BBEE2011 Carmen Koop BA Stand-cko1 18 09...

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1 Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang: Early Education Bildung und Erziehung im Kindesalter %DFKHORUDUEHLW zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) Selektiver Mutismus Professionelle Hilfen im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern: Die aktuelle Situation in Mecklenburg- Vorpommern mit biografischen Praxisbeispielen Name: Carmen Koop URN: urn:nbn:de:gbv:519-thesis2014-0221-6 Erstprüfer: Prof. Dr. Claudia Hruska Zweitprüfer: Prof. Dr. Mandy Fuchs Datum: 18. 09.2014

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Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Studiengang: Early Education – Bildung und Erziehung im Kindesalter

zur

Erlangung des akademischen Grades

Bachelor of Arts (B.A.)

Selektiver MutismusProfessionelle Hilfen im Bundesland

Mecklenburg-Vorpommern:

Die aktuelle Situation in Mecklenburg-Vorpommern

mit biografischen Praxisbeispielen

Name: Carmen Koop

URN: urn:nbn:de:gbv:519-thesis2014-0221-6

Erstprüfer: Prof. Dr. Claudia Hruska

Zweitprüfer: Prof. Dr. Mandy Fuchs

Datum: 18. 09.2014

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Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG ............................................................................................... 5

2 SELEKTIVER MUTISMUS: WAS IST DAS?................................................ 7

2.1 Erscheinungsbild .................................................................................................. 7 2.2 Verschiedene Formen des Mutismus ................................................................ 10

3 EPIDEMIOLOGIE ...................................................................................... 13

3.1 Verbreitung des selektiven Mutismus ............................................................... 13 3.2 Co-Morbidität ....................................................................................................... 14 3.3 Risikofaktoren ..................................................................................................... 15 3.4 Diagnostische Merkmale .................................................................................... 16

4 DIE URSACHEN DES SELEKTIVEN MUTISMUS ..................................... 20

5 DIAGNOSTIK............................................................................................. 24

5.1 Voraussetzungen für eine korrekte Diagnostik ................................................ 24 5.2 Was ist bei der Diagnostik zu beachten? ......................................................... 25

6 ÜBERLEITUNG ZUR THERAPIE .............................................................. 27

7 BEDEUTUNG FÜR DIE BETROFFENEN UND IHR UMFELD .................. 27

7.1 Belastung und Bewältigungsform der Betroffenen ......................................... 28 7.2 Belastung, Verständnisschwierigkeiten und Bewältigungsform für das Umfeld .............................................................................................................................. 29 7.3 Symptome, Folgeerscheinungen und Einfluss auf die weitere Biografie ..... 30

7.3.1 Mögliche bildungsbiografische Folgen .............................................................. 31 7.3.2 Mögliche berufsbiografische Folgen ................................................................. 32 7.3.3 Mögliche körperbiografische Folgen ................................................................. 32

8 THERAPEUTISCHE MÖGLICHKEITEN IN DER PRAXIS ......................... 35

8.1 Anlaufstellen in Deutschland ............................................................................. 36 8.2 Aktuelle Situation in MV ..................................................................................... 37

8.2.1 Verbreitung ........................................................................................................ 37 8.2.2 Therapeutische Möglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern ........................... 38

8.2.2.1 Hilfen im Internet ....................................................................................... 38

3

8.2.2.2 Hilfen vor Ort ............................................................................................. 39

9 ERFAHRUNGSBERICHTE ........................................................................ 43

9.1 Die Interviews ...................................................................................................... 43 9.1.1 Methodenauswahl ............................................................................................. 43 9.1.2 Ziel des Interviews ............................................................................................. 45 9.1.3 Fragestellungen ................................................................................................. 45 9.1.4 Max .................................................................................................................... 46 9.1.5 Ina - die Mutter von Max.................................................................................... 51 9.1.6 Emi .................................................................................................................... 59 9.1.7 Emis Familie ...................................................................................................... 67 9.1.8 Sarah ................................................................................................................. 69 9.1.9 Sarahs Mutter .................................................................................................... 72

9.2 Vergleiche zwischen den Betroffenen ............................................................... 74 9.3 Vergleich der Angehörigen untereinander ....................................................... 79 9.4 Vergleich zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen ........................ 80 9.5 Selbstreflektion ................................................................................................... 82

10 ZUSAMMENFASSUNG ............................................................................. 83

Eidesstattliche Erklärung ............................................................................................... 87

11 ANHANG ................................................................................................... 93

4

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zusätzliche Auffälligkeiten und Merkmale bei 32 untersuchten

Kindern mit selektivem Mutismus (Katz-Bernstein, 2011 S. 32, 33) .................. 15

Abbildung 2: Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell (Hartmann 1997, S.

103) ................................................................................................................... 23

Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten für selektiven Mutismus in

Deutschland (Mutismus Selbsthilfe Deutschland und Universität Dortmund) ..... 42

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Studien zur Häufigkeit des Auftretens von selektivem Mutismus bei

Jungen und Mädchen (Bahr, 1998 S. 39) ............................................................ 9

Tabelle 2: Pathomechanismen bei Angststörungen (Wedekind/Bandelow 2007 in

Hartmann 2011, S. 10) ...................................................................................... 21

Tabelle 3: Leitfaden des Interviews .................................................................... 46

Tabelle 4: Übersicht über installierte Hilfen der Betroffenen ............................... 76

Tabelle 5: Was die Betroffenen selbst als hilfreich bezüglich der Überwindung des

selektiven Mutismus benennen konnten ............................................................ 77

5

1 Einleitung

Emi ist ein ruhiges Kind, eigentlich war sie schon immer schüchtern. Im

Kindergarten hat sie eine Freundin, mit der sie spricht. Mit anderen Personen, die

nicht zu ihrem engsten Familienkreis gehörten, kommuniziert sie fast nie. In der

Schule spricht Emi ebenfalls nicht. Schriftlich zeigt sie gute Leistungen, aber

mündlich verweigert sie jegliche Kommunikation. Zu Hause ist sie ein

aufgeschlossenes Kind und ihre Eltern ahnen nichts davon, dass sie in anderer

Umgebung nicht spricht. Die pädagogischen Fachkräfte halten Emi für

schüchtern, sind aber der Meinung, dass sie trotzdem endlich lernen müsse, sich

in der Klasse mündlich aktiv einzubringen. Im Gymnasium spitzt sich die

Situation zu. Wird Emi angesprochen, scheint sie förmlich zu erstarren. Sie

schaut ihr Gegenüber nur mit großen Augen an. Oder aber ihre Augen wandern

auf die Tischplatte und können sich von dieser nicht mehr lösen. Alles an ihr

erstarrt und sie wirkt wie versteinert. Die Lehrer reagieren genervt und fordernd,

sie können kein Verständnis für Emis Verhalten aufbringen. Auch die Schüler

wenden sich von Emi ab. Niemand ahnt, was Emi in ihrem Innersten durchlebt

und wie schmerzvoll es für sie ist, nicht sprechen zu können. Gefangen in ihrem

Gefängnis aus Schweigen kann sie weder um Hilfe bitten noch jemandem

mitteilen, wie es in ihr aussieht...

Erst im Erwachsenenalter fand Emi heraus, dass ihr Schweigen einen Namen

hat: „selektiver Mutismus“.

Selektiver Mutismus ist ein diagnostischer Begriff, der in der Fachpraxis noch

immer recht unbekannt ist. Fachkräfte in Kinderbetreuungseinrichtungen,

Schulen, therapeutischen und ärztlichen Praxen sind zwar mit den Symptomen

konfrontiert, können diese aber oft nicht dem Störungsbild zuordnen oder

scheinen es gar nicht zu kennen. Dies hat zur Folge, dass Betroffene und ihre

Familien eine adäquate Hilfe nicht rechtzeitig oder gar nicht finden und sich

dieses Störungsbild somit manifestieren kann. Einen Zugang zu den Betroffenen

zu finden wird dann immer schwieriger.

Wird das Störungsbild nicht frühzeitig erkannt und fachlich adäquat behandelt,

schlagen in der Regel viele pädagogische Versuche und Herangehensweisen

fehl. Das Kind, seine Angehörigen sowie die pädagogischen Fachkräfte erleben

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zunehmend eine Überforderung und häufig ein Scheitern ihrer Versuche,

konstruktiv in Beziehung zu gehen.

Ein häufig erlebtes Scheitern kann weitere Probleme nach sich ziehen und sich

in verschiedenen zusätzlichen Symptomen zeigen (Ängste, Depressionen,

Essstörungen u.a.). Isolation wie auch Ausgrenzung können ein kommunikations-

und kontaktarmes Leben zusätzlich bedingen. Ein den Fähigkeiten nicht

entsprechender Bildungsstand und soziale Abhängigkeit in Form von Hartz IV

sind häufig die Folge. Damit gehen unserer Gesellschaft nicht nur wertvolle

menschliche Ressourcen verloren. Auch die Folgekosten einer nicht oder spät

behandelten Störung sind wesentlich höher als die einer gezielten und adäquaten

frühen Hilfe.

Zielstellung der vorliegenden Arbeit ist es, die aktuelle Situation im Bundesland

Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der Bekanntheit und der therapeutischen

Möglichkeiten des selektiven Mutismus zu erörtern. Dazu soll folgenden

wissenschaftlichen Fragestellungen nachgegangen werden:

1. Ist das Störungsbild in Fachkreisen ausreichend bekannt?

2. Erhalten Betroffene und ihre Familien rechtzeitig und adäquat Hilfe?

3. Was ist notwendig, um Betroffenen und Angehörigen frühzeitig und

adäquat zu helfen?

Die Vorgehensweise der Arbeit lässt sich wie folgt beschreiben: Zunächst wird

das Störungsbild erläutert. Die aktuellen Sichtweisen in Fachkreisen werden

ebenso dargelegt wie die derzeit angenommenen Ursachen der Entstehung des

selektiven Mutismus und die die Entstehung begünstigenden Risikofaktoren und

Begleiterscheinungen. Es wird aufgezeigt, welche Möglichkeiten und

Rahmenbedingungen der Diagnostik zur Verfügung stehen und was dies für den

weiteren Werdegang der Betroffenen bedeutet.

Welche Schwierigkeiten und Folgen selektiver Mutismus für Betroffene und ihr

Umfeld mit sich bringen kann, wird ebenfalls erläutert.

Es werden zunächst deutschlandweit, dann speziell für das Bundesland

Mecklenburg-Vorpommern die aktuellen Therapiemöglichkeiten aufgezeigt, die

über Recherchen im Internet und vor Ort zu finden sind.

Im Rahmen dieser Arbeit wurden zwei Betroffene ein Jahr lang in ihrer Therapie

sowie in Angehörigentreffen begleitet. Eine Stichprobe aus drei Betroffenen und

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fünf ihrer Angehörigen soll beispielhaft verdeutlichen, welche Erfahrungen

Menschen mit selektivem Mutismus machen können und wie ihr Weg auf der

Suche nach Hilfe aussehen kann. Zu diesem Zweck wurden die Betroffenen und

ihre Angehörigen interviewt. Das hierfür genutzte Leitfadeninterview konzentriert

sich dabei auf die oben aufgeführten Fragen. Die Ergebnisse der Interviews

werden im letzten Teil der Arbeit journalistisch zusammengefasst wiedergegeben.

Zusätzlich wurden Anfragen an mehrere Krankenkassen sowie die

Kassenärztlichen Vereinigungen Mecklenburg-Vorpommern gestellt, um

nachzuvollziehen, welche Auskunftsmöglichkeiten Patienten haben und wie viele

Fachleute in MV durch die angefragten Stellen benannt werden können. Dieser

Weg würde den Patienten und Angehörigen zur Verfügung stehen, die das

Störungsbild kennen und vermuten.

Im Anschluss wird dargelegt, ob es in MV ausreichende und adäquate

Unterstützung sowie Therapiemöglichkeiten für Menschen mit selektivem

Mutismus gibt und wenn, ob diese nutz- und greifbar sind für die Betroffenen.

2 Selektiver Mutismus: was ist das?

2.1 Erscheinungsbild

Mutismus leitet sich aus dem lateinischen Adjektiv „mutus“ ab und bedeutet

„stumm, sprachlos, still“ (siehe URL 34). Das Wort „selektiv“ bedeutet, dass es

sich beim Schweigen – im Gegensatz zum totalen Mutismus - um ausgewählte

Situationen handelt, in denen die Betroffenen trotz vorhandener physiologischer

Sprachfähigkeit und vollzogenem Spracherwerb nicht sprechen können (vgl.

Katz-Bernstein, 2011). Im Unterschied zu dem Begriff „elektiver Mutismus“ soll

die Begriffswahl deutlich machen, dass es sich keineswegs um ein freiwilliges,

selbst bewusst gewähltes Schweigen handelt (elektiv), sondern dass die

Betroffenen trotz größter Anstrengungen nicht in der Lage sind, in den

betreffenden Situationen von ihrer Sprache Gebrauch zu machen. Der Begriff

„elektiv“ wird deshalb in Fachkreisen auch als mögliche Verharmlosung des

Schweregrads dieses Störungsbildes betrachtet. Namhafte Autoren nutzen

deshalb lieber den Begriff „selektiver Mutismus“ wie z.B. Katz-Bernstein, gestützt

u.a. auf Popella, Asperger, Böhme, Saloga, Hartmann, Sparaso/Schäfer und Bahr

(ebd. 25).

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Der Begriff „Mutismus“ hat sich im Laufe von über 100 Jahren immer wieder

gewandelt und unterlag unterschiedlichsten Einordnungen. In Fachkreisen

sprach man von „freiwilliger Stummheit“ (Gutzmann 1894, vgl. Katz-Bernstein

2011, Bahr 1998), von elektivem Mutismus (Tramer 1934, vgl. ebd.) wie er auch

heute noch im ICD-10 auffindbar ist, von selektivem Mutismus wie wir ihn aktuell

im DSM-IV und DSM-V finden bis hin zum „partiellen Schweigen“ (Schoor 2002,

vgl. ebd.) um nur einige zu nennen.

Von dem Begriff der „freiwilligen Stummheit“ haben sich Autoren schon vor langer

Zeit abgewandt (z.B. Spieler 1944, Asperger 1968, zitiert in Hartmann 1997).

Unter anderem auch Katz-Bernstein setzte sich mit der „Freiwilligkeit“ des

Schweigens kritisch auseinander und stützt sich dabei z.B. auf aktuelle Literatur

aus dem angloamerikanischen Raum, in dem von „einer Angststörung in Form

einer sozialen Phobie, einer kindlichen Depression oder einer Zwangshandlung“

die Rede ist (Katz-Bernstein 2011, S. 26). „Bei dieser Art von Störungen stehe

das Kind wie unter einem „Bann“ bzw. unter einem Zwang, das Sprechen an

bestimmtem Orten oder in bestimmten Situationen einzustellen und keinen Laut

von sich zu geben.“ (ebd., S. 26) Die vorhandene Unfreiwilligkeit des Schweigens

und das verzweifelte „nicht sprechen können“ bestätigen u.a. auch die Interviews

der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die im Zuge dieser Arbeit erhoben

wurden sowie zahlreiche Interviews im Internet oder aktueller Literatur (z.B.

Fachzeitschrift Mutismus.de, Melliger 2012 u.a.).

Das Erscheinungsbild selektiver Mutismus ist bei Mädchen häufiger als bei

Jungen anzutreffen (vgl. Katz-Bernstein 2011, Buß 2005, Bahr 1998, 2004.) wie

in Tabelle 1 dargestellt.

Über die Ursachen der unterschiedlichen geschlechtlichen Verteilung des

selektiven Mutismus gibt es verschiedene Annahmen, auf die unter Punkt 3 mit

eingegangen wird. Beobachtet wurde von Hartmann und Lange (2013, S.22),

dass sich verstärkt betroffene Mädchen als „adrette, akkurat gekleidete

Prinzesschen“ zeigen und den Kontakt mit Schmutz vermeiden, indem

Sandkästen, „Matschphasen“ und z.B. Spiele auf dem Fußboden vermieden

werden.

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Tabelle 1: Studien zur Häufigkeit des Auftretens von selektivem Mutismus bei Jungen und Mädchen (Bahr, 1998 S. 39)

Wie zeigt sich aber selektiver Mutismus noch? Das Nichtsprechen ist zwar ein

Hauptmerkmal, aber bei weitem nicht das einzige. Wir finden bei diesen

Menschen Verhaltens- und Bewegungsmuster, die typisch sind für dieses

Störungsbild. Schüchtern, Blickkontakt vermeidend, gerade bei Sprechblockaden

in der Körperhaltung wie eingefroren wirkend begegnen wir ihnen. Jegliche Mimik

und Gestik scheint wie versteinert, wenn eine Sprechangst auslösende Situation

für sie vorhanden ist. Auch sonst sind sie in ihrem Bewegungsausmaß oft

verhaltener, wirken gehemmter und vorsichtiger. Eine übertriebene Angst vor

vermeintlichen Gefahren ist ebenfalls offensichtlich und zeigt sich in der

Vermeidung von Spielen mit hohem Bewegungsausmaß und Überwinden von

Hindernissen, wie z.B. auf Bäume zu klettern, Klettergerüste zu erobern,

Rutschen zu benutzen, Rad zu fahren, zu schwimmen, von etwas Höherem

herunterspringen usw. (vgl. Hartmann und Lange, 2013, S. 22). Häufig findet

man „Nebenschauplätze“ mit weiteren Symptomen, welche unter Punkt 3.2 (Co-

Morbidität) eingehender dargelegt werden.

Zusammenfassend haben wir es bei selektivem Mutismus also trotz

physiologischer Sprachfähigkeit und abgeschlossenem Spracherwerb mit einer

Unfähigkeit zu sprechen zu tun, die sich im Schweigen bestimmten Personen

gegenüber äußert und durch definierte Situationen gekennzeichnet ist. Das

Kommunikationsverhalten ist nicht nur verbal eingeschränkt, auch Mimik und

Gestik sind betroffen. Typisch Ist hier das Erstarren, wenn die betroffene Person

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sich in einer Situation befindet, die eine Blockade bei ihr auslöst. Mädchen sind

häufiger betroffen als Jungen (siehe auch Bahr, 1998). Das Wort "selektiv" macht

deutlich, dass es sich nicht um ein freiwilliges Schweigen handelt, sondern dass

die Betroffenen trotz größter Bemühungen ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht

adäquat einsetzen können.

Mutismus kann sich in weiteren Formen wie z.B. in totalem Mutismus in Folge

traumatischer Erlebnisse oder auch als passagerer Mutismus während der

Bewältigung von Transition zeigen, welche sich vom selektiven Mutismus zum

Teil abgrenzen oder diesen weiter differenzieren. Diese sollen im Folgenden

klarer voneinander abgegrenzt werden.

2.2 Verschiedene Formen des Mutismus

Neben dem selektiven Mutismus finden wir weitere Formen des Mutismus. Im

Laufe der Jahrzehnte wurden dazu verschiedenste Bezüge hergestellt (vgl. Katz-

Bernstein 2011, Bahr 2012). Es wurde unterteilt nach vermutlichen Auslösern des

Schweigens, nach dem zeitlichen Auftreten und anderen Kriterien, wie z.B. auch

Mutismus in Verbindung mit psychiatrischen Störungsbildern wie Schizophrenie,

katatonen Zuständen, Paranoia und anderen. Im Folgenden werden der

selektive Mutismus, der totale Mutismus, der passagere Mutismus, der Früh- und

Spätmutismus und eine Einteilung nach Hayden (1980, zitiert in Katz-Bernstein

2011), einer amerikanischen Spezialistin für Mutismus, kurz gegenüber gestellt.

Selektiv mutistischen Menschen gelingt es nicht, in ausgewählten Situationen zu

sprechen. Das Sprechen ist ausschließlich mit bestimmten Personen und in

definierten Situationen möglich. Kommt eine weitere Person hinzu oder wechseln

plötzlich die Rahmenbedingungen, ist das Sprechen schlagartig nicht mehr

möglich. Diese Stummheit bezieht sich in der Regel nicht nur auf die verbale

Kommunikation, sondern auf das gesamte körperliche Kommunikationsverhalten.

Eine starre Haltung, die Arme an die Seiten des Körpers gepresst, ist ebenso

typisch wie fehlende nonverbale Kommunikationsmittel, z.B. Blickkontakt, Kopf

nicken oder schütteln.

Der totale Mutismus lässt auch eine Selektivität des Sprechens nicht zu: hier

kann auch im engsten und vertrautesten Kreis nicht kommuniziert werden. Auch

hier ist der Spracherwerb vollzogen, Hör- und Sprechvermögen sind vorhanden.

Psychologische Faktoren (z.B. Konditionierung, Milieueinflüsse) werden ebenso

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vermutet wie physiologische (z.B. familiäre Disposition, Hyperfunktion der

Amygdala), eine abgeschlossene und vollständige Ursachenforschung existiert

jedoch noch nicht (siehe URL 28). Teilweise kann der totale Mutismus aus dem

früheren Kommunikationsverhalten diagnostiziert werden, auch kann er die Folge

eines traumatischen Erlebnisses sein (siehe URL 29).

Der passagere Mutismus wird als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei

jungen Kindern eingeordnet. Diese wird im ICD-10 (F. 94.0, elektiver Mutismus)

als Ausschluss unter F 93.0 als eigenständiges Störungsbild behandelt

(Remschmidt, 20002 S. 48,55). Hier wird die Furcht vor der Trennung als

Kernauslöser betrachtet, während beim selektiven Mutismus das Sprechen bzw.

Schweigen in bestimmten Situationen der Auslöser für die Einordnung ist und

beim totalen Mutismus das komplette, überall und immer vorhandene Schweigen.

Von Früh- und Spätmutismus spricht man, wenn man das Auftreten nach dem

Alter des Kindes einordnet. So bezeichnet man ein Auftreten der Störung beim

Eintritt in den Kindergarten als Frühmutismus (im Alter von 3,4 Jahren: Dummit

et al. 1987, zitiert in URL 30 bzw. 4,1 Jahren: Steinhausen und Juzi 1996, zitiert

in URL 30). Spätmutismus (auch Schulmutismus genannt) zeigt sich mit dem

Übergang in die Schule (Begriffe von Kurt/Schweigert 1972, zitiert in URL 30) ab

5,5 Jahren (siehe auch Katz-Bernstein, 2011, S. 29). Offensichtlich wird hier der

enge Bezug zu Übergängen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die

zeitgleich auftreten. Dies sollte auch von professionellen Fachkräften in den Blick

genommen werden, wenn es um die Ausgestaltung der Übergänge vom

Elternhaus in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie von diesen in die

Schule geht.

Weiterhin konnte die Forschergruppe der Universität Dortmund nachweisen, dass

Kinder mit Migrationshintergrund deutlich häufiger von Störungen des selektiven

Mutismus betroffen sind als Kinder deutscher Herkunft (siehe URL 14).

Überlegungen zur kulturellen Inklusion der Kinder und der Barrieren im

deutschen Schulsystem scheinen die Ausbildung eines selektiv mutistischen

Störungsbildes zu begünstigen.

Lesser-Katz unterteilt die Kinder in zwei Hauptgruppen: in eine „Gruppe

gefügiger, scheuer, ängstlicher, anhänglicher und unsicherer Kinder und eine

Gruppe nicht gefügiger, passiv-aggressiver, vermeidender mutistischer Kinder“

(URL 1, Lesser-Katz, 2014). Hayden unterschied 1980, nach einer Untersuchung

an 68 mutistischen Kindern, vier Gruppen anhand derer das Erscheinungsbild,

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Auffälligkeiten im Verhalten sowie psychosoziale Ursachen eingeordnet werden

können (vgl. Katz-Bernstein 2011):

Symbiotischer Mutismus (symbiotische Beziehung zu einer Bezugsperson

einhergehend mit einer manipulativen, negativistischen Einstellung

gegenüber verantwortlichen Erwachsenen)

Sprechangst-Mutismus (Angst vor dem Hören der eigenen Stimme

einhergehend mit Zwangsgedanken und/oder –handlungen)

Reaktiver Mutismus (verursacht durch einmalige Depression verbunden mit

Rückzug)

Passiv-aggressiver Mutismus (aufsässige Verweigerung des Sprechens,

Schweigen als Verteidigungswaffe)

Auch wenn diese Einteilung differenzialdiagnostisch in Frage gestellt wird, ist sie

doch hilfreich bei der Aufstellung therapeutischer Schwerpunkte in der Arbeit mit

betroffenen Kindern sowie den Angehörigen und beteiligten professionellen

Helfern (ebd.).

Grenzen wir den selektiven Mutismus von weiteren Formen des Mutismus ab,

bleiben neben den verschiedenen Verhaltensweisen (gefügig und anhängig

versus passiv-aggressiv) der Früh-und Spätmutismus zur Differenzierung des

Alters bei Eintritt bestehen. Der Spätmutismus, auch Schulmutismus genannt,

macht die sensible Phase des Übergangs in eine Bildungseinrichtung und die

damit verbundene Notwendigkeit einer aufmerksamen, unterstützenden

Begleitung besonders deutlich. Besonders gilt dies für Familien mit

Migrationshintergrund, deren Kinder häufiger betroffen sind und im System

Bildung einer besonderen Unterstützung bedürfen. Auch wenn und gerade weil

es sich nicht um eine sehr häufig vorkommende Störung handelt, benötigen

betroffene Familien kompetente Unterstützung.

13

3 Epidemiologie

Im Folgenden werden die Häufigkeit und das gemeinsame Auftreten des

selektiven Mutismus mit verschiedenen anderen psychischen Erkrankungen, die

Risikofaktoren und auch die diagnostischen Merkmale dargestellt.

3.1 Verbreitung des selektiven Mutismus

Während in der Literatur die Zahlenangaben schwanken und eine Zunahme von

Studien zu diesem Thema inzwischen zu verzeichnen ist, wird bis heute von

einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. In vielen Fallberichten wird beschrieben,

dass Betroffene und Angehörige erst sehr spät, häufig durch Zufall, von der

Bezeichnung dieses Störungsbildes erfahren und sich somit erst dann adäquat

mit dem Störungsbild, dem dazugehörigen Wissen und den Erfahrungen auf

diesem Gebiet auseinandersetzen und sich informieren können. Auch der Fakt,

dass die Betroffenen sich nicht außerhalb ihres geschützten Rahmens adäquat

äußern können, macht ein Aufsuchen von Hilfsangeboten oder ein „sich

informieren“ schwer oder unmöglich für sie.

Die Häufigkeit von selektivem Mutismus wird von 0,1 – 0,7 % der klinisch

erfassten Kinder angegeben, dabei sind die Erhebungen sehr unterschiedlich

gemacht worden. Das Spektrum reicht von der Erhebung klinisch erfasster,

ohnehin schon psychiatrisch auffälliger Kindern bis hin zu Erhebungen in

Schulklassen in Nordrhein - Westphalen im Jahr 2003 mit einer Rücklaufquote

von etwas weniger als 30% (vgl. Katz-Bernstein 2011, S. 31). Die Universität

Dortmund erhielt bei der Befragung von 405 Klassenlehrerinnen und –lehrern bei

einer Zahl von 7917 Schülern ein Ergebnis von 2,6% sich typisch mutistisch

verhaltender Kinder, was die Annahme einer hohen Dunkelziffer bestärkt (URL

11, URL 12).

Nach Bahr handelt es sich nicht nur um ein weltweit vorkommendes

Störungsbild, er berichtet auch, dass die Internetseite der Organisation „Selective

Mutism Group – Childhood Anxiety Network“ (www. Selectivemutism.org) mit Sitz

in den USA bis zu 300 000mal im Monat aufgerufen wird (vgl. Bahr, 2004).

Abschließend kann also davon ausgegangen werden, dass die derzeit in der

Literatur auffindbaren Angaben von 0,1-0,7 % eher nur einen Bruchteil der

wirklich Betroffenen darlegen, da diese Störung zum einen die Betroffenen an der

14

Suche und Inanspruchnahme von Hilfen behindert und zum anderen aus

unterschiedlichen Gründen das Störungsbild wenig bekannt ist. Auch das

Zusammenspiel des selektiven Mutismus mit weiteren Symptomen und

Störungsbildern kann den Umgang und das Verständnis für die Betroffenen und

die Diagnostik zusätzlich erschweren, was im nachfolgenden Kapitel Co-

Morbidität dargelegt wird.

3.2 Co-Morbidität

Selektiver Mutismus tritt in der Regel gepaart mit verschiedensten anderen

Störungen bzw. Symptomen auf (vgl. Katz-Bernstein, Bahr, Hartmann). Dies

macht eine genaue Diagnostik besonders notwendig und schwierig und benötigt

diesbezüglich eine hohe Kompetenz von Seiten der Fachleute zu dieser

Thematik. Auch eine Mischform Mutismus-Autismus wird heute von einigen

Autoren angenommen und zeigt Forschungsbedarf auf (vgl. Katz-Bernstein

2011).

Zusätzliche Auffälligkeiten (Co-Morbidität) bei selektiv-mutistischen Kindern

können sein (nach Castell und Schmidt 1999; 2000, vgl. in Katz-Bernstein 2011):

Soziale Ängstlichkeit

Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten

Depressive Symptomatik

Regulationsstörung von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktionen oder

Verhaltenskontrolle

Eine weitere Aufstellung nach Rösler (1981, zitiert in Katz-Bernstein 2011) bei

einer Untersuchung an 32 selektiv-mutistischen Kindern zeigt folgende mit dem

selektiven Mutismus auftretenden Erscheinungen (Abbildung 1).

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Abbildung 1: Zusätzliche Auffälligkeiten und Merkmale bei 32 untersuchten Kindern mit selektivem Mutismus (Katz-Bernstein, 2011 S. 32, 33)

Nach Katz-Bernstein fanden Steinhausen und Juzi (1996) zusätzlich

Trennungsängste sowie Schlaf- und Essstörungen (zitiert in Katz-Bernstein,

2011). Wittchen (1991) nennt im DSM III außerdem entwicklungsbezogene

Artikulationsstörungen, rezeptive oder expressive Sprachstörungen oder

körperliche, die Artikulation beeinträchtigende Störungen (ebd.). Häufig tritt

selektiver Mutismus auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern auf, die

mindestens eine zweite Sprache zusätzlich erlernen müssen.

Diese Beobachtungen unterstreichen deutlich die Einordnung des selektiven

Mutismus nicht nur als Kommunikationsstörung, sondern auch als Angststörung

wie Katz-Bernstein sie beschreibt (vgl. Abschnitt 2.1.). Eine Reihe von

Risikofaktoren scheinen die Entstehung von selektivem Mutismus ebenfalls zu

begünstigen. Sie sollen im Folgenden dargestellt werden.

3.3 Risikofaktoren

Migrationshintergrund mit einem Zweitspracherwerb ist hier als ein Risikofaktor

zu nennen, ebenso wie verschiedenste Sprachstörungen, die eine

Verunsicherung im Gebrauch und beim Erlernen der jeweiligen Sprache auslösen

können. Mögliche Risikofaktoren können sein (Katz-Bernstein 2011, S. 35):

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Migration und Bilingualität (28% bzw. 22%)

Psychische Störungen, Persönlichkeitsstörungen der Eltern (10,5%)

Mutistisch anmutende Verhaltensweisen der engsten Angehörigen (72,2%,

Kontrollgruppe 17,6%)

Prä-, peri-, postnatale Komplikationen (75%)

Störung der pragmatisch-kommunikativen Kompetenz

Temperamentsmerkmale (Rückzug, Scheu, Ängstlichkeit, Schweigsamkeit),

(Steinhausen/Juzi 1996, zitiert in Hartmann 2002)

Geschwister- oder Zwillingskonstellation (Subellok et al. 2011)

Hinweise zu weiteren Risikofaktoren liefern Studien wie z.B. „Defizite und

Verzögerungen in der pragmatischen, sozialen, kommunikativen und/oder

narrativen Kompetenz“, Cunningham et. al 2004, McInnes et al. 2004 und

Carbone et al. 2010 (zitiert in Katz-Bernstein 2001, S. 34).

Ob die Erkenntnisse der Co- Morbidität und der Risikofaktoren beim selektiven

Mutismus im Rahmen der Diagnostik umfassend genutzt werden können, ist

abhängig von den diagnostischen Leitlinien, die als Grundlage dienen und

Voraussetzung für eine therapeutische Begleitung im Rahmen der

Krankenkassen sind. Diese werden im folgenden Kapitel aufgezeigt.

3.4 Diagnostische Merkmale

Folgend werden die Definitionen nach ICD-10, wonach in Deutschland

diagnostiziert und gearbeitet wird und der DSM-IV und DSM-V, der in den USA

als Grundlage dient, vorgestellt.

F94.0 Elektiver Mutismus

In der WHO-Klassifikation, dem ICD-10 (siehe URL 31) ist der (s)elektive

Mutismus durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens

charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen

definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit

besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug,

Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.

17

Inkl.: Selektiver Mutismus

Exkl.: Passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei

jungen Kindern (F93.0)

Schizophrenie (F20.-)

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.-)

Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der

Sprache(F80.-)

Der DSM-IV beschreibt das Störungsbild wie folgt:

Diagnostic criteria for 313.23 Selective Mutism / These criteria are obsolete. DSM IV - TR

Diagnostic criteria for 313.23 Selective Mutism / These criteria are obsolete.

DSM IV – TR / (cautionary statement)

A. Consistent failure to speak in specific social situations (in which there is an

expectation for speaking, e.g., at school) despite speaking in other situations.

B. The disturbance interferes with educational or occupational achievement or

with social communication.

C. The duration of the disturbance is at least 1 month (not limited to the first

month of school).

D. The failure to speak is not due to a lack of knowledge of, or comfort with, the

spoken language required in the social situation.

E. The disturbance is not better accounted for by a Communication Disorder

(e.g., Stuttering) and does not occur exclusively during the course of a Pervasive

Developmental Disorder, Schizophrenia, or other Psychotic Disorder. Reprinted with permission from the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text

Revision. Copyright 2000 (URL 19)

Diagnostische Kriterien nach DSM-IV-313.23 Selektiver Mutismus (vgl.

Hartmann 2011, Katz-Bernstein 2011)

A – Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (in

denen das Sprechen erwartet wird, z.B. in der Schule), wobei in anderen

Situationen Sprechfähigkeit besteht.

B – Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder

die soziale Kommunikation.

18

C – Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten

Monat nach Schulbeginn beschränkt).

D – Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der

gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden

oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt.

E – die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z.B.

Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer

tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen

Psychotischen Störung auf. (nach Saß et.al.1998, Katz-Bernstein, 2011, S.

27)

Der aktuell gültige DSM-V hat einige Änderungen vorgenommen, die den

selektiven Mutismus mit einschließen:

„Störungen, die im DSM-IV-TR (siehe URL 32) unter dieser Überschrift

subsummiert waren, finden sich im aktuellen Diagnoseinstrument im DSM-V

(siehe URL 33) vorwiegend unter Entwicklungsstörungen. Einige Störungen

wurden im Rahmen struktureller Veränderungen in andere Kapitel verschoben.

Fütter- und Essstörungen im Säuglings- oder Kleinkindalter wurden so in das

Kapitel zu Fütter- und Essstörungen integriert; die Störung mit Trennungsangst

und Selektiver Mutismus in das Kapitel der Angststörungen. Die Reaktive

Bindungsstörung im Säuglingsalter oder in der Frühen Kindheit findet sich

innerhalb des DSM-5 in einem neu eingeführten Kapitel zu Störungen im

Zusammenhang mit Traumata und Stressoren wieder. Die Störung des

Sozialverhaltens und die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten fallen unter

Disruptive, Impulskontroll- und Verhaltensstörungen.“ (siehe URL 27)

Beide Diagnosegrundlagen, sowohl der ICD wie auch der DSM schließen jedoch

eindeutig typische und den selektiven Mutismus häufig begleitende

Problemfelder aus. So kann nach Hartmann eine Verbindung mit einer

tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder anderen psychotischen

Störungen durchaus vorliegen. Auch besteht die Möglichkeit bei einer

psychotischen Störung, dass die betroffene Person z.B. eine innere Stimme

wahrnimmt, die ihr das Sprechen verbietet (siehe dazu auch in Hartmann 2007,

1997).

19

Hartmann benennt auch Sprachentwicklungsstörungen (33% bis 51,9%) und

Zweisprachigkeit (vgl. Hartmann 2011). Ein Auftreten mit einer Vielzahl anderer

Störungen wie Essstörungen, Lernbehinderungen, Zwangs- und Angststörungen

ist für den selektiven Mutismus nicht untypisch.

Da die diagnostischen Leitlinien bei vielen Kriterien ein entweder oder erfordern,

kann hier eine Differenzialdiagnostik durchaus erschwert werden. Dies kann zu

Fehldiagnosen führen, da so z.B. eher eine soziale Phobie als ein selektiver

Mutismus bzw. wenn zutreffend beide Diagnosen gestellt werden können, was

u.a. auch die autobiografische Geschichte der Betroffenen Sandra Melliger in der

Beschreibung ihres therapeutischen Weges aufzeigt (vgl. Melliger 2012).

Um selektiven Mutismus als diesen diagnostizieren zu können, bedarf es im

Rahmen der diagnostischen Leitlinien einer Anpassung an aktuelle

wissenschaftliche Erkenntnisse.

Der ICD-10 spricht noch heute von elektivem Mutismus, was ein selbst gewähltes

Schweigen bestimmten Personen gegenüber oder in bestimmten ausgewählten

Situationen suggeriert. Er schließt u.a. umschriebene Entwicklungsstörungen des

Sprechens und der Sprache klar aus, obwohl verschiedene Studien und aktuelle

Fachliteratur diesbezüglich eine Co-Morbidität aufzeigen (vgl. Punkt 3.2 Co-

Morbidität). Eine Verbindung des selektiven Mutismus mit einer psychotischen

Störung wird genauso ausgeschlossen wie das gemeinsame Auftreten mit einer

tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Während letztere Beispiele noch

Forschungsbedarf aufweisen (vgl. Katz-Bernstein 2011), sind die Begriffswahl

„elektiv“ sowie der Ausschluss von Sprachentwicklungsstörungen als aktuell

wissenschaftlich nicht mehr haltbar und sollten dringend eine Aktualisierung an

den heutigen Wissensstand erfahren. Dies würde nicht nur Ärzten eine adäquate

Diagnostik erleichtern, sondern auch Betroffenen Türen zu einer kompetenten

Diagnose und damit verbundenen Hilfen öffnen.

Sprachliche Entwicklungsstörungen können neben vielen anderen Auffälligkeiten

den selektiven Mutismus begünstigen und sich multifaktoriell auf die Entstehung

und Ausprägung auswirken. Weitere mögliche Ursachen für den selektiven

Mutismus werden im folgenden Kapitel dargelegt.

20

4 Die Ursachen des selektiven Mutismus

Es gibt verschiedene Annahmen bezüglich der Entstehung des selektiven

Mutismus, die Ursachen werden als multifaktoriell angesehen. So nennt

Hartmann (bezogen auf Hartmann 2002, 2007, Schoor 2003, Bahr 2006, Scheib

2007 und Katz-Bernstein 2011) dispositionelle Vorbelastungen in den Familien,

Entwicklungsstörungen die vor, während oder nach der Geburt auftreten können,

psychiatrische Grunderkrankungen, Problemlösungsmechanismen in

konfliktneurotischem oder stresstheoretischem Sinne, lerntheoretische

Konditionierungsprozesse sowie milieutheoretische Einflüsse (vgl. Hartmann,

2011). Auch teilt Hartmann die Ursachen in unterschiedliche Erklärungsmodelle

auf: wie z.B. den psychologischen, organischen und den genetischen Bereich.

Eine Hyperkonzentration von Serotonin und eine Hyperreaktion der Amygdala

wurden in den letzten Jahren als Ursache herausgearbeitet (vgl.

Hartmann/Lange, 2013).

Katz-Bernstein erweitert dies um das Schweigen infolge von Mehrsprachigkeit

und um einen entwicklungspsychologischen Aspekt, der für den Aufbau von

Bindung und Vertrautheit unerlässlich ist: eine fehlende kommunikative sowie

sprachliche Kompetenz des betroffenen Kindes. Der hierdurch erschwerte

Übergang von „fremd“ zu „vertraut“ verhindert soziale Lernprozesse (Katz-

Bernstein 2011). Ein Kind, welches unter starkem Stress steht, weil es z.B.

Ängste hat, was aus der Bindungstheorie (vgl. Ainsworth 1969, Fremde Situation

zitiert in Ahnert 2011) bekannt ist, kann nicht ausreichend explorieren und sich

die Umwelt deshalb weniger begreiflich machen. Es macht dadurch weniger

Erfahrungen und verarbeitet weniger entwicklungsfördernde Reize. Ein selektiv

mutistisches Kind nutzt nicht nur weniger die Sprache, es ist auch im

Sozialkontakt erheblich eingeschränkt und erlebt in hohem Maße dauerhaft

Stress. Durch fehlende Kommunikation, die zum Aufbau von Beziehungen

unerlässlich ist, können Erfahrungswelten nur extrem eingeschränkt erlebt

werden. Es fehlen dem Kind so auch „die attraktiven Kontakte zu Lehrpersonen

und Peer-Gruppen, die die Autorität und die phantasierte Macht und Größe der

Eltern zu relativieren vermögen und zur Ablösung von ihnen verhelfen“ (Katz-

Bernstein, 2001, S.37). Der eigenständige, als selbstwirksam gegangen erlebte

Weg „in die Welt“ bleibt dem selektiv mutistischen Kind so weitgehend versperrt.

Weder ein starkes Selbstvertrauen, noch das Vertrauen zu anderen lassen sich

so aufbauen. Immer wieder gescheiterte Kontaktversuche können zur

21

Vermeidung führen und so zur Aufrechterhaltung des Schweigens beitragen.

Hinzu kommt, dass eine familiäre Häufung dieser mangelnden kommunikativen

Fähigkeit zu verzeichnen ist.

Auch weitere genetische Faktoren werden in Betracht gezogen, so konnte in

einer Metaanalyse aus Studien von mehreren tausend Zwillingen von

Hettema/Neale/Kendler (the major source of familial risk is genetic, 2001)

aufgezeigt werden, dass diese bei Angststörungen eine erhebliche Rolle spielen.

Hettema/Nele/Kendler postulieren eine genetische Häufung dieser Störung.

Demzufolge liegt die Erblichkeit bei Verwandten ersten Grades bei einer Phobie

bei 52,3%, bei einer Panikstörung bei 47,8%, bei einer generalisierten

Angststörung bei 31,6% und bei einer Zwangsstörung bei 25,1% (vgl. Hartmann,

2011, S. 10).

Wedekind/Bandelow (2007, zietiert in Hartmann 2011)) zeigen

Pathomechanismen bei Angststörungen auf, die sie zum Teil auch als Anhalt für

geschlechtsspezifische Unterschiede sehen (kursiv gedruckt in Tabelle 2).

Tabelle 2: Pathomechanismen bei Angststörungen (Wedekind/Bandelow 2007 in Hartmann 2011, S. 10) Entwicklungsbedingt:

Bindungstheorie, psychodynamische Konzepte, lerntheoretische Konzepte, Traumata

Neurobiologische Faktoren:

Genetik, Neurotransmitter-Theorien, Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse, Gamma-Amino-Buttersäure (GABA)-rezeptoren, Kohlendioxid (CO2)-Hypersensivität, Neurokinine Aktivität limbischer Strukturen

Aktuelle Faktoren: Life-Events, komorbide Störungen

Hartmann sieht eine genetische Grundlage für Ängste auch als Erklärung dafür,

dass Eltern selektiv mutistischer Kinder diese von klein an ängstlich und defensiv

wahrnehmen. Er sieht hier die Notwendigkeit einer gezielten, besonderen

Aufmerksamkeit gerichtet auf die folgenden Früherkennungsmerkmale, die schon

in der Krabbelgruppe beobachtet werden können (Hartmann 2011, S. 12):

geringes bis fehlendes Explorationsverhalten des Kindes

permanente Positionierung in der Nähe bzw. auf dem Schoß der Mutter

22

keine verbalkommunikative oder körpersprachliche Kontaktaufnahme zu

anderen Krabbelkindern

Selbstisolierung

konstantes Fremdeln, selbst bei Erwachsenen

Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass im letzten Punkt „konstantes

Fremdeln, selbst bei Erwachsenen“ dieses Verhalten bis in das

Erwachsenenalter hinein beobachtbar ist. Hartmann beschreibt auch, dass

„wenig Drang zur körperlichen Bewegung, Einschlafstörungen, Launenhaftigkeit,

Wutanfälle, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es wollen, sowie regelrechte

Weinanfälle“ bei betroffenen Kindern beobachtet werden konnte (siehe URL 38).

Eine weitere Erklärung von Hartmann ist das Diathese-Stress-Modell bei

Mutismus. Diathese beschreibt die Neigung eines Menschen, bestimmte

Krankheiten bzw. Störungsbilder zu entwickeln. Den selektiven Mutismus erklärt

Hartmann am Diathese-Stress-Modell wie folgt: „Das Schweigen läßt sich nach

diesem Ansatz als Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen

und Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen

interaktionalen Geschehnissen interpretieren. Die Prädisposition liefert hierfür der

konstitutionelle Hintergrund.“ (Hartmann 1997, S. 101). Es geht hier um die

primäre Einschätzung einer Situation in Verbindung mit den bisher erfahrenen

Anforderungen in dieser, gekoppelt mit der sekundären Einschätzung der

eigenen Ressourcen. Dadurch kann die Situation als eine so große Bedrohung

erlebt werden, dass ein Vermeidungsverhalten (hier Mutismus) die einzige

Copingstrategie der betroffenen Person ist (ebd.). Die hier fehlende erlebte

Selbstwirksamkeit und nicht erfahrene Kontrolle einer angstauslösenden

Situation verhindern so ein sich positiv und kräftig entwickelndes

Selbstbewusstsein sowie das Vertrauen in sich selbst, Probleme meistern zu

können.

23

Abbildung 2: Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell (Hartmann 1997, S. 103)

Die Bewertung der Situation von außen spielt für das Kind insofern eine wichtige

Rolle, wie es Bewertungsmaßstäbe Erwachsener übernimmt und sich mit deren

Hilfe ein Bild von sich selbst aufbaut. Deutlich wird hier die Rolle Erwachsener,

ob Angehörige oder Fachkräfte, die bei adäquatem Umgang und dem Wissen um

dieses Störungsbild sehr früh auf die Entwicklung desselben Einfluss nehmen.

Eine weitere Ursache, die z.B. für Symptome wie Ängste, Erstarren, oder das

„nicht sprechen können“ gesehen wird ist das Persistieren von frühkindlichen

Reflexen. So gehen einige Autoren davon aus, dass z.B. der Moro-Reflex, wenn

er nicht integriert wurde, mit verantwortlich sein kann für eine gesteigerte

Wahrnehmungsempfindung. "Wird der Moro-Reflex nicht rechtzeitig integriert,

bleibt das Kind im sensorischen Bereich (taktil, vestibulär, auditiv, visuell,

olfaktorisch) überempfindlich. Gesteigerte Wahrnehmungsempfindung wird von

Stresshormonen (hoher Adrenalin-und Cortison-Spiegel) begleitet und belastet

das Kind erheblich“ (Beigel, 2003, S. 88). Auch hier besteht noch weiterer

Forschungsbedarf, um Zusammenhänge nachweisbar aufzuzeigen.

Abschließend wird heute ausgegangen von einer multifaktoriellen Verursachung,

von der Diathese über lern- und milieutheoretischen Ansätze bis hin zu

organischen und genetischen Faktoren. Beschränken wir uns auf die

Beschreibung des Störungsbildes im ICD-10 sind wir auch in der

Ursachenforschung eingeschränkter, da es sich hier um ein Ausschlussverfahren

24

handelt, welches Begleiterscheinungen wie eine tiefgreifende

Entwicklungsstörung, Schizophrenie sowie eine umschriebene

Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache von vornherein ausgrenzt.

Aber gerade sprachliche Entwicklungsstörungen begleiten und begünstigen den

selektiven Mutismus oft, wie in den vorangegangenen Kapiteln offensichtlich

wurde. Dies kann eine adäquate Diagnostik erschweren oder sogar verhindern.

5 Diagnostik

Um selektiven Mutismus diagnostizieren zu können, braucht es bestimmte

Rahmenbedingungen, in denen Fachkräfte und Betroffene handeln können. Im

Folgenden wird dargelegt, welche Voraussetzungen eine korrekte Diagnostik

benötigt und was bei einer kompetenten Diagnostik beachtet werden muss.

5.1 Voraussetzungen für eine korrekte Diagnostik

Die diagnostischen Leitlinien geben zunächst den Rahmen vor, in dem

diagnostiziert werden kann. Sie sind die Tür zu einer kompetenten Diagnose und

der darauf folgend möglichen von einer Krankenasse bezahlten adäquaten

Therapie. Da die Kriterien im ICD - 10 nicht dem aktuellen Wissen zu diesem

Störungsbild entsprechen, benötigen wir hier eine weitere Grundvoraussetzung

für eine kompetente Diagnostik: eine um den Sachverhalt wissende Fachkraft,

die sich mit der Thematik des selektiven Mutismus sehr gut auskennt. Dies

bedeutet, dass für die betroffenen Familien Ansprechpartner zur Verfügung

stehen müssen, die sich zum einen mit dieser speziellen Thematik auskennen

und sich mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen

und zum anderen für die Betroffenen sichtbar und greifbar sein sollten. Hiermit ist

gemeint, dass sie dort, wo sie ohnehin Hilfe suchen, Kompetenz finden müssen:

bei Pädagogen, Ärzten und Therapeuten, denn genau dorthin gehen in der Regel

erste Hilfegesuche. Nur diese Personen können die Betroffenen und ihre

Familien aufklären, ihnen die nötigen Informationen geben und dann gezielt an

Fachkräfte vermitteln, die sich auf diese Thematik spezialisiert haben.

Eine geschulte und gut beobachtende Erzieherin könnte in vielen Fällen der

Schlüssel zu einer Früherkennung dieses Störungsbildes sein, indem sie ihre

Beobachtungen und ihr Wissen den Eltern mitteilt und sie ggf. an adäquate

25

Kinderärzte, Therapeuten und Selbsthilfegruppen vermittelt. Die Universität

Dortmund entwickelt derzeit in Anknüpfung an eine aktuelle Studie zur

Betroffenheit von Kindern mit selektivem Mutismus in NRW ein Screening zur

Früherkennung, welches Kindergärten und Schulen zur Verfügung gestellt

werden soll. Eine Kurzfassung mit knapp 20 Items befindet sich in der

Evaluierungsphase (Starke, Subollek, Käppler siehe URL 13).

Mit Hilfe eines Screenings ist es möglich, Kinder mit bestimmten

Verhaltensmerkmalen aus einer Gruppe herauszufiltern. Dies garantiert in der

Regel zwar nicht, dass das Kind in seiner Besonderheit immer erkannt wird,

erhöht aber die Wahrscheinlichkeit. Die spezifischen Fragen, die ein Screening

zu einer bestimmten Thematik aufweist, können pädagogische Fachkräfte

sensibilisieren und ihren Blick auf die Kinder schulen. Wichtig ist und bleibt

jedoch ein aktuelles und breites Fachwissen auf Seiten aller Fachkräfte. Davon

hängt ab, was und wie beobachtet wird und warum. Ein Screening kann hier eine

große Hilfestellung bieten um gezielt zu einer bestimmten Thematik Daten zu

erheben. Es bietet die Möglichkeit, sich mit der Thematik intensiver auseinander

zu setzen.

Eine weitere Möglichkeit bietet ein interdisziplinäres Team, was in

Kinderbetreuungseinrichtungen ebenso denkbar ist wie in Schulen. Zusätzliche

Beratung und Information kann in jedem Fall von spezialisierten Fachkräften

eingeholt werden. In jedem Fall ist jedoch ein Grundwissen zum selektiven

Mutismus notwendig, damit das Störungsbild erkannt werden kann.

5.2 Was ist bei der Diagnostik zu beachten?

Die Diagnosekriterien des ICD-10 schließen, wie schon aufgezeigt, einige

Kriterien aus. So wird z.B. eine Abgrenzung zum Autismus vorgenommen, auch

wenn, wie schon erwähnt, inzwischen Mischformen angenommen werden. Ein

autistisches Kind zeigt keine so großen Verhaltensunterschiede in verschiedenen

Umfeldern, während ein selektiv mutistisches Kind ein komplett anderes

Verhalten in einem vertrauten als in einem nicht vertrauten Umfeld zeigt. Auch

haben selektiv mutistische Kinder in der Regel gute sprachliche Fähigkeiten,

welche sie im vertrauten Umfeld einsetzen. Autistische Kinder haben es

bedeutend schwerer, diese zu erwerben, was vor allem auch die Schriftsprache

betrifft (vgl. Buß 2005, S. 47). Buß bezieht sich auch darauf, dass Mutismus

26

seelische Ursachen habe und Autismus vererbt sei (ebd.). Wird der selektive

Mutismus aber nicht nur als Kommunikationsstörung, sondern auch als

Angststörung betrachtet, und zieht man inzwischen vorhandene aktuelle Studien

in Betracht, ist auch beim Mutismus ein erblicher Faktor nicht auszuschließen

(vgl. Punkt 3 und Hartmann 2011, S. 10). Hartmann bezieht sich bei der

Abgrenzung der beiden Störungsbilder auf die Konstanz des Verhaltens bei

autistischen Kindern, auf ihre Emotionalität, welche er als unterkühlt beschreibt

und auf die unterschiedlich verlaufende Sprachentwicklung beider Gruppen (vgl.

URL 10).

Um genau zu differenzieren sind verschiedene Kriterien wichtig, die eine gezielte

Beobachtung des Kindes in seinem Umfeld notwendig machen. Die

Kommunikations- und Interaktionsgewohnheiten müssen genau betrachtet

werden, damit z.B. am Ende nicht nur ein „schüchternes Kind“ begutachtet wird,

welches „nur Zeit braucht“ (vgl. Interview mit Ina, der Mutter von Max, 9.1.5 ). Da

eine hohe Co-Morbidität besteht, ist es durchaus möglich und sogar die Regel,

dass weitere Auffälligkeiten auftreten. Treten diese auf, sollte die Möglichkeit,

dass selektiver Mutismus vorliegt, nicht außer Acht gelassen werden. Dazu

kommt, dass es durchaus sein kann, dass ein Kind mit anderen Kindern spricht,

nicht aber mit Erwachsenen. Oder es spricht nur mit ein oder zwei Kindern und

wird dadurch nicht für diese Diagnose in Betracht gezogen. Sarah (siehe Sarah,

9.1.8) sprach zum Beispiel vor allem nicht in Anwesenheit von Jungen. Mit

Erwachsenen sprach sie kaum und wenn, dann so leise, dass sie nicht zu

verstehen war. Auch sie ist selektiv mutistisch. Fließend scheint auch die

Abgrenzung zu sein zwischen Sprechangst und Mutismus, auch hier heißt es,

differenziert abzugrenzen.

Ausprägung, Art, Begleitsymptome, Schweregrad und Komplexität des

selektiven Mutismus können sehr unterschiedlich ausfallen (vgl. Katz-Bernstein

2011, S. 212). Eine differenzierte Diagnostik, die die Diagnosekriterien des ICD-

10 beachtet ohne die Co-Morbidität aus dem Blick zu verlieren, ist die

Voraussetzung für die Überleitung zu einer adäquaten Therapie.

27

6 Überleitung zur Therapie

Um eine für das Kind und seine Familie passende Therapie zu finden, ist es

zunächst wichtig, eine Ursachenklärung vorzunehmen. Sind sprachliche

Entwicklungsverzögerungen oder Sprachstörungen vorhanden und als ein das

Schweigen unterstützender Faktor zu vermuten, eignet sich oft eine

Sprachtherapie (Logopädie). Sind familiäre Probleme bekannt, besteht ein

Trauma oder auch eine ausgeprägte Angststörung, ist das Hinzuziehen eines

Kinder- und Jugendpsychologen und/oder eines Psychotherapeuten angeraten.

Empfohlen wird eine interdisziplinäre Herangehensweise, die dem Kind und

seinem Umfeld in der Regel gerechter werden kann als die Bemühungen

einzelner Personen (vgl. Katz-Bernstein, 2011). Ausschlaggebend ist häufig, ob

ein Kontakt angebahnt werden kann und ob das Kind sich auf eine Ansprache

einlässt (ebd.).

Die therapeutischen Herangehensweisen können sehr unterschiedlich sein und

je nach dem Wesen des Kindes und der Einstellung der Eltern unterschiedlich

angenommen werden. Mit ausschlaggebend für die Wahl der Therapie ist es,

welche Bedeutung die Störung für die Betroffenen und ihr Umfeld hat.

7 Bedeutung für die Betroffenen und ihr Umfeld

Selektiver Mutismus ist kein klar eingrenzbares Störungsbild, bei dem einige

Symptome auftreten, die schnell behandelbar sind. Selektiver Mutismus tritt

häufig mit vielen anderen Symptomen und Störungsbildern zusammen auf. Er

wirkt sich (vor allem unerkannt und unbehandelt) intensiv und nachhaltig, weitere

Störungen nach sich ziehend, auf die Betroffenen und ihr Umfeld aus.

Kommunikation ist ein Bindeglied zwischen Menschen. Störungen der

Kommunikation beeinflussen Beziehungen und die Rollen, die wir in diesen

einnehmen. Auch das Schweigen und eine nonverbal ablehnend wirkende

Haltung sind eine Form von Kommunikation. Die Wirkung und der Umgang damit

sind herausfordernde Aufgaben für die Betroffenen und ihr Umfeld, welche

schnell zu Überforderung verbunden mit Wut, Resignation und entsprechenden

Reaktionen führen können. Kommunikation bezieht sich nicht nur auf einen

Austausch von Inhalten, sie geht einher mit Beziehungsgestaltung und

aneinander gerichtete Appelle. Watzlawick (1996, siehe URL 35) verdeutlichte

28

einen wichtigen Aspekt der Kommunikation mit seinem berühmten Satz: „Man

kann nicht nicht kommunizieren.“ Unter diesem Aspekt kann ein Schweigen eine

besondere Form der Kommunikation darstellen und verschiedenste Reaktionen

auslösen.

Im Folgenden wird dargelegt, auf welche Bereiche sich der selektive Mutismus

u.a. auswirken kann. Neben den Belastungen und möglicher Bewältigung wird

auf bildungs-, berufs- und körperbiografische Folgen eingegangen. Auch die

Belastungen des Umfeldes werden aufgegriffen. Die gewählten Beispiele stellen

nicht den Anspruch an Vollständigkeit sondern zeigen einige wichtige

Lebensbereiche und mögliche Folgen der Störung auf diese auf. Sie sollen

veranschaulichen, wie umfassend und nachhaltig diese Störung sich auf

Betroffene und ihr Umfeld auswirkt, wenn sie nicht erkannt oder nicht richtig

behandelt wurde.

7.1 Belastung und Bewältigungsform der Betroffenen

Erfahrungsberichte und die Interviews zeigen deutlich auf, wie extrem belastend

selektiver Mutismus für Betroffene sein kann. Da Betroffene über sich selbst

diese Auskunft in der Regel nicht geben können, ist es schwer, herauszufinden,

in welcher Form sie besonders belastet sind. Viele zusätzliche Symptome

wurden benannt unter Punkt 3.2(Co-Morbidität).

Das Interview von Emi (siehe 9.1.6) zeigt deutlich auf, welchem dauerhaften

emotionalen Druck die Betroffene über viele Jahre ausgeliefert war. Erst dadurch,

dass sie sich aus der Situation befreien und selbst die Störung bewältigen

konnte, ist sie in der Lage, dies verbal auszudrücken.

Neben einer Selbstwertproblematik, fehlender Selbstwirksamkeit und einem

damit einhergehenden geringen Selbstvertrauen schüttet ein Körper, der unter

großer emotionaler Anspannung steht, ein großes Maß an Stresshormonen aus.

Dies kann sich auf verschiedene körperliche Funktionen auswirken, wie z.B. das

Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem. Auch wird eine nachhaltige

Schädigung auf Nervenzell-Strukturen des Gehirns aufgezeigt (vgl. Bauer, 2004).

Viele Betroffene bewältigen ihre Belastung mit Rückzug und

Vermeidungsverhalten, was uns durch den Betroffenen Max (siehe 9.1.4) deutlich

wird, aber auch Fallbeschreibungen im Internet oder in der Fachliteratur zeigen

dies auf (z.B. Melliger, 2012). Wird diesem Bewältigungsverhalten nichts

29

entgegensetzt und werden keine Lösungsmöglichkeiten gefunden, besteht die

Gefahr einer Manifestation des selektiven Mutismus und somit eines

spracharmen Lebens mit wenigen sozialen Kontakten. Dies bedeutet einen

Ausschluss aus der Gesellschaft in vielen und wichtigen Bereichen.

7.2 Belastung, Verständnisschwierigkeiten und Bewältigungsform für das Umfeld

In verschiedenen Erfahrungsberichten und den Interviews in dieser Arbeit

kommen eine Belastung und häufig ein Unverständnis des Umfeldes zum

Ausdruck. In der Regel fühlen sich Kontaktpersonen überfordert und vermeiden

sogar den Kontakt, wenn sie Umgang mit einem selektiv mutistischen Menschen

haben. Nicht angeschaut zu werden, keine Antwort von jemandem zu erhalten

und das über einen langen Zeitraum, kann eine große Hilflosigkeit auslösen und

zur Ablehnung der betroffenen Person führen (vgl. z.B. Bahr 1998, Dobslaff

2005). Die Bewältigungsformen des Umfeldes können sehr unterschiedlich sein,

von einer Hinzuziehung fachlicher Berater bis hin zur feindseligen Begegnung

dem betroffenen Kinde gegenüber (siehe Sarah, 9.1.8, und Emi 9.1.6).

Einen großen Einfluss auf den Umgang mit der Betroffenheit dürfte das Wissen

um das Störungsbild sowie eine vorhandene fachliche Hilfe haben. Dobslaff zeigt

auf, dass das Unverständnis für und ein Fehlverhalten gegenüber selektiv

mutistischen Kindern abgebaut werden konnten, wenn die Kontaktpersonen

fachlich aufgeklärt, beraten und gleichzeitig in ihren eigenen Potentialen im

Umgang mit den Betroffenen gestärkt wurden (Dobslaff, 2005).

Befragte Eltern berichteten von einer großen Hilflosigkeit und teilweise

zunehmender Unsicherheit, ob sie in ihrer Erziehung Fehler gemacht haben.

Ihren Kindern helfen zu wollen und überhaupt nicht zu wissen wie, stellte für sie

ein unlösbares Problem dar. Zusätzlich fühlten sie sich permanent unter Druck

gesetzt durch ihr weiteres Umfeld: von Nachbarn, Verwandten und Lehrern. So

machten auch sie und nicht nur ihre Kinder eine Ausgrenzungserfahrung (vgl.

9.1.5, 9.1.7und 9.1.9).

Welche Zweifel und Unsicherheiten eine nicht gelungene Kommunikation mit

einem Kind und dessen scheinbar unmögliche Integration in das

Gruppengeschehen bei Erzieherinnen und Lehrkräften wecken können, ist

vorstellbar. Ohne das Wissen um dieses Störungsbild und therapeutische Hilfe

30

kann eine Fachkraft zwischen ihrem Anspruch und der aktuellen Lage schnell

verzweifeln und resignieren. Das Gefühl, persönlich abgelehnt zu sein, zieht nicht

selten eine eigene Ablehnung der scheinbar ablehnenden Person und damit des

Kindes nach sich.

7.3 Symptome, Folgeerscheinungen und Einfluss auf die weitere Biografie

Kommt ein Kind mit einem sogenannten schwierigen Temperament zur Welt (z.B.

einer niedrigen Anpassungsfähigkeit oder einer sozialen Gehemmtheit), erfüllt es

bereits einen Risikofaktor bezüglich der Ausprägung einer geringeren Resilienz.

Diese Kinder „sind auch in größerer Gefahr, zur Zielscheibe negativer,

feindseliger Gefühle und kritisierenden, bestrafenden Erziehungsverhaltens zu

werden“ ... „Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, psychische

Beeinträchtigungen zu entwickeln.“ ... „Sie können relativ schnell in einen

‚Teufelskreis‘ sich gegenseitig bedingender, negativer Reaktionen geraten.“

(Wustmann 2011, S. 96) Diese Kinder zeigten auch signifikant seltener sichere

Bindungen zu ihren Müttern. Entscheidender als die Temperamentsmerkmale

selbst seien aber die Folgen negativer Reaktionen auf der Erzieherseite, da es

zwischen dem Temperament des Kindes und des Erziehungsverhaltens mit den

vorhandenen Erziehungskompetenzen der erwachsenen Person zu einem

Wechselwirkungsprozess kommt (ebd.).

Fühlt sich ein Kind nicht sicher gebunden und erlebt es den „sicheren Hafen“

nicht als Ausgangspunkt für eine sorglose Exploration, bleibt es in seinem

Bewegungsausmaß, seinen Bewegungserfahrungen, Sinneserfahrungen und

auch im Erlernen von sozialen Interaktionen unerfahrener als andere Kinder. Es

kann die fehlenden Erfahrungen nicht nutzen und in sein Sinnessystem

integrieren, um dieses immer mehr auf Handlungs- und Erfahrungswissen

aufzubauen.

Stressmuster, zum Beispiel bei einem Betreuungsbeginn, können sich äußern in

Schlafstörungen, chronischen Infektionen und Appetitmangel (vgl. Ahnert, 2011).

Fehlt einem Kind zum einen die Fähigkeit zur Selbstregulation und zum anderen

die Bezugsperson als sicherer Hafen, bleibt der Stresspegel in vielen Situationen

dauerhaft angehoben. Dies macht den Teufelskreis deutlich, in den es gerät, weil

31

es nun aus dem hohen Stresspotential heraus wiederum kaum oder gar nicht

exploriert.

Alle gemachten Erfahrungen werden von unserem Gehirn gespeichert. Häufig

gemachte Erfahrungen sind in der Regel präsenter und dienen als Grundlage für

die Herausbildung von Bewertungs- Denk- und Handlungsmustern.

7.3.1 Mögliche bildungsbiografische Folgen

Werden Kinder mit einem gehemmten Temperament geboren und haben eine

niedrige Erregungsschwelle, benötigen sie in Situationen, die sie verunsichern

oder irritieren, besonders ihre primäre Bezugsperson, um von dieser emotional

reguliert werden zu können (vgl. Jungmann 2012, Hartmann 1997, Bahr 1998).

Kann diese dem Kind nicht die nötige Sicherheit geben, was z.B. durch

mangelnde Feinfühligkeit wie auch durch Überbehütung geschehen kann,

erleben gerade diese Kinder häufiger und schneller Überforderung, fehlende

Selbstwirksamkeit und Unsicherheit als andere Kinder (vgl. Jungmann, 2012).

Das sich auf diese Erfahrungen aufbauende Bild von sich selbst begleitet das

Kind auf seinem Weg zum erwachsenen Menschen. Übernehmen nun andere

(z.B. die Mutter, Freunde) anstatt des Kindes die Kommunikation, entsteht zum

einen keine Notwendigkeit für das Kind zum Sprechen und zum anderen wird es

die so notwendigen sozialen und emotionalen Erfahrungen, die an

Kommunikation gekoppelt sind, kaum herstellen und im späteren Leben auch

nicht ausreichend anwenden können. Dies wird in der Regel mit dem Übergang

in die Schule, wo Sprache auch als Leistung abverlangt wird, besonders deutlich.

Für den selektiven Mutismus gibt es keine Formen des Ausgleiches an Schulen.

Ein Nachteilsausgleich, so wie es ihn zum Beispiel für Kinder mit Legasthenie

gibt, ist für selektiv mutistische Kinder nicht vorgesehen (§126, SGB IX). Wenn

ein Kind nicht in der Lage ist, sich mündlich zu äußern, kann es dafür mit einer

Sechs benotet werden (siehe Emi, 9.1.6). Ein Abitur kann ohne mündliche

Prüfungen nicht erreicht werden. Ein Bildungsweg entsprechend den eigenen

Fähigkeiten ist einem selektiv mutistischen Kind, wenn es seine Blockaden nicht

überwindet, somit nicht möglich. Auch lernt das Kind, dass es eine Situation nicht

selbst bewältigen kann. Es baut so ein negatives Selbstbild auf, welches neue

und positive Erfahrungen nicht unterstützt.

32

7.3.2 Mögliche berufsbiografische Folgen

Vor allem, wenn sich selektiver Mutismus manifestiert, führt er in der Regel zur

Isolation (siehe Max, Punkt 9.1.4, Melliger 2012). Soziale Fähigkeiten, an

kommunikative Kompetenzen und ein Erfahrungswissen diesbezüglich

gekoppelt, sind eine Grundvoraussetzung, um in unsere Gesellschaft integriert

zu sein und sich auch später einmal im Arbeitsalltag behaupten zu können. Es

beginnt mit Bewerbungsgesprächen und endet mit einem Mindestmaß an

notwendiger Kommunikation, um zumindest organisatorisch den Arbeitsalltag

regeln zu können. Ein erwachsener Mensch, der auf Fragen nicht antwortet, wird

schnell als unhöflich angesehen und abgelehnt. Häufig wird es schwierig, eine

Ausbildung zu beginnen, da die Hürden zu groß sind, neue Kontakte zu knüpfen

und die Anforderungen für diesen Neubeginn zu erfüllen (vgl. z.B. Melliger 2012,

Max 9.1.4). Übrig bleibt für diese Menschen häufig nur die Abhängigkeit vom

Sozialsystem in der Form Hartz IV.

7.3.3 Mögliche körperbiografische Folgen

Was geschieht bei erlebtem Stress in unserem Körper? Wie ordnet unser Gehirn

Erlebtes ein? Welchen Einfluss hat Stress auf Gene?

Ein Modell des Zusammenspiels von Genen und seiner Umwelt beschreibt der

Mediziner Joachim Bauer, aktuell Professor und Oberarzt für Psychosomatische

Medizin, der auch in der molekularbiologischen Forschung tätig war, in seinem

Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ sehr verständlich (Bauer, 2011). Bauer zeigt

auf, wie Stress sich auf den menschlichen Körper, vor allem auf unser Gehirn

auswirken kann. Während das menschliche Gehirn den Alltag mit all seinen

neuen Signalen, neuen Situationen und zwischenmenschlichen Ereignissen

permanent neu bewertet, greift es dabei auf bereits gemachte, alte Erfahrungen

zurück. Stellt unser Gehirn nun aufgrund seiner – von Mensch zu Mensch sehr

unterschiedlich ausgeprägten - Bewertungssysteme eine Gefahrensituation fest,

geschieht folgendes: Der aktivierte Hypothalamus schaltet das Stressgen CRH

an. Die Hypophyse wird ebenfalls aktiviert und schüttet den Botenstoff ACTH

aus, der wiederum das Stresshormon Cortisol freisetzt.

33

Ein weiteres Alarmsystem befindet sich im Hirnstamm, in dem ebenfalls Gene

aktiviert werden und den Botenstoff Noadrenalin freisetzen, welcher Puls,

Kreislauf, Blutdruck und Atem alarmiert.

Da individuelle Erfahrungen in Nervenzellen-Netzwerken des Großhirns und des

limbischen Systems gespeichert werden, bilden diese eine Grundlage zur

Bewertung neuer Situationen und auch der sich emotional entwickelnden

Persönlichkeit. Die Mischung aus gelungenen Problemlösungen, Niederlagen,

erlebter Hilflosigkeit, Einsamkeit sowie Schmerz und Angst hinterlassen in

unserem Gehirn Spuren. Aversive Erfahrungen prägen sich besonders intensiv

ein und werden im Mandelkern gespeichert. Diese Erfahrungen addieren sich zu

Gedächtnisinhalten in den Nervenzell-Netzwerken und beeinflussen die

Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen z.B. insofern, ob er eher

zuversichtlich und vertrauensvoll oder eher ängstlich und resignierend in seinem

Denken, Fühlen und Verhalten sein wird. „ Die so entstandenen Interpretations-

und Handlungsmuster sind ein wichtiger Faktor, wenn neue Situationen zu

bewerten sind“ (Bauer, 2011, S. 40).

In Gefahrensituationen aktivierte Nervenzellen wollen sich erhalten. Sie schalten

nicht nur bestimmte Gene an, sie sorgen damit auch für die Herstellung von

Proteinen, die diese Nervenzellen wachsen lassen und sie verstärken. Die so

entstandenen „Alarmsender“ werden damit immer weiter stabilisiert. Andere

Nervenzell-Netzwerke, welche z.B. darauf spezialisiert sind, Chancen und

Bewältigungsmöglichkeiten einer Situation zu erkennen, können dadurch ins

„Hintertreffen“ geraten und sind somit weniger nutzbar, denn: Während viel

genutzte Synapsen ihre Struktur verstärken, lösen sich nicht genutzte auf. Um

diese Entwicklung aufzuhalten oder sogar rückgängig zu machen ist nach Bauer

Psychotherapie von Nutzen (vgl. Bauer 2011, S. 44).

So basieren Wahrnehmungen und Vorstellungen auf synaptischen

Verschaltungen. „Einer bestimmten subjektiven Wahrnehmung oder Vorstellung

entspricht jeweils ein spezifisch abgebildetes Verschaltungsmuster zwischen

Nervenzellen.“ (Bauer 2011, S. 54) Die dann im limbischen System

gespeicherten Verbindungen zwischen äußeren Situationen und innerem

Körpererleben erklären „warum bei manchen Menschen bestimmte äußere

Situationen eine schlagartige Veränderung des körperlichen Befindens zur Folge

haben können“ (Bauer 2011, S. 55).

34

Solche schlagartigen Veränderungen finden wir beim selektiven Mutismus

wieder. Auch die Auswirkung auf die Wahrnehmung und physiologische

Vorgänge wie vor allem den Atem lassen sich in den Beschreibungen von Emi,

die ihre Störung weitestgehend und aus eigener Kraft überwunden hat,

wiederfinden (siehe Punkt 9.1.6).

Weitere Faktoren macht Bauer am Beispiel der Depression deutlich und zeigt

auf, wie Lebenserfahrungen nicht nur das seelische Befinden, sondern auch die

Aktivität von Genen massiv „verstellen“ und so körperliche Abläufe verändern

können (vgl. Bauer 2011, S. 81 ff.) Er beschreibt das Gefühl der Wertlosigkeit als

Kern und Ausgangspunkt der Depression, welche mit innerer Unruhe,

Überforderungsgefühlen, Unternehmungsunlust und Appetitlosigkeit einhergeht.

Gefühle von Nichtgenügen und Schuld gehen einher mit einer zunehmenden

inneren Leere, dabei können Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis stark

nachlassen. Auch Schlafstörungen in Form von langem Wachliegen mit

ängstlichen, sich sorgenden Gedanken sind ein typisches Symptom. Die

gesamte Leistungsfähigkeit verringert sich erheblich (ebd.). Beziehungen leiden

qualitativ und quantitativ zunehmend, wobei Beziehungen aber als ein wichtiger

Schutzfaktor gegenüber der Aktivierung von Stressgenen zu sehen sind (vgl.

Bauer 2011, S. 85, 86). Dazu kommt, dass eine einmal erlebte Depression, die

nicht behandelt wurde, bei vielen Menschen weitere depressive Phasen oder

Depressionen nach sich zieht. Einmal verankert, benötigt sie in Zukunft weit

geringere bis gar keine erkennbaren Auslöser mehr, um sich zu aktivieren (ebd.).

Es bestehen durchaus Parallelen zwischen den Symptomen, die z.B. die

Betroffene Emi (siehe 9.1.6) und auch weitere Fallbeschreibungen in der

Fachliteratur aufzeigen. Die Mutter von Max beschreibt u.a. eine bedrohliche

Gewichtsabnahme bei Max in einer Zeit, in der es ihm besonders schlecht ging

(vgl. 9.1.5). Emi, die durch die Bewältigung des selektiven Mutismus in der Lage

ist, ihre Vergangenheit diesbezüglich zu rekonstruieren und mitzuteilen, zeigte

mehrere Symptome auf. Diese Symptome waren unter anderem das Gefühl,

nicht atmen zu können, nicht essen zu können und lange wach zu liegen, weil sie

Angst vor dem nächsten Tag hatte. Weiterhin zeigte sie auch einen

Wahrnehmungsverlust in Situationen, in denen sie z.B. von Lehrern

angesprochen wurde. Die hier gesammelten negativen Erfahrungen legten ihre

gesamte Bewertungs- und Handlungsfähigkeit lahm und sie reagierte immer

35

wieder in den gleichen Mustern. Erst in einem neuen, von diesen Erfahrungen

nicht geprägten Umfeld, kann sie dieses Muster durchbrechen.

Die in diesem Kapitel dargelegten Sachverhalte zeigen nicht nur eine biologische

Beteiligung unserer Bewertungs- und Handlungsmuster in neuen Situationen,

sondern im Zusammenhang mit unserer gesamten Entwicklung auch die

Wichtigkeit von positiven Erfahrungen, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und

Selbstwertgefühl auf.

Auch im Fall des selektiven Mutismus macht es deutlich, wie wichtig deshalb

frühe und professionelle Hilfen sind. Haben sich erst einmal Nervenzell-

Netzwerke gebildet, die von Versagen, Misserfolg und Hilflosigkeit geprägt sind,

werden die Chancen auf positive Erfahrungen immer geringer. Positive

Veränderungen sind somit schwerer zu erreichen. Zusätzlich wächst die Gefahr,

dass sich weitere psychische Störungen, die auf solchen Erfahrungen basieren,

herausbilden.

Welche Möglichkeiten derzeit therapeutisch zur Verfügung stehen, zeigt

folgendes Kapitel auf.

8 Therapeutische Möglichkeiten in der Praxis

Es gibt verschiedene therapeutische Möglichkeiten bei der Diagnose „selektiver

Mutismus“. Geeignet können sein psychotherapeutische, familientherapeutische,

spieltherapeutische sowie sprachheilpädagogische und logopädische

Interventionen. Auch medikamentös wird zum Teil gearbeitet.

Speziell für selektiven Mutismus wurden in den letzten Jahren verschiedene

Therapieformen erarbeitet: die KoMut (kooperative Mutismustherapie), die

DortMut (Dortmunder Mutismustherapie) und die SyMut (systemische

Mutismustherapie) sind bekannte Therapieformen für dieses Störungsbild. Sie

haben gemeinsam zum Ziel, selektiv mutistischen Menschen dazu zu verhelfen,

nicht nur wieder zu sprechen sondern auch Selbstvertrauen aufzubauen und

positive Erfahrungen mit sich selbst zu machen. Trotzdem sind die

Herangehensweisen und Grundhaltungen zum Teil recht unterschiedlich: so

unterschiedlich, dass die verschiedenen Gruppen leider nicht miteinander

kooperieren und in einigen Punkten fachlich konträrer Meinungen sind.

Die SyMut basiert auf dem Diathese-Stress-Modell und beinhaltet eine 8-Stufen-

Diagnostik. Sie bezieht das Umfeld mit ein und arbeitet interdisziplinär. Eine

36

medikamentöse Behandlung kann Teil der Therapie sein. Grundlage dieser

Therapie ist unter anderem ein Vertrag, der geschlossen wird. Um ein Kind zum

Sprechen zu bewegen werden ganz klare Anforderungen gestellt, einen

gewissen Druck auf das Kind auszuüben wird vorausgesetzt. Bei vielen Kindern

arbeitet man damit erfolgreich (Hartmann, siehe URL20).

Die KoMut arbeitet mit einem so genannten Safe-Place, das sind Bedingungen,

in denen die Kinder sich sicher fühlen können (es kann zum Beispiel eine Höhle

sein oder auch eine Verkleidung). Es wird in Anlehnung an ein Anforderungs- und

Kapazitätsmodell gearbeitet, wobei Anforderungen und Fähigkeiten sensibel

miteinander abgewogen und einander angeglichen werden sollen (Feldmann,

Kopf, Kramer siehe URL 21).

Die DortMut bezieht sich auf drei Ansätze: spezifische therapeutische

Interaktionsangebote zur Gestaltung der Beziehung, Techniken einer

ressourcenorientierten Verhaltensmodifikation zum Sprachtransfer sowie

Techniken der systemischen Arbeit. Zentrales Mittel ist die geschützte

Ausgangsposition (Subollek/ Katz-Bernstein/Bahrfecl-Wichtill, siehe URL 22).

Betroffene sollen sich selbst als kommunikativ kompetent und aktiv erleben

können und Selbstwirksamkeit erfahren. Die hierfür notwendigen Ziele werden

nicht einseitig vorgegeben, sondern gemeinsam mit den Betroffenen erstellt.

Zentrales Mittel der DortMut ist die soziale Vernetzung der Betroffenen.

Zu erwähnen ist auch, dass der Heilmittelkatalog Logopädie (siehe URL 39)

selektiven Mutismus nicht vorsieht. Er wird unter Redeflussstörung verordnet.

Welche Möglichkeiten Betroffene nutzen können, hängt immer von ihrem Wissen

über ihr Störungsbild und natürlich von den therapeutischen Möglichkeiten vor

Ort ab.

8.1 Anlaufstellen in Deutschland

In Deutschland finden wir folgende Mutismusnetzwerke:

Dortmunder Mutismus Zentrum (http://www.fk-reha.tu-dortmund.de/zbt/

de/spa/DortMuZ/index.html) mit dem Sitz in Dortmund

StillLeben e. V. (www.selektiver-mutismus.de) mit dem Sitz in Hannover

Mutismus Beratungszentrum München (www.mbz-muenchen.de,

www.mutismus.net) mit dem Sitz in München

37

Mutismus - Netzwerk Dr. Boris Hartmann (www.boris-hartmann.de) mit dem

Sitz in Köln

Mutismus Selbsthilfe Deutschland e. V. (www.mutismus.de) mit dem Sitz in

Monheim zwischen Nürnberg und München

8.2 Aktuelle Situation in MV

Im Folgenden wird auf die Situation der Unterstützung für Betroffene und deren

Familien im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern eingegangen. Es geht hierbei

um beratende und therapeutische Angebote sowie deren Zugänglichkeit und

Veröffentlichung. Weiterhin wird dargelegt, wieviel bekannt ist über die Häufigkeit

der Störung in Mecklenburg-Vorpommern und auf welchem Wege Betroffene an

für sie relevante Informationen kommen können.

8.2.1 Verbreitung

Wie viele Menschen mit selektivem Mutismus es in MV gibt, ist nicht bekannt.

Untersuchungen hierzu gibt es nicht. Laut der Auskunft der Kassenärztlichen

Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern am 08.07.2014 gab es im Jahr 2013 von

insgesamt 1873603 aufgelisteten Patienten 106 Patienten mit der Diagnose

F94.0, die einen Arzt kontaktierten. Das sind 0,00565% Patienten mit selektivem

Mutismus, die im Jahr 2013 einen Arzt kontaktierten.

Mündliche Anfragen an Kinderbetreuungseinrichtungen, eine Frühförderstelle

und an Lehrer einiger Schulen ergaben, dass außer einer Logopädin niemand

der Befragten dieses Störungsbild kannte. Es wurden stichprobenhalber 15

Fachkräfte in insgesamt drei Schulen, zwei großen Kindergärten und einer

heilpädagogischen Frühförderstelle mündlich befragt, ob Kinder mit selektivem

Mutismus diese Einrichtung schon besucht haben.

Nach der Beschreibung des Störungsbildes konnten ausnahmslos alle davon

berichten, schon ein oder mehrere Kinder erlebt zu haben, auf die diese

Beschreibung zutreffen würde. Dies lässt die Annahme zu, dass Kinder mit

selektivem Mutismus durch Nichtkennen des Störungsbildes häufig unerkannt

und diesbezüglich undiagnostiziert bleiben. Um eine annähernd realistische Zahl

der Kinder und Erwachsenen mit selektivem Mutismus in MV zu erhalten, sind

38

Untersuchungen sowie Aufklärung zu diesem Störungsbild in Mecklenburg-

Vorpommern notwendig.

8.2.2 Therapeutische Möglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern

Dank Telefon und Internet sind wir heute nicht nur auf direkte Beratungs- und

Therapieangebote vor Ort angewiesen. Folgend wird aufgeführt, welche Hilfen im

Internet und welche direkt vor Ort selektiv mutistischen Menschen und ihren

Angehörigen zur Verfügung stehen.

8.2.2.1 Hilfen im Internet

Internetrecherchen zu selektivem Mutismus und MV ergeben einige Treffer, wie

z.B. auf der Internetseite des Bundeselternrates: „StillLeben e.V. ist eine junge

Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das vielfach nicht bekannte

Störungsbild des selektiven Mutismus in der Öffentlichkeit bekannter werden zu

lassen.“ (siehe URL 4).

Bei weiteren Recherchen wurden in ganz MV nur zwei eingetragene

Therapeutinnen gefunden, die Weiterbildungen für die Behandlung von

selektivem Mutismus besucht hat (siehe URL 5). Nicht ersichtlich ist, welche

Fortbildung bei welchem Träger sie machten und somit ihr Therapieansatz.

StillLeben e.V. hat außer dieser Logopädin Adressen verzeichnet in Berlin und

Oranienburg im PLZ-Bereich 1 und dann erst wieder ab Hamburg im PLZ-

Bereich 2 (siehe URL 6). Diese Adressen sind für Menschen aus Mecklemburg-

Vorpommern von der Entfernung her für eine Therapie nicht zumutbar.

Wenn Betroffene wissen, um welches Störungsbild es sich handelt, besteht die

Möglichkeit, sich in Foren der aktuellen Netzwerke zu begeben. Ein Netzwerk

geht von Hartmann aus, der seinen Sitz in Köln hat (siehe URL 8). Dort sind

auch diagnostische und therapeutische Möglichkeiten vor Ort. Der Verein

„Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.“ hat seinen Sitz in München und gehört

ebenfalls zu Hartmann und Lange (siehe URL 9). Die hier angebotene Therapie

ist die SYMUT (Systemische Mutismus-Therapie). Ein weiteres Netzwerk bietet

die Universität Dortmund an (siehe URL 10), auch hier wird eine Therapeutenliste

deutschlandweit angeboten (siehe URL 15), welche ebenfalls eine der beiden

o.g. Therapeutinnen aufweist. In Dortmund besteht ein Mutismus-Zentrum,

39

welches die DortMut (Dortmunder Mutismustherapie) anbietet, die von Katz-

Bernstein entwickelt und in der Folge von dem Team des Sprachtherapeutischen

Ambulatoriums der Technischen Universität Dortmund (Subollek, Katz-Bernstein,

Bahrfeck-Wichitill) stetig weiter ausdifferenziert und ausgearbeitet wurde (siehe

URL 16). Beim Recherchieren im Internet findet man außerdem noch das

Kindernetzwerk, wo ebenfalls eine Seite zum Thema selektiver Mutismus

abgelegt ist (siehe URL 17). Diese Seite verweist auf einschlägige

Internetadressen zum Thema. Kritisch sind hier allerdings teilweise die Inhalte zu

bewerten, unter anderem ist davon die Rede, dass selektiver Mutismus nur bis

zum Pubertätsalter bestehen würde und danach in nur noch einigen Fällen eine

Sprechscheu und Rückzugstendenzen sowie kommunikative Probleme auftreten

würden.

Die in diesem Kapitel aufgeführten Adressen können gefunden werden, wenn

das Störungsbild bekannt ist und eine gezielte Suche durchgeführt wird. Für

Betroffene, die nicht wissen, welches Störungsbild sie begleitet, ist das Auffinden

der richtigen Internetadressen schwierig und von den gewählten Suchwörtern

abhängig.

8.2.2.2 Hilfen vor Ort

Im Rahmen dieser Arbeit konnte eine Logopädin kontaktiert werden, die selektiv

mutistische Menschen begleitet. Sie arbeitet in einzeltherapeutischen Sitzungen

über Rezept und bietet zusätzlich ein Angehörigentreffen an, um den Betroffenen

Gruppenkontakte und Kontakt zu weiteren Betroffenen zu gewährleisten1. Die

Therapien und Treffen wurden im Rahmen dieser Arbeit begleitet.

Um den Weg eines Patienten bzw. der Eltern auf seiner Suche nach Hilfe

nachvollziehen zu können, wurden die in Mecklenburg-Vorpommern ansässigen

Krankenkassen angeschrieben und nach diagnostischen sowie therapeutischen

Möglichkeiten zu diesem Störungsbild in MV befragt. Da Krankenkassen keine

Ärzte und Therapeuten empfehlen dürfen, verwiesen diese teilweise auf

Suchmaschinen, Selbsthilfegruppen wie www.mutismus.de oder auf eine

Internetseite für eine Arztsuche (siehe URL 18). Hier kann aber nicht erkannt 1 Aus datenschutzrechtlichen Gründen möchte sie namentlich nicht erwähnt werden.

40

werden, ob ein Arzt Erfahrungen mit und Wissen über den selektiven Mutismus

hat, da es sich eher um Fachbereiche handelt, die in den genannten Quellen

ersichtlich werden. Zwei Krankenkassen wiesen auf eine Telefonnummer hin,

unter der Ärzte Beratungen geben. Diese steht allerdings nur den Versicherten

zur Verfügung, so dass eine Befragung im Rahmen dieser Arbeit dort nicht

möglich war. Eine Krankenkasse verwies freundlicher Weise auf das

Kinderzentrum Mecklenburg-Vorpommern, welches man anfragen könne. Dieses

antwortete jedoch auf die Anfrage nicht. Eine Krankenkasse fand nach eigenen

Recherchen eine vor Ort praktizierende Therapeutin, welche über die Netzwerke

(siehe vorheriges Kapitel) zu finden ist.

Ebenfalls verwiesen die Kassen auf die Kassenärztlichen Vereinigungen

Mecklenburg-Vorpommern, welche auf die Anfrage antworteten. Diese verwiesen

auf das „Informationsblatt Psychotherapie“ (siehe Anhang 1) und darauf, dass

„interessierte und ratsuchende Patienten, Krankenkassen, Beratungsstellen,

Selbsthilfegruppen und auch stationäre Einrichtungen bei der Suche nach einem

Therapieplatz oder einem geeigneten Beratungsangebot unterstützt werden

können“ (siehe Anhang 1). Dies geschieht durch die Angaben aller

Psychotherapeuten des ambulanten Bereiches (vgl. URL 37). Auch die

Psychotherapeuten selbst würden das Informationsblatt stetig nutzen. Zum

Thema „selektiver Mutismus“ direkt hieß es: „Wie Sie wissen, ist der selektive

Mutismus eine Indikation, deren Bekanntheitsgrad noch steigen muss. Da Ihre

Anfrage hierzu die erste Anfrage an uns ist, erfolgte eine Aufnahme dieser

Indikation auf unserem Infoblatt leider noch nicht. Den breitgefächerten

Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten des selektiven Mutismus geschuldet,

wäre es unseres Erachtens nach notwendig, eine solche Umfrage bei den

Psychotherapeuten des Landes, welche (auch) Kinder und Jugendliche

behandeln und auch den Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin sowie

Kinder- und Jugendpsychiatrie vorzunehmen. Leider ist die direkte Anfrage bei

den vielleicht wichtigen Logopäden des Landes unsererseits nicht möglich. Hier

fehlt es an Zuständigkeit einer Kassenärztlichen Vereinigung. Jedoch besteht die

Chance, bei beschriebener Befragung der Mitglieder unserer Kassenärztlichen

Vereinigung eine Zusammenarbeit mit einem Sprachtherapeuten zu erfragen“

(Anhang 1). Der Bundesverband für Logopäden teilte mit, dass nur Mitglieder

Auskunft erhalten und verwies für weitere Informationen auf seine Internetseite.

41

Die Therapeutenlisten der Universität Dortmund und des Vereins „Mutismus

Selbsthilfe Deutschland“ haben 122 bzw. 218 Therapeuten deutschlandweit

verzeichnet (siehe URL 25, 26). Davon waren zum Zeitpunkt des Abrufens der

Internetadressen 28 doppelt (in beiden Listen) eingetragen, so dass insgesamt

312 Therapeuten verbleiben. Davon sind 2 Therapeuten innerhalb von

Mecklenburg-Vorpommern eingetragen, das heißt für den Postleitzahlbereich

1701 – 19417 bzw. 23921 – 23999 (siehe URL 24). Ein Eintrag ist im PLZ-

Bereich 18, ein Eintrag im PLZ-Bereich 17 zu finden.

Zur Veranschaulichung wurden die von beiden Netzwerken angegebenen

Therapeuten auf einer Deutschlandkarte nach Postleitzahlen geordnet aufgeführt

(Abbildung 3). Hierbei wurden grüne Punkte verteilt für alle Therapeuten, die in

der Therapeutenliste von „Mutismus Selbsthilfe Deutschland“ aufgeführt sind

sowie rote Punkte für die Therapeuten aus der Liste der Universität Dortmund.

Therapeuten, die auf beiden Listen aufgeführt wurden, haben einen rot-grünen

Punkt erhalten.

Die folgende Karte zeigt an, wie viele Therapeuten in den jeweiligen

Postleitzahlenbereichen eingetragen sind. Dabei wurde geografisch nicht

beachtet, dass jeder Punkt die Koordinaten des jeweiligen Ortes widerspiegeln

ausgenommen Mecklenburg-Vorpommern, wo die Punkte etwa die geografische

Stelle der Therapeuten zeigen.

Der Postleitzahlenbereich für Mecklenburg-Vorpommern beinhaltet die

Postleitzahlen 1701-19417 und 23921-23999. Die in folgender Karte zu

findenden Punkte im Postleitzahlenbereich 23 gehören nicht zu Mecklenburg-

Vorpommern, sondern zu Schleswig-Holstein. Das Gebiet um Mecklenburg-

Vorpommern wurde mit blau eingegrenzt.

42

Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten für selektiven Mutismus in Deutschland (Mutismus Selbsthilfe Deutschland und Universität Dortmund)

43

9 Erfahrungsberichte

Um direkten Kontakt zu selektiv mutistischen Menschen herstellen zu können,

wird im Rahmen dieser Arbeit seit November 2013 die Therapie mit zwei selektiv

mutistischen Menschen sowie ein Angehörigentreffen begleitet, bei dem die

Betroffenen und ihre Angehörigen sich. Ein weiterer Kontakt zu einer Betroffenen

konnte durch eine dritte Person hergestellt werden. Die Namen aller Personen

wurden aus datenrechtlichen Gründen geändert.

9.1 Die Interviews

Die Interviews wurden an Orten durchgeführt, die für die Betroffenen angenehm

waren, soweit sie dies benennen konnten. Max und Sarah wurden mehrere

Monate in den Therapien begleitet und konnten so langsam eine Beziehung zur

Interviewerin aufbauen. Der Kontakt zu Emi kam durch eine dritte Person

zustande. Es gab ein kurzes Kennenlernen, bevor Emi dem Interview zustimmte.

Die jeweiligen Angehörigen der Betroffenen wurden in der Häuslichkeit direkt

bzw. telefonisch befragt.

Direkte Aussagen sind im Text gekennzeichnet als Zitate. Die Klammern mit

Punkten: (...) innerhalb der Anführungszeichen stehen für Redepausen und

wurden in den Zitaten mit aus der Transkription übernommen, um die Situation

möglichst authentisch wiederzugeben.

In den Fallbeispielen werden die Interviews in einer verdichteten, journalistisch

zusammengefassten Form wiedergegeben (9.1.4-9.1.9).

9.1.1 Methodenauswahl

Durch die therapeutische Begleitung kam es zwar immer wieder zu einer

teilnehmenden Beobachtung, welche durchaus auch ein Mittel zum Erheben von

sozialen Daten darstellt, aber eine Rekonstruktion des Werdegangs der

Betroffenen und ihrer Familien nicht möglich macht. Hinzu kommt der

erschwerende Faktor, dass bei der teilnehmenden Beobachtung zum einen eine

notwendige Nähe zum begleiteten Umfeld vorhanden sein muss, um die Daten

erstellen zu können, zum anderen aber die beobachtende Person permanent die

notwendige Distanz wahren muss, um die Daten so objektiv wie möglich zu

44

halten. (vgl. Bohnsack, Marotzki u. Meuser, 2011). Das Aufschreiben während

der Situation nimmt ihr einen Teil Authentizität und im Anschluss schreibt die

beobachtende Person schon aus ihrem Gedächtnis heraus das Beobachtete auf,

was die Gefahr erhöht, dass Inhalte verloren gehen können.

Das Interview hingegen kann in seiner erzeugten Wortwahl samt Stimmlage,

Lautstärke und Pausen immer wieder gehört, die Transkription immer wieder

gelesen werden und lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Kernfragen, die im

Forschungsinteresse stehen.

Das Interview ist ein Mittel zur Erfassung sogenannter künstlicher Daten, wenn

natürliches Datenmaterial nicht ausreichend zur Verfügung steht. Es ist

eingebettet in die Biografieforschung, die wiederum der Sozialforschung

untergeordnet ist. Während natürliche Daten ein vorhandenes, natürlich

entstandenes Datenmaterial nutzen (z.B. schriftliche Äußerungen wie

Tagebücher, Bilder, Filmmaterial, Gespräche, Reden u.a.) werden künstliche

Daten vom Forscher selbst erschaffen oder initiiert, um gezielt Daten zu

gewinnen (vgl. Bohnsack, Marotzki u. Meuser, 2011). Das Interview zählt zu den

qualitativen Forschungsverfahren, welche den Sinn bzw. die subjektiven

Sichtweisen rekonstruieren. „Forschungsauftrag ist Verstehen“ (Helferich, 2005,

S. 21). Gleichzeitig können Erzählungen aber auch eine Funktion der

Bewältigung haben (Helferich 2005), was z.B. am Interview von Ina (9.1.5)

deutlich wird.

Die hier ausgewählte Interviewform nutzt einen Leitfaden mit offen gehaltenen

Fragen, um das narrative Potential der Interviewten zu nutzen, und gleichzeitig

die gestellten Fragen zu den Themen, die untersucht werden, unterzubringen.

Ein konkretes Nachfragen ist in dieser Interviewform immer möglich und die

Konzentration auf die Forschungsfragen gegeben. Zu den Leitfragen wurden

„Unterfragen“ ausgearbeitet, die bei Bedarf gestellt werden können. Die offene

Fragestallung stellt zudem sicher, dass die interviewten Personen ihre

Erzählungen nach eigenen Prioritäten im Rahmen der Thematik wiedergeben

und so eine eigene Gewichtung vornehmen können.

Ein Leitfadeninterview wird in der Regel flexibel gehandhabt und erlaubt, bei

einer Irritation der Befragten, die vorhandene, künstlich geschaffene Situation zu

„normalisieren“ bzw. zu „entdramatisieren“. Dies geschieht z.B. durch die

interviewende Person, indem sie ihr eigenes Interesse zeigt und äußert, indem

sie Nachfragen stellt, zustimmt, Bemerkungen anbringt und dafür sorgt, dass das

45

Zuhören und das Sprechen zwischen den Beteiligten wechseln kann. Dadurch

wird die Situation „veralltäglicht“ und kann somit aufgelockert werden (vgl. ebd.).

Neben der Festlegung des jeweiligen Ortes und den ethischen Aspekten (z.B.

Datenschutz, Schutz vor emotionaler Überforderung wie bei Sarahs Mutter,

9.1.9) wurde auch die zeitliche Durchführung besprochen. So wurde Max (9.1.4)

z.B. zugesichert, dass bei Bedarf auch mehrere Termine verabredet werden

können (vgl. auch Helferich 2005, S. 169-171).

9.1.2 Ziel des Interviews

Durch diese Interviews soll aufgezeigt werden, welche Erfahrungen die

Betroffenen und ihre Angehörigen mit dem Störungsbild, dem Umgang damit

sowie mit ihrem Umfeld gemacht haben. Wurde das Kind mit seiner Familie

fachlich kompetent aufgefangen? Hatten Betroffene und Angehörige die

Möglichkeit, frühzeitig Informationen zu erhalten, die eine Zuordnung Ihres

Störungsbildes ersichtlich machten? Konnten Fachkräfte wie Erzieherinnen,

Lehrkräfte, medizinisch und therapeutisch arbeitende Fachkräfte adäquat

reagieren? Konnten sie dieses Störungsbild einordnen und so zu einer

frühzeitigen, adäquaten Behandlung beitragen? Bestand oder besteht die Gefahr

eines Nichterkennens und damit einer Manifestation? Welche Folgen und

Konsequenzen haben die gemachten Erfahrungen für Betroffene und

Angehörige?

Anhand einer Stichprobe aus drei Betroffenen und ihren Angehörigen soll dies

deutlich gemacht werden. Diese Interviews sollen weiterhin dazu beitragen,

aufzuzeigen, ob Fachkräfte in Mecklenburg-Vorpommern zu diesem Thema zum

einen ausreichend aufgeklärt sind und zum anderen ob die nötigen Hilfen

installiert sind.

9.1.3 Fragestellungen

Für Betroffene und Angehörige gab es zunächst drei Schlüsselfragen, die sich

inhaltlich ähnelten. Diese werden hier in einer Gegenüberstellung kurz

vorgestellt:

46

Tabelle 3: Leitfaden des Interviews

Fragen an die Betroffenen Fragen an die Angehörigen

Wann und wodurch hast du bemerkt,

dass bei dir etwas anders ist in der

Kommunikation mit anderen

Menschen? Wie ist es dir seitdem

ergangen?

Wie war das damals, als klar wurde,

dass „X“ Probleme hatte, mit anderen

zu kommunizieren? Wann war das?

Wie ging es dann weiter?

Wie war es, als du professionelle

Unterstützung bekamst?

Wie war es, als „X“ professionelle

Unterstützung bekam?

Was wünschst du dir für andere

Betroffene und für dich selbst?

Was wünschen Sie sich für andere

Betroffene und für sich selbst?

Eine Übersicht über die komplette Interviewgestaltung mit Schlüsselfragen,

Unterfragen, möglichen Kommentaren sowie Aufrechterhaltungs- und

Steuerungsfragen ist im Anhang zu finden (Anhang 2).

9.1.4 Max

Max ist heute 25 Jahre alt und befindet sich seit ca. zwei Jahren in logopädischer

Behandlung bei einer Logopädin, die sich speziell zu selektivem Mutismus

weitergebildet hat. Max sucht die Logopädin mehrmals wöchentlich auf und wird

außerhalb des Regelfalls behandelt. Um das Sprechen mit möglichst vielen

Menschen zu üben, ist die Logopädin bemüht, andere Personen in die Therapien

mit einzubeziehen. In diesem Rahmen findet auch die Begleitung während der

Therapien für diese Arbeit statt.

Max lebt allein und hält regelmäßigen Kontakt zu seinem Bruder. Einmal

wöchentlich telefoniert er mit seiner inzwischen entfernt lebenden Mutter.

Max ist arbeitslos und weiß derzeit nicht, wie er das ändern könnte.

Therapie und Angehörigentreffen Der Kontaktaufbau erfolgte über die begleitende Logopädin. Max gelang es nach

und nach, den Blickkontakt aufzunehmen und während der Angehörigentreffen

sowie in der Therapie innerhalb spielerischer Interventionen Fragen zu stellen

47

und Antworten zu geben. Seine enormen Bemühungen um Sprache waren bei

guter Beobachtung deutlich ersichtlich: Nachdem er auf Ansprache oft erstarrte,

konnte man seinen inneren Kampf an kleinen mimischen Bewegungen erkennen.

Sein Blick veränderte sich minimal, er schien sich besonders stark zu

konzentrieren. Der Versuch einer minimalen Schluckbewegung erfolgte

mehrfach. Der Mund schien um jede Bewegung zu kämpfen. Wenn eine

Schluckbewegung gelang folgte ein fast tonloses Räuspern, häufig mehrfach. Die

Lippen bewegten sich zunächst kaum sichtbar, bis es Max gelang, sie zu öffnen.

Nach einem weiteren Moment gelang es dann häufig, eine Antwort

hervorzubringen. Jedes Wort machte den Eindruck, mit größter Anstrengung

erkämpft worden zu sein.

Manchmal ging gar nichts mehr, dann hatte Max eine Sprechblockade. Dann lag

ein Schweigen im Raum. Jedes Atmen der Anwesenden wurde hörbar während

auf eine Antwort von Max gewartet wurde. Es war nicht ersichtlich, was ihm

helfen könnte, ob es ihn unterstützte oder ihn unter Druck setzte, wenn man ihn

anschaute um zu zeigen: ich höre Dir zu, du kannst ruhig sprechen. Druck

verhalf Max nicht zum Sprechen, erfahrungsgemäß forcierte dieser eher die

Entstehung von Sprechblockaden und verschlimmerte diese noch, wenn sie

bereits eingesetzt hatten. Seine Gesprächspartner wurden in solchen Situationen

in der Regel schnell verunsichert und wussten nicht, wie sie reagieren sollten.

Die Ursachen konnte Max von sich aus nicht benennen. Ob auch das Thema

selbst dazu führen könne und es ihm besonders schwer fiel über sich selbst zu

sprechen, konnte er mit ja beantworten. Insgesamt schien es aber völlig

unvorhersehbar, ob und wann Sprechblockaden auftreten würden. Es konnte von

einem Moment zum anderen passieren. Manchmal kam Max schon sehr

verschlossen in die Therapie und konnte sich während der Therapiestunde nicht

mehr öffnen. Wie versteinert saß er auf einen Punkt starrend auf seinem Stuhl

und konnte sich nicht bewegen. In solchen Situationen wurde manchmal der

Raum verlassen um wieder in Bewegung zu kommen. Das funktionierte, um ihn

zumindest aus der Erstarrung zu lösen.

Wenn es gut lief, kam sein Humor zum Vorschein und er brillierte in den Spielen

mit seinem erstaunlich guten Allgemeinwissen. Eine sehr ausgeprägte

Merkfähigkeit und Beobachtungsgabe zeigten sich und seine Antworten waren

präzise und oft witzig, manchmal von schwarzem Humor begleitet. Wenn er

selbst manchmal lachte, dann völlig tonlos.

48

Wurden Getränke angeboten oder etwas Süßes, verweigerte er dies meistens.

Manchmal konnte er es annehmen und in Gesellschaft essen oder trinken. Es

schien etwas Besonderes zu sein, wenn dies gelang und manchmal auch die

Situation aufzulockern.

Das Interview - Rahmenbedingungen Das Interview wurde in den Max bekannten Therapieräumen durchgeführt. Der

Sitzplatz wurde so gewählt, dass Max sich möglichst wohl fühlen sollte. Er saß

nicht gegenüber der Spiegelwand, da diese die Sprechblockaden

erfahrungsgemäß verstärken konnte und nicht mit dem Rücken zu dieser, da

beobachtet wurde, dass Max selbst diesen Platz in den Therapien nie gewählt

hatte. Möglicher Weise fühlte er sich dort nicht wohl.

Es wurde ein Sonntag gewählt, da dann die Praxis ruhig war und mit Störungen

nicht gerechnet werden brauchte.

Auch wenn Max in nicht familiärer Gesellschaft und in der Öffentlichkeit nur sehr

selten etwas essen oder trinken konnte, wurde ein Gewürztee angeboten aus

einem ihm bekannten Restaurant, in dem er gelegentlich mit seinem Bruder

etwas essen ging. Max nahm den Tee an.

Die Technik wurde so gewählt, dass sie möglichst unauffällig war und wenig Platz

einnahm. Ein kleines Aufnahmegerät wurde auf einem ebenfalls sehr kleinen

Dreifuß auf dem Tisch platziert, das Gerät wurde Max kurz vorgeführt.

Vor Beginn des Interviews wurden die Datenschutzbedingungen schriftlich

vorgelegt. Max las sie durch und unterschrieb sie. Zusätzlich erhielt er die

mündliche Information, dass er auch im Nachhinein Stellen löschen lassen kann

oder auch das ganze Interview. Dann wurde ihm die Frage gestellt, ob das

Interview beginnen könne oder ob er lieber noch weitere Informationen dazu

erhalten möchte. Er wünschte sich weitere Informationen. Diese beinhalteten

einen Überblick über das Interview und beschrieben die Hauptfragen und die

Vorgehensweise. Ihm wurde zugesichert, dass auch mehrere Termine kein

Problem darstellen würden falls er Sprechblockaden bekäme. Selbst wenn er

spüren sollte, dass er dieses Interview doch nicht geben könnte, sei das kein

Problem sondern würde als Ausdruck seines Störungsbildes ebenfalls ein

Ergebnis sein. Allein der Wille und die Zusage seien schon ein großer Schritt,

wofür ihm Dank und Anerkennung ausgesprochen wurde.

49

Das Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Max benötigte unterschiedlich lange Pausen, um auf die gestellten Fragen zu

antworten. Manchmal gab es verschiedene Nachfragen um den

Kommunikationsfluss nicht abreißen zu lassen. Diese Fragen präzisierten die

vorherige Frage oder grenzten sie noch weiter ein, damit Max nicht zu komplex

antworten musste. Manchmal wurde die Frage auch nur mit einer anderen,

ähnlichen Nachfrage wiederholt, damit die Pausen nicht zu lang wurden und

womöglich in einer Sprechblockade endeten. Gerade bei persönlichen

Auskünften war es eine große Herausforderung für Max, zu sprechen.

Max antwortete in kurzen Sätzen, präzise, kein Wort zu viel. Alles klang wohl

überlegt, jeder Satz war korrekt und vorher in Gedanken abgeschlossen worden.

Max berichtete, dass es bei ihm schon immer so gewesen sei, dass er

kommunikativ anders funktioniere als andere. Er glaubt nicht, dass es einen

bestimmten Auslöser gab für sein Schweigen. Offensichtlicher und schwieriger

wurde es für ihn mit dem Übergang vom Kindergarten in die Schule. Dort wurden

mehr Erwartungen an ihn gestellt als zuvor. Aber dann sei die Situation von

Seiten der Lehrer aus einfach ignoriert worden, was ihm den Besuch der Schule

erleichtere. Konkret bedeutete dies für ihn, keine mündlichen Leistungen

erbringen zu müssen. Er wurde mündlich nicht benotet.

Max hatte zwar keine besonders engen Freunde, konnte aber mit den

Mitschülern sprechen. Mit den Lehrkräften gelang ihm das nicht.

Es gab außerhalb der engen Familie keine Orte und keine Situation, in denen es

für Max schwieriger oder leichter war, zu sprechen. Zumindest konnte Max keine

benennen. Auch in der näheren Verwandtschaft (Tanten, Onkel) sei es teilweise

schwierig gewesen.

An begleitende Schwierigkeiten wie Schlafstörungen, Ängste oder Schmerzen

konnte sich Max nicht erinnern.

Auf die Frage, was er selbst unternommen habe, um aus der Situation

herauszukommen, benannte er die Vermeidung von sozialen Situationen sowie

Sprechsituationen, da diese ihn belastet hatten.

Bezüglich der professionellen Hilfen erinnert sich Max daran, dass in der fünften

Klasse der schulpsychologische Dienst aktiv wurde. Wer diesen beauftragt hatte

(Eltern, Lehrer), wusste Max nicht. Er glaubte sich an eine Diagnostik zu erinnern

50

und berichtete von „irgendwelchen Terminen mit einer Schulpsychologin“

(Interview Max, Zeilen 80, 81). Diese Termine empfand er nicht als hilfreich.

Zu Beginn der sechsten Klasse wurde er in eine Tagesklinik für Kinder- und

Jugendpsychiatrie eingewiesen. Der Aufenthalt dauerte fast ein Jahr. Auf die

Frage, wie es ihm dort ergangen sei, antwortete Max: „Nicht so gut.“ (Interview

Max, Zeile 92) Auf Nachfragen, inwiefern es ihm nicht gut ergangen sei, welche

Art von Hilfen er dort erhielt und was dort so passierte antwortete er: „Man hat

eigentlich alles Mögliche ausprobiert und auch keinen wirklichen Plan gehabt

was helfen könnte.“ (ebd. Zeilen 96, 97) „In der Schule ging es danach so weiter

wie vorher. (...)Therapeutisch ist dann erstmal 'ne Weile nichts passiert (...) außer

regelmäßige Termine bei einem Heilpädagogen.“ (ebd. Zeilen 102-104) Zu

diesem Heilpädagogen ist er etwa drei Jahre gegangen, er glaubt sogar bis zur

zehnten Klasse. Während dieser Zeit gab es auch einen kurzen Aufenthalt in

einer Klinik „wo man medikamentös einige Sachen probiert hat (...) aber auch

ohne nennenswerte Erfolge (...) und nach der Zehnten sah ich mich dann

gezwungen, meine Schullaufbahn zu beenden.“ (ebd. Zeilen 112-114) „Es sahen

halt alle Beteiligten keine Möglichkeit die Abiturstufe ohne mündliche Leistungen

zu absolvieren.“ (ebd. Zeilen 116, 117)

Therapeutisch sei dann die nächsten Jahre nichts passiert. Dann hat Max eine

Ausbildung in einem Berufsbildungswerk gemacht, die er mit ca. 22 Jahren

beendete. Die Agentur für Arbeit hat anschließend versucht, ihn in einen Job zu

vermitteln. Der Job habe aber nicht lange funktioniert. Auf Nachfrage berichtete

Max, was er damit meinte: „...sie hatten einen Arbeitgeber gefunden bei dem ich

dann auch ein halbes Jahr versucht habe mich ins, ins Arbeitsleben zu

integrieren...“ (ebd. Zeilen 129, 130). Dies hat aus seiner Sicht nicht funktioniert

und er habe es dann beendet. „...danach war dann erstmal gar nichts mehr (...)

und irgendwann hat mein Vater dann Kontakt zu einer Logopädin aufgenommen

die ein wenig Erfahrung mit dem Störungsbild hat.“ (ebd. Zeilen 142-144) Diese

Logopädin begleitet Max heute noch. Aus seiner Sicht gab es erst in der Arbeit

mit ihr erkennbare Fortschritte. Auch die Arbeit mit dem Heilpädagogen empfand

er als angenehm, weil dieser sich weniger auf das Problem sondern auf die

Allgemeinsituation bezogen habe. Auf die Frage, was wenig oder gar nicht

hilfreich war, antwortete Max, dass die Zeit in der Tagesklinik größtenteils sinnlos

gewesen sei.

51

Max wurde gefragt, was er sich wünscht für sich selbst und für andere

Bertoffene. Diese Wünsche beziehen sich auf das allgemeine Umfeld wie auch

auf professionelle Hilfskräfte: „Generell etwas mehr Verständnis vielleicht heraus

bilden in diesem Bereich.“ (ebd. Zeilen 173, 174) „Es kommt häufig vor, dass

man in Schubladen gesteckt wird wie: es ist alles nur Machtkampf oder Zeichen

für familiäre Probleme und so weiter.“ (ebd. Zeilen 182-184)

Das Interview dauerte 36 Minuten. Von ca. 1600 gesprochenen Wörtern hatte

Max einen Sprechanteil von ca. 500 Wörtern, was für ihn eine bemerkenswerte

Sprechleistung darstellt.

Zusammenfassung Max erinnert sich, erst in der Schule wirkliche Schwierigkeiten gehabt zu haben

mit seinem Störungsbild. Die erste professionelle Hilfe wurde seiner Erinnerung

nach in der fünften Klasse installiert. Es folgten weitere Hilfen wie der Aufenthalt

in einer Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie einer weiteren Klinik,

in der medikamentös gearbeitet wurde. Diese Hilfen empfand er als nicht

hilfreich, zum Teil sogar völlig sinnlos. Eine weitere Hilfe stellte eine mehrjährige

Begleitung durch einen Heilpädagogen dar, was er als angenehm empfand.

Erste Fortschritte sah er in der Zusammenarbeit mit der Logopädin, die sich

speziell zum Thema „selektiver Mutismus“ weiter gebildet hatte und Erfahrungen

auf diesem Gebiet aufwies. Er war bereits 23 Jahre alt, als diese Therapie

begann. Die Logopädin begleitet ihn seit dieser Zeit.

Max wünscht sich, dass gerade von professionellen Kräften mehr Verständnis

aufgebaut wird für dieses Störungsbild und dass Betroffene nicht in Schubladen

gesteckt werden, die ihnen Machtkämpfe oder familiäre Probleme unterstellen.

9.1.5 Ina - die Mutter von Max

Die Mutter von Max lebt inzwischen nicht mehr in Mecklenburg-Vorpommern. Sie

telefoniert jeden Sonntag mit ihren beiden Söhnen. Sie ist und war auch zum

Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder Erzieherin. Sie lebt seit mehreren Jahren mit

ihrem neuen Lebenspartner in einem anderen Bundesland.

Während und nach dem Interview zeigte sie deutliche Emotionen. Im

Nachgespräch äußerte sie, wie sehr es sie bewegt habe, über alles zu sprechen.

52

Sie müsste nun über viele Dinge noch einmal nachdenken und auch darüber, ob

sie mit ihrem Sohn über einige Dinge noch einmal sprechen sollte.

Das Interview – Erstkontakt Max stimmte nach seinem Interview zu, dass er einverstanden sei, dass auch

seine Mutter interviewt wird. Er benötigte dafür Zeit, um sich dies gut zu

überlegen. Die Telefonnummer der Mutter wurde nach seiner Zustimmung durch

die Logopädin übermittelt. Die Mutter wurde zunächst telefonisch kontaktiert, um

ihr die Thematik vorzustellen und, bei ihrem Einverständnis mit einem Interview,

einen Termin abzusprechen.

Max Mutter reagierte schon beim Telefonat sehr aufgeschlossen und brachte ihre

Hoffnung zum Ausdruck, dass dies vielleicht ein Beitrag sein könne, um das

Thema selektiver Mutismus endlich bekannter zu machen. Sie äußerte weiterhin

ihre Hoffnung, dass für betroffene Menschen mehr getan werde.

Es wurde ein Termin in ihrer Wohnung vereinbart.

Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde wie geplant in der gemeinsamen Wohnung von Max Mutter

und ihrem Lebenspartner durchgeführt. Der Lebenspartner war ebenfalls zu

Hause und verließ nach einer Begrüßung und Bekanntmachung bald den Raum,

in dem das Interview stattfand. Der kleine Hund des Paares blieb mit im Raum.

Während des Interviews kam es zu kleinen „Zwischenfällen“, die zu kurzen

Unterbrechungen führten, aber für das Interview selbst kein Problem darstellten

(z.B. wurde der Hund herausgelassen).

Max Mutter servierte Kaffee, die Technik wurde aufgebaut und vorgestellt,

Datenschutzbedingungen wurden besprochen und unterschrieben. Es kam zu

einem Vorgespräch, in dem die Mutter schon einiges über Max und ihre

Erfahrungen mit dem Störungsbild sowie dem Umfeld erzählte. Kaum jemand

wüsste ihrer Ansicht nach, was selektiver Mutismus sei und in Gesprächen zum

Thema erlebe sie oft, dass ihre Gesprächspartner Mutismus mit Autismus gleich

setzten.

53

Das Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Als Erzieherin und Mutter eines weiteren Kindes spürte Ina schon früh, dass mit

Max, ihrem zweiten Sohn, etwas anders war. Ihr war klar, dass sie kein Kind

unmittelbar mit einem anderen vergleichen konnte, aber bei Max gab es

Auffälligkeiten, die ihr Grund zur Sorge gaben.

Max sprach später und weniger, als sie es von anderen Kindern kannte. Sein

nächtliches Weinen schien nicht nur der typische Hunger eines Säuglings zu

sein, um seine Mutter zu rufen. Max weinte nachts häufig, auch als andere Babys

gewöhnlich anfingen durchzuschlafen, nahm sein Weinen nicht ab. Die ersten

zweieinhalb Jahre seines Lebens weinte Max seine Mutter jede Nacht drei bis

viermal aus dem Schlaf. Ohne die beruhigenden Worte von ihr und ihrer Nähe

konnte er nicht wieder einschlafen. Ina war besorgt und ratlos. Die Vermutung

von Wachstumsschmerzen wurde von einem Kinderarzt geäußert, den sie

aufsuchte. Aber auch Max konnte ihr nicht sagen, ob ihm etwas wehtat. Ina teilte

die unterbrochenen Nächte mit ihrem Sohn und hatte kaum noch Kraft für den

Alltag, in dem sie als Erzieherin für ihre Gruppe präsent sein musste. An viele

Entwicklungsbesonderheiten, die sie beim ersten Sohn mitbekommen hatte,

konnte sie sich gar nicht erinnern. Da war der Job gewesen und zwei Kinder und

sie selbst sei eigentlich immer müde gewesen.

Heute fragt sie sich, woher sie damals die Kraft dafür nahm. Sie glaubt, dass Max

all die Eindrücke des Alltags aus der Kindertageseinrichtung, vor denen er sich

lieber fern gehalten hätte, überfordert haben. Sicher habe er sie nachts

verarbeitet und konnte dies nicht allein bewältigen.

Max vermied von Anfang an jeglichen Kontakt zu den Nachbarn. Auch im

eigenen Garten verhielt er sich immer vorsichtig, indem er genau schaute, ob

Nachbarn ihn beobachten konnten. Im Kindergarten hörten die Erzieherinnen

Max nie sprechen und fanden keinen Zugang zu ihm. Ina berichtete von nur

einem Freund, mit dem Max sprach und sich gut verstand.

Ina suchte weiter nach Erklärungen und nach Hilfe. Eine Logopädin kam in die

Einrichtung, um Max zum Sprechen zu bringen. Diese wurde, nachdem sie zu

keinen Erfolg kam, immer fordernder und Max verweigerte sich dann völlig

gegenüber ihrer zu hohen Erwartungshaltung. Die Behandlung wurde nach

knapp sechs Monaten abgebrochen. Ina bemühte sich sehr, ihren Sohn zu

fordern, aber auch zu beschützen, wenn zu viel Druck auf ihn ausgeübt wurde.

Dass er sich unter Druck noch mehr verschloss, wusste sie. Sie reflektierte viel

54

und nutzte ihr Wissen als Erzieherin, um Vergleich mit anderen Kindern

herzustellen.

Ina suchte weiter nach Hilfe, fand aber niemanden, der sich mit dieser

Symptomatik auskannte. Sie suchte eine Psychologin auf. Diese erklärte Ina,

dass ihr Sohn schüchtern sei, er brauche einfach mehr Zeit als andere Kinder.

Diese Zeit wollte Ina ihrem Sohn lassen, fühlte sich aber trotzdem ratlos.

In der Familie übernahm Ina die Rolle der Vermittlerin. Auch hier hatte sie das

Gefühl, ihren Sohn schützen zu müssen. Max hatte ein gutes Verhältnis zu

seinem älteren Bruder und zu seinem Vater. In der Herkunftsfamilie gab es keine

Probleme und Max wurde so akzeptiert, wie er war. Hier konnte er ganz normal

sprechen, wenn keine andere Person hinzukam. Aber Inas Mutter und ihre

Schwester konnten kein Verständnis für das Verhalten von Max aufbringen. Ihrer

Mutter gegenüber gelang es Ina nach einigen Jahren, eine Veränderung in ihrer

Erwartung und im Umgang mit Max zu bewirken. Die Mutter stellte sich einer

Auseinandersetzung mit Ina. Inas Mutter erkannte, dass sie, wenn sie ihr

Verhalten nicht ändern würde, die Beziehung zu ihrer Tochter ernsthaft

gefährdete. Sie forderte ihre Erwartungen nicht mehr ein und nutzte

Gelegenheiten, mit ihrem Enkel anders in Kontakt zu kommen. Das gelang über

Rätsel. Max war ein wissbegieriger Junge, dem es leichter fiel, sich über

interessante sachliche Themen zu unterhalten, als über sich und seine

Mitmenschen.

Die Mutter väterlicherseits erkannte Gemeinsamkeiten in der Entwicklung von

Max und seinem Vater. Im Gegensatz zu Max hatte sein Vater es irgendwie

geschafft, sprachlichen Kontakt aufzunehmen, wenn auch aus dritter oder vierter

Reihe.

Ihrer Schwester gab Ina, nachdem sie viele Jahre später wusste um welches

Störungsbild es sich handelte, Informationsquellen aus dem Internet. Die

Schwester war überrascht und betroffen von der Intensität der Störung, konnte

aber ihre Erwartungen nie wirklich zurückstellen. Noch heute sei es schwierig für

Max, in der Anwesenheit der Schwester zu sprechen, sagt Ina.

Mit dem Übergang in die Schule erhöhten sich für Max und seine Familie die

Erwartungen aus dem Umfeld. Sein Vater brachte ihn jeden Tag zur Schule, in

die er eigentlich nicht gehen wollte. Max hatte großes Glück mit seiner ersten

Lehrerin. Sie konnte einen engen Kontakt zu ihm aufbauen und sah sein

Potential. Zu ihr hatte er so viel Vertrauen, dass er – ganz leise an ihrem Tisch–

55

sogar manchmal ein Gedicht oder ein Lied aufsagte. Sie sollte die einzige

Lehrerin bleiben, die seine Stimme je gehört hat. Nach dreieinhalb Jahren wurde

die Lehrerin an eine andere Schule versetzt und Max musste sich für das letzte

halbe Jahr in der Grundschule bemühen, sich an eine neue Lehrerin zu

gewöhnen. Diese wollte zwar die Vorgehensweise der ersten Lehrerin

übernehmen, hatte aber eine andere Grundhaltung und konnte keinen Zugang zu

Max finden.

Trotz seiner guten Leistungen erklärte die Lehrerin den Eltern, dass sie für ihn

nur eine Förderschule als richtige Lösung sehen könne, da er nicht spreche. Ina

wusste durch ihren Beruf, welche Kinder Förderschulen besuchen und warum.

Sie kannte das Potential ihres Sohnes und sein Interesse für viele Dinge. Um

richtig entscheiden zu können, besuchte sie trotzdem mit Max die Förderschule,

um sie sich mit ihm anzusehen. Nach diesem Besuch war für sie klar, dass das

kein Platz war für Max. Hier wäre er in seiner Problematik nicht gefördert worden,

gleichzeitig aber inhaltlich unterfordert. Die Eltern entschieden sich gegen den

Willen des Schulamtes dafür, Max auf das Gymnasium zu geben. Das Schulamt

hingegen wollte, dass Max mit seiner „Sprachverzögerung“ in der Förderschule

lerne, sich am Unterricht zu beteiligen.

Anfangs wurde Max von seinem Bruder in das Gymnasium begleitet, der dieses

selbst auch besuchte. Dann traf ein Glücksfall ein: In derselben Klasse, die Max

besuchte, war auch sein einziger Freund aus der Kindergartenzeit. Der Kontakt

bahnte sich schnell wieder an und Max ging von nun an mit seinem Freund in die

Klasse. Zuvor hatte sein Bruder ihn immer bis in die Klasse begleitet, aber nun

reichte es, wenn Max vor der Schule seinen Freund erblickte. Gemeinsam

gingen sie in den Klassenraum. Ina glaubt heute, dass das entscheidend dazu

beitrug, dass Max in dieser Schule Fuß gefasst hatte. Die Jungen besuchten sich

auch in ihrer Freizeit regelmäßig, um miteinander zu spielen.

Aber auch im Gymnasium sprach Max im Beisein von Lehrern kein Wort. Wieder

wurde nach Hilfe gesucht. Eine Psychologin diagnostizierte nun selektiven

Mutismus und erklärte Ina, dass sie großes Glück habe, bei ihr gelandet zu sein.

Außer ihr würde niemand in Mecklenburg-Vorpommern etwas mit diesem

Störungsbild anfangen können. Die Psychologin begleitete Max einige Zeit, hatte

aber auch keinen Erfolg bei Max mit ihrer Herangehensweise. Weder Max noch

seine Mutter empfanden die Begleitung als hilfreich. Sie erhielten von ihr die

Empfehlung, Max in einer Tagesklinik für Kinder-und Jungendpsychiatrie

56

behandeln zu lassen, um sein verfestigtes Verhalten mit verschiedenen

Therapien wie Ergotherapie, Musik- und Bewegungstherapie, etwas

aufzusprengen.

Da es keine anderen Hilfen zu geben schien, entschied sich die Familie für die

Tagesklinik. Max wurde aus seiner Schulklasse genommen und in einer

Klinikschule täglich vier Stunden unterrichtet. Er wurde jeden Tag mit einem

Fahrdienst von zu Hause abgeholt. Der Unterricht beinhaltete nicht den Umfang

eines Schuljahres, da die Kinder auch an Therapien teilnehmen sollten. Eine

Versetzung in die nächste Klasse war nach einem Jahr also nicht möglich.

Max schien sich in der Tagesklinik überhaupt nicht wohl zu fühlen. Ina spürte

immer stärker eine Veränderung bei Max, welche ihr zusätzliche Sorgen

bereitete. Immer wieder fragte sie ihn, was los sei. Nach einem halben Jahr

konnte Max ihr sagen: „Mama, hier gehöre ich nicht hin.“ (Interview Ina, Zeile

305) Damit meine er sowohl die Klinikschule als auch die Tagesklinik. Ina fand

heraus, dass dort vor allem hyperaktive Kinder beschult und behandelt sowie

medikamentös eingestellt wurden. Konkrete Sorgen konnte Max nicht einmal

seiner Mutter mitteilen und sie musste mit der spärlichen, aber klaren Botschaft

leben. „Den bewegt irgendetwas, was er aber nicht mal im Detail mir als Mama

benennen kann, sagt, er geht quasi ein“ (ebd. Zeilen 340, 341) Als ihr Sohn, der

schon immer wenig wog, dann immer mehr an Gewicht verlor, hielt sie es nicht

mehr aus: „Er geht mir jetzt quasi ein wie so´ne Primel“ (ebd. Zeile 334) sagte sie

und berichtet, den Aufenthalt kurz vor Ende des Schuljahres abgebrochen zu

haben.

Für Max hieß das, dass er sich ein weiteres Mal umstellen musste. Er konnte

nicht in seine alte Klasse zurück, in der er seinen Freund an seiner Seite wusste.

Aber die neue Lehrerin hatte sich mit der vorherigen Lehrerin kurzgeschlossen

und die Klasse auf Max vorbereitet. Die Schüler nahmen Max in ihre Reihen auf

und akzeptierten ihn so, wie er war. Bald lernten sie sein Wissen schätzen. Wenn

die Klasse Gruppen bilden sollte, um bestimmte Aufgaben zu lösen, wurde Max

immer als einer der Ersten gewählt. Ina findet es heute noch erstaunlich, dass ihr

Sohn nur mit den anderen Schülern sprach, wenn keine Lehrkraft anwesend war.

Max musste permanent seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, wer sich

in sichtbarer Nähe aufhielt. Trotzdem konnte er bei den Themen verweilen und

zeigte gute Leistungen.

57

Im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren wurde bei Max ein IQ-Test

durchgeführt, der eine besondere Begabung im Bereich Sprache aufwies. Ina

konnte es zunächst nicht glauben, aber bei einer zweiten Durchführung

bestätigte sich das Ergebnis.

Als der fünf Jahre ältere Bruder von Max sein Abitur absolvierte, interessierte

sich Max schon für die Themen in der Abiturklasse. Er hatte sich in kurzer Zeit

mit dem Computer vertraut gemacht, den seine Familie inzwischen besaß und

sich den Umgang mit Programmen selbst angeeignet. Während sein Bruder z.B.

sozialen Kontakten nachging, recherchierte Max für ihn häufig Themen für das

Abitur. Dabei setzte er sich mit dem Stoff so auseinander, dass er diesen auch

nach seinen Vorstellungen gewichtete und zusätzliche Informationen einholte,

wenn er diese für das Thema relevant hielt.

Als Max die zehnte Klasse besuchte, wurde offensichtlich, dass er keinen

höheren Abschluss erreichen könnte. Das Schulamt ließ ihn nicht zum Abitur zu,

da er keine mündlichen Leistungen erbrachte. Die Lehrerschaft sah hier kein

Problem und wusste um das Potential von Max, konnte die Entscheidung des

Schulamtes aber nicht ignorieren. Max hat seine Leistungen den Lehrkräften

gegenüber immer schriftlich darlegen dürfen. Es gab sogar hier Ausnahmen:

Wenn Aufsätze geschrieben wurden über persönliche Themen (z.B. „Mein

schönstes Ferienerlebnis“) wurde der Aufsatz von Max nicht benotet. Über solche

Dinge konnte er sich nicht einmal schriftlich äußern. Keiner der Lehrer an dieser

Schule hatte jemals die Stimme von Max gehört.

Während der Zeit auf dem Gymnasium wurde Max von einem Heilpädagogen

begleitet, nachdem er aus der Tagesklinik zurückgekehrt war. In dieser Zeit

trennten sich seine Eltern. Ina hatte den Eindruck, dass Max die Begleitung

durch den Heilpädagogen gut tat, auch wenn dieser kaum sprachliche Erfolge bei

Max erzielte. Sie selbst wurde von einer Frau, sie vermutet es war eine

Psychologin, begleitet. Es war zwar bezüglich des Störungsbildes nicht hilfreich,

aber in dieser Situation durchaus entlastend. Da Max die Trennung der Eltern zu

verkraften hatte, wurde bewusst eine männliche Bezugsperson gewählt für ihn.

Ina konnte über den Umgang mit der Trennung und über ihren eigenen,

behütenden Umgang mit Max reden und alles mit Hilfe reflektieren.

Als Ina einen neuen Partner fand und diesen mit nach Hause brachte, gelang

eine Kontaktaufnahme erstaunlich gut. Es gab zwar auch später Probleme

zwischen den beiden, da Inas Partner an seine Grenzen kam und mehr von Max

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erwartete, als dieser aufbringen konnte, aber heute würden sich die Männer

gegenseitig achten.

Im heilpädagogischen Zentrum erhielt die Familie die Empfehlung, Max in eine

betreute Wohnform zu geben. Max konnte sich dazu nicht wirklich äußern,

wehrte sich aber auch nicht. Ina hatte gelernt, für Max Entscheidungen zu treffen,

da er dazu oft nicht in der Lage war. Als sie mit Max und seinem Bruder vor Ort

war, fand sie die Bedingungen so unpassend, dass sie Max wieder mit nach

Hause nahm. Auch sein Bruder wollte Max auf gar keinen Fall dort lassen.

Wieder zu Hause angekommen schien eine Last von Max abzufallen, er sei „in

sein Zimmer gegangen und ich hatte den Eindruck er guckt sein Zimmer an als

wär das ´n Palast“ (ebd. Zeilen 970, 971). Heute ist Ina sich sicher, ihren Sohn

vor einer weiteren schlimmen Negativerfahrung bewahrt zu haben.

Nach der Schule machte Max eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk. Im

ersten Anlauf konnte er die Prüfungsleistungen nicht erbringen, weil auch

persönliche Themen aufgearbeitet wurden und Max darüber nichts berichten

konnte. In Zusammenarbeit mit Ina, die als sein Sprachrohr fungierte, erzielte

Max dann einen guten Abschluss.

Rückblickend empfindet Ina es heute so, dass eigentlich – ausgenommen des

„Stolpersteines Tagesklinik“ - alles Max irgendwie voran gebracht hat (vgl. ebd.

Zeilen 1080-1082).

Ina konnte ihre Wünsche für sich selbst, andere Betroffene und ihre Angehörigen

klar benennen: Sie wünscht sich, dass Erzieher, Pädagogen, Ärzte, Therapeuten

und alle, die etwas mit Kinder- und Jugendarbeit zu tun haben, Kenntnisse von

dem Störungsbild haben, um auch den Eltern diese dann so schnell wie möglich

mitzuteilen und sie für die Thematik zu sensibilisieren. Sie wünscht sich, dass es

ein Netzwerk gibt für betroffene Kinder und Jugendliche und dass diese dort

adäquat betreut und gezielt gefördert werden können. Diese Förderung sollte so

ausgerichtet sein, dass die Betroffenen auch in ihren Besonderheiten erkennt

und aufgreift. Z.B. war Max trotz seiner Diagnose besonders begabt im

sprachlichen Bereich. Ina wünscht betroffenen Familien Hilfen und

therapeutische Möglichkeiten in zumutbarer Nähe, so dass diese auch

alltagsrelevant genutzt werden können. Auch sollte es Anlaufpunkte für Eltern

geben, die nicht weiter wissen und eine Austauschmöglichkeit der Eltern

untereinander. „...Betroffene, die stehen ganz, ganz lange allein im Regen ehe

sie erstmal wissen, was ist es überhaupt...“ (ebd. Zeilen 1156, 1157).

59

Zusammenfassung Ina selbst war schon früh aufgefallen, dass Max anders war als andere Kinder.

Im Vorschulalter wurde Max logopädisch begleitet, wo er sich aber zunehmend

verweigerte. Eine Psychologin bescheinigte ihrem Sohn große Schüchternheit

und riet Ina, ihm einfach mehr Zeit zu lassen.

Max musste täglich von seinem Vater in die Schule begleitet werden. Zum Ende

der Grundschulzeit wollten das Schulamt und die Klassenlehrerin, dass Max trotz

guter Leistungen eine Förderschule besucht.

Die Eltern entschieden sich für ein Gymnasium. Im Gymnasium wurde er

mündlich nicht benotet. Max konnte kein Abitur machen, da er keine mündlichen

Leistungen erbrachte.

In der fünften Klasse wurde bei Max selektiver Mutismus diagnostiziert. Eine

psychologische Begleitung war nicht hilfreich. Es folgte ein knappes Jahr in einer

Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Zeit haben Max und seine

Mutter negativ in ihrer Erinnerung. Er musste eine Klasse wiederholen, wurde

aber gut in die neue Klasse aufgenommen. Ein weiter Klinikaufenthalt mit dem

Versuch, medikamentös etwas zu bewirken, blieb ohne Erfolg.

Eine darauf folgende heilpädagogische Begleitung war zwar sprachlich nicht

erfolgreich, aber angenehm und entlastend.

Im Alter von 23 Jahren fand Max mit der Hilfe seines Vaters eine Logopädin, die

sich mit dem Störungsbild etwas auskannte und speziell dafür weitergebildet ist.

Erst jetzt wurden Erfolge in Bezug auf das Kommunikationsverhalten von Max

ersichtlich.

9.1.6 Emi

Emi, heute 25 Jahre alt, durchlebte eine schwere Zeit bis sie aus eigener Kraft

den selektiven Mutismus überwinden konnte. Völlig selbständig und nicht in der

Lage, sich Hilfe zu organisieren oder sich mitzuteilen, entwickelte sie einen

bemerkenswerten Ehrgeiz, um an den wichtigsten, alltäglichen Geschehnissen

der Welt um sie herum teilnehmen zu können. Inzwischen hat sie ein BA-

Studium abgeschlossen und eine Arbeitsstelle, an der sie sich wohl fühlt.

60

Das Interview – Erstkontakt Der Kontakt zu Emi wurde durch eine dritte Person vermittelt, die um Emis

Geschichte weiß. Diese Person informierte und befragte Emi zu der Thematik

und erhielt von ihr die Zusage, ihre Telefonnummer weiterzugeben.

Nach einem ersten Telefonat gab es ein kurzes Kennenlernen, Details zum

Interview und aller dazu notwendigen Informationen wurden per email

ausgetauscht. Es war eine Herausforderung für Emi, über ihre Geschichte zu

sprechen. In ihrer Studiengruppe wusste niemand darum, nur ihre Familie und

enge Freunde kannten ihre Geschichte.

Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde im Sudentenwohnheim, im Zimmer von Emi durchgeführt.

Emi wartete vor dem Heim, um den Weg zu zeigen. In ihrem Zimmer hatte sie

liebevoll ein Tablett mit Tee und einigen Kleinigkeiten angerichtet. Ihr Zimmer bot

den Anblick einer kleinen Ausstellung: an den Wänden hingen überall

gezeichnete und gemalte Bilder, die unter anderem Tiere lebensecht darstellten.

Auf Nachfrage berichtete Emi, diese Bilder selbst gemalt zu haben. Sie zeichnete

und malte aus ihrem Gedächtnis heraus. Was sie sich einmal genau angeschaut

und eingeprägt hatte, konnte sie ohne weiteres detailgetreu auf Papier bringen.

Nachdem die Technik vorgestellt und aufgebaut war und die

Datenschutzbedingungen besprochen und unterschrieben waren, war Emi recht

schnell für das Interview bereit. Sie wollte es gern hinter sich bringen, denn sie

war aufgeregt.

Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Als Emi noch in den Kindergarten ging, fiel niemandem auf, dass sie nur mit

ihrem Bruder und ihrer Freundin sprach. Auch Emi stellte nichts infrage, denn sie

kannte es nicht anders und fand es normal, dass ihr Bruder oder die Freundin für

sie das Sprechen übernahmen.

Mit dem Übergang in die Grundschule änderte sich dies schlagartig. Sie konnte

nur noch auf dem Schulhof mit ihrem Bruder sprechen, die Freundin war in eine

andere Schule gekommen. In der Klasse fand Emi wieder eine Freundin. Neben

dieser saß sie im Unterricht und die Freundin wurde ihr Sprachrohr. Manchmal

gelang es ihr, auch selbst etwas zu sagen.

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Mit dem Wechsel zum Gymnasium verlor Emi diese Stütze und fand in der neuen

Klasse keinen Anschluss. Sie konnte mit niemandem sprechen. Erst jetzt war das

Problem so groß, dass die Eltern informiert wurden. Zuvor glaubten sie, einfach

eine sehr schüchterne Tochter zu haben, die wenig sprach. Zu Hause kannten

sie ihre Tochter aufgeweckt und mitteilungsbedürftig. Sie konnte sich durchaus

lautstark etwas einfordern, vor allem, wenn sie mit etwas nicht einverstanden

war. Emi erzählte zu Hause eher viel, so dass ihre Eltern sie für ein ganz

normales und aufgewecktes, außerhalb der Familie schüchternes Kind hielten.

Dass sie in der Grundschule wenig sprach schien kein Anlass zur Sorge zu sein.

Für Emi war es in der Grundschule zwar schon schwer, mit den neuen

Herausforderungen umzugehen, aber es war „noch gut aushaltbar“ (Interview

Emi, Zeile 34). Sie fiel nicht sehr auf, da eher die lauten, teilweise aggressiven

Kinder ein Problem darstellten.

Im Gymnasium begann für Emi nun die schwerste Zeit ihres Lebens. Nicht in der

Lage, in sprachlichen Kontakt zu gehen, gingen einige Lehrer zunächst auf sie

ein. Sie erwarteten von Emi, dass sie ihnen ihr Problem schilderte, was Emi

jedoch unmöglich war. Manche Lehrer wurden dann wütend, sie unterstellten Emi

Trotzverhalten und stellten sie so manches Mal vor der Klasse bloß. Für nicht

erbrachte mündliche Leistungen bekam Emi Sechsen. Trotzdem hatte sie einen

guten Durchschnitt.

Mit der Zeit gaben auch die Mitschüler auf, zu Emi Kontakt zu suchen. Nach

anfänglichen Lästereien wurde aus dem Verhalten der Mitschüler Emi gegenüber

mehr und mehr Mobbing in verschiedenen Formen. Für Emi war die Zeit in der

Schule immer schwerer auszuhalten. Mit jedem Schritt, der sie morgens der

Schule näher brachte, stieg in ihr die Anspannung und bemächtigte sich ihrer

völlig. Sie fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden sie nicht in der Hand

hatte. Am schlimmsten war es für Emi, wenn Lehrkräfte sie ansprachen und von

ihr eine Antwort erwarteten. Emi konnte kein Wort herausbringen. Wenn es hoch

kam, konnte sie einen Blickkontakt für begrenzte Zeit aushalten. Manchmal

redeten die Lehrer dann hilflos und wütend auf Emi ein: „...ja und du denkst du

kannst dich vor allem drücken und kuck mich nicht mit deinen großen Augen an

und wenn du willst dass ich dir helfe dann musst du mit mir reden!“ (ebd.

Zeilen147-149).

Aber Emi konnte nicht reden. Sie konnte auch niemanden mehr anschauen. Sie

konnte sich gar nicht bewegen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über sich selbst.

62

Ihr Blick heftete sich wie automatisch an die Tischplatte und sie erstarrte am

ganzen Körper. Dann spürte sie oft gar nichts mehr. Oder ihr ganzer Körper

verkrampfte, der Hals war wie zugeschnürt und Emi hatte das panische Gefühl,

keine Luft mehr zu bekommen. Sie hatte panische Angst und jeder Versuch, ihre

Lippen zu öffnen um zu atmen, schien aussichtslos. Dann hörte Emi ihre

Umgebung nicht mehr, alles schien sich um sie herum zu drehen. Die Sätze der

Lehrer spulten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab. Sie wusste nicht,

ob sie diese nur in ihrer Wahrnehmung hörte oder ob die Lehrer immer noch auf

sie einredeten. Sie fühlte sich wie in einem Tunnel, einem großem schwarzen

Loch. Emi hatte auch kein Gefühl mehr für die Zeit. Gefühlt waren es Stunden,

die sie jedes Mal schmerzlich durchlebte. „Und es brach dann irgendwann alles

zusammen wenn das wieder weg war, der ganze Körper brach in sich zusammen

und denn hab ich meistens erst gemerkt dass meine Hände wieder blutig waren“

(ebd. Zeilen 178-180). Unter dieser großen, nicht auszuhaltenden Anspannung

bemerkte Emi nicht, dass sich ihre Fingernägel so stark in die Handflächen

gebohrt hatten, dass sie bluteten.

Emi war beschämt über die Wunden an ihren Händen. Von nun an beschnitt sie

ihre Fingernägel radikal und trug auch im Sommer nur Oberteile mit sehr langen

Ärmeln. Diese sollten als Schutz vor den Nägeln dienen, was aber nicht immer

gelang. Manchmal verrutschten die Ärmel und trotz ihrer Kürze bohrten sich die

Fingernägel wieder in die Handflächen. Emi wollte lieber wegen langer Pullover

im Sommer gehänselt werden, als für die sich selbst zugefügten Verletzungen.

Mit der Zeit wuchsen Emis Selbstzweifel immer mehr und sie glaubte nicht mehr

daran, ein ganz normales Kind zu sein. Sie vertraute sich nicht mehr selbst und

verstand nicht, warum sie nicht konnte, was alle können: ganz normal reden! Ihr

Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen nahmen immer weiter ab. Sie war

immer mehr der Überzeugung, mit ihr stimme etwas nicht und die anderen hätten

recht mit ihren Hänseleien und Beschimpfungen. Manchmal war sie voller Wut

auf sich selbst.

Oft konnte Emi nachts nicht schlafen. Dann joggte sie durch den nahe gelegenen

Park. Manchmal konnte sie durch die hohe Anspannung Tage lang nichts essen.

Ihr Bruder, der für sie immer eine wichtige Stütze war und der sie so akzeptierte

wie sie war, traf mit ihr eine Abmachung: Solange sie nicht unter 50 kg wog, sei

alles in Ordnung. Sollte sie weniger wiegen, würde er Alarm schlagen. Wenn das

Gewicht sich kurz vor der abgemachten Grenze bewegte, ließ er sich immer

63

etwas einfallen. Oft kochte er dann für sie oder mit ihr und so gelang es Emi, die

50 kg nicht zu unterschreiten. „Wie die Abmachung mit dem Essen

beispielsweise oder ich bin auch oft nachts laufen gegangen wenn ich nicht

schlafen konnte und der Druck wieder zu groß war und die Angst vor dem, was

dann am nächsten Tag kommt.“ (ebd. Zeilen 415-418)

Irgendwann war die Not so groß, dass sie wusste, diesen Weg nicht mehr weiter

gehen zu können. Am Ende ihrer Kräfte bat sie ihre Eltern darum, einen

Schulwechsel zu organisieren. Ihre Eltern waren nicht weniger verzweifelt und

hilflos. Sie fühlten sich durch die Schule ebenfalls stark unter Druck gesetzt.

Manchmal riefen Lehrer zu Hause an und verlangten von den Eltern, endlich mal

mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Sie waren der Meinung, dann würde Emi

funktionieren. Aber wenn sie sich über Emi beschwerten, stellten sich Emis Eltern

schützend vor ihr Kind. Sie wussten, dass Druck Emi nicht half, zu sprechen. Am

schlimmsten war für sie, dass sie überhaupt nicht wussten, wie sie ihrer Tochter

helfen konnten. Diese Verzweiflung auf Seiten ihrer Eltern spürte auch Emi sehr

deutlich und es belastete sie zusätzlich. Sie wollte nicht Grund der Verzweiflung

ihrer Eltern sein.

Um Fragen bezüglich der Umschulung aus dem Weg zu gehen, entschied Emi

sich für eine Realschule. Dann würde man vermuten, dass die Anforderungen im

Gymnasium einfach zu hoch wären und das als Grund für den Wechsel

annehmen. Das einzig Hilfreiche, was Emi von Seiten der Lehrkräfte benennen

konnte war, dass ihre damalige Lehrerin ihr dabei half, den Schulwechsel zu

vollziehen. Emis Lehrerin sprach mit der Direktorin und gab ihr einige schlechte

Noten, damit der Wechsel nach außen hin gerechtfertigt war. Emi wollte nur noch

weg, und zwar möglichst weit.

Emi hatte bereits an sich selbst beobachtet, dass es ihr manchmal gelang, in

völlig fremder Umgebung zu sprechen. Wenn sie mit Menschen noch keine

negative Kommunikationserfahrung gemacht hatte, schien es leichter zu gehen.

In der neuen Klasse wurde sie von der Klassenlehrerin am ersten Tag nach vorn

gebeten, um sich vorzustellen. Wieder wollte sich eine Starre ihres Körpers

bemächtigen, doch sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Eine neue Chance!

Nicht versagen! Bis jetzt hatten weder Emi noch ihre neuen Mitschüler und

Lehrer eine gemeinsame negative Erfahrung bezüglich Emis

Kommunikationsfähigkeiten. Niemand hier kannte die schweigende Emi. Dies

64

half ihr, nicht in völlige Panik zu geraten. Niemand würde sie jetzt hänseln oder

tadeln, weil er eine feste, vorgefasste Meinung von ihr hatte.

Nach vorn gehen konnte Emi nicht. Diese Anforderung war zu hoch. Aber es

gelang ihr, von ihrem Platz aus ein wenig zu sagen: „Das war unheimlich

gruselig, ich, ich konnt nich aufstehen, ich konnt nich vorgehen. Ich hab dann

aber gedacht okay, denn gehst du jetzt nich vor, egal was die denken. Soll die

Lehrerin da vorne stehen, das hat se mir bis heute noch übel genommen, dass

ich da nich vorgekommen bin und die hat‘s auch nie verstanden. Aber ich habs

hingekriegt denn zu sagen, ich hab mein Hasen gesehen, und denn hat man

angefangen zu reden. Hab so, ich weiß gar nicht höchstens drei Sätze gesagt

und damit wars dann gut.“ (ebd. Zeilen 217-225)

Emi hatte es geschafft, für sich einen Anfang zu machen. Es war der Anfang

ihres Sprechens vor der Klasse und einer Lehrerin. In relativ kurzer Zeit

entwickelte sie zu drei Mitschülern eine Freundschaft. Im Englischunterricht hatte

sie eine Lehrerin, die sensibel mit ihr umging und Mittel und Wege fand, um Emi

hin und wieder den Mut zum Sprechen zu geben.

Emi wollte mehr sprechen. Sie wollte sich und ihrer Umwelt beweisen, dass sie

es schaffen kann. Sie begann, ehrgeizig an ihrer Wahrnehmung zu arbeiten. Sie

hatte gelernt, sich selbst ebenso gut zu beobachten wie ihre Umgebung und

kannte ihre Stärken und das, was ihr half. Sie wusste, dass ihr vertraute Gerüche

und Geräusche Sicherheit gaben. Ihr Haustier, ein Zwergkaninchen, hatte für sie

eine besondere Bedeutung. Sie nannte es meistens ihren „Hasen“. Es fragte

nichts, es war da und schien zu spüren, wie es Emi ging. Manchmal brachte das

Kaninchen Emi etwas von ihren Sportsachen und dann joggten sie wieder

gemeinsam durch den Park. Joggen und Handball halfen Emi, ihre Leiden zu

kompensieren. In der Handballgruppe wurde sie akzeptiert, wie sie war.

In der Schule stellte sich Emi vor, ihr Hase würde vor ihr sitzen. Da ging schon

alles etwas leichter. Dadurch, dass sie ihn ihrer Vorstellung visuell fixierte, hatte

sie zum ersten Mal Kontrolle über ihre Augen, welche sich nicht mehr auf den

Tisch richteten um den Blick dort zu fixieren. Dann begann sie sich vorzustellen,

sie wäre auf ihrer Lieblingslichtung. Sie verwandelte nach und nach in ihrer

Vorstellung ihre komplette Umgebung. Nur ihre eng befreundete Banknachbarin

blieb darin, wie sie war. Alle anderen Schüler und auch Lehrer wurden zu

Büschen oder Bäumen auf der Lichtung. Ihr Hase war nach langer Übung nicht

mehr nur ein starres Bild, sondern hoppelte auf der Lichtung herum oder saß auf

65

ihrem Arm. Und mit dieser selbst gewählten, veränderten Wahrnehmung hatte

sie die Kraft, vor der Klasse Vorträge zu halten. Sie schaute auf ihre Lichtung und

nicht auf Menschen. Meldete sich jemand, nahm sie es so wahr, dass sich ein

Zweig eines Busches oder Baumes bewegte. Sie hatte auch gelernt, Geräusche

auszublenden und sich andere, Sicherheit gebende Geräusche „zu holen“. Dabei

musste sie flexibel sein und auch lernen, ihre selbst erzeugten Bilder, Gerüche

und Geräusche von den sie real umgebenden zu unterscheiden. Sie wusste

genau, welcher Schüler wo saß und in welcher Tonlage dieser sprach. Es gelang

ihr, nur diese Frequenz in ihrer Wahrnehmung zu zulassen und sie konnte

zuhören und antworten. Sie konnte alle Frequenzen an- und abschalten. „...wenn

sich jemand gemeldet hat dann hat der Ast vom Baum sich bewegt. Dann war

mir klar, ah, da will irgendjemand was sagen, ich schalt mal den einzelnen Kreis

hinzu und das ist dann so, ich kann das so ausschalten, Hintergrundgeräusche

hinzuschalten, was wegschalten, ganz einzig, einzelne Sachen. (...) Also ich

wusste ganz genau wer wo sitzt und wusste welche Tonlage spricht er, welche

Töne schalte ich jetzt zu.“ (ebd. Zeilen 314-319)

Niemand um sie herum ahnte, was in Emi vor sich ging. Sie wollte ganz normal

sein und tat alles, um nicht aufzufallen. Niemand wusste um ihre Probleme. Ihr

großes Ziel war es, zu reden. Eine typische Teanager-Zeit hatte Emi nicht. Sie

hatte andere Themen zu bewältigen: „Nicht das was andere Teanager machen

die sich dann, aussehen, ausgehen, Jungs, irgendwas, das waren Themen, die

gabs bei mir nicht. Das ist so`n Jugendbereich der eigentlich komplett

ausgelöscht ist.“ (...) „Man konnte halt nicht ausgehen, man konnte, hatte halt

keinen Freundeskreis und der hat einen auch nicht mit rausgenommen halt, wie

auch, wenn man nicht redet.“ (ebd. Zeilen 110-117)

Zusätzlich zu ihrem Umgang mit ihrer Wahrnehmung hatte Emi inzwischen noch

eine weitere Stütze gefunden: den christlichen Glauben. Als Einzelkämpferin ging

ihr im Gymnasium auch die letzte Kraft aus, um den Schulalltag auszuhalten.

Wenn sie Jesus ihre Probleme erzählte, konnte sie sich entlasten und sie fühlte

sich mit ihrer Last nicht mehr allein. Der Glaube gab ihr Mut und Kraft, nach vorn

zu blicken und auch wieder mehr an sich selbst zu glauben.

Ihre mündliche Prüfung für den Realschulabschluss bestand sie zitternd und

kreidebleich. Ihr war schrecklich übel und sie glaubt heute noch, dass die Lehrer

sie nichts mehr fragen mochten aus Angst, sie könnte zusammenbrechen. Aber

sie hatte es geschafft!

66

Im Anschluss machte sie ein Fachabitur, dann ein BA-Studium. Ihre Arbeitsstelle

suchte sie mit Bedacht. Sie weiß, dass sie nicht ein gutes Gehalt oder ähnliche

Gründe als Entscheidungsgrundlage nutzen kann. Für sie war es wichtig, sich in

der Umgebung und im Team sicher und gut aufgehoben zu fühlen. Sie weiß,

dass sie immer auf sich achten muss.

Emi möchte ihre Erfahrungen nicht missen, sie haben sie zu dem gemacht, was

sie heute ist. Aber sie wünscht sich, dass mehr Menschen, vor allem

professionelle Kräfte wie Erzieher, Lehrer und Ärzte über dieses Störungsbild

Bescheid wissen und betroffenen Kindern gegenüber nicht mehr feindselig

auftreten. Aus Emis Sicht sollten den Eltern früh mögliche Symptome mitgeteilt

werden, anhand derer das Störungsbild erkannt und dann behandelt werden

kann. Auch die Klasse sollte aufgeklärt werden, damit die Mitschüler Verständnis

aufbauen können. Sie hofft, dass man dann weiß und akzeptiert, dass diese

Kinder nicht aus Trotz schweigen, sondern wirklich reden möchten und dabei

professionelle Hilfe brauchen. Betroffene Kinder sollten früh Hilfen erhalten,

damit für sie nicht so ein schwieriger Lebensweg entsteht, wie Emi ihn gegangen

ist. Emi hofft, dass, durch mehr Wissen und eine größere Bekanntheit der

Thematik, anderen Kindern vieles erspart bleibt. „Aber ich wünsch mir halt, dass

es für andere einfacher gemacht wird. Dass nicht jeder erst diesen schweren

Felsbrocken auf sich drauf kriegt und den selber tragen muss.“ (ebd. Zeilen 624-

626)

Das Interview dauerte 34 Minuten. Es wurden über 6.400 Wörter gesprochen,

von denen Emi den Hauptsprechanteil hatte.

Zusammenfassung Emis Schweigen fiel erst im Gymnasium so auf, dass ihre Eltern zu Rate

gezogen wurden. Sie fand in der Klasse keinen Anschluss und niemand ergriff für

sie, wie vorher ihr Bruder oder eine Freundin, das Wort. Lehrer unterstellten ihr

Trotzverhalten und für nicht erbrachte mündliche Leistungen erhielt sie Sechsen.

Von den Mitschülern wurde sie inzwischen auf unterschiedlichste Art gemobbt.

Nach einigen Jahren hatte Emi Symptome einer Essstörung und litt unter langen

Wachphasen, wenn sie nachts voller Angst an den nächsten Tag dachte. Wenn

sie Sprechblockaden, begleitet von Panik und Kontrollverlust hatte, verkrampfte

sich ihr Körper so sehr, dass ihre Fingernägel in den Handinnenflächen blutende

Wunden hinterließen. Ihr Selbstwertgefühl war ihr verloren gegangen und sie

67

war manchmal wütend auf sich selbst und darauf, dass sie nicht so war wie

andere.

Am Ende ihrer Kräfte bat Emi ihre Eltern um einen Schulwechsel. Sie wollte weit

weg ganz neu beginnen. Um Nachfragen zu entgehen, entschied sie sich für eine

Realschule und verzichtete auf die Möglichkeit, ihr Abitur innerhalb der

geregelten Schulzeit zu machen.

Emis Eltern – selbst hilflos und verzweifelt – unterstützten sie in ihrem Vorhaben.

In der neuen Klasse gelang es Emi, am ersten Tag einige Sätze vor der Klasse

zu sagen. Sie fand Freunde. Und um ihrem größten Ziel, dem Ziel zu reden,

näher zu kommen, trainierte sie ehrgeizig und kontinuierlich ihre Wahrnehmung.

Sie baute eine Welt um sich herum auf, die alles, was bedrohlich auf sie wirkte,

ausblendete. Statt Schüler, Lehrer und das Klassenzimmer sah, hörte und roch

sie die Dinge, die ihr Sicherheit vermittelten. Das waren ihre Lieblingslichtung, ihr

Zwergkaninchen und eine Freundin. Emi lernte sogar, einzelne Frequenzen für

sich akustisch „freizuschalten“ und wieder „wegzuschalten“. Dafür hatte sie keine

Pubertät wie andere Jugendliche. Sie ging nie aus, die typischen Themen dieses

Alters gab es für sie nicht.

Ihre größten Stützen neben ihrer Fähigkeit der Wahrnehmungsveränderung

waren ihr Bruder, ihr Kaninchen und ihr christlicher Glaube, zu dem sie fand.

Emi wünscht sich, dass das Störungsbild bekannter wird, dass betroffenen

Kindern nicht mehr feindselig begegnet wird und mehr Wissen verbreitet wird

über das Thema. Kinder sollten möglichst früh Hilfen bekommen um nicht das

durchzumachen, was sie erlebte.

9.1.7 Emis Familie

Mit Emis Familie konnte telefonisch Kontakt hergestellt werden. Ein kurzes

Interview wurde mit allen Beteiligten am Telefon durchgeführt.

Emis Mutter Emis Mutter erkannte sich selbst im Verhalten ihrer Tochter wieder. Aber sie hielt

Emis Schweigen in der Öffentlichkeit nicht für ein Problem. Sie hatte zwar

bemerkt, dass ihre Tochter in der Öffentlichkeit kaum sprach, sah es aber erst in

der Schulzeit als Problem. Als es in der Schule zu immer größeren Problemen

kam, wurde sie kontaktiert und zu Elterngesprächen eingeladen. Die Lehrer

68

erwarteten von ihr in der Regel eine Lösung für das Problem, aber sie hatte

keine. Sie kannte selbst sehr gut das Gefühl, nichts sagen zu können. Leider

fasste die Schule Emis Schweigsamkeit als Trotzreaktion auf.

Das Schweigen ihrer Tochter machte die Mutter hilflos. Sie konnte ihre Tochter

gut verstehen, auch wenn das Problem bei ihr selbst weniger extrem aufgetreten

war. Trotz ihrer eigenen Erfahrungen wusste sie nicht, wie sie ihrer Tochter helfen

konnte. Vieles drehte sich um Emis Schweigen in der Familie und Emis Mutter

zweifelte oft an ihrer Erziehung.

Emis Vater Wirklich bewusst wurde ihm das Problem erst in der Schulzeit, als sich die Lehrer

hilfesuchend an ihn wandten. Er hörte erst vor einigen Jahren durch seine

Tochter von selektivem Mutismus. Bis dahin wusste er nicht, dass seine Tochter

kein Einzelfall ist und dass das Problem einen Namen hat.

Die Schule wurde durch Emis Schweigen vor ein Problem gestellt. Von ihm

wurde eine Lösung dafür verlangt. Die Schule rief immer wieder an und

verlangte, dass er zu Hause mal hart durchgreifen soll. Sie waren davon

überzeugt, dass sich so Emis Trotzverhalten legen würde. Bei solchen Angriffen

von Seiten der Lehrer stellte er sich schützend vor seine Tochter. Er wusste, dass

Druck nicht half, aber Zweifel blieben zurück.

Emis Vater fühlte sich hilflos. Er wollte seiner Tochter gern helfen, wusste aber

nicht wie. In seiner Ratlosigkeit wünschte er sich Hinweise von seiner Tochter,

was er tun könnte um ihr zu helfen. Er hätte alles für sie getan, um sie zu

schützen, wenn er nur gewusst hätte, was. Er stand vor einem unlösbaren Rätsel

und zweifelte oft an seiner Erziehung und seinem Verhalten ihr gegenüber. Er

verstand nicht, was er falsch machte und warum sie ihm nicht vertraute und ihm

einfach erzählte was los war. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass man,

auch, wenn man es will, nichts sagen kann. Seine Frau versuchte ihm oft zu

erklären, wie es sich für sie früher angefühlt hat, aber er fühlte sich einfach

hilflos.

Emis Bruder Emis Bruder hatte und hat eine enge Beziehung zu seiner Schwester. Wann ihm

ihr Schweigen bewusst aufgefallen war, weiß er heute nicht mehr. Er erinnert sich

69

daran, schon im Kindergarten das Sprechen für Emi übernommen zu haben.

Meist genügte ein Blick, um sich zu verständigen.

Er kannte seine Schwester in der Öffentlichkeit nur schweigend, für ihn war es

normal. Auch, dass er sie beschützte als großer Bruder, darüber hatte er sich nie

Gedanken gemacht. Sorgen machten ihm allerdings die körperlichen

Nebenerscheinungen. Sie aß immer weniger und machte immer mehr Sport. So

kam es zu einer Abmachung zwischen den Geschwistern. Solange eine fünf als

erste Zahl auf der Waage stand, war alles in Ordnung. Sie hatten nie darüber

gesprochen, was sonst passieren würde, es war nicht nötig. Er kontrollierte auch

nie ihr Gewicht, sondern vertraute ihr voll.

9.1.8 Sarah

Sarah ist heute 12 Jahre alt und wurde von der gleichen Logopädin begleitet wie

Max. Im Frühjahr 2014 konnte Sarah die Therapie mit der Option beenden, bei

Bedarf wieder zu kommen. Sie wurde ca. drei Jahre logopädisch begleitet,

innerhalb dieser drei Jahre wurden einige Pausen eingelegt.

Sarah nahm auch häufig an den Angehörigentreffen teil. Zu ihren

Therapiestunden bemühte sich die Logopädin ebenfalls, zusätzliche Kontakte zu

organisieren. Zudem arbeitete die Logopädin mit Sarahs Lehrerin zusammen.

Die Therapiestunden von Sarah wurden ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit

begleitet.

Therapie und Angehörigentreffen Sarah wurde von ihrer Mutter zu den Therapien und Angehörigentreffen begleitet.

Zu den Angehörigentreffen begleitete sie zusätzlich auch oft ihre Tante (die

Schwester der Mutter), welche zwar nicht diagnostiziert war, aber ebenfalls die

Symptome für selektiven Mutismus aufwies. Sarah war die Jüngste von allen. Sie

hielt sich selbst immer sehr zurück, war dabei immer freundlich und in ihrem

Verhalten angepasst. Aufgegebene Hausaufgaben erledigte sie in der Regel

vorbildlich. Sie erhielt zum Beispiel die Aufgabe, sich häufiger zu melden in der

Schule oder auch, etwas vor der Klasse vorzutragen und das vorher mit der

Lehrerin zu besprechen. Manchmal brauchte sie länger als eine Woche, um ihre

Aufgabe zu erfüllen. Der Mut, den sie aufbringen musste, war nicht immer gleich

zur Stelle.

70

Einmal las sie bei einem Angehörigentreffen, ermutigt durch ihre Mutter, ein

selbst geschriebenes Gedicht vor. Sie erntete Beifall und Anerkennung. Auch

wenn sie nicht gern im Mittelpunkt stand, schien sie sich über diese Zuwendung

zu freuen. Hinter einem verhaltenen Lächeln strahlten ihre Augen kurz auf.

Das Interview – Rahmenbedingungen Das Interview wurde bei Sarah zu Hause durchgeführt. Die Mutter berichtete,

dass Sarah vorher schlechte Laune zeigte und eine Abwehr bezüglich des

herannahenden Termins. Zur Begrüßung und Kontaktaufnahme reagierte Sarah

jedoch freundlich und konnte Blickkontakt aufnehmen und halten.

Interview – Inhalt (journalistisch zusammengefasst) Nachdem mit Sarahs Mutter die Datenschutzbestimmungen besprochen und

unterschrieben wurden, wurde die Technik auf dem Wohnstubentisch aufgebaut.

Es wurde ein kleines, aber qualitativ hochwertiges Aufnahmegerät benutzt. Sarah

setzte sich mit an den Tisch und ihre Mutter verließ den Raum. Die Technik und

das Interview wurden noch einmal kurz erklärt. Sarah wurde mitgeteilt, dass es

sehr mutig von ihr war, ein Interview zu geben, und ihr Wurden Dank und

Anerkennung dafür ausgesprochen.

Sarah war sehr freundlich und ging während des Gespräches immer wieder in

Blickkontakt. Trotzdem wirkte sie sehr angespannt und erweckte den Eindruck,

das Ende des Interviews herbeizusehnen. Sie sprach sehr leise. Das

Aufnahmegerät wurde ganz nah zu ihr gestellt, damit ihre Stimme zu hören war.

Sarah selbst berichtete aus ihrer Kindergartenzeit: „Manche hatten zu mir gesagt

dass (...) ich manchmal so leise spreche und dann dacht ich das halt auch und

denn blieb das immer so (...) ja“ (Interview Sarah, Zeilen 9,10). Sarah sagte, dass

sie nur mit Jungs nicht sprechen konnte. Auf Nachfrage, ob sie denn mit

Erwachsenen sprechen konnte, antwortete Sarah: „(...) mit denen hab ich nur

(....) guten Morgen und tschüss gesagt“ (ebd. Zeile 23). Zu Hause konnte sie

ganz normal sprechen. Kamen Verwandte dazu, war es nicht immer einfach,

weiter zu sprechen. Manche kannte Sarah nicht so direkt, berichtete sie. Dann

konnte Sarah nur auf Fragen antworten. Sarah wurde gefragt, ob das belastend

für sie gewesen war. „(...) Manchmal so´n bisschen. (..)“ (ebd. Zeile 33)

antwortete sie. Sarahs Blick senkte sich immer wieder abwartend, dabei saß sie

71

kerzengerade auf ihrem Sessel, die Hände im Schoß haltend. Bei jeder Frage

ging sie wieder in Blickkontakt und lächelte immer freundlich, wenn sie

antwortete.

Sarah berichtete von ihren Freundinnen, die für sie die Sprache übernommen

hatten wenn Jungs sie etwas gefragt hatten: „(...) Wenn mich zum Beispiel Jungs

irgendwas gefragt haben, und dann hab´n meine Freundinnen immer für mich

geantwortet, weil die irgendwie schneller waren und dann (...) dachten die alle ich

könnte nicht sprechen, so.“ (ebd. Zeilen 35-37) Als sie nach weiteren Problemen

befragt wird wie Bauchweh, Kopfschmerzen, Ängsten, nicht schlafen können

usw. kann sie sich an derartige Dinge nicht erinnern.

Den Übergang in die Schule empfand Sarah in den ersten Wochen noch ganz

normal. Da hatte sie sich normal verhalten, aber dann sei sie irgendwie immer

leiser geworden. Lehrer und Schüler habe vorsichtig reagiert und z.B. für sie

geantwortet. Die Lehrer haben immer aufgepasst, dass sie sich verbessert.

Sarah fühlte sich von ihnen unterstützt. Auf Nachfrage, ob das bei allen Lehrern

so sei, sagte Sarah „(.) Nicht so richtig. (...)“ (ebd. Zeile 55).

Ein Junge in der Klasse reagierte immer anders als die anderen Kinder. Er wurde

aggressiv, wenn sie ihm nicht antwortete. Sarahs Stimme zitterte, als sie das

Thema ansprach. Ihre Freundinnen versuchten sie zu beschützen. Wenn die

Lehrer es bemerkten, griffen auch diese ein. Mündliche Leistungen wurden im

Wesentlichen nicht abverlangt. Ob sie darüber froh war, konnte Sarah nicht

sagen, denn darüber habe sie nicht nachgedacht. Manchmal hat Sarah versucht,

in der Schule lauter zu sprechen. Sie meldete sich und sprach etwas lauter. Das

war ihr Versuch, etwas zu ändern an der Situation. Auf die Frage, ob das schwer

gewesen sei sagte Sarah: „(...) Es ging einigermaßen.“ (ebd. Zeile 80)

Als die Logopädie begann, strengte Sarah sich in der Schule an und sprach auch

mehr mit anderen. Wer die Logopädie in die Wege geleitet hatte, wusste Sarah

nicht. Aber Freunde und die meisten Lehrer halfen ihr zusätzlich. Auf die Frage,

ob jemand aus der Familie die Logopädin oder auch erstmal einen Arzt

aufgesucht hätte, antwortete Sarah: „So´n bisschen.“ (ebd. Zeile 90) Ob es

hilfreich war gab sie mit „(...) Eigentlich schon. (...)“ an (ebd. Zeile 104).

Sarah war neun Jahre alt, als sie mit der Logopädie begann. Sie wurde innerhalb

der Therapien manchmal einkaufen geschickt und es wurde geübt, lauter zu

sprechen. Sarah konnte nichts benennen, was wenig oder gar nicht hilfreich war.

Sie fühlte sich so angenommen, wie sie war. Auf die Frage, was sie sich für

72

andere betroffene Kinder wünscht, antwortet sie schnell und flüssig: „Dass die zu

einer Therapie gehen können und denen geholfen wird.“ (ebd. Zeile 123)

Zusammenfassung Sarah bemerkte durch andere in der Kindergartenzeit, dass sie sehr leise sprach.

Erwachsene wurden nur begrüßt und verabschiedet, mit Jungen konnte sie gar

nicht sprechen. In der Schule übernahmen Freundinnen für sie in der Regel die

Sprache. Sie fühlte sich von den meisten Lehrkräften unterstützt. Mit neun Jahren

nahm sie eine logopädische Begleitung in Anspruch. Das motivierte sie, sich in

der Schule mehr anzustrengen und sich sprachlich mehr zuzutrauen. Inzwischen

meldet sie sich häufiger und spricht lauter und auch mit mehreren anderen

Menschen. Sarah wünscht sich für andere betroffene Kinder, dass diese eine

Therapie in Anspruch nehmen können.

Über weitere Belastungen oder darüber, wie es ihr mit verschiedenen Dingen

ging, konnte sie keine klaren Aussagen machen.

Das Interview dauerte 11 Minuten. Es schien auf beiden Seiten der Wunsch zu

bestehen, die angespannte, wenn auch freundlich gestaltete Situation beenden

zu wollen, um Sarah nicht zu viel zuzumuten. Sarahs Stimme war so leise, dass

das Interview in einem Tonstudio nachbearbeitet werden musste, um es

verstehen zu können.

9.1.9 Sarahs Mutter

Durch die Therapien und Angehörigentreffen konnte der Kontakt aufgebaut

werden. Sahras Mutter stimmte ebenso wie Sarah dem Interview zu.

Vorgespräch Die Mutter berichtete Im Vorgespräch, dass es schon im Kindergarten

Auffälligkeiten gegeben habe. Der Umgang der KiTa mit dieser Problematik habe

sie sehr gekränkt und sie habe das Vertrauen in die Erzieherin verloren. Aus

einem Entwicklungsbericht, zu dessen Zeitpunkt Sarah sechs Jahre und drei

Monate alt war, geht hervor, dass das Mädchen aufgrund andauernder

psychosozialer und sprachlicher Auffälligkeiten nach zwei Jahren die Gruppe

wechseln musste und ab dem Alter von fünf Jahren in einer integrativen Gruppe

73

betreut wurde. Sie wurde beschrieben als weiter unumgänglich und sich anderen

Gruppenmitgliedern und Erziehrinnen gegenüber fast nur auf Aufforderung hin

äußernd. Dies geschehe sehr leise und meistens in Ein- bis Zweiwortsätzen. Vor

allem bei körperlicher Nähe scheine sie sich unwohl zu fühlen lehne dies daher

ab. Komme ein weiteres Kind zu dem in der Regel fest gewählten Spielpartner

hinzu, ziehe sich Sarah zurück. Wünsche und Bedürfnisse äußere sie auch nicht.

Sie zeige Unsicherheiten in der Planungs-, Entscheidungs- und

Handlungsfähigkeit und könne so ihre Fähigkeiten in der Regel nicht anwenden.

Auf ihre Mitmenschen wirke Sarah wie ein nicht sprechendes Kind.

Zu Hause würde sie nach Aussage der Mutter normal sprechen, wenn niemand

anderes dazu käme, denn dann verfiele sie wieder ins „Schweigen“ und wirke

angespannt. Blickkontakt werde ebenfalls vermieden. Die Gefühlsäußerungen

von Sarah seien sehr minimal, Blickkontakt und Gestik würden zum Teil sehr

monoton und ausdruckslos wirken und mimische Bewegungen seien kaum

vorhanden. Die KiTa erkannte, dass Sarah Aufgaben verstand und gut umsetzte

und vermutete so keine kognitiven Defizite. Sie empfahl eine Diagnostik und

Einschätzung durch Fachärzte.

Die Art des Umgangs mit der Problematik konnte die Mutter schwer annehmen.

Wohl aber wollte sie für ihre Tochter adäquate Unterstützung. Sie kannte solche

Verhaltensweisen aus der Familie, ihre Schwester sei ihrer Meinung nach

ebenso betroffen.

Das Interview Zunächst wollte die Mutter ebenfalls ein Interview geben. Als sie erfuhr, dass das

Gesagte dann wörtlich niedergeschrieben wird, lehnte sie dies auch bei der

Zusicherung einer Nichtveröffentlichung ab. Ihr war der Gedanke einfach

unangenehm. Sie fragte, ob sie das Interview nicht schriftlich geben könne. Dies

wurde ihr zugesichert. Ein Fragebogen wurde, angelehnt an den Interviewbogen,

ausgearbeitet und ihr zugesendet.

Sarahs Mutter hatte schon im Vorgespräch und einem danach folgenden

Gespräch wahrgenommen, dass diese Erinnerungen sie emotional stark

aufwühlten. Aufgrund ihrer seit kurzer Zeit bestehenden Schwangerschaft sorgte

sie sich um das Wohlergehen des ungeborenen Kindes, da sie wusste, dass die

Auseinandersetzung mit der Thematik bei ihr alte negative, sehr belastende

Gefühle auslösten. Sie entschied sich aus diesem Grund, sich zu diesem

74

Zeitpunkt dieser Thematik nicht zu stellen um ihre Schwangerschaft nicht mit

zusätzlichen Stresshormonen zu belasten.

9.2 Vergleiche zwischen den Betroffenen

Die Betroffenen sollen im Folgenden vor allem zu den drei Forschungsfragen

untereinander verglichen werden. Dabei werden auch die Informationen aus den

Interviews mit den Angehörigen genutzt.

Wann fiel es den Betroffenen selbst auf, dass sie Schwierigkeiten in der Kommunikation hatten? Während Sarah und ihre Mutter schon im Kindergarten von anderen die

Rückmeldung bekam, dass Sarah zu leise und zu wenig sprechen würde,

begannen die selbst empfundenen Schwierigkeiten für Emi und Max mit dem

Übergang in die Schule. Emi konnte gut erläutern, dass zwar schon im

Kindergarten ihr Bruder und ihre Freundin für sie das Sprechen übernahmen,

dass sie das aber nicht anders kannte und es somit ganz normal fand. Erst in

der Schule mit den neuen Anforderungen wurde es schwieriger. Max benennt

ebenfalls eindeutig den Übergang in die Schule und die damit verbundenen

höheren Anforderungen.

Gab es professionelle Hilfen? Wenn ja, wann gab es diese und wie wirkten sie sich auf die Entwicklung der Betroffenen aus? Sarah und Max erhielten schon im Kindergarten Hilfe. Da zunächst niemand das

Störungsbild kannte und so auch nicht adäquat einordnete, wurde mit den

betroffenen Kindern und ihren Familien nach dem vorhandenen Wissensstand

gearbeitet.

Sarah erhielt erst einige Jahre später, im Alter von neun Jahren, adäquate Hilfe.

Die logopädische, speziell auf selektiven Mutismus abgezielte Therapie erwies

sich als erfolgreich und Sarah konnte sie zunächst nach drei Jahren beenden.

Für Max wurden verschiedene Hilfen initiiert. Die erste adäquate Hilfe, die

seinem Störungsbild gerecht wurde, erhielt er mit 23 Jahren. Zuvor erhaltene

Therapien und Beratungen waren offensichtlich wenig bis gar nicht hilfreich und

wurden von Max zum Teil sogar als sehr negativ empfunden. Möglicher Weise

trugen sie zur Manifestation des Störungsbildes bei.

75

Das Verhalten der pädagogischen Seite (Erzieher, Lehrer) kann sehr

unterschiedlich bewertet werden. Sarahs Schweigen fiel im Kindergarten auf. Die

Betreuungseinrichtung bat die Mutter, eine Diagnostik durchführen zu lassen.

Emi fiel im Kindergarten gar nicht auf. Max erhielt Hilfen durch seine Mutter, die

ihre Umgebung sensibilisierte.

In der Grundschule hatte Max die ersten großen Probleme nach einem

Lehrerwechsel. Die Empfehlung zur Förderschule entsprach weder seinem

Leistungsvermögen noch seinem Störungsbild. Während Emi auf dem

Gymnasium von Lehrkräften zurück gewiesen wurde und Mobbing durch ihre

Mitschüler erlebte, fühlten sich Sarah und Max durch ihre Lehrkräfte

weitestgehend unterstützt. Max blieb durch die Vorgaben des Schulamtes ein

Abitur verwehrt. Emi verließ das Gymnasium, da sie dem emotionalen Druck

nicht mehr gewachsen war.

Die Einweisung in eine Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie half Max

nicht, sein Schweigen zu überwinden. Vielmehr ging es ihm zunehmend

schlechter, so dass seine Mutter die Behandlung einige Wochen früher abbrach.

Trotz seiner zuvor guten Leistungen musste er durch diesen Aufenthalt eine

Klasse wiederholen und konnte nicht in seine alte Klasse zurück.

Emi erhielt überhaupt keine professionellen Hilfen und wurde in ihrem

Störungsbild von niemandem erkannt. Sie überwand ihr Schweigen aus eigener

Kraft.

Eine kurze Übersicht der installierten Hilfen zeigt die folgende Tabelle. Dabei sind

die Hilfen grün und fett gedruckt, die gezielt und erfolgreich den selektiven

Mutismus behandelten.

76

Tabelle 4: Übersicht über installierte Hilfen der Betroffenen

Max Sarah Emi

Logopädie

(Vorschulalter)

Integrativgruppe

(Vorschulalter)

Keine Hilfen,

keine Diagnostik

Psychologische

Beratung der Mutter

(Vorschulalter)

Empfehlung einer

Diagnostik

(Vorschulalter)

Diagnostik:

„selektiver Mutismus“

(5.Klasse)

Logopädie mit Ausrichtung auf selektiven Mutismus

(mit 9 Jahren)

Psychologische

Begleitung (5.Klasse)

IQ-Test (zwischen dem

10.u.12. Lebensjahr)

Ergebnis: besonders

sprachlich begabt

Tagesklinik für Kinder-

und Jugendpsychiatrie

(6. Klasse)

Heilpädagogische

Begleitung (ab 7. Klasse)

Logopädie mit Ausrichtung auf selektiven Mutismus (mit 23 Jahren)

77

Tabelle 5: Was die Betroffenen selbst als hilfreich bezüglich der Überwindung des selektiven Mutismus benennen konnten

Max Sarah Emi

Logopädie mit

Ausrichtung auf

selektiven Mutismus

(mit 23 Jahren)

Logopädie mit

Ausrichtung auf

selektiven Mutismus

(mit 9 Jahren)

Zwergkaninchen

(keine Altersangabe)

Finden zum christlichen

Glauben (keine

Altersangabe, aber vor

dem Schulwechsel)

Emis Bruder

Emis Eltern

Emis Kraft und Fähigkeit,

ihre Wahrnehmung zu

verändern

Handball und joggen

Was ist aus Sicht der Betroffenen wichtig im Bezug auf das Störungsbild? Max wünscht sich, dass vor allem auch auf professioneller Seite mehr

Verständnis für dieses Störungsbild herausgebildet wird. Die Vorurteile, dass es

sich hier um Machtkampf handeln würde oder alles ein Zeichen familiärer

Probleme sei, sollten endlich abgebaut werden.

Emi betrachtet vor allem feindseliges, zurückweisendes Auftreten selektiv

mutistischen Kindern gegenüber als kritisch. Ihnen Trotzverhalten zu unterstellen

und dieses zu ahnden, sieht sie als besonders problematisch. Sie glaubt, dass

die betroffenen Kinder – genau wie sie eins war – sprechen wollen und selbst

unter ihrem Schweigen am meisten leiden. Sie hofft, dass das Störungsbild

bekannter wird und dass Pädagogen sowie medizinische Fachkräfte es dadurch

erkennen und diagnostizieren können. So können sie Eltern informieren und den

Kindern zu adäquaten Therapien verhelfen.

Sarah wünscht, dass betroffene Kinder eine Therapie machen können.

78

Zusammenfassend besteht der Wunsch nach Aufklärung, Verständnis und

therapeutischen Möglichkeiten.

Zusammenfassung Deutlich wird hier wieder die Bedeutung von Übergängen. Der Eintritt in die

Schule war für Emi und für Max der Beginn einer für sie besonders schwierigen

Zeit. Dies zeigt auf, wie wichtig eine Früherkennung dieses Störungsbildes ist.

Die Voraussetzung dafür ist, dass pädagogische Fachkräfte über das hierfür

notwendige Wissen verfügen. Symptome, wie unter Punkt 4 beschrieben, lassen

sich teilweise in Kinderbetreuungseinrichtungen, teilweise in der Häuslichkeit

beobachten. Die richtige Zuordnung der pädagogischen Fachkraft kann eine

differenzierte Diagnostik unterstützen und dazu beitragen, dass frühzeitig

adäquate Hilfen installiert werden. In Zusammenarbeit mit diesen können

betroffene Kinder und ihre Familien professionell und effektiv unterstützt werden.

Sarah wartete ca. fünf Jahre, bis sie in ihrem Störungsbild erkannt und gezielt

darauf therapiert werden konnte. Max, dessen Mutter schon ab dem

Kleinkindalter Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Therapeuten aufsuchte,

konnte erst mit ca. 12 Jahren auf „selektiven Mutismus“ diagnostiziert werden.

Auf eine adäquate, darauf ausgerichtete Therapie musste er weitere 11 Jahre

warten. Emi und ihre Familie fanden gar keine Hilfe. Durch Zufall stieß Emi selbst

im Internet auf die Thematik und setzte sich mit ihr auseinander. Emi hatte die

Kraft, sich selbst aus ihrem Gefängnis des Schweigens zu befreien.

Hilfreich waren bei allen Betroffenen ihre Herkunftsfamilie und Freunde. Dies

unterstreicht die Aussagen von Bauer, der soziale Beziehungen als Schutzfaktor

gegenüber der Aktivierung von Stressgenen angibt (Bauer 2011).

In zwei von drei Fällen wurden die Lehrkräfte als hilfreich empfunden, in einem

Fall eher Druck ausübend und ablehnend dem Kind und seiner Familie

gegenüber. Emis größte Hilfe war ihr Hase, was einen interessanten Aspekt

bezüglich tiergestützter Therapie bietet. Ihr christlicher Glaube, die Kontrolle über

sich selbst durch ihr Training an ihrer Wahrnehmung sowie der Sport halfen

neben der wichtigen Säule Familie. Damit ist sie vielleicht eine Ausnahme, denn

die Literatur und auch die Beobachtungen im Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass

selektiv mutistsiche Menschen eher einen geringeren Bewegungsdrang

verspüren. Wie aus Tabelle 5 (s.o.) ersichtlich wird, erlebte sie im Vergleich zu

Sarah und Max auch die höchste Selbstwirksamkeit.

79

9.3 Vergleich der Angehörigen untereinander

Wann und wie ist eine Betroffenheit aufgefallen? Sarahs Mutter wurde von der zuständigen Erzieherin im Kindergarten

sensibilisiert. Die Symptome konnten jedoch keinem Störungsbild zugeordnet

werden.

Ina, die Mutter von Max, bemerkte schon im Kleinkindalter, dass Max

Verhaltensauffälligkeiten zeigte. Es konnte ihr aber niemand sagen, wie diese

einzuordnen waren.

Emis Eltern wurden erst im Gymnasium von den Lehrkräften auf

Verhaltensauffälligkeiten ihrer Tochter aufmerksam gemacht. Emis Bruder stellte

das Schweigen seiner Schwester nicht infrage, da er sie nicht anders kannte. Er

sorgte sich später um Begleiterscheinungen, z.B. dass Emi kaum aß und immer

mehr Sport trieb, um den erlebten Stress zu kompensieren.

Gab es professionelle Hilfen? Wenn ja, wann gab es diese und wie wirkten sie sich auf die Entwicklung der Betroffenen aus? Die Hilfen wurden bereits unter 9.3 aufgeführt. Die betroffenen Eltern fühlten sich

in ihrer Suche nach Hilfe oft ratlos und hilflos. Auch verschiedene Fachkräfte

konnten über Jahre die Symptome der Kinder nicht zuordnen. Besonders Ina litt

mit ihrem Sohn mit, als dieser in der Tagesklinik offenbar ungute Erfahrungen

machte. Emis Eltern fanden gar keine Hilfe. Vor allem Emis Eltern und Ina fühlten

sich oft hilflos und zweifelten an ihren Fähigkeiten im Umgang mit ihren Kindern.

Was ist aus Sicht der Angehörigen im Bezug auf das Störungsbild wichtig? Ina hält Aufklärung und Weiterbildung der Fachkräfte für notwendig. Sie hofft,

dass diese den betroffenen Kindern dann fachlich kompetenter begegnen und

auch die Eltern für die Thematik sensibilisieren können. Eine individuelle, den

Besonderheiten des jeweiligen Kindes gerecht werdende Förderung hält sie

ebenfalls für wichtig. Auch für Angehörige wünscht sie sich Hilfe in Form von

Austauschmöglichkeiten. Ein Netzwerk und Therapiemöglichkeiten vor Ort wären

aus ihrer Sicht eine gute Idee.

Emis Eltern bemängelten, dass niemand wusste, was mit Emi los war und dass

ihnen niemand raten konnte, wie Emi zu helfen sei.

80

Sarahs Mutter erfuhr erst in einem Entwicklungsbericht, wie problematisch

Sarahs Verhalten einzuordnen war und konnte die Form der Information nicht

annehmen. Gespräche und Rückmeldungen vor einer Verschriftung hätten ihr

eher das Gefühl gegeben, dass gemeinsam nach einer Lösung würde.

9.4 Vergleich zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen

Deutlich wird hier, wie wenig ein selektiv mutistischer Mensch über sich selbst

und seine Gefühle mitteilen kann. Möglich ist auch, dass bestimmte

Erinnerungen nicht mehr vorhanden sind. Dass dauerhaft erlebter Stress sich auf

die Konzentration und das Erinnerungsvermögen auswirken kann, wird unter

7.3.3 beschrieben. Ebenfalls kann vermutet werden, dass die Fragen im

Interview bestimmte Erinnerungen und Gefühle auslösten, die ein sich weiter

Erinnern blockierten. Was neben der Schwierigkeit, zu sprechen, genau der

Grund für die so unterschiedlich umfangreichen und detaillierten Schilderungen

sein kann, kann nur vermutet werden. Es ist für dieses Störungsbild typisch und

auch eine der Herausforderungen im therapeutischen Kontext.

Max und seine Mutter Durch Inas Interview wird sehr deutlich, wie wenig Max aus seiner Biografie

erzählte. Für Max war es sehr viel, was er gegenüber einer wenig vertrauten

Person äußerte. Ob er sich an bestimmte Informationen, die Ina für wichtig hielt,

nicht erinnern oder sie nicht preisgeben konnte, oder ob er sie für nicht relevant

hielt, wurde nicht erfragt. Emotionale Belastungen, die zum Teil mit einem hohen

Verlust an Körpergewicht einhergingen, wurden nur von Ina benannt. Max spricht

die Zeit in der Tagesklinik auf Nachfrage auch an. Die Auskunft, dass es ist ihm

dort nicht gut ergangen sei, war seine Form der Darstellung, die ihm

offensichtlich genügte.

Dass Max eine Klasse wiederholen musste, kam ebenfalls nur durch seine

Mutter zur Sprache. Aus seiner Sicht ging alles weiter wie vorher.

Sarah und ihre Mutter Sarah konnte angeben, wann ihr Verhalten auffiel. Emotionale Belastungen oder

Schwierigkeiten konnte sie nicht benennen, sondern auf Nachfrage nur vage

andeuten. Sachlich konnte sie verschiedene Fragen beantworten. Dass sie mit

81

Erwachsenen auch kaum sprach, berichtete Sarah erst auf eine konkrete

Nachfrage hin. Da sie den Erzieherinnen „guten Tag“ und „tschüss“ sagen

konnte, empfand sie dies möglicherweise weniger als Problem.

Für sie schien das Problem eher in der Kommunikation mit Jungen zu liegen.

Sarahs Mutter konnte einiges zu Sarahs Entwicklung erzählen, aber aus bereits

genannten Gründen nicht mehr interviewt werden. Dies schränkt einen Vergleich

bezüglich der Forschungsfragen deutlich ein.

Emi und ihre Familie Emi konnte dadurch, dass sie das Schweigen überwand, selbst ausführlich

Auskunft geben über ihre Biografie. Sie konnte ihre Emotionen mit all ihren

erlebten Nöten schildern. Emi wies deutlich darauf hin, dass sie das während

ihrer Betroffenheit niemals gekonnt hätte.

Emis Eltern konnten nur in verkürzter Form telefonisch befragt werden. Sie

konnten ihre eigene Rolle, ihre Nöte und Bedürfnisse äußern, was das familiäre

Bild in seiner Betroffenheit vervollständigte.

Zusammenfassung Außer Emi, die ihr Schweigen vor mehreren Jahren überwunden hat, konnte

niemand der Betroffenen eine konkrete Belastung, Not, Schwierigkeiten oder

erlebte Ängste verbalisieren. Auch auf konkrete Nachfragen konnten keine

Gefühlsäußerungen oder Hilfegesuche verbalisiert werden. Hier scheinen die

Angehörigen eine wichtige Mittler- und Schutzfunktion für die Betroffenen

auszufüllen. Durch ihre Empathie, ihre Beobachtung und die Übernahme von

Kommunikation können sie einen Teil der Not erkennen und intervenieren. Aber

auch ihnen bleibt ein großer Teil der Gefühls- und Gedankenwelt der Betroffenen

versperrt. Dies spiegelt Emis Bericht besonders deutlich wider. Nicht einmal

ihrem Bruder, der ihr am nächsten stand und am meisten von ihr wusste, konnte

sie ihre Probleme in der Zeit ihrer Betroffenheit anvertrauen. Ihr wichtigster

Bezug diesbezüglich war ihr Zwergkaninchen, welches sie auch oft „Hase“

nannte. Emis Vater beschreibt seine Betroffenheit, indem er anspricht, nicht zu

verstehen, dass seine Tochter ihm nicht vertraute und einfach sagen konnte, was

mit ihr los war. Dies macht auch deutlich, wie wichtig eine professionelle Hilfe von

außen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr Umfeld ist.

82

Auch wird eine familiäre Vorbelastung in allen Fällen deutlich: Emis Mutter,

Sarahs Tante und bei Max war es sein Vater, der von dessen Mutter in dem

Verhalten von Max wieder erkannt wurde.

9.5 Selbstreflektion

Während meines BA-Studiums lernte ich das Störungsbild „selektiver Mutismus“

kennen. Mir fielen sofort mehrere Kinder ein, die ich in meiner dreijährigen

Tätigkeit in einer Frühförderstelle begleitete. Sie wurden nicht erkannt in ihrem

Störungsbild. Niemand von uns – weder Pädagogen, noch Mediziner - schienen

selektiven Mutismus zu kennen. Für meine ehemaligen Kollegen war es neu, als

ich ihnen davon berichtete.

Intuitiv denke ich vieles im Umgang mit diesen Kindern richtig gemacht zu haben.

Einigen konnte geholfen werden. Sie brauchten nach ca. einem Jahr keine

Förderung mehr. Andere hatten es schwerer, vor allem, wenn die jeweiligen

Betreuungseinrichtungen sich gegen eine „fremde Frühförderstelle“ verwehrten

und ich keinen Zutritt in das Haus erhielt. Dann war es nicht möglich, das

Sprechen auszudehnen in die Alltagsbereiche. Mit dem Eintritt in die Schule lief

die Förderung aus und ich konnte sie nicht weiter begleiten.

Diese Kinder hatten Potentiale, die ich erst nach und nach entdecken konnte. Sie

lebten ihr Potential in der Regel nicht aus und schienen in der Gruppe völlig unter

Stress zu stehen. Konnten sie diese Anspannung ablegen, erlebte ich

aufgeweckte, neugierige und kreative Mädchen und Jungen, die mich mit ihren

tatkräftigen Aktionen oft überraschten.

Als ich mich für das Thema der Arbeit entschied, suchte ich Kontakt zu

Betroffenen. Die Manifestation des Störungsbildes machte mich selbst zunächst

fast sprachlos. Ich hoffe, dass sich bei keinem der von mir begleiteten Kinder (bei

einigen wurde wegen der Einschulung oder dem Wechsel in eine

Integrativgruppe die Förderung abgebrochen) eine solche Manifestation

ausprägt. Trotz meiner fast zehnjährigen Erfahrung in der

Erwachsenenpsychiatrie machte mich die Betroffenheit der begleiteten selektiven

Mutisten selbst sehr betroffen. Jeder Kontakt außerhalb der Herkunftsfamilie war

eine Riesenherausforderung. Die dauerhafte Anspannung muss für diese

Menschen wahnsinnig anstrengend sein. Noch nie habe ich Menschen so sehr

um Wörter, das Herstellen eines Blickkontaktes kämpfen sehen. Und da

83

Kommunikation eine wichtige Voraussetzung für Beziehungen ist, kann jeder

Kontakt Anstrengung, Bedrohung und Kampf bedeuten. Wie einsam kann das

machen? Was geht ihnen und uns verloren?!

Durch die vorliegende Arbeit habe ich mich viel umgehört zu dem Thema. Immer

häufiger erhielt ich Informationen über Menschen, die sich mutistisch verhalten.

Gerade wurde ich von einer vierzigjährigen Frau kontaktiert, die erst vor wenigen

Monaten zum ersten Mal von selektivem Mutismus hörte und sich nun nach

Therapien erkundigt. Leider bietet Mecklenburg-Vorpommern da wenig an.

Emis Geschichte hat mir zusätzlich verdeutlicht, wie es in betroffenen Menschen

aussehen kann, wenn sie schweigen. Und Sarah gegenüber zu sitzen gab mir

das Gefühl, ich müsste schnell aufhören und das Mädchen in Ruhe lassen. Sie

tat alles, was von ihr erwartet wurde, aber sie schien zu leiden unter dieser

Situation. Ich nahm wahr, wie ich selbst langsam unsicher wurde und auch nicht

mehr wusste, was und wie ich sie befragen könnte, ohne sie zu belasten. Und

belasten wollte ich sie nicht. Eine interessante Erfahrung, denn so geht es sicher

vielen im Umfeld selektiv mutistischer Menschen. Auf die Antworten von Max zu

warten, fiel mir wiederum nicht schwer. Ich freute mich über jedes gesprochene

Wort, nicht nur für das Interview, auch für ihn. Max konnte gut nein sagen, wenn

er etwas nicht wollte, das gab mir die Sicherheit, ihn nicht zu überfordern oder in

eine Ecke zu drängen.

Rückwirkend bin ich allen Beteiligten sehr dankbar für das Vertrauen, welches sie

mir entgegen brachten und die Erfahrungen, die ich mit ihnen sammeln durfte.

Ich hoffe, mit meiner Arbeit etwas beitragen und auf den Weg bringen zu können,

damit der selektive Mutismus in Mecklenburg-Vorpommern bekannter wird und

für die Betroffenen und ihre Angehörigen Anlaufstellen entstehen, in denen sie

Informationen und Hilfe finden.

10 Zusammenfassung

Zusammenfassend wird festgestellt, dass das Störungsbild selektiver Mutismus

in Mecklenburg-Vorpommern kaum bekannt ist. Aktuelle Fachliteratur sowie die

aufgeführten Praxisbeispiele zeigen eindeutig auf, dass Fachkräfte aus

pädagogischen sowie medizinischen Berufen kein oder nur wenig Wissen über

dieses Störungsbild besitzen. Dies hat zur Folge, dass Betroffene und ihr Umfeld

mit ihren Problemen weitestgehend alleingelassen sind. Ohne Informationen,

84

einer gezielten Diagnostik und einem fachlich adäquatem Umgang mit selektivem

Mutismus wird eine Manifestation des Störungsbildes begünstigt.

Betroffene selbst können sich auch in größter Not nicht selbst mitteilen. Nicht

einmal ihren engsten Angehörigen gegenüber können sie erklären, was mit ihnen

geschieht. Ihr Schweigen und Vermeiden von Kommunikation wird in der Regel

fehlgedeutet.

In Mecklenburg-Vorpommern existieren so gut wie keine installierten adäquaten

Therapiemöglichkeiten für Menschen mit selektivem Mutismus. Weder

Krankenkassen, noch die Kassenärztlichen Vereinigungen können derzeit

betroffenen Patienten und Angehörigen relevante Therapieplätze vermitteln oder

empfehlen.

Eine häufige Folge von manifestiertem selektivem Mutismus sind Isolation und

eine Abhängigkeit vom Sozialsystem in Form von Hartz IV. Falsch, spät oder

unbehandelt begünstigt er die Herausbildung von zusätzlichen psychiatrischen

Störungsbildern, was nicht nur für die Betroffenen ein Problem darstellt.

Gesellschaftlich gehen uns wertvolle Potentiale unserer Mitmenschen verloren.

Auch die Kosten für die Behandlung und/oder den sich entwickelnden Folgen

steigen, je länger auf eine adäquate Hilfe gewartet wird.

Deutlich wurde die Bedeutung von Transition, wie der Übergang in die Schule,

mit dem die Schwierigkeiten sich deutlicher zeigten oder verfestigten. Nach

Dobslaff (2005) konnten Fachkräfte, nachdem sie aufgeklärt, beraten und in ihren

eigenen Kompetenzen gestärkt wurden, ihr Unverständnis und Fehlverhalten

gegenüber selektiv mutistischen Kindern abbauen.

Um Menschen mit selektivem Mutismus in Mecklenburg-Vorpommern rechtzeitig

helfen zu können, werden folgende Voraussetzungen benötigt und Vorschläge

unterbreitet:

1. Aufklärung und Weiterbildung Die Thematik sollte Inhalt der Ausbildung pädagogischer Berufe sein, vor

allem in der frühkindlichen Bildung. Dies ermöglicht eine Früherkennung,

einhergehend mit einem angemessenen Umgang mit dem Störungsbild

(inkl. Sensibilisierung des Umfeldes und einer Vermittlung zu Diagnostik

und Therapie). Das gleiche gilt für das Lehramtsstudium. Gezielte

85

Weiterbildungen sollten ebenfalls für erziehende und lehrende Berufe fest

verankert sein.

In medizinischen Berufen, die mit diesem Störungsbild in Berührung

kommen und die für die Diagnostik und Therapie relevant sind, sollte die

Thematik ebenfalls als Ausbildungsinhalt integriert werden.

Weiterbildungen in einem interdisziplinären Rahmen können die Praxis

bereichern. Mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Bezugspunkten

können verschiedene Berufsgruppen voneinander profitieren. Dies könnte

eine Voraussetzung für eine spätere interdisziplinäre Arbeit werden.

Denkbar wären auch Schulungen in Beratungsstellen und Organisationen

wie der Telefonseelsorge.

Die Ergebnisse des sich derzeit in der Evaluierungsphase befindenden

Screenings zur Früherkennung von der Universität Dortmund (Starke,

Subollek, Käppler siehe URL 13) bleibt abzuwarten. Auch sie könnten

einen Beitrag zur Früherkennung leisten.

2. Überarbeitung der diagnostischen Leitlinien (ICD-10) Die diagnostischen Leitlinien für selektiven Mutismus entsprechen nicht

dem aktuellen wissenschaftlichen Stand und erschweren eine Diagnostik

teilweise. Eine Anpassung an die aktuellen wissenschaftlichen

Erkenntnisse würde Betroffenen und professionellen Fachkräften Türen

öffnen, adäquate Therapien verordnen bzw. nutzen zu können. Auch

tragen die Leitlinien dazu bei, veraltete Ansichten bezüglich des

Störungsbildes zu verfestigen. Allein die Begriffswahl „elektiv“ im ICD-10

suggeriert, dass Betroffene frei wählen könnten, wo und mit wem sie

kommunizieren.

3. Überarbeitung des Heilmittelkatalogs für Logopädie Der Heilmittelkatalog berücksichtigt selektiven Mutismus nicht. Er wird

derzeit unter „Redeflussstörung“ verordnet (siehe URL 36). Dies zeigt

ebenfalls, wie wenig Raum der selektive Mutismus in Fachkreisen

einnimmt.

4. Therapiemöglichkeiten vor Ort Eine Therapie, die auf selektiven Mutismus ausgerichtet ist, basiert auf

Beziehung einhergehend mit qualitativ und quantitativ optimalen

86

Kontaktmöglichkeiten. Telefonisch mag Angehörigen zum Teil geholfen

sein, Betroffene benötigen ausnahmslos Ansprechpartner vor Ort. Diese

müssen so gut erreichbar sein, dass mindestens wöchentliche Treffen von

der Entfernung her gut zu meistern sind.

5. Herausbildung eines Netzwerkes Netzwerke haben den Vorteil, dass sie sich sehr kreativ, offen und

vielfältig gestalten lassen. In sie sind häufig verschiedene Professionen,

Institutionen, Betroffene sowie Angehörige involviert. Das ermöglicht nicht

nur einen interdisziplinären Austausch und Kooperation, sondern auch

Informations- und Austauschmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige.

Ein Netzwerk vor Ort kann auch regionale Unterstützung bieten in Form

von Informationen über Erfahrungen im Umkreis und sich zur Aufgabe

machen, Hilfen zu installieren.

6. Aufnahme der Thematik in das Informationsblatt Psychotherapie Eine Aufnahme des Störungsbildes in das Informationsblatt

Psychotherapie kann ebenfalls zur Installation und Information von Hilfen

beitragen. Allein der Fall, dass das Störungsbild aufgeführt ist, fordert auf,

sich damit auseinanderzusetzen und zeigt einen Bedarf auf. Der Wunsch

nach einer Weiterbildung diesbezüglich kann z.B. eine Folge sein.

Mecklenburg-Vorpommern zeigt einen hohen Bedarf, was die Information über

selektiven Mutismus und die Installation von Hilfen betrifft.

„...Betroffene, die stehen ganz, ganz lange allein im Regen ehe sie erstmal

wissen, was ist es überhaupt...“ (Interview Ina, Zeilen 1156, 1157).

87

ä

Ich versichere hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt habe. Außer der angegebenen Quellen wurden keine weiteren Hilfsmittel verwendet. Die aus den Quellen direkt und indirekt übernommenen Gedanken sind als solche gekennzeichnet. Diese Arbeit hat bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen.

………………………………………….

Neubrandenburg, den 18.09.2014

88

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11 Anhang