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IRMA HILDEBRANDT MUTIGE SCHWEIZERINNEN

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IRMA HILDEBRANDT

MUTIGE SCHWEIZERINNEN

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IRMA HILDEBRANDT

MUTIGE SCHWEIZERINNEN

18 Porträts von Johanna Spyri bis Liselotte Pulver

DIEDERICHS

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2006Alle Rechte vorbehalten

Textredaktion: Bettine Reichelt, LeipzigUmschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign unter Verwendung

von Motiven von ICTY/Zoran Lesic (Carla del Ponte), Ken Ross(Elisabeth Kübler-Ross), EDA Schweiz/Christophe Chammartin

(Micheline Calmy-Rey), Johanna Spyri-Archiv undFotex Medien Agentur (Liselotte Pulver)

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, GermeringDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany 2007

ISBN 978-3-7205-2830-6

Ein Teil der in dieser Ausgabe enthaltenen Porträts ist dembei Diederichs erschienenen Band Die Frauenzimmer

kommen von Irma Hildebrandt in gekürzter Form entnommen.

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Inhalt

Vorwort 7

Heidi oder Die Sehnsucht nach dem einfachen LebenDie Kinderbuchautorin Johanna Spyri (1827–1901) 11

Tumult im PräpariersaalDie erste Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin (1845–1916) 25

Kampf dem AlkoholDas Sozialengagement Susanna Orelli-Rinderknechts (1845–1939) 35

Ohne Stimmrecht kein AmtDie erste Juristin der SchweizEmilie Kempin-Spyri (1853–1901) 47

Morgens Schule, abends BohemeDie Dada-Künstlerin Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) 61

Das gute Herz genügt nichtDie Sozialpolitikerin Regina Kägi-Fuchsmann (1889–1972) 75

Me het, me git, me zaigt’s nitDie Kunstmäzenin Maja Sacher (1896–1989) 89

Auf abenteuerlichen PfadenDie Reiseschriftstellerin Ella Maillart (1903–1997) 103

One-Woman-ShowDie Kabarettistin Elsie Attenhofer (1909–1999) 115

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Mut zur StilleDie Lyrikerin Erika Burkart (*1922) 131

In Würde sterbenDie Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) 145

Wer dächte nicht an Piroschka …Die Filmschauspielerin Liselotte Pulver (*1929) 161

Freundschaft mit PicassoDie Kunsthändlerin Angela Rosengart (*1932) 175

»Mutter Courage« der Schweizer Freejazz-SzeneDie Pianistin Irène Schweizer (*1941) 191

Machtlose Frauen?Die Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (*1945) 203

In gefährlicher MissionDie UN-Chefanklägerin Carla del Ponte (*1947) 215

Der Tag beginnt um fünf mit JoggenDie Unternehmerin Heliane Canepa (*1949) 227

Mit Google lebenDie Bibliotheksdirektorin Marie-Christine Doffey (*1958) 237

Literaturhinweise 248

Dank 254

Die Autorin 255

Bildnachweis 256

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Vorwort

Frauen hatten, eingebunden in Konventionen, noch im 19. Jahr-hundert kaum Möglichkeiten selbstständiger Entfaltung in derÖffentlichkeit. Mit dem Erstarken der internationalen Frauenbe-wegung kamen auch in der Schweiz Forderungen nach mehrEigenständigkeit auf. 1896 organisierten couragierte Akademike-rinnen an der Universität Genf einen ersten Kongress für dieInteressen der Frau. Sie forderten bessere Berufs- und Bildungs-möglichkeiten, eine verbesserte Rechtsstellung und – bis heutenicht gewährleistet – gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ein 1909gegründeter Schweizerischer Verband für das Frauenstimmrechterreichte sein Ziel nicht, noch 1959 wurde die Einführung desStimm- und Wahlrechts für Frauen von den Schweizer Männernabgelehnt. 1966 eröffnete die Zürcher Stadträtin Emilie Lieber-herr in feuerrotem Mantel auf dem Bundesplatz in Bern eineKundgebung für das Frauenstimmrecht mit den Worten: »Nichtals Bittende, als Fordernde stehen wir hier.« Erst fünf Jahre späterwurde diese Forderung erfüllt: 1971 bekamen die SchweizerFrauen – endlich – das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene.

1984 wurde die erste Frau in den Bundesrat gewählt – eineSensation. Als Micheline Calmy-Rey 2003 das wichtige Amt ei-ner Aussenministerin übernahm, war das schon keine Sensationmehr. Frauen hatten inzwischen gezeigt, dass sie nicht wenigerpolitischen Sachverstand und Durchsetzungsvermögen besitzen alsMänner. Dass sie, mit einer gefährlichen Aufgabe betraut, auchaussergewöhnlichen Mut aufbringen können, beweist Carla delPonte als UN-Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshofin Den Haag.

Rascher als in der Politik kamen die Frauen im akademischenBereich zur Anerkennung ihrer Forderungen. Die HochschuleZürich ermöglichte 1867 als eine der ersten in Europa Frauen ein

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reguläres Studium. Neben ausländischen Studentinnen – unter ih-nen Rosa Luxemburg und Ricarda Huch – liessen sich auch eini-ge wagemutige Schweizerinnen auf das Abenteuer Frauenstudiumein und setzten sich dem Spott männlicher Kommilitonen undder Häme mancher Professoren aus. Marie Heim-Vögtlin pro-movierte trotz massiver Widerstände 1874 als erste SchweizerMedizinerin, in der juristischen Fakultät kommt diese PionierrolleEmilie Kempin-Spyri zu.

Im sozialen Bereich wurden Frauen, wenn sie die nötige Ener-gie und Überzeugungskraft besassen, weniger Steine in den Weggelegt. Susanna Orelli-Rinderknecht setzte sich ihr Leben lang fürAlkoholgefährdete ein und gründete mit unternehmerischem Mutin Zürich die ersten alkoholfreien Speiselokale. Eine Generationspäter organisierte Regina Kägi-Fuchsmann als Leiterin desArbeiterhilfswerkes Transporte in kriegszerstörte Länder, betreuteFlüchtlingskinder und nahm jüdische Asylanten vor dem oft gna-denlosen Zugriff der Fremdenpolizei mutig in Schutz. Immerging es bei diesen Aktionen um die Schwachen in unserer Gesell-schaft, auch bei der Ärztin und Sterbebegleiterin ElisabethKübler-Ross, die in Europa und Amerika zielstrebig den Ausbauder Hospizbewegung vorangetrieben hat.

Mut ist auch im kulturellen Bereich oft vonnöten, etwa bei derDurchsetzung provozierender Kunstausstellungen oder Bühnen-auftritte. Maya Sachers grosszügige Förderung avantgardistischerKunst stiess vielfach auf Unverständnis, genau so wie AngelaRosengarts frühe Vorliebe für den damals noch wenig bekanntenPaul Klee. Dass die Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, tagsüber bra-ve Lehrerin an der Kunstgewerbeschule, abends inkognito inbizarren Kostümen ihres Gefährten Hans Arp in der Zürcher Da-da-Galerie auftrat, war in Zeiten biederer Schweizer Bürgerlich-keit eine Provokation. Auch die Kabarettistin Elsie Attenhoferwagte sich im Zürcher Kabarett Cornichon vor allem mit politi-schen NS-Persiflagen weit vor.

Eigenwillige, nicht gesellschaftlichen Normen angepasste Frau-en brauchten zu allen Zeiten besonderen Mut, um ihr Lebenselbstbestimmt zu gestalten. Johanna Spyri, die Erfolgsautorin derHeidi-Bücher, musste sich als Stadtschreibersgattin aus Konventio-

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nen lösen, die Frauen keine selbständige Berufstätigkeit erlaubten.Sie liess ihre Fantasie vom Schreibtisch aus in die Ferne schweifen,während Ella Maillart auf abenteuerlichen Pfaden in die Welthinauszog und sich als allein reisende Frau vielerlei Strapazen undGefahren aussetzte. Nichts Spektakuläres haftet dem Werk derLyrikerin Erika Burkart an, die sich, auch das erfordert Mut, be-wusst der Welt entzieht, ohne weltfremd zu sein. Die Jazz-Pianis-tin Irène Schweizer geht wie Erika Burkart ihren eigenen, aller-dings nicht so lautlosen Weg als international anerkannte Impuls-geberin des Freejazz. Auf internationaler Ebene agiert auch dieUnternehmerin Heliane Canepa, die, wie nur ganz wenige Frau-en, den Sprung an die Schweizer Börse gewagt hat. ChristineDoffey, die Direktorin der Schweizerischen Landesbibliothek inBern, ist als erste Frau an der Spitze dieser über hundert Jahre altenInstitution ebenfalls kühn in eine Männerdomäne vorgedrungen.

Mut hat viele Facetten. Lebensmut ist eine davon. DiesenLebensmut strahlt, trotz harter Schicksalsschläge, die Schauspiele-rin Liselotte Pulver aus. Und dieser Lebensmut wirkt, wie ihrherzhaftes Lachen, ansteckend. Wer könnte sich dem entziehen?

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Heidi oder Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Die Kinderbuchautorin

Johanna Spyri(1827–1901)

Eine Dame der feinen Zürcher Gesellschaft mit streng um denKopf geflochtenen Zöpfen, in bauschigem, spitzenverziertenTaftkleid für den Fotografen posierend – nein, so kann man sichdie Erfinderin von Heidi, dem naturwüchsigen Kind aus denBündner Bergen, nicht vorstellen. Aber Johanna Spyri, die alsStadtschreibersgattin in grossbürgerlichem Ambiente lebte, hat esfertig gebracht, sich so stimmig in die karge Alpenlandschaft undin den Kopf eines kleinen, freiheitsliebenden Mädchens hineinzu-denken, dass Kinder aus aller Welt Heidis Abenteuer miterlebenund sich mit ihm identifizieren. Seit weit über hundert Jahrenwird die schlichte Geschichte – nicht nur von Kindern – gelesenund geliebt, mögen Kritiker ihr auch Verklärung der rauen Berg-welt und Zivilisationsfeindlichkeit vorwerfen.

Vielleicht ist gerade dies das Geheimnis des Erfolges: derTraum vom einfachen Leben. Einem Leben, in dem alles seineOrdnung hat, überschaubar und nachvollziehbar ist, ohne Hektik,ohne ständig wechselnde Schauplätze. Einem Leben auch, dasRaum lässt für Gefühle: Freude, Trauer, Zorn, Mitleid, Heimweh– Empfindungen, die offenbar überall in der Welt ähnlich sind,wie liessen sich sonst die Auflagehöhen der Heidi-Bücher von Japan bis Australien, die Übersetzungen in fünfzig Sprachen erklä-ren? 50 Millionen verkaufte Exemplare weltweit, nur von HarryPotter übertroffen, in der Schweiz das erfolgreichste Kinderbuchaller Zeiten. Heidi auf Kassette und Video, im Kino, als Oper undals Comic, Heidiland touristisch wirkungsvoll vermarktet … Niehätte sich Johanna Spyri diesen Rummel träumen lassen.

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Sie hat den ersten Teil der Geschichte, Heidis Lehr- und Wan-derjahre, im Herbst 1879 innerhalb weniger Wochen niederge-schrieben, ohne genaue Ortskenntnis, ohne ein reales Waisen-kindschicksal vor Augen zu haben. Beim Titel hat sie sich vonihrem verehrten Goethe inspirieren lassen. Das Buch wurde 1880gedruckt, nicht unter ihrem vollen Namen, sondern nur mit denInitialen J. S., so hatte sie schon ihre früheren Erzählungen veröf-fentlicht, die meisten in einem deutschen Verlag, bei F. A. Per-thes in Gotha – eine Vorsichtsmassnahme. Ihr Mann hätte, da sieals Frau keine juristischen Rechte besass, eine Veröffentlichung inder Schweiz verhindern können.

Das erste Heidi-Buch fand auf Anhieb so grosse Resonanz, dassPerthes rasch eine zweite Auflage nachschob und Johanna Spyrischon ein Jahr später den zweiten Band, Heidi kann brauchen, wases gelernt hat, folgen liess, diesmal mit ihrem vollen Namengezeichnet. Der Erfolg machte sie selbstsicherer und gelassener,stieg ihr aber nicht zu Kopf, das verhinderten ihre anerzogenepietistische Demut und ihre nüchterne Selbsteinschätzung. Sie hatsich nie als grosse Dichterin gefühlt oder als ebenbürtige Partnerinvon Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer, die beide inihrem Haus verkehrten. Dass ihre Mutter, die in Zürcher Kreisenbekannte pietistische Dichterin Meta Heusser-Schweizer, ihrefrühen Erzählungen nicht zur Kenntnis genommen hat, mag mitEifersucht oder den verklemmten Familienverhältnissen zusam-menhängen.

Heile Welt auf dem Hirzel?

Ein idyllisches Dorf hoch über dem Zürichsee. Eine alte refor-mierte Kirche mit einem Pfarrhaus, in dem Johanna Spyris Gross-vater als Pfarrer fast drei Jahrzehnte lang gelebt und gewirkt hat.Oberhalb der Kirche das Geburtshaus der sechs Heusser-Kinder,Johanna ist das vierte in der Geschwisterreihe. In diesem »Doktor-haus« hat der Vater, Johann Jakob Heusser, als angesehener Land-arzt und Chirurg seine Praxis und eine kleine Privatklinik einge-richtet. Im Schulhaus, einem behäbigen Fachwerkbau aus dem

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17. Jahrhundert (der heute das Johanna-Spyri-Museum beher-bergt), hat schon Johannas Mutter lesen und schreiben gelernt. –Rundum sichere, solide Verhältnisse, die eine unbeschwerteJugendzeit erwarten liessen.

Doch wie sieht es hinter der heilen Fassade aus? Wie in vielenländlichen Idyllen, wie in Dürrenmatts Güllen oder in KellersSeldwyla. Räumliche Nähe schenkt nicht nur Geborgenheit, sieerschwert auch eigenwillige Entfaltung. Nichts bleibt den übri-gen Familienmitgliedern und der Dorfgemeinschaft verborgen,auch nicht in Johanna Spyris Elternhaus. Die Ehe ist belastetdurch übertriebene Sparzwänge und die Arbeitsbesessenheit desVaters, der Praxis und Privatleben nicht trennen kann und sichfür Frau und Kinder nur selten Zeit nimmt. So muss die Muttermit ihren Sorgen allein fertig werden: mit dem Selbstmord desSchwagers, dem Tod der Nichte in einer Irrenanstalt und demVerlust zweier Söhne im frühen Kindesalter. »Unsere Familien-geschichte führt über viele Gräber hin«, schreibt sie in ihrerHauschronik. Die Religion ist ihre einzige Stütze und ihr Trost,den sie auch an andere Menschen weitergibt, die ihre erbauli-chen Schriften lesen.

Den Kindern gibt diese pietistische Heilsgewissheit wenig Hil-fe. Ihnen bleibt nicht verborgen, was sich in der väterlichen Praxisabspielt. Die Schreie der Patienten bei Amputationen oder Ent-fernung von Krebsgeschwüren dringen durch alle Wände. DerVater betreut auch Geisteskranke in seinem Haus, die einer Ein-weisung ins Irrenhaus entgehen wollen und sich eine Privatthera-pie leisten können. So prägen sich Johanna schon früh Menschen-schicksale auf der Schattenseite des Lebens ein. Nur selten sieht siedie Mutter lachen, die in ihrer Hauschronik vermerkt: »Familien-freuden und die Pflege unglücklich Verrückter passen einmalnicht zusammen.«

Nach dem Besuch der Dorfschule wird Johanna für zwei Jahrebei einer Tante in Zürich untergebracht. Sprachen soll sie hierlernen und Klavierunterricht bekommen, alles, was eine Tochtergehobenen Standes für eine spätere Ehe braucht. Diesem Zieldient auch ein zweijähriger Aufenthalt in einem Internat in Yver-don am Neuenburgersee. Mit 18 kehrt sie, ehereif, nach Hause

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zurück. Diese Rückkehr ist für sie trotz bedrückender Erinnerun-gen kein Albtraum, sie hatte in der Fremde stets Heimweh nachdem vertrauten Hirzel. In ihren späteren Heidi-Büchern wird dasHeimwehmotiv eine wichtige Rolle spielen.

Im Elternhaus unterrichtet sie nun ihre beiden jüngerenSchwestern und geht der Mutter im Haushalt zur Hand. DieBekanntschaft mit dem jungen revolutionär gesinnten DichterHeinrich Leuthold führt zu keiner festen Bindung, die Eltern ha-ben andere Vorstellungen von einem passenden Schwiegersohn.Als »der Richtige« um ihre Hand anhält, ist sie 25, für die damali-ge Zeit schon keine jugendfrische Braut mehr. Ihr zukünftigerMann, der Zürcher Rechtsanwalt Johann Bernhard Spyri, istsechs Jahre älter und – auch als Redaktor der Eidgenössischen Zei-tung – beruflich schon gesattelt. Nach der Heirat beziehen die bei-den eine Wohnung in Zürich, und die Ehefrau »vom Land« musssich an die gesellschaftlichen Umgangsformen ihrer neuen, vonKonventionen geprägten Umgebung gewöhnen. Dass BetsyMeyer-Ulrich, die Mutter des Dichters Conrad Ferdinand Meyer,ganz in der Nähe wohnt, macht ihr das Leben in Zürich erträgli-cher. Die Witwe war für sie schon beim ersten Zürcher Aufent-halt eine wichtige Bezugsperson. Johanna Spyri nimmt nun anden künstlerisch-literarischen Montagsgesellschaften im HauseMeyer teil. Mit der Tochter Betsy, die sie schon aus Kindertagenkennt, verbindet sie bald eine enge Freundschaft, während derenBruder Conrad (den zweiten Vornamen Ferdinand legt er sicherst später zu) wegen seiner Depressionen und seinem Verfol-gungswahn seit einiger Zeit in einer psychiatrischen Anstalt inPréfargier Heilung sucht.

Die starke Bindung an die Meyersche Familie gibt JohannaSpyri Halt, wirkt sich aber gleichzeitig niederdrückend auf ihrLebensgefühl aus. »Oh, dass ich nicht mehr an mir tragen müsste«,schreibt sie an Betsy und lässt sich anstecken vom Leidensdruck,der in dieser Familie herrscht. Die Mutter wird sich später das Le-ben nehmen.

Die depressiven Anwandlungen, die auch Johanna Spyri nichtfremd sind, verstärken sich mit der Geburt des Sohnes Bernhard.Jahrelang schleppt sie Schuldgefühle mit sich herum. Mag sein,

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dass sie der unerfüllten Jugendliebe zu dem Literaten HeinrichLeuthold nachhängt, der dem Wunschbild eines Schwiegersohnesim gutbürgerlichen Elternhaus nicht entsprach, während ihr Ehe-mann, der strebsame, tüchtige Jurist alle Erwartungen erfüllte –nur sie nicht glücklich machte. 1868 wird er zum Stadtschreibervon Zürich berufen, dem höchsten Amt in der Verwaltung.Johanna Spyri ist nun »Frau Stadtschreiber«, wohnt in den reprä-sentativen Räumen des Stadthauses, pflegt gesellschaftlichen Um-gang mit den Honoratioren und fühlt sich doch einsam. Sie be-klagt sich, dass ihr Mann am Mittagstisch »so stramm seine Zei-tung las, dass er das Essen vollständig vergaß«. Doch es sind nichtnur die beruflichen Pflichten und der Ehrgeiz ihres Mannes, diedas Familienleben erschweren, es sind auch die unterschiedlichenAnsichten und kulturellen Interessen, die sich schwer zusammen-fügen lassen.

Johann Bernhard Spyri ist ein Verehrer Richard Wagners, erebnet dem aus Deutschland geflohenen und wegen aufrühreri-scher Gesinnung steckbrieflich gesuchten Kapellmeister die We-ge im traditionsgeprägten Zürich. Vor Wagner-Abenden im vor-nehmen Hotel Baur au Lac graut ihr. Wagner verkehrt, wie auchGottfried Keller, im Stadtschreiberhaus, und die Frau Stadtschrei-ber, die für häusliche Arbeit nicht viel übrig hat, muss die auf-merksame Gastgeberin spielen. Sie fühlt sich unwohl in ihrerRolle, hat keine Lust, ihren Gästen »ein frohes Gesicht zu lügen«.Ein mit der Mutter befreundeter Pfarrer rät ihr, sich ihren Un-mut von der Seele zu schreiben – Schreiben als Therapie, wie,viel später, ihr Landsmann Adolf Muschg eines seiner Bücherbetiteln wird.

Johanna Spyri befolgt den Rat, das Schreiben geht ihr flüssigvon der Hand, die ersten Erzählungen entstehen. Stoff hat sich inihrem Kopf genug angesammelt, die Motive holt sie aus ihrerUmgebung: Gegensätze von Arm und Reich, Dorf und Stadt,Familienalltag, Krankheiten, religiöse Erfahrungen. In der Erzäh-lung Ein Blatt auf Vronys Grab lässt sich ein naives Mädchen voneinem glutäugigen Fremden verführen, der sich als brutaler Des-pot entpuppt. Vrony flieht vor ihm, will sich umbringen und wirdvon einem alten Pfarrer daran gehindert. Er rät ihr, zu ihrem

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gewalttätigen Mann zurückzukehren, ihr Schicksal in Demutanzunehmen und für den Unhold zu beten … – Greift JohannaSpyri da auf ein gängiges Klischee zurück oder treibt sie religiöserErweckungseifer an? Versucht sie in der Geschichte ihre eigenefrühe Liebe zu verarbeiten? Wie dem auch sei – die anonymeVeröffentlichung der Erzählung stösst auf grossen Widerhall, derihr weiteres Schreiben beflügelt. Ihre Depressionen sind ver-schwunden. Conrad Ferdinand Meyer, der selbst immer wiederunter depressiven Schüben leidet, glaubt zu spüren, dass sie »etwasvon der Frische und dem Glanz aus Wald und Feld, darin sie auf-gewachsen war«, in die Stadt mitbringt.

Wie recht er hat, zeigen die Heidi-Geschichten, die sie ohnebesondere literarische Ambitionen, aber mit grossem Einfühlungs-vermögen niederschreibt »für Kinder und solche, die Kinder liebhaben«. Dass sie zur Kinderliteratur überwechselt, hängt wahr-scheinlich weniger mit besonderer Hinwendung zu Kindernzusammen – der eigene Sohn ist längst erwachsen – sondern ehermit pragmatischen Überlegungen: Texte für Kinder gehen leichtvon der Hand und versprechen gute Absatzchancen. Es gibt nochkeinen Kinderbuchmarkt, angeboten werden erbauliche und ent-sprechend langweilige Geschichten von tugendsamen und opfer-freudigen Vorbildern, mit denen sich kein Kind identifizierenkann. Heidi aber, die kleine warmherzige Rebellin, bringt einganz neues Kinderbild in die Goldschnittlegenden, ähnlich wieAstrid Lindgrens Pippi Langstrumpf Generationen später.

Mit Heidi zum Welterfolg

Umgeben von grossbürgerlichen Requisiten lässt Johanna Spyriihre Fantasie spielen. Sie verlegt ihr Bühnenbild auf eine einsameAlp in die Hütte des knurrigen, menschenscheuen Alp-Öhis, desGrossvaters, zu dem das elternlose Enkelkind abgeschoben wird.Dem fünfjährigen Heidi gelingt es, das Herz des Alten aufzu-schliessen. Auch der verträumte Geissenpeter und die Ziegen Bär-li und Schwänli gehören zu den Alpbewohnern, und wenn reali-tätsbewusste Pädagogen vor der »verlogenen Heile-Welt-Kulisse«

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warnen und Heidi am liebsten aus dem Verkehr ziehen möchten,scheren sich die Kinder nicht um das Verdikt. Sie bangen und lei-den mit dem Naturkind, das bei einer fernen Frankfurter Tantezivilisiert werden soll. Heidi ist in der Grossstadt unglücklich, hatHeimweh und sucht an einem Turmfenster traurig nach den Ber-gen. Es bittet den lieben Gott inständig, er möge es doch auf dieAlp zurückholen. Unter dem strengen Regiment von Gouver-nanten verliert es seine Fröhlichkeit und Lebenslust, wird krankund vor lauter Sehnsucht nach den Bergen sogar mondsüchtig.»Zum Geripplein abgemagert« ist es der gelähmten Klara im Roll-stuhl doch willkommene Spiel- und Lerngefährtin. In kürzesterZeit lernt es Lesen und gute Manieren, Grossmama Sesemannbringt ihm Psalmen und biblische Geschichten bei.

Doch das Heimweh bleibt. Hartnäckig besteht Heidi auf derRückkehr zum Alp-Öhi. Der mitfühlende Doktor weiss, dassnichts anderes als Heimweh das Kind krank gemacht hat. Und ersorgt dafür, dass sein Wunsch erfüllt wird. Auch die kranke Klaraim Rollstuhl soll in den Genuss der gesunden Bergluft kommen.Sie lernt auf der Alp, fürsorglich betreut und mit frischer Geis-senmilch hochgepäppelt, allmählich wieder aus eigener Kraft zugehen. Der missmutige Alp-Öhi wird aus Freude über HeidisRückkehr zu einem umgänglichen, liebenswerten Menschen,und die blinde alte Frau im Tal freut sich, dass Heidi ihr nun alldie spannenden Geschichten aus der Bibel vorlesen kann …

Zu unglaubwürdig die Ansammlung von lauter Gutmenschen?Zu kitschig die Naturbilder mit den rauschenden Tannen und derNähe zum Sternenhimmel? Zu viel naive Unschuld und kindlicheFrömmigkeit? – Zweifellos. Doch die Kritiker können noch soviel falsche Idyllen und rührselige Bilder aufspiessen, Kinder ha-ben andere Massstäbe. Massstäbe, die auch für Märchen und Co-mics gelten: Es gibt die Guten und die Bösen, holzschnittartiggezeichnet, und die Kinder wissen, wem sie vertrauen könnenund vor wem sie sich hüten müssen. Ein einfaches, einprägsamesWeltbild. Geschadet hat die Heidi-Lektüre, entgegen denBefürchtungen fortschrittlicher Pädagogen, den Kindern nicht,das führte eine repräsentative Umfrage unter Erwachsenen zutage,denen Heidi ein frühes Idol war. Heidi als Kultfigur. Die Wer-

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bung hat diese Chance rasch begriffen, weltweit und den jeweili-gen nationalen Sehnsüchten angepasst. Eine Barbie-Puppe mitDirndl und langen blonden Zöpfen soll es schon geben …

Ein anderes, modern-emanzipatorisches Heidibild kam mit derNeuen Frauenbewegung auf: ein aufgewecktes Mädchen, das ge-nau weiss, was es will und seinen Willen ohne Ehrfurcht vor Auto-ritäten durchsetzt, neugierig Tabus hinterfragend, Gerechtigkeiteinfordernd. Und die Autorin, das ist das Bahnbrechende, stelltsich auf die Seite des Kindes und tritt nicht als belehrende Erwach-sene auf. Sie sieht das Kind als Kind, mit ganz eigenen Bedürfnis-sen, nicht als kleinen, unfertigen Erwachsenen. Man könnte sie, auch bei ihrer sonstigen konservativen Einstellung, mit Fugund Recht als eine Pionierin der Reformpädagogik bezeichnen.Ein Tabu allerdings rührt sie nicht an: aufkeimende Sexualität,geheime Wünsche und Begierden, Körperentdeckung, all dieseunschicklichen Peinlichkeiten kommen in den Heidi-Büchernnicht vor. Und das Verblüffende: die Kinder scheinen es nicht zuvermissen. Heidi ist clean. Das ermöglicht die Verbreitung derBücher auch in ängstlich auf Sittsamkeit bedachten religiösenKreisen und in Ländern und Kulturen mit rigiden Moralgesetzen.

Das Alpkind steht für gesundes Leben, für Licht und Luft, fürKräuter und Ziegenkäse. Ein Heidibild aus Deutschland, das inder Schweiz lange Zeit eher verpönt war. Schweizern war espeinlich, im Ausland womöglich als Hinterwäldler zu gelten, dieim Heu schlafen, Geissen hüten und vom Fortschritt wenig hal-ten. Die Heidibücher wurden denn auch in der Schweiz erst1916, 35 Jahre nach dem Erscheinen in Deutschland, gedruckt.

Interessant ist die Rezeption in den nicht deutschsprachigenLändern. In Italien muss sich Heidi gegen Pinocchio, den Lieblingaller Kinder, behaupten – und schafft es ohne Mühe. In Amerikaist Heidi erst 1937 durch den Film Poor little rich girl mit demberühmten Kinderstar Shirley Temple bekannt geworden – miteinem süssen, verniedlichenden Retuschenbild des bodenstän-digen Alpkindes. Ein offenbar sehr erfolgreiches Klischee, dasspäter von den Japanern übernommen wurde. Takahata Isaosrührseliger Zeichentrickfilm begründete 1975 den japanischenHeidi-Kult. Kitschiger noch für europäischen Geschmack die

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Illustrationen von Igarashi Yumiko: auf dem Buchumschlag Hei-di blond gelockt und niedlich kokett – »kawaii« – vor der Mat-terhorn-Kulisse!

Ins Russische wurde Heidi schon früh, schon vor der Revolu-tion übersetzt und gelesen, kam dann aber bei der inquisitorischenSäuberung aller Schulbibliotheken unter Nadjeschda Krupskaja,Lenins Frau, auf die schwarze Liste. Die anarchische Freiheitsliebedes Mädchens aus den Schweizer Bergen war für sowjetische Kin-der nicht vorbildhaft, gewünscht wurden tapfere kleine Parteisol-daten, Märtyrer für den Sozialismus, keine Rebellen, und schongar nicht aus der Schweiz, dieser »bürgerlichen Lakaienrepublik«.Erst nach der Perestroika wurde Heidi aus der Verbannung geholtund konnte wieder frei verkauft werden.

Im Schweizer Film von Markus Imboden ist Heidi ein aufge-wecktes, patentes Mädchen von heute, mit der Technik, selbst mitdem Traktor, vertraut und natürlich mit Handy und Internet. Obdiesem Heidi aus unserer Alltagswelt nicht der Zauber abgeht, vondem sich Kinder einhüllen lassen? Ob sie nicht lieber zu TomiUngerers altmodischem, liebevoll ausgemalten Heidibuch greifenund mit dem Alp-Öhi Käse über dem Feuer braten oder vomTürmer mit den vielen Katzen sich die Welt erklären lassen? SelbstUngerer, der sich erst sträubte, ein Heidibuch zu illustrieren, weilihm die Ansichten der Frau Stadtschreiber nicht geheuer waren,liess sich schliesslich vom Reiz der schlichten Geschichte einfan-gen: »Mich reizte der ketzerische Gedanke, gute Illustrationen zueinem Buch zu machen, das ich nicht mochte, denn mit Wut imBauch habe ich schon immer am besten arbeiten können. Je grös-ser meine Wut beim Lesen wurde, desto nachsichtiger und sanfterwurden meine visuellen Vorstellungen …«

Bei einer repräsentativen Befragung von Kindern nach ihrenTraumferien lagen nicht etwa Flüge in einer Raumkapsel oderBesuche im Disneyland vorn, sondern Ferien auf dem Bauernhofoder auf einer einsamen Insel. Der Münchner Psychologieprofes-sor Ernst Pöppel bestätigt, dass Kinder damit instinktiv richtig lie-gen: »Um ihre Identität zu entwickeln oder einfach zu suchen,brauchen die jungen Menschen Einsamkeit.« – Johanna Spyri alsovoll im Trend.

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Schreiben als Therapie

Mit dem Erfolg der Heidibücher gerät die Autorin gegen ihrenWillen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Sie möchte ihr per-sönliches Leben jedoch abschirmen vor neugierigen Blicken. Des-halb lehnt sie auch den Vorschlag des Dichterfreundes ConradFerdinand Meyer ab, nach ihren Vorgaben eine Biografie zuschreiben. »Zu viel weibliche Scheu, um meine Seele vor derWelt zu sezieren« habe sie, und ausserdem hält sie ihr Leben in ihrer nüchternen Selbsteinschätzung für uninteressant. Sie hat keinerlei Verständnis dafür, dass man Menschen schon zu ihrenLebzeiten in einer Biografie festschreibt und für die Ewigkeit prä-pariert. Alle Anfragen, die ihr persönliches Leben betreffen,beantwortet sie nicht oder erteilt eine Absage. Ihr Werk soll spre-chen, nicht ihre Person. Eine Nachwirkung ihrer pietistischenErziehung zur Demut und Selbstzurücknahme?

Mit Conrad Ferdinand Meyer, der sich aus den engen Famili-enbanden gelöst hat und nun mit Frau und Kind in Kilchberg amZürichsee wohnt, steht sie in regem Briefwechsel. Er hat sich ausseinen lähmenden Gemütsdepressionen herausgearbeitet durchintensive Versenkung in historische Stoffe. Das angehäufte Wissenlässt er in sein rasch wachsendes Werk einfliessen: in seineGedichte – besonders eindringlich in Balladen wie Die Füße imFeuer – aber auch in Novellen und in seinen Roman Jürg Jenatsch.Wie in unseren Tagen Umberto Eco mit dem Roman Der Nameder Rose, macht Meyer Geschichte lebendig und verarbeitet sie zuspannendem Lesestoff.

Johanna Spyri liest alles, was er geschrieben hat, mit wachemInteresse. Ihn werden bei der Lektüre ihrer Bücher eher freund-schaftliche Gefühle als literarische Neugier bewegt haben. Heidiallerdings hat ihn beeindruckt und er schreibt seiner Briefpartne-rin anerkennend: »Ihr Heidi hat mir einen jungen und frischenEindruck gemacht, wie ich nicht sagen kann. Sie haben doch einglückliches Naturell! Dabei erzählen Sie doch so resolut, dass dieKritik gar nicht dagegen aufkommt.« Er hat die Heidi-Geschichteseiner kleinen Tochter vorgelesen und die hat das wilde Alpkindsofort ins Herz geschlossen. Auch wenn er selbst nicht für Kinder

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schreibt, weiss er doch die kind-nahe, aber nie kindertümelndeSprache der Spyri zu würdigen, die postwendend auf sein Lobreagiert: »Dass Ihre Tochter Milla nun zu meinen kleinen Freun-den gehört, freut mich besonders.«

Zwischen den so unterschiedlichen und doch im Wissen umpsychische Gefährdungen so übereinstimmenden Briefpartnern ge-hen Bücher und Rezensionen hin und her, und eines Tages machtMeyer seiner »verehrten Freundin« den Vorschlag, sich doch regel-mässig mit ihm zu literarischen Gesprächen zu treffen, da es ihm inseinem Umfeld an kompetenten Kritikern fehle. »Sie glaubennicht, welchen Wert ich darauf lege«, unterstreicht er seine Bitte.Die verehrte Freundin willigt gerne ein, in seinen depressiven Pha-sen ist sie die einzige Aussenstehende, die an ihn herankommt.

Dass die für die literarische Arbeit so fruchtbaren Treffen mitder Zeit seltener werden, liegt auch an Johanna Spyri. Sie hat Sor-gen, die sie nicht einfach wegschreiben kann. Ihr einziger SohnBernhard, der vor dem Abschluss eines erfolgreichen Jurastudiumssteht, leidet an Lungenschwindsucht, der verbreiteten Volks-krankheit, die damals noch nicht heilbar ist. Alle ärztlichen Be-mühungen, das Leben des schon lange Kränkelnden zu verlän-gern, sind umsonst. Der Sohn stirbt 1884, mit 29 Jahren. Derberuflich so erfolgreiche Vater kann den Verlust seines einzigenNachkommen nicht verkraften und folgt ihm, gebrochen vorKummer, noch im selben Jahr in den Tod, während die leiderfah-rene Mutter erstaunliche Überlebenskräfte entwickelt.

Johanna Spyri findet, wie einst ihre Mutter, Trost in der Reli-gion – und Ablenkung im Schreiben. Es ist nicht das erste Mal,dass die Niederschrift ihrer Gedanken und ihrer »Geschichten ausdem Leben« ihr über Schmerz und Hader mit dem Schicksal hin-weg helfen. Berufliche Anerkennung ist ihr nun weniger wichtigals die Erlangung der ewigen Seligkeit. Während in ihren frühenGeschichten fromme Gedanken oft aufgesetzt und dem Zeitgeistangepasst wirken, greifen ihre religiösen Gefühle nun tiefer.Schreiben nicht nur als Selbsttherapie, Schreiben als Hilfsangebotfür Suchende. Auch wenn ihre Schriften nicht vordergründigbelehrend daherkommen, folgen sie doch einem pädagogischenImpetus.

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Durch den Erfolg der Heidibücher fühlt sich Johanna Spyribestätigt in ihrer Hinwendung zur Kinderliteratur. Sie bringt inihren letzten zwei Lebensjahrzehnten fast in jedem Jahr ein Buchfür Kinder oder Jugendliche heraus, Erzählungen vom Rosenresli,von Gritli und Gritlis Kindern, von Lauris Krankheit und vomGeissbub Moni oder vom fröhlichen Heribli. Keine aber kommtan die Beliebtheit von Heidi heran.

Von Zwängen befreit

»All mein Thun und Leben ist mir Zwang«, hat Johanna Spyri1856, vier Jahre nach ihrer Hochzeit und ihrer Übersiedlung nachZürich, einer Freundin geschrieben. Wie viel mehr müssen sie dieZwänge in ihrer späteren Rolle als Frau Stadtschreiber bedrückthaben: einem Protokoll unterworfen, das ihr kaum eigenen Spiel-raum lässt, mit Menschen Umgang pflegen, die sie langweilenoder nerven, wie Richard Wagner mit seinem »mystisch hochge-spannten Wesen« …

Das alles liegt weit hinter ihr. Mit dem Tod ihres Mannes unddem Auszug aus dem Stadthaus ist sie wieder Privatperson gewor-den und kann selbst über ihr Tun bestimmen. Befreit fühlt sie sichauch von ihrem fast krankhaften Sparzwang und von ihrenSchuldgefühlen, die sie daran gehindert haben, die angenehmenSeiten des Daseins zu geniessen. Sie ist nun eine wohlhabendeFrau. Aus ihren von Jahr zu Jahr wachsenden Bucherlösen unddem Erbe ihres Mannes kann sie sich ein angenehmes und kom-fortables Leben leisten.

1886 zieht sie in eine Wohnung am Zeltweg in Hottingen, ei-ne gute Gegend am Stadtrand, die mit dem Zentrum durch ein »Rösslitram« verbunden ist. Hier am sonnigen Fuss des Zürich-bergs haben sich Professoren, Künstler, Musiker und Dichter nie-dergelassen, eine Mischung aus Boheme und Behäbigkeit, etwasverwegen als »Quartier Latin« von Zürich bezeichnet. GottfriedKeller wohnt ebenfalls am Zeltweg, ganz in der Nähe seinesMalerfreundes Arnold Böcklin. Neben den Sesshaften beherbergtdas Quartier vielerlei Zugvögel wie den Architekten Gottfried

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Semper und die revolutionären Dichter Herwegh und Freiligrath,auch Ricarda Huch, die in Zürich als eine der ersten Frauen inGeschichte promovierte. Im Bändchen Frühling in der Schweiz be-schreibt sie voller Begeisterung den Alltag und das Studentenle-ben im noch ländlich gemütlichen Hottingen. Dass RichardWagner nicht mehr hier wohnt, wird Johanna Spyri nicht bedau-ern. Heute erinnern Gedenktafeln an zahlreichen Häusern an dieillustren Gäste.

Die Witwe Spyri pflegt ihre alten Freundschaften weiter,schreibt Kindergeschichten und – häufiger als früher – Briefe. DerFreundeskreis ist enger geworden, seit sie allein lebt. Sie leidetdarunter, dass die alte Freundin Betsy Meyer sich, wahrscheinlichaus Furcht vor einer zu starken Umklammerung, zurückgezogenhat. Im November 1887 schreibt sie ratlos an den Bruder: »Betsyin Zürich lebend und nie meine Schwelle betretend! Was habeich denn gesündigt?«

Um der Einsamkeit zu entgehen, unternimmt sie ausgedehnteReisen, an die italienische Riviera, den Lago Maggiore oder anden Genfer See. Montreux hat es ihr angetan, besonders imHerbst, wenn die tiefer stehende Sonne in die Weinberge fällt. Sieleistet sich nun auch kostspielige Kuraufenthalte in den Bergen.Und endlich hat sie Zeit zum ungestörten Lesen. Ihren Goetheholt sie wieder vor und Lessing, bei dem sie die »Klarheit, Kraftund Schärfe« schätzt. Pathos und hymnische Gedichte liegen ihrnicht, genauso wenig wie der Weltschmerz in den GedichtenLenaus. Sie ist Realistin, Gottfried Keller und Conrad FerdinandMeyer näher als den Romantikern, auch wenn ihr fälschlicher-weise ein Hang zur Sentimentalität angedichtet wurde.

Weltberühmt und doch unbekannt

Johanna Spyris Werk wächst und wächst, ihre Einsamkeit eben-falls. Sie schreibt dagegen an, über dreissig Bücher sind von ihrerschienen mit fast fünfzig Erzählungen, die letzte, Die Stauffer-Mühle, in ihrem Todesjahr 1901. Gegen den Krebs ist sie macht-los. Sie lässt sich von Marie Heim-Vögtlin, der ersten Schweizer

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Irma Hildebrandt

Mutige Schweizerinnen18 Porträts von Johanna Spyri bis Lieselotte Pulver

Gebundenes Buch, Pappband, ca. 256 Seiten, 12,0x19,3ISBN: 978-3-7205-2830-6

Diederichs

Erscheinungstermin: September 2006

Unzählige mutige und außergewöhnliche Frauen haben Kultur und Politik der Schweizentscheidend geprägt. Ihre Namen wurden bisher aber stets in der zweiten Reihe genannt.Dieser Band versammelt erstmals die Biografien der wichtigsten Schweizer Frauen wie Carladel ponte oder Lieselotte Pulver. Sie haben als Schriftstellerin, Politikerin oder Ärztin, als Juristinoder Mäzenin ihr Leben selbst in die Hand genommen und wurden damit zu Vorbildern für dienachfolgenden Frauengenerationen.