknupft. Auf diese Weise wird ein Objekt-oder Phanomenbereich immer feiner modelliert, die Zahl dererfassten Phanomene und ebenso die Zahl der Daten wirdgroßer, die Passung zwischen Daten und immer feineren Mo-dellen wird besser.

Im Gesamtgefuge von Theorien und Daten entstehen durchdie standigen Neuerungen aber auch Spannungen, namlichwenn neue Daten oder neue Theorien nicht mit den bisheri-gen Theorien und Daten zusammenpassen. Manchmal erfolgendann großere Umbruche in Form von Korrekturen an den allge-meinen Grundmodellen eines Bereichs, durch die die Spannungeliminiert und die Koharenz des Gesamtsystems erhoht wird.1

Die Wissenschaftstheorie bewegte sich bisher fast aus-schließlich auf der ersten Analyseebene, der des Wissens. DieObjekte: Theorien, Modelle, intertheoretische Relationen, Da-ten etc. sind begrifflicher Natur und bei ziemlicher Stabilitatauch gut als Forschungsobjekte geeignet. Das angedeutete Bildvon der Struktur und Entwicklung der Wissenschaft ist wichtigund komplex genug, um eine eigene Theorie zu ”nahren“.

Auf der zweiten, sozialen Analyseebene fallt demgegenuberdie Systematisierung schwerer. Hier sind die Objekte undPhanomene -Personen, Handlungen und Systeme von solchen-instabil und schwer zuganglich, unser Wissen uber sieist bis jetzt ziemlich durftig. Eine neue Teildisziplin, dieWissenschaftsforschung, ist mit ersten Schritten der Theo-riebildung auf dieser Ebene im Entstehen begriffen.2

Auf der sozialen Ebene sind mindestens zwei Arten vonPhanomenen zu unterscheiden. Bei der ersten Art steht die ein-zelne Person mit ihren Handlungen im Mittelpunkt. Die Personmacht einen Prozess der Ausbildung durch, forscht, veroffent-1Dieses informelle Bild ist eine Mischung von Kuhn 1962 und struktu-

ralistischer Wissenschaftstheorie, etwa in der Darstellung von Balzer,Moulines, Sneed 1987.

2Vergleiche z.B. Weingart 1973/74, Knorr-Cetina 1981, Krohn &Kuppers 1990, Balsiger 2005, Glaser 2006.

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licht, diskutiert mit anderen, macht Werbung fur die eigenenErgebnisse, versucht, Mittel fur die eigene Forschung und deneigenen Unterhalt zu bekommen und auch, die Mittel fur rivali-sierende Ansatze knapp zu halten.3 Sie wirkt mit beim Aufbauvon Instituten und Institutionen, die die eigenen Ergebnisseverbreiten und festigen helfen. Die Person wird jeweils in einebestimmte Gesellschaft und ein soziales Umfeld hineingeboren,deren Werte und Meinungen, aber auch Stil und Mentalitat siezunachst automatisch ubernimmt. Umgekehrt wirkt die wis-senschaftliche Arbeit der einzelnen Person mehr oder wenigerdeutlich ausgepragt auf ihr gesellschaftliches Umfeld ein undverandert dieses.

Die zweite Art von Phanomenen betrifft die sozialen Grup-pen. Eine Forscherin ist stets in eine Forschungsgruppe, ei-ne wissenschaftliche Gemeinschaft eingebunden, d.h. eineGruppe von Personen, die die gleichen Objekte oder Phano-mene mit gleichen Mitteln und gleicher Wertung untersucht.Die Gesamtgesellschaft, zu der die Forscherin gehort, stellteinen Fundus an technischen Moglichkeiten zum Bau von Ap-paraten, zur Durchfuhrung von Experimenten und zur Date-nerhebung zur Verfugung. Andere Gruppen ermoglichen derForscherin die Benutzung dieser Mittel. Vielfach entstehen auswissenschaftlichen Gemeinschaften neue Institutionen: Institu-te an Universitaten, Forschungsabteilungen der Industrie, EU-geforderte Gruppen, und auch Forschungsinstitute der politi-schen Organisationen.

Schließlich ist das vielleicht wirkungsmachtigste Grup-penphanomen die politische Bewertung verschiedener wissen-schaftlicher Aktivitaten, wie in den letzten zwanzig Jahren ander Forderung von Krebs-, AIDS-, Nano-, neurobiologischerForschung, oder verschiedenen Arten von wissenschaftsbezo-gener Ethik einerseits und der Einschrankung der Friedens-und Konfliktforschung, oder der Genforschnung andererseitsdeutlich zu sehen ist.

Sowohl auf der strukturellen als auch auf der sozialen Ebenewerden also Prozesse, Ablaufe, untersucht. Ein Prozess ist einstandiger Ubergang vom Moglichen zum Wirklichen, eine Folge

3Sie spielt in diesem Fall die Rolle des Gutachters oder Politikberaters.

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von Zustanden in einem Raum von Moglichkeiten, dem soge-nannten Zustandsraum, der auch alternative, bloß moglicheZustande enthalt. Die Vorstellung von wissenschaftlicher Ent-wicklung in einem Zustandsraum legt das Bild der Evoluti-onstheorie nahe. Am Zustand, der in einer bestimmten Peri-ode vorliegt, treten verschiedene Anderungen oder Neuerungenauf. Einige davon bleiben unbeachtet, werden unterdruckt oderruckgangig gemacht, andere finden Anklang, stabilisieren sichund werden als Elemente in den Folgezustand aufgenommen.Im Unterschied zur Evolutionstheorie treten die Anderungenin einem Zustand jedoch nicht -wie Mutationen- spontan auf,sondern nach einem, nicht zu unterschatzenden, allerdings auchnoch nicht gut verstandenen, methodischen Muster.4

Die Erforschung des Wissenschaftsprozesses hat nach die-sem Bild mindestens zwei, ineinander verflochtene Aufgaben.Erstens ist ein Zustandsraum aufzubauen, indem die zur Be-schreibung von Anderungen relevanten Dimensionen geklartund zusammengefugt werden. Zweitens sind die Faktorenzu erforschen und zu bestimmen, die den Ubergang von ei-nem Zustand in einen anderen bewirken oder als Teilursachenfordern. Man kann grob ”interne“ und ”externe“ Faktoren un-terscheiden. Interne Faktoren verursachen oder beeinflussendie Veranderung auf der strukturellen, nicht-sozialen Ebene,wahrend externe Faktoren auf der sozialen Ebene die Stabili-sierung oder Unterdruckung solch interner Veranderungen be-wirken.

Eine Erforschung des Wissenschaftsprozesses hat neben demreinen Erkenntnisgewinn mindestens zwei praktische Ziele. Er-stens mochte man in der Politik wissenschaftliche Entwicklun-gen bewerten, fordern oder verhindern. In einem zweiten, mehr

”internen“ Ziel mochte man die wissenschaftliche Forschungdurch ”gute“ historische Vorbilder, durch gute Organisationdes Wissens in Theorien und durch bessere Methodenstandardsin Forschung und Ausbildung optimieren.

4Vergleiche hierzu auch Abschnitt 4.4.

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1.2 Dimensionen und Faktoren im Wissenschaftsprozess

Ein Zustand im Wissenschaftsprozess zu einer bestimmtenZeit enthalt viele Komponenten, die fur seine Systematisie-rung relevant werden konnen. Wir interessieren uns hier weni-ger fur Zustande des gesamten Wissenschaftssystems, als mehrfur Zustande verschiedener Teilsysteme, wie sie zum Beispieldurch wissenschaftliche Disziplinen oder kleinere Einheiten ge-geben sind. Sowohl das Gesamtsystem, als auch all seine Teilsy-steme wollen wir als Wissenschaftssysteme bezeichnen. Rele-vant fur die Zustandsbeschreibung eines Wissenschaftssystemssind mindestens all jene Komponenten, bei deren Anderungsich auch der gesamte Zustand des untersuchten Wissenschafts-systems andert. Diese Bedingung hangt allerdings nicht nurvom Wissenschaftssystem ab, sondern auch vom Typ und vomErfolg, den eine mit den entsprechenden Komponenten arbei-tende Meta-Theorie hat. Eine Liste von Zustandskomponentenware vollstandig, wenn jede relevante Komponente in ihr vor-kommt oder sich aus Elementen der Liste definieren lasst. OhneAnspruch auf Vollstandigkeit listen wir folgende Komponentenoder Dimensionen auf.1. Dimension: Theorien und Modelle.Die wichtigste Dimension zur Beschreibung eines Zustandesbetrifft die Theorien. Theorien stellen das in einem Zustandvorhandene Wissen in objektivierter, meist sprachlich nieder-gelegter Weise dar. Sie sind dann vor allem in Form von Hypo-thesen und Daten relativ leicht identifizierbar und in zusam-mengehorige Gruppen klassifizierbar. Theorien, die ein gewis-ses Maß an Koharenz aufweisen, erlauben die Definition oderKonstruktion von Modellen.5 Modelle konnen wir uns in ersterNaherung als begriffliche Konstrukte zur ”Abbildung“ realerSysteme -einschließlich der Daten- oder zum Umgang mit sol-chen, vorstellen.

Die Erfindung einer neuen Theorie oder der Wegfall einervorhandenen Theorie (aus welchen Grunden auch immer) mar-

5Der Modellbegriff wird hier stets im prazisen Sinn der Modelltheorieverwandt, vergleiche etwa Shoenfield 1967, sowie 2.9 unten. Der Mo-dellbegriff der Informatik ist spezieller; er schließt Daten nicht ein.

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kieren stets eine Anderung im Zustand des untersuchten Wis-senschaftssystems. So etwa anderte sich der Zustand der klas-sischen Mechanik -und damit die klassische Mechanik selbst-durch die Entdeckung und Hinzufugung des Hooke’schen Ge-setzes um 1720 und ebenso durch die Herausnahme optischerGesetze, die Newton ursprunglich als zur Mechanik gehorigangesehen hatte.2. Dimension: Beziehungen und Querverbindungen zwischen

Theorien.Neben den Theorien als ”Grundobjekten“ enthalt eine Zu-standsbeschreibung die Angabe vielfaltiger Beziehungen, diezwischen Theorien und ihren Modellen existieren, etwa in Formintertheoretischer Relationen wie Reduktion oder approxima-tiver Reduktion, oder in schwacheren Formen der begrifflichenoder datenmaßigen Verknupfung, die auch als ”Links“ bezeich-net werden. Solche Querverbindungen dienen dazu, Begriffe,theoretische Annahmen und Daten von einer Theorie in die an-dere zu ubertragen. Wahrend eine intertheoretische Relationjeweils auf zwei ”ganze“ Theorien Bezug nimmt, werden durchLinks nur einzelne Begriffe oder Daten der Theorien mitein-ander verbunden. So bedeutet zum Beispiel die approximativeReduktion der Newtonschen Gravitationstheorie auf die allge-meine Relativitatstheorie, dass alle wichtigen Begriffe und Hy-pothesen der ersteren auch in letzterer approximativ enthaltensind.6 Dagegen beinhaltet eine bekannte Verbindung, die keineintertheoretische Relation stiftet, die Identitat von Substanzen,die in Systemen der Stochiometrie einerseits und der idealenGastheorie andererseits vorkommen, sowie eine entsprechendeBeziehung zwischen dem stochiometrischen Begriff der Mol-zahl und dem der Gaskonstanten in der Gastheorie.7 Etablie-rung oder Elimination einer intertheoretischen Relation sinddramatische Ereignisse, die den Zustand des Wissenschaftssys-tems deutlich verandern. Das Neuhinzukommen oder Wegfal-len von Datenverbindungen ist weniger spektakular, markiertaber doch jeweils eine deutliche, qualitative Anderung des Ge-

6Vergleiche z.B. Ehlers 1986, siehe auch Scheibe 1997, 1999.7Vergleiche Lauth 1989 fur Details.

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samtzustandes, vor allem dann, wenn das untersuchte Wissen-schaftssystem nicht zu groß ist.

Diesen ersten beiden Dimensionen liegt ein ”systemisches“Bild der Realitat zugrunde: die ”Welt“, die in einem Wissen-schaftssystem erforscht wird, besteht aus vielen verschiedenenSystemen, deren Querverbindungen einen zentralen Beitrag zuihrer Gesamtstruktur liefern. Nach einer anderen, entgegen-gesetzten Sichtweise bezieht sich das ganze, in einer Theo-rie zusammengefasste Wissen auf einen einzigen, umfassendenGegenstandsbereich. Eine Diskussion uber diese verschiedenenSichtweisen ist nicht notig; unser Ansatz ist differenzierter undenthalt die zweite Sichtweise als Spezialfall.3. Dimension: Invarianzen und Symmetrien.Werden in einem Modell Objekte und Funktionen nach be-stimmten Regeln durch andere Objekte und Funktionen er-setzt, so ist die entstehende, transformierte Struktur wie-der ein Modell. Die Modelle von Theorien sind in diesemSinn invariant unter bestimmten, fur die jeweilige Theoriecharakteristischen Transformationen. Modelle der klassischenMechanik bleiben beispielsweise unter bestimmten Koordina-tentransformationen, den Galilei-Transformationen, erhalten.Symmetrien sind Transformationen spezieller mathematischerForm. Neben den formalen, ”passiven“ Transformationen spie-len auch reale, aktive Transformationen eine wichtige Rol-le. Dabei werden die durch die jeweilige Theorie modellier-ten, realen Systeme aktiv verandert und es zeigt sich, dassbei bestimmten Formen von Veranderung die Theorie auchauf die transformierten Systeme anwendbar ist.8 Zum Beispielbleiben die Newtonschen Axiome in einem mechanischen Sy-stem gultig, wenn das System vom ursprunglichen Zustand ineinen Zustand konstanter Geschwindigkeit gebracht wird. Ne-ben ”naturlichen“ Invarianzen einer Theorie, die sich aus de-ren Modellen definitorisch ergeben, werden vielfach noch ande-re Arten von Transformationen studiert, deren Angabe einenBeitrag zur Zustandsbeschreibung darstellen kann.

8Zum Ursprung von Invarianzen und ihrem operationalen Hintergrundvergleiche Balzer 1983, 1980.

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4. Dimension: Daten.

Daten sind die singularen Gegenstucke der allgemeinen Hy-pothesen. Hypothesen und Daten bilden zwei Pole, die ein-ander im Spannungsverhaltnis von Systematisierung und Testgegenuberliegen. Da sich die Datenmenge eines Wissenschafts-systems quasi kontinuierlich andert, ware es unzweckmaßig,jede Anderung der Datenlage als Anlass fur eine entsprechen-de Zustandsanderung des Wisssenschaftssystems zu nehmen.Die Datenlage kann sich allerdings ”wesentlich“ andern, wennetwa wichtige Experimente wiederholt zu Fehlschlagen fuhren,oder Daten einer neuen, unerwarteten Art auftreten. In sol-chen Fallen fuhrt eine Anderung bei den Daten zu einer Zu-standsanderung, und dies zeigt, dass die Daten eine unverzicht-bare Dimension von Zustanden bilden.

5. Dimension: Objekte und intendierte Systeme.

Noch ”hinter“ den Daten stehen die ”realen“ Systeme und diein ihnen vorkommenden Objekte und Beziehungen. Sie bildenden Ausgangs- und Bezugspunkt der Forschung, die mit theo-retischen Modellen endet. Die realen Systeme und Dinge sind-so lehrt uns die Philosophie9- uns immer schon und immer nurin sprachlichem Gewand gegeben, so dass eine gewisse Theorie-oder Sprachrelativitat der ”Systeme an sich“ nicht vermiedenwerden kann. Uber die Systeme ”an sich“ lasst sich kaum etwassagen: es gibt sie. Alles andere, was wir uber sie sagen, wirdim Inhalt durch die sprachliche Beschreibung mitbestimmt. Je-de inhaltliche Aussage uber ein reales System setzt eine be-stimmte Begrifflichkeit voraus, die die Menschen aktiv in dasSystem hineinprojizieren. Obwohl sich wenig uber sie sagenlasst, mussen die ”realen“ Systeme als eigene Dimension derZustandsbeschreibung gefuhrt werden. Sie sind der ”Anker“,der die anderen, begrifflichen Dimensionen vom ”freien Schwe-ben“ abhalt. In der Meta-Theorie werden sie vor allem zurkorrekten Zusammenfassung und Gruppierung der Daten ge-braucht. Daten, die aus dem gleichen System stammen, bildeneine Einheit, an der eine Hypothese zu testen ist.

9Angefangen von Kant 1956 bis Quine 1960.

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6. Dimension: Messmethoden.Messmethoden liefern den wichtigsten, namlich regelgeleite-ten, Zugang zu Daten und sind fur den empirischen Erfolgvon Theorien von zentraler Bedeutung. Sie konnen einerseitsbegrifflich charakterisiert werden, enthalten aber andererseitseinen Uberschuss an praktischem Wissen in der Herstellungund im Umgang mit Geraten, welcher sich nur schwer syste-matisieren lasst. Die Entwicklung neuer Messmethoden, dieoft mit der Erfindung neuer Apparate einhergeht, kann denZustand eines Wissenschaftssystems andern, was ihre Behand-lung in einer eigenen Dimension rechtfertigt. Als Beispiel seigenannt die Erfindung des elektrischen Thermometers um 1820durch Seebeck, das die Messung sehr hoher Temperaturenermoglichte und damit entscheidend zur Untersuchung derHohlraumstrahlung beitrug, die schließlich zur Quantenphy-sik fuhrte.10

7. Dimension: Probleme.Der Begriff des wissenschaftlichen Problems und der Pro-blemlosung lasst sich mit Hilfe der zuvor genannten Kom-ponenten weitgehend charakterisieren. Trotzdem ist fur Pro-bleme eine eigene Dimension erforderlich, weil die begriffli-che Analyse nur den Begriff des moglichen Problems erfasst.Wichtig fur die Beschreibung des Wissenschaftsprozesses sindaber vor allem die Probleme, die in einem bestimmten Zu-stand tatsachlich als Probleme angesehen werden und an derenLosung gearbeitet wird. Die tatsachlich untersuchten Proble-me stellen stets nur eine kleine Auswahl aus dem Spektrumder im jeweiligen Zustand moglichen Probleme dar.

Bei den Problemen wird unterschieden zwischen empiri-schen, begrifflichen und technischen Problemen.11 EmpirischeProbleme treten bei der Passung von Daten und Theorien auf,begriffliche, wenn neue Theorien oder Querverbindungen dieVerhaltnisse in den schon vorhandenen Theorien storen. Tech-nische Probleme betreffen die Herstellung von Apparaten unddie Erhebung von Daten.

10Vergleiche etwa Fraunberger & Teichmann 1984, 132 ff.11Vergleiche etwa Laudan 1977. Siehe auch Polya 1949.

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Mit der Dimension der Probleme kommen wir in den Bereichsozialer Einflusse, denn die Auswahl von Problemen wird heu-te oft durch forschungspolitische Entscheidungen mitbestimmt.Die Problemdimension stellt damit eine ”Naht“ dar, an der diestrukturelle und die soziale Ebene zusammentreffen.

8. Dimension: Institutionen.

Die jeweils vorhandenen Institutionen, wie Universitaten, in-dustrielle oder staatliche Forschungseinrichtungen, Stiftungenund andere Einrichtungen zur Forschungsforderung, aber auchrechtliche Rahmenbedingungen wie etwa das Patentrecht, be-einflussen den Zustand eines Wissenschaftssystems. Neue In-stitute oder Fachbereiche an Universitaten, neue Laboratorien,aber auch einfach neue Forderungsinstitutionen oder Instru-mente fuhren zu vermehrter Forschung, die in einigen Fallenschon als Zustandsanderung angesehen werden kann. Als Ne-beneffekt, aber oft auch mit Absicht, fuhrt die Grundung ei-ner neuen Institution, die eine bestimmte Forschungsrichtungfordert, zugleich zur Schwachung anderer Ansatze, die mitgleichen oder ahnlichen Themen beschaftigt sind. Zu den In-stitutionen sind auch die Auswahlmechanismen zu rechnen,nach denen Stellen besetzt werden, also die Zusammenset-zung und Statuten von Auswahlgremien, wie Fakultaten oderdem Nobelpreis-Komitee. Die vorhandenen Institutionen sindder wichtigste Ausdruck des gesellschaftlichen Umfeldes, dervorliegenden Machtverhaltnisse und Verhaltensnormen.12 Al-lerdings konnen nicht alle sozialen Einflusse auf das Wissen-schaftssystem als Veranderung institutioneller Bedingungendargestellt werden. Mindestens die

9. Dimension: Werte

lasst sich nicht auf wissenschaftliche Institutionen reduzieren.Wir denken hier an Werte, die sich im Rahmen der politischenund kulturellen Verhaltnisse andern. Solche Werte schlagensich in der Forschungspolitik nieder und bewirken Anderun-gen bei den Problemen, und den Institutionen.

12Vergleiche Balzer 1993 fur eine detaillierte, an Machtverhaltnissen an-setzende Theorie sozialer Institutionen.

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Schließlich gibt es noch zwei weitere Dimensionen, die einergenaueren Untersuchung zu unterziehen waren, namlich dieCharaktereigenschaften der ForscherInnen, sowie die Dimen-sion des Stils und der Mentalitaten. Zweifellos außern sich dievorhandenen, unterschiedlichsten Charaktere in verschiedenemVerhalten der Individuen und dieses bestimmt die kausale Ent-wicklung eines Wissenschaftssystems. Ebenso unzweifelhaft istdie Existenz verschiedener Denkstile und Kulturen, die sichebenfalls in verschiedenem Verhalten der Individuen nieder-schlagen konnen. Unser Kriterium fur die Einfuhrung einer ei-genen Dimension war allerdings, dass Anderungen in der Aus-pragung dieser Dimension zu einer Anderung des Zustandesdes Wissenschaftssystems fuhren. Dieses Kriterium scheint furdie beiden letzten ”Dimensionen“ nicht erfullt zu sein. Indivi-duen andern ihren Charakter kaum, und es ist schwer zu sagen,wann eine Anderung von individuellen Charakteren vorliegt.Denkstile andererseits andern sich viel langsamer als Zustandeeines Wissenschaftssystems, so dass das Beziehungsverhaltniseher umgekehrt anzusetzen ist: die Wissenschaftssysteme be-einflussen und verandern die Denkstile.

Die genannten neun Dimensionen sind unabhangig vonein-ander in dem Sinn, dass keine von ihnen ohne Rest durchdie anderen explizierbar ist. Die letzten beiden lassen sichnur schwer untersuchen; ihre Erforschung muss Erkenntnis-se und Methoden der Sozialwissenschaften einschließen undsteckt noch in den Kinderschuhen. Die bisherigen Erkenntnissereichen hier nicht uber eine Bestandsaufnahme und vage Ty-pologien hinaus, weshalb wir auf diese Dimensionen auch nichtnaher eingehen mochten.

Es liegt nahe, Anderungen in den angegebenen Dimensio-nen als Ursachen oder Teilursachen von Zustandsanderungenaufzufassen. Wir konnten zum Beispiel sagen, die Erfindungeiner neuen Theorie sei die Ursache fur eine entsprechen-de Anderung des Wissenschaftszustandes. Abgesehen davon,dass solche ”Ursache-Wirkungs-Zusammenhange“ sehr grob,abstrakt und unbefriedigend bleiben, tragen sie auch wenigzum Verstandnis der Theoriendynamik bei. Eine befriedigendeAntwort auf die Frage, warum eine bestimmte Zustandsande-

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rung eingetreten ist, erfordert den Bezug auf Muster von Aus-pragungen in verschiedenen Dimensionen. Eine befriedigendeAntwort sollte folgende Form haben: ”Der neue Zustand isteingetreten, weil der Vorgangerzustand von bestimmter Artwar und Zustande dieser Art immer (oder haufig) zu Nachfol-gezustanden der eingetretenen Art fuhren“. Als Faktoren derwissenschaftlichen Entwicklung sind also zunachst Zustandeins Auge zu fassen, die wir uns als Muster oder Gruppenvon ”Auspragungen“ der verschiedenen Dimensionen vorstel-len. Damit soll nicht geleugnet werden, dass auch die Anderungin einer einzigen Dimension als Faktor wirksam werden kann,namlich, wenn die ”restlichen“ Dimensionen unverandert blei-ben.

Ausgehend von diesen Dimensionen und ohne, dass die Rei-henfolge der Aufzahlung etwas uber die Wichtigkeit besagt,lassen sich einige Faktoren der Wissenschaftsentwicklung iden-tifizieren.

Ein erster Faktor ist die vorhandene begriffliche Umgebungin Form von Theorien, Querverbindungen und Invarianzen.Diese beeinflusst die Wissenschaftsentwicklung auf mehrfacheWeise: als Ausgangsbasis fur weitere Spezialisierung, als Ge-nerator von Problemen und von Losungsraumen fur Problemeund als Vorrat, aus dem Analogien fur neue Phanomenbereichegeschopft werden konnen. Es ist vollig klar, dass die jeweiligeAuspragung dieser Dimensionen entscheidenden Einfluss aufden Folgezustand hat und somit als kausaler Faktor wirkt.13

Weniger klar ist dagegen, genau welche Wirkung dieser Faktorhervorruft.

Die akuten Probleme bilden einen zweiten Faktor. EineAnderung des Wissenschaftssystems wird oft von den mogli-chen und anerkannten Problemen hervorgerufen. Moglichkeiteines Problems lasst sich dabei an der begrifflichen Umgebungim Vorgangerzustand festmachen. Ein Problem ist nur dannmoglich, wenn es formuliert werden kann und dies wiederumhangt vom Zustand der Theorien und der darin vorhandenen

13Dies gilt schon im Sinne des ersten systematischen Kanons fur kausaleAnalyse in Mill 1941, Kap.8, S.388-406 und ebenso fur neuere begriff-liche Ansatze in diesem Bereich, wie z.B. Suppes 1970.

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Begriffe ab. Genau wie beim Individuum Neues nur dann ge-lernt oder ”assimiliert“ wird,14 wenn das Neue gerade in der

”richtigen“, ”greifbaren“ Nahe zu den schon vorhandenen, in-tellektuellen Strukturen steht, werden im Wissenschaftsprozessneue Probleme nur dann formuliert und bearbeitet, wenn sieden ”richtigen“ Abstand zu den vorhandenen Theorien haben.Von allen begrifflich moglichen Problemen werden immer nureinige wenige auch als relevante Probleme anerkannt und bear-beitet. Ihre Bearbeitung fuhrt zu einer Zustandsanderung, wo-bei wir allerdings nicht sagen konnen, genau welche Anderungeintreten wird. So waren beispielsweise das begriffliche Pro-blem, dass Elektrodynamik und klassische Mechanik verschie-dene Invarianzen haben, und das empirische Problem, dass dieOrtsdaten des Planeten Merkur nicht gut zu den theoretischenBahnen der Newtonschen Gravitationstheorie passten, wichti-ge Faktoren fur die Entwicklung der speziellen bzw. die Durch-setzung der allgemeinen Relativitatstheorie.

Ein dritter Faktor der wissenschaftlichen Veranderung be-steht in der Natur der jeweils untersuchten Objekte und Sys-teme. Stabile und einfache Objekte, wie sie etwa in der Phy-sik untersucht werden, lassen sich schneller und mit mehr Er-folg erforschen, als veranderliche und komplexe Objekte, wiewir sie in den Sozialwissenschaften antreffen. Damit verknupftsind auch Unterschiede in der Natur der Daten. Bei stabilen,einfachen Objekten ist es leicht, viele Daten zu erheben, beiveranderlichen, komplexen Objekten ist die Datengewinnungungleich schwieriger (siehe 3.2 und 3.3).

Viertens sind als Faktor zu nennen die vorhandenen Metho-den. Wir denken hier weniger an allgemeine, wissenschaftlicheMethoden, wie Induktion, Deduktion, Abduktion, sondern anspezielle Methoden, die zum Handwerkszeug bestimmter Dis-ziplinen gehoren: Methoden der Messung, des Experiments,der statistischen Analyse. Die Entwicklung neuer Messmetho-den fuhrt oft zu Anderungen auch in anderen Dimensionen,vor allem in der der Modelle. Die Erforschung eines anson-sten begrifflich ”reifen“ und auch anerkannten Problems kannsich verzogern, wenn keine hinreichend prazisen Messmethoden

14Vergleiche Piaget & Inhelder 1941, Piaget & Szeminska 1941.

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bekannt sind. Als Beispiel sei das Michelson-Morley Experi-ment genannt, dem eine langere Phase der Diskussion auf reinbegrifflicher Ebene voranging. Das Problem, ob ein Ather exi-stiert, war schon vorher begrifflich reif und auch anerkannt,aber es fehlten die experimentellen Mittel und Ideen zu seinerErforschung.

Auf der Ebene der Individuen sind mindestens zwei Artenvon Faktoren auszumachen. Erstens rufen bestimmte Charak-terzuge wie Ehrgeiz, Machtstreben, Geldgier, Streben nachRuhm und Unsterblichkeit, aber auch Fahigkeiten wie Re-dekunst, Schnelligkeit in der Diskussion, Fuhrungskraft undUberzeugungskraft, Wirkungen im Wissenschaftssystem her-vor. Ein schones Beispiel ist hier Newton, dessen idiosynkrati-sche Psyche und die aus ihr resultierende Forschungssucht we-sentliche Bedingungen fur seine wissenschaftlichen Entdeckun-gen waren.15 Zweitens spielt die Bildung und die Ausbildungder Individuen und ihr Kontakt zu anderen Disziplinen undKulturen eine nicht zu unterschatzende Rolle. Wie ThomasKuhn bemerkt, werden bahnbrechende Neuerungen in einerDisziplin oft von Personen eingefuhrt, die enge Kontakte zueiner anderen Disziplin unterhalten.

Einen weiteren Faktor der Veranderung stellt das politischeund das Medieninteresse dar. Diese Interessen ergeben sich oftziemlich unabhangig vom Zustand der Wissenschaft aus denverschiedensten Modetrends oder sonstigen, wie auch immerentstandenen Bedurfnissen, wie zum Beispiel dem zeitgenossi-schen Bedurfnis vieler Mitmenschen, ihren Tod mit allerleimerkwurdigen Mitteln so lang wie moglich hinauszuschieben,oder unliebsame Menschen zu eliminieren. Solche Trends undStimmungen schlagen sich im Zufluß oder im Ausbleiben vonForschungsmitteln nieder und sind heute vielleicht der wich-tigste Faktor im Wissenschaftsprozess.16

Schließlich ist noch ein Faktor zu nennen, der in der Vergan-genheit keine Rolle spielte, aber nun zunehmend an Bedeu-tung gewinnt: die Fahigkeiten von Computern und Program-

15Vergleiche hierzu Schneider 1988.16Siehe hierzu auch die Arbeiten von Bohme, van den Deale und Krohn

1972, 1973.

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men, den Forschungsprozess nicht nur zu unterstutzen, sondernauch aktiv voranzutreiben. Es gibt inzwischen neben den rei-nen Hilfsprogrammen, den ”Number-Crunchers“, recht intelli-gente Programme, die zum Beispiel a) neue Theorien aus ge-gebenen Daten konstruieren, b) vorhandene Theorien im Lichtgegebener Daten verbessern, und c) dynamische Interaktionenverschiedenster Art simulieren oder ausfuhren.17

Bei all diesen Faktoren konnen wir zwar sagen, dass sie zuVeranderungen fuhren, aber nicht, genau welche Veranderun-gen sie bewirken. Eine bloße Aufzahlung oder Typologie gibtwenig Aufschluss uber die wissenschaftliche Entwicklung.

Die oben zuletzt angedeuteten moglichen Dimensionen, wieCharaktereigenschaften und Denkstile, lassen vermuten, dassselbst ganze Zustande des Wissenschaftssystems als Fakto-ren noch zu grob sind. Einzelne Handlungen oder individu-elle Handlungsmuster, die durchaus von Charaktereigenschaf-ten und Denkstil mitbestimmt werden, konnen Zustandsande-rungen beeinflussen. Das ist besonders deutlich bei beruhmtenFiguren, die uns in der Wissenschaftsgeschichte Hinweise aufkuriose Umstande bei ihren Entdeckungen geben.

Die Aufzahlung und Abgrenzung verschiedener Dimensio-nen und Faktoren allein liefert kein befriedigendes Gesamtbilddes Wissenschaftsprozesses. Ihre Zusammenfugung zu einemModell setzt Kenntnisse ihrer Wechselwirkung und ihres Zu-sammenspiels voraus, von denen wir noch weit entfernt sind.Insbesondere ist derzeit ein erklarendes Modell fur die Wis-senschaftsentwicklung nicht einmal in Umrissen sichtbar.

1.3 Selbstorganisation in der Wissenschaft

Ein erster Ansatz fur ein umfassendes, systemorientiertesModell des Wissenschaftsprozesses stammt von Krohn undKuppers.18 Die Autoren greifen die Idee der Selbstorganisa-

17Siehe fur a) etwa das bahnbrechende Buch von Langley, Simon, Brad-shaw, Zytkow 1987, auch 4.4 unten, fur b) Glymour, Scheines, Spirtes,Kelley 1987 und fur c) die vielen Werke die von Abelson 1973 bisHofmann 2008 reichen.

18Siehe Krohn & Kuppers 1987 und fur eine knappe Zusammenfassungden Aufsatz der beiden Autoren in Krohn & Kuppers 1990.

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tion auf, die aus Systemtheorie19 und Biologie stammt. Sichselbst organisierende Systeme wie Organismen, Zellen, aberauch soziale Gebilde, existieren in einer Umwelt, die von ande-ren Systemen gebildet wird. Zwischen dem System und seinerUmwelt bestehen Wechselwirkungen, die nach systemtheoreti-schem Muster in Ruckkoppelungsschleifen20 ablaufen konnen.Selbstorganisierte Systeme sind auf Selbsterhaltung ausgerich-tet, die sie mittels zweier Strategien verfolgen. Einerseits re-konstruieren sie in standiger Ruckkoppelung ihre eigene, inne-re Struktur, andererseits versuchen sie aber auch, ihre Umweltaktiv so zu verandern, dass sie in ihr und mit ihr moglichstgut zurechtkommen. Durch die ruckgekoppelten Wechselwir-kungen verandern sich also sowohl das System intern, als auchdie Systeme, die seine Umwelt bilden. Dabei konnen stabile-re Phasen auftreten, in denen nur geringfugige Veranderungenstattfinden und sich das System in diesem Sinn mit den um-gebenden Systemen im Gleichgewicht befindet. Die Wechsel-wirkungen zwischen dem System und seiner Umwelt definie-ren durch ihren ”Ort“, ihre Art und die involvierten Objekteden Rand des Systems, jenes Gebiet, das weder zur innerenStruktur des Systems, noch zum ”Inneren“ eines umgebendenSystems gehort.

In Anwendung auf den Wissenschaftsprozess soll dieserals sich selbst organisierendes System verstanden werden.Systemelemente konnten die in 1.2 angegebenen Faktorenund ihre Wechselwirkungen sein. Krohn und Kuppers ver-folgen jedoch einen viel eingeschrankteren Ansatz, nach demals Elemente des Systems nur Personen, sowie deren Hand-lungen und die Wechselwirkungen zwischen den Handlun-gen zahlen. Bei den Handlungen wird unterschieden zwischenForschungshandlungen und Wissenschaftshandlungen.

Forschungshandlungen dienen dem direkten Ziel desWissenserwerbs. Die wichtigsten Typen solcher Handlungen

19Bertalanffy 1968.20In der Soziologie wird hierfur

”rekursiv“ verwendet. Es darf jedoch be-

zweifelt werden, ob dieser im Kontext der Selbstorganisation stets sei-nen strengen Sinn aus der Rekursionstheorie hat, siehe etwa Shoen-field 1967, Kap. 7. Wir ziehen deshalb den ursprunglichen AusdruckRuckkoppelung vor.

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sind Lesen, Nachdenken, Experimentieren, in der Gruppediskutieren, wobei wir unter Nachdenken auch entsprechen-de Hilfstatigkeiten subsumieren, die das Nachdenken un-terstutzen, wie Zeichnen von Diagrammen, Computerprogram-me ausfuhren, Notizen machen, Rechnen, Information sam-meln.

Wissenschaftshandlungen sind demgegenuber Handlungen,die die Moglichkeiten zur Durchfuhrung von Forschungshand-lungen stabilisieren und verbessern, also allgemein Handlun-gen, die das Umfeld fur Forschungshandlungen absichern undgunstig gestalten. Einige typische Arten von Wissenschafts-handlungen sind: Vortrage halten, Verfassen von Zeitschrif-tenaufsatzen und Buchern, Aktivitaten in der Wissenschafts-politik und Forschungsplanung, Lehre, Kontakte mit prakti-schen Bereichen, sowie populare Darstellungen.21 Durch Vor-trage werden andere Wissenschaftler von den eigenen Ergeb-nissen informiert. Publikation von Zeitschriftenaufsatzen undBuchern dient neben der Information auch dem Aufbau der ei-genen Reputation. Forschungsplanung erfolgt zum Beispiel inInstitutionen, die Forschungsmittel im Auswahlverfahren undunter Konkurrenzbedingungen verteilen. Das Wissenschafts-handeln besteht hier unter anderem in der Auswahl von Pro-jekten, die forderungswurdig sind, oder in der Festsetzung vonVerteilungsschlusseln nach Disziplinen oder kleineren Unter-einheiten. Je weniger solche Entscheidungen am wissenschaft-lichen Gehalt der Projekte interessiert sind, desto starker gehtForschungsplanung in Wirtschaft und Politik uber. Von derSeite der Wirtschaft her kommend sind Wissenschaftshand-lungen schon jene, in denen ein gesellschaftlicher Bedarf anbestimmten Ergebnissen, oder eine Prioritat solcher Ergebnis-se formuliert wird. Auch diese Handlungen werden in der Regelvon Wissenschaftlern beeinflußt. Die Lehre dient dazu, quali-fizierten Nachwuchs heranzubilden, der ohne Bruch in die je-weils vorhandenen Positionen hineinwachsen kann. Kontaktemit der Praxis finden im Bereich von Industrie, Gesundheits-und Erziehungswesen statt. Auch sie tragen zur Stabilisierungdes Wissenschaftssystems bei, indem sie Anforderungen und

21Vergleiche Krohn & Kuppers 1990, S.314 ff.

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Praferenzen aus dem Umfeld in das Wissenschaftssystem hin-eintragen. Populare Darstellungen schließlich breiten nicht nurdie wissenschaftlichen Inhalte in weitere Bereiche des Umfeldesaus, sie dienen auch dazu, Wissenschaft als fur die Gesellschaftwertvoll herauszustellen.

Forschungshandlungen lassen sich einerseits in Gruppenvon Handlungen einteilen, andererseits sind diese Gruppenmiteinander verwoben. Jeder Gruppe solcher Forschungs-handlungen entspricht eine Gruppe von Forschern, eineForschungsgruppe, bestehend aus den Personen, die die For-schungshandlungen ausfuhren. Forschungsgruppen weisen zweiCharakteristika auf. Erstens bestehen in den Wirkungsket-ten zwischen den Handlungen innerhalb einer solchen GruppeRuckkopplungen. Die Handlung einer Person hat Wirkungenauf andere Personen in der Gruppe und deren resultierendeHandlungen beeinflussen wiederum die spateren Handlungender ersten Person. Die Handlung einer Person beeinflußt damitauf dem Umweg uber andere Gruppenmitglieder spatere Hand-lungen der gleichen Person. Das Phanomen an sich ist nicht un-gewohnlich und tritt auch in nicht-wissenschaftlichem Kontextauf. Speziell ist in Forschungsgruppen jedoch die durch theore-tische Inhalte vermittelte Form solcher ”Selbstbeeinflussung“.Zweitens entwickeln Forschungsgruppen eine eigene Identitat,die in den intellektuellen Strukturen der Mitglieder reprasen-tiert wird. Die Personen haben ein Bild oder eine Reprasenta-tion der eigenen Gruppe, das mit Bildern der anderen Gruppenkontrastiert; sie haben ein entsprechendes ”Wir“-Gefuhl. DieIdentitat der Forschungsgruppe druckt sich oft in einem eige-nen Stil aus. Die Terminologie, aber auch bestimmte Sicht-und Losungsweisen von Problemen, bilden sich innerhalb derGruppe in spezieller Weise aus.22

Wahrend Forschungshandlungen sich so uber Forschungs-gruppen immerhin ansatzweise systematisieren lassen, herrschtbei den Wissenschaftshandlungen eine große Vielfalt vor. Dieaugenfalligste Wirkung von Wissenschaftshandlungen bestehtim Aufbau und dem Erhalt verschiedenartiger Institutionen,angefangen von Universitaten uber Forschungslabors der In-

22Hierauf hat zuerst Fleck 1980 hingewiesen. Siehe auch Kuhn 1962.

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dustrie bis zu Institutionen der Wissenschaftsforderung, zumInformationsaustausch (Zeitschriften, Verlage), zur Kontakt-aufnahme mit der Industrie, oder zur Beratung der Politik(Wissenschaftsrat). Die Systematisierung dieser Institutionenbietet der Wissenschaftsforschung ein reiches Betatigungsfeld.Neben den fest institutionalisierten Handlungskomplexen exi-stiert aber auch ein weiter Bereich von ”sonstigen“ Wissen-schaftshandlungen, die sich aus der jeweiligen Situation einesWissenschaftlers mehr oder weniger zufallig ergeben. Er kanneinen Industriellen kennenlernen, der sich fur seine Forschun-gen erwarmt und Mittel als Spende oder Stiftung bereitstellt,oder einen Journalisten, der uber seine Forschungen berichtet,oder einen Politiker, der Einfluß auf Forderinstitutionen hat.

Insgesamt besteht der Wissenschaftsprozess demnach auszwei Hauptkomponenten: dem Kernbereich von Forschungs-gruppen, in denen die auf Wissensvermehrung abzielende For-schung stattfindet, und dem aus Wissenschaftshandlungen be-stehenden Rand, durch den das institutionelle und gesell-schaftliche Umfeld so strukturiert wird, dass der Kernbereichmoglichst erhalten und weiter ausgebaut werden kann.

Dieses systemtheoretische Modell kann als Rahmen fur wei-tere Untersuchungen von Wissenschaftsprozessen auf sozialerEbene dienen. Eine Erklarung solcher Prozesse ist allerdings(ahnlich wie in 1.2) noch nicht zu sehen.

1.4 Wissen

Schon lange bevor die Wissenschaftstheorie entstand, machtensich Philosophen Gedanken uber Wissen und Erkenntnis imallgemeinen, d.h. nicht nur beschrankt auf Wissenschaft. DieWissenschaftstheorie knupfte in ihrer Entwicklung an diese Ge-danken an, so dass einige Bemerkungen uber den Begriff desWissens im allgemeinen das Verstandnis der folgenden, speziellwissenschaftstheoretischen Modelle erleichtern durfte.23

Nach der am weitest verbreiteten Vorstellung besteht dasWissen einer Person aus den wahren Satzen, die die Personfur richtig halt und fur deren Richtigkeit sie gute Grunde hat.

23Siehe auch Lauth & Sareiter 2002.

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Diese Charakterisierung ist nicht besonders prazise. Bis heu-te streiten sich Philosophen daruber, was die Wahrheit einesSatzes bedeutet, und Philosophen und Psychologen, ob Glau-ben oder Uberzeugung24 (”fur richtig halten“) durch eine reindispositionale Auffassung adaquat erfasst wird. Noch wenigerklar ist der Begriff der ”guten Grunde“.

In den Sozialwissenschaften scheint diese, auf ein Individuumzugeschnittene ”Definition“ des Wissens zunachst vollig unzu-reichend, weil dort Wissen mehr als soziales Phanomen, dennals individuelle Disposition gesehen wird. Die angegebene, ”in-dividualistische“ Version hat jedoch ihre Vorzuge. Sie impli-ziert keineswegs, dass Wissen ein rein individuelles Phanomenist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass alle drei genann-ten Ingredienzien des Wissens eine ausgepragt soziale Kompo-nente haben.

Die erste soziale Komponente des Wissens liegt in der Spra-che. Wissen wird durch Satze ausgedruckt, Satze sind in einerSprache formuliert. Sprache aber ist ein soziales Phanomen.Es impliziert Ubereinkunft von Individuen einer Gruppe imGebrauch von Lauten oder Schriftzeichen.25

Die zweite soziale Komponente des Wissens liegt im Wahr-heitsbegriff. Gewusste Satze sollen wahr sein. Auch Wahrheitist ein soziales Phanomen. Wahrheit impliziert -unter anderem-dass die Individuen einer Gruppe einem Satz normalerweisezustimmen oder ihn normalerweise ablehnen.

Drittens hat auch der Glaube, dass ein Satz richtig sei, sozia-len Bezug. In behavioristischer Redeweise ist Glaube eine Dis-position, in bestimmten Situationen in sprachgeleiteter Weise,etwa durch Zustimmung oder Ablehnung zu reagieren. Diesgilt nicht nur fur Beobachtungssatze,26 sondern auch fur hoch-theoretische Satze, wie etwa das zweite Newtonsche Axiom:

”Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Auch dieser Satz

24Vergleiche etwa Davidson 1986 und Habermas 1973 und, zusammenfas-send, Puntel 1983. Im Deutschen hat das Verb

”glauben“ heute eine

stark religiose Farbung; im vorliegenden Kontext ist es jedoch gleich-bedeutend mit

”uberzeugt sein“. Wir verwenden aus verschiedenen

Grunden stets das Verb”glauben“.

25Siehe auch Balzer 1999.26Der Begriff ist in Quine 1960 prazisiert.

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ruft Reaktionen der Zustimmung oder Ablehnung hervor, jenach sprachlichem Kontext. Glauben ist eine propositionaleEinstellung, eine Einstellung gegenuber Propositionen, die inder allgemeinen Form: ”Ich glaube, dass A“ (mit einem geeig-neten Satz A) zum Ausdruck kommt. Propositionale Einstel-lungen sind wesentlich durch die Sprache bestimmt, schon des-halb, weil sie sehr stark von der jeweiligen sprachlichen Formu-lierung der PropositionA abhangen. Was in einer Formulierunggeglaubt wird (”ich wollte den Einbrecher niederschießen“),stoßt in anderer Formulierung (”ich wollte meinen betrunke-nen Freund niederschießen“) auf Ablehnung. Situationen, indenen das Glauben einer Person relevant ist, haben deshalb inder Regel einen sprachlichen und damit sozialen Hintergrund.

Auch die letzte und fur uns im folgenden wichtigste Kom-ponente des Wissens, namlich, dass es gute Grunde fur dasGewusste gibt, hat einen starken sozialen Einschlag. In ersterNaherung konnen wir zweierlei Arten von guten Grunden aus-machen. Einmal liegen gute Grunde fur einen gewussten Satzvor, wenn dieser ein Teil eines gut bestatigten Systems vonSatzen ist. Die zweite Art guter Grunde liegt in der sozialenStellung der Person, die den Satz aussert. Wenn die Personvertrauenswurdig oder machtig ist, hat der von ihr geausserteSatz von vornherein einen Bonus. ”Vertrauenswurdig“ beinhal-tet ja, dass die Person den Satz nicht ohne Grund geausserthat und ”machtig“, dass man Schwierigkeiten bekommt, wennman den Satz in Frage stellt.

Gute Grunde der zweiten, machtorientierten Art finden wirin großer Zahl; sie normativ auszuschließen ware wirklich-keitsfremd. Zur Einschatzung ihrer Rolle kann auf die Exi-stenz von Gruppen hingewiesen werden, in denen die wissen-schaftliche Denk- und Lebensweise praktisch unbekannt ist,wie etwa steinzeitlich lebende Stamme in Neu-Guinea, oderstark magisch orientierte Stamme, wie die Azande.27 Auch inden ”fortschrittlichen“, hochtechnisierten Gesellschaften spie-len gute Grunde dieser Art eine große Rolle im Bereich desReligiosen: ”Ich weiss, dass mein Erloser lebt“.

27Vergleich etwa Evans-Pritchard 1937 zu letzteren.

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Fur wissenschaftliches Wissen sind gute Grunde der ersten Art(”Bestatigung“) zentral, obwohl in der Lehre vielfach dem Leh-rer als Vertrauensperson gute Grunde der zweiten Art zuge-standen werden. Der Begriff der Bestatigung ist allerdings inkeinem befriedigenden Zustand, sondern selbst Gegenstand derwissenschaftstheoretischen Fachdiskussion. Auf einer sehr all-gemeinen Ebene (siehe 4.8) lasst sich feststellen, dass minde-stens drei, sich teilweise uberlappende Arten von Bedingungenfur den Bestatigungsbegriff einschlagig sind.

Erstens hat Bestatigung etwas mit Koharenz zu tun. EinSatz ist in gewissem Grad bestatigt, wenn er zu einem koharen-ten System von Satzen gehort. Koharenz kann dabei ihrerseitsverschiedene ”Grade“ oder Formen annehmen. Die schwachsteForm von Koharenz einer Satzmenge besteht in deren Konsi-stenz: aus den Satzen der Menge darf kein Widerspruch ableit-bar sein. Auf der anderen Seite liegt Koharenz der starkstenArt vor, wenn das Satzsystem formal mit einer kleinen Anzahlvon Grundbegriffen und Hypothesen axiomatisierbar ist. AlleSatze lassen sich dann aus einigen wenigen, uberschaubarenAxiomen ableiten. Diese Art von Bestatigung hat keinen so-zialen Hintergrund, ein so bestatigter Satz braucht allerdingsauch keinen empirischen Bezug zu haben. Auch Mengen logischwahrer Satze waren in diesem Sinn bestatigt.

Eine zweite Bedingung fur Bestatigung bringt uns naher andie Erfahrungssatze. Ein Satzsystem -und damit jeder Satzdesselben- ist in gewissem Grad bestatigt, wenn das Systemein Teilsystem von atomaren Satzen enthalt und die ”restli-chen“ Satze mit den atomaren im gegebenen Grad zusammen-passen (siehe 3.9). Die atomaren Satze stehen dabei fur Datenoder Beobachtungssatze, uber die sich eine Gruppe einig ist.Der durch die Interpretation der atomaren Satze als Datenhergestellte empirische Bezug fuhrt zugleich wieder in sozialeBereiche. Was Daten oder Beobachtungssatze sind, hangt vomUbereinkommen in einer Gruppe ab.

Die dritte Bedingung fur Bestatigung geht noch weiter insSoziale. Sie besagt, dass ein Satzsystem in gewissem Gradbestatigt ist, wenn es sich in der Praxis einer Gruppe alsWerkzeug in diesem Grad bewahrt. Bewahrung im Technischen

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oder im Machbaren, die Erreichung gesetzter, materieller Zie-le, ruckt dabei haufig in den Vordergrund und verdrangt eineandere Art der praktischen Bewahrung, die in der Erhaltungeines stabilen und fur die Beteiligten ertraglichen,28 sozialenSystems besteht.

Die Details des so nur kurz beschriebenen Wissensbegriffssind hier nicht vordringlich. Es kommt zunachst darauf an,die soziale Verankerung hervorzuheben, die in allen Bedingun-gen (mit Ausnahme der axiomatischen Koharenz) zum Vor-schein kommt. Sie zeigt, dass die Charakterisierung von Wissenpragmatische Komponenten enthalten muss. Und was fur Wis-sen gilt, gilt auch fur Wissenschaft. Wir konnen nicht erwar-ten, dass sich die Begriffe von Wissenschaft, wissenschaftlicherMethode und wissenschaftlicher Weltsicht vollig unabhangigvom sozialen Hintergrund charakterisieren und von ihren Ge-genstucken abgrenzen lassen.29

1.5 Wissenschaft versus Offenbarung

Fur die Erhaltung und Ausbreitung der Wissenschaft ist eswichtig, sich von anderen gesellschaftlichen Systemen abzu-grenzen, bei denen auch begriffliche Reprasentationen im Mit-telpunkt stehen. Grob gesprochen gibt es drei alternative Ar-ten, den Grad festzulegen, in dem Satze in einer Gruppe furrichtig gehalten werden: den Glaubensgrad. Nach einer erstenArt der Festlegung wird der Glaubensgrad eines Satzes perDekret angeordnet. Dies geschieht in Gesellschaften mit to-talitarer Herrschaft, in denen neben den materiellen Verhalt-nissen auch das Denken unter Kontrolle der Herrschendengebracht ist. Die Satze, die nach diesem ”Mechanismus“ ge-glaubt werden, nennen wir doktrinares Wissen. Der zweiteWeg zur Festlegung von Glaubensgraden ist der der Pseudo-wissenschaft. Um die Anerkennung bestimmter Satze zu er-reichen, werden vieldeutige ”Theorien“ konstruiert, mit denenpraktisch alle Satze, die in einem gewissen Vokabular formu-lierbar sind, erklart werden konnen. Ein dritter Weg ist der

28”Angenehm“ wurde die Standards hoher setzen.

29Im Gegenteil: Balzer 2003.

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