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Zeitschrift für Semiotik Semiotische Milieuforschung in der Sozialwissenschaft Einführung Stephan Debus und Roland Posner Auf dem Weg zu einer semiotischen Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie 3 Stephan Debus Zwangsanwendung im psychiatrischen Milieu – ein semiotisch fundiertes Forschungsprogramm 23 Ullrich Ahrens Psychodramatische Re-Inszenierungen: Von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie 55 Massimo Serenari Videoanalysen als Instrument der Datenerhebung und Datenanalyse am Beispiel von drei Karotisoperationen 79 Einlage Rainer Funke Design: Zeichensysteme für Werte in unterschiedlichen Milieus 111 In eigener Sache Stephan Debus und Roland Posner Herausgeberkonzept und redaktioneller Diskursrahmen der Zeitschrift für Semiotik 135 Veranstaltungen 139 Veranstaltungskalender 153 Vorschau auf den Thementeil der nächsten Hefte 163 Band 33 Heft 1-2 2011

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Zeitschrift für

SemiotikSemiotische Milieuforschung in der Sozialwissenschaft

Einführung Stephan Debus und Roland PosnerAuf dem Weg zu einer semiotischen Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie 3

Stephan DebusZwangsanwendung im psychiatrischen Milieu – ein semiotisch fundiertes Forschungsprogramm 23

Ullrich AhrensPsychodramatische Re-Inszenierungen: Von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie 55

Massimo SerenariVideoanalysen als Instrument der Datenerhebung undDatenanalyse am Beispiel von drei Karotisoperationen 79

EinlageRainer FunkeDesign: Zeichensysteme für Werte in unterschiedlichen Milieus 111

In eigener SacheStephan Debus und Roland PosnerHerausgeberkonzept und redaktioneller Diskursrahmen der Zeitschrift für Semiotik 135

Veranstaltungen 139

Veranstaltungskalender 153

Vorschau auf den Thementeil der nächsten Hefte 163

Band 33

Heft 1-2

2011

Stauffenburg Verlag Brigitte Narr GmbHPostfach 25 25 D-72015 Tübingen www.stauffenburg.de

Untersuchungen zu Formen inszenierter Kommunikation bilden Reinhard Krügers Forschungsschwerpunkt. Aus diesem Grund ist die anlässlich seines 60. Geburtstages erscheinende Festschrift diesem Thema gewidmet. In einem weiten inter-disziplinären Rahmen stellen sich die hier versammelten Beiträge der These, dass Kunst als mimetische und daher auch semiotisch relevante Form inszenierter Kommunikation zu verstehen ist. Im Hintergrund steht dabei jeweils die Einsicht, dass nicht erst seit Aristoteles klar ist, dass die Literatur und auch die anderen Künste immer etwas von dem dialogi-schen Verhältnis wiederzugeben haben, in dem sich Menschen, die sich im Medium der Sprache oder in anderen Medien artikulieren, befinden. Kunstwerke sind daher immer auch Inszenierungen des Wissens um Kom-munikation, ihre Zeichen und ihre Medien. Kunst als inszenierte Kommu-nikation führt diese zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen For-men auch ver schiedenartig vor. Daher wurde bewusst darauf geachtet, hier Beiträge zu versammeln, die auch eine weite historische Perspektive eröffnen.

Mit Beiträgen von Lydia Bauer, Renate Brosch, Emmanuel Bury, Michel Delon, Alain-Philip-pe Durand, Annette Dorgerloh, Ulrich Ernst, Caroline Fischer, Hanns-Werner Heister, Nancy Horn, Marta Jurkiewicz, Jürgen Klein, Helke Kuhn, Beatrice Nickel, Michael Niedermeier, Angela Oster, Tanja Ottmann, Dietrich Scholler, Axel Schönberger, Hans Ulrich Seeber, Silke Segler-Meßner, Nikolaus Wegmann und Jan-Henrik Witthaus.

2011, 408 Seiten, zahlr. Abb., kart.ISBN 978-3-86057-512-3 € 76,–

Beatrice Nickel (Hrsg.)

Die Poesie und die Künste als inszenierte Kommunikation

Festschrift für Reinhard Krüger zum 60. Geburtstag

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 3-22 Stauffenburg Verlag Tübingen

Einführung

Auf dem Weg zu einer semiotischen Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

Stephan Debus, Medizinische Hochschule HannoverRoland Posner, Technische Universität Berlin

Summary. An issue “milieu research” in the Journal of Semiotics requires justification. This article focuses on demonstrating how institutional criticism within social Psychia-try and the related objects of social psychiatric milieu research can be discussed as part of a semiotic theory of culture which deals with notions such as “institution”, “code”, “communication”, and “aesthetic experience”. In this sense, social psychiatry has indeed always been related to cultural theory, in particular to a phenomenologically and her-meneutically grounded theory of “sense”. However, approaches embedding empirical research efforts into a general theory of signs are still rare.

Zusammenfassung. Ein Heft „Milieuforschung“ in der Zeitschrift für Semiotik bedarf einer Begründung. Dieser Artikel konzentriert sich darauf zu zeigen, wie die instituti-onskritischen Motive der Sozialen Psychiatrie und die darauf bezogenen Gegenstän-de der sozialpsychiatrischen Milieuforschung im Rahmen einer semiotischen Kulturthe-orie etwa durch Begriffe wie „Institution“, „Kode“, „Kommunikation“ und „ästhetische Erfahrung“ diskutiert werden können. In diesem Sinne hat die Soziale Psychiatrie zwar schon immer Bezug zur Kulturtheorie, insbesondere zu einer phänomenologisch-her-meneutisch begründeten Theorie des „Sinns“. Versuche, ihre eigenen empirischen For-schungsanstrengungen in eine allgemeine Theorie der Zeichen einzubetten, sind bis-her allerdings rar.

1. Sozialpsychiatrie und Soziale Psychiatrie

Die Soziale Psychiatrie in Deutschland konnte in den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre durch ihre praktische Institutionskritik einen hohen Innovati-onsdruck entfalten. Wie sich herausstellte, wurde dadurch die psychiatrische Versorgung gemeindenäher, differenzierter und beziehungsreicher. Doch gera-de die Vielfalt ihrer Gegenstände stellt die sozialpsychiatrische Forschung vor

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erhebliche theoretische und methodologische Probleme: In ihrer Methode wird die Sozialpsychiatrie den Sozialwissenschaften – namentlich Erziehungswis-senschaften, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Kriminologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Völkerkun-de und Wirtschaftswissenschaften – zugerechnet. Ihren Gegenstandsbereich teilt sie sich mit der Sozialmedizin und der psychiatrischen Sozial- und Kultur-anthropologie. Als rein medizinische Wissenschaft betrachtet, untersucht die Sozialpsychiatrie psychische Krankheiten unter der Perspektive ihrer Therapie und Heilbarkeit mit einem breiten Spektrum von Methoden aus der Soziologie, Psychologie und Medizin. Die w i s s e n s c h a f t l i c h e S o z i a l p s y c h i a t r i e ist einerseits ihrer s o z i a l p s y c h i a t r i s c h e n P r a x i s (mit ihren diagnos-tischen, prophylaktischen, beratenden, therapeutischen, prognostischen und hoheitlichen Tätigkeiten) und andererseits dem s o z i a l p s y c h i a t r i s c h e n Fe l d (als sozial- und gesundheitspolitisch institutionalisiertem Bereich) ver-pflichtet. Die drei Bereiche – wissenschaftliche Sozialpsychiatrie, sozialpsych-iatrische Praxis und sozialpsychiatrisches Feld – sind weder deckungsgleich noch enthält einer die anderen, aber sie sind historisch und gesellschaftlich über einen Wertekanon miteinander verbunden. Zusammengenommen gehö-ren diese drei Bereiche zur S o z i a l e n P s y c h i a t r i e als psychosozialer Kultur des Handelns (Pfefferer-Wolf 1999).

1.1 Soziale Psychiatrie und ihre Geschichte

In der Enquête des Deutschen Bundestages von 1975 zur Lage der Psychia-trie in Deutschland wurden in den psychiatrischen Anstalten teilweise „elende und menschenunwürdige Verhältnisse“ festgestellt. Die notwendigen Reformen richteten sich dann auf die Auflösung von überdimensionierten Landeskran-kenhäusern, den Aufbau von kleinen Wohnheimen und ambulanten Rehabili-tationseinrichtungen, die Erhöhung von Lebensstandards außerhalb und inner-halb der Krankenhäuser, die Verbesserung der ambulanten und gemeindena-hen Versorgungsangebote für Patienten, eine gerechtere Verteilung vorhande-ner Ressourcen des Gesundheitssystems zum Beispiel durch die sektorisier-te Pflichtversorgung, eine verbesserte und gesicherte Personalausstattung (Brill, Crome, Gromann-Richter, Hölzke, Kunze, Kruckenberg und Stahlkopf 1995) sowie eine veränderte Stellung und Rolle der psychisch erkrankten Men-schen in der Psychiatrie und der Gesellschaft (vgl. zur Psychiatrie-Enquête Häfner 1981 und Müller-Nowack 1996).

Allerdings fehlen bis heute spezielle Präventions- und Rehabilitationseinrich-tungen. Ideen und Anregungen von Seiten der Psychiatrieerfahrenen und der Angehörigen werden immer noch zu wenig mit einbezogen. In der psychiatri-schen Behandlung dominiert weiterhin das so genannte „medizinische Modell“, das den psychosozialen Problemen der Patienten nicht gerecht wird. Die Unzu-friedenheit mit der Versorgung drückt eine Umfrage des Bundesverbands der Psychiatrieerfahrenen (BPE) unter seinen Mitgliedern aus: Nur 10% der Befrag-ten fühlten sich in ihrer Menschenwürde während der Behandlung ausreichend

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geachtet. Ebenfalls nur 10% von ihnen gaben an, dass ihnen bei den speziel-len Problemen geholfen wurde, die zur Anstaltsaufnahme geführt haben (Peek, Seckendorff und Heinecke 1995). Die persönlichen Wünsche wurden den Anga-ben zufolge bei 90% der Befragten missachtet. Dies mag mit dazu beitragen, dass ein erheblicher Anteil der psychiatrischen Patienten nicht freiwillig eine psychiatrische Einrichtung aufsucht. Die Quoten der Zwangseinweisungen wei-chen in den verschiedenen Bundesländern stark voneinander ab (Bruns 1993), was auf eine psychiatriepolitische, nicht medizinisch zu verortende Dimension des Problems hinweist. Als Folge dieser Einschätzungen durch die Betroffe-nen selbst fordert der Bundesverband deshalb unter anderem: eine veränder-te Einstellung der Professionellen dem Kranken gegenüber; mehr Wärme und menschliche Zuwendung; möglichst wenig Medikamente und Heilung ohne Dauer- oder Zwangsmedikation; soziales Lernen; Räume, in denen man auch mal psychotisch sein darf, und Behandlung in kleinen Gruppen.

Die gegenwärtige Situation gründet in der Geschichte der Psychiatrie, die ganz grundsätzlich gekennzeichnet ist durch den Widerspruch zwischen H e i -l e n und A n p a s s e n . Dies ist ein Ergebnis der Entwicklung einer bürgerli-chen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, die die „Unvernünftigen“ in Irren-häuser ausgrenzt und nur die „Vernünftigen“ als „Normale“ akzeptiert (Foucault 1968, 1993 und 1969). Dieser Widerspruch ist konstitutiv, indem die Vernunft in den Wissenschaften und Verkehrsformen vergesellschaftet, die Unvernunft aber als Irrationales individualisiert wird (Dörner 1995 und 1975 sowie Dörner und Plog 1994). Der Widerspruch zieht sich durch die Geschichte der moder-nen Gesellschaften und findet seinen auch heute noch aktuellen Niederschlag im Problem, „den Kranken sowohl in seiner Krankheit – in der reinen Subjek-tivität seines Irrsinns – als auch als Gesunden – in seiner Teilhabe an der gemeinsamen Welt – respektieren zu müssen“ (Wulff 1971 und 1995). Die Auf-lösung dieses Dilemmas stellt eine Herausforderung dar, der sich in Abhän-gigkeit vom Zeitgeist das psychiatrische Handeln mit ganz unterschiedlicher Intensität gewidmet hat (vgl. Finzen und Hoffmann-Richter 1995, Hoffmann-Richter, Haselbeck und Engfer 1997 sowie Pfefferer-Wolf 1999).

Die Reformbewegung erhielt aus vielen Richtungen ihre Denkanstöße. In der Prägung durch die Phänomenologie Edmund Husserls und deren Weiter-entwicklung unter Einbeziehung der Perspektive der Zeit von Martin Heidegger wird die Idee der Lebens- und Alltagswelt als Grund und Bedingung aller For-men des menschlichen Daseins entworfen. Ludwig Binswanger und Carl Jas-pers bauen auf diesen Ideen für ein Verständnis des psychischen Leidens auf. Der englische Psychiater Ronald D. Laing entwickelte für das in den 1960er Jahren einsetzende kritische Umdenken ein theoretisches Rüstzeug. Auf dem Boden der Heideggerschen Daseinsanalytik forderte Laing (1971 und 1994) die radikale Umorientierung der Therapeuten auf das „In-seiner-Welt-Sein“ des Patienten. Der Terminus „Psychose“ bezeichnet keine Krankheit, sondern die Grundlegung eines Heilungsprozesses, in den jeder Mensch in ausweglosen Lebenssituationen eintreten kann, wenn er keinen Suizid begeht. Der Thera-peut ist in diesem Prozess ein einfühlender „Reisebegleiter“.

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In der Folge entstanden in England in den späten 60er Jahren im Rahmen einer Fundamentalkritik an der psychiatrischen Versorgung therapeutische Wohngemeinschaften wie die Londoner Kingsley Hall von Ronald D. Laing und die Villa 21 um David Cooper (Cooper 1976, Lawrence, Copas und Cooper 1991). Obwohl recht abenteuerlich und instabil, fungierten diese Modelle für viele Psychiater als Denkanstoß und als Motivation, mit einer veränderten Pra-xis die Versorgung zu reformieren. Einer von ihnen war Loren Mosher, Klinik-direktor und Schüler von R. Laing. Er übernahm den Ansatz von Laing und baute ihn in den 90er Jahren zum weltweit bekannten Therapiekonzept des „Dabei-Seins“ („Being With“) aus. Schon 1971 eröffnete er das erste „Soteria-House“ (1971–1983) in San José / Kalifornien (Mosher und Menn 1985, Mos-her, Kresky Wolff, Matthews und Menn 1986). Hier wurden besonders Erfah-rungen mit der Medikamentenreduktion systematisch erprobt und erforscht. In diesem Zusammenhang hebt Mosher die Wichtigkeit von sozialen Netzwerken und gemeindeintegrierten Versorgungsstrukturen hervor (Mosher und Vallone 1992, Mosher 1995, Fenton, Mosher, Herrell und Blyler 1998).

Die Vertreter der anti-institutionellen, demokratischen Psychiatrie Italiens reflektierten in den 60er und 70er Jahren kritisch die gesellschaftliche Stellung der Psychiatrie und die politische Bedeutung von Reformmodellen. Neben der massiven Kritik an der Unmenschlichkeit und Destruktivität der damaligen Asyle betonten führende Psychiater wie Basaglia (1971) und Pirella (1998) die Patho-genität der modernen Produktions- und Lebensbedingungen. Die Reforman-sätze thematisieren insbesondere den Aspekt der Integration und der gesell-schaftlichen Teilhabe von psychisch erkrankten Menschen. Theoretisch wer-den sie unterstützt durch eine Institutionsanalyse, welche die Alltagsferne gro-ßer Einrichtungen kritisiert.

1.2 Die gegenwärtige Krise der Sozialen Psychiatrie

Die gegenwärtige Krise der Sozialen Psychiatrie zeigt sich in zwei miteinan-der verwobenen Problemfeldern.

1. Institutionszentrierung statt Subjektorientierung: Der immense Einfluss der Kliniken auf die ambulante Versorgungspraxis ist nicht zu verleugnen. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Reformansätze einer regionalisierten Psychiatrie vorwiegend aus den psychiatrischen Abteilungen an den Kranken-häusern heraus geplant und umgesetzt wurden. So hat sich entgegen den Grundsätzen der Subjektorientierung ein „stationäres“, das heißt institutions-zentriertes Denken auch in der ambulanten Versorgung festgesetzt. Dieses Denken folgt – insbesondere in vielen nach Auflösungen von Langzeitberei-chen in Großkrankenhäusern neu gegründeten psychiatrischen Heimen – nach wie vor der klinischen Logik des defizitären Blicks und einer entmündigenden Versorgungs- und Verordnungshaltung (Pfefferer-Wolf 1999, Bastiaan, Bar-tusch, Elgeti und Steffen 2002, Kallert und Leibe 2002).

Die Soziale Psychiatrie steht dadurch unter starken Gegeneinflüssen einer zunehmend kustodialen Betreuung. Die Lage ist gekennzeichnet durch nach-

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lassende Enthospitalisierungsanstrengungen, massiven Zuwachs an ghettoi-sierenden Heimplätzen für psychisch Kranke und eine zunehmend autoritativ-verordnende medizinische Behandlungspraxis. Parallel dazu stehen die Trä-ger ambulanter Einrichtungen unter hohem sozioökonomischen Druck und reduzieren systematisch unter dem Vorwand der ‚Qualitätssicherung‘ und ‚opti-maler Ressourceneinsätze‘ die kreativen Nischen für ein neues subjektorien-tiertes Denken und Handeln. Zwar existieren bei vielen Mitarbeitern wohlge-meinte ‚sozialpsychiatrische Haltungen‘. Diese folgen jedoch eher externen moralischen Forderungen und richten sich nach den jeweils mehr oder weni-ger ambitionierten, aber doch zufälligen Interessen der Institutionen. Als Gegen-gewicht zu den veränderten Strukturen reichen diese Haltungen freilich nicht aus. So konnte sich eine maßgeblich subjektorientierte ambulante Praxis bis heute nicht im erforderlichen Ausmaß etablieren.

2. Theoriearmut: Die Unsicherheit in der ambulanten Praxis findet ihre Ent-sprechung und ihren tieferen Grund in der Theoriearmut der Sozialen Psych-iatrie selbst. Die Soziale Psychiatrie verfügt bisher über keine angemessene und im Fach akzeptierte Theorie des Subjekts (das betrifft etwa Identität und psychotisches Erleben), der Intersubjektivität (das betrifft etwa die therapeuti-sche Kommunikation und Interaktion) und des Sozialen (das betrifft etwa die Institutionen der Psychiatrie, der Familie und so weiter). Daher konnten sich auch kein stringenter Forschungsdiskurs und keine spezifische sozialpsychia-trische Methode entwickeln. Die bisherigen Theorieanstrengungen sind unzu-reichend oder werden – wegen der zunehmenden Biologisierung der Psychi-atrie – ignoriert. Die Soziale Psychiatrie weist zwar schon immer Bezüge zur Kulturtheorie auf, vor allem zu einer phänomenologisch-hermeneutisch begrün-deten Theorie des „Sinns“ (Machleidt, Passie und Spazier 2007, Wulff 1992). Nichtsdestotrotz mangelt es bisher an Versuchen, die eigenen empirischen Forschungsanstrengungen in eine allgemeine Theorie der Zeichen einzubet-ten (vgl. Emrich, Zedler und Schneider 2002, Leferink und Heinz 1999, Debus, Burmeister, Floeth und Zechert 2005).

Die Theoriearmut hat dazu beigetragen, dass bisher keine klare Unterschei-dung zwischen Sozialer und anderen Arten der Psychiatrie (klinischer, biolo-gischer, verstehender) getroffen werden konnte. Mit einem Schlag wurde auf ein Mal jede Psychiatrie als sozial verstanden (Schlagwort: „Psychiatrie ist sozi-al oder sie ist keine“). So wurde ein konsistentes (arbeitsteiliges und interdis-ziplinäres) Nachdenken über das Soziale in der Psychiatrie erschwert. Diese Theoriearmut ist daher auch mitverantwortlich dafür, dass sich die vorhande-nen praktischen Alternativen in den Institutionen nicht verankern oder behaup-ten konnten. Symptomatisch dafür steht, dass auch bis heute kein staatlich anerkannter „Facharzt für Sozialpsychiatrie“ institutionalisiert werden konnte – mit der Konsequenz, dass das Bestehen sozialpsychiatrischer Abteilungen durch kassenärztliche Verträge nicht abgesichert ist, sondern allein durch Beschluss der einzelnen Kliniken herbeigeführt aber auch willkürlich widerru-fen werden kann.

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1.3 Soziale psychiatrische Praxis zwischen Subjekt und Institution

Gewöhnlich sind Institutionen in ihren Strukturen, Aufgaben und Funktionen mehrfach (mehrdimensional) gegliedert. Eine(r) ihrer Bestimmungen (Zwecke) ist es, für potentielle individuelle und gesellschaftliche Konfliktfelder vorgefer-tigte regelhafte und damit schnell einsetzbare, allgemein anerkannte Lösungs-möglichkeiten bereitzuhalten. Die Institution Psychiatrie erfüllt diese gesellschaft-liche Aufgabe für bestimmte Formen abweichenden Verhaltens mit ihrem dop-pelgesichtigen und widersprüchlichen Auftrag von ‚Hilfe und Kontrolle‘.

Der Widerspruch tritt in grundsätzlich zwei verschiedenen Typen von profes-sionellen Beziehungen hervor: D i s t a n z b e z i e h u n g e n , in denen die kon-stitutiven und regulativen Regeln der Institution ausgehandelt werden, und N ä h e b e z i e h u n g e n , in denen sich zum Beispiel die therapeutische Bezie-hungsarbeit zwischen Patienten und Mitarbeitern oder das Kollegialverhältnis der Mitarbeiter untereinander wiederfindet. Erfahrungen aus der Supervision und auch empirische Befunde zeigen, dass sich sowohl in stationären als auch in ambulanten Institutionen solche Distanz- und Nähebeziehungen überlagern. Diese Überlagerung ist verantwortlich für die Wiederholung häufig zermürben-der Handlungszirkel bis hin zu gewalthaften Eskalationsstufen.

Ein Beispiel aus Bruns (1998): So wird etwa in der stationären Versorgung von den Mitarbeitern (moralisch, siehe oben) erwartet, dass sie zu Patienten therapeutische Beziehungen eingehen. Jedoch sind sie darauf nicht genügend vorbereitet, da die Soziale Psychiatrie keine psychologische und keine inter-aktionelle Theorie besitzt. In Ermangelung einer solchen Theorie entstehen moralisierende Forderungen nach echten, authentischen, hilfreich-guten, all-täglichen oder freundschaftlichen Beziehungen zwischen Therapeuten und Patienten. Asmus Finzen hat diese moralisierende Haltung als „die neue Ein-fachheit oder die Entprofessionalisierung der Psychiatrie“ bezeichnet. Die For-derungen nach ‚Echtheit‘ und so weiter geraten zur Falle, da sie Überforde-rung und Enttäuschung hervorrufen. Denn wenn solche Reaktionen nicht gezeigt oder nicht wahrgenommen werden, da sie dem sozialpsychiatrischen Ideal widersprechen, gelangen sie unterschwellig in die Interaktion mit den Patien-ten. Die Folgen sind latent aggressive Spannung, Schuldgefühle, verstärkte Selbstkontrolle, gesteigerte Gereiztheit, Entlastung der Aggression durch Pro-jektion auf den Patienten, Entlastung durch Annahme von Unwilligkeit, Thera-pieresistenz, Non-Compliance beim Patienten, unbewusste Stimulierung von geeigneten Patienten zu aggressiven Handlungen bis hin zum endlich legiti-men gewalthaften Eingriff durch Fixierung oder Zwangsmedikation (vgl. Bruns 1993, Bastiaan, Debus und Haltenhof 1998, Debus 1997) .

Auf solche und ähnliche Weise werden psychiatrische Stationen zu sympto-matischen Austragungsorten von institutionellen Regelkonflikten, die sich in interaktionellen Beziehungsproblemen zwischen Mitarbeitern und Patienten niederschlagen (Backhaus 2003, Debus 2008). Dieser regelmäßige und ver-mutlich auch regelhafte Ablauf therapeutischer Kontakte kann nur von Perso-nen, die die Wiederholungsdynamik erkennen beziehungsweise ansprechen können und sie dadurch vermeiden, und solchen, die sich Zeit lassen können

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und über größere analytische Kapazitäten verfügen, außer Kraft gesetzt wer-den. Diese Bedingungen sind jedoch für therapeutische Mitarbeiter unter den ökonomischen, administrativen und verrechtlichten Bedingungen eines psy-chiatrischen Krankenhauses kaum erfüllbar. Sie greifen deswegen in einem ihnen meist nicht bewussten Abwehrverhalten mit dem Ziel, sich vor den weit-gehenden Beziehungsansprüchen und ständig aus ihrer Sicht zermürbenden Beziehungsüberprüfungen zu schützen, auf den Mechanismus der Verweige-rung einer Beziehung zurück. Die Legitimierung erhält dieses Verhalten, indem es zum therapeutischen Konzept der Institution erklärt wird: Die Beziehungs-abwehr wird institutionalisiert.

In einer Kultur der Beziehungsabwehr werden die realen Beziehungen als künstlich, unlebendig, unfreundlich oder trostlos erlebt (Floeth 2003 und 1997). In Beschreibungen von psychiatrischen Stationen entsteht das Bild von Pseu-dohaftigkeit, das zur Vorstellung von Surrogaten gehört: Beziehungssurroga-te, die für etwas stehen, ohne es zu sein, ersatzweise eingebrachte Gegen-stände oder Handlungssachverhalte, die im Verhältnis zu den ‚echten‘ Themen unwirklich erscheinen. Im Gegensatz zu ‚echten‘ Beziehungen, die sich auf ‚echte‘ Themen oder Interessen beziehen, richten sich Pseudobeziehungen auf Surrogate beziehungsweise ersatzweise eingebrachte Interessen. Spürbar werden die Surrogate in der Atmosphäre, im Design oder auch in der Anord-nung der Gegenstände – so sind die Umgebungen von Patienten in Heimen und Langzeiteinrichtungen sehr häufig reizlos, langweilig, randständig und unbedeutend. Patienten fühlen sich häufig ganz realistisch (und gar nicht wahn-haft) als ‚automatisierte Roboter‘ oder ‚Abfall‘ der Gesellschaft. Surrogate zei-gen sich auch in der Menschenleere, in der Sprach- und Kommunikationslo-sigkeit zwischen den Menschen, in der Dominanz formaler Stationsorganisa-tion statt gemeinsamer Planung, in der Reduktion auf Versorgung statt geteil-tem Alltagsleben oder in der Reduktion auf Medikamentengabe und Behand-lungstechnik statt verstehender Gesprächskultur. In den psychiatrischen Sta-tionen herrscht eine immense Spannung zwischen virulenten Beziehungswün-schen der Patienten und den vorherrschenden Stationsregeln der Beziehungs-losigkeit. Bei chronifizierten Langzeitpatienten sind diese Beziehungswünsche resignativ verebbt und in ihr Gegenteil verkehrt. Eine Ratingliste (Nouvertné 1996) von Nutzern psychiatrischer Einrichtungen zeigt, dass ein Großteil der Psychiatrieerfahrenen (82%) fordert, „endlich in Ruhe gelassen zu werden“. Dieses Verhalten ist typisch – aber nicht im Sinne einer individuellen patholo-gischen Störung misszuverstehen, sondern als Verhaltensmuster innerhalb pathogener Institutionsstrukturen zu erklären, die letztlich zu Chronifizierung und/oder Ausgrenzung führen.

Auch in der ambulanten Betreuung zeigen sich Formen der institutionalisier-ten Beziehungsabwehr etwa in der tendenziell zunehmenden Beschränkung auf rein formal abgesicherte Hilfeleistungen im vernetzten System des „social case management“. In einem solchen Netz reduziert sich die Beratungstätig-keit von psychosozialen Einrichtungen auf einen Lotsendienst im Sozial- und Gesundheitssystem einer Kommune. Unter zunehmendem Kosten- und Effek-tivitätsdruck wird das Management in immer kürzeren Zeittakten organisiert.

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Soziale Arbeit übernimmt in diesem System die Steuerungsfunktion von Sozi-al- und Arbeitsämtern und verlässt zunehmend den Kernbereich sozialthera-peutischer Arbeit in den konkreten Nähebeziehungen. Dadurch verschiebt sich das Kräfteverhältnis auch im ambulanten Bereich von der Hilfe zu mehr Kon-trolle. Festzustellen ist eine zunehmende Institutionalisierung der ambulanten Versorgung, die zum ursprünglichen sozialpsychiatrischen Ansatz der De-In-stitutionalisierung in krassem Gegensatz steht.

1.4 (Re-)Integration durch kulturelle Praxis

Beziehungsabwehr seitens der Mitarbeiter wurde im obigen Abschnitt nicht als Ergebnis von persönlicher Inkompetenz oder Fehlverhalten thematisiert. Viel-mehr zeigt das Beispiel, wie therapeutische Kommunikation in Nähebeziehun-gen der Logik großer Institutionen folgt und sich damit negativ auf die Heilungs-prozesse der Patienten auswirken kann. Stigmatisierung, Ausgrenzung in Ghet-tos, Pathologisierung und therapeutischer Nihilismus sind praktische Konse-quenzen von Institutionslogiken, die dazu führen, dass sich Patienten persön-lich entwertet fühlen. Der Einzelne kann sich häufig nicht als etwas Besonde-res erleben, als jemand, dem soziale Anerkennung zuteil wird. Entwertung und Selbstentwertung sind zwei Seiten einer sich permanent wiederholenden All-tagserfahrung. Dieser Grunderfahrung sind in den Projekten der Sozialen Psy-chiatrie verschiedene praktische Strategien entgegengesetzt worden mit dem Ziel, die Autonomieerfahrungen der Patienten zu erhöhen und die negativen Institutionslogiken zu durchbrechen. Dazu gehören:

1. De-Institutionalisierung: Enthospitalisierung, Auflösung großer Institutio-nen und Ambulantisierung der Behandlung. Mit diesem Ansatz war und ist die Hoffnung verbunden, dass sich kleine ambulante Behandlungseinrichtungen von den Handlungslogiken großer Institutionen (vgl. „totale Institutionen“, Goff-man 1973, Thornicroft und Bebbington 1989) ablösen können. Sicher wurden mit diesem Ansatz Voraussetzungen für angemessenere Behandlungskontex-te geschaffen, jedoch sind damit die nächsten Schritte im therapeutischen Nah-bereich noch nicht hinreichend präzisiert (Forster 2000).

2. Partizipation: Hier geht es um die Mitarbeit in sozialen Institutionen und in gesellschaftlich anerkannten Bereichen, in denen psychiatrische Patienten die gleiche persönliche und soziale Anerkennung erhalten können wie Menschen ohne Psychiatrieerfahrung – etwa durch Beschäftigung in Firmen (zum Beispiel Zuverdienstfirmen, Firmen für psychisch Kranke) oder durch Mitwirkung in psy-chiatriepolitischen Organisationen (zum Beispiel landespolitischen Fachbeirä-ten, Bundes- und Landesverbänden von Psychiatrieerfahrenen beziehungswei-se deren Angehörigen; vgl. hierzu Teuber, Stiemert-Strecker und Seckinger 2000).

3. Aufbau von Gegenwelten: Hierzu zählen etwa Versuche des Aufbaus einer weniger stigmatisierenden und kompetenten Laiensprache, in der die Themen des psychischen Erlebens und Leidens angemessener, alltags- und bezie-hungsnäher kommuniziert werden können. Eine solche angemessene Laien-sprache wird beispielsweise in den trialogisch arbeitenden Psychosesemina-

11Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

ren (Bock 1991 und 2005) oder psychiatrischen Selbsthilfegruppen gesucht und praktiziert. Dazu zählen auch anti-psychiatrische Projekte mit der Entwick-lung kreativer Alternativen zur herkömmlichen Psychiatrie: zum Beispiel das Weglaufhaus in Berlin, die Beschwerdestellen für Psychiatrieerfahrene in frei-er Trägerschaft und so weiter.

4. Ästhetisierung des Alltags: Unter diesem Stichwort geht es nicht um Kunst als Therapie, sondern um das gesellschaftlich akzeptierte Leben von Patien-ten als Künstler. Frühe Kunstpraktiken (etwa die Dadaisten oder später Beuys) experimentierten mit Aktionen, die die gewöhnlichen Alltagsdinge in die Kate-gorien des Sublimen und Besonderen überführten, etwa indem Gebrauchsge-genstände (Korkenzieher) oder Alltagshandlungen (Fensteröffnen) dadurch zu Kunstwerken erklärt wurden, dass solche Objekte oder Aktionen in ungewohn-ten Umgebungen platziert beziehungsweise praktiziert wurden. Nach diesem Vorbild sind für psychiatrische Patienten ästhetische Räume mit den Medien der Kunst (Theater, Musik, Bild) entwickelt worden, in denen sich Personen als einzigartig und wertvoll neu definieren können, zum Beispiel als Schauspieler, Maler, Musiker oder Bühnenbildner. In diesen Räumen, die ganz wesentlich öffentlich und außerhalb von psychiatrischen Institutionen lokalisiert sind, wer-den immer wieder Begabungen entdeckt, die das Besondere von ver-rückten Erfahrungen zum Ausdruck bringen und dadurch neue, teilweise ungewohnte, mitunter auch schockierende ästhetische Akzente setzen (vgl. Ahrens 2005). Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die von der Bundesregierung geförderte Wan-derausstellung „Zeige Deine Wunden – Befreiende Kunst“ (2006). Bundesweit hat zudem das Projekt „Blaumeier“ (seit den achtziger Jahren in Bremen) mit seinen Produktionen neue Impulse und innovative ästhetische Maßstäbe gesetzt.

5. Aufbau von Möglichkeitsräumen: In geschützten therapeutischen Berei-chen von psychiatrischen Einrichtungen wurden Erfahrungsräume eingerich-tet, die den Patienten mehr Spielraum zur Entfaltung von psychotischen Erfah-rungen geben. So etwa gibt es in Innovationsprojekten zur Akutbehandlung („Soteria“) reale Rückzugsräume mit dem therapeutischen Konzept des Dabei-seins (vgl. Loren Mosher, siehe oben). Ein anderes Beispiel: Wesentliches Moment beim Psychodrama als therapeutischem Ansatz und als Methode der Reflexion ist es, Bühnen und Szenen aufzuspannen, in denen Erfahrungen nacherlebt und alternative Verhaltensweisen ausprobiert werden können (vgl. dazu Leutz 1980 und in diesem Heft Ahrens 2011).

2. Semiotik: Über die Rolle der Sprache und anderer Zeichensysteme

Der Überblick des vorangegangen Kapitels hat deutlich gemacht, dass die Sozi-ale Psychiatrie zwar immer schon Bezug zu und Bedarf an einer Kulturtheorie hatte, sie ihre Diskussionen und Forschungsaktivitäten aber kaum in eine semi-otische Kulturtheorie eingebettet hat, die in der Lage wäre, die verschiedenen Ansätze unter der Perspektive des Zeichens und der Zeichenprozesse zu inte-grieren. Wie diese Einbettung aussehen kann und welche theoretischen Anschlusspunkte gegeben sind, ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels.

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Eine erste Orientierung im Hinblick auf die in der Psychiatrie nahezu unbe-kannte Wissenschaft „Semiotik“ gibt ein treffender Satz des Begründers der strukturalen Sprachtheorie im 19. Jahrhundert, Ferdinand Saussure. Er cha-rakterisiert die Semiotik als eine Disziplin, die „das Leben der Zeichen im Leben der Menschen“ (Saussure 2001) erforscht. Diesem Selbstverständnis nach hat die Semiotik für die Sozial- und Kulturwissenschaft eine ähnlich theorieinte-grierende Funktion wie die Mathematik für die Naturwissenschaft. Daran knüpft das Postulat an, dass sich alle verstehenden Therapieformen auf der Grund-lage von Interaktion und Kommunikation in unterschiedlichen Zeichensyste-men vollziehen. Wer verstehen und verstanden werden will, muss sprechen und dabei auf sein Repertoire an verbalen (Wortformen und grammatische Strukturen), prosodischen (Intonation), parasprachlichen (Stimmqualität und -Färbung) und außersprachlichen (Körperhaltung und Körperbewegung) Zei-chen zurückgreifen. Zudem sind es Psychiater und Psychotherapeuten auf-grund ihres Berufes gewohnt, verbale und nonverbale Äußerungen als Anzei-chen zu deuten. Die Formel „Sprache ist das bildgebende Verfahren der ver-stehenden Psychiatrie“ wird in metaphorischer Anspielung an die bildgeben-den Verfahren der Neurobiologie verwendet, um die herausragende Stellung der Lautsprache für die verstehende Psychiatrie zu betonen. Menschen könn-ten jedoch nicht sprechen lernen, wenn sie nicht vorher die motorische Phase durchlaufen würden. Körperhaltung, Gestik und Mimik bleiben zeitlebens Aus-gangspunkte und zentrale Ausdrucksmittel für gegenseitiges Verstehen. Sprach-nahe Kodes wie die Schrift und die zugehörigen Kulturtechniken des Schrei-bens und Lesens, der Gesang und die Kulturtechniken des Solo- und Chorsin-gens sowie die Literatur und die Kulturtechniken des Skandierens, Reimens und Dichtens überformen den Sprachgebrauch und prägen damit auch die sprachlichen Verstehensprozesse. Allgemeine Verhaltenskodes, wie die der Höflichkeit und der verschiedenen gesellschaftlichen Rituale, eröffnen zusätz-liche Dimensionen des Verstehens. Hinzu kommen die Produktion und der han-delnde Umgang mit Artefakten (Werkzeugen und Geräten, Skulpturen und Gebäuden, Musik- und Theaterstücken, Bildern und Filmen), in denen wir uns gegenseitig wiedererkennen und so verstehen lernen.

Die Semiotik hat einen Theorierahmen entwickelt, der all diese Erfahrungen miteinander kompatibel und beschreibbar macht (vgl. Posner, Robering und Sebeok 1997; Literatur zu den Klassikern der modernen Semiotik in Krampen, Oehler, Posner und Uexküll 1981 sowie Nöth 2000).

– Ferdinand de Saussure († 1913), der Begründer der strukturalistischen Semiotik und selbst ein Linguist, hat vorgeschlagen, sich bei der Analyse des Verstehens nicht auf Wörter und Bilder zu beschränken, sondern alle genann-ten Phänomene in die Untersuchung einzubeziehen. Er nennt sie „Zeichen“ und hebt hervor, dass sie ihre Bedeutung so wie die Wörter in der Sprache dadurch erhalten, dass wir sie einander gegenüberstellen und ihren Stellen-wert in dem jeweiligen Zeichensystem (Kode) nutzen. Als Zeichen gilt dabei alles, dem ein Interpret eine Bedeutung zuzuordnen vermag.

– Charles S. Peirce († 1914) und Charles W. Morris († 1979), die Begründer der pragmatistischen Semiotik, gehen von den Konsequenzen („Interpretan-

13Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

ten“) des Zeichengebrauchs im Handeln der Zeichenbenutzer aus und zeigen, wie sich der Situationskontext in das Zeichenverstehen einbeziehen lässt.

– Jakob von Uexküll († 1944) und George H. Mead († 1931), die Begründer der ethologischen Semiotik, weisen nach, dass das Individuum selbst sich durch den Kontakt mit der sozialen und durch Artefakte geprägten Umwelt defi-niert, indem es deren Zeichen (Merkzeichen) durch Handeln in Wirkzeichen umsetzt.

– Karl Bühler († 1963), der Gestalttheoretiker und Sematologe, entwickelt ein dialogisches Modell der Zeichenfunktionen und erklärt dialogisches Ver-halten als Wechselspiel der Orientierungssysteme der beteiligten Individuen.

– Eine vorwegnehmende Synthese all dieser Ansätze zur Beschreibung von Bedeutung und zur Erklärung von Verstehen vollzieht Ernst Cassirer († 1945), indem er zeigt, dass Kultur nichts anderes ist als ein Zusammenwirken ver-schiedenartiger Zeichensysteme („symbolischer Formen“). Dies ist ein Ansatz, den später Autoren wie A. Julien Greimas († 1992), Juri Lotman († 1993) und Umberto Eco in detaillierten Kulturanalysen überzeugend weiterentwickeln, so dass sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass die Semiotik in der Lage ist, die theoretischen Grundlagen zu liefern, die eine Neukonzeption der Geistes- und Sozialwissenschaften als Kulturwissen-schaften nahe legen.

2.1 Semiotik als Mikroanalyse der Zeichenprozesse

Untersuchungsgegenstand der Semiotik sind Semiosen, das sind spezielle Handlungs- und Wahrnehmungsprozesse, in denen Zeichen auftreten. An einer Semiose sind mindestens folgende Faktoren beteiligt (Posner 1992): Ein Z e i -c h e n trifft auf einen E m p f ä n g e r , der ihm eine B o t s c h a f t (Bedeutung) zuordnet. In vielen Fällen ist ein S e n d e r beteiligt, der mit Hilfe der Botschaft Einfluss auf den Empfänger ausüben will. Er nutzt dabei den Ko n t ex t , einen oder mehr Wahrnehmungsk a n ä l e und einen Ko d e , dessen Regeln die Ver-bindung zwischen Zeichen und Botschaft herstellen, indem sie S i g n i f i k a n -t e n und mit ihnen korrelierte S i g n i f i k a t e dazwischenschalten. Mit dieser Begrifflichkeit gelingt es der Semiotik, das gesamte Spektrum der Zeichenty-pen zu erfassen:

1. vom S i g n a l (Klingeln des Weckers als Zeichen für den Patienten, auf-zustehen) über das A n z e i c h e n (die geschlossene Tür des Sprechzimmers als Zeichen dafür, dass der Arzt nicht da ist) und den Au s d r u c k (sprachlo-ses Erröten des Patienten beim Anblick der Krankenschwester als Zeichen der Scham) bis zur G e s t e (Mundöffnen des Babys beim Füttern als Zeichen für die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme) sowie

2. vom A u s d r u c k ( unwillkürliches Husten als Zeichen einer Erkältung) über das Au s d r ü c k e n (vom Arzt gewünschtes absichtliches Husten bei der Untersuchung der Atem wege als Zeichen für den Gesundheitszustand) und das A n z e i g e n d e s Au s d r ü c k e n s (Geräusch des Unterdrückens eines Hustenanfalls auf einer Versammlung als Zeichen für das Ausdrücken einer

Stephan Debus und Roland Posner 14

Erkältung) bis hin zur ex p r e s s i ve n Ko m m u n i k a t i o n (Hüsteln als Äuße-rung der Kritik am ungehörigen Verhalten einer anderen Person).

Die erste Beispielkette betrifft die verschiedenen Sorten senderloser Zei-chen (das sind von niemandem als Zeichen intendierte Sachverhalte mit Zei-chenfunktion); die zweite betrifft die verschiedenen Reflexionsstufen von Sen-derzeichen einer speziellen Zeichensorte, der des Ausdrucks: An unwillkürli-chem Husten sind weder Absicht noch Glauben beteiligt; bei vom Arzt gewünsch-tem Husten spielt die Absicht des Hustenden mit; zum Unterdrücken eines Hus-tenanfalls gehört die Absicht, die anderen Versammlungsteilnehmer dazu zu bringen, zu glauben, dass man nicht anders kann als seine Erkältung auszu-drücken, obwohl man sie nicht stören möchte; und hinter dem Hüsteln steht wie bei jeder expressiven sprachlichen Äußerung die Absicht, eine Person dazu zu bringen, etwas zu glauben (hier: dass ihr Verhalten missbilligt wird), und das nur auf Grund der Tatsache, dass sie annimmt (d.h. glaubt), dass der Hüsteln-de will, dass sie das glaubt.

Derartige Beispiele mögen zeigen, dass die Semiotik das Instrumentarium besitzt, das erforderlich ist, um Interaktionen aller Art analytisch zu durchdrin-gen und begrifflich angemessen zu erfassen, ohne sie künstlich an einen spe-ziellen Interaktionstyp zu assimilieren – sei es die nichtsprachliche Reiz-Reak-tions-Konfiguration, sei es die sprachliche Kommunikation. Durch diesen Analy-seansatz lassen sich insbesondere auch die hochkomplexen Interaktionsgefü-ge beschreiben, die im Rahmen der Sozialen Psychiatrie auftreten. Gegenseiti-ges Verstehen und die Herstellung von Intersubjektivität erweisen sich als nicht allein an Sprache gebunden, sondern als mehrkanaliger multikodaler Prozess zwischen mit der Fähigkeit zu intendieren und zu glauben ausgestatteten Wesen, der sich durch semiotische Mikroanalysen aufdecken lässt. Im Rahmen solcher Analysen lassen sich die Daten aus der teilnehmenden Beobachtung, der Super-vision und anderen Verfahren der Datengewinnung angemessen analysieren.

2.2 Semiotik als Makroanalyse kultureller Praxis

Die Semiotik erforscht nicht nur die Funktionen von Zeichen in der Interaktion der Menschen (Soziosemiotik), sondern auch die Funktionen von Zeichen im seelischen Haushalt (Psychosemiotik) und die Funktionen von Zeichen im orga-nismischen Stoffwechsel (Biosemiotik). Zu der dafür erforderlichen Kompetenz in der Mikroanalyse von Zeichenprozessen aller Art tritt die Kompetenz der Semiotik in der Makroanalyse der kulturellen Praxis (Kultursemiotik).

Ausgangspunkt semiotischer Kulturanalyse ist die Auffassung, dass jede Kul-tur ein mehrschichtiges Gebilde ist, das auf konventionellen Kodes für die Kor-relation zwischen den Signifikanten und den Signifikaten von Zeichenprozes-sen beruht. Alle kulturellen Artefakte sind Signifikanten, denen auf weitgehend konventionelle Weise ihr Gebrauchszweck als Signifikat zugeordnet ist. Nur so lassen sich die Artefakte voneinander unterscheiden, in Artefaktsysteme ein-teilen und im häuslichen oder beruflichen Alltag sinnvoll verwenden. Auch die mündlichen und schriftlichen Texte der natürlichen Sprachen sind Artefakte in

15Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

diesem Sinne. Gemäß diesem Ansatz besteht jede Kultur aus einer Menge von individuellen und institutionellen Zeichenbenutzern (Gesellschaft), die Artefak-te produzieren und gebrauchen (Zivilisation), durch die mit Hilfe konventionel-ler Kodes (Mentalität) Botschaften mitgeteilt werden, welche den Zeichenbe-nutzern einzeln oder als Gruppe die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen.

Die Struktur der G e s e l l s c h a f t ist durch die Gruppen von Individuen fest-gelegt, die regelmäßig durch Zeichenprozesse bestimmter Art miteinander ver-bunden sind. Solche Individuengruppen werden „Institutionen“ genannt; diese arbeiten – wieder ablesbar an den Zeichenprozessen, die zwischen ihnen statt-finden – in Institutionsverbünden zusammen (zum Beispiel der Kultusminister-konferenz, dem Bundesverband der Krankenkassen, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie). Auch die Struktur der Z i v i l i s a t i o n ist semiotisch determiniert. Sie wird bestimmt durch die Gruppen von Artefakten, die regelmä-ßig in Zeichenprozessen miteinander verbunden sind. Diese werden als „Werk-zeugkasten“, „Gerätetypen“, „Textgenres“, „Medien“ und dergleichen zusammen-gefasst. Die M e n t a l i t ä t einer Gesellschaft besteht aus ihren Mentefakten, das heißt ihren Ideen und Werten, und den Konventionen, die deren Verwen-dung und Darstellung bestimmen. Unter Ideen im weiteren Sinne sind hier alle Kategorien zu verstehen, mit denen eine Gesellschaft sich selbst und die Wirk-lichkeit interpretiert. Begriffe wie ‚Mensch‘, ‚Tier‘, ‚Pflanze‘ gehören ebenso hier-her wie ‚Himmel‘ und ‚Hölle‘, ‚Krankheit‘, ‚Gesundheit‘ und ‚Medizin‘. Beispiele für die Werte einer Kultur sind ‚Menschenwürde‘, ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Brüder-lichkeit‘, ‚Nächstenliebe‘, ‚Ehrlichkeit‘ und ‚Pflichtbewusstsein‘. Nun kann ein Men-tefakt in einer Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn diese über ein Substrat verfügt, das seine Mitteilbarkeit gewährleistet, und das heißt, dass es ein Zeichen gibt, das es ausdrückt – genauer: wenn es einen Signifikanten gibt, dessen Signifikat das Mentefakt ist (vgl. hierzu die Arbeit von Rainer Funke in diesem Heft). Außerdem treten Paare von Signifikanten und Signifikaten immer nur im Systemzusammenhang auf. Dass Signifikant-Signifikat-Zuordnungen als „Kodes“ bezeichnet werden, macht jede Mentalität zu einer Gesamtheit von Kodes.

Dieses Kulturkonzept ist als Theorierahmen für alle Geistes- und Sozialwis-senschaften gedacht. Es soll ermöglichen, deren speziellere Forschungser-gebnisse in terminologisch kompatibler Form mit den semiotischen Grundla-gen zu verknüpfen und damit eine Basis für die Auseinandersetzung der geis-tes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen untereinander liefern. Die Sozi-ale Psychiatrie kann als angewandte Sozialwissenschaft davon profitieren und auch ihre Theorienbildung und empirische Forschung in diesen Rahmen ein-bringen (Debus und Posner 2009, Debus, Burmeister, Floeth und Zechert 2005, Debus 2003). Wichtig ist dabei, dass der skizzierte Kulturbegriff auf alle Arten von Kulturen und Subkulturen anwendbar ist. Jugend- und Seniorenkulturen sind auf dieser Basis ebenso analysierbar wie die Berufskulturen der Ärzte und der Psychiater, die Patientenkulturen der Psychiatrieerfahrenen und auch die Atmosphäre von Psychiatriestationen als Therapeuten-Patienten-Kultur (Mili-eu) (Ciompi, Hoffmann und Broccard 2001, Debus und Posner 2007, Hoffmann 2007, Könemann 2007, Böhme 2007).

Stephan Debus und Roland Posner 16

2.3 Semiotik als Analyse der Wissenschaften

Jede Wissenschaft, als institutionalisierte Form der Wissenserweiterung, ist charakterisiert durch einen G e g e n s t a n d s b e r e i c h , eine Pe r s p e k t i ve , unter der sie diesen untersucht, M e t h o d e n , die sie dabei anwendet, T h e -o r i e n , die die Ergebnisse in verallgemeinerter Form festhalten, und D a r -s t e l l u n g s m i t t e l , die in der Kommunikation der Wissenschaftler unterein-ander benutzt werden (Menne 1992). Zu diesen fünf Komponenten kommen als weiterer Gesichtspunkt noch die Forschungsparadigmen (Methoden- und Theorien cluster) hinzu, die in der Forschungspraxis für verbindlich gehalten werden, und besondere Aufmerksamkeit gilt den Gründen, die für den gele-gentlich stattfindenden Paradigmenwechsel verantwortlich zu machen sind.

Eine Wissenschaft kann im Verhältnis zu einer anderen als Teildisziplin, Hilfs-disziplin, angewandte Disziplin, Metadisziplin oder interdisziplinäre Erweite-rung fungieren (Posner 2003). Teildisziplin ist sie, wenn mindestens eine ihrer Komponenten Teil der betreffenden Komponente der anderen Wissenschaft ist (wie z.B. die Innere Medizin als Teil der Medizin), während die restlichen Kom-ponenten die gleichen sind (Gegenstände, Methoden, Theorien und Darstel-lungsmittel der Inneren Medizin sind jeweils Teil der Gegenstände, Methoden, Theorien und Darstellungsmittel der Medizin). Da alle Gegenstandsbereiche, in denen Zeichenprozesse und Zeichen vorkommen, unter die Semiotik fallen können, ist der Gegenstandsbereich der Sozialen Psychiatrie Teil dessen. Aller-dings ist die Perspektive der Therapie und Heilbarkeit keine Teilperspektive der Perspektive der Eignung für Zeichenprozesse, sondern geht über sie hinaus. Daher ist die Sozialpsychiatrie keine reine Teildisziplin der Semiotik.

Doch gilt, dass die Semiotik eine H i l f s d i s z i p l i n der Sozialpsychiatrie ist, denn aus ihr bezieht die Sozialpsychiatrie einen Teil ihrer Methoden, The-orien und Darstellungsmittel (z.B. Analyseverfahren für die Arzt-Patienten-Inter-aktion, die Theorien mehrkanaliger und multikodaler Kommunikation und die Darstellungsmittel in der Auswertung von Behandlungsprotokollen). Außerdem kann die Semiotik den Gegenstandsbereich der Sozialpsychiatrie (Psychische Krankheiten) sowie deren Perspektive (Therapierbarkeit und Heilbarkeit) und deren Methoden unter dem Gesichtspunkt des Vorkommens von Zeichenpro-zessen in ihnen prüfen und auf diese Weise wichtige Klärungen erreichen.

In diesem Sinne fragt die Semiotik, welche Zeichenprozesse bei psychisch Kranken anders verlaufen als bei Gesunden, und welche Zeichenprozesse für die Therapie und Heilung psychischer Krankheiten charakteristisch sind. Glei-ches gilt für die Methoden und die Theorienbildung der Sozialpsychiatrie. Die Untersuchung sozialpsychiatrischer Methoden, etwa der der sozialwissen-schaftlichen Feldforschung, im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten mit den in der Pragmatik, Semantik und Syntaktik ausgearbeiteten semiotischen Metho-den kann Erstere klären und verbessern helfen.

Die Untersuchung der von der Sozialpsychiatrie hervorgebrachten Theorie-fragmente kann deren wissenschaftstheoretische Vorzüge und Mängel aufde-cken und Desiderate für die Weiterarbeit aufstellen helfen. Die Untersuchung von situativen Verhaltensweisen und Darstellungsmitteln in der sozialpsychia-

17Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

trischen Alltagspraxis, in der Kommunikation zwischen Therapeut und Patient sowie von Therapeuten untereinander und Patienten untereinander beziehungs-weise im Gespräch aller mit allen, kann suboptimales Verhalten erfassen, kate-gorisieren und Anregungen für die Verbesserung von Terminologie und Kom-munikationsverhalten liefern.

Wenn eine Wissenschaft von den Ergebnissen der Untersuchung ihrer Kom-ponenten durch eine andere Wissenschaft Gebrauch macht, bezeichnet man Letztere als „angewandte Wissenschaft“ der Ersteren. Unter der Annahme, dass die Begriffe der Sozialen Psychiatrie in Begriffen der Semiotik reformu-liert werden können (Debus 2003), kann in diesem Sinne die Soziale Psychi-atrie als a n g e w a n d t e S e m i o t i k betrieben werden und hat als solche ein großes Innovationspotential.

3. Die gegenseitige Ergänzung von Semiotik und Sozialer Psychiatrie

In die transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Semiotik und Sozialer Psy-chiatrie bringen die beiden Seiten folgende Kompetenzen ein:

Die Semiotik liefert der Sozialen Psychiatrie• eine Rahmentheorie für deren Selbstverständnis als zeichenbezoge-

ne Wissenschaft mit eigener Theorienbildung, Empirie und therapeu-tischer Anwendung ( e p i s t e m o l o g i s c h e S e m i o t i k ) ,

• eine kultursemiotische Terminologie und Analysemethodik für deren Selbstbeforschung als medizinische Subkultur ( Ku l t u r s e m i o t i k ) ,

• Verfahrensweisen für die Analyse der Zeichenprozesse (direkte Kom-munikation, technisch vermittelte Kommunikation, massenmediale Einwegkommunikation) zwischen den Individuen (Patienten, Thera-peuten, Administratoren), den Institutionen (psychiatrischen Statio-nen, Patientenorganisationen) und den Institutionsverbünden (Klini-ken, Wissenschaftsorganisationen) der Sozialen Psychiatrie ( S o z i o -s e m i o t i k ) ,

• Verfahrensweisen für die Analyse der Bedeutung und Wirkung von Arte-fakten (unter anderem Kleidung, Accessoires, Möbel, Innenarchitektur) und Texten (mündlich, schriftlich; Alltagsäußerungen, Protokolle, In struktionen, Rechnungen, Korrespondenzen), die im Rahmen der the-rapeutischen Praxis verwendet werden ( Z i v i l i s a t i o n s s e m i o t i k ),

• Verfahrensweisen für die Analyse der Struktur und Funktion von Kodes, die von den Patienten untereinander verwendet werden (zum Beispiel Höflichkeitskodes, Körperkodes wie Mimik und Gestik, Alltagsspra-che, Patientenjargon), ebenso wie von den Ärzten untereinander (Dienstregeln, Höflichkeitskodes, Körperkodes, Alltagssprache, medi-zinische Fachterminologie), von den Administratoren untereinander (Dienstregeln, Alltagssprache, juristische Fachterminologie) und von allen miteinander (Körperkodes, Alltagssprache, Klinikjargon) (M e n -t a l i t ä t s s e m i o t i k ).

Stephan Debus und Roland Posner 18

Die Semiotik hilft damit Innovationen in die Wege zu leiten• in der Einbettung der wissenschaftlichen Sozialpsychiatrie als zei-

chenbezogener Teildisziplin der Sozialmedizin in das System der Sozi-alwissenschaften,

• in der Einbettung der Sozialen Psychiatrie als Subkultur in die Gesamt-kultur,

• in der Verwendung von subjektstabilisierenden Interaktionsformen, in der De-Institutionalisierung der Therapiepraxis und in den Weisen der Partizipation der Patienten am Leben der übrigen Bevölkerung,

• im Design der Innenarchitektur und der Gestaltung von Atmosphären in sozialpsychiatrischen Institutionen, im Aufbau von Schutz- und Gegenwelten,

• in der Entwicklung von Verstehen fördernden Strategien und Taktiken bei Patienten, Ärzten und Administratoren sowie im Aufbau von Mög-lichkeitsräumen und neuen Interaktionskodes und ungewöhnlichen ästhetischen Erfahrungen.

Die Soziale Psychiatrie fordert die Semiotik heraus• zur differenzierteren Analyse von Wissenschaften, zu deren Untersu-

chungsgegenstand Zeichenbenutzer gehören, die nicht nur Befor-schung, sondern den Aufbau einer tragfähigen Kommunikationsbe-ziehung zu den sie Beforschenden erwarten,

• zur genaueren Untersuchung der Beziehungen zwischen den Sub-kulturen der Sozialen Psychiatrie,

• zur vergleichenden Institutionsanalyse im Hinblick auf die Interferenz zwischen Macht und Kommunikation,

• zur Analyse des Beitrags, den Artefakte und Texte zur Bildung von Milieu und Atmosphäre leisten,

• und zur Untersuchung des Mentalitätswandels von Patienten und The-rapeuten im Laufe langjähriger Therapieerfahrungen.

Die Soziale Psychiatrie hilft damit der Semiotik,• mehr Kontextfaktoren explizit in ihre Theorienbildung einzubeziehen,• differenziertere Verfahren zur Erforschung und Darstellung komple-

xer Subkulturen mit hohem eigenen Reflexionsgrad zu entwickeln,• empirisch nachweisbare Beziehungen zwischen der Organisations-

struktur, dem Zivilisationsniveau und der Mentalität (Struktur und Funk-tion der Kodes) einer Subkultur herzustellen,

• neben der Analyse von Zeichentypen auch die Modalitäten von deren Zusammenwirken bei der Bildung von Milieu und Atmosphäre zu modellieren,

• die Interaktion zwischen konkurrierenden Kodes in komplexen Men-talitäten zum Forschungsgegenstand zu machen.

19Kulturtheorie der Sozialen Psychiatrie

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PD Dr. Stephan DebusInstitut für KultursemiotikPfingstanger 3D-30974 Wennigsen (Deister)E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Roland PosnerArbeitsstelle für SemiotikTechnische Universität BerlinFranklinstraße 28-29, Sekr. FR 6-3D-10587 BerlinE-Mail: [email protected]

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 23-54Stauffenburg Verlag Tübingen

Zwangsanwendung im psychiatrischen Milieu – ein semiotisch fundiertes Forschungsprogramm

Stephan Debus, Medizinische Hochschule Hannover

Summary. A semiotics-based research program for studying coercive measures occur-ring within the psychiatric milieu and for developing empirically grounded theories is set up around the following terms: sociality, belief, settlement, regulative and constitutive rules, semiosis, situation, social atmosphere, action space, structure of social action, social milieu and double hermeneutics, validity condition, reconstruction, simulation, diagram and diagrammatical syntax. The research focuses on the structural connec-tions of atmospheres and semiosic processes, as well as their reconstruction by means of diagrammatical operations with the aim of developing hypotheses about action rules and plot structures that can be tested empirically. The validity conditions of semioses and methods of triangulation can be used to validate the research results.

Zusammenfassung. Ein semiotisch fundiertes Forschungsprogramm zur Untersuchung von Zwangsbehandlung im psychiatrischen Milieu und zur Entwicklung gegenstands-begründeter Theorien wird anhand der folgenden Begriffe dargestellt: Sozialität, Über-zeugung, Sässigkeit, regulative und konstitutive Regel, Semiose, Situation, soziale Atmosphäre, Handlungsspielraum, Handlungsstruktur, Milieu sowie Doppelte Herme-neutik, Geltungsbedingung, Rekonstruktion, Simulation, Diagramm und Diagrammsyn-tax. Die Forschungsfragen richten sich auf strukturelle Zusammenhänge von Atmosphä-ren und Semiosen und deren Rekonstruktion mittels diagrammatischer Probehandlun-gen zur Aufstellung empirisch überprüfbarer Hypothesen über Handlungsregeln und Handlungsstrukturen. Die Geltungsbedingungen von Semiosen und Methoden der Tri-angulation können zur Validitätsprüfung der Forschungsergebnisse herangezogen wer-den.

1. Zwangsanwendung als Gegenstand der Milieuforschung

Die langfristige und arbeitsteilige Erforschung von Zwangsanwendungen sowie Gewaltentstehung und Gewaltprävention ist von hoher gesellschaftlicher Rele-

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vanz, denn die nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) nur unzurei-chend geregelte Ausübung von Zwang (Zwangseinweisung, Zwangsbehand-lung, Zwangsfixierung und Zwangsmedikation) gehört in der Psychiatrie zu den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die alle Beteiligten (Patienten, Angehö-rige und professionelle Teams) in hohem Maße belasten und die zum negativen Bild der Psychiatrie in der Öffentlichkeit beitragen. In diesem Beitrag geht es um die Darstellung und Positionsbestimmung – nicht jedoch um die Begründung – eines soziosemiotischen Programms zur Erforschung von Zwangsanwendun-gen und der Entstehung und Deeskalation von Gewalt mit dem Ziel, die Anschluss-stellen und Desiderate der aufzubringenden Theoriearbeit zu kennzeichnen.

Einige konservative Schätzungen belegen die – nicht notwendig krankheits-bedingte – Zunahme von Zwangsmaßnahmen in den letzten 10 bis 15 Jahren. In schätzungsweise 10% aller Akut-Behandlungsfälle wird Zwang angewen-det. Weitere Outcome-Studien zeigen im Ergebnis, dass Zwangsausübung nicht allein eine Reaktion auf psychopathologische Verhaltensweisen von Pati-enten ist, sondern auch vom typischen Verlauf von Therapeut-Patienten-Inter-aktionen und von sehr verschiedenen Umweltfaktoren abhängt. Dazu zählen etwa soziale Atmosphären in kritischen und für ein psychiatrisches Milieu kenn-zeichnenden Situationen oder milieuübergreifenden bzw. milieutypischen Hand-lungsstrukturen. Es wird unterschieden nach psychopathologischen, interakti-onistischen oder strukturellen Ursachen von Gewalt und Zwangsanwendung.

Doch moralisierende Forderungen nach Abschaffung von Zwangsmaßnah-men, deren stillschweigende Hinnahme oder sogar mystifizierende Umdeutun-gen zu ‚notwendigen therapeutischen‘ Maßnahmen führen nicht weiter. Die vorhandenen qualitativen Studien arbeiten häufig mit sehr vagen Begriffen, sin-gulären Arbeitsmethoden und nicht übertragbaren Arbeitsergebnissen. Quan-titative, klinische und epidemiologische Studien fokussieren demgegenüber auf die Abschätzung von Risikofaktoren, auf Korrelationen zwischen psycho-pathologischen Variablen und Inzidenz-/Prävalenzraten oder auf psychophar-makologische Wirkungen auf aggressives Verhalten der Patienten.

Die Oberflächenbeschreibung der Phänomene von Gewalt und Zwang reicht nicht aus: Es fehlen systematische, institutionenübergreifende und verstehen-de Forschungsansätze, die die Phänomene in ihren sowohl diskursiven als auch strukturellen Aspekten ganz grundsätzlich untersuchen. Dazu aber wer-den arbeitsteilige und interdisziplinäre Studien innerhalb eines gemeinsamen Theorierahmens benötigt. Die Studien sollten hinsichtlich der Komplexität der zu behandelnden Sachfragen Kontinuität, Kritik und Vergleich von Forschungs-ergebnissen wenn nicht schon gewährleisten, so doch zumindest anstreben. In diesem Beitrag wird die Milieuforschung als angewandte Semiotik aufge-fasst, wobei die Semiotik auf ihre Eignung zur Erfüllung ihres eigenen interdis-ziplinären Selbstanspruchs zu befragen und eine Diskussion in diese Richtung zu intensivieren ist.

Die Zwangsanwendung als soziales Phänomen in einer psychiatrischen Ein-richtung führt zunächst zu folgender Beschreibung: Die Ausübung von Zwang ist ein gravierendes (weil Freiheit beraubendes), manipulatives (durch Körper-einsatz und nicht durch Kommunikation erzwungenes), interaktives (mindes-

25Zwangsanwendung in der Psychiatrie

tens zwei Personen involvierendes), multimodales (verbales und non-verba-les), situiertes (in bestimmten Räumen und Zeiten bestimmbares), absichts-volles (intentional und unter festgelegtem Mitteleinsatz geplantes), rechtlich unzureichend gedecktes (PsychKG1) Verhalten. Sie erfüllt einerseits nachvoll-ziehbare medizintherapeutische Zwecke, verletzt aber die Menschenrechte und die üblichen Geltungsansprüche an gewaltfreie Kommunikation. Mit die-sen Bestimmungsstücken ist die Anwendung von Zwang auch Thema einer all-gemeinen Theorie der Zeichenprozesse (siehe Debus und Posner 2011 in die-sem Heft)

Aus eigenen Studien an der Medizinischen Hochschule Hannover, bei denen über einen Zeitraum von einem Jahr hinweg auf vier psychiatrischen Akutsta-tionen 120 Fixierungen an 52 Patienten beobachtet wurden, ist bekannt (Bas-tiaan, Debus und Haltenhof 1998), dass die Ausübung von Zwang primär am ersten Tag der Aufnahme und hier in der ersten Nachthälfte (18:00 bis 24:00 Uhr) stattfindet. Die Anlässe für die Fixierungen sind in einem Fixierungsfra-gebogen dokumentiert und mit abnehmender Relevanz in der Tabelle 1 zusam-mengestellt. Es fallen zwei sehr unterschiedliche Anlasstypen auf: 1. Thera-peutisches Handeln als Einsatz bei und Schutz vor Selbstgefährdung der Pati-enten, 2. Schutz- und Organisationshandeln der Therapeuten zur Aufrechter-haltung der Stationsorganisation und 3. Anlässe, die sowohl dem einen als auch dem anderen Typ zugeordnet werden können.

Tab. 1: Anlässe für Zwangsmaßnahmen auf vier akutpsychiatrischen Stationen in einem Beobachtungszeitraum von einem Jahr (n=200 Beobachtungsfälle)

Die Liste der Anlässe beantwortet nicht die Frage, wie es zu diesen Anlässen kommt. Beim zweiten Anlasstyp wissen wir nicht, welche Art von Stationsor-

Gefährlichkeit von Situationen

Anlässe von Fixierungen (n=200) mit abnehmender Relevanz) psychomotorische Unruhe (1) Angriff auf Personal (2) verbale Aggression (2) Erregung bei Manie und Alkoholentzug (1,2) Selbstverletzung (1) Androhung von Tätlichkeiten (2) Desorientiertheit (1) Verweigerung der Medikamenteneinnahme (1,2) Zerstörung von Gegenständen (2) Wahnideen (1,2) Fluchtgefahr (1,2) Suizidgefahr (1) Zündeln (2) Aufstehen während Infusion (1) (1)=Therapeutisches Handeln bei Selbstgefährdung (2)=Schutz-, Organisationshandeln bei Fremdgefährdung

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ganisation überhaupt aufrecht erhalten werden muss. Beim „Zündeln“ etwa geht es meist relativ eindeutig um Gefahrenabwehr für Stationsmitglieder (Pati-enten, Therapeuten) und um den Erhalt der baulichen Substanz der Station. Aber schon bei der Deutung von Handlungen wie Zündeln und dem Verständ-nis der Symbolik des Feuers versagt ein solcher Ansatz. Bei „Fluchtgefahr“ ste-hen die Therapeuten nach erfolgter Flucht hinsichtlich der Verletzung ihrer Auf-sichtspflicht in der Verantwortung. Doch ist das alles? Welche Dimension der Stationsorganisation (vgl. Floeth, Hage und Pfefferer-Wolf 1997) wird hier auf-rechterhalten? Beim „Angriff auf das Personal“ geht es sowohl um Schutz vor Gefährdung der Therapeuten als auch um Schutz vor Selbstgefährdung des Patienten. Welches Verhalten aber fällt unter „verbale Aggression“ und welche Stationsorganisation muss durch Fixierung aufrechterhalten werden, wenn Patienten laut werden? Geht es hier um medizinisch-therapeutische Interven-tionen oder um die Ausbalancierung einer gereizten Stationsatmosphäre durch Zwangsausübung als letztes Mittel oder um erzieherische oder strafende Ver-suche, den Patienten zum Schweigen zu bringen? Die Analyse von Filmdoku-menten verdeutlicht die Probleme (vgl. die Filmdokumente Alltag in der Psy-chiatrie von Ilan Klipper auf Youtube.com). Was also geschieht wirklich in einem psychiatrischen Milieu? Das ist die zentrale, von Erving Goffman (1973) moti-vierte, sozialwissenschaftliche Frage.

2. Grundbegriffe einer semiotisch fundierten Milieuforschung

Was in einem Milieu ‚wirklich‘ geschieht, ist eine besonders von der interpre-tativen Soziologie beeinflusste Frage nach den Vorgängen einer sinnhaft-kul-turellen Welt, die sich grundsätzlich von den naturwissenschaftlichen Analy-sen der nicht-sinnhaften Natur unterscheidet. Die Charakterisierung von s o z i -a l e n M i l i e u s und den zugeordneten Forschungsgegenständen stützt sich auf folgende Begriffe: Sozialität, Überzeugung, Sässigkeit, Regel, Semiose, Situation, soziale Atmosphäre, Handlungsspielraum und Handlungsstruktur.

2.1 Sozialität

Die Differenzierung sozialer Kollektive in mikrosoziale, makrosoziale und gesell-schaftliche Sozialitäten spielt für die Milieuforschung eine wichtige Rolle.

2.1.1 Eine mikrosoziale Sozialität besteht prototypisch aus einer Gruppe von mindestens 2 bis etwa 30-40 Zeichenbenutzern, die sich alle persönlich und gegenseitig kennen und untereinander direkte, auch emotionale Face-to-face-Kommunikationsbeziehungen unterhalten. Das Milieu einer psychiatrischen Akut-station mit circa 15-20 Patienten und 10-15 Therapeuten ist in diesem Sinne eine mikrosoziale Sozialität mit Mitgliedern, die in direkter und indirekter Interaktion die therapeutische Hilfe und administrative Kontrolle im Stationsalltag organisie-ren und gestalten. Familien, Klöster, Kegelvereine, Betriebsabteilungen, Restau-rants und Krankenhausteams sind Beispiele für mikrosoziale Sozialitäten.

27Zwangsanwendung in der Psychiatrie

2.1.2 Ein makrosoziale Sozialität besteht aus einer großen Gruppe von übli-cherweise etwa 200 bis 2000 individuellen Zeichenbenutzern, die sich nicht alle gegenseitig persönlich kennen können, da dies die Handlungs- und Wahr-nehmungskapazität der Personen überfordern würde. Sie sind aber räumlich und zeitlich zum Beispiel in einem Stadtteil oder einer dörflichen Gemeinde oder durch Nutzung derselben Institutionen und Einrichtungen miteinander ver-bunden. Prototypisch für makrosoziale Milieus sind das Berliner Zille-Milieu der 1920iger Jahre, große Betriebe und Organisationen, Stadtteile und Kirchen-gemeinden oder die Elternschaft einer staatlichen Schule.

2.1.3 Eine gesellschaftliche Sozialität besteht aus institutionellen Zeichen-benutzern, deren individuelle und räumlich getrennte Mitglieder durch gemein-same und ähnliche Wertorientierungen, soziale Lage, Lebensziele, Arbeitsein-stellungen, Freizeitmotive, unterschiedliche Aspekte der Lebensweise, all-tagsästhetische Neigungen und Konsumorientierungen verbunden sind. Gemäß dem von Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede (Schwingel 1998) verwen-dete Milieubegriff, der zur Etablierung einer neuen empirischen Lebensstilfor-schung führte, die den politischen Begriff der „gesellschaftlichen Klasse“ wei-ter ausdifferenzierte, gliederte sich die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1980iger Jahre wie folgt: konservativ gehobenes Milieu, kleinbürgerliches Milieu, traditionelles Arbeitermilieu, traditionsloses Arbeitermilieu, aufstiegsori-entiertes Milieu, technokratisch-liberales Milieu, hedonistisches Milieu und alter-natives Milieu.

2.2 Überzeugung

2.2.1 Überzeugung als Grundbegriff ist ein Glaubensinhalt (Proposition p), der von irgendjemandem, x, geglaubt wird. Propositionen werden durch Sätze aus-gedrückt. In Abgrenzung zur persönlichen Überzeugung wird hier das persön-liche Wissen W näherungsweise als eine Überzeugung G definiert, deren Pro-position p wahr ist.2

2.2.2 Gemeinsame Überzeugungen bestehen, wenn alle Mitglieder x einer Gruppe GR von einer bestimmten Menge an Propositionen {p} überzeugt sind. Diese Eigenschaft gilt sowohl für mikrosoziale als auch für makrosoziale und gesellschaftliche Milieus.

2.2.3 Gemeinsam geteilte Überzeugungen bestehen jedoch nur, wenn alle Mitglieder einer Gruppe von einer bestimmten Menge an Propositionen {p} überzeugt sind und wenn jedes Mitglied x von jedem anderen Mitglied y über-zeugt ist, dass y die Überzeugung p hat, und wenn jedes Mitglied x von jedem anderen Mitglied y überzeugt ist, dass y glaubt, dass x die Überzeugung p hat. Dieses Merkmal trifft prototypisch nur auf mikrosoziale Sozialitäten zu, nicht jedoch auf makroskopische oder gesellschaftliche Sozialitäten. Aus theoreti-schen Gründen ließe sich eine ganze Kaskade weiterer eingebetteter Stufen von Glaubensinhalten denken, aber aus alltagsbezogenen Überlegungen und forschungspraktischen Gründen kann die Kaskade in den meisten Fällen auf der 3. Stufe abgebrochen werden.

Stephan Debus 28

2.3 Sässigkeit

Sässigkeit ist eine Eigenschaft von alltäglichen Routinehandlungen der Mit-glieder einer Gruppe. Diese Mitglieder einer mikrosozialen Sozialität verhalten sich sässig, wenn sich ihre alltäglichen Handlungen und Wahrnehmungspro-zesse kleinräumig und zeitlich in bestimmten Phasen wiederholen. Sässigkeit ist eine Grundvoraussetzung für die Ausbildung von stabilen alltäglichen Nähe- und Distanzbeziehungen sowie regulativen Regeln, die diese Beziehungen implizit organisieren. Sässigkeit setzt nicht Ortsgebundenheit voraus (denn auch in einem Wanderzirkus oder in einem Flugzeug können sich spezifische Milieus ausbilden), sondern nur den umgebenden Raum, in dem sich die rou-tinierten Alltagshandlungen wiederholen. Vor dem Hintergrund der alltäglichen Sässigkeit heben sich die kreativen und improvisierenden Handlungen von den Routinen und Idealtypen ab.

2.4 Regeln

Die alltäglichen Praktiken aller Akteure werden einerseits durch individuelle Bedürfnisse und Erwartungen ausgelöst. Andererseits werden diese Praktiken durch eine große Anzahl von Regeln eines sozialen Systems (Krankenhaus, Gesundheitssystem) reguliert, die aber zugleich das Milieu stabilisieren und reproduzieren. Regeln sind somit Grundlage wie auch Ergebnis sozialer Prak-tiken (siehe unten). Wenn auch die Menge an gültigen Regeln (therapeutische, pflegerische, alltägliche, juristische usw. Werte und Normen) als immens groß erscheint, so ist doch in den konkreten Praktiken, etwa in routiniert durchge-führten Zwangsbehandlungen, nur eine geringe und überschaubare Anzahl von Regeln wirksam.

Nach der „Theorie der Strukturierung“ von Anthony Giddens, dem wir aus the-oretischen wie methodischen Gründen hier folgen, gehören soziale Regeln zum impliziten und expliziten gemeinsam geteilten Überzeugungs- und Wissensbe-stand eines Milieus. Regeln sind eine strukturelle „Ressource“ zur Koordination von Handlungen (vgl. Giddens 1999, Giddens 1997 sowie Reckwitz 2003). Gid-dens unterscheidet mit Bezug auf John Searle (Searle 1997) zwischen regulati-ven und konstitutiven Regeln3, ohne deren dichotomen Charakter von ihm zu übernehmen. Für Giddens sind die Eigenschaften der Regulativität bzw. Konsti-tutivität nur jeweils graduelle Aspekte von Regeln überhaupt (Giddens 1997: 71).

2.4.1 Regulative Regeln sind Durchführungsregeln für individuelle oder kol-lektive Handlungsprozesse. Sie haben die Form: wenn x, tue y. Regulative Regeln legen zum Beispiel das professionelle Niveau eines psychiatrischen Teams fest, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als „state of the art“ gilt. Regu-lative Regeln gehören zur professionellen Identität eines Teams. Sie werden über mündliche Weitergabe oder durch eine institutionalisierte Ausbildung tra-diert.

2.4.2 Konstitutive Regeln bringen bestimmte Ereignisse durch deklarative Akte oder Bedeutungsdefinitionen ins Spiel. So gilt eine Vereinssitzung oder

29Zwangsanwendung in der Psychiatrie

eine Therapiebesprechung nur dann als eröffnet, wenn ein berechtigter Akteur, zum Beispiel ein Präsident oder ein Arzt, nach einer konstitutiven beziehungs-weise satzungs- oder verfassungsgemäßen Verfahrensvorschrift die Eröff-nungshandlung vollzieht. Konstitutive Regeln haben die Form: x gilt im Kontext c als y. Wer eine regulative Regel bricht, handelt falsch; wer eine konstitutive Regel bricht, handelt absurd. Das heißt, in gewissem Sinne handelt er nicht beziehungsweise nicht rational. Patienten psychiatrischer Einrichtungen wird gerade diese Art einer Irrationalität durch Bruch konstitutiver Regeln unterstellt. Interessanterweise entwickeln einige psychiatrische Patienten4 Fähigkeiten, die konstitutiven Regeln eines therapeutischen Teams herauszufinden und mit diesem Wissen Teams zu spalten. Sehr erfahrene Teams nutzen diese Fähig-keiten für ihre eigene patientengeleitete Supervision. Nicht nur explizit formu-lierte Verträge gehören zu den konstitutiven Regeln eines Milieus, sondern auch die Einteilungen von Menschen in bestimmte Patientengruppen (dia-gnostische Gruppen, zum Beispiel „schizophrene“ oder „depressive“ Patien-ten; milieuspezifische Gruppen zum Beispiel „reguläre Patienten“ oder „Grau-zonen-Patienten“) beruhen auf konstitutiven Regeln.

2.5 Semiosen: wahrnehmen und handeln

Wir beziehen uns hier auf Begriffe wie Handlung, Zeichenhandlung oder Semi-ose, die an anderer Stelle in einer formalen Typologie ausgearbeitet wurden (Posner 1994). Semiosen sind Prozesse, Prozesse sind korrelierte Ereignis-verläufe, und diese wiederum sind Kookkurrenzen von mindestens zwei Ereig-nissen. Ereignis ist ein Grundbegriff in dem Baumdiagramm (Abbildung 1), das die implikativen Relationen zwischen den Begriffen repräsentiert. Kausale Pro-zesse sind danach über Ursache und Wirkung korrelierte Verläufe von mindes-tens zwei Ereignissen. Unter Semiosen werden Kausalprozesse verstanden, an denen mindestens ein Empfänger aktiv beteiligt ist. Kausalprozesse ohne Interpretanten, aber mit einem Akteur, werden als „gegenstandsbezogene Handlungen“ oder „einfache Handlungen“ bezeichnet. Alle Handlungen sind individuelle intentionale Verhaltensakte von Akteuren zur Erreichung geplan-ter individueller Handlungsziele. Zeichenhandlungen sind Senderzeichenpro-zesse eines Zeichensenders, der beabsichtigt, einen Interpretanten, das heißt eine Verhaltensänderung (beim Signalisieren) oder eine Überzeugung (beim Anzeigen), zu bewirken. Empfängerzeichenprozesse sind Wahrnehmungspro-zesse, in denen Ereignisse einen Interpretanten, das heißt, eine Verhaltens-änderung (Signalprozesse) oder eine Überzeugung (Anzeichenprozesse) bewir-ken. Semiosen sind Senderzeichenprozesse oder Empfängerzeichenprozes-se oder deren komplexe Verknüpfung in Interaktionen und Kommunikationen (vgl. Arielli 2005).

Stephan Debus 30

Abb. 1: Die logische Struktur der verwendeten Ereignisbegriffe als Baumdiagramm.

Wie Giddens die Praxisforschung innerhalb einer Theorie der Dualität von Indi-viduum und Struktur positioniert, ist für unseren Ansatz richtungsweisend. Doch während sich Giddens auf die Dualität von individuellen Handlungsprozessen und institutionellen Handlungsstrukturen konzentriert, erfordert das Verständ-nis sozialer Milieus die Erweiterung seines Ansatzes auf die Dualität von indi-viduellen Wahrnehmungsprozessen und institutionellen Aufmerksamkeits- und Orientierungsstrukturen. Mit diesem Vorbehalt werden wir das Forschungspro-gramm begrifflich zunächst an Giddens, das heißt an seiner Handlungstheo-rie, orientieren und Wahrnehmungsprozesse, insbesondere die Wahrnehmung von sozialen Atmosphären, im Laufe der Darstellung einbeziehen.

2.6 Situationen

Situationen sind kleine raumzeitliche Ausschnitte aus der Welt, die wir wahr-nehmen und in die wir eingreifen können. Situationen sind weder wahr noch falsch, sondern sie sind, was sie sind, das heißt, sie existieren. Situationen ent-halten Informationen und sie machen insbesondere Wahrnehmungsberichte wahr, das heißt, sie sind ‚Wahrmacher‘, nicht ‚Wahrheitsträger‘. Situationen unterstützen die Wahrheit der Informationen, die wir aufgrund unserer Wahr-nehmung von ihnen gewinnen.

Ereignisse

Ereignis-Kookkurenzen

nicht-korrelierte Ereignisse Zufälle

korrelierte Ereignisse Verläufe

Kausal-Prozesse andere korrelierte Ereignisse

Kausal-Prozesse ohne Akteure

Kausal-Prozesse mit Akteuren

mit Interpreten (Semiosen) ohne Interpreten

mit Sender (Akteur) Senderzeichenprozesse

Zeichenhandlungen

ohne Sender Empfängerzeichenprozesse Reaktive Zeichenprozesse

mit „Sender“/ Akteur gegenstandsbezogene

Handlungen

31Zwangsanwendung in der Psychiatrie

s |– <R, a1,…an; i> (lies: die Situation s unterstützt die Information <….>) Dabei bezeichnet „|–“ die Unterstützungsrelation, „<...>“ bezeichnet eine

Informationseinheit, ein so genanntes Infon, „R“ bezeichnet eine Relation, in der die vorkommenden Individuen und Objekte „a1,…an“ einer Situation ste-hen, und „i“ bezeichnet einen beliebigen Wert aus der Menge {0,1}, der sich auf Zutreffen beziehungsweise Nicht-Zutreffen der Relation bezieht. Situatio-nen können in Ereignisse und Prozesse beziehungsweise Ereignis- und Pro-zesstypen analysiert werden. Normalsprachlich nehmen wir auf Situationen zum Beispiel mit deiktischen Ausdrücken wie „hier“, „dort“ oder durch anapho-risch verwendete Pronomen wie „es“ in Infinitiv-Konstruktionen Bezug. Man denke etwa an den Satz „Anna hörte Bernd schreien und Astrid hörte e s auch“. Wahrnehmungsberichte über Situationen sind extensional. Das heißt, der Wahr-heitswert eines Satzes ändert sich nicht, wenn der Name für ein bezeichnetes Individuum (z.B. Bernd) durch eine Kennzeichnung (zum Beispiel der Patient auf Station 17) substituiert wird, die dasselbe Objekt bezeichnet. Dagegen sind Berichte in propositionalen Einstellungskontexten nicht-extensional (intensio-nal).5 Szenen sind aus einer individuellen Perspektive wahrgenommene Situ-ationen, wie sie etwa in Filmdokumenten oder in Wahrnehmungsberichten beschrieben werden. Szenen setzen die wahrnehmende Anwesenheit von Per-sonen voraus. Nach Goffman (Goffman 1971) setzen soziale Situationen gemein-same gegenseitige Wahrnehmung (sehen, hören, riechen, fühlen, spüren usw.) voraus und sie enden, wenn die vorletzte Person die Situation verlässt. Litera-tur zur formalen Situationstheorie und zur Situationssemantik in: Barwise und Perry (1983), Barwise und Perry (1987), Barwise (1989: 5-33), Robering in Posner, Robering und Sebeok (1997: 197-209).

2.7 Atmosphären

Unter einer Atmosphäre verstehen wir bestimmte dispositionale Eigenschaften von Szenen, nämlich die Anzeichen-Eignung einer Szene, genauer: die Eig-nung der Szene, jeden, der eine bestimme Bedingung erfüllt, davon zu über-zeugen, dass sie, die Szene, geeignet ist, bestimmte Stimmungen zu bewirken oder zu beeinflussen. Wenn ich beispielsweise behaupte, ein Raum habe eine gereizte oder aufgeheizte Atmosphäre, dann meine ich, dass die wahrgenom-mene Situation in diesem Raum die Eignung hat, in mir die Überzeugung zu erwecken, dass sie geeignet ist, alle anderen Wahrnehmenden aufzuregen bzw. in hitzige Zustände zu versetzen. Es geht bei Dispositionen D immer nur um mögliche (nicht um vollzogene) Reaktionen R, die eben nur unter bestimmten Bedingungen B eintreten können.6 Das zeigt sich etwa in der Tatsache, dass ich, als Wahrnehmender, nicht zwangsläufig die Stimmung erleben muss, von der ich glaube, dass die Situation sie in anderen Wahrnehmenden bewirken kann. Ich kann zum Beispiel von der heiteren Atmosphäre einer Partygesell-schaft auch angewidert sein. Für Semiosen sind Atmosphären insofern inter-essant, als Zeichen nur dann eine bestimmte Wirkung entfalten, wenn sie in einer bestimmten Atmosphäre stattfinden (zum Beispiel ein ‚guter Rat‘ ist nur

Stephan Debus 32

in einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre hilfreich). Allerdings eignen sich Atmosphären kaum für Kodierungen, denn mit Atmosphären lässt sich nicht wie mit Worten oder Gesten kommunizieren (Debus 2008a). Man lässt sie ein-fach wirken. Das trägt zu ihrer Effizienz aber auch zu ihrer Gefährlichkeit bei.

Praktisch relevant ist die Typisierung von Atmosphären. Wir gehen davon aus, dass sich in einem Milieu für jeden Atmosphärencharakter spezifische Bedingungen seines Bestehens und seiner Herstellung ermitteln lassen. Dabei übernehmen wir den Ausdruck „Atmosphärenarbeiter“ (Böhme 1995, Böhme 2007), um Berufsgruppen, wie etwa ärztliche, psychologische oder pflegeri-sche Therapeuten, die derartiges Wissen nutzen, zu bezeichnen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über verschiedene, von uns vorläufig vorgeschlagene Typen, Träger und Charaktere von Atmosphären (Debus 2009).

Tab. 2: Atmosphärentypen, Atmosphärenträger, Atmosphärenbezeichnungen und Cha-rakterisierung von Atmosphären mit Hilfe von Dispositionsprädikaten

2.8 Handlungs- und Wahrnehmungsspielraum

Die Menge der Handlungsoptionen und deren Alternativen charakterisieren den Handlungsspielraum eines Milieus. Handlungsoptionen und Handlungsal-ternativen sind hier keine Ereignisse sondern Ereignistypen, auf die wir uns mit unserem Situationswissen beziehen. Therapeuten mit einem großen Erfah-rungsschatz, das heißt mit dem Wissen darüber, was in Situationen möglich ist und was nicht, verfügen über einen größeren Handlungsspielraum als ‚Neu-

Atmo-Typen

Objekte Träger

Atmo- Bezeichnungen

Atmo- Charakter

Gesellsch. Strukturen Institutionen

Verträge Rituale

Soziokulturelle A

.

Klima „Geist von Verträgen“

(Politik-) Verdrossenheit, nationaler Taumel, „Atmosphäre der Macht“, achtungsgebietend, virtuell vs. real

Situative Situationen Szenen

Intersubjektive

Atmos (i.e.S.)

Heiter, bedrückend, schrecklich, erhaben, einladend, idyllisch, grauenvoll,

Inter- personale

Stimmungen, Beziehungen

Fluidum Schwingung

Offen, zugeknöpft, „flüssig“, „stockend“, ernst, erotisiert

personale Personen Charakter

subjektiv

Ausstrahlung Charisma

zauberhaft, müde, heiter, powervoll, ätherisch, angenehm

(Sozial-) Räumliche

Umwelt Umgebung Gebäude Räume

Sinnliche A

tmos.

Ökologische A

.

Flair kalt, warm, unheimlich, heiter, gruselig, tot, morbid (z.B. Havanna) „Ein gruseliger Raum“ „Es gruselt mich“

dingliche Anordnung

Ausstattung Mobiliar

Ambiente gemütlich, luxuriös, spießig, elegant, prachtvoll, rustikal, kuschelig

dingliche Gegenstände Material

Anmutung Glanz, Coolness: z.B. in der Werbung durch Verpackung (s.Schein) erzeugt

ästhetische Bild, Musik, Film, Bühne

Aura „Sound“, Air

Groove, Aura der Distanz, Das Schöne, das Erhabene

d

33Zwangsanwendung in der Psychiatrie

linge‘, die nur über ihr ‚Lehrbuchwissen‘ verfügen. Der Handlungsspielraum wird durch Regeln eröffnet und gleichzeitig begrenzt. Vergleichbar mit dem Handlungsspielraum ist der Wahrnehmungsspielraum. Er ist gekennzeichnet durch die Variabilität (Optionen und Grenzen) von Deutungen in Anzeichen-prozessen; man denke hier etwa an die für Außenstehende verwirrende Viel-falt verschiedener Signal- und Anzeichenprozesse, denen ein Chirurg während der Operation ausgesetzt ist (siehe hierzu die Arbeit von Serenari in diesem Heft). Die Möglichkeiten und Grenzen der (Handlungs- und Wahrnehmungs-) Spielräume werden durch empraktisch und transsituativ geltende Regeln abge-steckt, deren Kenntnis zum impliziten und expliziten Wissensbestand der Mili-euteilnehmer gehört.

2.9 Handlungs- und Wahrnehmungsstruktur

Eine Handlungsstruktur ist ein meist weder widerspruchs- noch konfliktfreies System von Regeln, das aufgrund seiner Inkohärenz permanenten Verände-rungen unterworfen ist. In seiner Theorie der Strukturation (Giddens 1997: 51-88, Übersicht Kapitel 1) beschreibt Anthony Giddens, dass Regeln sowohl Grundlage als auch Ergebnis von Handlungen sind. Giddens kritisiert das am naturwissenschaftlichen Modell orientierte Verständnis von Regeln als sinn-freie Regelmäßigkeiten oder als bloße Sollens-Erwartungen, die von einem unbestimmten Raum aus, außerhalb der Sozialität, auf die Akteure einen Zwang ausüben. Die Strukturationstheorie liefert einen anderen Ansatz zur Erklärung des Zusammenhangs von individuellen Handlungen und Kollektivstrukturen eines sozialen Systems. Mit seinem Ansatz wendet sich Giddens gegen die Vereinseitigung strukturalistisch-funktionalistischer Sozialtheorien, die soziale Phänomene allein aus ihren überindividuellen Konsequenzen für das soziale System (etwa dessen Stabilitätsbestreben) erklären wollen und dabei die frei-en und kreativen Entscheidungen des Individuums überdeterminieren. Seine Kritik richtet sich aber auch gegen individualistische bzw. sozialkonstruktivisti-sche Ansätze der interpretativen Soziologie (Mead, Goffman, Garfinkel), die das soziale Geschehen in bloße individuelle Aktivitäten auflösen, ohne die nor-mativen und zwingenden Kräfte von Strukturen erklären zu können. Für seine Kritik entwickelte Giddens den Begriff der „Dualität der Struktur“: Regeln bie-ten einerseits transsituative Lösungsmuster in individuellen Handlungssituati-onen an, gleichzeitig aber wird durch die Anwendung einer Regel das soziale System und dessen Ordnung stabilisiert. Man denke hier an Aufnahme- und Entlassungsregeln, an Nähe- und Distanzregeln oder auch an diagnostische Regeln einer stationären Einrichtung. Die Strukturen sind wie die Syntax einer Sprache im Handeln der Akteure empraktisch impliziert. Giddens gibt ein Bei-spiel (Giddens 1997: 76): Durch das Erlernen der syntaktischen Regeln einer Fremdsprache erfüllen wir als individuell Sprechende das beabsichtigte Ziel, korrekt zu reden und verständlich zu sein. Gleichzeitig tragen wir durch die Anwendung der syntaktischen Regeln zur Verbreitung und zur Dauerhaftigkeit des sprachlichen Systems bei. Die Gesamtheit aller syntaktischen Regeln ist

Stephan Debus 34

daher eine duale Ressource, und zwar einerseits als „tool-kit“ zur Lösung sprachlicher Verständigungsprobleme und andererseits als eine Ressource zur Reproduktion des sprachlichen Systems insgesamt. Aus unserer Sicht lässt sich das Prinzip der „Dualität der Struktur“ nicht nur auf individuelle Akteure und die Handlungsregeln anwenden, sondern auf individuell Wahrnehmende und die entsprechenden Wahrnehmungsstrukturen erweitern. Beispielsweise können wir die individuellen Wahrnehmungen eines Chirurgen in einem Ope-rationssaal ohne das institutionell geregelte Aufmerksamkeitsmanagement nicht verstehen. Die entsprechenden Orientierungsstrukturen lenken einerseits die Wahrnehmung, andererseits werden sie durch die Wahrnehmungsprozes-se reproduziert. In diesem Sinne wird in unserem Ansatz unter einer Milieu-struktur immer sowohl die Handlungs- als auch die Wahrnehmungsstruktur ver-standen.

3. Arbeitsdefinition: psychiatrisches Milieu

Mit den obigen Grundbegriffen geben wir folgende Arbeitsdefinition eines psy-chiatrisches Milieus: Ein psychiatrisches Milieu als Gegenstand der Milieufor-schung ist eine mikrosoziale, vorwiegend binäre Therapeuten-Patienten-Grup-pe, mit professionell tradierbaren regulativen und konstitutiven Regeln und gemeinsam geteilten Überzeugungen, die das therapeutische Team als eine spezielle und über lange Zeiträume sässige Untergruppe des Milieus charak-terisieren, und einer Patientengruppe, die durch Regeln ausgezeichnet ist, wel-che vorwiegend der Alltagsbewältigung dienen. Die Wahrnehmungs- und Hand-lungsstruktur als eine für bestimmte Zeiträume gültige und stabile rekonstru-ierbare Gesamtheit der gruppenspezifischen Regeln ist, im Sinne der Struktu-rationstheorie, eine Ressource zur Lösung der gruppenspezifischen Koordina-tions- und Kooperationsprobleme und zur Reproduktion der Gruppenstabilität. Sie eröffnet und begrenzt den Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum der Akteure, das heißt den vorwiegend medizinisch-therapeutischen Spielraum der Therapeuten und den vorwiegend alltagspraktischen Spielraum der Patienten.

4. Beispiel einer milieutypischen Situation mit Zwangsanwendung

Am Beispiel einer milieutypischen Androhung von Zwangsanwendung sollen hier einige Forschungsfragen zur Entstehung und Prävention von Gewalt kon-kretisiert werden. Die Forschungsfragen richten sich auf atmosphärisch hoch ‚aufgeladene‘ Situationen, in denen die Handlungsspielräume der Akteure in Regelkonflikte geraten. Typischerweise geht es um unterschiedliche Situati-onsdeutungen in erregten Situationen. Es ist zu untersuchen, wie individuelle Handlungsabläufe, situative Atmosphären und Handlungsstrukturen ineinan-der wirken, um zu erklären, wie es zur Anwendung von Zwang kommt.

Die folgenden vier Abbildungen (2a-2d) charakterisieren eine unfreiwillige Aufnahmesituation auf einer psychiatrischen Akutstation eines hoch erregten

35Zwangsanwendung in der Psychiatrie

Patienten, der seine Aufnahme massiv verweigert und Drohungen äußert. Die Abbildungen illustrieren schematisch die unterschiedlichen Situationsdeutun-gen des Patienten und des psychiatrischen Teams. Sobald sich ein Patient in einer Aufnahmesituation nicht beruhigt und für das Team verschiedene objek-tive (Angriff) oder intersubjektiv geteilte (gemeinsam unterstellte Labilität des Patienten) oder auch subjektive (Furcht) Gefährdungskriterien erfüllt, ruft ein Therapeut über die Notfallalarmanlage alle verfügbaren Therapeuten aller ande-ren Stationen in der Gefährdungssituation zusammen. Es entsteht eine Situa-tion wie in Abbildung 2a.

Abb. 2a -2d: Unterschiedliche Interpretationen einer Szene, die erfahrungsgemäß kurz vor der physischen Anwendung von Zwang (Überwältigung und Fixierung) steht.

Die Situation besteht aus einer Szene „Einer und Alle“. Die per Alarm zusammen gerufene Therapeutengruppe hat im Sinne ihres eigenen professionellen Selbst-verständnisses eine Situationsdeutung „Alle für Einen“ (Abb. 2b), indem sie sich als Schutzschild deutet, der den Patienten vor sich selbst und für alle anderen schützt, etwa dadurch, dass sie einen Durchbruch oder körperliche Aggressio-

Szene: „Einer und Alle“

Notfall-Situation auf einer psychiatrischen Akutstation

Szene: „Alle gegen mich“

Interpretation der Szene: „Alle sind gegen mich – Gegenwehr“

Szene: „Zwei und Alle“

Szenenveränderung: „und einer an seiner/meiner Seite“

?

Szene: „Alle für Einen“

Interpretation der Szene: „Schutzschild“ – „Durchbruch verhindern“

2a

2d2c

2b

Stephan Debus 36

nen verhindern will. Aus Sicht des Patienten liegt eine Deutung „Alle gegen mich“ vor (Abb. 2c), die im Patienten alle Kräfte der Gegenwehr mobilisiert.

Ohne Schwierigkeiten lässt sich hier ein Handlungsablauf erkennen, der allzu leicht in Wehr und Gegenwehr eskaliert, bis eine Zwangsfixierung aus Sicht des therapeutischen Teams unumgänglich ist.7 Die dabei ablaufenden Handlungen und die sie organisierenden regulativen Regeln sind in vielfachen Übungssitu-ationen simuliert und einstudiert worden. Konstitutive Regeln legen fest, wer, wann, was entscheidet, oder ob überhaupt und wie fixiert wird. Die jeweiligen Regeln sind in Dokumentationshandbüchern nachzulesen. Um nun einen Schritt weiter zu gehen, wurden im Rahmen der Reformbemühungen für psychiatri-sche Akutstationen (Stichwort „Soteria“, vgl. Ciompi, Hoffmann und Broccard 2001, Kroll, Machleidt, Debus und Stigler 2001, Hoffmann 2007, Könemann 2007, Debus, Horn und Machleidt 2001) übertragbare Vorschläge entwickelt, wie solche Szenen ‚entschärft‘ werden könnten (Abb. 2d). Zum Beispiel durch die Bereitstellung eines so genannten „Hilfs-Ich-Therapeuten“, der in vorheri-ger Absprache mit dem therapeutischen Team auf nachdrückliche und empa-thische Weise den Zustand, die angenommenen Wünsche und die Situations-deutung des Patienten artikuliert und gleichzeitig durch die Lücke im ‚Schutz-schild‘ eine gewisse Kompromissbereitschaft des übrigen Teams andeutet. Es wurde berichtet, dass sich die Patienten in solchen Szenen sehr viel schneller beruhigten und dass es dem Hilfs-Ich-Therapeuten durch schrittweisen Aufbau kleiner ‚Bündnisse‘ mit dem Patienten gelang, derartige typische Situationen zu beruhigen, ohne in unumkehrbare Eskalationsabläufe zu geraten. Doch was geschieht in solchen Situationen wirklich? Wie deuten die Akteure die Situati-on tatsächlich? Was tragen das Milieu und der Aufbau solcher Szenen zu den Abläufen bei? Welche Bündnisse erweisen sich als wirksam, welche nicht? Und im Sinne einer Präventionsstrategie müsste zunächst mit Hilfe von Simulatio-nen ergründet werden, wie derartige Situationen auf noch ganz andere und kre-ative Weise verändert werden können. Welches Potential haben solche Verän-derungen und wie verändern sie die Handlungsspielräume? Auf diese Fragen gibt es momentan keine wissenschaftlich gesicherten Antworten. Es gibt schlicht keine Forschungsansätze und Forschungsprojekte, die die Abläufe in solchen und ähnlich kritischen Situationen untersuchen.

5. Methodologische Grundbegriffe

Der Einsatz sozial-empirischer Methoden zur Beantwortung der Fragen in unse-rem Milieuforschungsansatz baut auf folgenden Begriffen auf: Doppelte Her-meneutik, Empraxis, Rekonstruktion, Simulation und Diagrammatik.

5.1 Doppelte Hermeneutik

Grundsätzlich lassen sich Alltagsphänomene wissenschaftlich erklären und verstehen: etwa psychoanalytisch, verhaltenstheoretisch, spieltheoretisch, sym-

37Zwangsanwendung in der Psychiatrie

bol-interaktionisch, ethnomethodologisch, konversationsanalytisch, sozialphä-nomenologisch, systemisch, funktionalistisch oder strukturalistisch. Von Prak-tikern wird häufig kritisiert, dass Wissenschaftler nur ihre eigenen Theorien bestätigen wollen. Wie aber erklären und verstehen die Akteure sich im Alltag selbst? Diese Frage führt im Rahmen der Giddens’schen Strukturationstheo-rie im Anschluss an den sozialtheoretischen Begriff der „Dualität der Struktur“ auf den methodologischen Begriff der „Doppelten Hermeneutik“. Dieser Ansatz kontrastiert mit dem Begriff der „einfachen Hermeneutik“ sozial-empiristischer Methoden, die sich am nomologischen Erklärungsmodell der naturwissen-schaftlichen Forschung orientieren und die die Akteure eines Milieus als Objek-te der Forschung zu bloßen Merkmalsträgern degradieren. Giddens zufolge ist die naturwissenschaftliche Theoriebildung selbst eine sinnzuschreibende her-meneutische Aktivität für Phänomene, die sich selbst nicht sinnhaft konstruie-ren. Die Sozialwissenschaften müssen aber Interpretationen von Interpretati-onen liefern, das heißt von Phänomenen, die schon, ohne Zutun von Sozial-wissenschaftlern, interpretiert sind. In Anlehnung an Wittgenstein gibt es Spie-len nur durch Spieler, Spiele nur durch Spielregeln, spezifische Szenen nur durch Inszenierungen (das heißt dramaturgische Handlungsregeln), routiniert-koordinierte Situationsdeutungen nur durch entsprechende Deutungsregeln und so fort. Daher können sich Sozialwissenschaftler nicht ausschließlich nur auf die Beschreibung und statistische Analyse von beobachtbaren Verhaltens-weisen beschränken. Um zu verstehen, was geschieht, müssen sie zusätzlich die gegenseitig geteilten Common-sense-Überzeugungen (bezüglich Hand-lungsregeln, Inszenierungsregeln, Atmosphärenerzeugungsregeln) der Akteu-re rekonstruieren.

Auf einer zweiten Stufe bedeutet das jedoch nicht, dass die Sozialwissen-schaftler die Common-sense-Überzeugungen des Milieus übernehmen müss-ten. Sie verfügen über eigene sozialtheoretisch fundierte Analyse- und Rekon-struktionstechniken. Giddens schließt ausdrücklich die Möglichkeit ein, dass sich die Theoriebildung auf der zweiten Stufe mit der Theoriebildung auf der ersten Stufe rückkoppelt; das heißt im praktischen Idealfall, dass ein therapeu-tisches Team während der Teambesprechungen in die Lage versetzt wird, über die eigenen Phänomene auf einer höheren Stufe zu reflektieren, zum Beispiel wenn implizites (empraktisches) Wissen explizit und begrifflich differenzierter zum Gegenstand der Team-Diskussion gemacht werden kann. Hier besteht die Forderung an die Sozialwissenschaftler, sich auf Transferprozesse einzulas-sen.

5.2 Geltungsbedingungen

Wenn soziale Phänomene auf der ersten hermeneutischen Stufe nur durch ihre Interpretationen verständlich werden, dann können sie auf der zweiten hermeneutischen Stufe nur mit Hilfe kultureller Definitionen identifiziert und mittels präzise formulierter Geltungsbedingungen überprüft und verglichen wer-den. Zu den Geltungsbedingungen von Semiosen gehören: Wahrheits-, Erfolgs-

Stephan Debus 38

und Gelingensbedingungen: Ob jemand lügt, hängt davon ab, ob er an die Wahrheit des Gesagten glaubt. Ob jemand erfolgreich interagiert, hängt vom Erfolg, das heißt von der Erfüllung spezieller Erfolgsbedingungen von Interak-tionen ab. Ob jemand kommunikativ interagiert, hängt vom Gelingen der Kom-munikation, das heißt von der Erfüllung von speziellen Gelingensbedingungen der Kommunikation ab.

Die explizite Formulierung von Geltungsbedingungen ist somit unverzicht-barer Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Formulierung der Geltungsbedingungen unterliegt der Forderung nach Adäquatheit. Diese Forderung beinhaltet die beständige stufenweise Rückkopplung der Sozialwis-senschaften mit ihrem Untersuchungsfeld. Versteht man beispielsweise unter einem Kommunikationsversuch eine Handlung eines Zeichenbenutzers, der sein Kommunikationsziel durch Offenlegung seiner Kommunikationsabsichten zu erreichen versucht und deshalb eine Äußerung wählt, die eben diese Absicht offenlegt, dann ist der Kommunikationsversuch nur dann erfolgreich, wenn der Handelnde sein Kommunikationsziel erreicht, nämlich wenn der Empfänger tatsächlich glaubt, was der Sender meint oder wenn der Empfänger tut, was man von ihm verlangt. Die Kommunikation ist nur dann ernsthaft, wenn der Sender tatsächlich beabsichtigt, seine Absichten offenzulegen. Und sie ist nur dann nicht gelogen, wenn der Sender selbst glaubt, was er sagt; und sie ist nur dann wahr, wenn das Gesagte wahr ist.

Schon an dieser Folge von Geltungsbedingungen wird erkennbar, dass the-rapeutische Interaktion in den wenigsten Fällen kommunikativ sein kann, eben weil sie eben nicht auf der Offenlegungen der Therapeutenabsichten beruht. Der Therapeut kann nicht ernsthaft glauben, dass ein Patient psychisch des-halb gesundet, weil der Therapeut offenlegt, dass er möchte, dass der Patient gesundet. Wichtige Bestandteile therapeutischer Interaktion können aus die-sem Grund nur manipulativ funktionieren. Doch während die physische Anwen-dung von Zwang nicht kommunikativ ist, kann die Androhung von Zwang sehr wohl ein kommunikatives Phänomen sein. Schwieriger zu verstehen sind Pla-cebo-Wirkungen von Medikamenten, die oft eben nur deswegen eintreten, weil der Arzt seine Absichten hinsichtlich der Gesundung des Patienten offenlegt.

Empirisch überprüfbar werden die Geltungsbedingungen an den jeweiligen Nachfolgehandlungen im gesamten Handlungsablauf. Beispielsweise zeigt die Reaktion auf ein Kommando eines Chirurgen, ob und wie der Reagierende das Kommando verstanden hat und ob und wie das Kommando aus Sicht des Akteurs gelungen ist. Empirische Protokollverfahren (zum Beispiel Videoauf-nahmen und Sequenzanalysen) und Rückfragen an die Akteure sind daher unabdingbare Vorbedingung für die Beurteilung der Erfüllung von Geltungsbe-dingungen aller Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse.

39Zwangsanwendung in der Psychiatrie

5.3 Formale Rekonstruktion

Mit der empirisch begründeten Rekonstruktion des Strukturwissens eines Mili-eus befindet sich der Sozialwissenschaftler in einer ähnlichen Rolle, wie ein Linguist, der die grammatischen Regeln einer gesprochenen Sprache zu rekon-struieren sucht. Ebenso wie die Abfolge der Worte so lassen sich auch Hand-lungsfolgen über Sequenzanalysen in eine lineare zeitliche Anordnung brin-gen. Aber ebenso wie in der syntagmatischen Dimension der gesprochenen Sätze ist die Existenz einer hierarchischen Gliederung einer verborgenen Aus-dehnung in eine weitere Tiefendimension der Handlungsfolgen alles andere als offensichtlich. Die Aufdeckung der sprachlichen Tiefenstrukturen überneh-men Grammatiktheorien.

Grammatiktheorien werden jedoch nicht in einem Schritt aufgestellt, son-dern sie entwickeln sich arbeitsteilig in gegenseitiger Kritik und oft über Jahr-zehnte hinweg, während sie ihren Gegenstandsbereich mit theoretischen Begrif-fen immer weiter und differenzierter erfassen. Einen Großteil ihres Erfolgs ver-dankt die Linguistik ihrem Teilprogramm, die sprachlichen Strukturen zu forma-lisieren, was eben jeden langfristigen und interdisziplinären Wissenschaftsdis-kurs ermöglicht.

„Wenn wir linguistische Beschreibungen formalisieren, können wir leichter erkennen, was genau die Analyse bedeutet. Wir können feststellen, welche Vorhersagen sie macht, und wir können alternative Analysen ausschließen“ (Müller 2010: 3).

Dieser Aussage von Müller folgend und übertragen auf unser Projekt, versu-chen wir die Rekonstruktion von Handlungs- und Wahrnehmungsstrukturen mit dem Aufbau eines formalen Begriffsinventars zu beginnen – selbst wenn wir in der Milieuforschung noch ganz am Anfang stehen. Mit weitgehend ein-deutigen und daher kritisierbaren und korrigierbaren Begriffen können wir errei-chen, die Stufen der doppelten Hermeneutik klarer voneinander zu unterschei-den und auch die Wechselwirkungen besser zu kontrollieren. Langfristig haben wir also vor, die Beschreibungen, Beobachtungen, Geltungsbedingungen und Erklärungen dessen, was auf der ersten hermeneutischen Stufe in einem Mili-eu geschieht, in einer formalen Explikatsprache zu repräsentieren, die folgen-den Kriterien genügt:

• sie ist (weitgehend) neutral gegenüber den Wertungen der Milieuteil-nehmer

• sie ist allgemein genug, um alle (möglichst viele) Milieu-Prozesse zu beschreiben

• sie erlaubt die Formulierung von Geltungsbedingungen• sie stützt sich auf (möglichst) wenige unerklärte Grundbegriffe• komplexe Begriffe können aus den einfachen Begriffen aufgebaut wer-

den.• durch ihren formalen Aufbau ist sie (weitgehend) transparent und kri-

tisierbar

Stephan Debus 40

• sie erlaubt die Übersetzung in Diagramme nach den Vorgaben eines präzise formalisierten Darstellungssystems.

• sie ermöglicht diagrammatisches Operieren (siehe unten) und sie unterstützt die Identifikation von syntaktisch-kombinatorischen Kon-stituenten (Handlungsphasen) innerhalb von größeren Handlungsab-läufen, die durch Beginn und Ende definiert sind.

5.4 Simulation als Rekonstruktionstechnik

Handlungs- und Interpretationsspielräume sind nicht direkt beobachtbar, sie können aber durch Simulation rekonstruiert werden. Wir verwenden hier den Begriff der Simulation auf zwei Analyseebenen: (1) im Medium des Spiels in Szenen, die Realhandlungen simulieren, indem die Akteure mit Probehand-lungen so tun, a l s o b sie real wären, die aber gleichzeitig auf objektiv-situ-ativ bezogene Gelingensbedingungen festlegt sind beziehungsweise darauf überprüft werden können; (2) im Medium des rekonstruierten Handlungswis-sens mit Hilfe von Diagrammen, um mit Hilfe von ‚gedanklichen Probehand-lungen‘ weiteres implizites Handlungswissen zu rekonstruieren oder neu zu entdecken. In (1) können Realhandlungen durchprobiert werden, mit „Was-wäre-wenn-Fragen“ der Art: Was wäre, wenn eine Handlungsvoraussetzung wegfiele, eine Situationsdeutung eine andere wäre, eine Perspektive sich änder-te, eine Handlung mit einer anderen Handlung in Konflikt geriete? – Wie könn-ten die Handlungskonsequenzen aussehen? Solche Verfahren finden sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten sowohl im Rollenspiel als auch im Psycho-drama. In (2) kann der Interpretationsspielraum auf der zweiten Stufe heraus-gearbeitet werden, indem durch systematische „Was-wäre-wenn-Fragen“ unter-schiedliche sozialwissenschaftliche Interpretationen kontrastiert werden: Was wäre, wenn folgende Regel R1 die Kookkurrenz zweier Phänomene verständ-lich machte? Und könnte eine weitere Regel R2 dieselben Phänomene erklä-ren? Und was wäre, wenn R1 gegen R2 ausgetauscht würde? Was wäre, wenn R1 mit R2 in Konflikt geriete? Noch wichtiger sind Simulationen, die die Dia-gramme als Ergebnis von Sequenzanalysen insgesamt reorganisieren und so immer weitere und auch neue Strukturen sichtbar machen können. In diesem Fall ist die Simulation ein systematisches, nachvollziehbares und kritisierbares Verfahren, mit dem Hypothesen über die Handlungsstruktur des Milieus gene-riert und variiert werden können. Diese Vorgehensweise des „diagrammati-schen Operierens“ wird im folgenden Abschnitt erläutert.

5.5 Diagramme als Rekonstruktionsmedien

Diagramme sind nach Stjernfeldt, dem das Heft „Diagrammatische Zeichen“ der Zeitschrift für Semiotik gewidmet ist, besondere ikonische Zeichen, „die dadurch auf Gegenstände aufmerksam machen, dass sie wesentliche Struk-turen mit ihnen gemeinsam haben“. Genauer: „[…] das Diagramm hat Teile,

41Zwangsanwendung in der Psychiatrie

zwischen denen Relationen bestehen, die auch zwischen den Teilen des Gegen-standes bestehen“ (dieses und die folgenden Zitate aus: Posner und Debus 2009: 213-229). Diese Eigenschaft diagrammatischer Zeichen ist es, „die die Menschen zum Probehandeln befähigt, indem sie mit den Zeichen Operatio-nen vollziehen, an deren Ergebnisse sie die Resultate ablesen können, zu denen ein direktes Handeln mit den bezeichneten Gegenständen führen würde.“ Als prototypische Diagramme gelten unter anderem Verlaufsdiagramme für Entscheidungsprozesse oder Graphen mit Knoten und Linien, die Relationen zwischen Gegenständen darstellen.

Derartige Ablaufdiagramme können in Softwareprogrammen zur Sozialfor-schung (Atlas.ti) erstellt werden durch Linien, die ein- oder mehrstellige Rela-tionen zwischen beliebigen Gegenständen, wie Dingen, Ereignissen, Individu-en, Situationen, Propositionen (a,b,c…), repräsentieren, beispielsweise:

einstellig: Kommt-vor(a); zweistellig: Wirken-auf(a,b), Zeitlich-folgen-auf(a,b),Befindet-sich-neben(a,b),Wenn-dann(a,b), Ist-abhängig-von(a,b), Kookkurrenz(a,b); dreistellig: Verstehen-als(a,b,c), Wahrnehmen-als(a,b,c); vierstellig: Zeichenhandeln(a,b,c,d).

Der Leistungsvergleich verschiedener Diagramme richtet sich auf die Gegen-überstellung des diagrammatisch Erfassbaren (in unserem Fall die rekonstru-ierten Handlungsstrukturen) mit dem bildlich Darstellbaren.

Die wichtigste Eigenschaft diagrammatischer Zeichen ist ihre Operationali-sierbarkeit (vgl. Posner und Debus 2009: 217 mit Bezug auf Krois 2009: 235). Durch das Operieren (Verschieben, Weglassen, Transformieren, hypotheti-sches Einfügen) mit Diagrammen wird es möglich, etwas über den Gegenstand zu lernen, das man vorher noch nicht wusste, etwas, das also über die Kennt-nis der reinen Definitionsmerkmale hinausgeht. Diese Möglichkeit zum Ope-rieren an dynamischen Prozessen (Ereignisfolgen, Semiosen, Handlungsab-läufen und so weiter) erwirbt das Diagramm durch seine Eigenschaft, die zeit-liche Dynamik in eine Gleichzeitigkeit der Darstellung zu übersetzen. Die Eigen-schaft der Strukturähnlichkeit ermöglicht den Diagrammen ihren Einsatz in Ver-suchsanordnungen für Probehandlungen, Simulationen und Prozessen, die auf die Einbildungskraft angewiesen sind (vgl. hierzu den psychodramatischen Begriff „surplus Realität“ im Beitrag von Ahrens 2011 in diesem Heft).

Die Beziehungsstrukturen der Diagramme und ihrer Referenten (Dinge, Ereig-nisse, Eigenschaften, Relationen) sind nur in einem konsistenten Darstellungs-system transparent und beherrschbar, das die erforderlichen formalen Defini-tionen, Konventionen, Äquivalenzbedingungen und die zulässigen Transforma-tionsweisen enthält (vgl. Hoffmann 2009). In diesem Sinne sind die Geltungs-bedingungen der Semiosen und deren formallogischer Ausformulierung ein zentraler Teil des Darstellungssystems von Handlungsstrukturen. So ist bei-spielsweise eine e r f o l g r e i c h e H a n d l u n g , wie eine kooperative Aktion, nur dann in einem Diagramm darstellbar, wenn sie die entsprechende Erfolgs-bedingung erfüllt. Die Erfolgsbedingung wird zur Darstellungsnorm für erfolg-reiche Handlungen im diagrammatisch dargestellten Handlungsablauf.

Stephan Debus 42

„Auf diesem Hintergrund lässt sich das diagrammatische Denken bestimmen als Den-ken, das sich auf Diagramme als Denkmittel stützt und das Operieren mit ihnen an die Stelle des Operierens mit dem Gegenstand setzt. Diagrammatisches Schließen ist dem-entsprechend das Ziehen von Schlussfolgerungen über Eigenschaften des Referenten, die sich aus dem Verhalten der zugehörigen Diagramme ergeben, wenn man sie geziel-ten Transformationen unterwirft“ (Posner und Debus 2009: 219).

Die Struktur, die der Gegenstand durch diese Analyse erhält, wird „Diagram-matik“ genannt. In diesem Sinne ist auch die Handlungsstruktur eines Milieus als die D i a g r a m m a t i k v o n H a n d l u n g e n und die semiosische Struk-tur als die D i a g r a m m a t i k v o n S e m i o s e n bestimmbar.

Das diagrammatische Operieren wird mit Hilfe der drei folgenden Abbildun-gen an einem sehr einfachen, alltäglichen und routinierten Handlungsablauf des Ankleidens illustriert.

Abb. 3a und 3b: Zwei Darstellungen eines Implikationsgraphen des alltäglichen Hand-lungsablaufes „Anziehen“. Abb. 3b geht ohne Einfügungen oder Weglassungen allein durch diagrammatische Transformationen aus Abb. 3a hervor.

Start

5

Anziehen

J

I

H

G L

Schuhe

4

Hose

3

T-Shirt

6

O-Hemd

7

Pullover

2 Shorts

1

Strümpfe

M

C

B

E

D

A

K F

Unterbekleidung

Oberbekleidung

Ende

Start

7 6 3 4 2 1 5

Anziehen

J

I

H G

L

M

C B E K F D A

Pullover O-Hemd T-Shirt Strümpfe Hose Shorts Schuhe

Ende

3a

3b

43Zwangsanwendung in der Psychiatrie

Abb. 3c: Analytische Standard-Phrasenstrukturgrammatik des Satzes: „Ein junger Rabe pflückt rote Beeren gern“; Abkürzungen: N=Nomen, AN=Adnomen, D=Determinator, V=Verb, AV=Adverb, NP=Nominalphrase, VP=Verbalphrase, S=Satz. Die gestrichelte Start-Markierung repräsentiert hier die Prädikat-Argument-Relation: Pflücken (Rabe, Beeren).

Der Handlungsablauf in Abbildung 3a besteht aus Teilhandlungen des Anzie-hens von n=7 Kleidungsstücken: T-Shirt, Oberhemd, Pullover, Shorts, Hose, Strümpfe und Schuhe. Aus rein kombinatorischen Gründen ist es möglich, sich auf n! = 5040 Arten zu kleiden, allerdings entsprechen nur 130 verschiedene Arten den Alltagsnormen des korrekten Gebrauchs.8 Diese 130 Varianten wer-den durch einen einzigen „Implikationsgraphen“ (nach Methoden von Jungni-ckel 1990) dargestellt, mit der Relation „x anziehen, setzt y anziehen voraus“ (einfache Pfeile) und mit der Relation „x folgt auf y“ (fett-markierte Pfeile). Die-ser Graph stellt den kompletten Handlungsspielraum, das heißt alle Handlungs-alternativen des korrekten Gebrauchs von diesen Kleidungsstücken kompakt dar. Er zeigt die idealtypischen Möglichkeiten und improvisatorische Grenzen auf. Ein weiterer Graph in Abbildung 3b mit identischer diagrammatischer Reprä-sentation von Relationen und Handlungen, geht allein durch diagrammatische Transformationen, ohne Einfügungen oder Weglassungen, aus dem Graphen in Abbildung 3a. hervor.

Interessant wird die Transformation durch Analogievergleich mit einer dia-grammatischen Darstellung der Phrasenstruktur des Satzes „Ein junger Rabe pflückt rote Beeren gern“, für die die syntaktischen Kategorien (Satz, Nominal-phrase, Verbalphrase und so weiter) eingetragen sind. Die Frage lautet: Kön-nen in Analogie zu den grammatischen Kategorien des Beispielsatzes ähnliche syntaktische (kombinatorische) Kategorien (A bis M in Abbildung 3a und 3b) des Handlungsablaufs bestimmt werden, die sich im Rahmen der Diagramma-tik von Handlungsstrukturen und allgemeinen semiosischen Strukturen entwi-ckeln lassen? In welchem syntaktischen Verhältnis stehen die Handlungsteile zu den Teilhandlungen einer Handlungspraxis. Welche Handlungsphasen wer-den durch welche Teile von Handlungsabläufen konstituiert? Handlungsphasen sind hier diagrammatisch dargestellte Teile von Handlungsfolgen, die syntak-

Start

7 6 3 4 2 1 5

VP

VP

N N

NP

S

N N AV D AN AN V

Ein junger Rabe pflückt rote Beeren gern

Ende

Stephan Debus 44

tisch eine Konstituente des ganzen Handlungsablaufs bilden. Als Konstituenten des Handlungsablaufs kommen diejenigen diagrammatischen Einheiten in Betracht, die die klassisch-strukturalistischen Konstituententests bestehen:

Permutationstest: testet die Umstellung von TeilkettenSubstitutionstest: testet den Austausch von TeilkettenEliminierungstest: testet das Weglassen von TeilkettenKoordinationstest: testet die Kombination von Teilketten

Durch diese Tests (Dürscheid 2010: 46-53), die an Teilketten der im Diagramm dargestellten Handlungsabläufe probehalber durchgeführt werden, können ein-zelne Teilketten als konstitutive Handlungsphasen identifiziert und syntaktisch klassifiziert werden. Ein Test gilt als bestanden, wenn sich nach Durchführung des Tests ein Handlungsablauf ergibt, der, nach bestimmten zuvor festgeleg-ten Gebrauchsregeln, ebenfalls korrekt ist. Welche konkreten Regeln lassen sich hier entwickeln und welchen realen Erfahrungen entsprechen diesen syn-taktischen Regeln in der Handlungspraxis der Akteure?9 Daraus ergeben sich weitere Fragen, etwa: Welche Rolle spielen Iterationen, Verzweigungen, Rekur-sionen, Zirkularitäten und Selbstbezüglichkeiten von Teilketten für die jeweili-gen syntaktischen Kategorien? Durch diagrammatisches Denken und durch Analogieschlüsse können so Hypothesen über Handlungsstrukturen entwickelt werden, mit Eigenschaften, die bei der Definition der Teile (Handlungsteile und Teilhandlungen) unbekannt waren. Ein Beispiel unserer bisherigen Milieustu-dien soll die abstrakt formulierten Forschungsfragen nun am empirischen Mate-rial veranschaulichen.

6. Diagramme von Handlungsstrukturen am Beispiel „Grauzone“

Aus den Tagebucheintragungen einer teilnehmenden Beobachterin10 des Mili-eus der psychiatrischen Einrichtung, in der sie selbst mitarbeitet, kann entnom-men werden, dass sich nach der Klientenaufnahme Therapeuten immer wie-der die Frage stellen, ob bestimmte Patienten mit den therapeutischen Metho-den, die den sie Behandelnden zur Verfügung stehen, tatsächlich behandelt werden können oder nicht. Die Aufgenommenen gehören zwar faktisch und sozialrechtlich – qua Aufnahme – zur ‚richtigen‘ und ‚gewollten‘ Indexgruppe der Institution, aber die Therapeuten beschreiben ihre ‚diffusen‘ Intuitionen, dass keine Maßnahme der Einrichtung so recht „passen“ will. Diese Intuitio-nen basieren auf einem impliziten Wissen, das jedoch kaum genutzt wird. Die ‚unpassenden‘ Klienten heißen im Jargon des therapeutischen Milieus Hohen-stein11 „Grauzonen-Teilnehmer“. Die Pass-Ungenauigkeit hat viele Gründe, fest steht jedoch: Grauzonen-Teilnehmer sind weder Index-Klienten noch Nicht-Index-Klienten, sie passen einfach nicht in die basale konstitutive Klassifikati-on Index versus Nicht-Index hinein. Was tun? Die Frage ist zentral, denn sie zielt letztlich nicht nur auf Optimierung der Behandlungsqualität, sondern auch auf die institutionellen Handlungsstrukturen. Zwei Beispieltexte aus unseren Feldforschungen in der Tagesstätte Hohenstein zeigen das Problem.

45Zwangsanwendung in der Psychiatrie

18: Sarah Bande B1 [Pseudonym]19: 5.10 min: 30 20: Thema: Therapieverständnis/ was hilft TN wirklich 21: /22: (hängt für mich eng zusammen)23: Heute in der Supervision besprechen von 2 24: „Fällen“, die aber auf ein grundsätzliches Thema 25: hinweisen, mit dem wir uns schon lange und immer 26: wieder mal beschäftigen. Die TN, die sich am Rande 27: der TG bewegen, für die die TG-Konzeption nicht 28: richtig passt. Was machen wir mit dieser 29: Grauzone, akzeptieren wir sie und vertreten sie 30: offensiv (was bis zu einer Veränderung der 31: Konzeption führen könnte, die man auch dem 32: Kostenträger verkaufen müsste) oder müssten wir uns 33: von diesen TN trennen und sie (falls vorhanden!!) 34: an andere Einrichtungen weiterleiten? Ich 35: bevorzuge den ersten Weg, da ich meine, dass mindestens 36: ein Drittel unserer TN in diese „Grauzone“ fällt. 37: Unser sozialtherapeutisches Angebot (zentral: 38: Gruppentherapie!) sollte so individuell wie nur 39: irgend möglich ausgestaltet werden.40: Die Bestätigung meiner Haltung finde ich für mich 41: gleich anschließend im Einzelgespräch mit Herrn 42: E.: Er befindet sich zur Zeit in einer 43: existentiellen Lebens- und Sinnkrise, kann die 44: Gruppensituationen nicht aushalten, fühlt einen 45: unerträglichen Druck, der ihn immer wieder 46: zu Suizid-Gedanken führt – ich versuche soviel 47: Druck wie möglich rauszunehmen, das 48: Beziehungsangebot dick zu unterstreichen, 49: beurlaube ihn für 2 Tage mit gleichzeitiger fester 50: Verabredung für den 3. Tag. Aber: die neuen 51: Gruppen laufen jetzt an, er wäre dann nicht 52: dabei. Paulas berechtigter Einwand: Ist das noch 53: Gruppentherapie? In diesem Spannungsfeld bewegt 54: sich das.

Und folgender Auszug:

1: Antje Engelke B1[Pseudonym]2: 04.10. min:10 Minuten3: Thema: Zeit für therapeutische Gespräche4: /5: Ich bin etwas müde heute. Nach Supervision – 7: haben wir eigentlich Teilnehmer, die

Stephan Debus 46

8: das Tagesstättengeschehen nicht mitmachen, aber 9: regelmäßig zu Einzelgesprächen kommen und sich 10: eine intensive Einzelbetreuung abholen? Wie 11: vertreten wir das den anderen gegenüber? Wir 12: müssen jetzt auf die Handlungsebene kommen, 13: das heißt die neuen Wochenpläne für jeden Teilnehmer 14: machen und sie (für jeden einsehbar) in die 15: Tagesstätte hängen.

Das Wort „Grauzone“ ist keine launige Bemerkung eines Mitarbeiters, sondern hier wird ein alltagssprachlicher Begriff verwendet, der auf konstitutive Prozes-se und Handlungsstrukturen dieser – und vermutlich sogar jeder – therapeu-tischen Einrichtung hinweist. Denn jede psychiatrische Institution spannt mit dem therapeutischen Konzept (zum Beispiel Indikationskonzept) ein Netz von Be-Handlungsmaßnahmen und -Methoden auf, das festlegt, für welche Klien-ten (Index-Klienten) die Einrichtung die zweckmäßigen Therapien anbieten kann und für welche Klienten (Nicht-Index-Klienten) nicht. Für Index-Klienten, die a u s S i c h t d e r E i n r i c h t u n g zum Behandlungskonzept ‚dazugehö-ren‘, ist eine Behandlung sinnvoll, für Nicht-Index-Klienten ist die Behandlung n a c h A n s i c h t d e r E i n r i c h t u n g sinnlos. Doch wer repräsentiert „die Ansicht der Einrichtung“? Was ist überhaupt die letztlich wirksame, das heißt sich in den Handlungen – und nicht in den Absichtsbekundungen – nieder-schlagende „Ansicht der Einrichtung“?

Zur Definition eines Index-Klienten gehört, dass er „passenden“ therapeuti-schen Bedarf hat, also einen, den die Einrichtung durch ihr Angebot befriedi-gen kann. Die Nicht-Index-Klienten gehören nicht zur Zielgruppe derjenigen, für die eine Behandlung als zweckmäßig erachtet wird. Die Behandlung von Nicht-Index-Klienten ist im Sinne der Einrichtung ein sozialtherapeutischer „Fehler“. Mit dem Behandlungskonzept, das in den Richtlinien für das Aufnah-megespräch seinen praktischen Niederschlag findet, werden um Therapie nach-suchende Klienten grob in entsprechende Zielgruppen der Einrichtung klassi-fiziert. Die Index-Klienten werden durch die Klassifikation der Tagesstätte zu den „Teilnehmern“ (TN) der Tagesstätte. Alle anderen nachfragenden Klienten gehören idealiter nicht dazu und werden entsprechend vor oder während der Aufnahmeprozedur abgewiesen oder weiterverwiesen.

Da aber der ökonomisch motivierte Aufnahmedruck dazu zwingt, die Kapa-zitäten einer Einrichtung voll auszuschöpfen oder bisweilen dazu verführt, mehr Klienten aufzunehmen, als eine Einrichtung verkraften kann, stehen die thera-peutischen und die ökonomischen Konzepte in einem Widerstreit. Daher wer-den die jeweiligen Konzepte in vielen therapeutischen Einrichtungen durch eine fachlich-therapeutische Leitungskraft und durch eine ökonomisch-geschäftsfüh-rende Leitungskraft repräsentiert, die diesen Widerstreit austragen, aushalten und durch Kompromisse ausgleichen müssen. Es zeigt sich ein milieutypisches Koordinationsproblem, das per Absprache oder Vertrag gelöst werden muss und dessen Lösungen ‚weitervererbt‘ werden, sei es durch Übernahme oder durch permanenten Widerspruch zu jedweden Lösungsversuchen („Redekreis-

47Zwangsanwendung in der Psychiatrie

läufe“). Ein Ergebnis des Widerstreits besteht darin, dass zwischen Index-Kli-enten und Nicht-Index-Klienten nicht eindeutig unterschieden wird oder unter-schieden werden kann: Die Kriterien werden unscharf, sie sind umstritten, reprä-sentieren gewohnheitsmäßige Konsensbildungen zwischen den widerstreiten-den Interessengruppen und den widerstreitenden Konzepten (therapeutisch, ökonomisch). An dem einen Entscheidungspol irrt sich eine Interessengruppe (ökonomisches Interesse) in der Klassifikation eines Klienten als Index-Klient lieber „falsch negativ“ (das heißt für Aufnahme, obwohl Nicht-Index-Patient), die andere Interessengruppe (therapeutisch) irrt sich lieber „falsch positiv“ (das heißt für Nicht-Aufnahme, obwohl Index-Patient). Zwischen diesen Extremen liegt jene Grauzone, die die Mitarbeiter aushalten und austragen müssen.

In der untersuchten Tagesstätte Hohenstein wird das Problem der Passung zunächst sehr engagiert auf der kommunikativen Ebene diskutiert. Die vie-len dabei involvierten Themen muten an der Oberfläche als Kommunikations- bzw. Interaktionsprobleme an. Sie sind in dem Diagramm in Abbildung 4 zusammengetragen. Doch hinter den Interaktionskonflikten stehen die Struk-turprobleme, die die unterschiedlichen Handlungsspielräume berühren. Die Darstellung unterschiedlicher Handlungsspielräume innerhalb eines ‚Haupt-themas‘ zeigte sich symptomatisch an den immer wieder kehrenden, lang-wierigen und oft zermürbenden Diskussionsverläufen ohne Diskussionser-gebnis (Redekreislauf, im oberen Bereich durch eine unterbrochene Kreisli-nie markiert). Dies über-rascht deshalb nicht, weil die Lösungen des Prob-lems in unterschiedlichen Handlungsspielräumen unterschiedlich ausfal-len. Abbildung 4 zeigt ein Diagramm eines Hand-lungssystems. Die Ovale kennzeichnen Handlun-gen, die Rechtecke kenn-zeichnen Handlungsty-pen. Der Redekreislauf ist gestrichelt markiert. Im untersten Teil des Dia-gramms repräsentieren die Ovale Handlungsex-emplare, die zu sechs verschiedenen Hand-lungstypen gehören, die für das Milieu relevante Eigenschaften von Nähe- und Distanzbeziehungen thematisieren.

TEAMSPRECHER/

TEAMLEITER

Ich bin TeamsprecherinH084

MitarbeiterversammlungH085

Was soll das?!H087

Fehlt mir der Mut?H090

Wir haben TeamsprecherH088

TeamsprechertreffenH031

Teamsprechertreffen 2H077

Was soll das?!H087

Fehlt mir der Mut?H090

„Inhaltliche Klammer“H023

Warum wir als Letzte?H013

Merkwürdige UmständeH019

Nach dem UrlaubH078

Was soll das?!H087

Wir hatten ZeitH093

Spannung im TeamH089

Gute AtmosphäreH095

GUTE ATMOSPHÄREIM TEAM

Unsere AufgabeH040

GUTE ARBEIT MIT DEN TN

ARNOLD IST DA

Unangemeldeter BesuchH057

0-EntlohnungH062

Besuch von ArnoldH055

AbhängigkeitH002

Schlechtes GewissenH066

SticheleiH025

DER ZUSTAND ISTUNERTRÄGLICH

Packen‘s wir an!H074

Lösung von ProblemenH065

WIR SIND DIE EINZIGEN

TeamsprechertreffenH031

Teamsprechertreffen 2H077

Ich bin TeamsprecherinH084

Wir haben TeamsprecherH088

Was soll das?!H087

MORGENRUNDE

Morgenrunde-erfrischend!H081

Packen‘s wir an!H074

Warum wir als Letzte?H013

MorgenrundeH036

Wieder „echte“ AufgabeH098

Schon wieder MorgenrundeH056

ArbeitszeitenübersichtH048

VERÄNDERUNGEN IM TEAM

VeränderungenH003

TeamveränderungenH007

UmstrukturierungenH004

Alex‘s IntegrationH020

Gemeinsame BesprechungH032

TeamsitzungH059

Bleibt alles beim alten?H042

Unsere VereinbarungenH067

Ich war „ geladen“H094

Gute AtmosphäreH0095

WIR BLEIBEN STECKEN

KLARHEIT SCHAFFEN

Die spannende TabelleH050

ArbeitszeitenübersichtH048

TeamsitzungH059

Der erste von 3 TagenH071

Schlechte OrganisationH012

Ich habe ja mehr StundenH044

Unerwartete SituationH047

Nicht mein Tag!H091

LEIDER WIEDERALLEIN

Spannung im TeamH089

Noch jemand mehr Stunden...H046

ÜBERSTUNDENREGELUNG

Ich war alleineH073

Ich kann mich nicht klonenH070

Unerwartete SituationH047

Kontakt zu den TNH021

KONTAKT ZU DEN TN NIMMT AB

ÜberforderungH001

ZeitdruckH011

UnzufriedenheitH010

Arbeitstag, ZeitdruckH006

WIR SIND FÜR DIE TN DA

Großer ArbeitseinsatzH017

Reizthema im TeamH038

Grauzonen TNH030

GrauzoneH038

Der SpagatH033

Herr EwiglebenH034

GRAUZONE

DIE NORMALITÄT

Grenzen-braucht man die?H049

Normalität ist besserH051

Der lange AusflugH053

PutztagH064

Realistische AnforderungH069

Wieder „echte“ AufgabeH098

Badminton machte SpaßH097

Besuch von der TagesklinikH068

WIR SIND FÜR DIE TEILNEHMER DA

Unsere AufgabeH040

Da will ich kämpfenH079

Frau WestphalH086

Frau KieferH058

Frau SchwindtH076

Fall Fr. KieferH018

Gespräch mit Fr. KieferH061

TEILNEHMER EMPELDE

Zurück zu unsH100

Gute Beziehung zu denTeilnehmern

H092

Ich mach‘ mir Sorgen!H083

Herr GutjahrH080

Fall GutjahrH096

Besuch beim VPEH101

Unangenehmer TerminH055

UnzufriedenheitH008

Alex‘s IntegrationH020

Ein gutes GesprächH024

„Ewigleben Krise“H039

GrauzoneH037

Herr EwiglebenH034.

Fall Frau SteinH043

Ein harter TagH103

Herr HarrendorfH082

Herr HoppeH099

GruppenangeboteH052

VideoerprobungH072

Spannende FrauengruppeH075

SPANNENDEGRUPPENANGEBOTE

WIR SIND HALT ANDERS

Handlungsschema

Empelde

Ilse Decker

TEAM EMPELDEALLEIN ZU HAUS

SPANNUNG IMTEAM

DIE DA OBEN

KLARHEIT SCHAFFEN INFOFLUSS STÄNDIGES WECHSELN VON ARBEITSINHALTEN

SPANNUNG IMGESAMTBALANCE

Mit wem wird was geplant?!H102

WÜNSCHE IM TEAM

Eigener ArbeitsplatzH005

AngehörigenarbeitH045

ZU WENIG TEILNEHMER

AbschlußgesprächH016

GUTE ORGANISATION -SICH ZEIT NEHMEN KÖNNEN

Ruhiger VormittagH014

Gutes TeamH054

Wir hatten ZeitH093

DOK. TREFFEN

Das DoktorandentreffenH060

DoktorandentreffH041

UrlaubsstimmungH022

UNZUFRIEDENHEIT

Viel ArbeitH015

Unzufriedener TagH063

Abb 4: Diagramm eines Handlungssystems.

Stephan Debus 48

Wir unternehmen hier nicht den Versuch, das Diagramm in seiner komplexen Informationsfülle lesbar zu machen und näher zu erläutern (ausführlichere Dis-kussionen dazu in Debus 2008b, Debus und Floeth 2004, Debus und Floeth 2002). Dieses Diagramm macht in Umrissen den Rekonstruktionsaufwand deut-lich. Es entstand in einer von drei untersuchten psychiatrischen Einrichtungen in einem Zeitraum von 3 Monaten intensiver teilnehmender Feldbeobachtun-gen, Nachfragen, moderierten Gruppendiskussionen und erneuten Darstel-lungsversuchen. Entscheidend für die Forschungsanstrengung war, dass die Teammitglieder dieses Diagramm in seiner Komplexität durchschauen, in sei-ner Anordnung akzeptieren und mit ihm kreativ arbeiten konnten. Dieses Dia-gramm wurde monatelang in Konzept- und Supervisionsgesprächen zu Rate gezogen, um Problemfelder und abweichende Interpretationen schnell zu iden-tifizieren und – das war besonders eindrucksvoll – die Diskussion durch „Was-wäre-wenn-Fragen“ und Antworten zu bereichern. Wir fassen hier nur einige Ergebnisse zusammen:

• Den Team-Mitarbeitern der Tagesstätte Hohenstein war vor der Stu-die das Problem der Passung von Fremd- und Selbstkonzepten an einigen Fragestellungen nur sehr undifferenziert klar.

• Das Passungsproblem taucht im Milieu der Einrichtung als implizites Problem so genannter „Grauzonen-Teilnehmer“ auf, welches das Mit-arbeiter-Team in seinen Besprechungen als wiederkehrendes Thema wochenlang und ergebnislos beschäftigte.

• In das Problem waren verschiedene institutionelle Ebenen verwickelt, wobei sich eine für die Institution typisch mangelhafte Kompetenzzu-ordnung zeigte.

• Das im Team unzureichend ausdifferenzierte Problembewusstsein behinderte die Team-Praxis mitunter massiv.

• In dieser Einrichtung trug die Exploration der Problemsituation durch die Selbstbeforschung zur Problemklärung bei, nicht jedoch zur Lösung der institutionellen Konflikte während der Forschungsarbeiten – Kon-flikte, die durch die Problemklärung eher zugespitzt wurden und erst Monate nach Beendigung der Untersuchung durch Einsatz zusätzli-cher Fachkräfte auf Leitungsebene beigelegt werden konnten.

7. „Grauzone“ und Gewalt?

Patienten, die gegen ihren Willen in eine psychiatrische Einrichtung verbracht werden, können manchmal den Sinn beziehungsweise den Grund ihrer zwangs-weisen Einlieferung nicht erkennen, und wenn doch, so wollen sie ihn nicht akzeptieren. Es sind Patienten, die das therapeutische Angebot, sofern es über-haupt ein Angebot ist, ablehnen. Die Frage der therapeutischen Passung ist für sie in der Regel keine, denn sie ist von ihnen bereits negativ beantwortet. Auch für eine psychiatrische Einrichtung ist bei Zwangsanwendung die thera-peutische Passung kein Begriff, mit dem die hoheitlichen Kontrollaufgaben

49Zwangsanwendung in der Psychiatrie

erfasst werden können. Auch sie beantwortet die Frage nach der therapeuti-schen Passung negativ. Wie aber kann die Einrichtung in ihren Zwangshand-lungen ihre therapeutische Zuständigkeit legitimieren, wenn „Passung“ gar kein Thema ist? Muss eine Einrichtung die „Nicht-Passung“ im Milieu notwendiger-weise mystifizieren, um dadurch die Legitimität zur Therapie zu erhalten? Was geschieht eigentlich tatsächlich? Das ist die Leitfrage des wie folgt zusammen-gefassten Forschungsprogramms.

8. Forschungsprogramm

Mit den Bestimmungsstücken (siehe oben Kapitel 2.1 bis 2.9 und 5.1 bis 5.5) kann die Erforschung von Zwangshandlungen im psychiatrischen Milieu pro-grammatisch in seinem Ablauf beschrieben werden:

8.1 Forschungsgegenstand und Forschungsziel

Der Forschungsgegenstand besteht aus allen an der Zwangsausübung betei-ligten alltäglichen Semiosen eines psychiatrischen Milieus. Ziel der Forschung ist im Sinne der Strukturationstheorie die nach Geltungskriterien überprüfba-re Rekonstruktion der impliziten empraktischen Wahrnehmungs- und Hand-lungsstrukturen. Das Forschungsprogramm soll gleichzeitig Anschlussmöglich-keiten für arbeitsteilige Forschungen von anderen Forschergruppen mit dem-selben oder ähnlichem Forschungsgegenstand anbieten.

8.2 Annäherung an das Feld

Über die Pflegedienstleitungen der Krankenhäuser und Einführungsveranstal-tungen wird mit den Teams Kontakt aufgenommen. Nach weiteren Vorgesprä-chen und durch Filmmaterial werden sie in einem Seminar mit den Methoden des Psychodramas vertraut gemacht.

8.3 Sammlung von interpretierten Daten

Die Datensammlung erfolgt über das Filmen von prototypischen Situationen der Zwangsanwendung. Im ersten Schritt werden die Situationen mit Hilfe der Methode des Psychodramas inszeniert. In diesen Inszenierungen bemühen sich die Akteure, ihre Aktionen und Situationsdeutungen offen zu legen (1. Stufe der „doppelten Hermeneutik“). In der Simulation sind die Ereignisabfol-gen wiederholbar, korrigierbar und durch die Methoden des Psychodramas in ihrer Darstellungstiefe intensivierbar. In einem zweiten Schritt sollen dann auf-bauend auf den Erfahrungen in der Simulation und mit Einverständnis aller Mili-euteilnehmer auch Realsituationen gefilmt und analysiert werden. Diese Abstu-

Stephan Debus 50

fung ist sowohl aus forschungsethischen als auch forschungslogischen Grün-den notwendig.

8.4 Aufbewahrung der Daten

Nach Speicherung und Katalogisierung der Filmsequenzen in einer Datenbank werden die Aussagen der Akteure aus dem Ton- und Bildmaterial heraus in Schriftform transkribiert. Die nonverbalen Ereignisse werden an einem inter-aktiven Whiteboard in Stop-and-Go-Technik und einer Zeitauflösung von 10 Sekunde in einem Ablaufdiagramm sequenziert und parallelisiert (Sequenz-analysen).

8.5 Interpretation der Daten

Die Interpretation der Daten (vgl. 2. Stufe der hermeneutischen Dualität) hat die Aufgabe, die Analyse vom Fallverständnis zum Strukturverständnis voran-zubringen und Hypothesen über geltende Regeln zu generieren. Dazu gehört:1. die Identifikation der Semiosen und Phasen als Konstituenten der Ereignis-abfolgen mittels Konstituententests am Diagramm; hier stehen diagrammati-sche Transformationen zur Verfügung: Permutations-, Substitutions-, Eliminie-rungs- und Kombinationstests;2. die Typisierung der identifizierten Semiosen und Konstituenten im Ereignis-ablauf

• nach syntaktischen Kombinationsregeln• nach dem jeweils geltenden impliziten Regelwissen.

Ein Handlungsstrukturdiagramm fasst die rekonstruierten Regeln zusammen. Auf dieser Analyseebene können ganze Regelsysteme und darin vorhandene Regelkonflikte identifiziert werden. Unterstützt wird die Diagrammentwicklung durch das Programm Atlas.ti12. Spezielle Softwareprogramme, die für die Dar-stellung und Typisierung von Semiosen ausgelegt sind, werden gegenwärtig im Institut für Kultursemiotik entwickelt.

8.6 Geltungsbegründung

Zur Geltungsbegründung der Hypothesen stehen mindestens drei Verfahren zur Verfügung: 1. Überprüfung der Geltungsbedingungen für Semiosen (ins-besondere Gelingens- und Erfolgsbedingungen) mittels Videoanalysen und Befragung der Teammitglieder, 2. Konsensuelle Validität bezüglich der entwi-ckelten Hypothesen mittels Expertendiskussion, 3. Triangulation (Flick, Kar-dorff, Keupp, Rosenstiel und Wolff 1995: 432ff), das heißt Konfrontation der entwickelten Hypothesen mit denen anderer komplementärer Methoden.

51Zwangsanwendung in der Psychiatrie

Anmerkungen

1 „PsychKG“ ist die Abkürzung für „Psychisch-Kranken-Gesetz“. Sie bezeichnet die in Hoheit der Bundesländer unterschiedlich ausgestalteten Gesetze, die unter anderem die Bedingungen der Anwendung von Zwangsmaßnahmen regeln. Nord-rhein-Westfalen verfügt gegenwärtig über das modernste Gesetz; dort heißt es „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten Nord-rhein-Westfalen“ („PsychKG-NRW“). Im Bundesland Hessen existiert das älteste Gesetz zur Unterbringung und Zwangsbehandlung, das „Gesetz über die Entzie-hung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüch-tiger Personen“ („HEFG“). Eine kritische Analyse der entsprechenden Länderge-setze erstellt Offergeld (Offergeld 2011: 12).

2 Komplexitätsstufen von eingebetteten Glaubensinhalten in formaler Schreibwei-se:

Glauben/Überzeugung: ∃x.∃p∈{p}. G(x, p). Wissen/wahre Überzeugung: ∃x. ∃p∈{p}. W(x,p) =df ∃x.∃p∈{p}. (p ∧ G(x,p)). gemeinsame Überzeugungen: ∀x∈GR.∀p∈{p}. G(x,p). gem. geteilte Überzeugungen: ∀x,y∈GR.∀p∈{p}. G(x, p) ∧G(x, G(y, p)) ∧G(x, G(y,

G(x, p))).3 Im Rahmen einer Situationstheorie arbeitet eine Arbeitsgruppe in unserem Mili-

euforschungsprojekt an der Formalisierung von sozialen Regeln als so genann-ten „Constraints“: Constraints werden als Relationen zwischen Ereignistypen ver-standen (vgl. Barwise und Perry 1983, Barwise und Goodwin 1992).

4 Hierzu gehören sehr häufig Patienten mit Borderline-Symptomatik.5 Nehmen wir die folgenden beiden Sätze: (1) Anna glaubt, dass Bernd krank ist.

(2) Anna glaubt, dass der Patient von Zimmer 17 krank ist. Die Sätze (1) und (2) können verschiedene Wahrheitswerte haben, auch wenn die Ausdrücke „Bernd“ und „der Patient von Zimmer 17“ auf dasselbe Individuum koreferieren, nämlich in Situationen, in denen Anna nicht glaubt, dass Bernd der Patient von Zimmer 17 ist.

6 Dispositionssätze, die die notwendige und hinreichende Bedingungen von Dispo-sitionsbegriffen festlegen, haben die Form: B(x) → (D(x) ↔ R(x)), lies: nur unter Bedingung B ist die Disposition von x äquivalent mit der Reaktion von x (zur Pro-blematik von Dispositionssätzen vgl. Opp 2005: 115ff; Kutschera 1972: 264ff).

7 Der Leser wird erkennen, dass hier aus nahe liegenden Gründen eine alltags-sprachliche, bemüht neutrale und nicht-fachsprachliche Formulierung der Abläu-fe gewählt wird, die auf urteilende psychopathologische Begriffe und Beschrei-bungen wie Projektion, Wahn, Widerstand, Realitätsverlust usw. verzichtet.

8 Der Nachweis für die Anzahl kombinatorischer Möglichkeiten kann geführt wer-den, sprengt aber den Rahmen dieses Beitrages.

9 Ohne den Vergleich hier weiter diskutieren zu können, werden die Ausdrücke und Phrasen als Konstituenten des Beispielsatz kategorialgrammatisch folgenderma-ßen klassifiziert (Zifonun, Hoffmann und Strecker 1997: 2541ff und Kapitel E.2.1: 962-1025); Nominalphrase: T, Nomen: N, Ad-Nomen: N/N, Determinator: T/N, Satz: S, 2-stell.Verb: (S/T)/N, Verbalphrase: S/T, Adverbialphrase (S/T)/(S/T). Wel-che entsprechenden kombinatorischen Kategorien (A-M) lassen sich in der Dia-

Stephan Debus 52

grammatik der Semiosen entwickeln? Hinweise ergeben sich aus dem Diagramm in Abbildung 3a: Es gibt nur drei Handlungsphasen, zum Beispiel die eine Teilket-te: „T-Shirt“ - „O-Hemd“ - „Pullover“, nicht aber: „Schuhe“, „Oberhemd“, „Strümp-fe“; die Handlungsphasen können mit nur drei verschiedenen Aktionen starten: „Strümpfen“, „Shorts“ oder „T-Shirt“; und nur mit zwei verschiedenen Aktionen beendet werden: „Schuhe“ und Pullover“ (Permutationstest). Das Anziehen erzeugt eine ‚kulturelle Trennlinie‘, die den Körper in eine obere und eine untere Hälfte teilt (Substitutionstest). Nur zwei Aktionen können korrekterweise (in Abhängig-keit von einer Gebrauchsregel zum Beispiel im Büro bei sommerlichen Tempera-turen) ausgelassen werden: „Strümpfe“, „Pullover“ (Eliminationstest).

10 Zur teilnehmenden Beobachtung vgl. Flick, Kardorff, Keupp, Rosenstiel und Wolff (1995: 198).

11 Alle verwendeten Namen wurden durch Pseudonyme ersetzt. 12 Beschreibung und Anwendungsbereiche des Programms via: www.altlasti.com.

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PD Dr. Stephan DebusInstitut für KultursemiotikPfingstanger 3D-30974 Wennigsen (Deister)E-Mail: [email protected]

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 55-78Stauffenburg Verlag Tübingen

Psychodramatische Re-Inszenierungen: Von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie

Ullrich Ahrens, Sozialpsychiatrische Kontaktstelle Hannover

Summary. Action-oriented and experiential methods such as psychodrama work with a re-enactment of psycho-social problem settings in a theatrical space. The reality of the client system is reconstructed on a therapeutic stage. But just as the work of remem-bering in psychoanalysis is not only a reconstruction of the past, the re-enactment in psychodrama is a symbolic doubling of subjectively constructed realities. This approach is exemplified by a psychodrama session played with a patient and a fictitious psycho-drama taken from a film scene.

Zusammenfassung. Handlungs- und erlebnisorientierte Methoden wie das Psycho-drama arbeiten mit einer Re-Inszenierung von psychosozialen Problemstellungen in einem theatralen Raum. Die Wirklichkeit des Klientensystems wird auf einer therapeu-tischen Bühne rekonstruiert. Dabei lässt sich die Re-Inszenierung im Psychodrama ana-log zur Erinnerungsarbeit in der Psychoanalyse als eine symbolische Dopplung sub-jektiv konstruierter Realitäten begreifen, die über die bloße Rekonstruktion der Vergan-genheit hinausgeht. Der Ansatz wird exemplarisch anhand einer Psychodrama-Sitzung mit einer Patientin sowie einem Filmbeispiel vorgestellt.

Sage es mir und ich werde es vergessen.Zeige es mir und ich werde mich daran erinnern.Lass es mich tun und ich werde es verstehen.

Konfuzius zugeschrieben

1. Psychodrama?

Sie würden das Wort „Psychodrama“ wohl eher in einer TV-Programmzeitschrift als in einem psychotherapeutischen Fachbuch erwarten. Sie kennen es als

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Bezeichnung für ein Filmgenre und denken dabei vermutlich an eine Hand-lung, welche für die Protagonisten wohl kaum ein glückliches Ende vorsieht. Das Portal für Filmemacher kennt viele Arten von Dramen, die uns auch im eigenem Leben begegnen können: das Liebesdrama, das Ehedrama, das Suchtdrama und eben auch das Psychodrama.

Der Fachausdruck „Psychodrama“ ist von dem Wiener Psychiater Jakob Levi Moreno in die Psychotherapie eingeführt worden, wohl auch, um seinen eige-nen Ansatz gegenüber der „Psychoanalyse“ seines Zeitgenossen Sigmund Freud abzugrenzen. Der freudschen Zergliederung des Seelenlebens stellt Moreno eine Dramatisierung entgegen und wurde damit zum Begründer der Gruppentherapie, was allerdings nur wenig bekannt ist. Er holt den Patienten von der Couch und bietet ihm einen anderen Ort: eine therapeutische Bühne. Auf dieser Bühne kann der Patient, der nun „Protagonist“ genannt wird, seine Erfahrungen mit Hilfe einer Gruppe und des Therapeuten in Szene setzen. Letztlich bleibt im Falle eines therapeutischen Psychodramas zu hoffen, dass es ein besseres Ende für den Protagonisten nehmen wird, als das Wort „Drama“ erwarten ließe.

2. Auf der Probebühne

Eine psychodramatische Inszenierung wirkt auf diejenigen, die sie erleben, zuweilen wie ein Traum1 – wie ein veröffentlichter ‚Traum‘ eines Protagonisten, der inmitten einer Gruppe spielt. Zeiten und Räume, Objekte und Personen auf der Bühne verdichten und verschieben sich zu einer irrationalen Anordnung von Ereignissen.

„Im Psychodrama gibt es kein Geschlecht. Wir überschauen die Unterschiede des Alters. Im Psychodrama gibt es kein Alter. Wir überschauen die Aktualität von Geburt und Tod. Im Psychodrama gibt es keinen Tod. Die Ungeborenen und die Toten werden auf der Bühne des Psychodramas zum Leben erweckt“ (Moreno 1989: 42).

Die Wünsche des nächtlichen Traumes werden in eine fantasierte Handlung übersetzt, die davor geschützt ist, sich in einer Handlung des Alltags zu reali-sieren. Dem Träumenden sei der Zugang zur Motilität versperrt, schreibt Freud (1900=1972). Das Ausagieren der Wünsche vollzieht sich sozusagen auf einer inneren Probebühne. Dass die Wünsche vor einer Realisierung geschützt sind und dass diese sich lediglich auf einer Probebühne in Szene setzen können, fördert einen Auftrieb dessen, was auf der Bühne des alltäglichen Lebens der Verdrängung unterliegt.2

Das Psychodrama arbeitet gleichfalls mit einer Probebühne, die aber im Gegensatz zum nächtlichen Traum nicht unter der Bedingung ins Spiel kommt, dass sich jemand, der die Bühne betritt, von der Realität der Außenwelt zurück-zieht. Geschützt sind die Wünsche des Protagonisten aber gleichfalls. Sie rea-lisieren sich in einem Raum, den Moreno wenig glücklich „surplus reality“ genannt hat und der weder eine subjektive Innenwelt noch eine objektive Außen-

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welt repräsentiert, sondern etwas dazwischen. Als „eine Brücke zwischen die-sen Welten“ bezeichnet Zerka Moreno (2000: 38), was im Psychodrama geschieht.

Das Wesentliche am Traum ist nach Freud (1900) die Traumarbeit, deren Mechanismen Verdichtung und Verschiebung sind. Sie werden unter anderem eingesetzt, um im Auftrag einer intrapsychischen Zensurinstanz die Ausdrucks-formen des Traumes zu kontrollieren. Die Überwachung der nächtlichen Wün-sche hat die Funktion, dass die in Frage stehenden Wünsche nicht so darge-stellt werden, dass ein Spiel mit der Fantasie unmöglich wird und der Traum zu einem Alptraum wird, aus dem sich das Subjekt nur noch durch Erwachen retten kann. Schließlich ist der Traum, wie Freud sagt, der Hüter des Schlafs.

Wer ist der Zensor im Psychodrama und hütet das Spiel? Ist es der Thera-peut, der Protagonist oder die Gruppe? Es dürfte wohl ein Zusammenspiel die-ser drei Kräfte sein. Was ist dem Protagonisten, dem Therapeuten und der Gruppe erträglich und möglich zuzulassen? Und wo lässt die Angst einen die-ser drei Mitwirkenden sagen: „Bis hier hin und nicht weiter, das ist alles, was ich ertragen kann“ (Devereux 1976). Auch auf der Psychodrama-Bühne muss die Fähigkeit zu spielen aufrecht erhalten bleiben, sonst bricht das Spiel ab, es wird allzu bedrohlich oder allzu öde. Eine „Kontaktschranke“ (Bion 1992) zwischen Bewusstem und Unbewusstem muss aufrecht erhalten bleiben. Dies gilt insbesondere für das Psychodrama mit Menschen, die Phasen ihres Lebens psychotisch erleben. Bestimmte Realitäten sind nur in einer Form zu ertragen, die derart verkleidet ist, dass sie dem Betrachter unkenntlich wird. Und vor bestimmten Tatsachen des Lebens möchte ich am liebsten meine Augen, meine Ohren und meinen Mund verschließen.

Marcia Karp beschreibt Psychodrama nicht als eine Produktion von ‚Träu-men‘ sondern als eine Produktion von „kleinen Geschichten“ (Bennister 1998: 123). So möchte ich denn im Folgenden drei psychodramatische Geschichten wiedergeben: Die erste handelt von einem Schwindelgefühl, die zweite von einer verrückten Klinik und die dritte von einer wirklich verrückten Klinik, in der uns die Schwindelgefühle der ersten Geschichte wieder begegnen werden. Zwischen der ersten und der zweiten Geschichte wird der mögliche Raum, in dem die Geschichten spielen, theoretisch dargestellt.

3. Die Geschichte vom Schwindel I

Diese erste kleine Geschichte beinhaltet eine Reihe von ‚Träumen‘, die besser nie geträumt worden wären. Es wird von Zwang- und Gewalterfahrungen erzählt, wie diese in der Psychiatrie zu erfahren sind.

Zu Beginn einer psychodramatischen Gruppensitzung, in der die Teilneh-menden etwas sagen können, was ihnen auf dem Herzen liegt, klagt eine Teil-nehmerin – nennen wir sie „Antiope“ – über Schwindelgefühle und Brechreiz. Vielleicht sei ihr Blutdruck zu niedrig, lautet ihre erste Vermutung. Aber Antio-pe ist auch neugierig und möchte – ausgedrückt in einem treffenden Sprach-spiel – wissen, „Was hinter dem Schwindel steckt!“, und dies auf der Bühne in

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Szene setzen. Auf der Bühne sitzend beschreibt Antiope ihre Schwindelgefüh-le wie ein Karussell wilder Bilder. Ich bitte sie, die Augen zu schließen und sich ein Karussell vorzustellen, das langsam aber sicher zum Ende seiner Fahrt kommt, so dass sie wieder etwas erkennen kann. Schließlich beginnt Antiope zu sprechen. Vor einiger Zeit habe sie einen Schwangerschaftstest durchge-führt, der zu ihrer Beruhigung negativ ausgefallen sei. Die starken Blutungen hätten gleichfalls Schwindelgefühle verursacht. Sie habe deshalb einen Arzt aufgesucht. In diesem Moment ihrer Rede hält sie inne – dies sei es, was hin-ter dem „Schwindel“ verborgen sei, ihr Hass auf Ärzte. Als es ausgesprochen ist, stockt ihr die Sprache […] Nun war etwas gesagt worden, was der Schwin-del doch verhindern sollte. Der Punkt, an dem sie angelangt ist, ängstigt sie. Ihr Verhältnis zu Ärzten ist zutiefst gestört und über eine Reihe von Gewalter-fahrungen vermittelt.

Auf der Bühne bauen wir entlang einer Zeitlinie eine Reihe von Ärzten auf, denen gemeinsam ist, dass Antiope sie hasst. Eine erste Begegnung mit einem Arzt datiert aus ihrem 16. Lebensjahr. Antiope ist wegen einer Standardopera-tion in einem Krankenhaus. Im Verlaufe der Untersuchungen wird Antiope vom diensthabenden Arzt vergewaltigt. 15 Jahre später erduldet Antiope eine gynä-kologische Untersuchung, die derart „sadistisch“ verläuft, dass sie auf der Heim-fahrt in der Straßenbahn vor Schmerzen zusammenbricht. Wieder 15 Jahre später erfährt Antiope eine Einweisung – es ist nicht die erste – in die Psy-chiatrie, die von Zwangsmaßnahmen begleitet ist.

Die Rollen der Ärzte werden von GruppenteilnehmerInnen eingenommen, die im Psychodrama H i l f s - I c h genannt werden. Als Antiope sich dieser Reihe von Ärzten gegenüberstehen sieht, muss sie schlucken, sie fühlt sich klein und hilflos. Ihr kommt das Bild von den drei Affen in den Sinn, von denen der erste nichts hören, der zweite nichts sehen und der dritte nichts sagen will oder kann. Auch diese Figur wird einzeln mit jeweils einem Hilfs-Ich besetzt. Antiope entschließt sich, mit der zeitlich nahen Situation der psychiatrischen Einweisung zu beginnen. Ihr Freund, der sie zur Klinik begleitet hatte, ist zuge-gen und der Arzt. Das Aufnahmegespräch findet in einem düsteren Saal an einem Tisch statt.

Die Szene beginnt. Der Arzt wendet sich als erstes dem Freund zu, spricht mit ihm über ihren Zustand. Die beiden Männer verhandeln über ihren Zustand. Dies ist die erste Ignoranz, die Antiope erfährt: „Ich werde nicht wahrgenom-men“. Schließlich richtet der Arzt das Wort an sie, es ist der erste Satz über-haupt, den er Antiope widmet. Er schaut in die Krankenakte, hebt seinen Kopf und fragt: „An welchem Tag sind Sie geboren?“ – „Das war lange vor unserer Zeitrechnung“, lautet ihre Antwort. Was immer Antiope damit zum Ausdruck bringen wollte, der Arzt schließt die Akte, in der das Geburtsdatum vermerkt ist, und erklärt „die Sache für eindeutig“. Er verabschiedet den Freund mit den Worten, dass man sich nun um Antiope kümmern werde. Der Freund geht und Antiope fühlt sich verlassen, allein gelassen mit einem Arzt, dem sie nicht traut, der ihr naive Fragen stellt, welche sie in ihrer Wahrnehmung entweder in die Rolle einer Idiotin oder einer Verrückten bringen. Die Sorge des Arztes ist es nun, seiner Patientin eine Haldol-Spritze zu injizieren, was auf entschiedene

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Gegenwehr seitens Antiope stößt. Die Szene, die nun folgt, gehört – gelinde ausgedrückt – zu den „schmerzvollen Schattenseiten psychiatrischer Tätigkeit“ (Haltenhoff 1997). Es ist die Fixierung der Patientin und ihre Zwangsmedikati-on. In diesem Moment hole ich Antiope aus ihrer Rolle und bitte sie wahlwei-se die Position einzunehmen, die es ihr erlaubt, nichts sagen, nichts sehen und nichts hören zu wollen oder auch zu können. Aus dieser Position, die es ihr ermöglicht, sich vor einer Wahrnehmung zu schützen, erlebt sie, was an Gewalt die Psychiatrie zu bieten hat. Zwei Pfleger, ein Mann und eine Frau, gespielt von Psychiatrie-Erfahrenen, welche nur zu gut wissen, wie es zu geschehen hat, werfen Antiope, gespielt von einem Hilfs-Ich, auf ein Bett, halten sie fest und fixieren sie mit Gurten an das Bett, so dass die Spritze gesetzt werden kann. Antiope (Hilfs-Ich) beißt der Pflegerin noch in den Arm. Den Wunsch, den sie noch äußern kann, lautet: „Ich möchte meinen Freund wiedersehen“. Dieser kommt auch am nächsten Tag, um sie zu besuchen, doch von diesem ersehnten Wiedersehen fühlt Antiope nichts, weil die Psychopharmaka ihr Emp-finden von der Welt in einen dichten Nebel gehüllt haben. Sie kann ihn, sein Dasein nicht fühlen.

Aus ihrer Position schaut sich Antiope das Geschehene an. In den Augen steht ihr der Schrecken und die Angst geschrieben. Die Augen sind weit geöff-net, sie sieht, was mit ihr geschieht. Aber mit angestrengter Kraft hält sie sich den Mund zu. Sie möchte schreien ohne wieder aufzuhören. Sie möchte einen Schrei der Wut und Verzweiflung ausstoßen, den sie aber nicht herausbekommt, der ihr in der Szene tatsächlich auch nicht geholfen hätte, der nur die Diagno-se bestätigt hätte, die über sie gesprochen worden ist. „Das ist gemein“, sind ihre Worte, die sie herausbringt wie ein ängstlich verschüchtertes Mädchen, an dem Erwachsene eine ungerechte Strafprozedur vollziehen. Was hätte anders geschehen können, um einen Alptraum wie den geschilderten zu einem Ende zu bringen, das nicht versöhnt, aber die Schmerzen zu lindern vermag?

Wir beginnen die Inszenierung ein zweites Mal mit dem Aufnahmegespräch und folgen den Wünschen von Antiope: Der Psychiater wendet sich nun zuerst unmittelbar an sie und nicht an ihren Freund. Und auch wenn sie geantwortet hätte, wie sie es getan hat, hätte darüber gesprochen werden können. Dieje-nige, die die Rolle des unverständigen Arztes gespielt hat, spielt nun die Rolle des Arztes, der zu verstehen sucht. Sie, die noch sehr jung ist und gleichwohl auch erfahren ist im Vollzug der Zwangseinweisung und Fixierung, antwortet auf den Satz „Das war lange vor unserer Zeitrechnung“ spontan, ohne die Rolle vorher mit Antiope getauscht zu haben: „Sie fühlen sich sehr alt, unheimlich alt und haben vieles in Ihrem langen Leben gesehen und erfahren“. Betroffen von dieser Antwort, nickt Antiope und mit einem Seufzer stimmt sie zu. Wir können nur vermuten, dass Antiope zu vieles in ihrem langen Leben gesehen, gehört und gesprochen hat, was besser nicht gesehen, gehört und gesprochen wor-den wäre.

Ein anderer Wunsch von Antiope ist, dass der Freund bei ihr in der Klinik bleibt. Das Hilfs-Ich, welches die Rolle des Freundes übernommen hat, willigt unter der Bedingung ein, dass sie ihn in der Nacht schlafen lasse, denn er brau-che seinen Schlaf und er könne nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, am

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nächsten Morgen müsse er wieder zur Arbeit. Antiope stimmt zu, aber sie wünscht noch etwas, ein „weites Zimmer“, in dem sie „herumwandern“ kann, in dem sie „unruhig“ sein oder, sich beruhigend, die Hand ihres Freundes hal-ten kann. Der Arzt führt sie zusammen mit ihrem Freund in diesen Raum, wo das Gewünschte geschieht. Zum Ende des Psychodramas hin sitzt Antiope eng bei ihrem Freund, seine Hand fest umschlossen.

Die Protagonistin fühlt sich „sehr erschöpft, wie nach einem langen Arbeits-tag, aber der Schwindel ist fort“. Sie empfindet sich „wieder stabil, nicht schwan-kend“. Und auch wenn die Gefühle keine guten sind, die sie erlebt hat, kann sie „den Dingen wieder ins Auge schauen“.

In der Besprechung dieses Psychodramas teilen die anderen Gruppenmit-glieder mit der Protagonistin ihre Erfahrungen von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Was sie der Protagonistin vermitteln ist, dass die Gewalt nicht allein dem psychotischen Zustand des Patienten zuzuschreiben ist, sondern wesent-lich auch in der Unfähigkeit der Psychiatrie zu suchen ist, eine Antwort auf die Psychose zu finden. Die Wege, auf denen nach einer Antwort zu suchen ist, haben die Protagonistin und die Gruppe selbst aufgezeigt.

3.1 Verfehlte Begegnungen

Das Drama einer verfehlten Begegnung nimmt mit der Ignoranz des Psychia-ters seinen Lauf. Er spricht einfach nicht mit seiner Patientin, er spricht über sie, aber nicht mit ihr. Der zweite Akt einer verfehlten Begegnung ist die Nega-tion dessen, was im Jargon der Psychiatrie „Schizo-Sprache“ genannt wird. Die Aussage: „Das war lange vor unserer Zeitrechnung“, wird nicht als Einla-dung zu einer Begegnung angenommen, sondern zur Bestätigung der Diag-nose verwertet, dass hier offensichtlich eine ‚Denkstörung‘ vorliegt. In der Wie-derholung der Szene gibt das Hilfs-Ich eine ebenso einfache wie poetische Antwort, welche einen Raum eröffnet, in dem ein Sprechen wieder möglich wird.3 Dagegen symbolisiert das Psychopharmakon die Antwort, welche die Psychiatrie auf die Psychose zu geben weiß. Die Gewalt, mit der es injiziert wird, und der Widerstand der Patientin zeugen davon, dass es eine grundle-gend falsche Antwort ist. Zu diesen Verfahren kommentiert Moreno (1993: 280), dass sie den Patienten „hilflos und unartikuliert“ machen. Es verhindert das Sprechen. Das Ziel ist allein, den Wahn zum Verstummen zu bringen.

Ein wesentliches Moment der Begegnung ist aber ein Verstehen dessen, was die Botschaft des Anderen ist. Erst dann, wenn sich der Patient in seinem Zustand verstanden fühlt, erlebt er, dass das, was in seinem Inneren an zer-störerischen und bedrohlichen Elementen ist, in einem Anderen und dessen Inneren aufbewahrt und verarbeitet werden kann. Vor dem Verstehen kommt aber die Bereitstellung eines R a u m e s , der existent sein muss.4 Und eben ein solcher Raum ist es, den sich die Protagonistin in ihrem Zustand wünscht. Wenn wir diesen Raum in Anlehnung an die Aussage der Protagonistin cha-rakterisieren, dann wäre es ein Raum, der sicher genug ist, um ihr psychoti-sches Erleben aufnehmen zu können. Es wäre ein Raum, in dem ein mensch-

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liches Objekt zugegen ist, das fähig ist, eine psychotische Angst in sich aufzu-bewahren und in einer verarbeiteten Form wiederzugeben.5

Die Skulptur der drei Affen repräsentiert die verzweifelte Abwehrorganisati-on der Psychose. Angst gründet, der zweiten Angsttheorie Freuds (1926) ent-sprechend, auf dem Wirken der Aggression („Kastrationsdrohung“). Die Abwehr-barrieren richten sich wesentlich gegen diese Aggression. Wird die Wirklich-keitserfahrung eines Individuums primär eine Verfolgung durch Aggression, dann bieten sich zwei Auswege. Die erste Möglichkeit ist die Zerstörung des für die angsterzeugende Wahrnehmung verantwortlichen Objektes.6 Die ande-re, zweite und ebenso verzweifelte Möglichkeit ist die Zersplitterung des Ichs in der Absicht, sich der Wahrnehmung zu entledigen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen bedeutet, unter dem Eindruck von Todesangst, nichts wahr-nehmen zu können. Die Gedankenverbindungen lösen sich auf. Was zerstört wird, ist der Raum, dessen Existenz notwendig ist, um die Wirklichkeit symbo-lisch vermittelt denken zu können.

Moreno hat mit dem Psychodrama eine faszinierende Methode entwickelt, um einen solchen Raum zu kreieren. Es ist ein potentieller Raum, der in beson-derer Weise Formen der Begegnung erlaubt, die eine symbolische Verständi-gung über das ermöglichen, was einen Menschen in seiner Psychose zu spren-gen droht.

3.2 Der potentielle Raum

Im Psychodrama geht es wesentlich um die Fähigkeit zu spielen. Und im Spie-len geht es darum, eine Erfahrung zu re-inszenieren, was eine andere Form als die klassisch sprachliche Reflexion ermöglicht. Auch in der Tradition der Psychoanalyse ist begonnen worden zu spielen. Es waren die psychothera-peutisch zu behandelnden Kinder, welche die PsychoanalytikerInnen gezwun-gen haben, das Spiel wahrzunehmen, da eine andere Sprache mit Kindern nicht zu sprechen ist. Melanie Klein führte das Spiel in die Psychoanalyse ein, aber sie ließ spielen. Das heißt, ihre Verwendung des Spiels war die einer Ana-lyse von Spielinhalten.7 „So wie Freud den Traum deutet, deutet sie das Spiel“ (Neubaur 1987: 100). Das erinnert an den Satz von Moreno (1995: 65), in dem er sich von Freud und dessen Technik der Traumdeutung abgrenzt: „Sie ana-lysieren ihre Träume. Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen“.

Es war Winnicott (1997), der begann, mit denjenigen seiner Patienten, die noch Kinder waren, eine Partie Squiggle (‚Kritzelspiel‘) zu spielen.8 Parallel zu seiner spielerischen Arbeit hat Winnicott versucht, eine theoretische Beschrei-bung des Spielens (nicht des Spiels) zu geben. Im Kontext dieser Theorie hat er einen „Übergangsraum“ oder „potentiellen Raum“ als abstrakten Ort des Spielens konstruiert, der sich früh in der Beziehung zwischen Mutter und Kind entwickelt und sich später über das gesamte kulturelle Leben ausdehnt.

Im Verständnis von Zerka Moreno (2000: 38) ist ein Spalt zwischen subjek-tiver und objektiver Realität, zwischen Innen- und Außenwelt grundlegend für die menschliche Erfahrung. Und eben in diesem Spalt zwischen den Realitä-

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ten verortet Winnicott einen intermediären Raum, einen Ort zwischen den zwei Orten innerhalb und außerhalb des Menschen. Dieser hypothetische Bereich eines potentiellen Raumes beginnt sich im Zuge der Ablösung des Kindes von der Mutter zu entwickeln. „Das Kleinkind kann die Trennung von Objektwelt und Selbst nur vollziehen, weil es zwischen beiden keinen leeren Raum gibt, da der potentielle Raum […] ausgefüllt ist“ (Winnicott 1997: 125). Ausgefüllt wird der Raum mit dem spielerischen Gebrauch von Übergangsobjekten, welche das Kind vor depressiven Ängsten schützen, die entstehen, wenn die Mutter abwesend ist. Mit der Ablösung von der Mutter „entsteht ein riesiger Bereich für das Spiel“ (Winnicott 1997: 126). In diesem Bereich kann das Kind begin-nen, Symbole zu verwenden.

Die vom Kind verwendeten Übergangsobjekte könnten aber nicht vermitteln, würde nicht ständig ein ‚Übergangsraum‘ produziert. Die Umgrenzung des potentiellen Raumes variiert, da sie wesentlich abhängig ist vom kindlichen Vertrauen in die ihn haltende Umwelt. Ist diese Umwelt eindringend, so erdrückt sie – bildlich gesprochen – den potentiellen Raum, presst ihn auf ein Minimum zusammen. Was fehlt, ist die Distanz. Ist die Umwelt ‚tot‘, dann verliert sich der potentielle Raum in einer unheimlichen Weite, die leer erscheint. Was fehlt, ist die Nähe. In beiden Fällen wird aus Spiel tödlicher Ernst. Als Kind wie als Erwachsener brauche ich zum Spielen ein Objekt, das N i c h t - I c h ist, wel-ches mir spiegelt, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin. Irgendwo da drau-ßen muss ein Objekt existieren, auf das ich hoffen kann. Ich muss hoffen kön-nen, dass es kommt, mit mir spielt und mir damit hilft. Die ‚tödliche‘ Nähe eines bedrohlichen Objektes und die ‚hoffnungslose‘ Abwesenheit eines helfenden Objektes sind genau die beiden Momente, die in einem Leben zusammen kom-men können, und eine seelische Wunde aufreißen, die wir Psychose nennen.

Im psychodramatischen Spiel, wenn es sich gut entwickelt, wird ein poten-tieller Raum zwischen dem Protagonisten, der Gruppe und dem Therapeuten geschaffen. Es kann ein sehr haltbarer Raum sein, nicht nur, weil er durch Regeln geschützt ist, sondern auch weil er von einer Empathie der Gruppen-mitglieder getragen ist, die aus ihren Hilfs-Ich-Rollen erwächst. Denn letztend-lich ist es die Gruppe, die das helfende Objekt im wahrsten Sinne des Wortes spielt.

3.3 Die Fähigkeit, mit der Realität zu spielen I

Entwicklungspsychologisch betrachtet, ist die Fähigkeit, mit der Realität zu spielen, von wesentlicher Bedeutung. Diese bildet sich im Alter von etwa 4 bis 5 Jahren parallel zur ödipalen Phase aus.

Im Alter von etwa eineinhalb bis drei Jahren operiert das Kind in zwei ver-schiedenen Modi, um Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Im Modus der p s y -c h i s c h e n Ä q u i v a l e n z nimmt das Kind eigene Vorstellungen noch nicht als Repräsentationen wahr, sondern als direkte Abbilder der Realität. Gedan-ken werden noch wie Realität erlebt, was nicht heißt, dass diese mit der Rea-lität verwechselt werden. Aber der Effekt des Gedankens, zum Beispiel an ein

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Krokodil unter dem Bett, erzeugt die gleiche ängstigende Wirkung wie ein ‚wirk-liches‘ Krokodil unter dem Bett. „In anderen Situationen aber benutzt das Kind einen Als-ob-Modus, in dem es Gedanken als repräsentational wahrnimmt, ohne sie jedoch daraufhin zu untersuchen, ob sie der Realität entsprechen“ (Fonagy u.a. 2008: 262). Zum Beispiel spielt das Kind ‚Cowboy-und-Indianer‘: Es wird geschossen und gestorben, aber das Kind weiß, dass sein Stock bezie-hungsweise sein Gewehr keine Kugeln verschießt. Dennoch versteht es noch nicht, dass sein Stock ein Gewehr repräsentiert.

Mit der zunehmenden Integration dieser beiden Erfahrungsmodi (der psy-chischen Äquivalenz und des Als-ob) wird ein r e f l e k t i e r e n d e r oder m e n -t a l i s i e r e n d e r M o d u s der psychischen Realität hergestellt. Vorstellungen werden als Vorstellungen und nicht länger als Fakten anerkannt. Es entwickelt sich die Fähigkeit, aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Realität zu spielen (psychodramatisch: Rollentausch) sowie die Fähigkeit, Vorstellungen an der Realität zu überprüfen. „Die Kinder beginnen anzuerkennen, dass Dinge unter Umständen anders sind, als sie zu sein scheinen, dass andere Menschen die Realität auf andere Weise wahrnehmen können als sie selbst […]“(Fonagy u.a. 2008: 288).9 Damit ein Kind dies erlernt, braucht es aber ein erwachsenes Gegenüber, das „mitspielt“.

Die Fähigkeit, mit der Realität zu spielen, auf der unsere gesamte Kreativi-tät und Spontanität basiert, ist allerdings keine Angelegenheit, die einzig auf einen potentiellen Patienten zutrifft. Inwieweit ein Psychiater beziehungsweise ein Psychotherapeut fähig ist, mit der Realität zu spielen, ist auch eine span-nende Frage. Folgen wir Winnicott, dann beginnt Therapie dort, wo Therapeut und Patient miteinander zu spielen beginnen. Wenn diese Aussage wahr sein sollte, dann würde sich die Psychiatrie in ein großartiges Schauspielhaus ver-wandeln, wo neben all den Tragödien auch genügend Platz für andere Schau-spielgattungen sein sollte.

3.4 Die Fähigkeit, mit der Realität zu spielen II

Im Jahre 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, betritt ein etwa vierzigjäh-riger Mann das Sprechzimmer des jüdischen Psychiaters Moreno10 in Beacon, USA. Er schaut Moreno herausfordernd an.

Mann: „Wissen Sie nicht, wer ich bin?“Moreno: „Tut mir leid, ich weiß es nicht.“Mann im scharfen Tonfall: „Nun, mein Name ist Adolf Hitler.“

Im ersten Moment ist Moreno bestürzt, in der Tat sah der Mann Hitler ähnlich, der gleiche hypnotische Blick, die Art, die Haare zu kämmen, der Schnurrbart, ähnliche Gesten.

Moreno: „Selbstverständlich, jetzt erkenne ich Sie.“

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Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (Hesse), weil die erste Begegnung zwischen einem Patienten und dem Psychiater bestimmend für den weiteren Verlauf der Geschichte wird. Moreno nimmt gemeinsam mit dem Patienten die erste Stufe hinauf auf die Bühne und begleitet ihn in seinem Wahn. Er ‚erkennt‘ ihn und aus diesem Grunde kommt es nicht zu einem ‚Widerstand‘. Moreno greift zum Telefon und ruft zwei Pfleger, die er seinem Patienten vorstellt.

Moreno: „Herr Goering, Herr Hitler; Herr Goebbels, Herr Hitler.“

Der Patient akzeptiert die beiden Pfleger in ihrer neuen Rolle ohne Nachfrage, begrüßt sie mit Handschlag und freut sich. Da Moreno gerade eine Vorlesung vor Studenten halten will, unterbreitet er einen überraschenden Vorschlag.

Moreno: „Meine Herren, lassen Sie uns ins Theater gehen. Herr Hitler wünscht eine Rede zu halten.“

Die szenische Ausgestaltung einer theatralen Hilfswelt eröffnet dem Patienten einen offenen potentiellen Raum, in dem er seine Wirklichkeit erleben kann, und – was bedeutsam ist – die anderen spielen mit, die Pfleger als Göring und Goebbels, die Studenten als ‚Volk‘. Auf der Bühne des therapeutischen Thea-ters hält der Mann, der glaubt, Adolf Hitler habe ihm seine Identität geraubt, seine erste Rede. Das, was wir gemäß unseren Konventionen für unsere nor-male Realität halten, und das, was wir die psychotische Realität eines Patien-ten nennen, kommen nicht in Konflikt miteinander. Der Patient „Adolf“, dessen Vorname in seinem anderen Leben „Karl“ ist, sieht sich nicht gezwungen gegen den Psychiater Moreno, die Pfleger oder die Klinikrealität zu arbeiten. Karl in der Rolle von Adolf Hitler spricht über eine Lautsprecheranlage zum deutschen Volk, er sei der wirkliche Adolf Hitler, der andere sei ein Betrüger. Er werde tri-umphierend nach Deutschland zurückkehren, das Auditorium klatscht spontan Beifall. Moreno begleitet Adolf Hitler auf der Bühne, inszeniert eine Überfahrt nach Deutschland, wo diese erste Psychodrama-Sitzung mit einer bewegen-den Szene am Grab der Mutter endet. Über einige Wochen hat der Patient psy-chodramatische Sitzungen, in denen Moreno ihn auf der Bühne und im Klinik-alltag mit Charakteren versorgt, die der Patient für die Ausgestaltung seiner Erfahrungen benötigt. Den Wendepunkt des Dramas markiert eine Szene, in der der Patient nach einem Friseur verlangt, dieser auf die Bühne geholt wird, und auf Aufforderung des Patienten tatsächlich dessen Bart abrasiert. In die-sem Moment hat die äußere Realität auf der Bühne Einzug gehalten.

Der Protagonist „Adolf“ ruft: „Er ist weg, er ist weg, er ist weg, es ist vor-bei!“. Einige Zeit später sagt er, er möchte wieder Karl genannt werden.

Moreno hat die entscheidende Mittlerrolle erkannt, die das therapeutische Team für den Patienten einnehmen kann, damit dieser seine Realitäten ‚spielen‘ kann. Wie Winnicott (1997: 62) behauptet, kann Spielen prinzipiell beängstigend wir-ken, weil „es stets an der theoretischen Grenze zwischen Subjektivem und

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objektiv Wahrgenommenem steht“. Und um nichts anderes geht es in dem vor-gestellten Psychodrama, als dass ein Patient darum ringt, eine erfolgreiche Verbindung von Innen und Außen zu bewerkstelligen. In seiner Alltagsrealität scheitert er an dieser Aufgabe, das psychodramatische Spiel befreit ihn von diesem Druck. Nur die Schaffung eines intermediären Erfahrungsbereiches, eines potentiellen Raumes, „der nicht im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gestellt wird“, kann dies ermöglichen. Dieser intermediäre Bereich entwickelt sich direkt aus dem Spielbereich des Kindes und „bleibt das Leben lang für außergewöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Religion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaft-lichen Arbeit erhalten“ (Winnicott 1997: 25).11

Der Patient kann seinen Überzeugungen im Spiel auf der Bühne eine leben-dige Bedeutung verleihen, die, wenn der potentielle Raum ein sicherer Raum ist, ihn nicht überwältigt und für die er nicht überwältigt wird, die er nicht abweh-ren muss und andere nicht in ihm und an ihm abwehren.

4. Die Geschichte vom Schwindel II

Bewegen wir uns aus der Zeit des Jahres 1939 in das Jahr 2008, von Beacon nach Paris in die psychiatrische Klinik Sainte-Anne, wo der Filmemacher Ilan Klipper den Alltag von Patienten und Pflegern auf einer geschlossenen Stati-on in der Tradition des cinéma direct dokumentiert hat. Die Bilder des Filmes laufen unkommentiert und zeugen von einem sich stets wiederholenden Mus-ter der Interaktion zwischen Patienten und Klinik. Dieses Muster beinhaltet im Kern einen produzierten Widerstand zwischen therapeutischem Personal und den zu behandelnden Patienten. Die Patienten der Psychoanalyse sind eben nicht gleichsam von innen heraus „im Widerstand“ oder „ohne Krankheitsein-sicht“ – wie es in der Psychiatrie heißt. Widerstand und Non-Compliance wer-den in der Begegnung produziert. „Zwei Höllenhunde bewachen den Eingang zur Psychiatrie“, schreibt Thomas Bock (2006: 7). „Sie heißen Krankheitsein-sicht und Compliance. Nur wer beide Forderungen erfüllt, bekommt – ohne Zwang – Zugang zu den psychiatrischen Hilfsangeboten“. Aber dort, wo Höl-lenhunde die Tür bewachen, öffnet sich kein Spielraum, worin kreative und hilf-reiche Begegnungen möglich sind.

4.1 Die Szene

Wählen wir einen Filmausschnitt, dessen Geschehen in einer Fixierung endet. Zu Beginn sehen wir eine junge, dunkelhaarige Frau in hellblauer Anstaltsklei-dung auf ihrem Bett sitzen. Ein männlicher Pfleger, nennen wir ihn „Herrn M.“, steht vor ihr, seine Arme in die Hüfte gestemmt – übrigens eine durchaus belieb-te Haltung in dieser Anstalt.

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Herr M. spricht zu der Patientin: „Gut, es ist alles sauber! Ah, es gibt ein Problem. Deine Hose ist unter dem Pyjama. Du musst sie ausziehen. Es geht auch nur im Pyjama. Bevor du die Schuhe ausziehst, zieh die Hose aus.“

Eine Pflegerin erscheint im Bild. Zwischen dem Pfleger Herrn M. und der Pati-entin ergibt sich eine Auseinandersetzung über die Hausordnung, die zu besa-gen scheint, dass Patienten in der Klinik sich ausschließlich in Anstaltskleidung zu bewegen haben, ebenso wie das Pflegepersonal in der Szene ausschließ-lich in weißen Kitteln zu sehen ist. Die Patientin möchte auf das Gelände gehen, eine Zigarette rauchen. Draußen ist es kalt. Die Patientin hat ihre eigene Klei-dung, einen Pullover und eine Hose, verborgen unter der Anstaltskleidung angezogen. Nun steht auch die Pflegerin, die Arme in die Hüfte gestemmt, vor der sitzenden Patientin.

Herr M. zeigt mit ausgestreckten Arm und einem Finger auf die junge Frau: „Drinnen ist es warm. Du brauchst keine doppelte Schicht. […] Drau-ßen wirst du frieren. Rauchen ist kein Muss!“

Patientin: „Das ist auch eine Strafe, oder?“ Die Diskussion geht hin und her.

Pfleger M. möchte es beenden: „Dann rauchst du eben schneller, aber du behältst deine Hose nicht unter der Pyjamahose an. – Keine Diskussion!“

Patientin: „Doch!“ Pfleger M.: „Nein, ich bin es leid!“ Patientin: „Man kann doch diskutieren.“ Pfleger M.: „Nein. Mit dir kann man nicht diskutieren. Beweis: Du willst uns

eine Freude machen, aber du machst nicht das, worum wir dich gebeten haben. Los! – Man hat dich gebeten, einen Schlafanzug anzuziehen […].“

Patientin: „[…] ich wollte Ihnen eine Freude machen.“ Die Freude, die offensichtlich darin besteht, Anstaltskleidung anzuziehen,

hat nun ein Ende: Beide Pfleger gehen auf die Patientin zu, fassen sie an den Armen und beginnen an ihrem Schlafanzug zu zerren.

Patientin: „Ich habe doch den Pyjama angezogen […]. Hören Sie auf mich zu nerven!“

Pfleger M.: „Du willst es so, du bekommst eine Injektion.“

Beide Pfleger verlassen das Zimmer – Filmschnitt – sie haben das Zimmer in Begleitung zwei weiterer Pfleger wieder betreten. Diese stehen augenschein-lich in der Hierarchie höher und zeigen sich in der Anrede der Patientin distan-zierter. Sie übernehmen die Führung, an erster Stelle eine Pflegerin, nennen wir sie „Frau A“. Mit vereinten pflegerischen Kräften wird die Patientin nun aus-gezogen. Die Patientin lässt diese Handlungen an ihrem Körper über sich erge-hen, aber nicht ohne Widerworte.

Patientin: „Ich verstehe nichts.“ Pflegerin:12 „Ach ja? Was haben Sie nicht verstanden?“

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Patientin: „Ich habe nicht verstanden, warum Sie das machen!“ Pflegerin A.: „Fräulein Miova. Sie müssen hier die Hausordnung respek-

tieren.“ Patientin: „Aber ich möchte nicht hier sein.“ Pfleger: „Wenn Sie so weitermachen, werden Sie nicht entlassen.“ Pflegerin: „So kommen Sie hier nicht raus!“ Pfleger: „Heben Sie bitte den Po! […] “

Das Pflegepersonal rollt den Körper der Patientin hin und her, um ihr die Klei-dung bis auf die Unterhose auszuziehen und den Anstaltspyjama wieder anzu-ziehen. Zwischen der hinzugekommenen Pflegerin A. und dem Pfleger M. beginnt sich ein ‚Nebenkriegsschauplatz‘ aufzutun.

Pflegerin B. spricht mit leiser Stimme zu Pfleger M.: „Hör zu, wir lassen sie so […].“

Pfleger M. : „Aber wie stehe ich jetzt da? – Ich bin nicht mehr glaubwür-dig.“

Pflegerin A.: „Man setzt keine Injektion wegen seiner Glaubwürdigkeit. Und bespricht es nicht vor dem Patienten.“ […] Sie ist verängstigt, aber nicht unruhig.“

Filmschnitt. Der Zuschauer kann nun sehen, wie ein Bett für die Fixierung vor-bereitet wird. Das Personal kennen wir bereits, es wird nebenbei über Dienst-liches gesprochen. Dann wird es ernst. Pflegerin A. kritisiert nochmals Pfleger M. für sein aus ihrer Sicht unprofessionelles Verhalten. Sie sagt es ihm sehr bestimmt und Pfleger M., der zuvor noch die Patientin zurechtgewiesen hatte, ist nun unversehens selbst der Gemaßregelte. Dieser Rollenwechsel ist ihm sichtlich unangenehm.13

Wenig später wieder ein Filmschnitt: Die Patientin, Fräulein Miova, kauert auf ihrem Bett, die Beine an ihren Oberkörper herangezogen, die Arme darü-ber verschlossen. Die Anstaltskleidung liegt auf dem Bett, sie trägt ihren eige-nen Pullover, keine Hose. Eine Neonröhre blinkt über ihrem Bett, schließlich geht sie an. Filmschnitt.

Eine Stimme aus dem Off: „Sie hat sich wieder angezogen!“ – „Oh, Fräu-lein Miova!“ – „Los! Kommen Sie mit!“ – „Es geht Ihnen nicht gut.“

Patientin: „Doch!“ Die Kamera blickt wieder auf das zur Fixierung vorbe-reitete Bett.

Die Patientin wird herangeführt. Ihre Frage lautet: „Warum machen Sie das?“

Pfleger: „Weil Sie sich gefährden.“ Pflegerin: „Sie bringen sich in Gefahr, weil Sie sich nichts sagen lassen

und nur Unsinn machen.“ Patientin: „Ich will mich aber anziehen. Sich Anziehen ist kein Unsinn.“ Pflegerin: „In der Tat nicht. Aber ich habe Ihnen erklärt, dass die Hausord-

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nung zu respektieren ist. […]“ Der Pullover wird ihr wieder ausgezogen. Pfleger: „Wir wissen, es geht Ihnen nicht gut. […] das wird Ihnen bei der

Fixierung etwas helfen. Weil Sie verwirrt sind.“ Patientin: „Ich bin nicht verwirrt, Sie sind es.“

Die verängstigte Patientin wird zunehmend verzweifelter, all dies geschieht während sich ihr Körper unwillkürlich auf das Bett legt, ohne dass das Perso-nal Hand anlegen müsste.

Pflegerin „Sie können sich jetzt ausruhen. Das ist nur ein Gürtel.“ Patientin weint nun: „Warum tun Sie mir das an?“ Pfleger: „Fräulein Miova! – Wir tun Ihnen nichts an, sondern wir schützen

Sie vor sich selbst.“

Während die Gurte angelegt werden, gehen die Gedanken der Patientin zurück zu einem früheren Todeswunsch, sie wollte sterben, damals als sie in Bulgari-en gelebt hat. Nun vollkommen fixiert, äußert sie, sterben zu wollen – nur zur Erinnerung: Am Anfang der Szene wollte die Patientin eine Zigarette rauchen.

Patientin: „Nein, ich will sterben.“ Pfleger: „ Ach. Sieh an! – Wie in Bulgarien? Als Sie es probiert haben?“ Patientin: „Nein, ich will erst meinen Mann sehen.“ Es folgen letzte Handgriffe: „Ganz schön viel. Sie wollen vieles!“ Pflegerin B.: „Die Fixierung wird Ihnen gut tun […], so werden Sie sich

ausruhen.“ Patientin: „Ich will noch keinen Arzt, ich will meinen Mann sehen.“ Pflegerin: „Nur der Arzt kann Ihnen erlauben, Ihren Mann zu sehen!“ Patientin: „Man braucht die ärztliche Erlaubnis, um seinen Mann zu sehen!“ Pflegerin B.: „Ich denke, Sie werden gleich etwas Tercian bekommen, weil

ich glaube, dass es Sie beruhigen wird.“ Patientin. „Und mein Mann?“ Pflegerin B.: „Nein.“ Patientin: „Versetzen Sie sich in meine Lage!“ Pflegerin B.: „Das mache ich gerade und denke, dass es Ihnen nicht gut geht.“ Patientin: „Und […]“ Pflegerin B.: „Und ich denke gerade, was hätten Sie gemacht, wenn Sie

an meiner Stelle wären?“

Ende der Szene, die Pfleger verlassen das Zimmer, die Patientin blickt einsam in die Kamera.

4.2 Psychodramatische Re-Inszenierung

Die vorgestellte Szenenfolge beinhaltet ein Drama in mehreren Akten. In der gesamten Sequenz haben wir fünf Akteure agieren gesehen und gehört: die

69Psychodrama

Patientin und vier Personen des Pflegepersonals. Im Off agieren ein Ehemann, ein Arzt und ein virtueller Repräsentant der Anstaltsordnung, der die Fäden in der Hand hält, ohne dass er sichtbar würde. Mit einer ebenso schlichten wie wirksamen Intervention hätte das Geschehen nicht eskalieren müssen. Pfle-ger M. hätte das Zimmer der Patientin Miova betreten, gesehen, was er gese-hen hat, und den kreativen Umgang des Fräulein Miova mit der Anstaltsord-nung gewürdigt und wäre wieder hinausgegangen. Ende der Geschichte.

Dazu ist es nicht gekommen. Aber wenn wir das Geschehene einer Selbst-beforschung unterziehen, könnten wir die Mitglieder eines fiktiven therapeuti-schen Teams zu einer psychodramatischen Begegnung mit der oben geschil-derten Szene einladen. Hierbei können wir schlicht der Patientin Miova und ihrem verzweifelten Ausruf am Ende der Szene folgen: „Versetzen Sie sich in meine Lage!“. Dies ist es, was im Psychodrama R o l l e n t a u s c h genannt wird. Ein solcher vollzieht sich jedoch nicht nur in einem kurzen Gedankenaus-flug, sondern beinhaltet eine sinnliche Erfahrung.

4.2.1 Der Rollentausch

Bitten wir ein experimentierfreudiges weibliches Mitglied des therapeutischen Teams mit der Patientin die Rollen zu tauschen. Das heißt, sich auf das Bett zu legen und aus dieser Perspektive vier Pfleger, gespielt von anderen Mitglie-dern des Teams, über sich gebeugt zu sehen. Das bedeutet weiterhin, zu erfah-ren, wie diese beginnen sie bis auf die Unterhose auszuziehen und dann wie-der anzuziehen. Und das umfasst schließlich, zu erfahren, wie diese dabei ihren Körper berühren, auf sie herabschauen und sie mit Strafe androhenden Sätzen anherrschen: „Keine Diskussion!“ – „Du bekommst eine Injektion“ – „Wenn Sie so weitermachen, werden Sie nicht entlassen.“ – „So kommen Sie hier nicht raus!“

Wie wäre es, diese Erfahrung theatral zu erleben? Welches Körperempfin-den würde sich in dieser Lage entwickeln? Welches Raumerleben würde sich einstellen? Werden meine Grenzen gewahrt oder verletzt? Ist mein Raum ein-geengt oder geweitet? Welches psychische Alterserleben (Devereux 1976) wird erfahren, wenn ich ausgezogen und wieder angezogen werde? Und wenn ich mich möglicherweise wie ein Kind fühle, wie alt ist dieses Kind? Welches Statuserleben habe ich, wenn ich von unten nach oben blicke? Welches geschlechtsspezifische Erleben stellt sich ein, zieht mich ein Mann oder eine Frau aus? Welche Emotionen bewegen mich in dieser Rolle? Scham, Angst, Aggression? Von welchen Fantasien, Erinnerungen, Gedanken ist das Erleben in dieser Rolle begleitet? Welche Metaphern, Märchen, Geschichten assoziie-re ich mit diesem Erleben?

Dies sind alles Fragen, die sich auch ein Schauspieler stellt, wenn er eine neue Rolle erprobt oder die sich ein Regisseur stellt, um einen Akteur zu einer glaubwürdigen Darstellung anzuleiten. Und der oben beschriebene Rollentausch wäre möglicherweise hilfreich, um nachzuvollziehen, welche Handlungen dazu führen, dass eine Patientin in eine tiefe, pathologisches Erleben fördernde Regression getrieben wird, die nicht im Dienste eines zu stärkenden Ichs steht.

Ullrich Ahrens 70

Einen tatsächlichen Rollentausch mit einer Patientin vorzunehmen, die fixiert wird – sich also selbst fixieren zu lassen –, ist wenig ratsam: Es würde offen-baren, dass dies eine traumatische Erfahrung sein kann. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass die Patientin im Verlauf der Fixierung Gedanken zum eigenen Tod äußert. „Warum tun Sie mir das an?“, ist die verzweifelte Äußerung eines Menschen, dem der Sinn verloren zu gehen droht. Die Patientin ist bewegungs-unfähig und damit ‚ohnmächtig‘ – im wahrsten Sinne ohne Macht. Sie sehnt ein helfendes Objekt herbei, ihren Ehemann. Kurz bevor der Vorhang fällt und die Tragödie ihre Katastrophe erreicht, wird die Leugnung der Gewalt seitens des Pflegeteams zunehmend zynischer:

Patientin: „[…] ich will sterben.“ Antwort: „Ach sieh an!“ […] Patientin: „ […] ich will erst meinen Mann sehen.“ Antwort: „Ganz schön viel. Sie wollen vieles.“

Es ist nicht viel, was die Patientin will. Die ihr noch zur Verfügung stehende psychische Kraft konzentriert sich auf die Bewältigung der einen Aufgabe, sich aus dem Trauma zu retten. Eine traumatisierende Erfahrung ist durch die über-wältigende Anwesenheit eines bedrohlichen Objektes und die Abwesenheit eines helfenden Objektes gekennzeichnet. Beide Bedingungen sind für die Situation der Fixierung von Fräulein Miova erfüllt.

4.2.2 Sprachspiele

Die Exposition bis hin zur Katastrophe ist begleitet von sprachlichen Interakti-onsformen zwischen Pflegeteam und Patientin, die durchsetzt sind von mysti-fizierenden Botschaften. All diese Äußerungen könnten auf der psychodrama-tischen Bühne gesprochen und ‚erhört‘ werden. Mittels der Äußerungen selbst wäre ein experimentell spielerischer Umgang förderlich. Den Sprechern wäre es frei gestellt, in diesem Bereich kreativ zu arbeiten, wie zum Beispiel Sub-jekt und Objekt auf Satzebene zu vertauschen, Verneinung und Bejahung umzu-kehren, Satzmelodie, Tonhöhe und Sprechtempo zu variieren. Das Zuhören kann aus der Rolle des ursprünglichen Empfängers geschehen, der Patientin, oder aus der Rolle des ursprünglichen Senders der Botschaft, also in einer Umkehrung der Kommunikationssituation. Einige Beispiele (a) aus der fragli-chen Szene und jeweils eine mögliche Variante (b):

(a) „ D u willst es so, du bekommst eine Injektion.“ (b) „ I c h will es so, du bekommst eine Injektion.“

(a) „ S i e können s i c h jetzt ausruhen.“ (b) „ W i r können u n s jetzt ausruhen.“

71Psychodrama

(a) „Die Fixierung wird I h n e n gut tun […], so werden S i e s i c h aus-ruhen.“

(b) „Die Fixierung wird u n s gut tun […], so werden w i r u n s ausru-hen.“

(a) „Wir tun Ihnen n i c h t s an, sondern wir schützen S i e vor s i c h selbst.“

(b) „Wir tun Ihnen e t w a s an, weil w i r uns vor I h n e n schützen.“

Die sich aus dem spielerischen Umgang mit den Äußerungen ergebenden Ein-sichten könnten die Akteure der Gruppe aufhorchen lassen und sie auf neue, hilfreiche Ideen bringen. Durch die in ihrem Aussagewert veränderten Beispiel-sätze in (b) wird nunmehr deutlich, dass in (a) ein Team spricht, das seine Bedürfnisse nach Ruhe und Schutz verleugnet.

Die Patientin ist in diesem Geschehen die Einzige, die die Verschiebung in der Kommunikation erkennt. „Ich bin nicht verwirrt, Sie sind es“, sagt sie zu dem Pfleger, der behauptet, sie werde fixiert, weil sie verwirrt sei. Bis auf die-sen einen Umstand der intakten Reflexionsfähigkeit der Patientin sind in die-ser Szene alle notwendigen Bedingungen des Double-bind-Mechanismus erfüllt.14 Es sind zwei oder mehr Personen anwesend, von denen eine das ‚Opfer‘ ist. Innerhalb der Hausordnung existiert ein primäres negatives Gebot, das besagt: „Tu das und das nicht, oder ich bestrafe dich“, und ein zweites sekundäres Gebot, das besagt: „Betrachte das nicht als Strafe“ oder „Betrach-te mich nicht als Strafinstanz.“ Ein drittes negatives Gebot untersagt dem ‚Opfer‘, das Feld zu räumen – was auf einer geschlossenen Station wohl gegeben ist.Wenn wir die Handlungslogiken der an der Szene Beteiligten rekonstruieren, indem wir die Aussagen der Patientin (a) mit denjenigen des Pflege-Teams (b) vergleichen, dann ergibt sich folgende Gegenüberstellung:

(a) Wer die Ordnung nicht respektiert, der wird bestraft. (b) Wer die Ordnung nicht respektiert, ist verwirrt und unausgeglichen.

In der Frage der Fixierung könnte die jeweilige Logik so formuliert werden:

(a) Die Strafe ist Injektion, Fixierung und das Nicht-Entlassen-Werden. (b) Fixierung hilft, beruhigt und schützt.

Aus der Sicht einer Patientin, die sich möglicherweise hätte verwirren lassen, könnte eine zusammengefügte Logik wie folgt lauten:

Wenn mich jemand bestraft, dann tut er dies aus Fürsorge.

4.2.3 Das Drama des Psychiaters

Mystifizierung hat einen Verschleierungseffekt. Es geht darum, das, was der Fall ist, zu verbergen (Laing 1969: 274). Aber was ist der Fall? Pflegerin A. deu-

Ullrich Ahrens 72

tet es an, wenn sie der Patientin zum Abschied sagt: „Und ich denke gerade, was hätten Sie gemacht, wenn Sie an meiner Stelle wären?“ Das ist selbstver-ständlich eine ungeheuerliche Überforderung für eine fixierte und verängstig-te Patientin, dass diese nun auch noch einen verständnisvollen Rollentausch mit der Pflegerin vollziehen soll.

Noch zu Beginn des Dramas hatte Pflegerin A. die Patientin vor der ange-drohten Injektion bewahrt und darüber hinaus die Lage der Patientin erkannt: „Sie ist verängstigt, aber nicht unruhig.“ Nun appelliert die Pflegerin A. an das Verständnis der Patientin, aber was soll die Patientin verstehen?

Im Versuch, diese Frage zu beantworten, richten wir auf der psychodramati-schen Bühne den Ort ein, an dem die Anweisung für eine medikamentöse oder manuelle Fixierung – zumindest in deutschen Kliniken – erteilt wird: das Arzt-zimmer. Wir bitten einen psychotherapeutisch arbeitenden Psychiater auf die Bühne und statten seinen Arbeitsplatz mit zwei Stühlen aus, was seinen in der Institution auszuübenden Rollen entspricht. Auf der Rückenlehne des einen Stuh-les steht „Therapeut“ geschrieben, auf dem anderen „Vollzugsbeamter“. Stellen wir uns den Therapeuten als einen Vertreter seines Faches vor, dessen Ideal es ist, ressourcenorientiert und verstehend zu arbeiten. Seine Aufgabe wäre es, darauf zu achten, aus welcher Rolle heraus er welche sprachlichen Interventio-nen gegenüber der Patientin vornimmt und dementsprechend den Stuhl zu wech-seln.

Zur Überwachung der Szene laden wir einen Vertreter der Haus- und The-rapieordnung auf die Bühne ein, dessen Rolle es ist, die Interventionen des Psychiaters kritisch zu beobachten und gegebenenfalls einzuschreiten.

Der Psychiater empfängt, auf dem Stuhl „Therapeut“ sitzend, die Patientin Minova und hört den Anfang ihrer Geschichte. Sie habe dem Pfleger eine Freu-de machen wollen und den Klinikpyjama angezogen. Weil es aber draußen kalt gewesen sei, habe sie ihre persönlichen Sachen darunter anbehalten. Der The-rapeut würdigt diese durchaus intelligente Lösung ihres Problems, nämlich einerseits für sich und den eigenen Körper zu sorgen, um nicht zu frieren, ande-rerseits auf diese Weise die Regeln des Hauses einzuhalten zu versuchen.

Der Vertreter der Haus- und Therapieordnung schreitet ein und interveniert: Verstöße gegen die Hausordnung seien entweder als selbst- oder fremdge-fährdend zu interpretieren!

In diesem Moment muss unser Psychiater, so wohlmeinend er auch ist, den Stuhl wechseln, sich vom Therapeutensessel auf den harten Stuhl des Voll-zugsbeamten setzen und der Patientin, sollte sich ihr Verhalten wiederholen, die Fixierung androhen. Eben noch in der Rolle einer Person, die versteht und die eventuell glaubte, psychotische Symptome haben einen zu entschlüsseln-den Sinn, muss er nun jemand sein, der Sanktionsmaßnahmen androht, zu denen ihn die Institution verpflichtet.

Die Patientin Miova berichtet weiter, dass ihr die Anweisungen des Pflegers unsinnig erschienen und sie versucht habe mit ihm zu diskutieren. Der Psy-chiater wechselt wieder auf den „Therapeuten“-Stuhl und richtet seine Auf-merksamkeit auf die Fähigkeit der Patientin, sich selbst zu behaupten, den eigenen Standpunkt zu verteidigen.

73Psychodrama

An dieser Stelle hat der Vertreter der Haus- und Therapieordnung seinen zweiten Auftritt: Den Anweisungen des Pflegepersonals sei Folge zu leisten. Zuwiderhandlungen seien als selbst- oder fremdgefährdend zu interpretieren!

Der Psychiater müsste wiederum den Stuhl wechseln und das für ihn unbe-queme Spiel könnte so fortgesetzt werden. Aus der Perspektive des Psychia-ters wäre es interessant zu erfahren, mit welcher Rolle er sich identifiziert und welche Rolle er dissoziieren möchte. Und sollte es der Fall sein, dass die Rolle des Vollzugsbeamten innerlich nicht eindeutig bejaht wird und dem idealen Selbstbild des Helfenden widerspricht: Mit welchen Sprachmanövern könnte dieser Konflikt gegenüber der Patientin verleugnet werden? Eine die Fixierung begleitende Aussage wie: „Sie können sich jetzt ausruhen, das ist nur ein Gür-tel“, wäre eine mögliche Pseudolösung, um mit diesem Dilemma, das der Psy-chiater, zwischen den Stühlen sitzend, empfindet, umzugehen.

Aus der Rollenperspektive der Patientin wäre interessant zu erfahren, inwie-weit ihr in den Interaktionen des Klinikalltags deutlich ist, aus welcher Rolle heraus der Psychiater ihr gegenüber interveniert: Ist dieses Medikament und dessen Verordnung eine therapeutisch hilfreiche Maßnahme gegen meine Ängste und aus der Motivation verabreicht worden, zu helfen und zu schützen? Oder aber ist das Medikament zur inneren Fixierung verordnet worden? Und wenn ein und dasselbe Psychopharmakon in dem einen und zugleich in dem anderen Kontext verschrieben wird, wie wirkt dieses Mittel als psychisches Objekt in dem Patienten? In einer kleinianischen Sprache formuliert: als ,gutes‘ und/oder als ,böses‘ Objekt?

Diese in der psychiatrischen Klinik herrschende Kontextvermischung, die wir am Beispiel der Rolle eines Psychiaters durchgespielt haben, gilt ohne Ein-schränkung auch für die Interventionen des Pflegepersonals, welches letztlich ausführendes Organ der Zwangsmaßnahmen ist.

Wenn aber das Personal einer psychiatrischen Klinik (wie in unserem Bei-spiel) Zwangsmaßnahmen nicht als das benennt, was sie sind, nämlich Maß-nahmen der sozialen Kontrolle, sondern diese umdefiniert als therapeutisch motivierte Intervention zum Wohlergehen des Patienten, dann wird mystifiziert. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an den körperlich empfundenen Schwindel der zu Beginn vorgestellten Protagonistin, der daraus resultierte, dass sie intrapsychisch Gewalterfahrungen seitens des Arztes nicht mit der erhofften Heilerfahrung, die der Arzt gemeinhin repräsentiert, integrieren konnte.

Eine andere Patientin der Klinik Sainte-Anne schreit ihre Verwirrung darü-ber, dass die Medikamente in ihrem Kopf toben, ihrem Psychiater ins Gesicht:

„Ich möchte nicht noch mehr bekommen! (nun den Arzt mit aller Kraft anschreiend) Sie nerven mich!“ Der Arzt antwortet betont ruhig: „Wir wer-den also gezwungen sein, noch mehr zu geben […].“

Der Patient zwingt den Psychiater dazu, dass der Psychiater auf den Patien-ten Zwang ausübt? In vielen Fällen erkennen die Patienten auf intuitive Weise, dass eine Art von Konfusionstechnik – in dem obigen Beispiel bezüglich der Verantwortung für die Erhöhung der Medikamentendosis – praktiziert wird, weil

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ihnen diese Art der Praxis aus der eigenen Familiengeschichte allzu bekannt ist. In diesem Fall ist der psychiatrische Kommunikationsstil eine Neuauflage eines Familiensystems, das zumindest potentiell Schizophrenie fördernd ist. Das kann nicht Sinn therapeutischer Interventionen sein.

Im Schlussakt unserer fiktiven psychodramatischen Inszenierung könnten wir versuchen, die Wirkungen einer Entmystifizierung zu untersuchen, um die Knoten, in denen Patienten wie Pflegepersonal und Therapeuten gefesselt sind, zu entwirren. Was wäre eine eindeutige und klare Kommunikation für den Fall von Zwangsmaßnahmen?15 Zumindest wäre eine Übernahme der Verant-wortung seitens der Mitarbeiter erforderlich, dass die Regeln XY notwendig für die Aufrechterhaltung der Klinikordnung sind, dass bei Verletzung der Regeln XY mit Sanktion A, B, C erst gedroht und dann diese bei Wiederholung aus-geführt werden.

Was würde jemand in der Rolle des Psychiaters in der Begegnung mit der Patientin M. empfinden, würde er diese mit der folgenden Aussage konfrontie-ren: „Frau Miova, Sie haben die Regeln zur Kleiderordnung verletzt, diese Regeln sind zum Wohle der psychiatrischen Einrichtung aufgestellt worden, den Verstoß der Hausordnung ahnde ich mit Fixierung und Erhöhung der Medi-kamentendosis!“ Und auf die mögliche Nachfrage der Patientin: „Das ist auch eine Strafe, oder?“ würde ein klares „Ja!“ als Antwort folgen, „und ich weiß auch, dass die Fixierung zu einer Retraumatisierung führt“. Was würde jemand in der Rolle der Patientin erleben, wenn er sich nicht zusätzlich zu all den Bedrängnissen, die sein Erleben belasten, noch mit einem verschleiernden „Nein“ und anderen Schuldgefühle verschiebenden Botschaften auseinander-zusetzen bräuchte?

5. Vorhang

Schließen wir den Vorhang nicht ohne zu erwähnen, dass in den vorgestellten fiktiven Szenen die Interaktionsformen zwischen Patienten und pflegerisch oder therapeutisch tätigem Personal im Vordergrund standen. Andere notwendige Fragen unter anderem an die Haus- und Therapieordnung bleiben offen, zum Beispiel mit welcher Begründung ein Regelverstoß als selbst- beziehungswei-se fremdgefährdend interpretiert wird.

Auch sind die vorgestellten psychodramatischen Inszenierungsformen nur eine Auswahl von Möglichkeiten, spielerisch mit einem Thema umzugehen, das mehr Anlass zu leidvollen Erfahrungen gibt als zur Freude. Das Psycho-drama bietet eine Vielzahl von Elementen spielerischen Lernens. Auf der Bühne werden abstrakte Themen erlebnisnah visualisiert, der Körper wird zum Erkennt-nisorgan, der Blick durch die Augen einer anderen Person verändert die Per-spektive und bewusste Verfremdungen und symbolische Verdichtung von Sinn-gehalten dekonstruieren und konstruieren Wirklichkeiten neu.

„Das Spiel ist die wichtigste und lebens- und evolutionsgeschichtlich früheste Form menschlichen Lebens. Den weitaus größten Teil unseres Handlungswissens, unserer

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kommunikativen Fähigkeiten, unserer Kompetenz im Umgang mit Konflikten, unserer Durchsetzungsfähigkeit und unserer Kreativität haben wir nicht im Seminarräumen, sondern im Spiel erworben“ (von Ameln, Gerstmann und Kramer 2007: 48).

Moreno hat eine ganze Klinik zu einem potentiellen Raum umgewandelt, aber dies war nur möglich, weil alle Beteiligten eingeladen waren, mitzuspielen. Und nur wenn der seelische Schmerz einen potentiellen Raum findet, in dem er erkannt und anerkannt wird, kann er sich transformieren.

Anmerkungen

1 Holmes (1998: 141) glaubt, dass die Wirkmechanismen des Psychodramas bes-ser verstanden werden können, wenn der Zustand des Protagonisten wie auch (in einem etwas geringeren Grade) des Hilfs-Ichs während des Spiels als ein Zustand leichter Trance oder „Träumerei“ („reverie“) betrachtet wird.

2 Vergleiche Morgenthaler (1986).3 Bereits Freud und Breuer (1895=1974) hatten sich von ihren Patientinnen beleh-

ren lassen. Die Psychoanalyse verdankt ihr Entstehen nicht der Aufstellung irgend-einer Hypothese, welche den genialen Hirnwindungen ihres Entdeckers entsprun-gen wäre, sondern der Erfahrung Freuds mit seiner Patientin Emmy v. N., die ihn aufforderte: „Lassen Sie mich erzählen, was ich Ihnen zu sagen habe“. Freud hatte verstanden und begann auf den Sinn einer Rede zu hören, anstatt ihren vermeint-lichen Unsinn zu negieren. Dies ist der Ursprung der psychoanalytischen Grund-regel. Warum die Kunde von Freuds Entdeckung bis heute nicht zur Psychiatrie trotz psychoanalysierender Ärzte durchgedrungen ist, bleibt mir ein Rätsel. Noch nach über 100 Jahren seit dem Erscheinen der Traumdeutung im Jahr 1900 wird in der psychiatrischen Diskussion die Entdeckung des Sinns der Psychose immer wieder einmal als neue Errungenschaft gefeiert. Und immer wieder müssen neue Institutionen, die diesen Sinn verteidigen, ins Leben gerufen werden. In den letz-ten Jahren hat sich zum Beispiel in verschiedenen Städten und Regionen Deutsch-lands eine Institution etabliert, die sich „Psychose-Seminar“ nennt. Hier wird ver-sucht, etwas abseits der Psychiatrie eine gemeinsame Sprache zwischen Psy-chose-Erfahrenen, Angehörigen und professionellen Mitarbeitern zu entwickeln. Anspruch des Seminars ist es, im Kontext eines ‚herrschaftsfreien‘ Trialogs die Psychose als „sinnhafte Erfahrung“ zu diskutieren und nicht ausschließlich als medizinische Kategorie (siehe Bock [u.a.] 2000).

4 Vergleiche Segal (1996: 76).5 Siehe Aebi [u.a.] (1993: 36).6 Vergleiche Segal (1983: 80).7 Ich denke, M. Klein mangelte es schlicht an der Fähigkeit zu spielen. Ihr Umgang

mit dem Spiel in der Psychoanalyse spiegelt ihren Umgang mit den eigenen Kin-dern, die sie als Analyse-Patienten missbrauchte. Dies ist wahrlich kein Spiel, sondern ein Eindringen in den Innenraum des eigenen Kindes. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der in der modernen Psychoanalyse inflationär zitierte Mechanismus der projektiven Identifikation eben der projektiven Identifi-

Ullrich Ahrens 76

kation von M. Klein bezüglich ihrer Kinder entstammt. Was ist der Angriff des Säug-lings auf die böse Brust anderes als die projektive Identifikation der Mutter M. Klein? Dies wäre nicht weiter dramatisch, wenn es als Theorieelement nicht die psychoanalytische Sichtweise auf psychotisch erlebende Patienten mitbestim-men würde und so zu einer falschen Lokalisation der gewaltigen Aggression, die einen wesentlichen Kern der Psychose bildet, führt. Diese Aggression ist dann nicht in einer gewalttätig eindringenden Umwelt zu suchen, sondern in den Fan-tasien des Patienten, die wiederum ihren Kern in der projektiven Identifikation des fantasierenden Säuglings haben. Wie uns die Säuglingsforschung belehrt, ist es eben nicht der Säugling, der fantasiert, sondern die erwachsenen Mütter, Väter und Psychoanalytiker, die Fantasien über ihre Kinder und Patienten spinnen. Wer sich für den Zusammenhang von Gegenübertragungsfantasien und Theorieent-wicklung interessiert, lese Melanie Klein. Ihre Welt und ihr Werk, geschrieben von Grosskurth (1993).

8 Ich kann nur vermuten, ob Winnicott auch mit seinen erwachsenen Patienten einen spielerischen Umgang pflegte. Es deutet einiges darauf hin, dass er es tat (Khan 1977: 357). Auch waren es andere erwachsene Psychoanalytiker, die neidisch auf das blickten, was Winnicott da Lustvolles trieb. Pontalis (Neubaur 1987: 94f) hätte selbst gerne einmal eine Partie Squiggle mit Winnicott gespielt. Aber der Psychoanalyse fehlt bis zum heutigen Tage das spielerische Moment, es fehlt wohl an Mut, sich mittels des Spiels auf etwas einzulassen, wie Winnicott es getan hat. Das Spiel bei Winnicott verkommt eben nicht zum bloßen Beobachtungsda-tum oder zum ausschließlichen therapeutischen Instrument, sondern das Spiel wird bei Winnicott „zu einer Form der Zusammenarbeit, die eben nicht Zusam-men-Arbeit ist, sondern Zusammen-Spiel“ (Neubaur 1987: 99).

9 Das Mentalisierungskonzept ist an die Theory-of-Mind-Forschung angelehnt, die wesentlich von Peter Fonagy und Mary Target geprägt ist.

10 Siehe die Falldarstellung in Moreno (1959: 191-200).11 Ein faszinierendes Experiment aus der Altersforschung unterstützt die Hypothe-

se, dass die Wirkungen eines spielerisch gestalteten potentiellen Raumes auf das psychische und somatische Wohlbefinden signifikant sind. Ellen J. Langer (1991) hat es an der Harvard-Universität im Jahre 1979 durchgeführt. Die Intention ihres Versuchsaufbaus war, eine Gruppe von 75-80-jährigen Männern in einen Bewusst-seinszustand zu versetzen, den sie im Alter von 55 Jahren gehabt haben. Hierzu wurde die Gruppe eingeladen für fünf Tage in einem Haus zusammenzuleben, das vollständig im Design des Jahres 1959 ausgestattet war. Die Gruppe schau-te unter anderem Filme und Nachrichten, diskutierte politische und sportliche Ereignisse, die im Jahr 1959 aktuell waren. Das heißt, die Gruppenmitglieder spiel-ten, a l s o b sie sich im Jahr 1959 begegneten. Zusätzlich wurde die Altersre-gression dadurch intensiviert, dass die Männer angehalten waren, im Präsens über das Geschehene zu sprechen und jeweils auf den anderen zu blicken als wäre dieser 20 Jahre jünger. Das Ergebnis des Experiments war, dass objektiv gemessene, als irreversibel geltende Symptome des Alterns infolge der psycho-logischen Einwirkungen positiv verändert worden waren.

12 Die Stimmen lassen sich nicht eindeutig zuordnen, da die Personen mit dem Rücken zur Kamera stehen.

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13 Pflegerin A.: „Was ich bereits sagte: Keine Diskussion vor dem Patienten. Man sagt nicht vor ihm: ‚Ich bin sonst nicht glaubwürdig‘. Nie diskutierst du vor dem Patien-ten! Ich verstehe, was du empfunden hast, M. – Aber nicht vor dem Patienten! Es hängt nicht von unserer seelischen Verfassung ab, ob er eine Injektion bekommt. Ich habe das selbst auch schon erlebt. […] Schau dir die Statur der Person an!“. (Beide zurren die Gurte fest und schauen sich über das Bett hinweg an.) „Du kannst ihr kein Loxapac geben, wenn sie verängstigt ist! Wenn sie unruhig wäre, hätte sie tausend Gelegenheiten gehabt, uns zu schlagen!“. Pfleger M.: „Sie ist total unaus-geglichen!“. Pflegerin A.: „Das Problem ist, dass es nur präventiv ist! Nachher kom-men die Ärzte, sie werden es ihr geben! Du spritzt Tercian und kein Loxapac! Ver-stehst du, was ich meine. Verstehst du es?“. Pfleger M.: „Ja“. Pflegerin A. glaubt ihm nicht: „Oder sagst du es wegen mir?“. Pfleger M.: „Nein, aber vorhin […]“.

14 Siehe hierzu Bateson, Jackson, Laing, Lidz, Wynnne (1969).15 Siehe hierzu den ausgezeichneten Aufsatz von Schmidt (2010).

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Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 79-110Stauffenburg Verlag Tübingen

Videoanalysen als Instrument der Datenerhebungund Datenanalyse am Beispiel von dreiKarotisoperationen

Massimo Serenari, Technische Universität Berlin

Summary. The article discusses communication processes and the role of improvisa-tion in the handling of emergency cases in the operation room. It concentrates on the carotid operation whose characteristics are explained briefly. The communication pro-cesses involved are described in detail and discussed on the basis of protocols taken from video recordings. All recordings were made 2001-2003 in the Hospital Sant’Agostino, Modena (Italy), as part of the interdisciplinary research project KOSIS (Cooperation and Security in Complex Socio-technical Systems). The research project dealt with issues of security and communication processes operating in complex systems. Disciplines involved were semiotics, sociology, psychology, and computer science.

Zusammenfassung. Der Beitrag analysiert, welche Rolle die Improvisation und die damit im Zusammenhang stehenden Kommunikationsprozesse bei der Bewältigung von Notfällen im OP spielen. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Operation an der Halsschlagader (Karotisoperation), deren Eigentümlichkeiten kurz erläutert werden. Dialogprotokolle basierend auf Videoaufnahmen werden verwendet, um die stattfinden-den Kommunikationsprozesse zu untersuchen. Alle Aufnahmen sind 2001 bis 2003 im Krankenhaus Sant’Agostino, Modena (Italien), im Rahmen des interdisziplinären For-schungsprojektes KOSIS (Kooperation und Sicherheit in komplexen soziotechnischen Systemen) entstanden. Das Forschungsprojekt hat sich mit Problemen der Sicherheit und der Kommunikation im komplexen System OP auseinandergesetzt. Beteiligte Dis-ziplinen waren Semiotik, Soziologie, Psychologie und Informatik.

1. Fall – Standardfall – Notfall

Im Rahmen des KOSIS-Projektes hat sich die Semiotik zum Ziel gesetzt, die während einer OP auftretenden Kommunikationsprozesse genau zu beschrei-ben und zu analysieren, damit man von den individuellen Fällen abstrahieren

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und zu allgemeineren Kategorisierungen, Schemata und Modellen gelangen kann (vgl. Serenari 2003, 2004, Cebulla und Serenari 2004). Solche Modelle können vor allem noch unerfahrenen Ärzten und dem OP-Personal helfen, sich ein präzises Bild der Arbeitssituation zu machen und zu lernen, verschiedene Optionen mental bereitzuhalten. Eine Notfallsituation (vgl. die Aufnahme vom 21.11.2001) entsteht nicht (nur), weil sich ein unerwarteter Unfall ereignet und niemand genau weiß, wie man reagieren soll. Vielmehr hat sich im dokumen-tierten Fall auf einer Intensivstation (21.11.2001) etwas ereignet, was durch-aus im Bereich des Möglichen lag (eine Arterienprothese ist wegen einer Infek-tion geplatzt). Das Ereignis ist rechtzeitig festgestellt worden (der Patient war unter ständiger Beobachtung in der Intensivstation). Der Pfleger hat sofort durch einfaches ständiges Drücken auf die betroffene Stelle das Schlimmste verhindert und die Blutung verlangsamt.

Was aus diesem Fall einen Notfall macht, ist die ungünstige Konstellation: Alle OPs sind besetzt, so dass ein routinemäßiger Eingriff unmöglich ist. Wir konnten zudem beobachten, dass der Chefchirurg des Krankenhauses, der gerade operiert, in einem solchen Fall informiert wird und dass er abweichend reagiert (er empfiehlt eine temporäre Abklemmung der Arterie, um Zeit zu gewin-nen – 9:46:31 Uhr). Der für den blutenden Patienten zuständige Chirurg ent-scheidet sich in kurzer Zeit (9:49:23 Uhr) für eine improvisierte Operation in der Intensivstation. Nach dieser Phase der Unschlüssigkeit (mehrere Optionen sind möglich, keine liefert eine optimale oder sichere Lösung) tritt eine Phase der Routine ein. Die Aufnahme zeigt ein erhöhtes Tempo (Zeitknappheit), doch laut Experteninterview mit dem Chefanästhesisten läuft alles nach Plan. Alle Akteu-re gehören zum eingespielten und kompetenten OP-Fachpersonal. Aus Zeit-knappheit und durch das Setzen neuer Prioritäten werden lediglich gewisse Arbeitsschritte übersprungen oder verschoben. So fordert der Chirurg ein ste-riles Tuch für den zu operierenden Bereich. Weil die OP-Schwester verzögert reagiert und zuerst die Handschuhe sucht, äußert er ungehalten: „Lass die Handschuhe jetzt, gib mir ein Tuch!“ Normalerweise hat die Gewährleistung der Sterilität Vorrang, aber in diesem Fall – so ein kommentierender Anästhesist – kann die Vernachlässigung dieser Maßnahme keinen großen Schaden anrich-ten: Es besteht schon als Ursache des Prothesenlecks eine Infektion, so dass von außen keine wesentliche Verschlechterung hinzukommen kann. Jetzt gilt es, das Leben des Patienten zu retten, das heißt die Blutung zu stoppen. Übri-gens trägt der Chirurg während der ganzen Operation auch keinen Mundschutz. Was sich hier abspielt, könnte man als „Improvisierte Maßnahmen zur Bewäl-tigung eines unerwarteten Notfalls“ überschreiben. Improvisation heißt aber nicht, dass man sich eher zufällig an eine Lösung oder an die jeweils in dem Moment richtige Entscheidung herantastet. Wirklich zufällig geschieht hier nichts. Aufgrund von Erfahrungsunterschieden reagieren Chirurg und Hilfspersonal unterschiedlich: Die OP-Schwestern halten sich fast automatisch an die routi-nemäßigen Schritte eines OP-Verlaufs, der Chirurg reagiert bewusst auf die neue gefährliche Situation und setzt neue Prioritäten: Er entscheidet, welche Veränderungen im OP-Verlauf getroffen werden. So kann der Unterschied zwi-schen (implizitem) Standardplan und Improvisation beschrieben werden.

81Videoanalyse OP

Spezielles Interesse hat für uns die Beschreibung der Interaktions- und Kom-munikationsprozesse, die den Übergang von einer Handlungseinheit zur ande-ren steuern: Wie koordinieren sich die verschiedenen Akteure in der veränder-ten Situation? Wie steuert der Chirurg die Koordination? Welche Diskrepan-zen im Verhalten vom Chirurg und Hilfspersonal treten auf und wie werden sie bewältigt?

2. Improvisation

„Improvisation“ ist ein diffuser Begriff, der in vielen Bereichen Anwendung fin-det. Man redet von „Improvisation“ im künstlerischen Bereich (Musik, Theater), in der Linguistik, in komplexen Systemen, wo es zum beruflichen Alltag gehört, unerwartete Probleme oder Ausfälle bewältigen zu müssen – etwa in der Kern-technologie, im OP-Saal, im Cockpit. Viel spricht dafür, in einer Diskussion der Improvisation unnötige Verallgemeinerungen zu vermeiden. Doch selbst gewief-te Wissenschaftler neigen dazu, das komplexe Feld der Improvisation durch ungewöhnliche Assoziationen zu erweitern. Der Neurologe Oliver Sacks hat zum Beispiel Folgendes bemerkt:

„Von Mozart, dessen musikalisches Gedächtnis zu den genauesten aller Zeiten gehör-te, wird berichtet: wenn er (nach einer erstaunlichen Improvisation) gebeten wurde, ‚das noch einmal zu spielen‘, hätte er es nie wieder genauso gespielt, konnte es gar nicht, sondern hätte immer eine neue Variation erfunden. Mozart mag in diesem Sinn als Auf-nahme-Maschine versagt haben, aber so ist es bei einem gesunden, lebendigen Gehirn eben, so soll es auch sein“ (Sachs 1991: 59).

Auch Debus (2008: 246) hat sich der Musik zugewandt und im Bebop und in dessen prominentestem Vertreter, Charlie Parker, ein bedeutendes Beispiel für die Methode des Strukturalismus gefunden. Aber es geht hier nicht nur um die Komplexität des musikalischen Schaffens, das dank der strukturalistischen Methode beschrieben werden kann – vielmehr geht es darum, wie das Phä-nomen „Improvisation“, dem der Verdacht von Unendlichem und Unreduzier-barem anhaftet, auf eine geschlossene, aus einer endlichen Anzahl von Kom-ponenten bestehende Struktur reduziert werden kann. In diesem Sinne hat das Phänomen „Improvisation“ einige Eigenschaften, die wir aus dem sprachlichen Bereich kennen. Verbleiben wir kurz bei Charlie Parker. Der Forscher Owens fand über 100 Formeln, die sich in Parkers Improvisationen finden:

„Many of these are specific to certain keys […] or to particular pieces. Some occur in earlier swing music, particularly in the work of Lester Young, but others originated with Parker himself, and later became common property among musicians working in the bop style. Although it is based on a limited number of such formulae, Parker’s work is neither haphazard nor ‚formulaic‘ in a restricted sense: the arrangement of the formu-lae was subject to constant variation and redisposition, and his performances of a piece were never identical“ (Sadie 2001: 132).

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So wie Mozart wiederholt sich Charlie Parker nie: Jede Vorführung ist indivi-duell und einzigartig. Was hier im künstlerischen Bereich passiert, ereignet sich aber auch im Alltagsleben, ohne viel Aufsehen zu verursachen. Um ein belieb-tes Beispiel von Roland Posner zu verwenden: Kein Mensch bindet sich die Schnürsenkel zweimal genau auf dieselbe Art und Weise zu, das heißt mit genau denselben Körperbewegungen. Das Schnürsenkel-Zubinden erfolgt auf unterschiedliche Art und Weise, je nachdem, ob man es nur für sich selbst macht, oder wenn jemand es anderen zeigt, oder wenn man jemandem bei-bringen will, wie Schnürsenkel zugebunden werden. Auf unsere Diskussion der Improvisation im OP-Saal übertragen, soll das heißen, dass das OP-Team ein breites Spektrum von Varianten durchläuft: Eine Operation kann so normal und banal verlaufen, als würde der Chirurg mit seinem Team nichts anderes tun als Schnürsenkel zubinden, und in extremen Fällen kann sie so k ü n s t l e r i s c h sein, als würde der Chirurg ähnliche Improvisationsfähigkeiten einsetzen wie der begabte Musiker. Daher lohnt es sich, beide Aspekte im Hinterkopf zu behalten: Schnürsenkel-Zubinden und Bebop-Improvisation. Bei der Improvi-sation Charlie Parkers beobachten wir – wie in der Sprache – eine Art Doppel-gliederung: Parker verfügt über ein G r u n d a l p h a b e t von musikalischen Mitteln (in der Sprache „Phonemen“), mit denen er Formeln konstruiert (in der Sprache „Wörter“), die zum Teil auch schon vor ihm existierten und mit denen er schließlich unendlich viele Variationen (in der Sprache „Äußerungen“) kre-ieren kann. Dass Charlie Parker in seinem musikalischen Schaffen eine gewis-se Anzahl von neuen Formeln erfinden kann, unterscheidet ihn vom normalen Sprachbenutzer, der in der Regel keine neuen Wörter erfindet. Betrachtet man aber die Sprache als lebendiges Phänomen, so weiß man doch, dass ständig neue Wörter erfunden werden (selbst wenn viele der neuen Erfindungen kurz-lebig sind). Im Rahmen unserer Reflexion ist gerade interessant, dass die For-meln im Repertoire Charlie Parkers nicht ausschließlich von ihm erfunden wur-den. Und diejenigen die er erfindet, finden sich später im Werk von anderen Musikern. So besteht seine Kunst darin, die Balance zwischen zwei Extremen zu halten: „Parker’s work is neither haphazard nor ‚formulaic‘ in a restricted sense“ (Sadie 2001: 132). Parker improvisiert, indem er sich zwischen W i l l -k ü r und S t e r e o t y p bewegt, ohne jemals in eines der beiden Extreme zu verfallen.

3. Beschreibung der Karotisoperation

In der Gefäßchirurgie ist die Beseitigung von Ablagerungen in der Halsschlag-ader (Karotiden) keine ungewöhnliche Operation. Betroffen sind vor allem älte-re Patienten. Meistens tritt das Problem an beiden Arterien auf, so dass es erforderlich ist, nach dem Eingriff an der ersten Arterie relativ bald einen zwei-ten Eingriff an der anderen Arterie folgen zu lassen. Rein technisch besteht die Hauptschwierigkeit darin, das Gehirn des Patienten während der Operation ausreichend mit Blut zu versorgen. Meistens erfolgt dies über die nicht ope-rierte Arterie, die im Kopfbereich nicht nur die eine Gehirnhälfte versorgt, son-

83Videoanalyse OP

dern durch kleinere Gefäße mit der anderen Halsschlagader indirekt verbun-den ist und somit auch die andere Gehirnhälfte versorgen kann. Bedenkt man aber, dass die betroffenen Patienten meistens eine Verengung beider Arterien aufweisen, wird deutlich, dass man mit Problemen rechnen muss.

In Italien werden seit langem zwei Methoden praktiziert. Erst Ende der 1990er Jahre ist eine dritte Methode hinzugekommen, die in Videoaufnahmen doku-mentiert ist. Man kann (i) den Patienten in Vollnarkose operieren. Vorteil: Durch die Intubation ist der Patient vom Anästhesisten optimal versorgt. Nachteil: Der Patient und dessen Gehirnfunktion können nur indirekt (durch technische Appa-rate) überwacht werden, und diese Art der Überwachung garantiert keine hun-dertprozentige Sicherheit. Bei Lokalnarkose (ii) verhält es sich umgekehrt: Der Patient ist nicht intubiert: Die Versorgung bei Komplikationen ist schwieriger und geschieht möglicherweise nicht rechtzeitig. Die Kontrolle der Gehirnfunk-tion erfolgt allerdings durch direkte Zusammenarbeit mit dem Patienten: Auf-tretende Probleme werden sofort registriert. Die letzte Methode (iii) stellt eine Verbindung von (i) und (ii) dar: Der Patient bekommt am Anfang eine Vollnar-kose, und während dieser Zeit legen die Chirurgen die Arterie frei. Unmittelbar danach soll der Patient aufwachen und nur noch durch Lokalanästhesie betäubt sein. Es ist hier nicht möglich, auf alle Details der Operation einzugehen. Her-vorgehoben sei nur, dass bei dieser Methode (iii) die Vorteile von (i) und (ii) ohne deren Nachteile verwirklicht werden sollen.

Von besonderer Bedeutung ist in dieser Operation die Kommunikation zwi-schen dem Patienten und dem Anästhesisten mithilfe eines Gummiballs. Der Patient wird vor der Operation instruiert, einen Gummiball (oder eine Gummi-puppe) in der Hand zu halten und nach Aufforderung zu drücken, so dass der Ball quietscht (Abb. 1 und 2).

Abb. 1-2: Die Anästhesieschwester zeigt dem Patienten vor der Operation die Gummi-puppe und drückt, damit die Puppe quietscht.

Während der Chirurg die zu operierende Stelle freilegt, soll der Patient lang-sam aufwachen. Der Anästhesist soll dann prüfen, ob die Voraussetzungen für die Kommunikation mit dem Patienten durch den Ball gegeben sind, und die Kommunikation erfolgreich stattfinden kann. Während der Operation wird der Patient regelmäßig aufgefordert, mit der Hand (der gefährdeten Körperhälfte) den Gummiball zu drücken, so dass der Ball quietscht und alle Akteure erken-

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nen, dass der Patient seine Motorik (über die gefährdete Gehirnhälfte) ange-messen kontrollieren kann. Im kritischen Moment – die Arterie wird abgeklemmt und die direkte Blutzufuhr wird unterbrochen – prüft das Team, ob der Patient die Abklemmung aushalten kann. In dieser Phase wird in der Regel mindes-tens fünf Minuten lang getestet, ob der Patient mit der Hand, die von der ent-sprechend betroffenen Gehirnhälfte gesteuert wird, den Gummiball (bezie-hungsweise die Gummipuppe) drücken kann. So häufen sich die Aufforderun-gen seitens der Teammitglieder und, im positiven Fall, die akustischen Signa-le des Patienten. Hat der Patient die Probe bestanden, dann sinkt die Aufmerk-samkeit der Teammitglieder und der Patient wird in längeren Zeitabständen aufgefordert, Rückmeldung zu geben. Kollabiert der Patient in der kritischen Phase, dann wird die Operation mit anderen Mitteln fortgesetzt, nämlich durch Einsatz eines Bypasses. Für eine schematische Darstellung siehe Abb. 3-6.

Abb. 3: Die linke Halsschlagader wird während der Operation abgeklemmt. Die Blut-zufuhr wird unterbrochen und die linke Gehirnhälfte erhält zunächst zu wenig Blut.

Abb. 4: Kurz nach der Abklemmung erhält die betroffene linke Gehirnhälfte im norma-len Fall Blut von der anderen Halsschlagader, weil die zwei Gehirnhälften durch kleine Blutgefäße verbunden sind.

Abb. 5: Der Patient hält in der rechten Hand, die von der linken Gehirnhälfte gesteuert wird, den Gummiball.

85Videoanalyse OP

Abb. 6: Der Patient drückt den Gummiball. Der Ball quietscht.

4. Ball-Kode und Morsekode

Betrachtet man den Ball-Kode, der die Kommunikation zwischen OP-Team und Patienten regelt, so würde man zuerst an eine Art Morsekode denken, mit hauptsächlich zwei Werten, „zwei Figuren“ nach der von Nöth (2000: 222) über-nommenen Terminologie, und zwar: Geräusch / kein Geräusch. Das heißt, es liegt hier ein digitaler, binärer Kode vor. Der Semiotiker würde schnell – Nöth folgend – bemerken, dass erstens der Morsekode nicht binär ist und zweitens, dass der Ball-Kode verglichen mit dem Morsekode unpräziser und unzuverläs-siger ist. Die Unterscheidung zwischen digital und analog ist ein zentraler Bestandteil jeder semiotischen Kode-Analyse und weitgehend unbestritten. In der Tat aber ist die Unterscheidung beziehungsweise die Grenze zwischen digi-tal und analog fließend:

„Gedruckte Texte gelten als Prototyp der digitalen Kodierung, aber in der handschriftli-chen Übertragung kommen analoge Elemente der Kontinuität zwischen den diskreten Buchstaben hinzu“ (Nöth 2000: 218).

Zum ersten Punkt: Der Morsekode ist kein binärer Kode mit zwei Elementen – Punkten und Strichen –, sondern ein digitaler Kode mit drei Figuren: Punkt, Strich, Pause (Nöth 2000: 224). Interessanterweise werden auch Pausen kom-biniert. Das heißt, es gibt verschiedene Pausenlängen, die als Sequenzen von Pausen derselben Länge verstanden werden können, so wie eine Sequenz von Punkten oder Strichen: Eine (zeitliche) Pausenlänge eines Punktes trennt die Zeichenelemente eines Buchstabens; eine Länge zweier Punkte trennt Buchstaben und eine Länge von fünf Punkten markiert Wortgrenzen. So viel zum Morsekode.

Zum zweiten Punkt: Der Morsekode besteht aus zwei a k t i v e n Elementen – Punkt, Strich – und aus einem p a s s i ve n Element: Pause. Damit ist gemeint, dass eine zufällige Hervorbringung von Punkten oder Strichen extrem unwahr-scheinlich ist, während dagegen das Ausbleiben von einem Signal als Signal, das heißt eine Pause, auch von Störungen im Übertragungskanal hervorge-bracht werden kann. Der Morsekode begegnet dieser Schwäche ziemlich effek-

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tiv, indem die Abgrenzungsfunktion der Pause – wie schon erwähnt – von einer bestimmten zeitlichen Länge abhängt: Längere Pausen während der Übertra-gung einer Nachricht würden sofort auf Störung oder Unterbrechung hinwei-sen; Pausen, deren Länge nicht genau den vorgegebenen Werten entspricht – die Länge von einem Punkt, zwei Punkten, fünf Punkten – würden als Pro-dukt von Störungen interpretiert. Der Ball-Kode ist viel primitiver. Er hat zunächst etwas mit dem klassischen 0-1-Binärkode (oder: Stromimpuls / kein Stromim-puls) gemeinsam. Das banale Problem ist nun: Wie kann ich ein 0-Signal bezie-hungsweise Kein-Stromimpuls-Signal (in unserem Fall: kein Drücken des Balls und daher kein Quietschen) von einer zufälligen Störung im Kanal unterschei-den? Normalerweise wird hier Redundanz eingesetzt. Anstatt der folgenden Korrelation (links sind die Bedeutungen):

A = 00 B = 01 C = 10 D = 11

kann man durch einen redundanteren Kode Ambiguität besser vermeiden:

A = 0001 B = 1000 C = 0110 D = 1001

Das Beispiel (nach Eco 1985: 249) zeigt, dass es schwieriger wird, durch Zufall eine falsche Bedeutung zu generieren. Die Elemente der Botschaft werden so kodiert, dass ein komplexeres Muster entsteht; eine 0 allein hat keine Bedeu-tung, auch nicht als distinktives Element (Figur). Was passiert dagegen wäh-rend der OP? Der Ball-Kode sieht als aktives Signal ein Drücken des Balls vor, was sich als akustisches Signal (Quietschen) anhört und von allen Anwesen-den sofort als Mitteilung – „ich bin da, mir geht es gut, ich kann hören und ich kann reagieren“ – verstanden wird. Aber dieser anscheinend digitale Kode geht in der Praxis in einen analogen Kode über: Das Quietsch-Signal hat keine bestimmte Länge, keine bestimmte Lautstärke, keinen bestimmten Rhythmus und kein Wiederholungsmuster. Das Auftreten eines Signals verweist auf eine motorische Tätigkeit des Patienten (besser: dessen Hand); das allein ist aber noch keine ausreichende Garantie von einem einwandfreien Zustand (ausrei-chende Blutversorgung der entsprechenden Gehirnhälfte). Ein leises, kurzes Quietsch-Signal kann im Gegenteil einen bevorstehenden Zusammenbruch des Patienten anzeigen. Aber selbst das ist nicht eindeutig: Möglich ist auch, dass der Patient aufgrund von Altersbeschwerden – zum Beispiel Arthritis – den Ball nicht richtig drücken kann. Außerdem können verschiedene Ursachen dasselbe bewirken, nämlich ein schwaches undeutliches Signal. Solche Pro-bleme zeigen, wie andere Signale, neben dem vom Ball hervorgebrachten akustischen Signal, berücksichtigt und aufmerksam verfolgt werden müssen.

87Videoanalyse OP

So entsteht ein breites Spektrum von Möglichkeiten: Von dem Fall, in dem mit dem Patienten durch eine Vielfalt von Mitteln und in einer Situation herrschen-der Unsicherheit kommuniziert wird, bis zu dem glücklichen Fall, in dem das Drücken des Balls so eindeutig und die Reaktion des Patienten so schnell erfolgt, dass über dessen stabilen Zustand kein Zweifel besteht. Ich hatte das Glück, beide Extreme beobachten und aufnehmen zu dürfen, so dass eine ver-gleichende Analyse möglich ist.

5. Artikulationsaufwand und Verstehensaufwand: mundfaul versus denkfaul

In Bezug auf den Kode stellt sich die wichtige Frage des Aufwandes für den Kodebenutzer. Es gibt zwei Typen von Aufwand – so wie es zwei Akteure in einem Kommunikationsprozess gibt: Sender und Empfänger. Es gibt den Auf-wand des „mundfaulen“ Senders, der den geringstmöglichen Artikulationsauf-wand einzusetzen versucht, und es gibt den Aufwand des „denkfaulen“ Emp-fängers, der versucht, eine Mitteilung mit dem geringstmöglichen Verstehens-aufwand zu erfassen (Posner 2001). Die zwei Typen von Aufwand stehen im Gegensatz zueinander. Daher neigt jede Sprachgemeinschaft dazu, einen Kode zu entwickeln, der ein Gleichgewicht garantiert, damit sowohl der mundfaule Sender als auch der denkfaule Empfänger zufrieden gestellt wird und dadurch die Effizienz der Kommunikation optimiert wird. Hier liegt das klassische Pro-blem des Maßes an Ausführlichkeit vor, das notwendig und sinnvoll ist, um eine Botschaft zu übertragen. Beschreibt man dieses Phänomen mit den Begriffen „Redundanz“ und „Musterung“ (Bateson 1968), so ist klar, dass der Sender so wenig Redundanz wie möglich anstrebt (Ökonomie der Übertragungszeit), wäh-rend der Empfänger so viel Musterung wie möglich wünscht (Ökonomie der Interpretation).

Es gibt allerdings einen weiteren interessanten Aspekt, der mit der Beschaf-fenheit des Kodes und der hier erwähnten Antinomie zusammenhängt, näm-lich die Frage des Kodierungsaufwands. Auch in dieser Angelegenheit besteht eine Opposition zwischen Systemaufwand und Performanzaufwand (vgl. Pos-ner 1983, 2001), die sich umgekehrt proportional zueinander verhalten: Ent-weder man erhöht den Lernaufwand des Benutzers, um ihm und der Sprach-gemeinschaft später eine umso zeitsparendere Kommunikation zu ermögli-chen. Oder man reduziert den Lernaufwand und nimmt eine Erhöhung des Per-formanzaufwandes in Kauf. Ein bekanntes Beispiel dieses Gegensatzes in der schriftlichen Kodierung ist die Logogrammschrift der Chinesen (großer Lern-aufwand bei starker Reduzierung der Länge eines Textes) und die weit verbrei-tete Alphabetschrift (kleiner Lernaufwand und längere Texte). Obwohl sich welt-weit die Alphabetschrift durchgesetzt hat, sollte die Tatsache zu denken geben, dass die Logogrammschrift immer noch lebendig ist und die spezielle Kombi-nation der beiden Systeme in der japanischen Sprache sogar vorteilhafter als die beiden extremen Lösungen erscheint. Die Frage, die sich hinter dieser Dis-kussion verbirgt, ist die Frage der Spezialisierung. In der chinesischen Kultur

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hat eben die Spezialisierung einer sozialen Gruppe, die, im Unterschied zur Masse der Bevölkerung, der Schriftsprache kundig war, diesen speziellen Kode als vorteilhaft erscheinen lassen. Auch im medizinischen Bereich findet eine starke Spezialisierung statt, nicht nur zwischen Facharzt und allgemeinen Hel-fern beziehungsweise Pflegepersonal, sondern auch unter Ärzten. So konnte ich bei einem Notfall in Modena (29.5.2001) beobachten, wie der diensthaben-de Chirurg, der in der Nacht einen polytraumatisierten jungen Patienten ope-riert, nicht in der Lage ist, festzustellen, ob die Lunge so stark betroffen ist, dass es sinnvoll und notwendig ist, einen Teil davon wegzuoperieren. Auch am nächsten Morgen ist die Diskussion der Chirurgen, Chefanästhesisten und Radiologen von abwartender Haltung und von Zweifeln geprägt, bis der Spe-zialist, der Thoraxchirurg eintrifft, die Z e i c h e n des Patienten richtig inter-pretiert (wie sich herausstellen wird) und die folgenschwere Entfernung eines Teils der Lunge als gefährlich und unnötig verwirft.

Beschränken wir jetzt die Diskussion auf den besprochenen Operationstyp. Es handelt sich um eine ganz spezielle Situation. Auf der einen Seite steht der intubierte, oft sehr alte Patient, auf der anderen das medizinische Team (Chi-rurg, Anästhesist, Hilfspersonal). Was kann, was soll der Patient lernen, um mit dem Team zu kommunizieren? Und wie viel oder wie wenig ‚Mundfaulheit‘ darf das Team dem Patienten zumuten? Hinsichtlich des ersten Punktes ist klar, dass dem Patienten im schnellen Lehrgang nur ein Kode beigebracht wer-den kann, der so einfach wie möglich ist. Das spricht zugunsten des einfachen Ball-Kodes. Der zweite Punkt ist noch wichtiger: Wie die Videoaufnahmen bele-gen, wird das Problem intuitiv gelöst, wobei ich vermute, dass ein Explizit-Machen der praktizierten Strategie dem jungen Mediziner und generell dem Auszubildenden eine vorteilhafte Klarheit verschaffen würde. Das Team geht eindeutig davon aus, dass dem intubierten Patienten die größtmögliche ‚Mund-faulheit‘ zugestanden werden muss. Nun ist das Team dran, mit der kleinst-möglichen ‚Denkfaulheit‘.

Das Team betreibt während der gesamten Operation einen bewundernswer-ten Verstehensaufwand, um die Zeichen des Patienten zu interpretieren. Es gibt zwar Fälle, in denen sich der Patient auch mit dem einfachen Ball-Kode und mit relativ geringem Aufwand – er ist also ‚mundfaul‘ – klar ausdrücken kann. Dennoch geht das Team prinzipiell von einem schwer zu verstehenden Patienten aus und überprüft sorgfältig und argwöhnisch alle Zeichen des Pati-enten, bevor sich eine gewisse Normalität oder Routine einstellt. Das Team ist immer für die schwierigste und am meisten störungsbeladene Kommunikation gewappnet. Ist der Fall einfach, dann schaltet das Team sozusagen von der „künstlerischen Improvisation“ auf routiniertes „Schnürsenkel-Zubinden“ um.

6. Drei Karotisoperationen – Protokolle der Videoaufnahmen und Analyse

In allen aufgenommenen Fällen besteht das Team aus zwei Chirurgen, einem Anästhesisten und zwei Helferinnen, einer für die Anästhesie und einer für die

89Videoanalyse OP

Chirurgie. Der zweite Chirurg und die Chirurgieschwester spielen in den fol-genden Protokollen keine wesentliche Rolle.

6.1 Beispiel 1 – Die Karotisoperation vom 17.3.2003 – Zeitspanne der Beobachtung: 14:52:43 – 15:33:38 (Stunde: Minute: Sekunde)

6.1.1 Beispiel 1 – Protokoll

14:52: 43 Die Patientin ist wach, aber die kritische Phase ist noch nicht eingeleitet. Der Anästhesist fordert die Patientin auf, den Ball zu drücken. Der Anästhesist steht neben der Patientin. Die Kommunikation ist ausschließlich verbal. Die Patientin reagiert sofort.

Der Anästhesist ist offen-sichtlich sehr entspannt.

14:52:46 Anästhesist: „Genug, genug. So ist’s in Ordnung.“

Auch wenn der Kamera-winkel nicht erlaubt, die genaue Position des Kopfes der Patientin zu bestimmen, kann man wenige Minute später feststellen, dass der Kopf der Patientin fast voll-ständig abgeschirmt ist (Abb. 7: 15:02:06)

Abb. 11: 15:12:01 Abb. 12: 15:16:46 Abb. 13: 15:19:06 Abb. 14: 15:33:38

Abb. 7: 15:02:06 Abb. 8: 15:09:39 Abb. 9: 15:09:54 Abb. 10: 15:11:06

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14:54:51 Anästhesist: „Drücken Sie den Ball!“ Die-ses Mal hat sich der Anästhesist in Rich-tung der Patientin gebeugt. Die Patientin reagiert sofort und wir hören das Quiet-schen. „Bravo, sehr gut.“

14:56:36 Anästhesist (wieder gebeugt, nah am Kopf der Patientin): „Drücken Sie den Ball!“ Sofortige Reaktion. „Gut, gut, das reicht!“

14:58:27 Anästhesist: „Drücken Sie den Ball!“ Die Patientin reagiert sofort. „Gut, genug.“ In den nächsten sieben Minuten findet keine Kommunikation statt: weder Aufforderung noch selbständiges Drücken des Balls seitens der Patientin.

15:05:09 Chirurg: „Prüfen wir, ob sie die Abklem-mung aushält?“

15:05:13 Anästhesist: „Signora, drücken Sie den Ball!“ Sofortige, deutliche Reaktion. Aber dieses Mal verlangt der Anästhesist eine anhaltende Rückmeldung und gibt sich nicht – wie früher – gleich zufrieden.

15:05:17 Anästhesist: „Nur Mut!“ – „Machen Sie weiter mit dem Drücken!“ Man hört das Quietschen. „So.“ Kurze Pause. „Drücken Sie ruhig.“ Man hört das Quietschen. „Gut! Machen Sie weiter mit dem Drücken, zwei oder drei Minuten noch.“ Es folgen häufige Aufforderungen mit sofortiger Reaktion der Patientin. Manch-mal drückt die Patientin selbständig den Ball. Ist das nicht der Fall, greift nach kur-zer Pause der Anästhesist mit seinen Aufforderungen ein. Er ermuntert die Patientin oder lobt sie für ihre Zusam-menarbeit

Ungefähr in dieser Phase hat die Abklemmung stattgefunden.

15:07:37 Chirurg: „Versuchen Sie es wieder mit dem Drücken!“ Sofortige Reaktion. Chi-rurg: „Sehr gut.“

91Videoanalyse OP

15:08:06 Anästhesist: „Noch einmal!“ Sofortige Reaktion. Anästhesist: „Gut.“

15:08:14 Anästhesist (kommentiert leise für den Chirurgen): „Noch ein bisschen, drei Minuten.“

15:08:52 Aus dem Hintergrund (im Video nicht sichtbar) hört man zum ersten Mal die Aufforderung der Anästhesieschwester: „Drücken Sie den Ball!“, mit sofortiger Reaktion der Patientin und entsprechen-der Bestätigung/Ermutigung der Anästhe-sieschwester: „Sehr gut.“ In der unmittel-baren Folge drückt die Patientin noch zweimal. Das Geräusch ist leise, aber deutlich (15:09:00).

15:09:23 Anästhesieschwester: „Drücken Sie den Ball!“ Sofortige Reaktion der Patientin.

15:09:32 Anästhesist: „Drücken Sie!“, keine hörba-re Reaktion.

15:09:35 Anästhesieschwester: „Drücken Sie den Ball!“ Der Anästhesist schaut in Richtung Uhr an der Wand (Abb. 8: 15:09:39) und kommentiert dann…

Hier ist im Film nichts Deutliches zu hören. Aus dem Verhalten des Anäs-thesisten muss aber geschlossen werden, dass die Patientin rea-giert hat.

15:09:40 Anästhesist: „Vier Minuten hat sie ausge-halten.“

15:09:54 Wieder Aufforderung des Anästhesisten: „Drücken Sie!“ Es ist deutlich zu sehen, dass kein Blickkontakt, keine Berührung und nicht einmal die Nähe zum Kopf der Patientin gesucht wird (Abb. 9: 15:09:54). Die Patientin reagiert sofort und der Anästhesist lobt sie: „Ah, sehr gut gemacht.“

Der Austausch mit der Patientin geht in der Regel sehr gelassen vor sich, man unterhält sich locker, ohne befürchten zu müssen, dass man sich nicht versteht.

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15:11:03 Anästhesist: „Drücken Sie!“ Sofortige Reaktion der Patientin. Wieder (15:11:06) prüft der Anästhesist die Uhr (Abb. 10: 15:11:06) und teilt den anderen mit: „Fünf Minuten.“ (15:11:08). Der Anästhesist unterhält sich anscheinend zerstreut mit dem Chirurgen, aber vergisst nicht (15:12:01) einen Blick auf die Uhr zu werfen (Abb. 11: 15:12:01), und ein paar Sekunden später fordert er sie wieder auf: „Drücken Sie!“ Reaktion der Patientin und Lob: „Gut.“

Die Zeitspanne (fünf Minuten) gilt als kritische Schwelle: Hat der Patient so lange ohne direkte Blutzufuhr ausgehalten, dann kann er mit großer Wahrscheinlichkeit den weiteren Verlauf unbe-schadet überstehen. Natürlich wird sein Zustand über die übliche Kommunikationsstrategie weiter überwacht, aber die Aufmerksamkeit und die Anspannung der Mediziner lassen etwas nach.

15:12:51 Anästhesist: „Ein Drücken!“ Sofortige Reaktion der Patientin. „Gut.“

15:13:29 Anästhesist: „Drücken Sie!“ Sofortige Reaktion der Patientin.

15:14:40 Anästhesist: „Drücken Sie ein bisschen!“ Sofortige Reaktion der Patientin. „Gut.“

15:16:46 Der Anästhesist hat sich etwas entfernt und beschäftigt sich wahrscheinlich mit der Krankenakte (Abb. 12: 15:16:46). Zwei Minuten sind seit der letzten Mel-dung der Patientin vergangen. Die Anäs-thesieschwester (15:17:12) bewegt sich in Richtung Kopf der Patientin.

15:17:19 Anästhesieschwester (leise): „Drücken Sie den Ball!“ Sofortige Reaktion der Patientin.

15:19:06 Anästhesist (laut, weil von der Patientin etwas entfernt, siehe Abb. 13: 15-19-06): „Drücken Sie!“ Sofortige Reaktion der Patientin.

93Videoanalyse OP

15:21:18 Der Anästhesist hat sich von der OP kurz entfernt. Die Anästhesieschwester greift ein: „Drücken Sie den Ball!“ Die Patientin reagiert nicht. Eine neue Aufforderung leise und ohne Hektik folgt: „Drücken Sie den Ball!“ Jetzt erfolgt unmittelbar die Reaktion der Patientin.

15:22:45 Anästhesieschwester: „Drücken Sie den Ball!“ Sofortige Reaktion der Patientin.

15:24:33 Jetzt zum zweiten Mal in der beobachte-ten Zeitspanne spricht der Chirurg zur Patientin: „Drücken Sie!“ Sofortige Reak-tion der Patientin. Chirurg: „Sehr gut.“

15:26:58 Anästhesist: „Ein letztes Drücken!“ Sofor-tige Reaktion der Patientin. „Gut.“

15:33:38 Die Operation neigt sich dem Ende zu. Das Team verfolgt am Ultraschallgerät die Ergebnisse. Seit der letzten Meldung der Patientin sind fast sieben Minuten vergangen. Jetzt nähert sich die Anästhe-sieschwester dem Kopf der Patientin (Abb. 14: 15-33-38): „Drücken Sie den Ball!“ Sofortige Reaktion der Patientin. „Sehr gut.“ Die Operation verläuft weiter ohne besondere Vorkommnisse.

6.1.2 Beispiel 1 – Diskussion

Der hier beschriebene Ablauf kann, abgesehen vom Idiolekt der beteiligten Akteure und Akteurinnen, die an der einen oder anderen Stelle ihre persönli-chen Neigungen und Stile in die Kommunikation einbringen, als Idealfall gel-ten. Die Patientin reagiert die ganze Zeit auf die Aufforderungen ohne Verzö-gerung und ohne Probleme; keine Komplikationen sind gegeben. Der Anäs-thesist ist gelassen, aber wachsam; dabei entsteht ein spezieller Stil und Ver-lauf der Kommunikation: Die Aufforderungen an die Patientin sind regelmäßig und klar. In der Phase der Abklemmung erfolgen sie sehr häufig und die Kon-zentration der Hauptbeteiligten ist dann sehr groß. Trotzdem deuten viele Zei-chen auf eine lockere, entspannte Situation hin, wie die Abbildungen zeigen: Meistens spricht der Anästhesist seine Aufforderungen aus einer gewissen Entfernung, als wäre es selbstverständlich, dass die Patientin aufmerksam zuhört und seinen Aufforderungen Folge leisten kann. Manchmal erlaubt er sich eine gewisse Zerstreutheit; in solchen Fällen greift die Anästhesieschwes-

Massimo Serenari 94

ter, die die meiste Zeit fast nichts zu tun hat, ein. Der Chirurg meldet sich nur zweimal mit Aufforderungen an die Patientin. Die Rollen sind klar verteilt, doch alle passen auf und sind bereit, ihren Beitrag zu leisten. Auch die Zeitabstän-de zwischen den Aufforderungen an die Patientin sind relativ klar: In der kriti-schen Phase der Abklemmung wird die Patientin sehr oft angesprochen, aber nach den ersten entscheidenden fünf Minuten wird sie nur ungefähr alle zwei Minuten aufgefordert, ein Zeichen von sich zu geben. Diese Zeitintervalle schei-nen allein vom Zeitgefühl der Akteure bestimmt zu sein: Nach der kritischen Phase wird nicht mehr auf die Uhr geschaut, trotzdem sind die Zeitabstände sehr regelmäßig: 15:12:51 – 15:13:29 – 15:14:40 – 15:17:19 – 15:19:06 – 15:21:18 – 15:22:45 – 15:24:33 – 15:26:58. Ab jetzt (15:26:58) steht die Zusam-menarbeit (Kommunikation) mit der Patientin nicht mehr im Mittelpunkt. Die Operation ist gelungen und nur noch selten wird die Patientin um Rückmel-dung gebeten.

6.2 Beispiel 2 – Die Karotisoperation vom 20.11.2003 (Patient C.) – Zeitspanne der Beobachtung: 16:18:03 – 16:37:41 (Stunde: Minute: Sekunde)

6.2.1 Beispiel 2 – Protokoll

In dieser Karotisoperation besteht das erste Problem darin, dass der Patient C. nicht wie gewünscht zum richtigen Zeitpunkt aufwacht. Grund dafür ist wahr-scheinlich eine zu hohe Dosierung bei der Anästhesie. So beobachten wir, wie die Anästhesistin, die offensichtlich unter Druck steht (der Chirurg möchte wei-ter operieren, muss aber warten und wird langsam ungeduldig), wiederholt ver-sucht, den Patienten zu wecken: Sie ruft ihn beim Namen, sie tippt auf die Stirn oder berührt den Kopf. Diese Reihe von Handlungen beginnt um 16:18:03.

Abb. 15: 16:20:21 Abb. 16: 16:25:35 Abb. 17: 16:25:38 Abb. 18: 16:28:14

Abb. 19: 16:12:01 Abb. 20: 16:31:34 Abb. 21: 16:37:41

95Videoanalyse OP

16:18:03 Die Anästhesistin ruft den Patienten beim Namen (keine Reaktion).

16:18:52 Die Anästhesistin ruft wieder den Patien-ten beim Namen (keine Reaktion).

16:18:59 Die Anästhesistin ruft wieder den Patien-ten beim Namen (keine Reaktion).

16:19:03 Die Anästhesistin ruft wieder den Patien-ten beim Namen (keine Reaktion).

16:20:21-16:20:30

Die Anästhesistin ist jetzt entschlossen, den Patienten zu wecken; sie tippt energisch auf dessen Stirn und ruft dann mehrmals seinen Namen (keine Reaktion) (Abb. 15: 16:20:21).

16:21:44 -16:21:52

Die Anästhesistin wiederholt die Hand-lungen: Tippen und Rufen.

16:22:43 Die Anästhesistin ruft den Patienten (im Video sieht man nicht, was sie tut).

16:23:44 Die Anästhesistin ruft den Patienten.

16:25:00 Die Anästhesistin ruft den Patienten.

16:25:17 Die Anästhesistin ruft den Patienten und tippt auf seine Stirn.

16:25:27 Die Anästhesistin berührt ein Auge des Patienten und tippt dann wieder auf die Stirn; nach einer kurzen Weile wiederholt sie beide Handlungen (Abb. 16: 16:25:35 und Abb. 17: 16:25:38) und noch einmal (16:25:50).

16:27:02 Chirurg: „Ich möchte es jetzt mit dem Abklemmen versuchen…“ (der Patient reagiert immer noch nicht).

16:27:06 Die Anästhesistin berührt das Auge des Patienten, tippt auf die Stirn und ruft ihn beim Namen.

Massimo Serenari 96

16:28:05 Die Anästhesistin klopft mit der offenen Hand auf die Stirn des Patienten: „Aufwa-chen!“

16:27:02 Der Chirurg zeigt sich etwas ungeduldig und schaut auf die Uhr (Abb. 18: 16:28:14).

16:29:22 Chirurg: „Ich bin bereit für das Abklem-men…“

16:29:31 Die Anästhesistin tippt auf die Stirn des Patienten.

16:29:53 Die Anästhesistin ruft den Patienten.

16:29:58 Nach erneutem Rufen des Patienten rea-giert dieser endlich zum ersten Mal, aber fast unmerklich: Man sieht, wie sich ein Auge langsam bewegt.

Die Anästhesistin ist jetzt überzeugt, dass er auf-gewacht ist und leitet schon die Vorbereitungen ein für das weitere Pro-cedere.

16:30:02 Anästhesistin: „Versuchen wir jetzt, ob er den Ball drücken kann.“

16:30:07 Anästhesieschwester (die bei der linken Hand des Patienten hockt und prüft, ob er den Ball drücken kann): „Versuchen Sie’s Frau Doktor, sagen Sie ihm, dass er den Ball drückt.“

16:30:08 Anästhesistin: „C., jetzt drücken Sie den Ball!“

16:30:17 Anästhesieschwester: „Drücken Sie stär-ker!“

16:30:18 Anästhesistin: „Drücken Sie den Ball!“

16:30:19 Anästhesieschwester: „Aber jetzt drückt er gerade. Jetzt quietscht es nicht, aber er drückt.“ (Man hört kein Quietschen.)

16:30:24 Zum ersten Mal hört man das Quiet-schen des Balls.

97Videoanalyse OP

16:30:28 Anästhesistin: „Drücken Sie den Ball! Drücken Sie richtig!“

16:30:30 Anästhesistin: „Machen Sie die Augen auf!“.

16:30:32 Anästhesieschwester (im Hintergrund): „Stärker!“

16:30:38 Anästhesieschwester: „Auf jeden Fall drückt er.“ Hier wechseln sich in schneller Abfolge die Aufforderungen der Anästhe-sistin und die Kommentare der Anästhe-sieschwester, die immer noch bei der Hand des Patienten hockt.

16:30:41 Anästhesistin: „Drücken Sie den Ball!“ In der Videoaufnahme ist die Anästhe-sieschwester sichtbar. Sie bestätigt, dass der Patient drückt, obwohl das Geräusch des Balls nicht sehr deutlich ist. Diese Unsicherheit drückt sich in der Mimik der Anästhesieschwester aus.

Die Anästhesieschwester bestätigt das Drücken mit ihrem verbalen Kommen-tar, aber schüttelt gleich-zeitig den Kopf, so als würde sie sagen: „Ja, er drückt, aber wer weiß, ob er wirklich fit ist“ (Abb. 19: 16:30:46). Da die Anästhesieschwester für die Anästhesistin nicht leicht zu sehen ist, erscheint diese Informati-on eher als Ausdruck von Selbstzweifel. Die Anäs-thesieschwester weiß, dass die Kommunikation nicht optimal ist und ihre erhöhte Aufmerksamkeit gefragt ist. Hier wird deutlich, dass die Ent-scheidung, oder besser:

Massimo Serenari 98

die Interpretation der Mit-teilung des Patienten kei-nem der Beteiligten leicht fällt.

Schließlich steht die Anästhesieschwe-ster auf und entfernt sich vom Patienten. Gleich darauf meldet sich der Chirurg: „Jetzt werde ich abklemmen, passt auf, ob er die Abklemmung verträgt.“

16:30:54 Anästhesistin: „Machen Sie die Augen auf!“ Sie tippt gleichzeitig auf die Stirn, „Machen Sie auf!“ Wieder Tippen auf die Stirn, „Drücken Sie den Ball!“, „Bewegen Sie den Kopf nicht!“ (aber dem Video nach scheint sich der Patient sowieso nicht zu bewegen). „Sie müssen nur drücken!“ (man hört das Quietschen des Balls), „Drücken Sie!“ Sie tippt gleichzeitig ziemlich energisch auf die Stirn. „C.!“ ruft sie den Patienten mehrmals beim Namen und tippt weiter auf dessen Stirn. Im Hintergrund hören wir die Anäs-thesieschwester, die jetzt wieder die Hand des Patienten beobachtet: „Ja, er drückt gerade.“ Man hört tatsächlich, wenngleich etwas schwach, das Geräusch des gedrückten Balls. Anästhesieschwester: „Bravo, es ist gut so, wirklich gut.“ Anästhe-sistin: „Drücken Sie!“ und sie tippt auf seine Stirn. Diese intensive Kommunikation dau-ert ungefähr eine Minute, bis 16:31:42. Ver-bale Aufforderungen und Tippen auf die Stirn, manchmal mit ungewöhnlicher Ener-gie, wechseln sich ab oder laufen parallel. Ihrerseits prüft die Anästhesieschwester, die die ganze Zeit nah an der Hand des Patienten ist, ob er tatsächlich drückt, selbst dann, wenn das Geräusch sich etwas schwach oder unsicher anhört. Die Rollen scheinen stillschweigend eingeteilt. Die Anästhesistin befiehlt ständig, manchmal (für den außenstehenden Beobachter) mit unangenehmer Härte, während die Anäs-thesieschwester den Patienten ermutigt und nachfühlend bestätigt: „Gut, bravo, sehr gut.“

99Videoanalyse OP

Aus dem Verhalten der Anästhesistin ist abzulei-ten, dass sie jetzt kein Risiko eingehen möchte. Ob die Hektik und das Anhäufen von Befehlen, die zum Teil redundant sind oder zumindest so erscheinen, ob das die Kommunikation sicherer macht oder hingegen eine Art Ve r s t o p f u n g des Kanals bewirkt – der Patient ist zu vielen Anre-gungen und Reizen aus-gesetzt und könnte sich überfordert fühlen –, bleibt dahingestellt. Von einem digitalen Kode mit nur zwei Signalen (dem Idealmodell des Ball-Kodes) sind wir weit ent-fernt.

16:31:29 Anästhesistin (etwas beruhigter): „Machen Sie die Augen auf!“ (tippt auf die Stirn) „C., hören Sie mich?“. Auf dem Video ist deutlich zu sehen, dass der Patient nickt. „Perfekt, dann drücken Sie weiter!“ sagt die Anästhesistin, die die ganze Zeit die verbalen Äußerungen mit einem ständigen Stirn-Tippen begleitet (Abb. 20: 16:31:34). Erst jetzt reagiert der Patient schneller und entschiedener, so dass der Aufforderungsdruck der Anäs-thesistin etwas nachlässt.

16:32:02 Anästhesistin: „Wie viel Zeit ist [seit der Abklemmung] vergangen?“

16:32:05 Anästhesieschwester: „Anderthalb Minu-ten.“ Jetzt hat sich der Operationsverlauf normalisiert. Die Aufforderungen bleiben ausschließlich verbal, der Patient reagiert sofort und manchmal drückt er allein von sich aus den Ball.

Massimo Serenari 100

16:33:17 Anästhesistin: „Drücken Sie ab und zu!“ Es ist die letzte Aufforderung. Die Anäs-thesistin schaut gelegentlich nach dem Gesicht, aber da der Patient relativ oft den Ball drückt (man hört das Quiet-schen), ist eine Aufforderung unnötig. Interessanterweise greift nach einer Weile die Anästhesieschwester wieder ein (die Anästhesistin ist im Bild nicht zu sehen): Sie nähert sich dem Kopf des Patienten und…

16:35:22 Anästhesieschwester: „Bravo, sehr gut.“ Der Ball wird gedrückt.

16:35:28 Anästhesieschwester: „Ruhen Sie sich ein bisschen aus und dann drücken Sie wieder.“ Der Patient befolgt die Instruktio-nen, keine weitere Aufforderung.

16:37:41 Die Anästhesistin ist jetzt weit entfernt (sie befindet sich am rechten Rand des Videos, siehe Abb. 21: 16:37:41), ihr akti-ves Eingreifen scheint nicht mehr nötig zu sein. Die Operation wird fortgesetzt ohne besondere Vorkommnisse.

6.2.2 Beispiel 2 – Diskussion

Welche Lehren können wir aus diesem Video ziehen? Im Vordergrund steht natürlich die Beschaffenheit des Kodes, die schon im vierten Abschnitt disku-tiert wurde. Rein theoretisch geht man von einem binären digitalen Kode aus. In der Tat handelt es sich um einen analogen Kode. Neben der verbalen Auf-forderung (Ball-Drücken) und dem akustischen Signal (Quietschen – kein Quiet-schen) treten andere Signale über weitere Kanäle auf: taktile und visuelle Sig-nale vor allem. Auch die Anästhesieschwester, die die Hand des Patienten befühlt, um festzustellen, ob er trotz Ausbleibens eines akustischen Signals tatsächlich drückt, bedient sich eines weiteren (taktilen) Anzeichens. Das ist natürlich vor allem wichtig für den ordentlichen Ablauf der Operation. Doch die Beobachtung zeigt auch, wie wichtig andere Aspekte sind, die in der Beschrei-bung des Idealfalles und in den Reflexionen der Mediziner möglicherweise gar nicht vorkommen. Das Verhalten der beteiligten Teammitarbeiter und Teammit-arbeiterinnen ist hier ganz anders als im vorigen Fall. Jetzt ist es durchaus angebracht, von „Improvisation“ zu reden. Der Patient, der nicht oder nicht zum richtigen Zeitpunkt aufwacht, stellt Anästhesistin und Chirurg vor eine neue unerwartete Situation. Das späte Aufwachen hat auch Konsequenzen für den

101Videoanalyse OP

weiteren Verlauf der Kommunikation und somit der Operation. Der Patient ist von der Überdosierung der Anästhesie etwas benebelt und nicht im optimalen Zustand, um den Aufforderungen der Anästhesistin Folge zu leisten. Das wis-sen die Akteure des Teams und das wirkt sich belastend auf die weitere Zusam-menarbeit aus. Die Anästhesistin steht unter (Erfolgs)Druck, der Chirurg ist ungeduldig. Doch auch in dieser Hinsicht sind Präzisierungen notwendig. Sou-verän bleibt der Chirurg Herr der Lage. Seine Ungeduld wird nur anhand von wenigen Gesten, seiner Mimik und insgesamt nur an wenigen Stellen sichtbar. Verbal äußert er sich immer ruhig und offensichtlich bedacht, der Nervosität der Anästhesistin keinen Vorschub zu leisten. Diese Nervosität bewirkt aller-dings, dass die Aufforderungen an den Patienten eine gewisse Schroffheit annehmen. Die in anderen Operationen beobachtete Beschwichtigung und Ermutigung des Patienten bleibt aus. Diese Rolle übernimmt automatisch die Anästhesieschwester. So gesehen können wir verschiedene Ebenen der Kom-munikation beobachten. Im Vordergrund steht (a) die Kommunikation mit dem Patienten: Aufforderungen auf der einen Seite (nicht nur mit verbalen Mitteln), Antworten oder Reaktionen auf der anderen Seite (nicht nur mit den Mitteln des Drückens). Auf einer höheren Ebene (b) gestaltet sich die Kommunikation unter den Mitgliedern des Teams, die (mit Ausnahme des zweiten Chirurgen und der Chirurgieschwester, die beide still und fast unbemerkt ihren Aufgaben nachgehen) sich beraten und ergänzen, in der Lösung der fundamentalen Auf-gabe, die Antworten des Patienten zu interpretieren. Mehr noch: Sie müssen dafür sorgen, dass der Patient trotz der in diesem speziellen Fall noch weiter gesteigerten ‚Mundfaulheit‘ eindeutige Antworten geben kann. In diesem Fall wird, wenngleich in bestimmten Momenten etwas chaotisch, ein enormer Ver-stehensaufwand betrieben: Von ‚Denkfaulheit‘ kann keine Rede sein. Schließ-lich wird auf einer normalerweise kaum beachteten und von den Akteuren selbst vielleicht kaum bewusst wahrgenommenen Ebene (c) die Koordination und die Zusammenarbeit ständig neu justiert: Ein harmonisiertes Vorgehen ist eine unverzichtbare Voraussetzung. „Bloß die Nerven nicht verlieren“, ist eine Rede-wendung, die nur mühsam umgesetzt werden kann. Welche Emotionen und welcher Druck auf den Menschen im OP-Saal lasten, wird anhand von Mimik, Gestik, Verhalten deutlich. Nur Videoaufnahmen erlauben, die vielen Aspekte, Zeichen und Kommunikationskanäle angemessen zu registrieren. Und die Auf-nahmen könnten die Aufgabe erfüllen, junge Mediziner und Auszubildende mit den Herausforderungen eines solchen Operationstypus zu konfrontieren. Wenn Kultur darin besteht, etwas nicht immer von Neuem erfinden zu müssen, son-dern von den Erfahrungen anderer profitieren zu können, dann können wir hier mindestens einen weiteren Baustein für eine Ku l t u r d e r k o n t r o l l i e r t e n I m p r o v i s a t i o n (in der Medizin) liefern.

Massimo Serenari 102

6.3 Beispiel 3 – Die Karotisoperation vom 20.11.2003 (Patient P.) – Zeitspanne der Beobachtung: 18:08:31 – 18:15:08 (Stunde: Minute: Sekunde)

6.3.1 Beispiel 3 – Protokoll

In dieser OP haben wir, abgesehen von der Anästhesieschwester, dieselben Akteure wie im Beispiel 2.

18:08:31 Die Anästhesistin nähert sich dem Kopf des Patienten und ruft ihn leise beim Namen. Die Anästhesieschwester befin-det sich gleich nebenan (Abb. 22: 18:08:31).

18:08:32 Erneut ruft die Anästhesistin den Patien-ten und ruft ihn leise beim Namen…

18:08:34 und noch einmal, und wieder (18:08:37).

18:08:44 Anästhesistin: „P., versuchen Sie den Ball zu drücken!“ Keine Reaktion.

18:08:49 Jetzt beteiligt sich die Anästhesieschwe-ster: „P., P., so, versuchen Sie den Ball zu drücken! Schaffen Sie es… mit der Hand?“

18:09:08 Anästhesieschwester: „P., hören Sie mich?“ Kurze Pause. „So, gut.“ Möglicher weise hat die Anästhesieschwester eine

Abb. 22: 18:08:31 Abb. 23: 18:09:15 Abb. 24: 18:09:31 Abb. 25: 18:09:51

Abb. 26: 18:09:54 Abb. 27: 18:10:23

103Videoanalyse OP

schwache Rückmeldung des Patienten vernommen. Kein Geräusch vom Ball war bisher zu hören. Die Anästhesieschwester stellt sich neben die betreffende Hand des Patienten, um zu prüfen (wie schon im Beispiel 2 beobachtet), ob er in der Lage ist zu drücken, obwohl kein Geräusch zu hören ist (Abb. 23: 18:09:15).

18:09:14 Anästhesistin: „Drücken Sie den Ball, den Sie in der Hand halten!“ Keine Reaktion.

18:09:19 Anästhesieschwester (neben der Hand des Patienten): „Hier, machen Sie die Hand auf und zu!“

18:09:23 Anästhesieschwester: „P.!“ Keine hörbare Reaktion, kurze Pause. „Machen Sie die Hand auf und zu!“

18:09:31 Kaum hörbar fragt die Anästhesistin, ob der Patient die Hand bewegt. Die Anäs-thesieschwester verneint mit einer kaum sichtbaren Bewegung des Kopfes (Abb. 24: 18:09:31).

18:09:33 Anästhesieschwester: „P.! Machen Sie die Hand auf und zu!“ Zum ersten Mal ist das Quietschen des Balls leise aber ein-deutig zu hören. „So, noch einmal!“ Kurze Pause. „Machen Sie auf und zu!“ Keine Reaktion.

18:09:44 Man hört jetzt deutlich das Quietschen des Balls, aber es ist nicht der Patient, wie die Anästhesieschwester sofort mitteilt: „Das bin ich.“

18:09:47 Anästhesieschwester: „Machen Sie die Hand auf und zu, P.!“

18:09:51 Die Anästhesieschwester versucht seit fast einer Minute den Patienten zu einer eindeutigen Reaktion zu bewegen. Nur einmal hat er selbständig den Ball gedrückt.

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Er ist wach, sonst wür-den Anästhesistin und Anästhesieschwester viel energischer auf ihn ein-reden (vgl. Beispiel 2), aber entweder ist er nicht in der Lage, die Aufforde-rung klar zu verstehen, oder er ist unfähig – aus welchen Gründen auch immer – eine klare Ant-wort zu geben. Die klare Antwort ist aber die Vor-aussetzung für die weite-re Überwachung der Operation in der kriti-schen Phase der Abklemmung. Deshalb die langwierigen Vorbe-reitungen. Hier über-nimmt langsam – entge-gen allen Hierarchien und Erwartungen – die Anästhesieschwester die Initiative. Nicht nur ist sie es, die die meisten Auf-forderungen ausspricht, sie bestimmt auch die Strategie.

So bittet sie die Anästhesistin, die auf der anderen Seite steht (im Video nicht sicht-bar), sich dem Patienten zu nähern und ihn aufzufordern, den Ball zu drücken (Abb. 25: 18:09:51). Und die Anästhesi-stin kommt (Abb. 26: 18:09:54).

18:09:54 Anästhesistin: „P., P., machen Sie die Augen auf!“ Kurze Pause. „Machen Sie die Augen auf!“ – „Machen Sie“ – kurze Pause, um die Wörter zu betonen – „die Augen auf!“ – „Drücken Sie die Hand!“ Kurze Pause. „Wo Sie den Ball haben.“ – „Drücken Sie!“

18:10:07 Sehr leises Quietschen des Balls. „So, jetzt“, kommentiert die Anästhesieschwester.

105Videoanalyse OP

18:10:08 Anästhesistin: „Noch einmal!“ Kurze Pause. „Drücken Sie!“

18:10:12 Anästhesieschwester: „Machen Sie auf und zu!“ Anästhesistin (fast gleichzeitig): „Drücken Sie den Ball!“ Keine hörbare Reaktion.

18:10:23 Mit über der Brust gekreuzten Armen wendet sich die Anästhesistin abwartend ab (Abb. 27: 18:10:23). Anästhesieschwester (sehr geduldig): „P.! Sie sollen die Hand auf- und dann zumachen. Beides, sonst quietscht der Ball nicht. Machen Sie auf und zu! Machen Sie die Hand auf und dann schließen Sie die Hand.“

Die Anästhesieschwester behält die Initiative.

18:10:39 Anästhesieschwester (die wieder nah bei der Hand des Patienten hockt): „So, Machen Sie auf und zu!“ Man merkt, dass sie sehr konzentriert die Hand des Patienten anfühlt. Vielleicht registriert sie Bewegungen, die aber keine klare Wir-kung haben: Ein akustisches Signal ist nicht zu hören. „Stärker!“ Die Prozedur setzt sich fort ohne Erfolg. Beachtenswert ist, dass die Anästhesistin sich am Rande zurückgezogen hat. Erst später (18:11:57) fordert sie den Patienten erneut auf: „P., drücken Sie den Ball!“ Unmittelbar danach bemerkt die Anäs-thesieschwester, dass der Patient tat-sächlich die Hand auf- und zumacht, aber ein akustisches Signal ist nicht zu hören. Anästhesistin und Anästhe-sieschwester besprechen weiter das Pro-blem. Der Patient bewegt irgendwie die Hand, aber es ist nichts zu hören. „Es muss aber quietschen!“, wirft die Anäs-thesistin ein. Hier, vielleicht frustriert von der aussichtslosen Situation, greift zum ersten Mal der Chirurg ein.

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18:12:07 Chirurg: „Aber er drückt doch!“ Nach einem kurzen Austausch zwischen den drei Akteuren (Chirurg, Anästhesistin, Anästhesieschwester) wird ein neuer Ball besorgt. Jetzt funktioniert es. Ein paar Mal wird geprüft: Aufforderung und Reak-tion des Patienten.

18:14:00 Der Chirurg ist bereit für die Abklemmung und fragt, Blickkontakt mit der Anästhesi-stin suchend: „Können wir?“ Die Anästhe-sistin ist gerade abwesend, so muss die Anästhesieschwester die Reaktionsfähig-keit des Patienten erneut prüfen.

18:14:19 Die Arterie ist abgeklemmt worden. Der Chirurg übernimmt den Dialog mit dem Patienten. Chirurg: „Drücken! Jetzt ist der Moment!“ – „Drücken Sie P.!“ Keine Reaktion. Chirurg: „Jemand sollte schauen…“ Gemeint ist wahrscheinlich, ob – wie vorher – der Patient drückt, aber kein Geräusch entsteht.

18:14:26 Chirurg: „Drücken!“ Trotz wiederholter Aufforderungen vom Chirurgen und dann auch von der Anästhesistin und Anästhe-sieschwester reagiert der Patient nicht. Die Aufforderungen und der Versuch, den Patienten zum Handeln zu bewegen, häufen sich etwas hektisch. Der Chirurg fragt abschließend: „Keine Reaktion?“ Auf die klare Antwort der Anästhesieschwe-ster „Nein!“, beschließt er unvermittelt das Ende des Versuchs.

18:15:08 Chirurg: „Mach auf!“ Die Abklemmung wird aufgehoben. Die Operation muss mit anderen Mitteln – Bypass – fortgesetzt werden. Nur eine Minute ist vergangen. Die kritische Schwelle – zwischen drei und fünf Minuten Unterbrechung der Blut-zufuhr – ist mit ausreichender Sicherheit unterschritten worden.

107Videoanalyse OP

6.3.2 Beispiel 3 – Diskussion

Entscheidend (und in gewisser Hinsicht überraschend) ist das Zusammen-spiel von Anästhesistin und Anästhesieschwester. Im Laufe der etwas lang-wierigen Vorbereitungen entsteht eine spezielle Form der Redundanz: Ist die Anästhesistin erfolglos oder überfordert, greift die Anästhesieschwester ein. Die Operation läuft weiter, obwohl unerwartete Probleme (der Patient reagiert, aber der Ball ist lautlos) die Vorbereitungen belasten. Ist die Anästhesistin frustriert und neigt dazu, sich aus dem Geschehen zurückzuziehen (vgl. Abb. 25, 27), so übernimmt dieses umso mehr die selbstbewusste Anästhe-sieschwester, die unaufhörlich versucht, den Patienten mit großer Geduld zu instruieren und zur erfolgreichen Zusammenarbeit zu bewegen. Sind aber auch ihre Anstrengungen erfolglos, so greift letztendlich der Chirurg ein (18:12:07). Dass der Patient kollabiert und die Operation mit anderen Mitteln – Bypass – fortgesetzt werden muss, ist nicht weiter überraschend, sondern als durchaus eingeplante Möglichkeit anzusehen. In dieser OP so wie in der zweiten sind es vor allem die verschiedenen Ebenen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Rollenergänzung, die eine große und kaum geplante Rolle spielen. Ist das Idealmodell der Kommunikationsstrategie extrem ein-fach, sind in der Wirklichkeit die Variablen und die Abweichungen erheblich. Meine Beobachtungen haben nur explorativen Charakter. Sie reichen aber aus, um zu belegen, wie viele sonst kaum beachtete oder vorher geplante Details eine Rolle für die erfolgreiche Bewältigung der Operation spielen. Auch dieses Mal kann der Begriff der „Improvisation“ Anwendung finden: Die Akteu-re sind mit Problemen konfrontiert, die wahrscheinlich schon mehrmals auf-getreten sind. Ob die Lösungen Modellcharakter haben oder hingegen ad hoc von den Akteuren gefunden werden, kann hier aufgrund von nur drei Fällen, die sehr unterschiedlich ablaufen, nicht entschieden werden. Sinnvoll wäre es, mehrere Operationen desselben Typus zu beobachten, zu vergleichen und die Ergebnisse der Beobachtung mit den beteiligten Akteuren zu besprechen. Aufschlussreich wäre es darüber hinaus zu erfahren – soweit eine ehrliche Selbstbeobachtung möglich ist –, inwieweit die Akteure von den Schwierig-keiten überwältigt waren, beziehungsweise inwieweit bestimmte Lösungsstra-tegien nicht erst in dem kritischen Moment entwickelt werden, sondern bereits Bestandteil eines Repertoires von alternativen Handlungsroutinen sind, die in solche Fällen mental bereitgehalten und abgerufen werden. Ferner ist zu fra-gen, ob es sich um eine endliche Anzahl von Alternativen handelt und ob die Improvisation sich aus der Rekombination von verschiedenen vorhandenen und bekannten Bausteinen ergeben hat.

7. Ausblick

Die Kommunikationsstrategien, die in der Karotisoperation entwickelt wurden, fallen unter den Gegenstandsbereich der sozialen Kooperation innerhalb der Medizin. Ob sie sich auch spezifisch auf die Rekonstruktion psychiatrisch-pfle-

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gerischer Kooperation (vgl. die Beiträge von Debus 2011 und Ahrens 2011 in diesem Heft) anwenden lassen, kann auf den ersten Blick fraglich erscheinen: Man könnte vermuten, dass die zur Diskussion stehenden Kommunikations-weisen mit den Problemen der Interaktion zwischen Pflegern und Psychiatrie-Patienten wenig zu tun haben. Aber die Techniken der Improvisation und des Problemlösens können verallgemeinert werden. Improvisation bewegt sich – wie am Beispiel der Musik in Abschnitt 2 skizziert – zwischen den extremen Polen des S t e r e o t y p e n und des A r b i t r ä r e n . Auch in anderen Berei-chen wie im Theater (Commedia dell’arte, vgl. Fitzpatrick 1995, Johnstone 1981) oder im sprachlichen Ausdruck (literarische Kreation und Techniken des Gesprächs, vgl. Hopper 1988, Tannen 1989) vollzieht sich die Entwicklung zwi-schen zwei Extremen: vorgefertigte Muster und Kreativität („prepatterning“ und „creativity“ wie es in den Worten von Tannen 1989 heißt, zitiert in Fitzpatrick 1995: 232). Allgemein formuliert sie: „It is the play between fixity and novelty that makes possible the creation of meaning“ (Tannen 1989, zit. in Fitzpatrick 1995: 232).

Der vorliegende Beitrag hatte unter anderem zum Ziel, aufzuzeigen, wie sinnvoll die Videoanalyse sein kann, um Details und Strategien zu erhellen, die bei oberflächlicher Beobachtung kaum wahrgenommen werden und selbst für die beteiligten Akteure eher unsichtbar bleiben. Idealfälle sind Abfolgen von Handlungen und Handlungsschemata, die sich im Laufe der (medizinischen, psychiatrischen usw.) Praxis teils spontan, teils auf der Basis von zielstrebiger Planung entwickelt und verfestigt haben. Sie zu hinterfragen (und eventuell sie zu verändern) kann nur mit den Mitteln der Selbstbeobachtung realisiert wer-den. Selbstbeobachtung bedeutet in diesem Fall (Video-)Analyse der Praxis-fälle und Diskussion der damit im Zusammenhang stehenden impliziten Ideal-vorstellungen mit den Beteiligten.

Eine solche Sequenzanalyse kann in unterschiedlichen Konstellationen, in denen Interaktion und Kommunikation stattfinden, fruchtbare Anwendung fin-den. In der Dokumentation und Analyse tatsächlicher sozialer Handlungsab-läufe werden den Beteiligten nicht nur die offensichtlichen Abweichungen vom geplanten und verinnerlichten Idealablauf verdeutlicht, sondern ihnen darüber hinaus solche Interaktionen und unterschwellige Reaktionen bewusst gemacht, die in der Regel – hier von den Medizinern – kaum wahrgenommen werden und die den Akteuren nur wie ein „Rauschen“ in einem (angeblich) bis zum letzten Detail vorgeplanten Ereignis vorkommen. Gewisse Einstellungen (Anwen-dungen von Zwangsmaßnahmen) und gewisse Einschätzungen (dem Psy-chiatrie-Patienten kann nur mit Gewaltanwendung begegnet werden) können mit Hilfe dieser Analyse sorgfältig auseinander genommen und in ihren kom-plexen Motivationen und Ursachen rekonstruiert und diskutiert werden. Zu klä-ren, inwieweit die Mittel der Simulation und des Psychodramas das Instrumen-tarium der Forschung erweitern können, bleibt anderen Beiträgen in diesem Heft (Debus 2011 und Ahrens 2011) vorbehalten.

109Videoanalyse OP

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Danksagung

Die Aufnahmen wurden vor allem dank des Einsatzes des Anästhesiechefs des Krankenhauses, Marco Rambaldi, möglich gemacht. Ein besonderer Dank gilt allen Mitarbeitern und Medizinern, die mir mit ausführlichen Informationen geholfen haben und zum Teil zu umfangreichen Gesprächen und Interviews bereit waren.

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Massimo SerenariArbeitsstelle für SemiotikTechnische Universität BerlinFranklin-Straße 28-29,Sekr. FR 6-3D-10587 BerlinE-Mail: [email protected]

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 111-134Stauffenburg Verlag Tübingen

Einlage

Design: Zeichensysteme für Werte in unterschiedlichen Milieus

Rainer Funke, Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Design

Summary. Drawing on historical and contemporary examples, this article describes how the design of consumer goods and communication devices develops the signs and semiotic systems that are necessary for the creation and the dynamics of milieus (social environments) as communities of values, lifestyle, and worldview. Design serves here as a tool for self-affirmation for social group members in regard to values controlling behavior and for the communication of values in processes of individualization and social integration. Under the conditions of mass consumption, social group members are able to mark and transgress the limits of their milieu by utilizing aspects of design. Consid-ering especially Modernism and Postmodernism, this essay indicates continuities and innovations in the role of design.

Zusammenfassung. Anhand verschiedener Beispiele aus der Gegenwart und der Ver-gangenheit wird deutlich gemacht, in welcher Weise das Design von Konsumgegen-ständen und Kommunikationsmitteln notwendige Zeichensysteme für die Herausbil-dung und die Dynamik von sozialen Milieus als Werte-, Lebensstil- und Deutungsge-meinschaften liefert. Neben vielem anderen dient Design im Zusammenhang mit Indi-vidualisierungs- und Integrationsbemühungen der Menschen unter den Bedingungen des Massenkonsums der Selbstvergewisserung und Kommunikation von handlungs-steuernden Werten, anhand derer Milieugrenzen für Gruppenmitglieder markierbar aber auch überwindbar werden. Mit Blick in die Geschichte unter besonderer Berücksichti-gung der Moderne und Postmoderne wird in diesem Zusammenhang auf Kontinuitäten und Neuerungen hingewiesen.

1. Zeichendimensionen von Design

Neben Körpersprache, wortsprachlichen Texten, Musik, anderen Inhalten mas-senmedialer Kommunikation, Formen der Geselligkeit, Politik, Religion und so weiter ist Design ein zentraler Lieferant von Zeichen und Zeichensystemen.

Rainer Funke 112

Der Begriff Design wird hier im engeren Sinne verstanden als das, was Desi-gner als solche tun, einschließlich der sich daraus ergebenden Resultate in der Wahrnehmung, Deutung und Nutzung. Der D e s i g n p r o z e s s umfasst also die Gestaltung und Rezeption (inklusive Nutzungsprozesse) der Eigen-schaften von Objekten (Produkten und Kommunikationsmitteln), welche aus-gehend vom Wahrnehmungsprozess in Abhängigkeit von konkreten situativen Bedingungen (Kontexten) zu Deutungen und weitergehenden Handlungen füh-ren. Die semiotischen Dimensionen von Design lassen sich dabei wie folgt glie-dern. Sie werden an einem Designprodukt, einem Haartrockner, skizziert:

Tab. 1: Semiotische Dimensionen von Design

Dimension Abb. Beispiel

Zeichen des Faktischen Abb. 1 Ab wann ist ein Haartrockner als sol-cher zu erkennen? Muster werden angesprochen.

Zeichen möglichen Nutzens Abb. 2 Wie stark ist der Haartrockner, wie groß ist der Nutzen? Einzelheiten wie die Ausformung und Dimensionie-rung der Lüftungsschlitze geben Aus-kunft.

Zeichen möglicher Operationen Abb. 3 Wie ist der Schalter zu bedienen, was bewirkt er? Seine Oberfläche und seine Form im Verhältnis zu dem ihn umschließenden Gehäuse lassen es erkennen.

Zeichen für Umweltbezüge Abb. 4 In welche Umgebung gehört das Gerät gestellt, gehängt, gesteckt, gehalten […]? Wir erkennen eine Halterung dafür.

Zeichen für ökonomische Bezüge Abb. 5 Billig- oder Luxusprodukt? Details in der Form, die auf Materialwert, Prä-zision in der Herstellung, Entwick-lungsstand der Herstellungsverfahren schließen lassen, geben Auskunft.

Zeichen für reflexives Potential Abb. 6 Einst Selbstbestätigung der extrava-ganten Frau mit Sinn für moderne Technik, heute Traumobjekt für den Nostalgiker?

Zeichen für kommunikatives Potential

Abb. 7 Was halten andere Menschen vom Besitzer dieses Haartrockners? Was erwartet der Besitzer, dass die ande-ren von ihm halten?

113Design und Milieus

Abb. 1-7: Haartrockner Termozeta Professional, Illustration und Fotos: Torsten Nein, Fachhochschule Potsdam 2007.

1.1 Werte und Milieus

Durch Design werden Werte repräsentiert, die ihre Basis in soziodynamischen Prozessen i n und z w i s c h e n milieubezogenen Gruppen haben, die Gemein-schaften mit relativ einheitlichen Wirklichkeitsauffassungen konstituieren. Ger-hard Schulze definiert s o z i a l e M i l i e u s als „Gemeinschaften der Weltdeu-tung“, die sich in unserer Gesellschaft vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und „auseinanderlaufender Routinen der Verarbeitung wahrgenommener sozialer Wirklichkeit“ voneinander abgrenzen lassen (1992: 267). In seinem fünfgliedrigen Milieu-Modell, unterscheidet er Harmonie-, Inte-grations-, Unterhaltungs-, Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu. Im Ver-gleich zu zahlreichen anderen Milieu-Modellen besticht dieses in methodischer

Abb. 1

Abb. 7Abb. 6Abb. 5

Abb. 4Abb. 3Abb. 2

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Hinsicht durch die Art der Einteilung der Milieugruppen. Diese werden nämlich grundsätzlich nach ihrer Ausrichtung an Typen von Alltagsmotivationen bestimmt. Der Ansatz von Schulze (1992) ist dadurch für die Betrachtung von Design-Phänomenen besonders gut geeignet.

„Was die Menschen gemeinhin als gut und böse, moralisch oder unmoralisch bezeich-nen, nennen die Soziologen einen Wert. Eine Nationalgesellschaft hat Werte (z.B. ‚Men-schenwürde‘, ‚Rechtsstaatlichkeit‘ usw.), eine kriminelle Gang hat Werte (z.B. ‚kein Grup-penmitglied verraten‘) und eine Familie hat Werte (z.B. ‚Harmonie‘, ‚Schutz‘, ‚Selbstent-faltung‘). Nicht jedes Mitglied einer Gruppe teilt alle Werte dieser Gruppe, aber die Werte der Gruppe sind für diese konstitutiv“ (Hermanns und Schreckenbach 2011: 21).

Unter We r t e n sollen hier daher im Unterschied zu Milieus soziodynamisch relevante, relativ stabile Handlungsmotive verstanden werden, die polare Sub-jekt-Dispositionen im Alltagsbewusstsein als Bestandteile von Subjekt-Objekt-Beziehungen liefern und deren Ausrichtung in der Regel auf Konventionen beruht.

„Werte können kollidieren, auch in einer Gruppe, zum Beispiel in einer Familie: Ein jugend-liches Mitglied der Familie fühlt sich zur Gothic-Szene hingezogen, die Eltern finden das scheußlich. Der Jugendliche kann den einen Wert ‚Selbstentfaltung‘ höher bewerten, aber dann ist in der Familie der Einhalt des Wertes der ‚Harmonie‘ gefährdet. Er kann seine vom familiären Wertekonsens abweichenden Handlungen verheimlichen, dann verstößt er jedoch unweigerlich gegen den Wert ‚Ehrlichkeit‘ […]. Wenn wir in Interakti-onen handeln, dann sind wir also damit beschäftigt, das Handeln der Anderen zu inter-pretieren. Einzelne Handlungen deuten wie als Elemente eines Musters: ‚Er stellt sich über mich‘, ‚er traut mir nichts zu‘, ‚er kennt meine Kompetenzen‘, ‚er bewundert mich‘ et cetera. Wir machen uns ein Bild von dem, wie das Gegenüber uns sieht – und der Partner in der Interaktion macht das genauso […]. Wenn wir mit Anderen in Interaktio-nen eintreten, versuchen wir, die Situation so zu inszenieren, dass wir die Rolle zuge-wiesen bekommen, die zu unserem Bild von uns passt. Goffman nennt diese (willkürli-chen oder unwillkürlichen) Versuche, bei Interaktionspartnern die Wahrnehmung der eigenen Person zu steuern: ‚impression management‘ (‚Eindrucks-Management‘, vgl. Goffman 1959) […]. Mit Objekten, die Werte symbolisieren, zum Beispiel Rolex (‚reich‘), iPhone (‚stylish‚), Nike-Kleidung (‚cool‘) kann man versuchen, den Eindruck zu erwe-cken, dass die Werte, die diese Objekte repräsentieren, auch auf die Rolle des Trägers zutreffen. Aber die Objekte sind nicht für jede Gruppe mit denselben Werte verbunden: eine Rolex im Bankenmilieu symbolisiert ‚Erfolg‘, ein Punk spuckt drauf, weil Rolex alles das verkörpert, was er verachtet“ (Hermanns und Schreckenbach 2011: 21ff).

1.2 Wertkonflikte und Milieuunterschiede am Beispiel von Autodesign

Der Symbolgehalt von Design, der Wertvorstellungen und Wertevermittlung von sozialen Gruppen betrifft, kommt ganz besonders deutlich zum Ausdruck, wenn damit Wertekonflikte berührt werden. Vor einiger Zeit fand zum Beispiel

115Design und Milieus

eine öffentliche Debatte darüber statt, dass der Leiter eines Berliner karitati-ven Vereins zur Hilfe für Obdachlose einen teuren Maserati als Dienstwagen fuhr. In der Presse herrschte Einigkeit darüber, dass darin ein moralischer (eventuell auch rechtlicher) Verstoß zu sehen sei: Der Betreffende habe sich auf Kosten der Obdachlosen oder zum Schaden der Allgemeinheit bereichert, er habe es insbesondere mit der Wahl der Marke, welche nicht nur als Zeichen für Reichtum, sondern auch als Ausdruck eines besonders elitären Lebens-stils angesehen wird (Seltenheit, besondere Sportlichkeit, besondere Eleganz), in eklatantem Maße an Einfühlungsvermögen hinsichtlich der Nöte seiner Kli-enten fehlen lassen. Allerdings gab es auch Stimmen, die meinten, dass die-ser Geschäftsführer nur geschickt die Möglichkeiten seines Amts genutzt habe, ein Äquivalent für den Umfang und die Effizienz seiner Arbeit zu erhalten oder gar mit dieser Automarke die Obdachlosenhilfe auf den Rang eines erfolgrei-chen Unternehmens gehoben hätte. Vereinzelt wurde auch in der Wahl des Fahrzeugs eine besondere Fähigkeit zur Dominanz als positivem Persönlich-keitswert gesehen – eine Stärke, welche sich im Normenbruch manifestiert.

Mit den unterschiedlichen Deutungen der Marke Maserati in diesem konkre-ten Kontext wird nicht nur eine Differenz zwischen öffentlich verstärkter Moral und den jeweils persönlichen Einstellungen, die es dazu gibt, deutlich, sondern es zeigen sich auch die an moralische Werte geknüpften Milieugrenzen. Die Menge aller Mitglieder einer hierfür relevanten Deutungsgemeinschaft bestimmt sich anhand der Antwort auf die Frage: „Darf ein Obdachlosenvereinschef einen Maserati fahren, ja oder nein?“ Die Antworten weisen die Beteiligten in diese oder jene Gemeinschaft, während die Antworten selbst die Grenzen zwischen den beiden Gemeinschaften von der einen und von der anderen Seite her bil-den. – Natürlich ist es eine Vielzahl derartiger wertorientierter Fragen, durch deren imaginierte Beantwortung Menschen zu Deutungsgemeinschaften zusam-menkommen. Da jedoch dieselben Personen in einer anderen Situation auf eine ähnliche Frage in Bezug auf den betreffenden moralischen Wert eine ent-gegengesetzte Antwort geben können, müssen wir in Anlehnung an Schulze (1992) davon ausgehen, dass sich Deutungsgemeinschaften in diesem Sinne dynamisch und mit fließenden Grenzen bilden:

„Milieus sind soziokulturelle Gravitationsfelder mit eigenen Wirklichkeiten. Eingeschlos-sen in der Metapher der Gravitationsfelder ist die Vorstellung, dass sich nicht alle Indivi-duen am Zentrum zusammenklumpen, sondern sich in unterschiedlichen Distanzen dazu befinden, wenn sie auch bei aller Differenzierung den Einfluss konsistenzerzeugender Schwerkraftbereiche erkennen lassen: existentielle Anschauungsweisen und Wirklich-keitsmodelle. Milieus bilden ein stabiles Muster der Ungleichverteilung von alten und der Diffusion von neuen Deutungsschemata und Informationen“ (Schulze 1992: 267).

Je nach milieubezogenem Wertehintergrund wurde also der Maserati-Fahrer als unmoralisch (tendenziell Mitglieder des Selbstverwirklichungs- und Inte-grationsmilieus) oder clever (tendenziell Angehörige des Unterhaltungsmilieus – ‚unclever‘ war es in deren Augen höchstens, sich derart von der Presse vor-führen zu lassen) angesehen. Die positive Bewertung durchsetzungsstarker,

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dominanzorientierter Persönlichkeitsmerkmale und deren Versinnbildlichung anhand von Automarken ist nicht nur bei Milieus der vermögenden Zielgrup-pen von Maserati, sondern auch bei Milieus jenseits deren finanzieller Mög-lichkeiten verbreitet, und zwar hier als Bestandteil des Traums von einer eige-nen dominanten sozialen Position. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass der Protest gegen den Dienstwagen nicht von Obdachlosen ausging, son-dern von Angehörigen wohlsituierter Empathie-orientierter Wertegemeinschaf-ten. Der Protest als solcher deutet auf die enorme emotionale und damit moti-vationale Potenz der in den Markenmerkmalen repräsentierten Werte hin. Die Erscheinungsform der Automarke zeigte sich als allseits akzeptierter Ausdruck einer grundsätzlichen, Lebensstil-prägenden Gefühls- und Handlungsdisposi-tion. Für das Design und die Markenkommunikation ergeben sich aus einer derartigen Vielfalt der Werte-bezogenen Deutungsmöglichkeiten von Gebrauchs-objekten zahlreiche Anknüpfungspunkte. Und natürlich bezieht sich Maserati im Design der Karosserien, mit seinem Dreizack-Logo „Tridente“ (mit Bezug auf den Neptunbrunnen aus dem 16. Jahrhundert in Bologna) und in seinen Werbekampagnen auch auf die Persönlichkeitsstärke von Eliten, die – jeden-falls der Potenz nach – allgemeine Moralnormen zu überwinden im Stande ist.1 Allerdings geschieht das etwas zurückhaltender und eleganter als bei den vom Markenkern vergleichbaren Konkurrenten Ferrari und Lamborghini.

Abb. 8: Statussymbol Maserati. Illustration: Rainer Funke.

Ähnlich starke, wertende Reaktionen aus unterschiedlichen Milieus treten immer wieder dann auf, wenn es sich um klar erkennbare Zeichen von Reichtum, Macht und Dominanz handelt. Insofern hat Rainer Erlinger nur teilweise Recht, wenn er meint:

„Speziell in einer Zeit sozialer Unsicherheit kann, mehr noch als die Zurschaustellung von Luxus, grade die Darstellung von Macht gesellschaftszersetzende Wirkungen ent-falten – und damit allein aus der symbolischen Kraft des Design heraus ethisch höchst fragwürdig sein“ (Erlinger 2009: 74).

So sind beispielsweise auch Sport Utility Vehicles (SUVs – große Autos, die so tun als wären sie Geländewagen) bei vielen, die sie sich nicht leisten kön-

117Design und Milieus

nen, sehr beliebt, eben weil sie die „formensprachliche Aussage der Macht, des Reichtums und der Ausgrenzung [vermitteln], teilweise […] mit einem unter-schwelligen Bedrohungspotential verbunden, das […] mit martialischer Gestal-tung und Farbgebung zu tun hat“ (Erlinger 2009: 74). Mag sein, dass „das Gefühl der Chancenlosigkeit und Ausgrenzung“ verstärkt wird „durch die Kon-frontation mit einem Design, das Macht und Luxus derjenigen betont, die zen-tral in der Gesellschaft stehen“ (Erlinger 2009: 74). Andererseits wird anhand von SUVs und Sportwagen das Lebensgefühl der Reichen und Mächtigen für die anderen vorstellbar und grundsätzlich erreichbar. Dies zeigt, dass das Design von Konsumgegenständen nicht nur Milieugrenzen markiert, sondern auch Anlässe zu deren Überwindung. Hinzu kommt natürlich die Tatsache, dass aus unterschiedlichen Wertezusammenhängen heraus dieselben Zeichen unter-schiedlich gedeutet werden. Für ökologisch orientierte Selbstverwirklicher kann das martialische Äußere eines SUV auch ein romantisches Naturverhältnis symbolisieren. Wertegemeinschaften existieren quasi in ihrem eigenen Deu-tungsuniversum, von dem aus sie von Zeit zu Zeit mit anderen konkurrieren.

2. Design im Zusammenhang mit Konsumverhalten und Subjektivierung

Abb. 9: Konsumobjekt Markenschuh. Foto: Anna Reinhard, Fachhochschule Potsdam.

Der Kern der Milieuorientierung von Design etabliert sich als individualitätsstif-tender Konsum. Jahrhunderte lang hatten unsere Vorfahren davon geträumt, saturiert und faul, jenseits der täglichen Mühsal im Schlaraffenland zu leben. Als die Technisierung dann sozusagen die gebratenen Tauben bereitstellte, setzte das Gegenteil ein: Statt träge dem Nichtstun nachzugehen, begann eine große Nervosität. Die Menschen sind Konsumbürger geworden, deren tägli-ches Hauptmotiv es ist, die permanente Suche nach den eigenen, ganz beson-deren Idealen mit den dazu passenden ganz besonderen Konsumgütern aus-

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zufüllen: vor den Schaufenstern und in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser, in Möbel- und Autohäusern, Technik-, Drogerie- und Baumärkten, Internet-shops und so weiter. K a u f h a n d l u n g e n erscheinen als Akte der Formge-staltung, der experimentellen Formgebung der Bestandteile des eigenen bana-len Lebens. Indem Konsumenten aus der Fülle der Optionen auswählen, und sie die Auswahl kombinieren, treten sie sich selbst quasi als Designer und Architekten gegenüber. Sehr oft reicht es schon, die Auswahl und die Kombi-nation in der Phantasie oder in Bezug auf Fiktion produzierende Medien wie Filme, Fernsehserien, Videospiele und dergleichen zu vollziehen, ohne darü-ber hinaus tatsächlich zu konsumieren. Wenn dieser Fall eintritt, dann besteht der eigentliche Konsum in der fiktionalen Zuordnung von Konsumobjekten mit ihren speziellen Zeichen zu temporären Idealen.

Abb. 10: Konsum bestimmt unseren Alltag. Illustration: Natalja Kornilowa, Fachhochschule Potsdam.

Die von der Aufklärung programmatisch formulierte Idee des souveränen Sub-jekts manifestiert sich als Konsum-Individualismus. Soziales Dasein, Integra-tion in Gruppen erscheint als das Ergebnis aktiver Individualisierung, verwirk-licht mit komplexen Zeichensystemen des Designs. Viel mehr als aus Gründen familiärer Herkunft, wie das bei unseren dorfgemeinschaftlich geprägten Vor-

119Design und Milieus

fahren der Fall war, gehören wir heute sozialen Gruppen (im Beruf, in Freun-deskreisen, in Partnerschaften usw.) an, die wir aktiv aufgesucht haben. „Sozi-ale Milieus bilden sich in unserer Gesellschaft durch Beziehungswahl“ (Schul-ze 1992: 277). Wir suchen die Zusammengehörigkeit mit anderen Menschen, die ihre Individualitätssuche auf ähnliche Weise betreiben wie wir selbst bezie-hungsweise wie wir es gern selbst täten.

Wir erkennen diese zum großen Teil an deren Konsumverhalten und den von ihnen bevorzugten Konsumgütern, welche sich in ihren Oberflächen von denen anderer Gruppen unterscheiden. „Denn je unbekannter sich miteinander inter-agierende Personen sind, umso weniger können sie Erwartungen aufbauen und mittels dieser ihre Handlungen aufeinander abstimmen“ (Habermas 1996: 184). Klassische öffentliche Identitätssymbole bestehen aus Geschlechtsmerk-malen, Hautfarbe, Hautbeschaffenheit, Körperbau, Körperhaltung, Mimik, Kör-persprache, Sprache, Orten, Räumen, Objekten. Sie werden heutzutage ergänzt durch ein sorgsam zusammengestelltes Geflecht von Objekten, dessen Auf-bau und Vervollkommnung in der Regel mit großer Energie und oft mit großer Lust betrieben wird. Sozialisation erfolgt als Parallelausrichtung unseres akti-ven Bemühens um Individualisierung.

2.1 Marken und Milieuzugehörigkeit

Produkte, Kommunikationsmittel und ganz besonders Marken werden als Zei-chen einer attraktiven oder zu verachtenden Lebensweise gedeutet, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie befestigen oder erschüttern die eigene sozi-ale Identität. Sie sind Projektionsflächen für Gemeinsamkeit und ermöglichen sehr oft überhaupt erst die Ausgestaltung von Beziehungen zwischen Men-schen, in der Regel streng nach der Zugehörigkeit zu Milieugruppen unter-schieden.

„Mochte dem einzelnen einmal romantische Naturlyrik oder eine Klaviersonate Beet-hovens das Gefühl vermitteln, aufgehoben und geschützt in einem intimen Größeren zu sein, so kann ein ähnliches Feedback inzwischen von einem Markenprodukt, einem Rasierapparat oder einem besonders formschönen Füllfederhalter kommen. Und wie ein Spielfilm oder eine Erzählung Phantasien stimuliert, malt mancher sich das eigene Leben ausgehend von einem Anzug oder einer Espressomaschine als Erfolgsstory aus und träumt seine Träume etwas schärfer konturiert als sonst“ (Ullrich 2007).

Die Kodes dafür liefert der gesamte kommunikative Hintergrund: Konventionen in den Milieugruppen (z.B. von Jugendlichen auf der Suche nach Selbstver-wirklichung) im Verhältnis zu solchen außerhalb (z.B. von Lehrern, Eltern usw.) aber auch Werbung, Spielwelten, Filme, Fernsehserien und so weiter. Beispiels-weise wurden in der Studie Design und Moral bei jungen Menschen (Funke, Hermanns und Schreckenbach 2011) von Angehörigen des Unterhaltungsmi-lieus die Träger der Marke H&M als intellektuell und elitär bewertet, während Mitglieder des Niveaumilieus H&M als Zeichen für Leistungsverweigerung ansa-

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hen. Picaldi-Fans hingegen wurden von allen einheitlich als Dominanz-affin eingeschätzt, Käufer von KiK als Verlierer. Allerdings wurde deren Status und moralischer Wert unterschiedlich eingeschätzt. Dasselbe Phänomen ließ sich für teure Marken feststellen. Sehr oft wurde die eigene Haltung mit einem Hin-weis auf Medienstars verknüpft. Ausnahmslos alle Probanden brachten zum Ausdruck, dass ihre soziale Anerkennung in direkter Korrelation zu ihrer Mar-kenkompetenz steht, selbst dann, wenn sie angeben, Marken, Design oder überhaupt Äußerlichkeiten seien ihnen nicht wichtig.

Abb. 11: Lebensstil als Kombination von Konsumangeboten. Illustration: Yella Schaube, Fachhochschule Potsdam.

Im Besitzen-Wollen, Besitzen oder Nutzen spezieller Konsumgegenstände fin-det man den Ausdruck bestimmter Lebensstile, Haltungen und Weltanschau-ungen. Dazu Felicidad Romero-Tejedor:

„Nach Kai-Uwe Hellmann bringen Marken in ihrem Sozialprogramm einen Sozialcode mit sich. Dieser Code ist ganz einfach: Inklusion oder Exklusion gegenüber der Marke. Eine Rolex am Armgelenk signalisiert, dass man zum Kreis der ‚Winner-Typen‘ gehört. Ein Geldmensch ohne Rolex signalisiert auch etwas, nämlich dass er sich distanziert. Aber hier soll kein Missverständnis aufkommen: Mit Produktsemantik gestalten Desig-ner nicht die Gesellschaft, sie bestätigen nur bestehende Identifikationsambivalenzen“ (Romero-Tejedor 2009: 5).

Nun, ganz so einfach ist der Kode dann doch nicht. Neben der Zugehörigkeits-vorstellung vermittelt er auch ein konkretes Erwartungsszenario gegenüber dem Rolex-Träger, welches je nach Milieu bewertet wird: „Rolex-Träger verhal-

121Design und Milieus

ten sich so und so.“ Genau ein solches imaginiertes Verhaltensszenario, wel-ches als emotionaler Gewinn oder Verlust erlebt wird, erlaubt jenen, für die Reichtum und Macht unerreichbar erscheinen, eine symbolische Teilhabe: „Wenn ich reich und mächtig wäre, würde ich mich so und so verhalten.“ Darin liegt eine nicht zu unterschätzende Antriebskraft der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich unter Zuhilfenahme von gestalteten Produkten Aufstiegs-, Teilhabe- und Glückshorizonte zu zeichnen. Milieus formen sich also auch als Gemein-schaften gleichgedeuteter Szenarien der Überwindung eigener Milieugrenzen. Die Richtung dabei verläuft nicht ausschließlich von ‚unten‘ nach ‚oben‘. So werden beispielsweise auch im Niveaumilieu Zugänge zum Harmonie- oder Unterhaltungsmilieu fiktionalisiert, die sich zum Beispiel in bäuerlicher oder proletarischer Romantik (Jeans, temporär aufgesuchte Kargheit oder der bewusste Einkauf bei Aldi können hierfür Symbole liefern) zeigen.

In derartigen Zusammenhängen etablieren sich oft vielfach verzweigte Spie-le, bei denen unterschiedliche Abstände zu Verhaltensnormen justiert werden können. So können Dinge, welche aus der Sicht des Selbstverwirklichungsmi-lieus als besonderer Ausweis für Spießigkeit gelten (z.B. Gartenzwerge oder Wackeldackel), durch ironische Platzierung zu Zeichen für besondere Stärke und Coolness avancieren. Man kann sich die Nähe des Hässlichen leisten, man ist nicht mehr gefangen im Reflex der Ablehnung des Kitsches. Darüber hinaus wird das Maß an Sentimentalität dosierbar, werden Unterhaltungs- und Harmoniemilieus partiell beziehungsweise temporär erreichbar. Insofern gerät die schwere Rapper-Goldkette am Hals eines Experimentalisten (vgl. Sociovi-sion 2007) zum Symbol seiner Freiheit gegenüber den normativen Kodes sei-nes eigenen Milieus, was bei Erreichen einer hinlänglichen Verbreitung zu Ver-änderungen der milieuinternen Kodierungsnormen und damit auch der Gestalt-konkreten Milieugrenzen führen kann. Auch der Umgang mit Imitationen und Markenfälschungen differenziert sich vielfältig aus. Ein gutes, manchmal sogar auch ein schlechtes Imitat einer Louis-Vuitton-Handtasche bringt unter Umstän-den mehr Sozialprestige ein als das Original. Diese Phänomene bilden die Grundlage für eine hohe Dynamik innerhalb und zwischen den Milieus.

2.2 Die neue Moral des Konsums

Ob gesamtgesellschaftlich oder in Gruppen, Moral dient dazu, Lust und Ego-ismus der Einzelnen zugunsten eines im öffentlichen Bewusstsein verhandel-ten Verständnisses der Wohlfahrt der Gemeinschaft zu reduzieren. Damit ver-mittelt sie den Agenten Sicherheit und Orientierung für das eigene Verhalten. In der Vergewisserung, sich moralisch gut zu verhalten, liegt die Rechtfertigung des eigenen sozialen Wertes und der Akzeptanz in der Gemeinschaft. Unser moralisches Gewissen veranlasst uns, die Erwartungen der anderen und des Gemeinwesens als Ganzem uns gegenüber jeweils mitzudenken, zu antizipie-ren. Darüber hinaus geht es darum, die Angemessenheit des eigenen Tuns an den naturgesetzlichen Voraussetzungen unseres Daseins zu fixieren. Moral fixiert also Koordinationsprinzipien von Individuen untereinander und zum

Rainer Funke 122

Gemeinwesen sowie zur Natur. Doch in dem Maße, wie der Druck zur Indivi-dualisierung steigt, relativiert sich das klassische Egoismus-Verbot. Die Furcht vor Vereinnahmung und das Gefühl des Mangels an Sinn sind zentrale Sozia-lisationskräfte in unserer Zeit. Parallel zur überkommenen bürgerlichen verbrei-tet sich eine zweite Moral, eine der Amoralität. Der Norm „Du sollst andere lie-ben!“ wird „Du darfst, Du musst Dich selbst lieben, Dich oder Deinesgleichen!“ gleichberechtigt zur Seite gestellt. Die Konsumartikel sollen beides leisten: Sie sollen das Erlebnis des Sieges des einzelnen über die anderen symbolisieren und gleichzeitig dessen Integration in ein Milieu bewerkstelligen. „Égoiste“, „Geiz ist geil!“ meinen ‚Du darfst egoistisch sein‘. Ein abgestuftes Pendeln zwi-schen Egoismus und Altruismus ist zur milieuspezifischen Normalität gewor-den. Mehr oder weniger liebt man im anderen sich selbst in der Weise, dass man das Eigene im anderen findet oder in ihn projiziert. Die antisoziale Umwer-tung gerät zur sozialen Bindekraft: die Gemeinschaft der Spieler um den Preis für den cleversten Geizigen, skrupellosesten Konkurrenten, selbstverliebtes-ten Egoisten in jeweils wechselnden Rollen und unterschiedlicher Ausstattung. Die Revolte gegen die Moral zur Vermeidung der Anstrengung einer normge-rechten Selbstausrichtung ist selbst zu einer Norm geworden. Auch diese Anstrengung, die nun nötig ist, wird belohnt – real oder nur scheinbar, jeden-falls gibt es das Versprechen der Belohnung: durch Aufmerksamkeit, Gemein-samkeit, Nähe im eigenen Milieu und in der weitergreifenden Öffentlichkeit. Seit Narziss sich vor der Klarheit des Wassers verbeugte, um der Faszination des Bildes eigener Schönheit zu erliegen, sind wir von der Sehnsucht getrieben, unsere Schönheit in den Dingen der Welt zu spiegeln. Eines unterscheidet uns heute allerdings ganz wesentlich vom antiken Narziss: Er wusste nicht, dass er es selbst war, in dessen Bild er sich verliebte. Uns hingegen begleitet die-ses Wissen. Die Selbstverliebtheit wird milieuübergreifend akzeptiert und genos-sen, sowohl in ihrer paralysierenden als auch in ihrer aktivierenden Dimensi-on. Der Narzissmus scheint zum dominierenden Deutungs- und Nutzungskon-zept für zahlreiche Konsumgegenstände und Kommunikationsmittel geworden zu sein. In der Art seiner Fixierung auf verschiedene Objekte und Kodes zu deren Deutung tritt die Milieuspezifik zutage. Internetabhängigkeit, exzessives Spielen, Kaufrausch, Autofahren, Mode-Fetischismus und so weiter scheinen

Abb. 12: Computerspielen als Beispiel für Erlebnis-kulturen. Illustration: René Wach, Fachhochschule Potsdam.

123Design und Milieus

einen gemeinsamen Kern zu haben: Die Lust der Konsumenten an sich selbst. Werte- bzw. Deutungsgemeinschaften werden offenbar danach gewählt, in wel-cher Form und welchem Maße dieser Selbstgenuss Resonanz zu finden ver-spricht und sich durch ihre Mitglieder gegenseitig verstärkt. Trotzdem behalten die klassischen Normen, wie die 10 mosaischen Gebote2 oder Kants Leitsätze individueller sittlicher Vernunft3 grundsätzlich weiter Gül-tigkeit. Sie wurden auf dem Weg von einer Moral der Überlebensoptimierung hin zu einer Moral der Erlebnisoptimierung situativ und milieubezogen diffe-renziert, relativiert und erweitert. So finden wir uns alle in einer postmodernen Wertepolarität des ‚Sowohl-Als-Auch‘ wieder, und zwar zwischen:

„Sei solidarisch!“ und „Sei besonders!“„Diene dem Gemeinwohl!“ und „Sei egoistisch!“„Begrenze deine Lust!“ und „Sei lustvoll!“ „Sei vernünftig!“ und „Sei emotional!“„Sei diszipliniert!“ und „Sei frei!“„Sei klug!“ und „Sei phantasievoll!“„Glaube!“ und „Sei kreativ!“„Sei keusch!“ und „Sei sexy!“„Sei männlich-hart!“ und „Sei weiblich-sanft!“„Sei ernsthaft!“ und „Sei spielerisch!“„Sei erwachsen!“ und „Erhalte dir deine Kindlichkeit!“ „Sei erfolgreich!“ und „Sei glücklich!“„Sei gut!“ und „Sei schön!“

Milieus können als qualitativ unterschiedliche Schnittmengenüberlagerungen von Werturteilen und Wertungshandlungen zwischen diesen Polen verstanden werden.

3. Konventionen für die Markierung von Status

Werte an die Oberflächen von Dingen zu binden und damit soziale Unterschie-de zu markieren, hat eine sehr lange Geschichte. Seit alters her ist es beispiels-weise üblich, Reichtum und Macht mit teuren und edel gestalteten Objekten zum Ausdruck zu bringen und darüber hinaus gleichzeitig in der Form der Gebäude, der Räume, der Einrichtungsgegenstände, der Kleidung und so wei-ter die Regeln des Verhaltens in der Gemeinschaft sowie die Grenzen der sozi-alen Schichten (Stände) zu symbolisieren. Der inhaltliche Bezug zu Macht und Reichtum lässt sich indexikalisch erschließen, etwa über Anzeichen der Echt-heit von Edelmetallen oder der Originalität und Komplexität von Herstellungs-verfahren der Objekte. Über ikonische Verweise (etwa Herrscherporträts in ent-sprechender Kleidung und Haltung) wurden und werden Gestaltwelten defi-niert, die es gestatten, Menschen als reich oder mächtig auszumachen und symbolisch zu deuten, das heißt, sich der Konventionen zu vergewissern, wel-che hiermit im Zusammenhang stehen.

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Das hier vertretene Verständnis des Begriffs „Konvention“ orientiert sich an David K. Lewis (1969). Er bestimmt sie als relativ stabile Verschränkung gegen-seitiger Erwartungshaltungen von Menschen, die miteinander irgendwie real oder fiktiv kommunizieren. Das vielzitierte Beispiel des Telefonierens erklärt eindrücklich den Prozess der Entstehung von Konventionen: Wenn zwei Men-schen A und B miteinander telefonieren wollen (also eine Motivation haben, ihre Handlungen miteinander zu koordinieren), sich aber nicht darüber abge-sprochen haben, wer wen anruft, ist es für das erste Telefonat aus beider Sicht zufällig, wer wählt und wer abwartet. Nehmen wir den Fall an, A wählt und B wartet, so ist für die zweite, darauffolgende Situation, in der beide wieder mit-einander telefonieren wollen, diese Konstellation im Gedächtnis beider. A kann nun denken: „Ich habe das letzte Mal gewählt, also tue ich es wieder.“ Oder auch: „Ich habe das letzte Mal gewählt, also ist nun B dran.“ B hingegen: „A hat das letzte Mal gewählt, also tut er es wieder.“ Oder auch: „A hat das letzte Mal gewählt, also bin nun ich dran.“ Beide Varianten sind nahezu gleichwahrschein-lich. Entschließt sich nun A, wieder zu wählen und B, zu warten, ist beim drit-ten Telefonat die Wiederholung der Rollenverteilung minimal wahrscheinlicher als ein Wechsel. Sind aber die Telefonate beim dritten, vierten, fünften, hun-dertsten, tausendsten […] Mal ebenso verlaufen, nimmt die Wahrscheinlichkeit des Rollenwechsels kontinuierlich ab. Denn die gegenseitigen Erwartungen von A und B aneinander haben sich verschränkt und stabilisiert. A erwartet von B, dass dieser auf seinen Anruf wartet. B erwartet von A, dass dieser anruft. Aber A erwartet auch von B, dass dieser von ihm erwartet, dass er erwartet, dass B wartet. Wenn wir also aufgrund unserer Erfahrung hinreichend Anlass haben, die konkreten Erwartungen anderer an unsere Erwartungen in wieder-holbaren Situationen einschätzen zu können, hat sich gegebenenfalls eine Kon-vention herausgebildet. Wenn wir also zum Beispiel sehen, dass Menschen im Maserati in die Toreinfahrt eines großen Villengrundstücks fahren und da aus-steigen, erwarten wir von ihnen, reich zu sein. Und wir erwarten gleichzeitig, dass diese von uns erwarten, dass wir sie für reich halten und so weiter.

Seine höchste Ausdifferenzierung erfuhr die Symbolisierung von Verhaltens-konventionen vielleicht am Hof von Ludwig XIV, wo quasi jeder Schritt, jede Körperhaltung und jede Geste geregelt war und im Zusammenhang mit Klei-dern und Möbelstücken Rangfolge und Abstand zum König markierte. Es war die Moral der züchtigen, bescheidenen, wohlgefälligen, aber auch status- und machtbewussten Einordnung des Einzelnen in die strenge Hierarchie einer imaginierten göttlichen Weltordnung, welche auf diese Weise gelebt wurde. Mit Anerkennung, Wohlstand, Aufstiegschancen und Neid wurde die Beherrschung und Nutzung der Kodes der feinen Differenzierungen belohnt (vgl. Otto 2010 sowie Kolesch 2006). Dementsprechend formierte sich ein recht stabiles Sys-tem von Verhaltenskodes für die Beteiligten, welches als Vorläufer heutiger Mili-eus gelten kann.4 Eine vage Ahnung davon kann sich auch heute noch einstel-len, wenn man etwa in teuren Restaurants auf die strengen Regeln des Gebrauchs von Besteck und Tafelgeschirr verwiesen wird. Für Rang-orientierte Milieugrup-pen liefern die unterschiedlichen Ausformungen höfischer Kultur nach wie vor tragfähige Zeichenkomplexe, einschließlich der Verknüpfung von „Rang“ mit

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„Tradition“. Auch der semantische Kern hat sich – bei aller Veränderung seiner einzelnen Merkmale und deren Verhältnis zueinander – in die Gegenwart fort-geschrieben: Er lässt sich als ‚das Edle‘ paraphrasieren.

Tab.2: Semantische Merkmalsarchitektur für ‚das Edle‘

Für die Zeit des Absolutismus kann man von folgender semantischen Merkmals-architektur für ‚das Edle‘ ausgehen, welche grundsätzlich von allen Ständen verstanden wurde:

Für gegenwärtige Niveaumilieu-Gruppen (vgl. Schulze 1992) gilt dagegen eher folgende Merkmalsarchitektur, welche ebenfalls von allen anderen verstanden wird, deren Zuordnung zur Zeichensyn-tax jedoch deutlich flexibler ist:

1. Teilhabe am Göttlichen1a. perfekte Nähe zu gottgemäßer

Ordnung1b. Gottesverehrung1c. Beziehung zur Ewigkeit

2. Kern des Reichs 2a. Verantwortung für das Volk2b. Macht und Sicherheit gegen

Feinde2c. Distanz zum Fremden außerhalb

des Reichs2d. Macht über das Volk2e. Distanz zu unteren Ständen3. Kontinuität der Ahnenfolge 3a. Tradition3b. Wertestabilität3c. Sicherheit3d. Kultiviertheit

1. Erfolg1a. Intelligenz und Leistungsfähigkeit1b. Glück1c. Herkunft1d. Persönlichkeitsstärke (Dominanz-

kraft)2. Macht2a. aktive, dominierende Position2b. reiches Netzwerk2c. soziale Verantwortung2d. Distanz zu anderen Milieus

(größter Abstand zum Unterhal-tungsmilieu)

3. Individualität3a. Selbstreflexivität3b. Kultiviertheit3c. Wertestabilität3d. Sicherheit

Ebenfalls eine lange Tradition hat es, positive Werte mit Askese zu verbinden. Sokrates und Diogenes von Sinope (in der Tonne) gelten als Initialfiguren für asketischen Moralismus. Auch im Buddhismus und in den monotheistischen Religionen ist diese Position verankert. „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“, heißt es beispielsweise bei Markus 10,25 (ähnlich bei Matthäus 19,24 und Lukas 18,25). Gerade die Dinge, die Reichtum, Macht, soziale Differenz und besonderen Geschmack zum Ausdruck bringen, gelten aus der asketischen Sicht als ver-werflich, Begrenzung auf das unmittelbar Notwendige, formale Reduktion, Schlichtheit und Ursprünglichkeit hingegen als moralisch erstrebenswert. Damit verbunden ist die Ablehnung von zügellosem Hedonismus, Egoismus, sozia-ler Exklusivität und Ausgrenzung.

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4. Design der Moderne und Postmoderne

4.1 Versuch der Aufhebung von Milieugrenzen

Einen zentralen moralisch-asketischen Aspekt hatte auch das Bestreben von Designern der Moderne, mittels intelligenter, praktischer, reduzierter, auf den Typus abstrahierter Gestaltung serieller Produkte das alltägliche Leben der Menschen – vor allem auch derjenigen mit geringem Einkommen und in schwie-rigen Lebensumständen – grundlegend zu verbessern und damit die Milieu-grenzen generell zu unterlaufen. Diese Verbesserung versprach man sich einer-seits durch reales Optimieren der praktischen Lebensprozesse (Wohnen, Haus-halt, Fortbewegung, Arbeit, Freizeit in der Gemeinschaft usw.). Andererseits herrschte Gewissheit darüber, dass die Zeichenwirkung der gestalteten Arte-fakte in direkter Weise das Werte-Bewusstsein und Handeln aller Menschen beeinflussen, eventuell sogar steuern könnte. So war die Idee des funktiona-listischen Designs sowohl eng mit dem Ziel der Überwindung von Ungerech-tigkeit (im Rahmen einer entsprechenden heroisch-missionarischen Moral) als auch mit dem Vorhaben persönlicher Vervollkommnung durch Katharsis ver-sprechende Orientierung am Wesentlichen verbunden. Die Oberflächen gestal-teter Produkte und Kommunikationsmittel wurden als Emanzipationsmedium angesehen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die bis heute wirkende Idee der Entsprechung von sozialer Gleichheit beziehungswei-se Gerechtigkeit und funktionsorientierter, geometrisch reduzierter Gestaltung der Dinge des Alltags weit in die Geschichte reicht. Wir finden sie schon bei den Häusern und Möbeln der Freikirche der Shaker in den USA seit dem 19. Jahrhundert. Noch früher, bereits 1516, also 400 Jahre vor der Entwicklung des industriellen Bauens, hatte Thomas Morus in seiner Utopia detailliert die Häuser der idealen Inselrepublik ganz im Sinne der Konzepte der Moderne konzipiert: dreistöckige Bauten mit Flachdächern, großen Glasfronten (geome-trische, überschaubare, offene, transparente Räumlichkeit), Gärten nach hin-ten, bei völlig einheitlicher Gestaltung in allen Straßen. Sie bildeten den bau-lich-gestalterischen Rahmen der umfassenden Konstruktion einer Gesellschaft ohne Eigentum und ohne soziale Unterschiede. Die Abwesenheit von Zeichen des sozial Exklusiven war auch hier als folgerichtige Entsprechung einer sozi-alen Struktur der Gleichheit gedacht (Morus 1986).

Die Hoffnung, dass es gelänge, die reduzierte Syntax eines freien und gerech-ten Lebens in Zukunft dauerhaft mit den Werte- und Verhaltenskodes aller Men-schen in Übereinstimmung zu bringen, schwingt auch im Projekt der Moderne mit. Bereits 1908 proklamierte Adolf Loos. in „Ornament und Verbrechen“ das funktionalistische Gestalten: „[D]enn das Ornament wird nicht nur von Verbre-chern erzeugt, es begeht ein Verbrechen dadurch, dass es den Menschen schwer an der Gesundheit, am Nationalvermögen und also in seiner kulturel-len Entwicklung schädigt“ (Loos 1908: 18). Loos folgt damit dem 1896 von Louis H. Sullivan aufgestellten Leitsatz „form follows function“.

Ähnlich, aber in gefährlicher Nähe zur Nazi-Ideologie, kämpfte Gustav Edmund Pazaurek für den „guten Geschmack“, worin er nicht nur eine ästhetische, son-

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dern vor allem eine allgemeine moralische Kategorie sah. Die Gefährdung des „guten Geschmacks“ wurde von ihm wie von zahlreichen seiner Zeitgenossen als Bedrohung des zivilisatorischen Daseins schlechthin verstanden. Sich mit schlecht gestalteten Objekten zu umgeben, wurde sowohl als Ausdruck einer falschen Lebensweise wie auch als Verführung zu ihr gewertet. Wir erkennen hier den Rückgriff auf antike Konzepte der Kongruenz von ethischen und ästhe-tischen Werten. 1909 eröffnete Pazaurek eine „Abteilung der Geschmacksver-irrungen“ im Landesgewerbemuseum Stuttgart:

„Entsprechend der Philosophie des Deutschen Werkbunds ging Pazaurek von einem starken Einfluss der Dinge auf den Menschen aus. Nach Überzeugung des Werkbunds erhöhte ein entsprechendes Wohnumfeld nicht nur die Lebensqualität, sondern konn-te auch den Menschen selbst ‚bessern‘ und zu einem verantwortlich denkenden Mit-glied der Gemeinschaft erziehen. Gekämpft wurde gegen die Prunksucht und den Deko-rationsirrsinn der Gründerzeit, gegen eine als verlogen empfundene, oberflächliche Kul-tur“ (Volkers 2009: 5).

Abb.13: Mies und Gropius: Preise von 1933 (aus: Bräuer 2002).

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Auch zahlreiche Gestalter des Bauhauses wie Walter Gropius, Hannes Meyer oder Herbert Beyer verfolgten mit ihren gestalterischen Grundsätzen sozialre-formerische Anliegen. Allerdings kamen diese Bemühungen bei den Preisen der Produkte oft nicht zum Tragen. So wird im Warenbuch für den Neuen Wohn-bedarf von Werner Gräff 1933 (Abb. 7) der Preis des Thonet-Wohnzimmerti-sches T 45 von Walter Gropius mit 75 Reichsmark angegeben. Das durch-schnittliche Arbeiter-Monatseinkommen betrug jedoch nur etwa 100 Reichs-mark. Der Stahlrohrsessel von Mies van der Rohe MR 544, ebenfalls von Tho-net in Wien hergestellt, kostete 125 Reichsmark (Blatt 57, vgl. Bräuer 2002: 812, 797). Deswegen, aber auch wegen der Kühle des rationalistischen Gestal-tungsstils, setzte sich dieses Konzept – und damit eine andauernde Redukti-on der Zahl der Dinge und des Herstellungsaufwandes – zunächst nur verein-zelt bei besonderen Eliten durch. Es verwirklichte sich das Gegenteil der ursprünglichen, an einer Moral des Gemeinwohls und der Gleichheit orientier-ten, sozialreformerischen Intention: Häuser, Möbel und so weiter wurden zum Ausweis elitärer, avantgardistischer, scheinbar rationalistischer Lebensstile. Nicht ihres realen Potentials an Vernunft und Rationalität wegen, sondern auf-grund ihres speziellen Fiktionswertes, der die Romantisierung eines streng vernunfts- und rationalitätsgeleiteten Lebens beinhaltet, fanden und finden sie in kleinen Zirkeln Verbreitung. Die Masse bevorzugt seit ehedem die Lust am Opulenten, an der Ausschweifung und am schnellen Wandel. Insofern wurde das ursprüngliche Ziel der Überwindung von Milieugrenzen nicht erfüllt, im Gegenteil, die Produkte der klassischen Moderne fügten den bislang geläufi-gen Mitteln der Dokumentation von Milieugrenzen eine neue Repertoireklas-se hinzu. Im Zusammenhang mit der an geometrisch reduzierten Formen ori-entierten ‚sachlichen‘ Gestalt, konnte sich ein neues Milieu, die „Avantgarde“ alltagsästhetisch manifestieren.

4.2 Der Wertekonflikt der Moderne am Beispiel der Frankfurter Küche

Beispielhaft für eine milieudifferenzierende Werte-Kollision im Zusammenhang mit der Gestaltung in der Moderne ist die legendäre Frankfurter Küche von 1926, die Mutter aller Einbauküchen (Abbildung 14). Für deren Schöpferin, Margarete Schütte-Lihotzky, bestand in der Erleichterung der Hausarbeit und der grundsätzlichen Verbesserung der Wohnverhältnisse von Menschen mit geringem Einkommen ein zentrales Anliegen. Sie arbeitete im Auftrag von Ernst May (seinerzeit Siedlungsdezernent von Frankfurt am Main) für das soziale Wohnungsbauprogramm Neues Frankfurt und schuf ein wegweisendes, huma-nes, kostengünstiges Konzept von Einbauküchen auf kleinstem Raum, opti-miert auf die industrielle Massenfertigung.

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Abb. 14: Die Frankfurter Küche aus der Siedlung Römerstadt, Frankfurt, 1927/28, Schausammlung des Werkbundarchivs – Museum der Dinge, Berlin. Foto: Armin Herr-mann.

Allerdings erwies sich die Frankfurter Küche, obgleich streng funktionalistisch geplant und in vielen Details nahezu perfekt auf die Arbeitsabläufe beim Kochen und auf die Architektur der kleinen, bezahlbaren Wohnungen abgestimmt, in vielen Haushalten als ziemlich unpraktisch. Zwar waren die Arbeitsabläufe in der Küche optimiert, was tatsächlich eine Entlastung der Hausfrau darstellte, der beliebte Wohnküchen-Esstisch passte jedoch nicht mehr in den kleinen Raum. Das traditionell gewohnte Familienleben nahe am Herd war so kaum noch möglich (normalerweise gehörten in dieser Zeit mehrere Kinder zur Fami-lie, die auch während der Küchenarbeit beschäftigt und beaufsichtigt werden mussten). Außerdem fanden sich in der Strenge der funktionalen Gestaltung zu wenig Zeichen des Anschlusses an die Kulturformen der wohlhabenden Schichten, wie sie von den Angehörigen der Arbeiter- und Mittelschicht bevor-zugt wurden. Man versuchte vielfach, dieses Defizit mit Dekorationsbemühun-gen auszugleichen, welche dann freilich die praktischen Abläufe ebenso behin-

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derten wie der Familientisch, wenn dieser doch noch irgendwie hinein gequetscht passte. Der damit zu Tage tretende Werte-Konflikt lässt sich folgendermaßen kennzeichnen:

Tab.3: Wertekonflikt am Beispiel der Frankfurter KücheVon der Gestalterin intendi-erter Wertausdruck der Frankfurter Küche

Von den Nutzern (Arbeiter- und Mittelschicht) gelebte Werte

Ihr sollt rein sein!Ihr sollt effizient sein!Ihr sollt rational sein!Ihr sollt emanzipiert sein!Ihr sollt auf euch stolz sein!Ihr sollt das „Neue Leben“ leben!

Wir wollen es gemütlich haben!Wir wollen Multitasking!Wir wollen Kitsch und Schwülstigkeit!Wir wollen uns anpassen!Wir wollen von Reichtum und Macht träumen!Wir wollen leben wie in der „guten alten Zeit“!

Die erhoffte Umwertung bei den Bewohnern des Projekts Neues Frankfurt fand eher selten statt. Im Gegenteil, der Kampf gegen die Zeichen eines fremden Milieus stärkte die Wahrung der Grenzen des eigenen.

4.3 Design und Erlebnisgesellschaft

Dieser Typus des Umgehens mit alltagsästhetischen Phänomenen nahm im Verlauf des 20. Jahrhunderts rasant zu. Auf der Grundlage von Massenproduk-tion und Massenkonsum verschob sich die Bedeutung der Konsumgegenstän-de ihrem Schwerpunkt nach von Überlebensmitteln hin zu Erlebnismitteln. Neu in der Erlebnisgesellschaft des Massenkonsums ist, dass nicht nur eine beson-dere Oberschicht, sondern alle Menschen zu Konsumbürgern geworden sind, die in ihrem Alltagsleben ständig Gebrauchsgüter nutzen, um sich selbst ihrer Werte zu vergewissern und sie anderen mitzuteilen. Es geht nicht mehr darum, lediglich Übereinstimmung oder Distanz mit/zu von Autoritäten vorgegebenen Wertekonfigurationen und deren Zeichen sich selbst und anderen gegenüber zu dokumentieren. Es geht nun vielmehr darum, aus einer tendenziell unüber-schaubaren Fülle von Angeboten an Wertegefügen und dazugehörigen Sym-bolen auszuwählen, sie mit den eigenen Sinn- und Zielvorstellungen abzuglei-chen, ihre Kraft zur Integration in jeweils attraktive Gruppen auszutesten und sie in zahlreichen Selbstreflexions- und Kommunikationsszenarien auf ihre Glückspotenz zu prüfen.

„Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht“ (Sartre 1993: 457). Die Antizipation dieses „Blicks des Ande-ren“, dessen Erwartungen an mich, dessen Zugehörigkeit zu Wertesystemen und Gruppen, der ein- oder ausschließenden Folgen seiner Wertung (Nähe oder Ferne) bestimmen ganz wesentlich unser von Konsum getragenes, sozio-dynamisches Verhalten, immer gemessen an den eigenen Idealen, Zielen, Sehnsüchten, Träumen.

131Design und Milieus

„Das ist der Kern dieser Erlebnisgesellschaft: Wir müssen uns selbst inszenieren, wir sind zum Selbst gezwungen, wir müssen uns abgrenzen, daraus besteht unsere Iden-tität. Der Trick ist, dass wir diese Konsum- und Identitätsbefehle wirklich für unser eige-nes inneres Erlebnis halten sollen… Was wir für unser Innerstes halten, ist natürlich das Ergebnis von einem Haufen Verwerfungen, die wir vornehmen, um nicht ausge-schlossen zu sein“ (Polesch, 2011: 51).

Je differenzierter dieser Prozess der sozialen Verortung abläuft, umso mehr Objekte vereinnahmt er als Zeichenträger. In der Vielfalt des Zeichenangebots von Konsumgegenständen und -medien erblicken wir Stück für Stück die Man-nigfaltigkeit unserer sozialen Daseinsmöglichkeiten als Erlebnisangebote.

Eine programmatische Reaktion von Designern auf die zunehmende Domi-nanz der Erlebnis-Optionen für das banale Alltagsleben finden wir in den als „postmodern“ bezeichneten Interventionen seit dem Ende der 1960er Jahre. Spiel, Ironisierung, Infantilität, Doppeldeutigkeit, Political Incorrectness waren und sind gestalterische Strategien, mit denen die Oberflächen der Produkte und Kommunikationsmittel wiederum gezielt als Emanzipationsmedien ver-wandt wurden. Nun ging es um die Befreiung von der Askese und der Kälte des Rationalismus einer strikten Industriegesellschaft zugunsten von Phanta-sie, starken Emotionen (auch im Kitsch) und Hedonismus. Exemplarisch hier-für genannt seien Charles Wilp und seine als „blasphemisch“ denunzierte Wer-bekampagne „Sexy-Mini-Super-Flower-Pop-Op-Cola – alles ist in Afri-Cola“ mit den drei lasziven Nonnen aus dem Jahr 1968, Verner Panton mit seiner futu-ristisch, vielleicht auch psychedelisch anmutenden Wohnlandschaft „Visiona II“ von 1970 sowie die Mailänder „Memphis Group“ der 1980er Jahre um Miche-le De Lucchi und Ettore Sottsass. Erneut manifestierten sich Milieugrenzen: Die nunmehr hedonistische, individualistische Avantgarde sah anders aus als die asketisch-rationalistische des frühen 20. Jahrhunderts. Wie zu Zeiten der Moderne brachte auch diese Emanzipationsbewegung keineswegs nur gesell-schaftlich allgemeingültige Werte, Normen, Lebensformen und deren Zeichen hervor, sondern ein neues Lebensmodell formte zusätzlich zu den bereits beste-henden ein neues Milieu.

4.4 Die neue Norm: Nachhaltigkeit

Andererseits machte die aufkommende öffentlich inszenierte Angst vor der naturzerstörenden Wirkung der Industrialisierung die Ökologie zu einer Quelle von Werten und Gestaltungsstrategien. Spätestens mit dem Erscheinen des Berichts The Limits to Growth vom Club of Rome im Jahr 1972 (Meadows, Mea-dows, Randers und Behrens 1972) wurde das Bemühen um ökologisches Design zu einem Grundpfeiler berufsethischer Orientierung von Designern. Das Beach-ten ökologischer Kriterien wie Material- und Energiebilanzen oder physische und symbolische Langlebigkeit von Produkten ist seither sozusagen kleinster gemeinsamer moralischer Nenner fast aller Gestalter. Inzwischen ist „Nachhal-tigkeit“ der ritualisierte Begriff, unter dem sich die momentan wohl stärkste ethi-

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sche Norm in der Perspektive der aktiven Gestaltung formiert hat. Er umfasst nicht nur die Aufforderung zum Ressourcen- und Naturschutz, sondern auch sozialethische Intentionen wie die Ablehnung von Kinderarbeit, Sexismus, Unter-drückung von Frauen und Minderheiten, Diktaturen, Ausbeutung und mehr. Natürlich gibt es auch klare Definitionen des Begriffs, die den Schutz und Fort-bestand lebenswichtiger Systeme intendieren. Nichtsdestotrotz wird zunehmend enormer Interpretationsspielraum eröffnet (vgl. Hauff 1987, Klauer 1999).

Schon immer haben die Menschen daran geglaubt, bedrohliche Mächte oder Geschehnisse durch Wohlverhalten und Rituale abwehren zu können, so auch heute. Und schon immer brauchten derartige Riten Unschärfe und Geheimnis-volles. Der heutige Ritus ist ein scheinbar rationaler Akt. Er wendet sich einer-seits an das, was nachhalten soll, andererseits an die Gemeinschaft. Doch vor allem ist er ein Akt der Erklärung: „Erkläre die Nachhaltigkeit deines Tuns!“ Dafür gibt es öffentlich anerkannte, aus Wissenschaften, Religionen, Politik gespeiste, in den Medien angesiedelte, sich nach und nach verändernde und vermehrende Argumentationsfiguren. Ihr gehorsamer und gründlicher Nach-vollzug verspricht Absolution. Feinsinnigkeit beim Aufspüren der Eigenheiten jeweils angesagter Erklärungsmuster wird belohnt. Dementsprechend werden Milieugruppen mit hoher Selbstreflexionskraft öffentlich real oder scheinbar bevorzugt. Der Begriff der „Nachhaltigkeit“ hilft, die Konkretheit von Bedrohun-gen zu konstruieren, ihr ein Bild zu verschaffen, um sie anschließend zu ban-nen (bei wechselnden Themen wie Umweltvergiftung, saurer Regen, sterben-der Wald, Überbevölkerung, Ozonloch, Erderwärmung, Co2, Verstrahlung, Gen-trifizierung, Verelendung usw.). Wie elastisch dieser Ritus ist, zeigt eine Kon-sumenten-Studie der „Serviceplan Gruppe“, München. 67 Unternehmen aus 12 Branchen wurden nach ökologischer, ökonomischer, sozialer und psycho-logischer Nachhaltigkeit bewertet. Das sind die ersten 10 Plätze: 1. Hipp, 2. ADAC, 3. dm, 4. Miele, 5. BMW, 6. Audi, 7. Toyota, 8. Mercedes, 9. Haribo, 10. Dr. Oetker (ADAC Motorwelt 2011: 12). In der heutigen Erlebnisgesellschaft bewirkt der Erklärungsritus „Nachhaltigkeit“ vor allem eines: Spannung gegen drohende Langeweile und Sinnverlust. Er erschließt Erlebnisressourcen. Er „antwortet auf ein Unbehagen, das unser Dasein in der technischen Zivilisati-on mit einem zunehmenden Unhaltbarkeitsgefühl unterwandert“ (Sloterdijk 2011: 11). Aber er hilft eben auch, dieses Unbehagen lebendig zu halten.

Mit der Ausweitung des Begriffs ging eine Ausweitung der produktsprachli-chen Zeichen dafür einher. Die klassische Ökologiebewegung hatte mit natur-belassenen Oberflächen sowie ihrem zentralen Symbol, dem Jutebeutel, eine gewisse formale Wiedererkennbarkeit und damit einen Zeichenvorrat zur Mili-eubegrenzung geschaffen. Diese relative Eindeutigkeit ging mit der Ritualisie-rung von „Nachhaltigkeit“ Schritt für Schritt verloren. Das lässt sich insbeson-dere an der Entwicklung des Corporate Designs von ökologisch orientierten Unternehmen über die letzten 30 Jahre gut im Detail nachweisen, wohl aber auch anhand des Auswaschens der Grenzen von „Öko-Gruppen“ als Gruppie-rungen des Selbstverwirklichungsmilieus.

Die Geschichte der Avantgarden des 20. und 21. Jahrhunderts deutet auf einen Typus der Milieubildung hin: die Rückverweisung eines gesellschaftlich

133Design und Milieus

weit übergreifend angelegten Wertekomplexes auf die Eigenart der Lebens-weise und Deutungsprozesse einer spezifischen Gruppe, deren Zentrum aus den Schöpfern des betreffenden Wertegeflechts besteht. Für diesen wie für andere Typen von Milieubildungsprozessen und Milieudynamik liefert Design unter den Bedingungen des Massenkonsums notwendige Zeichensysteme.

Anmerkungen

1 Im Song des aktuellen Werbe-Videos heißt es unter anderem: „Are we strong enough? Can we make the cut? Can we cross the finish line? […] We can do anything! We can be anyone!“ http://www.maserati.de/ (25. 10. 2011, 16.15 Uhr).

2 Insbesondere Sozial-, Eigentums- und Rechtsprinzipien wie „Du sollst nicht töten.“, „Du sollst nicht stehlen.“, „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächs-ten“, gelten nach wie vor als sittliche Basis von Gemeinschaft.

3 Auch Kants Leitsätze finden nach wie vor mehrheitliche Anerkennung und Beach-tung: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“, „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel, brauchst.“, „Handle so, als ob die Maxime dei-ner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden soll-te.“, „Demnach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ (Immanuel Kant 1781: 421ff).

4 Im Sinne von Schulze (1992) lebten seit jeher die Oberschichten dem Typus ihrer Alltagsmotivationen nach quasi in einer Erlebnisgesellschaft. Allerdings eben im Vergleich zu heute mit deutlich geringeren Individualisierungszwängen, Rollen- und Gegenstandsoptionen.

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Rainer FunkeFachhochschule Potsdam, Fachbereich DesignPappelallee 8-914469 PotsdamE-Mail: [email protected]

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 135-138Stauffenburg Verlag Tübingen

In eigener Sache

Herausgeberkonzept und redaktioneller Diskurs-rahmen der Zeitschrift für Semiotik

Stephan Debus, Medizinische Hochschule HannoverRoland Posner, Technische Universität Berlin

Mit Unterstützung des Beirates der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) auf seiner Sitzung während des XIII. Internationalen Semiotik-Kongresses in Potsdam hat sich am 3. Dezember die Redaktionskonferenz der Zeitschrift für Semiotik (ZS) neu konstituiert. Mit diesem Beitrag „In eigener Sache“ möchten die Herausgeber die Leserschaft der Zeitschrift über die neuen Redaktions-statuten informieren. Gleichzeitig laden die Herausgeber interessierte Semio-tiker ein, sich für die ehrenamtliche Mitarbeit in der Redaktion der Zeitschrift zu bewerben und den Fortbestand der Zeitschrift mit zu gestalten. Die Statu-ten betreffen die folgenden Bereiche: 1. Redaktion und Redaktionskonferen-zen, 2. Herausgeberschaft, 3. Leserbeteiligung, 4. inhaltliche Schwerpunktset-zungen, 5. Digitalisierung/Layout und 6. Rolle des Instituts für Kultursemiotik.

1. Redaktion und Redaktionskonferenzen

1.1 Übersicht

Auf die zukünftigen Herausforderungen an die Zeitschrift für Semiotik (ZS) wol-len die Herausgeber mit einem veränderten Konzept reagieren. Den organisa-torischen Kern des veränderten Herausgeberkonzeptes bildet eine eigenstän-dige Redaktionskonferenz. Der Aufgabenkatalog der Redaktion beinhaltet: Heft-planung, Themenfestlegung, Autorensuche, Heftverantwortlichkeiten, Heftkri-tik, Integration eines Peer-Reviews, Entwicklung einer Strategie, die die zuneh-mende Digitalisierung des Büchermarktes berücksichtigt, Web-Auftritt, Kontakt mit der DGS zum Verlag und zu den Herausgebern.

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1.2 Zusammensetzung

Die Redaktion setzt sich aus mindestens 5 höchstens 8 ehrenamtlich tätigen Redaktionsmitgliedern inklusive den beiden Herausgebern zusammen. Der DGS-Vorstand ist auf den Redaktionssitzungen herzlich willkommen.

Die Redaktion bietet Mitgliedern der DGS auf ihre Bewerbung hin die Mitarbeit in der Redaktion an – sofern verschiedene Kriterien erfüllt sind: Die Redaktions-mitglieder sollten publizistische Erfahrung (als Autor, Verleger, Herausgeber) ein-bringen und vorzugsweise Mitarbeiter einer Fachhochschule oder Hochschule sein, um damit die thematische Vielfalt und die inhaltliche Kompetenz der

DGS zu repräsentieren. Redaktionsmitglieder werden nach einem Votum der Redaktionskonferenz durch die Herausgeber berufen.

Die Redaktion wird von einem Redaktionsleiter geleitet. Sie kann sich je nach Eignung und Interesse in Zuständigkeiten für verschiedene Rubriken oder Dar-stellungs- bzw. Textformen gliedern: z.B. für wissenschaftliche Texte, Kommen-tare, Veranstaltungskalender, Veranstaltungsberichte, semiotische Lehre, Heft-kritik usw. Die Redaktion gibt sich eine Geschäftordnung. Der Redaktion ist eine Redaktionsassistenz beigeordnet, die die lektorische Arbeit, das Textma-nagement und die Terminplanung übernimmt.

1.3 Redaktionskonferenzen

Die Redaktionskonferenzen werden, je nach Heftanzahl, zwei- bis maximal viermal im Jahr zusammengerufen. Routinemäßiger Treffpunkt und Sitz der Redaktion ist das neugegründete „Institut für Kultursemiotik“ (IKS) bei Hanno-ver. Hier lagern auch die Unterlagen und das Archiv der ZS. Andere sinnvolle ergänzende Treffpunkte könnten sein: Die jeweiligen Tagungsorte der DGS, oder vor- bzw. nachgeschaltete Redaktionskonferenzen zu den Beiratssitzun-gen. Darüber hinaus erscheinen Telefonkonferenzen oder andere Kommunika-tionsformen via Internet sinnvoll. Dies sind auch geeignete Maßnahmen, um die Fahrkosten zu minimieren. Bis zur Gegenfinanzierung durch zusätzliche Einnahmen, werden die Fahrtkosten der Redaktionsmitglieder zum Institut für Kultursemiotik, nach Absprache und sofern sie nicht als Dienstreisekosten der eigenen Hochschule/Institution abgerechnet werden können, vom Institut für Kultursemiotik übernommen.

1.4 Hinweise für Autoren

Die Redaktion erstellt überarbeitete und aktualisierte „Hinweise für die Auto-ren“, die die bisherigen „Hinweise“ ersetzen. Das Innenlayout des Heftes geht von dem bisher bewährten Konzept aus, das seinen Niederschlag auch in den

137Herausgeberkonzept und redaktioneller Diskursrahmen der ZS

„Hinweisen für die Autoren“ findet, kann aber in Zusammenarbeit mit dem Ver-lag und dem Web-Auftritt angepasst werden.

2. Herausgeberschaft

Die Herausgeber übertragen das bisherige operante redaktionelle Geschäft an die eigenverantwortliche Redaktion. Die Herausgeber vertreten das Image der Zeitschrift. Sie entwickeln die publizistischen Leitlinien für die Zeitschrift und zusammen mit der Redaktionsleitung überwachen sie die Einhaltung der Leitlinien. Die Herausgeber fungieren als Bindeglied zwischen Redaktion, Ver-lag und der DGS. Die Herausgeber üben in ihrer Rolle als Herausgeber keinen Einfluss auf die inhaltlich redaktionelle Arbeit aus. Sofern nicht ihre presse-rechtliche Verantwortung berührt ist, verzichten die Herausgeber auf einen Zustimmungsvorbehalt gegenüber der Redaktion.

3. Leserbeteiligung

Die Leser der ZS und insbesondere die Mitglieder der DGS, ÖGS und SGKS/ASSC sollen über die Redaktion mehr Einfluss auf die Arbeit und die Inhalte der Zeitschrift erhalten. Hier wird man erwägen müssen, wie eine solche Schnitt-stelle ausgestaltet werden kann. Den Herausgebern schwebt u.a. eine bisher nur in Umrissen bekannte systematische Form der inhaltlichen Heftkritik vor (nicht nur Leserbriefe). Diese Form der Heftkritik soll mit dazu beitragen, die Zeitschrift im wechselvollen Feld der Semiotik und Semiotiker aktuell und fach-lich zu balancieren.

4. Inhaltliche Schwerpunktsetzung

Das inhaltliche Projekt der Zeitschrift für Semiotik wird das eigentlich Spannen-de an der Redaktionstätigkeit sein. Die ZS ist ein Forum für die Selbstverständi-gung aller zeichenbezogenen Wissenschaften. Die thematische Vielfalt der Semi-otik soll über die Redaktionsmitglieder eingebracht und gewährleistet werden. Die Herausgeber werden sich aufbauend auf den bewährten theoretischen Ansät-zen und klassischen Traditionen der Semiotik dafür einsetzen, dass die Semio-tik auch als Disziplin wahrgenommen wird, die sich zu aktuellen Themen – bezo-gen auf Wissenschaft, Kultur und Politik – äußert und einmischt, z.B. durch dia-logische Beiträge oder durch Manifeste, ähnlich derjenigen von führenden Neu-rowissenschaftlern zur Rolle der Neurowissenschaft, in der Zeitschrift Gehirn und Geist; oder z.B. durch eine fachlich qualifizierte Medienanalyse der Bericht-erstattung zur Atomkatastrophe in Fukushima oder durch kritische Beiträge zur Finanz- und Währungskrise u.v.a.m. Ferner wäre den Herausgebern daran gele-gen, die Methodenkompetenz der Semiotik als angewandter Wissenschaft zur Lösung von Problemen in den Natur- und Kulturwissenschaften stärker heraus-

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zustellen. Ferner möchten die Herausgeber, dass mit weiteren Inhalten und Pub-likationsstilen experimentiert wird. Hier kann sich die Redaktion auch mit den Sti-len der Fachzeitschriften anderer Disziplinen auseinandersetzen.

5. Reaktion auf die Digitalisierung des Buchmarktes, Layout, Web-Auftritt

Zu den Aufgaben der Redaktion zählt die Entwicklung einer inhaltlichen Stra-tegie, mit der auf die Herausforderungen der Digitalisierung des Büchermark-tes angemessen reagiert werden kann. Hier vollzieht sich ein dramatischer Wandel (siehe Frankfurter Buchmesse 2011). Darin eingeschlossen sind auch Fragen des Heft-Layouts und des Web-Auftritts, die einvernehmlich mit den Herausgebern und dem Verlag beantwortet werden sollen.

6. Institut für Kultursemiotik (IKS)

Das genannte Institut für Kultursemiotik ist eine privatrechtliche Einrichtung, die durch die Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medi-zinischen Hochschule Hannover (MHH) als Forschungsstelle für psychiatrische Methodik genutzt und mitfinanziert wird. Das Institut soll zu einem späteren Zeit-punkt in eine Stiftung umgewandelt werden. Am IKS arbeiten gegenwärtig drei Doktoranden – in den Bereichen Medizinsemiotik, Computerlinguistik, Videoana-lyse –, eine freie Redaktionsassistentin und einer der beiden Herausgeber. Im Rahmen des Milieuforschungsprojektes „Simulation und Reduktion von Zwangs-behandlungen“ werden die Semiosen von psychiatrischen Teams mit dem Ziel untersucht, Beiträge zur Humanisierung der Akutpsychiatrie zu leisten (Stich-wort: Soteria). Mit Sitz der Redaktionskonferenz im Institut für Kultursemiotik bie-tet dieses seine organisatorische Unterstützung für die Redaktionsarbeit an.

7. Bewerbung

Semiotiker mit Interesse an der Mitarbeit in der Redaktion der Zeitschrift der Semiotik bewerben sich bitte unter folgenden Angaben: Name, Position, Insti-tution, Adresse, Interessenschwerpunkte, ausgewählte Publikationen der letz-ten fünf Jahre, E-Mail-Adresse, Telefon.

Kontakt: [email protected]

PD Dr. Stephan Debus, Institut für KulturSemiotik, Pfingstanger 3, 30974 Wennigsen

Weitere Informationen unter: www.x-kultursemiotik.de

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 139-151Stauffenburg Verlag Tübingen

Veranstaltungen

Am 24. April 2010 fand der Studientag Vergessen – Leerzeichen des Den-kens? der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik an der Universität Zürich statt. „Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden“. Diesen seltsamen Satz schrieb der Aufklärer Kant auf einen Zettel, um sich seinen unbotmäßigen Diener (namens Lampe) aus dem Kopf zu schla-gen. Der Satz auf einem Merkzettel ist doppelt merkwürdig. Offensichtlich kuri-os ist, dass sich hier einer daran erinnern möchte, dass er etwas unbedingt vergessen will. Das Denken behilft sich für ein vorsätzliches Denkverbot mit der Schrift auf einem Zettel. Und eben das macht Kants Denkzettel für eine Theorie der Kultur und speziell der Semiotik merk-würdig. Denn die erhoffte Leerstelle entsteht im Denken nicht einfach so. Sie soll bewusst entstehen, und dafür wird eben jenes Zeichensystem eingesetzt, mit dem sich menschliche Kulturen seit Jahrtausenden ihre Erinnerung sichern: die Schrift. Kann ein Zei-chen für eine Leerstelle im Denken einspringen? Kann es diese Leerstelle simulieren oder gar produzieren? Wie müsste ein solches Zeichen beschaffen sein? Und was wäre es dann, dieses Leerzeichen: ein leeres Zeichen? Ein Zei-chen für Leere? Oder ein Zeichen zum Leeren?

Solchen Fragen, die Kants Merksatz provoziert, widmete sich der von C h r i s -t i n e A b b t (Zürich) und H a n s - G e o r g v o n A r b u r g (Lausanne) orga-nisierte Studientag 2010 der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik (früher: Schweizerische Gesellschaft für Semiotik). Im Zentrum standen nicht so sehr Kulturen und Techniken des Vergessens als solche. Es ging vielmehr um die speziellere Frage nach dem Vergessen als einer zeichen-gestützten Kulturtechnik. Dabei wurde deutlich, dass Vergessen nicht nur eine Lücke im Gedächtnis einer Kultur bezeichnen kann. Das Vergessen stellt viel-mehr das Funktionieren des kulturellen Gedächtnisses selbst in Frage, wel-ches noch sein Gegenteil aus sich heraus leisten können soll. Dieser Anspruch ist offenbar nur durch Zeichen operationalisierbar. Weil das undenkbare Zei-chen braucht, um handhabbar zu werden, wird es unweigerlich auch wieder denkbar. Die Frage nach der besonderen Beschaffenheit von Zeichen für das denkbare Undenkbare mündete in den Diskussionen schließlich in die Frage nach der Natur des Zeichens überhaupt. Als eine sinnliche Marke repräsentie-re ein Zeichen etwas Abwesendes, welches es für unser Denken präsent mache, sprich: repräsentiere. Ein Zeichen für das Vergessen dagegen könne (und wolle) das Abwesende gerade nicht repräsentieren, sondern umgekehrt unabweis-bar abwesend halten.

Die Proben aufs Exempel für diese grundsätzlichen semiotischen Überle-gungen lieferten vier Impulsreferate zu verschiedenen Aspekten des Problem-

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zusammenhangs aus unterschiedlichen Fächern und Praxisbereichen. Der Germanist H u b e r t T h ü r i n g (Basel) erinnerte mit seinem Rückblick auf das Werk Friedrich Nietzsches an Grundlagentexte für die aktuelle Auseinan-dersetzung mit dem Thema. Nietzsche versucht das Paradox, dass Zeichen, die „für etwas stehen“, zugleich ihr Verschwinden „bedeuten“ können, über das Moment der Zeitlichkeit aufzulösen. Dadurch wird Vergessen als Zeichenpro-zess fassbar, welcher wiederum nur als Gedächtnisprozess denkbar ist. Das Faszinierende an Nietzsches Nachdenken über das Vergessen ist freilich, wie das Thema hier von den frühen Arbeiten zur antiken Philosophie und Rhetorik über Geschichtsphilosophie, Psychologie und Physiologie bis zu den späten Dichtungen niemals nur als Gegenstand einer Begriffsarbeit gedacht, sondern als eine Herausforderung an die eigene Schreibarbeit in Texten praktiziert und reflektiert wird. In einem zweiten Vortrag stellte die Historikerin A n n a J o s s (Zürich) das Tagungsthema in den Kontext historischer und aktueller Samm-lungspraktiken von historischen Museen. Über Lücken in ihren Sammlungen wissen Konservatoren immer bestens Bescheid, sie gilt es instinktiv zu schlie-ßen. Die ins Vergessen geratenen Dinge sind dagegen die unbewussten Leer-stellen des Sammelns. Unbeachtet, aber körperlich wie räumlich präsent, ber-gen sie permanent die Möglichkeit, dass man wieder auf sie stößt. Wird man ihrer gewahr, dann zeigt sich, dass die Dinge nicht mehr dieselben sind wie zum Zeitpunkt ihres Vergessen-Werdens. Wie irritierend die Zeichen für Leer-stellen dieser Art sein können, ja in Anbetracht des abgründigen Wiederauffin-dens sein müssen, belegte Joss mit einer Bestandsnotiz aus dem digitalisier-ten Museumsinventar des Schweizerischen Landesmuseums: „Weiße Masse in Glasbehälter“. Diese Perspektive der Sammlungspraxis nahm ein dritter Vor-trag auf, in welchem M i c h a e l S c h m i d (Zürich) das Vergessen im Archiv aus kunsthistorischer Sicht thematisierte. Vergessen im Archiv kann dabei zwei-erlei bedeuten: Dokumente, die in die Archive eingehen, werden oftmals ver-gessen und verschwinden so aus der Erinnerung, obwohl sie gerade dafür auf-bewahrt wurden. Sie werden von einem Verwaltungsapparat verschluckt und sind diesem manchmal nur noch mit großer Mühe zu entreißen. Vergessen kann aber auch bedeuten, dass das Archiv das Vergessen selber betreibt, indem es Dokumente gar nicht erst in seine Sammlung aufnimmt und sie so für jede künftige Erinnerung von vornherein löscht. Der Vortrag zeigte, wie ent-scheidend das Regime konservierender wie selektierender Zeichen der kultu-rellen Erinnerungsarbeit zu- oder eben auch entgegenarbeiten kann. Zum Abschluss des Studientages machte der Wissenschaftshistoriker M i c h a e l H a g n e r (Zürich) in einem programmatischen Referat die Zukunftsverges-senheit der aktuellen Geisteswissenschaften zum Thema, indem er einen Blick zurückwarf in die Zeiten, wo die geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihre Identität noch unter eben diesem Zukunftshorizont – konkret: im Begriff der „Utopie“ – gesucht hatten. Die zentrale These des Vortrags bestand darin, dass die Geisteswissenschaften in dem Moment die Zukunft vergaßen, als sie sich das Gedächtnis zum neuen Leitparadigma auserkoren hatten. Hagner führte diesen Trend im Kontext der politischen und kulturellen Entwicklungen der 1970er Jahre aus und stellte ihm ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der

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Zukunft als Forschungsfeld der Geistes- und Kulturwissenschaften entgegen. Welchen Part die Semiotik in diesem Zukunftsszenario allenfalls spielen könn-te, blieb freilich auch in der abschließenden Diskussion unerörtert.

Christine Abbt, Universität Zürich Hans-Georg von Arburg, Université de Lausanne

Vom 13. bis 15. Mai 2010 fand in Leipzig unter der Leitung von P r o f . F r a n k L i e d t k e und C o r n e l i a S c h u l z e die internationale Konferenz Beyond the words – Über die Worte hinaus statt. Ziel der Tagung war es, Sprachwis-senschaftlern, deren Forschungsschwerpunkt im Bereich der Pragmatik oder an der Schnittstelle von Pragmatik und Semantik liegt, zusammenzubringen und aktuelle Fragestellungen zur Natur der „Äußerungsbedeutung“ zu disku-tieren. Vorrangiges Interesse galt der Frage, inwieweit die Äußerungsbedeu-tung semantisch determiniert ist, oder ob nicht vielmehr pragmatische, das heißt, sprachhandlungstheoretische Prozesse beim Verstehen einer Äußerung ablaufen. Dies würde auch bedeuten, dass man die Sprecherintention bei der Interpretation und theoretischen Erfassung der Äußerungsbedeutung zu berück-sichtigen hat.

Im Eröffnungsvortrag „Kommunizieren im engeren und weiteren Sinne. Eine zeichen theoretische Rekonstruktion“ widmete sich R u d i Ke l l e r (Düssel-dorf) der Frage nach den Mechanismen des Äußerungsverstehens. Er zeigte, dass die Interpretation kommunikativer Handlungen sich nicht nur auf die Ebene des symbolischen Modus (Kommunikation im engeren Sinne) beschränkt, son-dern darüber hinaus auch die Ebene des symptomischen „Wie“ der Äußerung (Kommunikation im weiteren Sinne) umfasst, dessen Merkmale ebenso Rück-schlüsse darauf zulassen, was ein Sprecher mit seiner Äußerung (offen oder verdeckt) beabsichtigt.

In seinem Vortrag „Die Unzulänglichkeit der Kommunikation – Über die Wör-ter hinaus“ vertrat G e r h a r d P r e y e r aus Frankfurt am Main die These, dass „Kommunikation nicht auf eigenen Beinen stehen kann“. Preyers Ansatz sieht vor, durch die Unterscheidung von Kommunikation, Handlung und Zuschrei-bung die Schnittstelle zu identifizieren, an der sich Kommunikation strukturell auf Sprache stützt. Kommunikation weist Bruchstellen auf, die durch Sprache kompensiert, aber nicht behoben werden können. Diese Bruchstellen sowie die einschränkenden Bedingungen, welche die Kommunikation zur Prozessu-alisierung benötigt, sind zu identifizieren.

Ausgehend von der These, dass zwischen Satztypen und Äußerungstoken unterschieden werden könne, wies N e l l i e W i e l a n d (Long Beach, CA) in ihrem Vortrag „Types, Tokens, and Context-Sensitivity“ darauf hin, dass Spra-che kontext-sensitiv sei und die klassische Type-Token-Trennung auf Satzebe-ne daraufhin überarbeitet werden müsse.

R o b y n C a r s t o n (London) beschäftigte sich in ihrem Vortrag „The Com-munication of Ad Hoc Concepts“ mit den so genannten Ad-Hoc-Konzepten, welche über einen pragmatischen Anpassungsprozess spontan gebildet wer-den, wenn das zu einem Wort gehörige lexikalische Konzept über den Kontext als unpassend wahrgenommen wird. Carston argumentierte innerhalb eines

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relevanztheoretischen Ansatzes, dass sowohl lexikalische als auch Ad-hoc-Konzepte unstrukturiert sind. Sie schlug außerdem vor, den Grad an Ad-Hoc-Charakter, den ein Konzept haben kann, als Kontinuum zwischen neuer, spon-taner Ad-Hoc-Bestimmung und systematisierter Konzeptualität anzunehmen, denn selbst nicht lexikalisierte Konzepte können im konzeptuellen System eines Sprechers bereits etabliert sein.

M i c h a e l To m a s e l l o (Leipzig) stellte in seinem Vortrag „Communication before Language“ Studien vor, die nahe legen, dass die Zeigegeste als unmit-telbare Vorstufe von Sprache anzusehen ist. Während Schimpansen die Zei-gegeste nur in einer spezifischen Funktion verwenden, nämlich um von Men-schen, nicht von Artgenossen, etwas zu erhalten, verwenden bereits Kleinkin-der vor dem Spracherwerb die Zeigegeste für unterschiedliche Funktionen, die auch kooperativen Charakter haben. Ausgehend von der Annahme, dass koope-rative Interaktion auf der Basis geteilter Intentionalität als spezifisch mensch-liche Fähigkeit die Grundlage von sprachlicher Kommunikation darstellt, argu-mentierte Tomasello, dass die Zeigegeste als gestische, vorsprachliche Aus-prägung dieser Fähigkeit anzusehen ist und damit als unmittelbarer Vorläufer unserer Sprache gelten kann.

I r a N o v e c k (Lyon) berichtete in seinem Vortrag „From sentence meaning to human reasoning“ über neuere Erkenntnisse in der Sprachentwicklungsfor-schung. Untersuchungen zum Verstehen skalarer und klausaler Implikaturen können Noveck zufolge belegen, dass sich die Fähigkeit zu derartigen Schluss-prozessen bei Kindern erst ab fünf Jahren entwickelt. Diese Ergebnisse sind für Noveck ein starkes Indiz dafür, solche Phänomene dem Bereich des ratio-nalen Schließens zuzuordnen, das auf die Satzsemantik aufbaut und einer all-gemeineren pragmatischen Kompetenz zuzuordnen ist, deren Entwicklung gesondert in den Blick ge nommen werden muss.

M a t t h i a s I r m e r (Leipzig) sprach sich in seinem Vortrag „Filling Default Values for Frame-related Bridging Anaphora“ für eine Trennung von mereolo-gischer Bridging-Beziehung, die durch eine Teil-Ganzes-Relation zwischen Anapher und Anker geprägt ist, und frame-relatierter Bridging-Beziehung aus, die auf thematischer und konzeptueller Anbindung der Anapher an den Anker beruht. Dieser Klasse könnten auch komplexere Inferenzprozesse, die auf dem Erschließen von Zielen und Intentionen des Kommunikationspartners basie-ren, zugeordnet werden.

C o r n e l i a S c h u l z e (Leipzig) berichtete in ihrem Beitrag „3-year-old child-ren draw inferences based on their expectation of relevance“ über experimen-telle Evidenz dafür, dass bereits Dreijährige in der Lage sind, Sprecherinten-tionen pragmatisch zu inferieren. Sie können dies selbst dann, wenn die lingu-istische Evidenz, die der Sprecher für seine kommunikative Intention gibt, diese nur indirekt und in scheinbar irrelevanter Weise wiedergibt. S u s a n n e G r a s s -m a n n (Leipzig) zeigte in ihrem Vortrag „Inferences by exclusion in word lear-ning and beyond“ auf, wie erst zwei Jahre alte Kinder die Referenz eines bis-her unbekannten Wortes erschließen, indem sie (basierend auf der Annahme kooperativem Sprecherverhaltens bei der Benennung von Gegenständen) bekannte Objektbenennungen bei der Disambiguierung des unbekannten Wor-

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tes ausschließen. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf einer Analyse der zugrunde liegenden logischen Struktur dieser Inferenz(en).

Einblick in die Gehirnaktivität beim Verständnis von sprachlichen Äußerun-gen gaben Pe t r a S c h u m a c h e r und J ö r g M e i b a u e r (Mainz). In einer Reihe von Untersuchungen zur Gehirnstromaktivität fanden die Wissenschaft-ler heraus, dass nicht nur semantische, sondern auch pragmatische Anreiche-rungsprozesse in ‚event-related brain-potentials‘ (ERP) nachgewiesen werden können. In ihrem Vortrag „ERP evidence on the relevance of expert knowledge in generating pragmatic inferences“ zeigten sie auf, dass Weltwissen beim Ver-ständnis von Äußerungen eine vorrangige Rolle spielt.

N a p o l e o n K a t s o s diskutierte in seinem Vortrag „Why do young child-ren fail to derive quantity implicatures?“ das in der Sprachentwicklungsfor-schung vielfach beobachtete Phänomen, dass Kinder unter fünf Jahren keine skalaren Implikaturen erschließen können. Diesen Befund führt Katsos jedoch auf das zugrunde liegende experimentelle Design zurück: Nur wenn sie ledig-lich die Wahl zwischen ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ haben, neigen Kinder dazu, unter-informative Aussagen zu akzeptieren, nicht jedoch, wenn die Möglichkeit einer skalaren Bewertung im Rahmen eines Anwendungsszenarios bestehe. Pa t -r i c i a A m a r a l (Liverpool) zeigte in ihrem Vortrag „Children’s knowledge of scales in the acquisition of ‚almost‘“, dass die Interpretation eines Wortes wie almost (‚fast‘) im Rahmen einer Skala zu explizieren ist, die man sich als zeit-lichen, räumlichen oder auch mengenmäßigen „Pfad“ mit einem Endpunkt vor-zustellen hat. Die Interpretation des Wortes almost im Sinne von ‚kurz vor Errei-chen des Endpunkts‘ wird von Kindern nachvollzogen, wenn sie die Skala ver-stehen, auf der almost operiert. Amaral zeigte in empirischen Studien, dass das Verständnis der Skalen bei Kindern domänenspezifisch ist.

M a r i a Ave r i n t s eva - K l i s c h (Tübingen) beschäftigte sich in ihrem Vor-trag „Scalar implicatures – default, discourse dependent, or both? Evidence from focused einige in German“ mit skalaren Implikaturen und einem spezifi-schen Gebrauch des quantifizierenden Ausdrucks einige. Sie argumentierte, dass bei Fokussierung und Betonung von einige ein semantischer Effekt ent-steht, der kontextbedingt die Domäne, in der die skalare Implikatur wirkt, aus-weitet. Dennoch sei die Annahme, dass skalare Implikaturen Defaultschlüsse sind, auch hier anwendbar, wenngleich die Betonung von einige die herkömm-liche Definition im Sinne von ‚nicht alle‘ überschreibt.

Im Zentrum von N a u s i c a a Po u s c o u l o u s ’ (London) Vortrag „‚The elevator’s buttocks‘: metaphors for children“ stand der Erwerb nicht-wörtlicher Sprache. Ausgehend von neueren Forschungsergebnissen zur pragmatischen Inferenzprozessen, nach denen bereits viel jüngere Kinder als bisher geglaubt komplexe Inferenzen ziehen können, widmet sich Pouscoulous dem kindlichen Verständnis von Metaphern. In einer neuen Studie möchte sie zeigen, dass auch in diesem Feld kindgerechte Aufgaben und eine klare konzeptionelle Tren-nung von Idiomen, konventionellen und kreativen Metaphern die kindlichen Fähigkeiten besser als bisher abbilden werden. Im Gegensatz zu Positionen in der Tradition Grices, die Metaphern zum Gemeinten zählen, plädierte M i h a -e l a Po p a (Genf) in ihrem Vortrag „Is there something that is said metapho-

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rically?“ für deren Zuordnung zum Bereich des Gesagten. Metaphorischer Sinn gehöre zum direkt und explizit Kommunizierten, das ebenso wie wörtlicher Sinn in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben werden könne. Das Verstehen metaphorischen wie auch wörtlichen Sinns sei als „primärer“ Prozess aufzu-fassen, der weitere, darauf aufbauende Schlussprozesse wie etwa Implikatu-ren auslösen könne.

H e l g e S k i r l (Jena) wies in seinem Vortrag „Emergence of meaning: Prag-matic inferences in metaphor interpretation“ auf den „emergenten“ Charakter kreativer Metaphern hin. Kreative Metaphern stellen eine eher ungewöhnliche Verknüpfung zweier konzeptueller Domänen dar, deren Merkmale weder aus ihrer Quell- noch aus ihrer Zieldomäne vollständig ableitbar sind. Zu ihrer Inter-pretation werde auf kon- und kotextuelle Informationen sowie auf Welt- und Diskurswissen zurückgegriffen, weswegen es sich hierbei um Schlussprozes-se an der Schnitt stelle zwischen Semantik und Pragmatik handle.

Auch für größere lexikalische Einheiten wurden pragmatische Interpretati-onsansätze aufgezeigt: C l a u s E h r h a r d t (Urbino) verwies in diesem Zusam-menhang auf die traditionelle Sichtweise in der Phraseologie-Forschung, nach der sich eine reguläre, wörtliche Bedeutung von Wörtern definieren und klar von der phraseologischen oder idiomatischen Bedeutung unterscheiden ließe. In seinem Vortrag „Idiomatische und wörtliche Bedeutung: Bemerkungen zu semantischen und pragmatischen Erklärungsansätzen in der Phraseologie“ diskutierte er, ob der Begriff der „wörtlichen Bedeutung“ wirklich notwendig ist, um die semantischen Besonderheiten von idiomatischen und nicht-idiomati-schen Phrasemen angemessen zu beschreiben. Der Vortrag von R e i n h a r d B l u t n e r aus Amsterdam lautete „Geometrical models of meaning and truth-conditional pragmatics“. Blutner stellte eine Vektor-basierte Theorie der prag-ma-semantischen Komposition vor. Er führte aus, dass die Farbwerte von so genannten „absoluten“ Adjektiven wie den Farbadjektiven keineswegs von die-sen Adjektiven determiniert sind; so deuten ‚rote Nase‘ und ‚rote Flagge‘ auf unterschiedliche Rottöne hin. Auch bestimmt die Bezeichnung „rot“ für Objek-te nicht, an welcher Stelle die Objekte rot sind: Ein roter Apfel ist außen rot, während eine rote Grapefruit rotes Fruchtfleisch hat. Der Vortrag argumentier-te dafür, traditionelle Ansätze wie „Boolean Semantics“ aufzugeben und die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik zu überwinden. Hierfür wurden prag-matische Ansätze wie Fauconniers „Conceptual Blending“ und Recanatis „modu-lation” als Lösungen vorgeschlagen. In ihrem Vortrag „Constructions as Memes – ‚meaning‘ and ‚function‘ as cultural convention beyond the words“ schlug E l k e D i e d r i c h s e n (Münster) vor, den in der Konstruktionsgrammatik eta-blierten Begriff der „Konstruktion“ mit dem kulturtheoretischen Begriff des „Mems“ (nach Dawkins 1976) in Korrelation zu bringen. Auf diese Weise ist es nach Diedrichsens Auffassung möglich, dem Konstruktionsbegriff eine kultur-theoretische Fundierung zu geben. Der deskriptive Rahmen einer Konstrukti-on könnte so über die Wort- bzw. Satzgrenze hinaus ausgedehnt werden und auch kulturspezifisches Wissen über Text- und Gesprächsroutinen, aber auch andere kulturelle Wissensbestände beinhalten.

M a r c o M a z z o n e (Catania) widmete sich in seinem Vortrag „A pragma-

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tic Pandora’s box. The role of regularities in pragmatics“ der Rolle wiederkeh-render sprachlicher Muster als Interpretations-Constraints und deren Bedeu-tung für relevanztheoretische Ansätze (Sperber/ Wilson) sowie „default“-basier-te Ansätze (Levinsons Theorie der „presumptive meanings“). Mazzone stellte die Frage, ob etwa generalisierte konversationelle Implikaturen (Levinsons „GCIs“) überhaupt als Resultat interpretativer Prozesse zu begreifen sind und inwieweit sprachliche Routinen auch relevanzgesteuerte Interpretationspro-zesse lenken können. I n g o l f M a x (Leipzig) beleuchtete in seinem Vortrag „Dimensions of Meaning. Towards a Logic of German Sentence Connectors“ die Semantik und Pragmatik von Satzkonnektoren des Deutschen wie etwa ‚wenn – dann‘, ‚ohne dass‘ sowie auch ‚nicht – sondern‘. Ziel seiner Überle-gungen war es, eine formale Modellierung finden, die neben der Semantik der verknüpften komplexem Sätze auch die mit der Verwendung solcher Konnekto-ren einher gehenden Präsuppositionen und Implikaturen adäquat erfassen kann.

Fr a n k L i e d t k e (Leipzig) beschäftigte sich in seinem Vortrag „Enrichment and Standardization“ mit der pragmatischen „Anreicherung“ von Äußerungen im Sprachgebrauch. Die Anreicherung geschieht, so Liedtke, auf der Basis von Allgemeinwissen, welches auf ontischen oder kulturellen Wissensbeständen beruht. Dies wurde anhand von Beispielen erläutert, in denen der semantisch unterdeterminierte Gebrauch von Konnektoren und Gesprächspartikeln wie auch über die Annahme solcher etablierten Wissens-Schemata expliziert wird. H o l d e n H ä r t l (Berlin) äußerte sich in seinem Vortrag „When something decays by itself: Causal implicatures and their linguistic reflexes“ zur Seman-tik antikausativer Verben (z.B.: „The Spanish ship sank.“) und nicht-akkusati-ver Verben mit einer kausativen Variante (z.B.: „The pirates sank the Spanish ship.“). In seinem Vortrag zeigte er, dass antikausative Verben in Wirklichkeit lexikalisch nicht-kausativ sind und dass kausale Interpretationen, die durch den Gebrauch dieser Verben hervorgerufen werden, als Resultat einer Impli-katur, die auf unserem Weltwissen basiert, charakterisiert werden müssen. H e l g a G e s e (Tübingen) sprach in ihrem Vortrag über „Pragmatic enrich-ment in the formation and interpretation of adjectival passives“. Sie geht davon aus, dass adjektivische Passivkonstruktionen zwei Interpretationen haben kön-nen – einerseits das „target state reading“, das auf das Subjekt des Satzes zurück referiert und andererseits das „post state reading“, das das Resultat einer pragmatischen Anreicherung via „i-implicature“ ist.

In seinem Vortrag „The pragmatics of quoting in computer-mediated com-munication“ sprach Wo l f r a m B u b l i t z (Augsburg) über Formen und Funk-tionen des Zitierens innerhalb computernetzwerkbasierter Kommunikation. Bublitz stellte heraus, dass Zitaten in netzwerk basierten Kommunikationskon-texten zum Teil neue Funktionen zukommen. Dies ist etwa in der Chat-Kom-munikation der Fall, wo das Zitieren weiter zurückliegender Chat-Einträge zur Überbrückung medial bedingter Distanzen sowie zur Etablierung diskursiver Kohärenz beiträgt. C h r i s t i n a K n e l s (München) berichtete über ihre For-schungen im Bereich der primär progenienten Aphasie. Dieser Aphasie-Typ ist eine spezifische Form der Demenz, bei der u.a. eine allmähliche Reduktion des aktiven und passiven Wortschatzes zu beobachten ist. Knels stellte die

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Kompensationsstrategien dar, die aus solchen Beeinträchtigungen erwachsen. So ist zum einen eine Ausweitung der noch vorhandenen Ausdrücke auf einen größeren Denotationsbereich zu beobachten, zum anderen findet eine seman-tische Differenzierung sonst bedeutungsähnlicher Ausdrücke statt. B i l l y C l a r k (London) ging in seinem Vortrag „Procedures and prosody: understanding weak explicit communication“ der Frage nach, welchen Beitrag Intonation zum Ver-stehen von Äußerungen mit geringem semantischen Gehalt leistet. Clark begreift Intonation als prozedurale Bedeutung, die, zwischen Ikonizität und Konventio-nalität liegend, zum Er schließen von Explikaturen beiträgt, indem sie Inferenz-prozesse lenkt bzw. einschränkt, anstatt konzeptuelle Repräsentationen bereit-zustellen. K a r s t e n Ko c h (ZAS Berlin) behandelte in seinem Vortrag mit dem Titel „Cognitive processing beyond surface syntax: Fokus/Background structures in Salish“ die Besonder heiten der Fokusmarkierung im Salish. Im Gegensatz zu Sprachen wie etwa dem Englischen, wo die Fokussierung von Diskursreferenten laut Koch vornehmlich über Intonation indiziert wird, geschieht die Fokusmarkierung im Salish syntaktisch in der Oberflächenstruktur durch Linksspaltung, wohingegen die fokussierten Diskursreferenten selbst über Verb-kongruenz oder über nach rechts herausgestellte Elemente in der Hintergrund-Phrase erschlossen werden müssen.

Die offene Gesprächsatmosphäre der Tagung und die vielfältigen Forschungs-bereiche der Teilnehmer machten es möglich, aktuelle Problemfelder im Span-nungsfeld von Semiotik, Semantik und Pragmatik kontrovers zu diskutieren. In theoretischen Vorträgen wie auch in Beiträgen, die experimentelle Evidenz im Rahmen der Untersuchung von Kindern und Erwachsenen aufzeigten, wurden auf allen Ebenen sprachwissenschaftlichen Arbeitens (Lexik, Syntax) Verste-hensprozesse pragmatisch re-analysiert. Besonderes Interesse galt dabei einer-seits der Äußerungsinterpretation (und damit der Erschließung der handlungs-orientierten Sprecherintention) und andererseits dem Erwerb dieser pragma-tischen Fähigkeiten. Es bestand letztlich Konsens darüber, dass Äußerungen eines Sprechers in ihrem unmittelbaren Äußerungskontext verstanden werden und daher pragmatische Inferenzen schon auf dieser Ebene der Äußerungs-interpretation erforderlich sind. Im Verlauf der Tagung fand auch eine Poster-Präsentationen statt, in welcher u.a. Forschungs projekte zur Entwicklung prag-matischer Kompetenzen im Zusammenhang von Wörtlichkeit und Indirektheit, zur Entwicklung von Lese- und Schreibkompetenzen und zum Erwerb Grice’scher Maximen vorgestellt wurden, die zu anregenden Diskussionen Anlass gaben. Die Tagung bot ebenfalls Gelegenheit, einige neuere Werke des Düsseldorfer Künstlers Elmar Hermann kennen zu lernen, die er anlässlich der Konferenz und in direkter Beziehung zu den sprach theoretischen Fragestellungen der Tagung realisierte. Ein Rahmenprogramm mit dem Besuch des Primatenfor-schungszentrums (Wolfgang-Köhler-Institut), dem Besuch eines Eröffnungs-konzerts des A-Cappella-Festivals sowie einem Konferenzdinner rundete das wissenschaftliche Programm ab.Cornelia Schulze (Universität Leipzig und Max Planck Institut für evolutionä-

re Anthropologie), Elke Diedrichsen (Westfälische Wilhelms-Universität, Münster) und Detmer Wulf (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

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An der Karl-Franzens-Universität Graz fand vom 18. bis zum 20. November 2010 die internationale Tagung Unbegreifliches greifbar machen – Sonder-sprachenforschung im Spannungsfeld zwischen Arkanem und Profanem statt. Organisator der Tagung war Mag. Dr. C h r i s t i a n B r a u n (Institut für Germanistik). Den thematischen Schwerpunkt der Tagungsbeiträge bildete die Auseinandersetzung mit den dem Arkanprinzip verpflichteten Sondersprachen (Geheimbundsprachen, Sakralsprachen, Sprachen der Alchemie und Magie) und anderen zeitgenössischen und historischen Gruppensprachen, deren Teil-haber Diskretion suchen und/oder sich mit einem Mysterium in der einen oder anderen Form konfrontiert sehen.

Der Gegenstandsbereich der Tagung war bewusst weit gefasst und die Vor-tragenden aus unterschiedlichen Disziplinen (Sprach- und Literaturwissen-schaft, Mediävistik, Kulturwissenschaften, Geschichtswissenschaften) streb-ten eine vielseitige linguistische Auseinandersetzung mit dem Thema an, das unter sprachhistorischer, lexikographischer, semiotischer und pragmatischer Perspektive im weitesten Sinne untersucht wurde. Die Erschließung des Begriffs des Arkanen für die Sprachwissenschaft im Hinblick auf eine Konturierung einer zukünftigen Linguistik des Arkanen wurde als ein Desiderat der Veranstaltung formuliert.

Das Tagungsthema berührte ein Herzstück der Semiotik unmittelbar, und zwar die Erforschung sprachlicher Zeichen und Zeichenprozesse im Rahmen einer Sprach- und Kommunikationstheorie. Weiterhin wurden zeichentheoreti-sche Belange der Kulturanthropologie, Psychologie, Religionswissenschaft, Mythen- und Mysterienforschung, Literatursemiotik, Philologie und Historiogra-phie in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Für den semiotisch Interessier-ten fanden sich somit in zahlreichen Beiträgen direkte oder indirekte Bezüge zu Forschungsbereichen im semiotischen Feld.

Eröffnet wurde die Tagung am Donnerstag, den 18. November, durch Einlei-tungs- und Grußworte von Prof. Dr. B e r n h a r d Ke t t e m a n n (Vize-Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät), Prof. Dr. Pa u l Po r t m a n n (Leiter des Instituts für Germanistik) und Prof. Dr. A r n e Z i e g l e r (Lehrstuhl für Deutsche Sprache – Historische Sprachwissenschaft und Varietätenlinguistik am Institut für Germanistik der Universität Graz).

Am ersten Vormittag analysierte S e b a s t i a n S e y fe r t (Zittau/Görlitz) in „Sakralsprachliche Diktionen in der Ottheinrich-Bibel (Cgm 8010)“ den auf eine frühe Übersetzung des Neuen Testaments (die sogenannte „Augsburger Bibel-handschrift“) zurückgehenden mittelbairischen Bibeltext und führte aus, dass der Redaktor – trotz semantischer, syntaktischer, phonologischer und phra-seologischer Transferenzen aus der Vulgata – einen aus sich selbst heraus ver-ständlichen und sprachästhetische Ansprüche verfolgenden Sakralstils geprägt hat. Die Ottheinrich-Bibel sei somit, entgegen dem viel geäußerten Vorurteil, vorreformatorische Bibelübersetzungen hätten primär subsidiären Charakter, als autonomer Text rezipierbar.

C h r i s t i a n B r a u n (Graz) untersuchte in „Geheime Gesellschaften als strukturierendes Merkmal in der Textsorte Roman“ die literarische Darstellung der Geheimbundthematik und skizzierte Typologie und Konstellation der gehei-

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men Gesellschaften in einem Korpus von sieben zeitgenössischen Romanen (von E. Giacometti/J. Ravenne, D. Brown und M. Dibdin). Er legte dar, dass im 18. Jahrhundert die Geheimbundthematik hauptsächlich im Kontext des auf-klärerischen Erziehungs- und Bildungsromans (u.a. in Schillers Der Geisterse-her, Wielands Peregrinus Proteus) abgehandelt wird, während sie sich in der Gegenwartsliteratur mit Elementen des Genres Kriminalroman/Thriller verbin-det. Dennoch seien unter dem Aspekt der Analyse von Themenstruktur, Hand-lungsmuster, Semiotik der Schauplätze, Konstellation von Geheimbund und Protagonisten u.a. die Romane des 18. Jahrhunderts die Folie, vor welcher der zeitgenössische ‚Geheimbundroman‘ analysiert werden müsse. Anschließend stellte T h o m a s R i c h e r t (Berlin) in „Der Geheime Rat Goethe als Freimau-rer und Illuminat“ fest, dass trotz Mitgliedschaft und intensiver literarischer Aus-einandersetzung mit freimaurischen Motiven Goethe zeitlebens eine distan-ziert-kritische Haltung gegenüber diskreten Gesellschaften, vor allem gegen-über dem Illuminatenbund sowie dem Freimaurersystem der strikten Obser-vanz, zeigte. Er habe auch kaum am aktiven Dienst in der Weimarer Amalien-loge partizipiert, trotz der von ihm verfassten Logen-Gedichte und Reden. Letz-tere seien wohl auch eine Ursache für die Konstruktion des Mythos um die unbedingte freimaurerische Gesinnung Goethes.

J ö r g R i e c k e (Heidelberg) berichtete in „Über althochdeutsche heilkund-liche Zaubersprüche und Verwandtes“ über Verbalmagie in rituellen Beschwö-rungsformeln und Heilsprüchen. Der Referent legte dar, dass sich altdeutsche Zaubersprüche formal durch eine „Maximalstruktur“ auszeichnen (Parataxe, Stabreim, archaischer Wortschatz); die magische Wirkkraft der Worte werde nicht nur durch poetische Ausformung, sondern (v.a. bei nicht analogischen Sprüchen) auch durch performative Verben potenziert.

H e l m u t B i r k h a n (Wien) referierte in „Trug Tim eine so helle Hose nie mit Gurt? –Zur Arkansprache besonders in spätmittelalterlichen Texten“ über wiederentdeckte oder konstruierte Sprachen und Schreibsysteme, die als magisch oder als vollkommen im Sinne der mystischen Sagbarkeit postuliert wurden. Außerdem thematisierte er onirische Sprachen wie das durch ein Medi-um übermittelte, nicht bewusst erfundene Henochische und beschrieb Verfah-ren des Kryptographierens in spätmittelalterlichen Texten christlich-antiker und alchemistischer Tradition. S t e p h a n M u e l l e r (Wien) führte in „Schrift und Geheimnis. Schreiben jenseits der Lesbarkeit in mittelalterlichen Skriptorien“ die Thematik seines Vorredners weiter aus und berichtete über die Erforschung und Praxis von (Geheim-)Schriften und Schreibsystemen in lullistischer und kabbalistischer Tradition. Er verwies darauf, dass zahlreiche sogenannte „Geheimschriften“ nicht primär Zeichencharakter, das heißt, eine referentielle Funktion hatten, sondern dass der Prozess des Schreibens eine meditative oder beschwörende Funktion erfüllte (beispielsweise bei der lingua ignota der Hildegard von Bingen oder den Trierer Teufelssprüchen). Den starken Zusam-menhang von Schreibsystem und kultureller Gemeinschaft wiederum illustrier-te er exemplarisch an der Reisebeschreibung Cosmographia (7./8. Jahrhun-dert), in der die Verfasserfiktion die Authentizität fiktiver Kulturen und Völker anhand der Existenz eines Schreibsystems dieses Volkes zu belegen versucht.

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G e o r g We i d a c h e r (Graz) führte in „Aspekte einer Typologie der Geheim-kommunikation“ aus, dass, je nach Bedingungen, Struktur und Verlauf des gehei-men Kommunikationsprozesses, folgende Parameter für die Beschreibung von Geheimkommunikation herangezogen werden können: die Geheimhaltung der Senderidentität (Beispiel: Erpresserbrief), des Kommunikationsmediums und –kanals (Beispiel: Steganographie), der Zeichenbedeutung oder der Referenz. Auch die Bestimmung des zur diskreten Kommunikation herangezogenen semi-otischen Systems und der kontextuellen Bedingungen seien integraler Bestand-teil der Analyse. Aus pragmatischer Perspektive sei Geheimkommunikation aus-schließlich situations- und funktionsgebunden zu bestimmen – prinzipiell könne jede Kommunikationsform ‚arkan‘ sein, wenn einer außenstehenden Gruppe der Form-Funktions-Zusammenhang der Signale verborgen ist (so beispiels-weise das Diné bizaad als Navajo-Code im Funkverkehr der USA).

Pe t e r K l o t z (Bayreuth) thematisierte in „Arkanisiertes Profanum. Zur Sprache der Bürokratie in Alltag und Literatur“ die Einbettung fachsprachlicher Elemente in literarische Texte von Kafka, Kluge, Kleist und Handke und unter-suchte, inwiefern diese eine inhaltliche Verrätselung bzw. Veruneindeutigung bewirken und u.a. der Versinnbildlichung des Unbegreiflichen dienen können.

Am zweiten Tagungstag legte C h r i s t i n e S t r i d d e (München) in „Sprach-spiel und Spielsprache. Überlegungen zu einer Koinzidenz anhand der höfi-schen Literatur des Mittelalters“ dar, dass das Konzept von Literatur als ästhe-tisiertes Spiel mit Sprache in der höfischen Literatur des Mittelalters zwar noch nicht als theoretisches Konzept reflektiert, aber praktiziert worden ist. Anhand der Minnelyrik des Spätmittelalters illustrierte Stridde, dass durch formale Rekonstruktion (Anagramme, Palindrome) von Zeichenfolgen neue Sinnein-heiten entstehen (können). Diese „verborgenen Inhalte“ von literarischen Wer-ken haben sich nur einer eingeweihten, lesekundigen „Spielgemeinschaft“ bzw. „höfischen Diskursgemeinschaft“ erschlossen.

S a n d r a R e i m a n n (Regensburg) beschrieb in „‚Experten‘ unter sich – Besonderheiten des Sprachgebrauchs im Selbsthilfeforum hungrig-online.de“ die von Betroffenen der Anorexie und deren Angehörigen auf der Internetplatt-form verwendete Varietät als eine themen- und gruppenspezifische Sonder-sprache, die einerseits typische Strukturmerkmale der Kommunikation in Inter-netforen zeigt, andererseits ein dem gruppen- und themenspezifischen Inter-esse entsprechendes ‚Idiom‘ darstellt, dessen Bedeutung sich für Außenste-hende nur schwer erschließt.

B e t t i n a R a b e l h o fe r (Graz) analysierte in „Zur Aerodynamik des Worts in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldene Topf‘“ ästhetische Codes und Symbolik in Hoffmanns Märchen der neueren Zeit. Das poetische Schreiben Hoffmanns sei ein ‚berührendes Schreiben‘, das sich nicht nur durch den kunst-vollen Einsatz von Onomatopoetika und formikonischer Wörter auszeichne, sondern bei dem sich Klänge, Farben und Gerüche in sprachlichen Formen materialisieren und umgekehrt Körper in sprachlichen Inhalten sublimieren. Der Vortrag „Die ‚Sprache Canaan‘ – Der esoterische Soziolekt des Pietismus“ von L u c i n d a M a r t i n (Halle/Saale) musste wegen Erkrankung der Refe-rentin entfallen.

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A l ex a n d e r L a s c h (Kiel) erörterte in „‚Die A[ssassinen] sollen aus Ägyp-ten stammen‘. Diskursivierung von Wissen an der Wende zur Neuzeit am Bei-spiel des Bundes der Assassinen“ – in Bezugnahme auf Dimean – die Kom-munikation über den Assassinenbund in der abendländisch-europäischen Tra-dition. Er konstatierte, dass das Arkane kein wesenhaftes Merkmal von kom-plexen Zeichen (Sprache, Handlungsabläufe, Riten, Räume usw.) ist, sondern Resultat der Bewertung einer Minorität als ‚verborgen‘ durch eine außenste-hende Majorität. Im Falle der Konstitution des europäischen Assassinenbildes erwiesen sich besonders jene Diskursakteure als erfolgreich im Transfer und der Generierung von Wissen, die eine eurozentrische geordnete Position ver-traten, die dichotom entlang einer deiktischen und evaluativen Dimension geord-net war.

K l a u s We i ß (Graz) stellte in „Das Symbol des Großen Baumeisters als Indiz für Toleranz im maurerischen Lehrgebäude“ fest, dass das Sinnbild des Baumeisters als Bezeichnung für das Schöpfungsprinzip einerseits platonisch-gnostizistische und neutestamentarische Wurzeln hat, andererseits der Bau-hüttentradition entspringt. Je nach Logenzugehörigkeit erfahre die Symbolik des Baumeisters im Laufe der Freimaurergeschichte unterschiedliche Ausdeu-tung, die von einer theistischen Interpretation bis hin zu einer deistischen Deu-tung oder aber zu einer agnostischen Position reiche. Insgesamt habe das Symbol des Großen Baumeisters einerseits integrierende Funktion im Sinne der Postulierung eines aufklärerischen Toleranzgedankens, andererseits auch ausschließende Funktion für die von der freimaurischen Gemeinschaft Außen-stehenden. D i e t e r A . B i n d e r (Graz) griff in „Das Sprechen über den Tod im freimaurerischen Ritual“ die Thematik der freimaurischen Symbolik wieder auf, erwähnte in diesem Zusammenhang auch die barocke Emblematik und führte aus, dass das rituelle Erleben des Todes in der Meistererhebung einer-seits als Eintritt in eine höhere, sittliche Existenz erlebt wurde, daneben aber auch die Möglichkeit einer aufgeklärten Auseinandersetzung mit der Sterblich-keit bot.

A n g e l i k a J a c o b s (Hamburg) untersuchte in „Stimmungen als Geheim-sprache? Zur Semiotik religiöser (Selbst-)Kommunikation bei Sören Kierkeg-aard“ die ästhetischen Codes in Kierkegaards Werk und illustrierte, dass die-ser in seinem Denken und Schreiben Semiotik, Literatur und Religionsphiloso-phie verbindet. Als Vordenker einer dialektischen Theologie beansprucht Kier-kegaard den semiotischen Gestus nicht nur für eine Ideologiekritik, sondern ihm, der von der Notwendigkeit der „indirekten Mitteilung“ überzeugt ist, dient das semiotische Prinzip auch der Mitteilung von Glaubensinhalten und der reli-gionsphilosophischen Reflexion.

A n d r e a Fr u h w i r t h (Graz) analysierte in „Dominus, wo-bis-cum? In der Sakristei. Dominus, was-friss-cum? Butterbrot mit Ei. ‚Arkansprachen‘ und die Bewältigungsstrategien der davon Ausgeschlossenen“ Struktur und Tradierung von sprachlich fixiertem und rituellem Sakralwissen, das nur einer elitären Min-derheit zugänglich ist, und reflektierte die Kluft zwischen Trägern lebendiger Profansprachen und erstarrter Sakralsprachen in der Wendung ‚Sakralestab-lishment vs. profanum vulgus‘. Die Konfrontation mit arkanen, sakralen und/

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oder kulturellen Wissensbeständen stelle für die Ausgeschlossenen eine Her-ausforderung dar, die mittels unterschiedlicher psychologischer Mechanismen und praktischer Strategien (bspw. mittels ‚befreiendem Spott‘ oder ‚Täuschen und Tarnen‘) bewältigt werde. Daran anschließend führte A l b r e c h t G r e u -l e (Regensburg) in „Zwischen Arcanum, Sacrum und Profanum: Die deutsche katholische Sakralsprache“ aus, dass eine Übersetzung von Sakraltexten und liturgischen Texten in die lebendige Volkssprache mit der Intention, Glaubens-inhalte für Laien zugänglich zu machen, stets eine Aktualisierung und eine pro-fane Resemantisierung der Theo-lexeme impliziert, was wiederum eine Re-Arkanisierung, weil Verdunkelung der sakralen Bedeutungsinhalte, bewirkt.

Die gute Ausstattung und Betreuung der Tagung sorgten für eine angeneh-me Arbeitsatmosphäre und die großzügig bemessene Redezeit von 30 Minu-ten ermöglichte eine umfassende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema. Die anschließenden Diskussionen boten die Möglichkeit, Fragen zu klären, Anregungen zu geben und Standpunkte kritisch zu hinterfragen. Die so angeregten Gespräche wurden auch in den Pausen und während des gemein-samen Abendessens am Freitag in den Räumen der Universität fortgeführt. Die Tagung endete am Samstag mit einer Abschlussdiskussion, in welcher die Teilnehmer die zentralen Erträge der Veranstaltung resümierten. Die interdis-ziplinäre Zusammenarbeit wurde als positiv und als Erkenntnisgewinn emp-funden und die Verschiedenheit der Perspektiven auf ‚das Arkane der Spra-che‘ als Anregung für die Linguistik, neue Bereiche und Zugänge für sich zu erschließen. Die Beiträge der Veranstaltung werden in einem Tagungsband publiziert.

Anna Thurner (Universität Graz)

Stauffenburg Verlag Brigitte Narr GmbHPostfach 25 25 D-72015 Tübingen www.stauffenburg.de

2009, 1206 Seiten, 2 Bände mit CD(nur zusammen lieferbar)

€ 125,–

ISBN 978-3-86057-016-6

Bd. 1: DokumentationEinleitung und biobibliographische Daten A-Z

900 Seiten, gebunden

Bd. 2: AuswertungenVerfolgung – Auswanderung – Fachgeschichte – Konsequenzen (mit Registern und Forschungsbibliographie)

306 Seiten, kartoniert, mit CD

Diese einzigartige Dokumentation stellt Biographien und wissenschaftliche Pro-file von mehr als 300 Sprachforscherinnen und Sprachforschern vor, die im Nati-onalsozialismus aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden. Bei vielen führte dies zur Emigration oder zum Leben im Untergrund, für einen Groß-teil der Betroffenen bedeutete es jedoch Tod im Konzentrationslager oder Suizid. Die Biographien spiegeln diese unterschiedlichen Konstellationen wider, denen sich die Verfolgten ausgesetzt sahen. In der Dokumentation sind so bekannte Na-men wie Walter Benjamin, Leo Spitzer, Käte Hamburger u. a. verzeichnet. Mit ihr soll aber auch denjenigen ein Denkmal gesetzt werden, die nicht aufgrund ihrer Prominenz schon an anderen Stellen dokumentiert sind. Darüber hinaus versteht sie sich auch als ein Beitrag zur Fachgeschichte, indem in Band 2 Auswertungen in verschiedene Richtungen vorgenommen werden, nach Immigrationsländern, nach fachlichen Disziplinen, mit Statistiken zur Professionalisierung der Sprachwis-senschaft. Register und eine umfangreiche Forschungsbibliographie schließen das Werk ab. Die mitgelieferte CD soll zusätzlich die Weiterarbeit an dem aufbereite-ten Material unterstützen und fördern. Somit präsentieren die beiden Bände ein zeitgeschichtliches Zeugnis und zugleich ein wichtiges Stück Wissensgeschichte.

Utz Maas

Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945

Zeitschrift für

SemiotikBand 33 • Heft 1-2 (2011)Seite 153-162Stauffenburg Verlag Tübingen

Veranstaltungskalender

26.1.–28.01.11in Eichstätt

Kongress über „Fundamentaltheologie und die Zeichen der Zeit“.Auskunft: Christoph Böttingheimer, Lehrstuhl für Fun-damentaltheologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, D–85071 Eichstätt (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/THF/fundamental/symposion2011/f_/Programm_Symposion_2011.pdf).

29.1.11in München

Symposium über „Kunst in den Medien“.Thema: Standards und Perspektiven der Kunstvermitt-lung.Auskunft: Michael Buhrs, Museum Villa Stuck, Prinz-regentenstraße 60, D–81675 München (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.philosophie-kunst.de).

17.2.–19.2.11in Berlin

Tagung des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“.Thema: Töten – Affekte, Akte und Formen.Auskunft: Christoph Wulf, Clubhaus der Freien Univer-sität Berlin, Goethestraße 49, D–14163 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.languages-of-emotion.de/fileadmin/LOE/T%C3%B6ten_ProgrammJan.2011.pdf).

17.2.–20.2.11in Berlin

International Conference on „The Language of Art and Music“.Thema: The potential for artistic expression to cross cultural barriers.Auskunft: Katharina Bühler, Institute for Cultural Diplo-macy, Ku´damm Karree, Kurfürstendamm 207/208, D–10719 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: www.culturaldiplomacy.org).

Veranstaltungskalender154

23.2.–25.2.11in Göttingen

33. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft.Thema: Text – Strukturen und Verarbeitung.Auskunft: Anke Holler, Seminar für Deutsche Philolo-gie, Georg-August-Universität Göttingen, Käte-Ham-burger-Weg 3, D–37073 Göttingen (E-Mail: [email protected], Internet: http://dgfs2011.uni-goettingen.de/).

23.2.11in Potsdam

Workshop „Protest Reloaded“.Thema: Zur Wandlungsfähigkeit des Protestsongs.Auskunft: Anke Holler, Einstein Forum, Am Neuen Markt 7, D–14467 Potsdam (E-Mail: [email protected], Internet: www.einsteinforum.de).

4.3.–6.3.11in Berlin

Internationale Konferenz über „Kulturbrücken in Deutschland”.Thema: Deutschland und die Welt.Auskunft: Mark Donfried, Institute for Cultural Diplo-macy, Ku´damm Karree, Kurfürstendamm 207–208, D–10719 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: www.cultural-bridges-in-germany.org).

9.3.–12.3.11in Berlin

The Berlin International Economics Congress 2011.Thema: The future of global politics, nation branding, sustainable tourism, and international investment in a globalized world.Auskunft: Mark Donfried, Institute for Cultural Diplo-macy, Ku´damm Karree, Kurfürstendamm 207-208, D–10719 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.biec.de).

11.3.–13.3.11in Dresden

The Berlin International Economics Congress 2011.Auskunft: Doris Titze, Hochschule für Bildende Künste Dresden, Güntzstraße 34, D–01307 Dresden (E-Mail: titze©serv1.hfbk-dresden.de, Internet: http://www.hfbk-dresden.de/studium/studiengaenge/fakultaet-2/kunsttherapie/kunsttherapiekongress-zeichen-setzen-im-bild.html).

13.3.–15.3.11in Berlin

Workshop „Schizophrenia and Self-Conscious-ness“.Auskunft: Anna Strasser, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D–10099 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.cils.info/projects/brains-with-minds/schizophrenia-and-self-consciousness).

155Veranstaltungskalender

14.3.–16.3.11in Prag

3rd Global Conference on „Digital Memories“.Thema: Memory in cybercultures and arts.Auskunft: Daniel Riha, U Krize 10, CZ–15800 Prague (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.inter-disciplinary.net/critical-issues/cyber/digital-memories/call-for-papers/).

15.3.–17.3.11in Mannheim

47. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Spra-che.Thema: Deutsch im Sprachvergleich – Grammatische Kontraste und Konvergenzen.Auskunft: Ludwig M. Eichinger, Institut für Deutsche Sprache, R 5, 6-13, D–68161 Mannheim (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ids-mannheim.de/org/tagungen/program2011.html).

17.3.–18.3.11in Bochum

Workshop on „Thinking about Animal Cognition“.Auskunft: Tobias Starzak, Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie II, Carnap Institute for Philoso-phy and Sciences, Universitätsstraße 150, D–44780 Bochum (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/staff/newen/tagungen.html).

17.3.–19.3.11in Lund

Workshop „European Epistemology Network“.Auskunft: Erik J. Olsson, Lund University, Box 117, S–221 00 Lund (E-Mail: [email protected], Internet: http://epistemologynetwork.com/).

17.3.–19.3.11in Münster

Konferenz „Visualität, Theatralität und Zeremoni-ell“.Thema: Übergänge und Grenzen der Medien.Auskunft: Dorothee Linnemann, SFB 496, Teilprojekt C1, Salzstraße 41, D–48143 Münster (E-Mail: [email protected], Inter-net: http://www.uni-muenster.de/SFB496/veranstaltungen.html).

18.3.–20.3.11in Erfurt

Workshop on „Understanding Dyslexia and Dyscalculia“.Thema: New insides from neurobiological research.Auskunft: Gerd Schulte-Körne, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychothera-pie, Ludwig-Maximiliam-Universität München, Petten-kofer Straße 8a, D–80336 München (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.bvl-legasthenie.de).

Veranstaltungskalender156

21.3.–23.3.11in Berlin

Konferenz des Exellenzclusters „Languages of Emotion“.Thema: The socially extended mind.Auskunft: Nicola Uther, Institut für Ethnologie, Cluster of Excellence „Languages of Emotion“, Habel-schwerdter Allee 45, D–14195 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.languages-of-emotion.de/de/socially-extended-mind.html).

21.3.–25.3.11in Santa Barbara

9th IEEE International Conference on Automatic Face and Gesture Recognition.Auskunft: Matthew Turk, Media Arts and Technology, University of California, Phelps Hall CA–3309 Santa Barbara (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.fg2011.org/fg.php?page=home).

23.3.–26.3.11in Passau

Internationaler Fachkongress über „Realität – Vir-tualität – Repräsentation“.Auskunft: Susanne Hartwig, Philosophische Fakultät, Universität Passau, Innstraße 40, D–94032 Passau (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.hispanistica.de/uploads/media/Sektionsdarstellungen_01.pdf).

24.3.–25.3.11in Nitra

4th Nitra Conference on Discourse Studies.Thema: Discourse analysis in a digital world.Auskunft: Martin Macura, Constantine the Philosopher University in Nitra, Tr. A. Hlinku 1, SK–Nitra (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.kaa.ff.ukf.sk/).

24.3.–26.3.11in Lodz

1st International Conference in Poland Subsuming Cognitive Approaches to Pragmatics.Thema: Meaning, context, and cognition.Auskunft: Iwona Witczak-Plisiecka, University of Lodz, Al. Kosciuszki 65, PL–90-514 Lodz (E-Mail: [email protected], Internet: http://ia.uni.lodz.pl/mcc/).

30.3.–1.4.11in Freiburg i. B.

6. Internationale Konferenz zur Jugendsprache.Thema: Jugendsprachen – Dynamiken und kulturelle Kontexte.Auskunft: Helga Kotthoff, KGI, Raum 1010, Universität Freiburg, Platz der Universität 3, D–79098 Freiburg (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.hpcl.uni-freiburg.de/jugendsprachen-2011).

157Veranstaltungskalender

30.3.–1.4.11in Chemnitz

Internationale Fachkonferenz „Ursprünge der Bil-der“.Thema: Anthropologische Diskurse in der Bildwissen-schaft.Auskunft: Klaus Sachs-Hombach, Institut für Pädago-gik und Philosophie, Technische Universität Chemnitz, Reichenhainer Straße 41, D–09126 Chemnitz (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.bildwissenschaft.org/).

31.3.–2.4.11in Mannheim

15. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung.Thema: Kognition in Interaktion.Auskunft: Thomas Spranz-Fogasy, Institut für Deut-sche Sprache, R 5, 6-13, D–68161 Mannheim (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.gespraechsforschung.de/tagung.htm).

1.4.–3.4.11in Amsterdam

Conference „Imaging the Mind? Taking stock a decade after the Decade of the Brain“.Thema: Relation between neuroscience, psychology, and philosophy.Auskunft: Stephan Schleim, Faculty of Behavioural and Social Sciences Department, Universität Gronin-gen, Grote Kruisstraat 2/1, NL–9712 TS Groningen (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.imagingthemind.info/).

4.4.–8.4.11in Tartu

International Conference of the Department of Semiotics at the University of Tartu.Thema: Zoosemiotics and animal representations.Auskunft: Timo Maran, Department of Semiotics, Uni-versity of Tartu, Tiigi 78, EST–50410 Tartu (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.biosemiotics.org/tartu).

7.4.–9.4.11in Chicago

47th Annual Meeting of the Chicago Linguistic Society.Auskunft: Sharon Inkelas, Berkeley Department of Linguistics, University of California, 1203 Dwinelle Hall, CA–2650 Berkeley (E-Mail: [email protected], Internet: http://humanities.uchicago.edu/orgs/cls/conf.shtml).

15.4.–17.4.11in Rostock

19. Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phä-nomenologie.Thema: Form, Farbe, Materialität – Phänomenologie des Wahrnehmens.Auskunft: Steffen Kluck, Institut für Philosophie, Uni-versität Rostock, D–18051 Rostock (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.gnp-online.de/).

Veranstaltungskalender158

18.4.–20.4.11in Grenoble

European Society for Aesthetics Conference 2011.Auskunft: Christel Fricke, Georg Morgenstiernes Hus, Room 619, P.O. Box 1020 Blindern, N–0315 Norway (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.eurosa.org/).

27.4.–30.4.11in Berlin

The British-German Conference 2011.Thema: The UK and Germany in a Changing World Order: New Challenges, New Strategies.Auskunft: Bill Cash, Ku‘damm Karree, Kurfürsten-damm 207–208, D–10719 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.the-british-german-conference.de).

6.5.–8.5.11in Lund

7th Conference of the Nordic Association for Semiotic Studies.Thema: Towards cognitive semiotics.Auskunft: Göran Sonesson, Centre for Cognitive Semiotics, Lund University, Box 201, S–221 00 Lund (E-Mail: [email protected], Internet: http://project.sol.lu.se/en/ccs/).

9.5.–10.5.11in Zürich

Workshop on „Naturalism without Mirrors“.Auskunft: Lisa Brun, Ethik-Zentrum der Universität, Universität Zürich, Zollikerstraße 117, CH-8008 Zürich (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ethik.uzh.ch/afe/agenda/20110509-naturalism.html).

11.5.–15.5.11in Berlin

The International Symposium on Cultural Diplo-macy 2011.Thema: Hard vs. Soft Power in Global and National Politics.Auskunft: Mark Donfried, Ku´damm Karree, Kurfür-stendamm 207–208, D–10719 Berlin (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.icd-internationalsymposium.org).

26.5.–28.5.11in München

Tagung zu „Volkssprache und Bildsprache“.Thema: Text-Bild-Systeme in Handschriften und Druk-ken am Ende des Mittelalters.Auskunft: Marcello Gaeta, Verband Deutscher Kunst-historiker e.V., Haus der Kultur, Weberstraße 59a, D–53113 Bonn (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.badw.de/aktuell/termine/).

159Veranstaltungskalender

5.6.–8.6.11in Imatra

International Summer School for Semiotic and Structural Studies.Thema: Semiotics of the body.Auskunft: Eero Tarasti, International Semiotics Institute, Virastokatu 1, FIN–55100 Imatra (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.isisemiotics.fi/summer-school-2011.html).

16.6.–18.6.11in Münster

Tagung „Alles nur symbolisch?“.Auskunft: Sonderforschungsbereich 496, Universität Münster, Salzstraße 41, D–48143 Münster (E-Mail: [email protected], Internet: www.sfb496.uni-muenster.de).

21.6.–26.6.11in New York

11th Annual International Gathering in Biosemiotics.Thema: The presence and the role of sign processes in living systems.Auskunft: Victoria N. Alexander, Dactyl Foundation, 64 Grand Street, NY–10013 New York (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.biosemiotics.org/call2011).

29.6.–30.6.11in Rostock

Tagung „Unsichtbar – Wissenskulturen als Bild-kulturen und ihre Macht der Invisibilisierung“.Auskunft: Philipp Stoellger, Theologische Fakultät, Universität Rostock, Schwaansche Straße 5, D–18055 Rostock (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.theologie.uni-rostock.de/index.php?id=7442&type=98).

3.7.–8.7.11in Manchester

12th International Pragmatics Conference.Auskunft: Ann Verhaert, IPrA Research Center, Uni-versity of Antwerp, Stadscampus (S.D.222), Prins-straat 13, B-2000 Antwerp (E-Mail: [email protected], Internet: http://ipra.ua.ac.be/main.aspx?c=*CONFERENCE2006&n=1296).

4.7.–6.7.11in Leeuwarden

13th International Conference on Informatics and Semiotics in Organisations.Thema: Information systems in the changing era.Auskunft: Niels Faber, Fryske Akademy, Doelestrjitte 8, NL–8911 DX Ljouwert (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.orgsem.org/2011/).

Veranstaltungskalender160

7.7.–9.7.11in Lüneburg

Tagung „HyperKult XX“.Thema: Computer als Medium.Auskunft: Lena Bonsiepen, Rechen- und Medienzen-trum und Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medi-en, Leuphana University Lüneburg, Scharnhorststraße 1, C1.305, D–21335 Lüneburg (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.leuphana.de/institute/icam/forschung-projekte/hyperkult.html).

15.7.–26.7.11in Köln

International Workshop and Summer School.Thema: Social and Cultural Cognition.Auskunft: Robert Schütze, Ruhr-Universität Bochum, D–44780 (E-Mail: [email protected], Internet: www.rub.de/philosophy/scc).

19.7.–16.7.11in Nancy

14th Congress of Logic, Methodology, and Philos-ophy of Science.Thema: Logic and science facing the new technolo-gies.Auskunft: Gerhard Heinzmann, Laboratoire d‘Histoire des Sciences et de Philosophie Archives Henri Poin-caré, Université Nancy, F–UMR 7117 CNRS (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.clmps2011.org/).

7.8.–13.8.11in Kirchberg am Wechsel

34th International Wittgenstein Symposium.Thema: Epistemology: contexts, values, disagreement.Auskunft: Christoph Jäger, Institut für Christliche Phi-losophie, Karl-Rahner-Platz 1, A–6020 Innsbruck (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.alws.at/index.php/symposium/).

8.9.–10.9.11in Salzburg

Salzburg Conference for Young Analytic Philoso-phy:SOPhiA 2011.Auskunft: Albert J.J. Anglberger, Institut für Philoso-phie, Universität Salzburg, Franziskanergasse 1, A–5020 Salzburg (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.sophia-conference.org/).

8.9.–11.9.11in Logroño

Workshop on „Sociolinguistics and the Media“.Auskunft: Juan Manuel Hernández-Campoy, Departa-mento de Filología, Inglesa Facultad de Letras, Cam-pus de La Merced, Universidad de Murcia, E–30071 Murcia (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.societaslinguistica.eu/).

161Veranstaltungskalender

11.9.–15.9.11in München

XXII. Deutscher Kongress für Philosophie.Auskunft: Julian Nida-Rümelin, Lehrstuhl für Philoso-phie IV, Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, D–80539 München (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.dgphil2011.uni-muenchen.de/index.html).

20.9.–21.9.11in Bochum

Interdisciplinary Conference „Understanding Other Minds”.Thema: Embodied interaction and higher-order rea-soning.Auskunft: Albert Newen, LWL-Universitätsklinik, Alex-andrinenstraße 1-3, D–44780 Bochum (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/otherminds-bochum/index.html).

26.9.–28.9.11in Lissabon

The European Regional Congress of the Interna-tional Association of Visual Semiotics.Thema: Semiotics of space – spaces of semiotics.Auskunft: Isabel Marcos, Faculdade de Ciências Soci-ais e Humanas, Universidade Nova de Lisboa, Aveni-da de Berna 26-C, P–1069-061 Lisboa (E-Mail: [email protected], Internet: http://aisv2011-en.yolasite.com/call-programme.php).

26.9.–30.9.11in Rommerz bei Fulda

Interdisziplinäre Summer School für Promovieren-de und Postdocs 2011.Thema: Kulturraum Technik: Topologie der Technik.Auskunft: Anne Batsche, Graduiertenkolleg Topologie der Technik, Technische Universität Darmstadt , Karo-linenplatz 5, D–64289 Darmstadt (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=gradkoll-tdt).

26.9.–1.10.11in Bochum

4th Conference on „Semantics and Philosophy in Europe”.Thema: The Semantics and Pragmatics of Quotation.Auskunft: Markus Werning, Institut für Philosophie II, Ruhr-Universität Bochum, D–44780 Bochum (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.rub.de/phil-lang/spe4).

Veranstaltungskalender162

12.10.–16.10.11in Potsdam

13. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik.Thema: Repräsentation – Virtualität – Praxis.Auskunft: Julius Erdmann und Kerstin Fischer, Institut für Romanistik, Lehrstuhl Kulturen romanischer Län-der, Universität Potsdam, Am Neuen Palais 10, Haus 19, D–4469 Potsdam (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.semiose.de/index.php?id=599,80).

3.12.–7.12.11in Matrei

37. Matreier Gespräche zur Kulturethologie.Thema: Enhancement oder die Verbesserung des Menschen: Die „Zweite Evolution“?Auskunft: Bärbel Engelhart, Otto Koenig Gesellschaft, Malzgasse 3, A–1020 Wien (E-Mail: [email protected], Internet: http://matrei.ruso.at/).

5.10.–9.10.12in Nanjing

The Nanjing 11th World Congress of Semiotics.Thema: Global Semiotics: Bridging Different Civiliza-tions.Auskunft: Nanjing Normal University, Nanjing, RC–Jiangsu Province 210097 (E-Mail: [email protected], Internet: http://www.semio2012.com/).

Online-Version: <http://www.semiotik.tu-berlin.de/menue/zeitschrift_fuer_semiotik/>.Weitere Ankündigungen etwa bei der International Association for Semiotic Studies (IASS) unter <http://IASS-AIS.org>, beim Virtuellen Institut für Bildwis-senschaft unter <http://www.bildwissenschaft.org/> und im Internationalen Semiotik-Bulletin Semiotix http://www.chass.utoronto.ca/epc/srb/signpost/signpost.html.

Eigene Hinweise (mit Zeit, Ort, Name und Thema der Tagung sowie vollstän-diger Adresse einer Kontaktperson) schicken Sie bitte an Christian Trautsch: [email protected].

Vorschau auf den Thementeil der nächsten Hefte

Die Semiotik von Georg Klaushrsg. von Michael Eckardt (Naunhof)

Ökosemiotikhrsg. von Monika Huch (Adelheidsdorf) und Dieter Genske (Berlin)

Situation und Klanghrsg. von Holger Schulze (Berlin)

Verantwortlich für den Inhalt: Der Herausgeber

© 2012 · Stauffenburg VerlagBrigitte Narr GmbH, TübingenAlle Rechte vorbehaltenPrinted in GermanyISBN 978-3-86057-916-9ISSN 0170-6241

Hinweise für Autoren:

Aktuelle Hinweise zur Vorbereitung von Manuskripten können unter www.stauffenburg.de heruntergeladen werden.

Stauffenburg Verlag Brigitte Narr GmbHPostfach 25 25 D-72015 Tübingen www.stauffenburg.de

Menschen sind nicht nur täglich im realen Raum unterwegs, son-dern fassen – wie zahlreiche Weg- und Wander metaphern bele-gen – auch viele andere Objektbereiche als Räume auf, in denen es Orte, Richtungen und Entfernungen gibt. Die Fortbewegung in jedem dieser Räume kann durch eigens geschaffene Zeichen erleichtert werden. Das Buch skizziert deren Entwicklung von der Kerbe im Baum bis zum Navigationssystem und untersucht ihre je spezifischen Leistungen und Voraussetzungen. Typisch für er schlossene Gebiete ist eine Verflechtung von verorteten Orientierungs hilfen (Wegmarkierungen, Orts- und Richtungs-schilder) und transportablen (Stadtpläne und Landkarten); hinzu kommen technische Geräte wie der Kompass. Analoge Hilfsmit-tel er leichtern eine Fortbewegung durch virtuelle Räume wie das Internet.

2., unveränderte Auflage 2011XIV, 144 Seiten, kart.

ISBN 978-3-86057-096-8 € 49,50

Dagmar Schmauks

Orientierung im RaumZeichen für die Fortbewegung

2. Auflage