Beethoven trifft auf Poppe & Widmann · Dass die Zeitgenossen Beethovens Musik als kongeniale...
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Donnerstag, 26.09.19 — 20 Uhr
Sonntag, 29.09.19 — 11 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal
Freitag, 27.09.19 — 19.30 Uhr Musik- und Kongresshalle Lübeck
Beethoven trifft aufPoppe & Widmann
AL AN GILBER T
DirigentCAROL IN WIDMANN
Violine
NDR ELBPHILHARMONIE
ORCHES TER
LUDWIG VAN BEE THOVEN (1770 – 1827)
Ouvertüre zu Goethes Trauerspiel „Egmont“ f-Moll op. 84Entstehung: 1810 | Uraufführung: Wien, 24. Mai 1810 | Dauer: ca. 8 Min.
Sostenuto ma non troppo – Allegro – Allegro con brio
ENNO POPPE (*1969 )
„Schnur“ für Violine und Orchester(Auftragswerk des Beethovenfests Bonn, finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung)Entstehung: 2019 | Uraufführung: Bonn, 24. September 2019 | Dauer: ca. 18 Min.
Pause
JÖRG WIDMANN (*1973)
Con brioKonzertouvertüre für OrchesterEntstehung: 2008 | Uraufführung: München, 25. September 2008 | Dauer: ca. 12 Min.
LUDWIG VAN BEE THOVEN
Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92Entstehung: 1811-12 | Uraufführung: Wien, 8. Dezember 1813 | Dauer: ca. 38 Min.
I. Poco sostenuto – Vivace II. Allegretto III. Presto IV. Allegro con brio
Dauer des Konzerts einschließlich Pause: ca. 2 Stunden
Das Konzert am 26.09.19 ist live zu hören auf NDR Kultur und live im Stream zu sehen auf concert.arte.tv, auf ndr.de/eo sowie in der EO-App. Danach bleibt es als Video-on-Demand online abrufbar.
Einführungsveranstaltungen mit Alan Gilbert und Julius Heileam 26.09. und 29.09. jeweils eine Stunde vor Konzertbeginn im Großen Saal der Elbphilharmonie
Einführungsveranstaltung mit Julius Heileam 27.09. um 18.30 Uhr auf der „Galerie Wasserseite“ der Musik- und Kongresshalle
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Klassizität und Neuheit„Klassik“ – dieser Begriff für die europäische Kunstmusik im Allgemei-
nen und die Musik der „Wiener Klassiker“ Haydn, Mozart und Beethoven
im Besonderen beinhaltet Vorstellungen des Maßvollen, Meisterhaften
und zeitlos Gültigen. Doch was die Nachwelt als gegeben und unüber-
trefflich ansah, das stellte sich aus Sicht der Komponisten ein wenig
anders dar: Sie suchten, probierten und verwarfen, und sie schrieben
Werke, die ihre Zeitgenossen ganz unerhört fanden. Wie ungewohnt
und experimentell gerade Ludwig van Beethovens Musik oftmals auf
ihr Publikum wirkte, das geht zwar schon aus mancher alten Konzert-
kritik hervor. Noch besser können wir es uns aber vergegenwärtigen,
indem wir dieser Musik Neukompositionen unserer eigenen Zeit zur
Seite stellen. Umgekehrt profitieren auch aktuelle Werke, wenn sie nicht
nur im engen Rahmen spezialisierter Festivals aufgeführt werden, son-
dern in direkter Konfrontation mit Werken des klassisch-romantischen
Kanons, auf den sie sich ja implizit häufig beziehen. Enno Poppe und
Jörg Widmann reagierten mit den beiden zeitgenössischen Kompositio-
nen des heutigen Abends sogar ganz ausdrücklich auf Beethoven.
Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne will Alan Gilbert
in seiner ersten Spielzeit als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie
Orchesters ausloten – zielgerichteter als mit der aktuellen Programm-
folge könnte er das kaum tun.
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Begegnung zwischen Beethoven und Goethe
in Teplitz 1812 (nach einer Zeichnung von
Carl Röhling)
Aus Liebe zum Dichter: Beethovens „Egmont“-Ouvertüre
Als das Wiener Hoftheater nach einer durch Napoleons Belagerung
erzwungenen Spielpause im Herbst 1809 seine Pforten wieder öffnen
konnte, setzte Theaterdirektor Joseph Hartl von Luchsenstein gleich
zwei Freiheits-Epen auf den Spielplan: Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“
und Johann Wolfgang von Goethes „Egmont“. Durch den Krieg hatten
beide Stücke an Aktualität gewonnen. Den Auftrag, eine neue Schau-
spielmusik zum „Egmont“ zu schreiben, erhielt Beethoven – eine
glückliche Wahl, denn Goethe war der bevorzugte Dichter des Kompo-
nisten, und auch das Sujet des Dramas, Suche nach Gerechtigkeit,
Auflehnung gegen Unterdrückung, Sieg der Freiheit, bewegte ihn stark.
Goethes 1788 veröffentlichtes Trauerspiel führt das Publikum in die
spanische Niederlande des 16. Jahrhunderts. Graf Egmont hält zu
Beginn der Handlung noch loyal zur spanischen Krone, bittet diese
jedoch um Toleranz gegenüber den Anhängern der Reformation.
Vergeblich, denn der König schickt den brutalen Herzog von Alba,
der den drohenden Aufstand unterdrücken soll. Egmont unterschätzt
die Gefahr und wird eingekerkert. Seine Geliebte Clärchen versucht
seine Befreiung zu organisieren, scheitert aber und nimmt sich mit Gift
das Leben. Am Ende wird Egmont hingerichtet – er stirbt im Bewusst-
sein, dass sein Tod nicht umsonst ist, sondern zur Befreiung der
Niederlande von den Spaniern führen wird.
Beethovens Identifikation mit seiner Aufgabe geht aus einem Brief an
seinen Verlag Breitkopf & Härtel hervor. Darin heißt es, er habe die
„Egmont“-Musik „bloß aus Liebe zum Dichter geschrieben und um
dieses zu zeigen, nichts dafür von der Theaterdirektion genommen.“
Dass die Zeitgenossen Beethovens Musik als kongeniale Ergänzung
zum Schauspiel wahrnahmen, zeigt eine Rezension des Schriftstellers
und Komponisten E.T.A. Hoffmann von 1813: „Mancher Komponist hätte
eine kriegerische, stolz daherschreitende Ouvertüre zum ‚Egmont‘ ge-
setzt, aber an jene tiefere, echt romantische Tendenz des Trauerspiels,
kurz, an Egmonts und Clärchens Liebe, hat sich unser sinniger Meister
in der Ouvertüre gehalten. Man ist sonst in Beethovenscher Instru-
mental-Musik an eine reiche Ausbeute genialischer kontrapunktischer
Wendungen, kühner Ausweichungen usw. gewöhnt: wie sehr der Meister
aber mit seinem Reichtum hauszuhalten und ihn zu rechter Zeit zu
spenden versteht, beweist die hier in Rede stehende Komposition, die
ohne im mindesten für sich selbst glänzen zu wollen, ganz dem Sinne
des Dichters folgt, und sich seiner Tendenz anschmiegt.“
Während die gesamte Schauspielmusik aufgrund der veränderten
Aufführungspraxis heute nur noch selten erklingt, zählt Beethovens
„Egmont“-Ouvertüre nach wie vor zu seinen beliebtesten Werken. Sie
beginnt mit einer düsteren langsamen Einleitung, deren Sarabanden-
rhythmus (Dreiertakt mit Betonung auf der Zwei) sich zweifellos be-
reits auf den Inhalt des Dramas bezieht: Die höfische Tanzform der
Sarabande ist spanischen Ursprungs. Im schnellen Hauptteil behält
Beethoven den Dreiertakt und die Tonart f-Moll zunächst bei. Das Ge -
„Jeder Ton, den der Dichter anschlug, klang in seinem [Beethovens] Gemüte wie auf gleichgestimmter, mitvibrierender Saite wider.“E.T.A. Hoffmann nach einer „Egmont“-Aufführung
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Enno Poppe
schehen wird von kurzen, sich steigernden Motiven vorangetrieben, und
das Ende der Reprise lässt an eine Eintragung in Beethovens Skizzen-
buch denken: „Der Tod Egmonts könnte durch eine Pause angedeutet
werden.“ Es folgt noch eine wirbelnde Coda in F-Dur und im geraden
Takt; sie nimmt die Siegessinfonie am Ende der Schauspiel musik vorweg.
Vibrierendes Leben:„Schnur“ von Enno Poppe
Enno Poppes neues Violinkonzert ist das fünfte und letzte Werk einer
Reihe von Auftragskompositionen, mit denen das Beethovenfest Bonn
seit 2015 alljährlich einen Gegenwartskomponisten zur Auseinander-
setzung mit einer historischen Gattung und einem konkreten Werk
Beethovens anregen will. Wobei dieser Impuls in Poppes Fall gar nicht
notwendig gewesen wäre. Für ihn ist Beethoven „die Muttermilch, aber
auch das Vatertrauma“, so der Komponist im Gespräch mit dem Musik-
journalisten Björn Gottstein. Was Poppe an Beethoven fasziniert, sind
eher allgemeine Denkweisen als Details einzelner Stücke – vor allem
die Art, wie das musikalische Material „entfaltet, zerstört und neu
zusammengesetzt wird.“ Einen konkreten Bezug zu Beethovens be-
rühmtem Violinkonzert D-Dur op. 61 kann man immerhin in der fast
identischen, nur durch eine zweite Flöte und zusätzliches Schlagwerk
erweiterten Orchesterbesetzung sehen, außerdem im besonderen
Verhältnis der Sologeige zur Pauke (und anderen Schlaginstrumenten).
Doch das eigentliche Thema des neuen Werks wäre zu Beethovens Zeit
wohl keinem Komponisten in den Sinn gekommen: das Streicher-
Vibrato. Welchen Stellenwert es um 1800 überhaupt hatte, darüber
herrscht unter den Musikhistorikern keine Einigkeit, da Tonaufnahmen
„Ich glaube, mein ganzes Leben ist eine tiefere kompositorische Auseinandersetzung mit Beethoven. Er schaut mir irgendwie immer über die Schulter beim Schreiben, ist immer dabei.“Enno Poppe
fehlen und die verbalen Äußerungen der Komponisten und Theoretiker
sich zu widersprechen scheinen. Unzweifelhaft setzten Solisten die
„Bebung“ oder das „Tremolo“ als Verzierung ein, doch das heute sogar
im Orchester übliche kontinuierliche Vibrato war, wenn nicht unbekannt,
so doch verpönt. Erst um 1920 erfuhr es durch Violinvirtuosen wie
Fritz Kreisler eine enorme Aufwertung, galt von nun an als probates
Mittel, um Tönen mehr Ausdruck und Leben zu geben. Wie genau man
vibriert – wie man also mit dem linken Unterarm oder den Fingern wie-
derkehrende, geringfügige Veränderungen der Höhe eines gehaltenen
Tons bewirkt –, das betrachten Interpreten als eine sehr persönliche
Sache. Viele rechnen die Entscheidung, wie ein Ton durchs Vibrato
gefärbt wird, ihrer eigenen Kompetenz zu; sie möchten nicht, dass
Komponisten in ihren Partituren darüber verfügen.
Carolin Widmann lässt sich nun aber darauf ein, ähnlich wie zuvor be-
reits Tabea Zimmermann, für die Poppe 2014 sein Bratschenkonzert
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Jörg Widmann
„Filz“ schrieb. Mit beiden Streicherinnen arbeitete der Komponist
eng zusammen, ließ sich von ihnen Möglichkeiten der Tongestaltung
vorführen. In der Solostimme des Violinkonzerts schlägt sich das in
sehr differenzierten Spielanweisungen nieder, die von „non vibr.“
über „poco vibr.“, „vibr. dolce“, „vibr. lento“, „vibr. molto“ bis zur Wort-
neuschöpfung „vibratissimo“ und zum „vibr. exaggerato“, dem über-
triebenen Vibrato reichen. Hinzu kommt die weniger spezifische Aus-
drucksbezeichnung „espressivo“, die Interpreten oft als Auslöser für
gesteigertes Vibrato verstehen. Hinzu kommt außerdem sehr häufig
ein mehr oder weniger rasches Pendeln zwischen zwei durch Glissando
(rutschende Bewegung) verbundenen Tönen – es ist im Grunde nichts
anderes als ein in Frequenz und Amplitude genau fixiertes Vibrato.
Kombiniert werden all diese Vibrato-Nuancen mit anderen Techniken
der Tonmodulierung wie etwa „Bogenvibrato“ (rhythmisches Pulsieren
mit dem Bogen) oder „flautato“ (luftige, flötenartige Töne, die ent -
stehen, wenn man den Bogen mit geringem Druck über dem Griffbrett
bewegt). Welche Art von Musik sich nun aus diesem Material ergibt –
das suggeriert womöglich der Begriff „Schnur“. Er ist einer der für
Poppe typischen Ein-Wort-Titel, die der Komponist nicht kommentiert,
die aber im Bewusstsein des Hörers weite Assoziationsräume öffnen.
Im vorliegenden Fall mag man an schnurgerade oder gewundene Linien
denken, an Schleifen, Knoten und Geflechte, an gezwirnte Fasern
unterschiedlicher Farbe, Textur, Stärke und Elastizität.
Rasantes Tempo, grimmiger Humor:Widmanns „Con brio“
Jörg Widmann ist nicht nur ein weltweit gefragter Komponist, sondern
zugleich ein Klarinettist von höchstem Rang. Dass er als Interpret
intensiven Austausch mit den Komponisten vergangener Zeiten pflegt,
dürfte zurückwirken auf seine schöpferische Arbeit. In Streichquartet-
ten oder Solokonzerten bezieht sich Widmann auf historische Gattun-
gen, Satzstrukturen und Spielhaltungen, ebenso in der 2008 entstan-
denen Konzertouvertüre „Con brio“, für die sich sogar ein konkreter
Anknüpfungspunkt nennen lässt: Mariss Jansons wünschte sich für das
von ihm geleitete Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein
kurzes Stück, das zusammen mit Beethovens Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8
aufgeführt werden sollte.
Nun sind zwar in Widmanns Komposition wörtliche Zitate aus diesen
Werken kaum zu entdecken, dafür aber subtilere Ähnlichkeiten und
Bezüge. Das beginnt erneut bei der Besetzung, die genau mit der-
jenigen der beiden Beethoven-Sinfonien übereinstimmt: doppeltes
Holz (je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte), sparsames Blech
(nur zwei Hörner und zwei Trompeten) sowie Pauke und Streicher.
Der Titel „Con brio“ (mit Feuer, Lebhaftigkeit, Schwung) greift eine bei
Beethoven häufige Tempo- und Ausdrucksbezeichnung auf. Sie findet
sich beispielsweise in der Siebten (Finale), der Achten (Kopfsatz) oder
der „Egmont“-Ouvertüre, und sie steht für einen schnellen Bewegungs-
typus, ein rhythmisches Drängen, das oft mit schroffen, das Metrum
untergrabenden Akzenten verbunden ist. Genau dieser Typus interes-
sierte Widmann, der sein Werk „zwischen festlich-feierlichem Ouver-
tü rengestus und permanentem Finalcharakter angesiedelt“ sieht.
Außerdem sei es „gespickt mit grimmigen Scherzo-Elementen“ – wo-
runter wohl bereits der Beginn fällt: Nach einem kurzen Paukensolo
hört man einen F-Dur-Akkordschlag, aus dem sofort und im buchstäb-
lichen Sinn „die Luft herausgelassen“ wird. Insgesamt ist „Con brio“ ein
ungemein rasantes Stück, das aber immer wieder auch seine ruhigen
Momente hat. Es endet, anders als „Egmont“-Ouvertüre und Siebte Sin-
fonie, nicht triumphal, sondern nach auskomponierter Verlangsamung
in einem dumpfen Pizzicato, also gleichsam mit einem Fragezeichen.
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Seite aus Beethovens eigen-
händiger Reinschrift der Partitur der Siebten
„Nun haben die Extravaganzen dieses Genius das non plus ultra erreicht; Beethoven ist nun ganz reif fürs Irrenhaus.“Carl Maria von Weber über Beethovens Sinfonie Nr. 7
Siegesmusik oder irre Orgie?Beethovens Siebte Sinfonie
„Die Klassizität der Sinfonien des Herrn van Beethoven, des größten
Instrumental-Komponisten unserer Zeit, ist anerkannt. Diese neueste
erwirbt dem genialen Verfasser nicht geringere Bewunderung als die
älteren, vielleicht ist es sogar ein wichtiger Vorzug, den sie vor diesen
behauptet, dass sie, ohne ihnen in der Künstlichkeit des Satzes nach-
zustehen, in allen Teilen so klar, in jedem Thema so gefällig und leicht
fasslich ist, dass jeder Musikfreund, ohne eben Kenner zu sein, von ihrer
Schönheit mächtig angezogen wird, und zur Begeisterung entglüht.“
Wie dieser zeitgenössische Konzertbericht zeigt, reagierten Publikum
und Kritik von Beginn an positiv auf Beethovens siebte, 1811/12 kom-
ponierte Sinfonie. Das mochte zum einen an den genannten Vorzügen
der Klarheit und Fasslichkeit liegen, zum anderen sicher auch an den
Umständen der Uraufführung am 8. Dezember 1813. An ihr nahmen die
besten Musiker Wiens teil, darunter die Komponisten Johann Nepomuk
Hummel, Giacomo Meyerbeer, Ignaz Moscheles, Antonio Salieri und
Louis Spohr; Beethoven selbst sprach danach gerührt von einem
„Nonplusultra der Kunst“. Außerdem hatte zwei Monate zuvor die Völ-
kerschlacht zu Leipzig den Untergang Napoleons eingeleitet, und die
„Große Akademie“, in der die Sinfonie zu hören war, fungierte als
Wohltätigkeitskonzert zugunsten der in der Schlacht bei Hanau „invalide
gewordenen österreichischen und bayerischen Krieger“.
Weitere Aufführungen gab es während des Wiener Kongresses
(September 1814 bis Juni 1815), als Diplomaten aus vielen Ländern
die Neugliederung Europas verhandelten und sich dazu ein üppiges
gesellschaftliches und kulturelles Beiprogramm gönnten. Bei diesen
ersten Wiedergaben stand die Sinfonie zusammen mit Beethovens
antinapoleonischem Schlachtengemälde „Wellingtons Sieg oder die
Schlacht bei Vittoria“ und der Kantate „Der glorreiche Augenblick“
auf dem Programm. Viele verstanden deshalb auch die Siebte im Sinne
der freudigen Sieges- und Freiheitsstimmung. Eine ganze Reihe weiterer
außermusikalischer Deutungen findet sich noch bis ins 20. Jahrhundert
in der Beethoven-Literatur: Die Vermutungen reichen vom „antiken
Rebenfest“ bis zur Hochzeitsfeier, vom Ritterfest bis zur Militärsinfonie
und schließlich auch zur Idee, es handle sich um vertonte Szenen aus
Goethes „Wilhelm Meister“. Zwar kann nichts davon belegt werden,
doch der Gedanke, hinter den Noten verberge sich ein Programm,
scheint nach der „Eroica“ und der „Pastorale“ immerhin verständlich.
Beethoven allerdings wehrte sich stets gegen allzu konkrete Aus-
deutungen; er wollte nur Erklärungen gelten lassen, die sich „auf die
Charakteristik des Tonstücks im allgemeinen beschränken“. Wie dem
auch sei – lebensbejahend und heiter wird man das Werk auf jeden
Fall nennen dürfen.
Das gilt schon für den Eröffnungssatz, dessen Vivace-Hauptteil durch
einen Tanz im hüpfenden 6/8-Takt bestimmt wird. Zuvor jedoch erklingt
die längste langsame Einleitung, die Beethoven je für eine Sinfonie ge-
schrieben hat. Mit ihren beiden selbständig geführten Themen und ihrer
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großen Vielfalt musikalischer Ideen wirkt diese Introduktion fast wie
ein eigener Sinfoniesatz. Das Vivace selbst basiert fast ganz auf dem
Eröffnungsthema – und auf dem daktylischen Rhythmus (lang-kurz-kurz)
sowie den Tonrepetitionen, die dann auch den zweiten Satz beherrschen.
Einen wirkungsvollen Kontrast zum Vivace bildet das Allegretto, das in
der Siebten den langsamen Satz ersetzt, aber dennoch: Zuerst stellt ein
trauriger Bläserakkord in a-Moll die vorangegangene Siegesstimmung
in Frage. Über einem zweitaktigen Ostinato-Rhythmus – er bleibt selbst
im Dur-Mittelteil hörbar – entfaltet sich dann immer mächtiger und be-
drohlicher ein Klagegesang. Die zeitgenössischen Hörer mussten ihn
zweifellos als einen Trauermarsch für die Gefallen der Schlacht verste-
hen. Der Satz war einer zeitgenössischen Kritik zufolge „ein Lieblings-
stück aller Kenner und Nichtkenner, das auch den in der Tonkunst gar
nicht Unterrichteten innig anspricht, durch seine Naivität und einen
gewissen geheimen Zauber alles unwiderstehlich hinreißt, und dessen
Wiederholung bisher noch bei jeder Aufführung mit Enthusiasmus
erzwungen worden ist“.
Mitreißende Rhythmen prägen wieder das folgende Scherzo, das
zweimal von einem kantableren Trio unterbrochen wird. In diesem Satz
klingen auch Lieder aus der „Egmont“-Musik an. Die späteren Cha-
rakterisierungen als „Orgie des Rhythmus“ (Romain Rolland) oder
„Apotheose des Tanzes“ (Richard Wagner) hat Beethovens Siebte vor
allem ihrem Finale zu verdanken. Nach zwei Akkordschlägen bricht hier
ein wahrer Sturm rhythmischer Energie und rasender Bewegung los.
Zwar waren einige Zeitgenossen der Meinung, „dass diese Sinfonie nur
im unglücklichen – im trunkenen Zustand komponiert sein könne“
(so Schumanns Schwiegervater Friedrich Wieck), oder verlangten, der
Komponist müsse für dieses Stück ins „Irrenhaus“ geschickt werden
(Carl Maria von Weber). Der weitaus größere Teil der Zuhörer reagierte
jedoch mit höchster Begeisterung auf den geradezu ekstatischen
Schluss von Beethovens Siebter Sinfonie.
Jürgen Ostmann
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AlanGilbert
Die aktuellen Konzerte im Rahmen des Festivals „Klingt nach Gilbert“
markieren den Amtsantritt von Alan Gilbert als neuer Chefdirigent des
NDR Elbphilharmonie Orchesters. Der Amerikaner genießt in der inter-
nationalen Musikwelt einen herausragenden Ruf als leidenschaftlicher
Interpret eines breiten Repertoires vom Barock bis zur Gegenwart sowie
als Künstler mit großem gesellschaftlichem Verantwortungsbewusst-
sein. Dem NDR Elbphilharmonie Orchester ist er bereits seit langem
eng verbunden; von 2004 bis 2015 war er dessen Erster Gastdirigent.
2017 ging Gilberts achtjährige Amtszeit als Music Director des New York
Philharmonic Orchestra zu Ende, wo es dem gebürtigen New Yorker
gelungen ist, den Ruf des Orchesters nochmals auszubauen und dessen
führende Bedeutung in der kulturellen Landschaft der USA zu unter-
streichen. Gilbert ist außerdem Ehrendirigent des Royal Stockholm
Philharmonic Orchestra, dessen Chef er acht Jahre lang war, Erster
Gastdirigent des Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra und Gründer
der Organisation „Musicians for Unity“, die mit Unterstützung und
Führung der Vereinten Nationen Musiker aus aller Welt mit dem Ziel der
Förderung von Frieden, Entwicklung und Menschenrechten vereint.
Als international gefragter Gastdirigent kehrt Gilbert regelmäßig
zu Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, dem Royal Concert-
gebouw Orchestra, Cleveland, Boston Symphony und Philadelphia
Orchestra, der Staatskapelle Dresden, dem Gewandhausorchester
Leipzig oder dem Orchestre Philharmonique de Radio France zurück.
Er hat Opernproduktionen an der Mailänder Scala, der Metropolitan
Opera New York, Los Angeles Opera, Königlichen Oper Stockholm, am
Opernhaus Zürich und an der Santa Fe Opera geleitet, zu deren erstem
Music Director er 2003 ernannt wurde. Den gelernten Geiger verbindet
außerdem eine enge künstlerische Partnerschaft mit Interpreten wie
Frank Peter Zimmermann, Lisa Batiashvili, Leonidas Kavakos, Yo-Yo Ma,
Emanuel Ax, Renée Fleming und Komponisten wie John Adams, Magnus
Lindberg und Esa-Pekka Salonen. Gilberts Diskografie umfasst u. a.
die CD-Box „The Nielsen Project“ und eine mit dem Grammy Award
ausgezeichnete DVD mit John Adams’ „Doctor Atomic“ live aus der New
Yorker Met. Der mit zahlreichen renommierten Preisen und Ehrungen
ausgezeichnete Dirigent war darüber hinaus Leiter des Bereichs
für Dirigier- und Orchesterstudien an der New Yorker Juilliard School.
Neben den zahlreichen Konzerten mit dem NDR Elbphilharmonie
Orchester wird Alan Gilbert in der Saison 2019/20 zum wiederholten
Mal das Cleveland Orchestra, Tokyo Metropolitan Symphony, London
Symphony und Royal Stockholm Philharmonic Orchestra sowie das
Gewandhausorchester Leipzig und die Staatskapelle Dresden leiten.
Darüber hinaus dirigiert er eine Produktion von Puccinis Oper „La
fanciulla del West“ in Stockholm. Nach der Veröffentlichung der neuen
Bruckner-CD mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester erscheint
außerdem eine neue Einspielung von Beethoven-Klavierkonzerten
mit der Academy of St Martin in the Fields und Inon Barnatan.
D I R I G E N T D I R I G E N T16 17
Carolin Widmann
Die vielseitigen musikalischen Aktivitäten Carolin Widmanns reichen
von Aufführungen der großen klassischen Konzerte und für sie eigens
geschriebener Werke über Soloabende, eine große Bandbreite von
Kammermusik bis hin zum Spiel auf Originalinstrumenten, einschließ-
lich Leitung von der Geige aus. 2017 wurde die Ausnahme-Künstlerin mit
dem Bayerischen Staatspreis für Musik ausgezeichnet. Daneben gewann
sie für ihre gefeierte Aufnahme der Violinkonzerte von Mendelssohn
und Schumann mit dem von ihr geleiteten Chamber Orchestra of Europe
einen International Classic Music Award, den sie bereits 2013 als
„Musikerin des Jahres“ erhalten hatte.
Carolin Widmann hat mit weltweit führenden Orchestern zusammen-
gearbeitet, darunter die Berliner Philharmoniker, das Orchestre de Paris,
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Royal Stockholm
Philharmonic, Sydney Symphony und Philharmonia Orchestra, das
Gewandhausorchester Leipzig, Tonhalle-Orchester Zürich und die
Tschechische Philharmonie. Dabei konzertierte sie unter Dirigenten wie
Sir Simon Rattle, Riccardo Chailly, Sir Roger Norrington, Sakari Oramo,
Vladimir Jurowski, Daniel Harding, Christoph von Dohnányi und
François-Xavier Roth. Darüber hinaus ist sie bei renommierten Festivals
wie den Salzburger und Berliner Festspielen, dem Lucerne Festival,
Festival d’Automne in Paris, Ravinia Festival und den Festspielen
Mecklenburg-Vorpommern aufgetreten. In der Saison 2014/2015 war
sie Artist in Residence der Alten Oper Frankfurt. In derselben Spielzeit
brachte sie ein Violinkonzert von Julian Anderson mit dem London Phil-
harmonic Orchestra zur Uraufführung. Kürzlich hob sie Jörg Widmanns
Violinkonzert Nr. 2 in der Suntory Hall in Tokio aus der Taufe.
Zu den Höhepunkten der Saison 2019/2020 gehören Wiedereinladungen
zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, BBC Symphony Orchestra
und zu den Dresdner Philharmonikern. Widmann wird außerdem das
São Paulo Symphony Orchestra von der Geige aus leiten und an der
Barockgeige zum ersten Mal mit der Accademia Bizantia musizieren.
Daneben debütiert sie beim Orchestre de Chambre de Paris, Los
Angeles Philharmonic Orchestra, Mahler Chamber, Scottish Chamber
und Orpheus Chamber Orchestra.
Als leidenschaftliche Kammermusikerin gastiert Widmann regelmäßig
an den führenden Konzerthäusern, darunter die Wigmore Hall in London
und die Berliner Philharmonie. In der vergangenen Saison unternahm
sie große Recital-Tourneen durch Nord- und Südamerika und kehrte für
ein reines Beethoven-Programm an das Wiener Konzerthaus zurück.
Ein besonderes Interesse hat sie an der Verbindung mit anderen Kunst-
formen. So gestaltete sie choreographierte Konzerte mit Sasha Waltz,
spielte bei einem von Daniel Libeskind kuratierten Projekt in einem
Fußballstadion, entwarf Programme für Museen und wirkte bei einem
Projekt der Performance-Künstlerin Marina Abramović mit.
Carolin Widmann wurde in München geboren und studierte bei Igor
Ozmin in Köln, Michèle Auclair in Boston und David Takeno in London.
Seit 2006 ist sie Professorin an der Musikhochschule in Leipzig.
Sie spielt auf einer Guadagnini-Violine von 1782.
V I O L I N EV I O L I N E18 19
Herausgegeben vom
N O R D D E U T S C H E N R U N D F U N K
Programmdirektion HörfunkOrchester, Chor und Konzerte
Rothenbaumchaussee 13220149 Hamburg
Leitung: Achim Dobschall
N D R E L B P H I L H A R M O N I E O R C H E S T E R
Management: Sonja Epping
Redaktion des Programmheftes
Julius Heile
Der Einführungstext von Jürgen Ostmannist ein Originalbeitrag für den NDR.
Der Originalbeitrag von Alan Gilbert wurde von Andrea Kirchhartz ins Deutsche übersetzt.
Fotos (Programmteil):AKG-Images (S. 7, 13); Harald Hoffmann (S. 9); Marco Borggreve (S. 10)
Peter Hundert | NDR (S. 16); Lennard Rühle (S. 18)
Fotos (Festivalteil):Peter Hundert | NDR (Titel, S. 4, S. 13, S. 18/19); Christian Spielmann | NDR
(S. 6, 8, 9, 11); Cooper Copter (S. 7); Philip Gatward (S. 14); Kirk Edwards (S. 15)
NDR MarkendesignDesign: Kolle Rebbe, Realisation: Klasse 3b
Druck: Eurodruck in der PrintarenaLitho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet.
Musizieren„
maximaleLeidenschaft
ist für michPassion,
“MARTIN GRUBINGER
und Intensität.
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„Für eine Musik, die ALLE erreicht.“
A l a n G i l b e r t . C h e f d i r i g e n t .
Festival zum Amtsantrittdes neuenChefdirigenten
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Der Beginn einer jeden Reise wird wohl von einer gespannten Er-wartung begleitet. Und so verwundert es nicht, dass auch ich jetzt, wo ich im Begriff bin, mein neues Amt als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters anzutreten, eine wunderbar aufgeregte Vorfreude verspüre. Sie erinnert mich an Zeiten meines Lebens, in denen ich neue Kapitel aufgeschlagen habe: die ersten Tage an der Universität oder das Kennenlernen einer neuen Klasse von Studenten zu Beginn eines neuen Lehrjahres. Aber diesmal ist es anders, denn in das Unbekannte mischt sich das angenehme Gefühl, nach Hause zu kommen, zurückzukehren in eine zutiefst vertraute Situation.
Denn ich kenne das NDR Elbphilharmonie Orchester jetzt seit etwa 18 Jahren. Weltweit ist es eines der Orchester, das ich wohl am besten kenne, und ganz sicher ist es eines der Orchester, das ich am meisten liebe. Wir haben gemeinsam zahlreiche Konzerte ge-geben, sind in und um Hamburg aufgetreten und haben etliche Tourneen unternommen. Meine Jahre als Erster Gastdirigent waren für mich glückliche Jahre, die mich dem Orchester immer näher gebracht haben. Viele Musiker haben in dieser Zeit für eine Stelle im Orchester vorgespielt, und ich bin stolz, Teil des Prozesses ge-wesen zu sein, der sie nach Hamburg gebracht hat. Seit langem
„Jedem Zuschauer möchte ich einen leidenschaftlichen, persönlichen, zutiefst musikalischen Moment ermöglichen“Alan Gilbert über seinen Amtsantritt als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters
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betrachte ich das NDR Elbphilharmonie Orchester als Familie, und es ist eine Ehre, in dieser neuen Funktion zurückzukehren.
Was wir jetzt gemeinsam beginnen, ist die natürliche Fortsetzung einer langjährigen Beziehung. Die besondere Chemie, die zwischen uns besteht, basiert jedoch auch auf vielem, was neu ist: auf Umständen, die sich radikal und fundamental geändert haben. Das Orchester hat sich fantastisch entwickelt, und das musikali-sche Wirken seiner beiden letzten Chefdirigenten gehört nun zu seinem reichen Erbe. In den letzten Jahren war es mir eine Freude, das Orchester in Konzerten unter Christoph von Dohnányi und Thomas Hengelbrock zu erleben, und es ist deutlich spürbar, wie sehr die Art ihres Musizierens Teil der Orchester-DNA geworden ist. Es ist zweifelsohne schwer, von sich selbst ein klares Bild zu haben, aber ich wage zu behaupten, dass auch ich mich verändert habe: denn ich hoffe doch sehr, in meiner Zeit als Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker dazugelernt zu haben. Und auch Hamburg hat sich verändert, vielleicht am offensichtlichsten mit der Eröff-nung der spektakulären Elbphilharmonie, die bereits Kultstatus hat und praktisch über Nacht das Hamburger Musikleben verändert und der Stadt einen bedeutenden Platz in der internationalen Musikszene erobert hat. Was es für das Orchester selbst bedeutet, einen so prachtvollen Saal als Residenzspielstätte zu haben, kann gar nicht überschätzt werden. Wie ein Orchester spielt, hängt ganz entscheidend mit dem Raum zusammen, in dem es spielt – es ist
Bei Alan Gilbert kommt vieles zusammen: musikalische Kompetenz, eine klare Schlagtechnik, vor allem aber die Fähigkeit, alles im Griff zu haben und dabei mit viel Emotion und Freude dabei zu sein.
Simone CandottoSolo-Posaunist
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eine Sammlung von Werken immer und immer wieder zu ergänzen, zu verändern, zu verwerfen und neu zu kombinieren, bis eine Spielzeit daraus entsteht. Es ist schwierig genug, das Programm eines einzigen Konzerts festzulegen. Nun stellen Sie sich vor, Sie müssten 25 unterschiedliche Programme mit vielfältigen Gast-dirigenten und Solisten, die jeweils ihre eigenen Wünsche und Be-dürfnisse mitbringen, festlegen. Würzen Sie diese Mischung noch mit dem Wunsch nach einer ansprechenden Bandbreite von Stilen und Genres, mit der Absicht, einzelne Stücke nicht zu oft zu wieder-holen, der Notwendigkeit, nicht mit anderen Konzerten am selben
Ort zu kollidieren (eine besondere Herausforderung an einem so vielbespielten Ort wie der Elbphilharmonie!) ... und Sie können sich vorstellen, was für eine komplizierte Denksportaufgabe es wird.Obwohl es nie die eine „richtige“ Lösung für dieses Puzzle gibt, ist es unglaublich wichtig, es „richtig“ zu machen, und das aus vieler-lei Gründen. Zuallererst bestimmt die Wahl des Programms das Erleben unseres Publikums – sie IST das Erleben des Publikums. Jedem Zuhörer möchte ich einen leidenschaftlichen, persönlichen, zutiefst musikalischen Moment ermöglichen. Ausgangspunkt für ein solches Erlebnis ist einleuchtender Weise die Auswahl von Werken, die beim Hören packend und bedeutsam sind. Ich muss gleich dazusagen, dass das nicht notwendigerweise die Wahl „großer“
fast so, als ob der Saal eine Art Meta-Instrument ist, das zu einem wesentlichen Teil des Orchesterklangs wird.
Der für mich bedeutendste Unterschied jedoch ist so augenfällig, dass es banal erscheint, ihn überhaupt zu erwähnen: Jetzt bin ich der Chefdirigent. Warum ist das so bedeutsam und worin liegt der Unterschied dazu, einfach nur mehr Konzerte mit demselben Orchester zu geben? Die ausführliche Antwort auf diese Fragen wäre lang und komplex und würde hier den Rahmen sprengen, aber ein Chefdirigent oder eine Chefdirigentin ist in gewissem Sinne verantwortlich für den musikalischen Zustand eines Orchesters, dafür zuständig, WIE es spielt. Er oder sie ist unmittelbar beteiligt, neue Musiker zu berufen, und dient weithin als öffentliches Ge-sicht des Ganzen. An anderer Stelle könnte es interessant sein, genau zu erforschen, was dieser Job wirklich alles beinhaltet. Für jetzt möchte ich mich auf ein paar Worte zu einem Aspekt dieser neuen Beziehung beschränken, den ich für besonders interessant und relevant halte: die Auswahl des Repertoires.
Das Programmieren von Musik, die ein Orchester spielt, ist eine der komplexesten unter den Planungsaufgaben, aber auch eine der schönsten und spannendsten. Ich habe es schon immer geliebt,
Ich mag Alan Gilberts innere Ruhe und sein hochprofessionelles Arbeiten. Mit ihm erreichen wir Höchstleistungen und überraschen unser Publikum mit magischen Momenten. Besonders schätze ich seine Klangvorstellung und seine rhythmische Präzision. Mit ihm am Pult klingt das Orchester satt und transparent. Alan Gilbert überträgt Vertrauen und Sicherheit, und es herrscht höchste Aufmerksamkeit und Konzentration. Er hat stets den Überblick über das Ganze, übernimmt die Führung, wo es nötig ist, und lässt Freiraum für individuelle Interpretation. Man spürt einfach, dass er die Bedürfnisse eines jeden Orchestermusikers kennt und respektiert. Jeder Abend mit ihm ist einzigartig.
Alan Gilbert hat Charisma, tritt aber gleichzeitig unprätentiös auf. Ich schätze seine Weltoffenheit und die Erfahrung, die er als Dirigent anderer Spitzenorchester mitbringt. Gilbert fordert von uns Musikern Aufmerksamkeit für den kollektiven Klang und gleichzeitig die Flexibilität, in einem großen Orchester kammermusikalisch zu reagieren. Er stellt musikalisches Vertrauen her, nicht nur zwischen sich selbst und dem Orchester, sondern auch zwischen den einzelnen Musikern, wobei er als Vermittler perfekt agiert. Er ist in praktisch jedem Werk und jeder Epoche so zuhause, dass sich der Musizierfluss auf alle Musiker zwingend überträgt.
Benedikt KanyKontrabass
Claudia StrenkertSolo-Hornistin
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Werke aus dem sogenannten Kanon der Meisterwerke ist. Wieso? Es ist philosophisch betrachtet äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, zu entscheiden, was genau „groß“ ist. Und „groß“ als Standard würde eine riesige Anzahl von lohnenden und wichtigen Werken ausschließen. Wichtig ist einzig, dass wir Werke präsentie-ren, an die wir hundertprozentig glauben. Das bedeutet, wir haben buchstäblich bei jedem Werk, das wir spielen, das Gefühl, es müsse unbedingt mit unserem Publikum geteilt werden, und es sei ein Werk, das unser Verständnis davon erweitert, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Das sind hochgesteckte und womöglich unerreichbare Ziele. Aber ich glaube, es ist ein sinnvolles Streben. Sinnvoll, weil die Motivati-onen hinter jeder möglichen Auswahl vielfältig sind und untrenn-bar verbunden mit der Kombination der Stücke innerhalb einer Programmzusammenstellung. Das heißt, die Art und Weise, wie wir Stücke zu einem Programm zusammenstellen, ist (fast) genauso wichtig, wie die einzelnen Stücke selbst. Ich liebe es, Stücke gegen-überzustellen, die jedem einzelnen Werk den bestmöglichen Rahmen geben, um leuchten zu können. Manchmal bedeutet das, Stücke zusammenzustellen, die einander ähnlich und verwandt sind, manchmal, grelle und scharfe Kontraste zu bilden, und manchmal, ein vorgegebenes Thema auszuloten – es gibt unzählige Arten, Programme zu machen.
Unabhängig davon, was die Struktur eines Programms bestimmt, muss das Endergebnis dergestalt sein, dass auch die Ausführenden davon begeistert sein können. Zugegeben war das tatsächlich ein vorrangiges Ziel, als mein NDR Elbphilharmonie Orchester-Team und ich das Programm für dieses Festival, meinen ersten Konzert-monat, zusammengestellt haben. Es ist ein Monat mit Musik, die ich liebe, gespielt mit Kollegen, die ich bewundere und schätze. Ich hoffe, es lässt die Bandbreite an Musikstilen und -arten erken-
nen, für die ich brenne. Die fantastischen Musiker des NDR Elb-philharmonie Orchesters und ich haben kürzlich Brahms, Bruckner, Beethoven und weiteres zentrales Repertoire des 19. Jahrhunderts aufgeführt – nach unseren jüngsten Aufnahmesitzungen zu Bruckners Siebter Sinfonie kann ich es kaum erwarten, die unglaub-liche Musik des Kernrepertoires weiter zu erforschen, das solch eine wichtige Rolle in der Geschichte des NDR Elbphilharmonie Orchesters gespielt hat. Die Erinnerung an die unvergesslichen Auf-führungen von Ligetis „Le Grand Macabre“, mit dem das Orchester im Frühjahr triumphierte, macht mich jedoch ebenso gespannt auf innovative zeitgenössische Musik, die wir erforschen wollen.
Ein Haydn-Programm in der Laeiszhalle und ein Kammerkonzert, in dem ich mich mit der Bratsche zu meinen Orchesterkollegen geselle, runden das Angebot dieses Monats ab – alles zusammen bildet die kaleidoskopische Momentaufnahme eines Musikenthusi-asmus’, den wir „Klingt nach Gilbert“ genannt haben. Ich empfinde diese scherzhaft verkürzte Bezeichnung als etwas vermessen, müsste es doch eigentlich „Klingt wie die Verbindung von Alan Gilbert und den Musikern des NDR Elbphilharmonie Orchesters“ heißen. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich stolz darauf bin, Teil dieses Festivals zu sein – und dass ich es kaum erwarten kann, die Reise anzutreten.
Alan Gilbert liebt die Musik und die Musik liebt ihn. Er ist ein Kumpel auf Augenhöhe und gleichzeitig ein Zauberer am Taktstock, der mit unendlich viel musikali schem Geschmack, großem Einfühlungsvermögen und kleinsten Impulsen über hundert gebannte Musiker führen kann. Autorität ist ihm angeboren. Man hat Lust, seinen musikalischen Ideen zu folgen, weil sie intelligent und eindeutig sind. Trotzdem bleibt jedem Solisten im Orchester genügend Raum, individuelle Gestaltung zu zeigen. Darüber hinaus kann man mit Alan Gilbert herrlich auch über ganz andere, nicht musikbezogene Dinge plaudern. Er ist an so vielen Dingen der Welt interessiert.
Boris Bachmann2. Violine
1110
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Yuja Wang Magnus Lindberg
AL AN GILBERTDirigent
KELLEY O’CONNORMezzosopran
JOHANNES BR AHMSSinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68
UNSUK CHINFrontispiecefor orchestra(Uraufführung, Auftragswerk des NDRmit Unterstützung der Freunde des NDR Elbphilharmonie Orchesters e. V.)
LEONARD BERNSTEINSinfonie Nr. 1 „Jeremiah“
CHARLES IVESThe Unanswered Question
EDGARD VARÈSEAmériques
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal Freitag, 06.09.19 — 19 UhrSamstag, 07.09.19 — 19 Uhr
AL AN GILBERT & SUSANNE STICHLERim Gespräch mit folgenden Gästen:
MAGNUS LINDBERGKomponist
PROF. DR. FRIEDRICH GEIGERUniversität Hamburg
FLORIAN ZINNECKERDIE ZEIT
Die neue Talkreihe des NDR bringt Gäste aus unterschiedlichen Bereichen mit Alan Gilbert zusammen. Kultur und Gesell-schaft, Musik machen in einer sich schnell verändernden Welt, aber auch aktuelle Ereignisse aus dem Umkreis und dem Innersten der Elbphilharmo nie sind die Themen. Dazu gibt es Livemusik.
Thalia Theater Hamburg, NachtasylMittwoch, 11.09.19 — 20.30 Uhr
In Kooperation mit dem Thalia Theater
AL AN GILBERTDirigent
YUJA WANGKlavier
PEDRO MIGUEL FREIRETrompete
MAGNUS LINDBERGKlavier
GASPARE BUONOMANOKlarinette
ANDRE AS GRÜNKORNVioloncello
THOMAS SCHWARZSchlagzeug
STEPHAN CÜRLISSchlagzeug
JUHANI LI IMATAINENLive-Elektronik
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH· Klavierkonzert Nr. 1 c-Moll op. 35· Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102
MAGNUS LINDBERGKraftfür Solo-Ensemble, Live-Elektronikund Orchester
Elbphilharmonie Hamburg, Großer SaalDonnerstag, 12.09.19 — 20 UhrFreitag, 13.09.19 — 20 Uhr
Einführungsveranstaltungenjeweils um 19 Uhr im Großen Saal
06. / 07.09.
Opening Night2019
11.09. 11.09.
IDEAS | On MusicTalk mit Alan Gilbert im Nachtasyl
DAS! aus der Elbphilharmonie
12. / 13.09.
Kraft
Das Festival im Überblick
INK A SCHNEIDERModeration
AL AN GILBERTGesprächsgast
NDR ELPHCELLISTEN
HORNQUARTET T DES NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTERS
Jeden Abend nimmt im NDR Fernsehen in der Sendung „DAS!“ ein prominenter Gast auf dem Roten Sofa Platz. Am 11. September ist Alan Gilbert eingeladen – und „DAS!“ sendet aus diesem Anlass live aus dem Großen Saal der Elbphilharmonie. Karten werden über „DAS!“ sowie unter den Abonnent*innen und den Freunden des NDR Elbphilharmonie Orchesters e. V. verlost. Mitglieder des NDR Elbphilharmonie Orches-ters umrahmen die Sendung musikalisch.
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal Mittwoch, 11.09.19 — 18.45 Uhr
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Carolin Widmann
AL AN GILBERTDirigent
CAROLIN WIDMANNVioline
LUDWIG VAN BEETHOVENOuvertüre zu „Egmont“ f-Moll op. 84
ENNO POPPEViolinkonzert(Auftragswerk des Beethovenfests Bonn, finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung)
JÖRG WIDMANNCon brio – Konzertouvertüre für Orchester
LUDWIG VAN BEETHOVENSinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
Elbphilharmonie Hamburg, Großer SaalDonnerstag, 26.09.19 — 20 UhrSonntag, 29.09.19 — 11 Uhr
Einführungsveranstaltungen mit Alan Gilbertjeweils eine Stunde vor Konzertbeginn im Großen Saal
Musik- und Kongresshalle LübeckFreitag, 27.09.19 — 19.30 Uhr
Einführungsveranstaltung um 18.30 Uhr
26. / 27. / 29.09.
Beethoven trifftauf Poppe & Widmann
AL AN GILBERTDirigent
PAULUS VAN DER MERWEOboe
VOLKER TESSMANNFagott
ROL AND GREUT TERVioline
CHRISTOPHER FR ANZIUSVioloncello
JOSEPH HAYDN· Sinfonie C-Dur Hob. I:48 „Maria Theresia“· Sinfonia concertante B-Dur Hob. I:105für Oboe, Fagott, Violine, Violoncellound Orchester
· Sinfonie Es-Dur Hob. I:99
Laeiszhalle Hamburg, Großer SaalDonnerstag, 19.09.19 — 20 Uhr
19.09.
Haydnin der Laeiszhalle
STEFAN WAGNERVioline
RODRIGO REICHELVioline
AL AN GILBERTViola
JAN L ARSENViola
ANDRE AS GRÜNKORNVioloncello
CHRISTOPHER FR ANZIUSVioloncello
JOHANNES BR AHMS· Streichsextett B-Dur op. 18· Streichsextett G-Dur op. 36
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal Samstag, 21.09.19 — 19.30 Uhr
21.09.
Brahms-Sextettemit
Alan Gilbert
Das Festival in den Medien
Auf NDR Kultur
06.09.19: live aus der Elbphilharmonie
19.09.19: live aus der Elbphilharmonie
26.09.19: live aus der Elbphilharmonie
27.09.19: Aufzeichnung vom 12./13.09.
15.11.19: Aufzeichnung vom 21.09.
Im NDR Fernsehen
11.09.19: „DAS!“ live aus der Elbphilharmonie
Im Internet
06.09.19: Livestream auf concert.arte.tv sowie auf ndr.de/eo und in der NDR EO App, danach als Video-on-Demand online abrufbar
26.09.19: Livestream auf concert.arte.tv sowie auf ndr.de/eo und in der NDR EO App, danach als Video-on-Demand online abrufbar
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