Barbara Traber – Eine Annäherung an Olga Picabia-Mohler

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Barbara Traber

Für immer jung und schön

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BarBara TraBer

Für immer jung und schön

Olga PicaBia-MOhler(1905 –2002)

eine annäherung

zyTglOgge

Mit Fotos von Jürg ramseier

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Bildnachweise

Umschlag: Olga, porträtiert von Francis Picabia, 1934

Bildteil Mitte:

S. 1 Fotos Privatbesitz

S. 2 bis 5 aus ‹Für Francis Piacbia – Das Album von Olga Picabia-Mohler›

S. 6 aus ‹Picabia›

S. 7/8 aus ‹Francis Picabia›

Inhalt: S. 206 aus ‹Lettres à Christines›

Für die Werke von Francis Picabia © 2013, ProLitteris, Zurich

Bildteil hinten:

Bildrechte bei Jürg Ramseier

Alle Rechte vorbehalten

Copyright: Zytglogge Verlag, 2014

Lektorat: Bettina Kaelin

Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann

Lithos: FdB, Für das Bild – Fred Braune, Bern

Umschlag/Satz: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag

Druck: fgb, freiburger graphische betriebe

ISBN 978-3-7296-0879-5

Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee

[email protected], www.zytglogge.ch

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Ein Schweizer Kindermädchen in Cannes

Ein sonniger Vorfrühlingstag. Ich lande nach einer Wanderung am unscheinbaren Bahnhof in Rubigen, an dem ich bisher immer vorbeigegangen bin. Als ich mich beim Warten auf den Zug nach Gümligen etwas umschaue, entdecke ich an einer Wand eine Gedenktafel hinter Glas: Für Olga Picabia-Mohler und Francis Picabia! Es folgen kurze biografische An­gaben über die beiden. Mein Interesse an diesem Paar ist geweckt.

Die junge Rubigerin Olga Mohler wagte es, eine Stelle als Kindermädchen in Südfrankreich anzu­nehmen – und landete ausgerechnet im Haushalt von Picabia. Ein Zufall, der sich auf ihr ganzes Leben auswirkte.

Den Namen Francis Picabia habe ich im Zusam­menhang mit der Dada­Bewegung in Zürich gelesen und auch schon Bilder von ihm gesehen, aber ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern und kenne den vielseitigen, berühmt­berüchtigten Künstler eigent­lich nicht.

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Am 1. Dezember 1925 bestieg die erst 20­jährige Olga aufgeregt und voller Vorfreude mit einem abgegriffe­nen Koffer in Rubigen den Zug. Der Vater, Traugott Mohler, Stationsvorstand des Bahnhofs ‹Station Rubigen› an der alten Strasse durch das Aaretal, den es seit 1859 gibt, stand mit der Mütze auf dem Kopf da, hielt die Kelle hoch und pfiff zur Abfahrt; die Mutter winkte noch lange und wischte sich eine Träne weg. Die Eltern hatten keine Ahnung, wann sie ihre Toch­ter das nächste Mal wiedersehen würden. Olga hinge­gen empfand kaum Abschiedsschmerz, zu sehr lockte das Abenteuer Frankreich. Endlich konnte sie der Enge im allzu vertrauten Dorf entfliehen und etwas Aufregendes erleben.

Die noch so junge, unerfahrene Frau – eher ein Mädchen, gross gewachsen, schlank, sehr hübsch, mit langen, blonden Zöpfen, die sie um den Kopf geschlun­gen trug – plagten seit langem Fernweh und Neugier auf die weite Welt. Als Kind hatte sie sich immer sehn­lich gewünscht, eines Tages zu den ‹Negern› nach Af­rika reisen zu können, an die Elfenbeinküste. Auf ihre Annonce in der französischen Zeitung ‹L’Éclaireur du Sud­Est› – jeune Suissesse cherche place comme bonne d’enfants … – hatte sie acht Antworten erhalten und das Angebot, in einem Dorf bei Cannes einen kleinen Jungen zu betreuen, allen andern vorgezogen. Die Côte d’Azur lag zwar nicht auf dem Schwarzen

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Erdteil, aber immerhin im Süden Frankreichs, und sie freute sich auf das Meer, das sie noch nie gesehen hatte. Ihre Mutter, eine Bauerntochter aus dem Solothur­nischen, fand es vernünftig, dass sie vorerst mit einer Stelle in Frankreich anfing und nicht gleich nach Afrika reiste.

Ich habe, während ich mir die Abschiedsszene auf dem Bahnhof Rubigen vorstelle, das ganze Panorama der Berge – von den Vorbergen bis zu Eiger, Mönch und Jungfrau – in ihrer Pracht vor mir und denke daran, wie auch ich als Kind von fernen Ländern träumte. Oft fragte ich mich, was hinter der breiten Stockhornkette mit dem eigenartigen Horn, die meinen und lange vor mir Olgas Horizont einschränkte, zu entdecken sei. Das Unbekannte, Abenteuerliche, eine fremde, ge­heimnisvolle Welt, die verheissungsvolle Ferne?

Die Fahrt an die Côte d’Azur dauerte damals viel län­ger als mit den heutigen TGVs. Gab es schon Wagons­Lits? Oder reiste Olga auf den harten Bänken dritter Klasse? Die Lust aufs Reisen und die Vorliebe für Bahnhöfe und Eisenbahnen hatte sie vielleicht von ihrem Vater geerbt, einem lieben, sensiblen Menschen, der für sie als Kind in seiner eleganten Uniform mit Mütze und seinem gepflegten Schnauz etwas ganz Besonderes gewesen sein muss. Sie erinnerte sich spä­

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ter gern daran, dass sie ihn oft inständig darum gebe­ten hatte, einen Güterzug in Rubigen extra anhalten zu lassen, damit sie so in die Sekundarschule nach Münsingen fahren konnte. Ab und zu hatte er ihr die­sen Wunsch erfüllt, und die Klassenkameradinnen waren auf ihren besonderen Vater neidisch gewesen.

Vermutlich musste sie nun in Paris, an der Gare de Lyon, umsteigen – und dann folgten weitere endlose Stunden im Zug. Gut möglich, dass ihr zukünftiger Arbeitgeber für sie einen Platz im Calais-Méditerran-née Express gebucht hatte und sie die Fahrt nach Cannes in einem blauen Schlafwagen eines Train Bleu machen durfte.

Nach einer langen Nacht, in der sie tüchtig durch­geschüttelt wurde und vor Aufregung kaum hatte schlafen können, zog sie gegen Morgen die Vorhänge des kleinen Abteilfensters – und erblickte das Meer. Das azurblaue Meer, nicht den Thuner­ oder Brien­zersee! Die ersten Palmen, eine mediterrane Land­schaft. Nizza – Cannes. Verträumte Buchten, Kalk­steinklippen, in den Gärten Oleander, Bougainvilleen, Zitronen­, Feigen­ und Mandelbäume. Im Schweizer Mittelland hatte der Winter längst begonnen, und hier, an der französischen Riviera, war es Anfang Dezember noch angenehm mild.

Olga war derart überwältigt von diesem ersten Anblick des Meeres, dass sie in Tränen ausbrach; das

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erzählte sie Jahrzehnte später Jürg Ramseier, einem aus Rubigen gebürtigen Fotografen, der sie häufig in Paris besucht hat.

Als sie in Cannes mit ihrem Koffer aus dem Zug stieg, übernächtigt und voller Erwartung auf all das, was sie nun erleben würde – auch etwas ängstlich und unsicher –, staunte sie über die südliche Ambiance, das helle Licht, die Palmen vor dem eleganten Bahn­hofgebäude mitten in der Stadt. Wahrscheinlich stand der Monsieur persönlich am Bahnhof, um la jeune fille abzuholen.

Picabia winkte sogleich nonchalant einem Porteur, der Olgas Koffer aus dem Bahnhof zum auffallenden Automobil, einem teuren, gefährlich schnellen His­pano­Suiza, hinaustrug, das er dort, ohne richtig zu parken, einfach hatte stehen lassen. Sie stiegen ein, und Monsieur brauste los und beobachtete mit einem belustigten Lächeln, dass das neue Kindermädchen seines Sohnes nicht aus dem Staunen herauskam, nicht nur, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr.

Wie spielte sich diese erste Begegnung zwischen den beiden ab? Und war sie entscheidend, so etwas wie Liebe auf den ersten Blick? Der elegant gekleidete, von der Sonne braungebrannte, kleine, gedrungene Mann à la Napoléon hätte mit seinen 46 Jahren ihr Vater sein können (nur wirkte er weit jünger). Ein südländischer

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Typ mit dunklen Augen, hoher Stirn und wilder Mähne, lebenserfahren und liebenswürdig, mit gros­ser Ausstrahlung, erfolgreich und luxusgewohnt – und das junge, unerfahrene, etwas naive Mädchen vom Land, das ein unbeholfenes Schulfranzösisch sprach und, leicht gehemmt, oft nicht die richtigen Worte fand. Der erfolgreiche, verwöhnte Künstler könnte vom ersten Moment an bezaubert gewesen sein von Olga, die ganz anders war als die mondänen Französinnen und Amerikanerinnen, die er kannte. Jungen, hübschen Frauen konnte er nicht widerste­hen, und umgekehrt wirkte er mit seinem Charme auf fast jedes weibliche Wesen verführerisch. Er sah nicht nur gut aus, war witzig und humorvoll, sondern er hatte eine Art, einen durchdringend anzuschauen, dass jede Frau weiche Knie bekam. Er muss die junge Rubigerin allein durch seine weltmännische Art be­eindruckt haben.

Picabia sei mit keinem andern Mann zu vergleichen, fand Germaine Everling, die zwölf Jahre, von 1917–1929, mit ihm zusammenlebte. Sie beschrieb ihn als: gedrungen, nur 1,65 Meter gross, mit einer ebenmäs­sigen Haut wie eine exotische Frucht, regelmässigen Gesichtszügen und wunderbaren Augen, manchmal durchdringend, manchmal verschleiert blickend, mit einer sanften Stimme voller Nuancen; und er hatte ungewöhnlich kleine Füsse und kräftige Hände, mit

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denen er lebhaft gestikulierte. Am kleinen Finger der rechten Hand trug er einen Ring mit einem blitzenden Edelstein, und er war immer exquisit gekleidet.

Was Lydie Fischer Sarazin­Levassor, die ungefähr gleich alt war wie Olga, als sie ihn kennenlernte, über den Künstler schrieb, könnte auch auf die Schweize­rin zutreffen: «Ich meinerseits war sehr von Francis’ Charme beeindruckt. Seine sanften und lachenden Augen (…) übten eine grosse Anziehungskraft auf mich aus. Was er sagte, erschien mir ganz neuartig, und auch wenn es für andere Gemeinplätze sein moch­ten, klang es für mich originell und geistreich. Da ich mich in Malerei absolut nicht auskannte und ihm beim Arbeiten zugesehen hatte, war ich höchst be ­eindruckt.»1

Jahrzehnte später erwähnte Olga Picadia in einem Interview, Männer hätten Francis nicht besonders ge­mocht und ihn ungern zu sich nach Hause eingeladen, weil sie befürchteten, er könnte ihren Gattinnen den Kopf verdrehen – oder umgekehrt. Es habe sie immer wieder verblüfft, wie schnell Frauen sich ihn ‹ge­schnappt› hätten, und er habe es sich nur zu gern ge­fallen lassen.

Doch jetzt merkte sie noch nicht, dass ausgerechnet dieser Mann, dem l’amour mindestens so wichtig war

1 Lydie Fischer Sarazin-Levassor: Meine Ehe mit Marcel Duchamp,

Piet Meyer Verlag AG, Bern 2010, S. 178.

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wie die Kunst, ihr gefallen und für ihr ganzes Leben bestimmend sein würde, zu sehr war sie eingeschüch­tert und beeindruckt von der exotischen Umgebung. Es fiel ihr bei dieser ersten Begegnung auch nicht auf, dass sie grösser war als der imponierende Hausherr – ganze sieben Zentimeter. Vielleicht trug er ja wie oft Richelieus: Schuhe mit Absätzen wie englische Kran­kenschwestern, um grösser zu wirken.

Olga Mohler landete im Château de Mai in Mougins, einem malerischen Dorf an den Hängen oberhalb von Cannes. In einem veritablen Schloss, das der Künstler wohl habe renovieren lassen, denkt man unwillkür­lich, wenn man den Namen liest. Hier müssen ihr vom ersten Moment an die grossflächigen, völlig unge­wohnten Bilder an den Wänden aufgefallen sein, die Picabia gemalt hatte, und sie begann ihn zu bewun­dern. Sie spürte, dass das etwas Ausserordentliches war: Malerei, Kunst. Völlig anders als alles, was sie bisher gesehen hatte. In Rubigen hatten höchstens Schwarzweissaufnahmen von Schweizer Bergen und Seen oder ein Kalender mit Reproduktionen von An­ker­Bildern an der Wand gehangen, von Malerei ver­stand dort niemand etwas. War Olga je im Berner Kunstmuseum oder in der Kunsthalle gewesen? Wohl kaum. Von abstrakter Kunst hatte sie keine Ahnung.

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Sie fand sich rasch zurecht im Picabia­Haushalt mit Dienstboten, es fiel ihr leicht, sich anzupassen, und dank ihrer Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit machte sie sich bald unentbehrlich. Die grossen, auch im Hoch­sommer angenehm kühlen Zimmer der Villa waren sorgfältig möbliert und geschmackvoll dekoriert, die Marmorböden von echten Perserteppichen belegt. Überall standen grosse Vasen mit Feldblumen, die Madame Germaine auf ihren Spaziergängen gepflückt hatte. Es gab auch eine Volière voller exotischer Vögel, und das Haus war stets erfüllt von ihrem Gezwit­scher, vom Gelächter der vielen Gäste und von Musik. Picabia spielte oft Schallplatten ab, die er von Aus­landreisen mitgebracht hatte.

Vom Monsieur war Olga von Anfang an fasziniert, und seine Lebenspartnerin vertraute ihr und liess ihr viel Freiheit. Zu ihrer Verwunderung lebte das Paar zusammen, ohne verheiratet zu sein. Lorenzo war folglich ein uneheliches Kind, was in Rubigen viel zu reden gegeben hätte, hier jedoch kein Aufsehen zu er­regen schien.

Sie kam gut aus mit ihrem Schützling, einem un­komplizierten, ruhigen Jungen, den sie sofort ins Herz geschlossen hatte und der ständig von lauter Erwachsenen umgeben war. Der Kleine tat ihr leid, wenn er Shorts, Söckchen, Espadrillos und Basken­mütze, alles in heiklem Weiss, und eine eigens für ihn

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geschneiderte Weste tragen musste und in dieser lä­cherlichen Aufmachung den Gästen präsentiert wurde, als wäre er ein kleiner Prinz. Die meiste Zeit jedoch ging Lorenzo halb nackt herum und spielte mit einem Rudel winziger Hunde, die von Zizi, einem Chihua­hua­Weibchen, und einem weiteren Hündchen, die der Maler Madame Germaine geschenkt hatte, ab­stammten.

Das Kommen und Gehen zahlreicher Gäste, meist Künstler, im Château de Mai und die Gespräche, bei denen Olga schwieg, aber genau zuhörte und viele neue französische Ausdrücke lernte, empfand sie als interessant und ungemein anregend. Eine neue, faszi­nierende Welt tat sich auf für sie, und schon bald wurde sie gebeten, mit Lorenzo bei den Mahlzeiten anwesend zu sein und ihm gute Manieren beizubrin­gen. Es ging meist sehr fröhlich zu und her bei Tisch. Picabia mochte es, alle zu unterhalten; manchmal ver­hielt er sich absichtlich wie ein ungezogenes Kind, warf den Gästen Früchte an den Kopf und meinte la­chend zum 5­jährigen Sohn, er zeige ihm, wie man es nicht machen dürfe.

Erst zwei, drei Jahre später erhielt die junge Schweizer Gouvernante Gelegenheit, mit Monsieur auszugehen: ins Kino, auf die La­Croisette­Promenade, an die

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Strände, in teure Restaurants, auf die farbigen Märkte in den verwinkelten Gässchen zwischen den Allées de la Liberté und der Rue d’Antibes und sogar auf seine Jacht, die im Hafen von Cannes lag. Es schien ihm Spass zu machen, Mademoiselle Olga immer neu zu überraschen und zu beeindrucken. So entstand mit der Zeit eine prickelnde Nähe zwischen Picabia und dem Kindermädchen.

Lange verhielt sie sich ihm gegenüber eher vorsich­tig­ablehnend, ging auf Distanz. Sie wollte ihm nicht zu nahe kommen, auf keinen Fall ihre erste Stelle in Südfrankreich wegen eines Flirts aufs Spiel setzen. Monsieur sei ein typischer Künstler, wird sie gedacht haben, etwas verrückt und exaltiert, man durfte seine Annäherungsversuche, seine feurigen Blicke auf kei­nen Fall ernst nehmen. Sie konnte immer wieder be­obachten, wie charmant er mit allen Frauen umging, die auf Besuch kamen. Und wenn sie an ihre Eltern dachte … Nein, ein Techtelmechtel mit einem Künst­ler zu beginnen, der zudem mit einer attraktiven, klu­gen Französin zusammenlebte, mit der er ein Kind hatte, das hätte nicht zur gut erzogenen, anständigen Tochter eines Schweizer Bahnhofsvorstands gepasst.

Es gefiel ihr in Mougins, obwohl vieles lange be­fremdlich und jenseits ihrer bisherigen Vorstellung von Moral war. Sie wollte unbedingt in Südfrankreich bleiben!

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Und dann verliebte sie sich doch in Francis Picabia. Seine bald zärtlichen, bald leidenschaftlichen Liebes­beteuerungen und die Kosenamen, die er für sie er­fand, entzückten sie, und als er immer wieder beteu­erte, er fühle sich einsam, er brauche sie, könne nicht mehr leben ohne sie, begann sie es zu glauben.

Olga wurde nach wenigen Jahren schliesslich die neue Gefährtin und Muse des Malers. Sie lebte bis zu sei­nem Tod, 1953, mit ihm, überlebte ihn um fast fünfzig Jahre und stellte im Alter fest: «Welche Frau hat schon so aufregende Jahre erlebt.»

Wenn man eine kurze Zusammenfassung über Olga Picabia­Mohlers Leben macht, könnte dies so gewe­sen sein, es würde mehr oder weniger stimmen: Der rasche Aufstieg einer jungen Schweizerin aus beschei­denen Verhältnissen in einen gesellschaftlich und künstlerisch gehobenen Kreis. Picabia war damals wohlhabend und konnte sich ein luxuriöses Leben an der Côte d’Azur und in Paris leisten – und Olga machte begeistert mit.

«Das Mädchen vom Lande zieht in die weite Welt und heiratet berühmten Maler; aus der Provinzlerin wird eine Femme fatale, deren aufregendes Leben Bücher füllen würde», steht auf der Gedenktafel am Bahnhof Rubigen.

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Schon jetzt zweifle ich am Ausdruck ‹Femme fatale› für Olga Picabia. Es klingt zwar interessant, trifft aber kaum auf Olga zu. Eine Femme fatale wird ihrem Partner zum Verhängnis. War es nicht gerade umge­kehrt?

Das Märchen einer grossen Liebe hat begonnen und nimmt seinen Lauf, bis es zu einem Happyend kom­men wird …?

Es gab da die Jahre von 1925 bis 1933, die in Biogra­fien von Francis Picabia mehr oder weniger unterge­hen – jedenfalls was sein Privatleben betrifft. So schnell und unkompliziert wurde die Schweizerin Olga wohl nicht die neue Geliebte oder gar Frau an seiner Seite, wie das meist mit einem Satz abgetan wird. Ich stelle mir vor, wie sie, die noch unerfahrene Gouvernante, sich erst einmal in diesen komplizierten Künstler­haushalt einfügen musste. Alles war neu und unge­wohnt für sie.

Die Schwierigkeiten begannen bei der Sprache. Fran­zösisch hatte Olga in der Schule zwar lernen müssen, aber ausgerechnet in diesem Fach war sie keine gute Schülerin, der Lehrer hatte ihr sogar einmal an den Kopf geworfen, sie sei ein hoffnungsloser Fall, sie werde diese Sprache nie lernen! Vielleicht hatte sie einmal kürzere oder längere Zeit im Welschland ver­bracht, aber la langue française blieb lange eine Spra­che, die ihr Mühe machte, und man wird in Frank­

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reich kaum Rücksicht auf sie genommen haben. Sie wurde ins eiskalte Wasser geworfen und musste rasch vieles lernen und sich bewähren.

Niemals jedoch wäre sie nach wenigen Monaten oder nach einem Jahr nach Rubigen zurückgekehrt und hätte dort reumütig eine einfachere Stelle als Kin­dergärtnerin oder Kindermädchen in der Schweiz an­genommen. Nein, sie wollte auf keinen Fall wieder bei den Eltern auf dem Land wohnen, für eine Aussteuer sparen und sich an Samstagabenden von einem Bur­schen im Dorf zum Tanz ausführen lassen. Das passte nicht zu ihrem grossen Traum von einem aufregenden Leben, den sie sich hartnäckig und eigenwillig zu er­füllen versuchte.

Olga hatte Mut und Ehrgeiz und nahm die Heraus­forderung an, unter einem Dach mit einem berühm­ten Künstler und seiner anspruchsvollen Lebensge­fährtin zu leben. Der kleine Lorenzo muss glücklich gewesen sein, dass eine warmherzige junge Frau sich um ihn kümmerte, mit ihm spielte, mit ihm im Meer schwimmen ging, ihn liebevoll und mit viel Geduld behandelte und rund um die Uhr für ihn da war.

Seine Mutter, Germaine Everling, war sich von jeher gewohnt, die Verantwortung für ihre Kinder – zwei Söhne von verschiedenen Männern, der ältere, inzwischen im Internat, kam nur noch in den Schul­ferien auf Besuch – an die jeweilige Gouvernante ab­

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geben zu können. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit ihren Kindern abzugeben, sie plante und organi­sierte mit Ehrgeiz und Geschick Einladungen, Dîners, verhandelte mit der Köchin, unterhielt ihre Gäste, die von überallher anreisten, und musste sich um ihre Schönheit, ihre Garderobe und den Garten kümmern. Und auch Francis Picabia verlangte viel Aufmerksam­keit und Zuwendung und wurde rasch eifersüchtig auf Lorenzo, wenn sie sich zu sehr mit diesem abgab.

Inzwischen habe ich zu recherchieren angefangen. Was hat Olga in Mougins und Cannes erlebt? Wie und weshalb ist es zum Bruch zwischen dem Künstler und Germaine Everling gekommen?

Über Francis Picabia finde ich eine Flut an Infor­mationen. Unzählige Bilder aus Museen und Galerien sind im Internet abgebildet, Ausstellungen aufgelis­tet, es gibt eine ausführliche offizielle Website über ihn, jede Menge Schriften, Bücher, Gedichte, Mono­grafien, Texte in Ausstellungskatalogen, Sekundärli­teratur … Über Olga Mohler etwas zu erfahren, ist schwieriger.

Zuerst einmal spaziere ich nochmals zu Fuss nach Rubigen an den Bahnhof und versuche, Fotos von der Gedächtnistafel zu machen, die dort, wenig beachtet und kaum gelesen, an der Aussenwand des winzigen Bahnhof­Bistros hängt. Ich schaue mich im Dorf um,

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das 1925 ein idyllisches, ruhiges, intaktes Bauerndorf des Berner Mittellands mit ungefähr 800 Einwoh­nern war. Danach fahre ich mit dem Zug nach Münsin­gen weiter, um dort auf dem Friedhof Olgas Grab zu suchen.

Ein sonniger, fast schon heisser Frühlingstag. Ich schreite systematisch, den Jahrzahlen folgend, die Reihen der Gräber ab, lese die Namen der Toten, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben – und finde den Namen Olga Picabia­Mohler vorerst nicht.

Als ich die Tafel mit dem Plan der Gräber nochmals studiere, fällt mir endlich auf, dass es auch Gemein­schaftsgräber gibt. Und tatsächlich entdecke ich Olgas Namen auf einer der Plaketten bei den Gemein­schaftsgräbern. Es gibt also kein besonderes Grab mit einem auffallenden, kühn gestalteten Grabstein oder einem Aphorismus von Picabia, wie ich erwartet habe. Nicht einmal ein Hinweis, dass sie die Gefährtin eines berühmten Mannes war, ist da zu lesen. Hier liegt sie als eine von vielen, gestorben 2002 mit 97 Jahren, nur ihr Name mit dem Geburts­ und dem Todesjahr steht da. Das genaue Geburtsdatum erfahre ich erst viel später: 18. Juli 1905; als Olga Elise Mohler in Liestal geboren, im Zeichen des Krebses.

Sie ist also nicht an der Seite ihres nach wie vor be­rühmten Mannes auf dem Pariser Friedhof Montmar­

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tre begraben worden, wie man dies hätte annehmen können. Aus irgendeinem Grund hat sie dies vermut­lich gar nicht gewünscht, sondern sich mit einem Ge­meinschaftsgrab in Münsingen begnügt. Die Urne mit ihrer Asche ist aus Paris in ihre ursprüngliche Heimat gebracht und hier beigesetzt worden. Hat sie wohl ein Testament gemacht?

Erst viel später glaube ich zu verstehen, weshalb Olga Picabia­Mohler nicht auf dem Pariser Friedhof Mont­martre liegt. Entweder war es aus juristischen Grün­den nicht möglich, oder sie lehnte es ab, weil sie nicht wirklich dorthin gehörte. Ihr Mann Francis wurde nämlich in der Kapelle Davanne beigesetzt, im Fami­liengrab der reichen, privilegierten Verwandten seiner Mutter Marie­Cécile aus dem alteingesessenen fran­zösischen Geschlecht der Davanne. Und von Heinz Schneider, ihrem Neffen, erfahre ich, seine Tante habe eigentlich gewünscht, ihre Asche solle ins Meer ge­streut werden. Weil das jedoch nicht machbar war, habe der Direktor des Comité Picabia, Pierre Calté, die Urne aus Paris in die Schweiz gebracht.

In Münsingen sei eine einfache Abdankung mit einem Pfarrer und den Rubiger Familienangehörigen abgehalten worden. Calté habe es jedoch unterlassen, am Zoll die Papiere für die Urne vorzuweisen und stempeln zu lassen, und hätte deshalb mit der Urne

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nochmals nach Les Verrières zurückfahren müssen, um sie vorschriftsgemäss zu verzollen. Schliesslich sei aus Zeitnot eine Ausnahme gemacht worden.

Caltés Frau, Beverley2, sei besonders angetan gewe­sen vom schönen Rahmen der Feier auf dem Friedhof Münsingen, mit Eiger, Mönch und Jungfrau im Hin­tergrund, und auch ein Amerikaner sei extra ange­reist, vermutlich William A. Camfield, Mitglied des Comité Picabia, emeritierter Professor der Rice Uni­versity, Houston.

Ganz am Schluss ihres langen Lebens ist Olga wie­der das einfache Mädchen aus dem Dorf geworden. Sie hat ihre Herkunft nicht verleugnen können, ob­wohl ihr Rubigen immer zu klein, zu eng vorkam. Denn auch in den späten Lebensjahren, wenn sie wie jedes Jahr im Sommer für einige Wochen auf Besuch in ihr ruhiges Heimatdorf kam, begann sie sich bald schon nach Paris, nach ihrer Dachwohnung an der Rue Danielle Casanova, Picabias ehemaligem Ge­burtshaus, zu sehnen. Hier in Rubigen löste sie Rätsel wie früher ihre Mutter oder legte Patiencen, um sich die Zeit zu vertreiben. Es blieben ihr im hohen Alter nur noch wenige Menschen in der Schweiz, die ihr nahe standen – und in Paris mag das kaum anders ge­wesen sein.

2 Kunsthändlerin wie ihr Mann Pierre Calté, Verfasserin der Biografie über Francis

Picabia auf der offiziellen Homepage des Comité Picabia.

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Der Journalistin Brigitte Ulmer gegenüber, die 1999 Madame Picabia an der Worbstrasse in Rubigen besuchte und nachher sogar nach Paris reiste, um sie für einen Bericht über ‹grosse Frauen› zu interviewen3, gab Olga Picabia zu, ein Monat im Dorf sei genug, sie müsse sich hier «zusammennehmen». Noch acht Tage, dann könne sie endlich zurück in ihr Appartement in der Nähe der Place Vendôme. Eine einzige Freundin aus der Schulzeit lebe noch, aber wenn sie diese im Altersheim in Münsingen besuche, sei ein normales Gespräch nicht mehr möglich. Und als die Journalis­tin die 94­Jährige fragte, weshalb sie denn überhaupt noch nach Rubigen komme, erklärte diese, sie wolle ein bisschen andere Luft schnuppern, und setzte in ihrem breiten Berndeutsch hinzu: «I bi gäng no vo hie.»

Sie blieb sich treu, war keine Femme fatale, blieb trotz allem das Meitschi aus Rubigen, selbst wenn es ihr in späteren Jahren, als Picabias Bilder immer mehr Wert bekamen, manchmal etwas in den Kopf gestie­gen sei, das viele Geld habe sie schon etwas verändert. Allerdings könne daran auch das Alter mit seinen unliebsamen Veränderungen und Einschränkungen schuld gewesen sein, findet ihr Neffe Heinz Schneider.

3 In: Meyers Modeblatt 21/99. Text: Brigitte Ulmer, Fotos: Jürg Ramseier.

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Der Worber Journalist Martin Christen ist in Rubigen aufgewachsen und einer der Initianten der Gedächt­nistafel für Olga Picabia­Mohler. Ihn zu fragen, ob er sich an sie erinnern könne, hatte ich mir vorgenom­men. Sie muss eine auffällige Erscheinung gewesen sein, wenn sie jeweils im Dorf auftauchte.

Ja, er erinnere sich gut an Olga Picabia, sie habe immer schwarze Kleider getragen, erzählt er, er sehe sie vor sich: eine grosse, schlanke Frau, die noch im hohen Alter, bis 1990, mit ihren legendären Peugeots – sie sei dieser Automarke treu geblieben – von Paris nach Rubigen gefahren sei. Er druckt mir eine Ko­lumne aus, die er über sein Dorf, wie er es als Bub er­lebte, geschrieben hat, und schlägt mir vor, ich solle mich mit Jürg Ramseier in Verbindung setzen. Jürg, auch ein Rubiger, habe Olga Mohler sehr gut gekannt und sie fotografiert.

Bevor ich den Fotografen kontaktiere, stöbere ich im Internet antiquarisch ein Buch auf, das Olga Pica­bia offenbar über ihren Mann geschrieben hat, jeden­falls ist sie als Autorin dieses ‹Albums› angegeben. Das muss ich haben, das könnte eine wichtige Quelle sein! Die Bezeichnung ‹Album› irritiert mich etwas. Sind es Fotos von Bildern Picabias mit erklärendem­Text eines Kunsthistorikers und vielleicht einem Vor­wort von seiner Frau? Eine Art Biografie? Erinne­rungen?

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Wenige Tage später liegt ein grosses Paket in meinem Milchkasten: das bestellte Buch von Olga Picabia, das sich tatsächlich als Album herausstellt. Ein privates Fotoalbum, von ihr mit Bildern, Dokumenten und Kommentaren versehen, das erstaunlicherweise in Berlin gescannt und gedruckt worden ist! Einzig das Foto von Picabia auf dem Schutzumschlag fehlt in meiner Ausgabe, doch sonst ist dieses unüblich gross­formatige ‹Buch› in einwandfreiem Zustand. Eine Trouvaille.4

Den ganzen Tag und später immer wieder schaue ich mir die Fotos an, blättere sorgfältig, Seite um Seite, vorwärts und rückwärts, tauche ein in das Leben von Francis und Olga Picabia, gerate ins Staunen und manchmal in einen Taumel der Begeisterung. Der oft zitierte Satz stimmt auch hier: Ein einziges Bild sagt mehr als tausend Worte. Und in den eingeklebten Aus­schnitten aus Kunstkritiken, Zeitungsberichten, Re­produktionen von Bildern und den dreisprachigen Legenden – in Französisch, Italienisch und Englisch – finde ich wichtige Informationen und werde immer

4 Für Francis Picabia. Das Album von Olga Picabia-Mohler. Geprägter Hartkarton-

einband mit Leinenrücken. Schutzumschlag aus Packpapier mit montierter

S/W-Abbildung. 179 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, Fotos und Faksimiles.

Format 25 × 34,5 cm. Über Leben und Werk von Francis Picabia. Erklärender Text

im Anhang von Maurizio Fagiolo in italienischer, französischer und englischer

Sprache. Brinkmann & Bose, Berlin 1981.

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tiefer in dieses mir fremde, faszinierende Leben hin­eingezogen.

Inzwischen habe ich Jürg Ramseier, der eine foto­grafische Dokumentation (1990–2002) über Olga, die Frau von Francis Picabia, erstellt hat, angefragt, ob er gelegentlich Zeit hätte, mir von seinen Begegnungen mit ihr zu berichten. Obwohl er wenig Zeit zu haben scheint, wollen wir uns bald treffen! Er muss meine Ungeduld, mehr über Olga zu erfahren, gespürt haben. Am gleichen Tag, an dem das Picabia­Album bei mir eingetroffen ist, sehen wir uns.

Ich merke bald, dass wir dieselbe Faszination für das junge, eigensinnige Mädchen und die Frau, die Olga an der Seite von Picabia geworden ist, empfin­den, und ich beneide Ramseier etwas, dass er sie per­sönlich gut gekannt, zwölf Jahr lang immer wieder fotografiert und von ihr Auskünfte über ihr Leben aus erster Hand erhalten hat: in Rubigen und auch in Paris.

So einfach, wie er es sich vorgestellt hatte, war es al­lerdings nicht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Als er zum ersten Mal in Paris an die Tür von Madame Picabia klopfte, ohne seinen Besuch vorher angekündigt zu haben, und sie unwirsch rief: «C’est qui?», öffnete sie nicht sofort, sondern meinte trocken, es könne ja jeder kommen und behaupten, er sei aus Rubigen! Sie öff­nete dann doch, und der Fotograf hatte Glück, sie

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erinnerte sich sofort an seinen Vater und besonders an seine Grossmutter und erzählte von ihr, sie habe diese sehr gemocht, sie sei die Beste gewesen in Rubigen, die Einzige, die verstanden habe, weshalb sie Picabia ge­heiratet habe; die andern im Dorf hätten das nie wirk­lich begreifen können und sie eher bemitleidet: mit einem so alten, schwierigen Mann zusammenleben zu müssen …

In der ‹annabelle›5 erschien vor über 20 Jahren ein aus­führliches Porträt Olga Picabias mit Fotos von Jürg Ramseier unter dem Titel: ‹Ein wildes Leben›. In sei­nem Begleittext ist seine Bewunderung für diese un­gewöhnliche Frau aus jeder Zeile spürbar. Olga Pica­bia­Mohler, zur Zeit des Interviews 84­jährig, wird darin mehrmals wörtlich zitiert und gibt so wichtige Auskünfte preis, authentisch, aus erster Hand.

Es sind oft Kleinigkeiten, die Ramseier genau er­fasst hat: ihre lebhaften Augen, die ihre Vitalität ver­raten; wie sie elegant mit ihren Händen gestikuliert; wie sie kurze Zigaretten in den Filter steckt; dass sie ein Nachtmensch ist und kaum je vor Mitternacht ins Bett kommt; dass sie keine grossen Schwierigkeiten hatte, sich Picabias Lebensstil anzupassen, und «feine Antennen und das nötige Selbstwertgefühl» besass,

5 Nr. 10 vom 15. Mai 1990.

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schwierige Situationen zu meistern; dass sie sich immer wieder gegen andere Frauen durchsetzen musste; dass sie die humorvolle, verspielte Art ihres Mannes be­sonders mochte.

Und vor allem sehe ich in der ‹annabelle› zum ersten Mal eine Aufnahme der über 80­Jährigen: eine immer noch schöne, alte Frau, die als Grande Dame posiert, etwas Würdevolles, Überlegenes ausstrahlt und un­glaublich präsent ist.

Da sitzt sie in einem alten ledernen Sessel, die rechte Hand – mit sorgfältig manikürten Fingernägeln – auf der rechten Lehne aufgestützt, die andere Hand am Kinn, mit breitem Goldring am Ringfinger, eine Spur skeptisch blickend, aber mit wachem, klugem Blick. Eine Königin, die ein unsicht bares Szepter trägt. Grosse Adlernase, was auf Eigenwilligkeit schliessen lässt, die Lippen mit dezentem Rouge geschminkt, sehr kurz geschnittenes, weisses Haar, mit einem Wir­bel nach links, blaue, etwas matte Augen. Altersbe­dingte Sehschwäche?

Ich finde in einem Brief, den Francis Picabia in Paris im Juli 1947 an Christine Boumeester, eine mit dem Paar befreundete Malerin, schrieb, die Bemerkung: «Olga geht es nicht gerade gut, immer die Augen!?» Ihr Neffe erzählt später, von Kind an habe seine Tante auf einem Auge schlecht gesehen, was damals leider nicht festgestellt worden sei.

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Olga trägt ein hochgeschlossenes Kleid mit blau­ rotem Schottenmuster, nicht aus einem billigen Wa­renhaus, sondern eher in einem Pariser Modeatelier genäht, und ebenfalls blaue, modische Clips, wie sie eine Durchschnittsschweizerin in diesem Alter kaum an die Ohren stecken würde. Das Kleid mit dem dazu farblich abgestimmten Schmuck zeigt, dass sie Ge­schmack hat, viel von Mode, von Farben und Eleganz versteht und längst gelernt hat, sich von ihrer besten Seite zu präsentieren. Eine Dame von Welt, die ihre Rolle immer noch perfekt spielt und sich ihrer Auf­gabe – das Werk von Picabia zu vertreten, damit er nie­mals vergessen wird – bewusst ist. Ihr Oberkörper, mit den Jahren fülliger geworden, wirkt mütterlich. Wahrscheinlich trägt sie Seidenstrümpfe, hat nach wie vor sehr schlanke Beine, die Füsse stecken ver­mutlich in eleganten, teuren Pumps. Lebt sie vor allem von Erinnerungen an die wilden Jahre mit Picabia?

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Inhalt

5 Ein Schweizer Kindermädchen in Cannes 30 Schlösser und Träume 45 Ménage à trois 70 Olgas Krankheit 90 Jachten, Automobile und ‹Bal Nègre› 109 Das Album – eine Lebensfibel 124 Mutter Mohlers Besuch in Paris 144 Kriegs­ und Nachkriegsjahre170 Francis und die Frauen 195 Lettres à Christine 214 Cher Francis, à bientôt! 229 Mit den Bildern leben 252 Quellen 255 Dank