Behandlung der Parodontitis der Stadien I-III

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zm 110, Nr. 17, 1.9.2020, (1606) S3-LEITLINIE DER EFP Behandlung der Parodontitis der Stadien I-III Søren Jepsen, Bettina Dannewitz, Moritz Kebschull Im Juli 2020 ist eine der zweifellos wichtigsten zahnmedizinischen Publikationen des Jahres erscheinen. Erstmals hat die European Federation of Periodontology (EFP), der alle europäischen parodontologischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften angehören, unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Experten eine umfangreiche S3-Leitlinie zur Therapie der Volkskrankheit Parodontitis veröffentlicht. D ie insgesamt 62 Behandlungs- empfehlungen, die die gesamte Therapiestrecke der Parodontitis abbilden, wurden zusammen mit der ihnen zugrunde liegenden Evidenz aus 15 systematischen Reviews im Juli 2020 in einer frei zugänglichen Sonder- ausgabe der international hoch ange- sehenen Fachzeitschrift Journal of Clinical Periodontology veröffentlicht. Es ist zu erwarten, dass diese Therapie- empfehlungen in der Zukunft Zahn- medizinern weltweit eine maßgebliche Hilfe bei der Therapieentscheidung zur bestmöglichen Versorgung parodontal erkrankter Patienten in den Praxen sein werden. Bereits bei der Entwicklung der Neuen Klassifikation parodontaler und peri- implantärer Erkrankungen im Jahr 2017/2018 (zm 11/2019, 12/2019, 13/2019, 14/2019) hatte das Workshop Committee der EFP (Sanz, Berglundh, Chapple, Jepsen, Tonetti) den Beschluss gefasst, in einem nächsten Schritt an dieser Klassifikation und dem Schwere- grad beziehungsweise der Komplexität der Parodontitis ausgerichtete evidenz- basierte Therapieempfehlungen und einen therapeutischen Stufenplan zu entwickeln. Hier half die Vorarbeit der DG PARO, die zur selben Zeit schon vier Leitlinien auf dem höchsten S3-Qualitätsniveau nach AWMF-Ver- fahren erarbeitet hatte. Auf Anregung der deutschen Mitglieder des Workshop Committees (Jepsen und Kebschull) beschloss die EFP diesem Verfahren zu folgen.Anfang 2019 begann dieser auf- wendige Prozess. Unterstützt wurden die EFP und die Ko-Vorsitzenden der vier Arbeitsgruppen des Workshops dabei von Prof. Dr. Ina Kopp, einer deutschen AWMF-Expertin für Leitlinienentwicklung mit großer internationaler Erfahrung. Die Expertise UNIV.-PROF. DR. MED. DENT. DR. MED. SØREN JEPSEN, M.S. Direktor der Poliklinik für Parodontologie, Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universitätsklinikum Bonn, Welschnonnenstr.17, 53111 Bonn [email protected] Foto: privat Foto: EFP 90 Experten aus 19 Ländern erarbeiteten 62 evidenzbasierte Therapieempfehlungen zur Therapie der Parodontitis der Stadien I-III. 44 | ZAHNMEDIZIN

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zm 110, Nr. 17, 1.9.2020, (1606)

S3-LEITLINIE DER EFP

Behandlung der Parodontitis der Stadien I-III

Søren Jepsen, Bettina Dannewitz, Moritz Kebschull

Im Juli 2020 ist eine der zweifellos wichtigsten zahnmedizinischen Publikationen des Jahres erscheinen. Erstmals hat die European Federation of Periodontology (EFP), der alle europäischen parodontologischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften angehören, unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Experten eine umfangreiche S3-Leitlinie zur Therapie der Volkskrankheit Parodontitis veröffentlicht.

D ie insgesamt 62 Behandlungs-empfehlungen, die die gesamte Therapiestrecke der Parodontitis

abbilden, wurden zusammen mit der ihnen zugrunde liegenden Evidenz aus 15 systematischen Reviews im Juli 2020 in einer frei zugänglichen Sonder-ausgabe der international hoch ange -sehenen Fachzeitschrift Journal of Clinical Periodontology veröffentlicht. Es ist zu erwarten, dass diese Therapie-empfehlungen in der Zukunft Zahn-medizinern weltweit eine maßgebliche Hilfe bei der Therapieentscheidung zur bestmöglichen Versorgung parodontal erkrankter Patienten in den Praxen sein werden.

Bereits bei der Entwicklung der Neuen Klassifikation parodontaler und peri-implantärer Erkrankungen im Jahr 2017/2018 (zm 11/2019, 12/2019,

13/2019, 14/2019) hatte das Workshop Committee der EFP (Sanz, Berglundh, Chapple, Jepsen, Tonetti) den Beschluss gefasst, in einem nächsten Schritt an

dieser Klassifikation und dem Schwere-grad beziehungsweise der Komplexität der Parodontitis ausgerichtete evidenz-basierte Therapieempfehlungen und einen therapeutischen Stufenplan zu entwickeln. Hier half die Vorarbeit der DG PARO, die zur selben Zeit schon vier Leitlinien auf dem höchsten S3-Qualitätsniveau nach AWMF-Ver-fahren erarbeitet hatte. Auf Anregung der deutschen Mitglieder des Workshop Committees (Jepsen und Kebschull) beschloss die EFP diesem Verfahren zu folgen.Anfang 2019 begann dieser auf-wendige Prozess.

Unterstützt wurden die EFP und die Ko-Vorsitzenden der vier Arbeitsgruppen des Workshops dabei von Prof. Dr. Ina Kopp, einer deutschen AWMF-Expertin für Leitlinienentwicklung mit großer internationaler Erfahrung. Die Expertise

UNIV.-PROF. DR. MED. DENT. DR. MED. SØREN JEPSEN, M.S.

Direktor der Poliklinik für Parodontologie, Zahnerhaltung und Präventive

ZahnheilkundeZentrum für Zahn-, Mund- und

Kieferheilkunde, Universitätsklinikum Bonn, Welschnonnenstr.17, 53111 Bonn

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: EFP

90 Experten aus 19 Ländern erarbeiteten 62 evidenzbasierte Therapieempfehlungen zur Therapie der Parodontitis der Stadien I-III.

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deutscher Autoren (Dannewitz, Frankfurt; Dommisch, Berlin; Eickholz, Frankfurt; Kitzmann, Hamburg; Jepsen, Bonn; Wölber, Freiburg) floss dabei in vier der 15 systematischen Übersichten ein. Begleitend wurde ein therapeutischer Stufenplan konzipiert, wobei die Stu-fen 1 (Kontrolle des supra gingivalen Biofilms und der Risiko faktoren) und 2 (subgingivale Ins trumentierung) grundsätzlich alle Parodontitis-Patien-ten durchlaufen. Die Stufe 3 (chirur -gische Therapie) wird bei denjenigen Patienten relevant, die bei der Re-Eva-luation noch residuale pathologische Taschen zum Beispiel mit Vertikal- und Furkationsdefekten aufweisen. Es wurden therapeutische Endpunkte definiert, die erreicht sein sollten, be-vor der Patient sodann in Stufe 4 in die unterstützende PAR-Therapie (UPT) übernommen wird.

Im November 2019 fand dann der Leitlinien-Workshop in Spanien statt, auf dem 90 Experten aus 19 Ländern (Abbildung 1) – darunter auch Vertre-ter europäischer Fachgesellschaften aus anderen Bereichen der Zahnmedizin (Endodontologie, Konservierende Zahnheilkunde und Prothetik) – unter Moderation von Prof. Dr. Ina Kopp die Evidenz in einem streng regulierten Protokoll nach dem GRADE-Verfahren in Therapieempfehlungen umsetzten und diese dann im Konsensusverfah-ren abstimmten. Die Arbeitsgruppe 1 unter dem Vorsitz von Iain Chapple und Søren Jepsen bewertete unter-schiedliche Methoden und Vorgehens-weisen zur subgingivalen Instrumen-

tierung sowie den Nutzen adjuvanter Verfahren. Die Arbeitsgruppe 2 unter dem Vorsitz von Mariano Sanz und Tord Berglundh konzentrierte sich auf die Bewertung von weitergehenden chirurgischen Therapieverfahren sowie auf die adjuvante lokale und systemische Antibiotikagabe. Die Arbeitsgruppe 3 unter dem Vorsitz von Maurizio Tonetti und Anton Sculean befasste sich mit der Entwicklung klinischer Therapie-empfehlungen für die Behandlung von vertikalen und Furkationsdefekten mit resektiven oder regenerativen Ansätzen. Die Arbeitsgruppe 4 unter dem Vorsitz von David Herrera und Moritz Kebschull beschäftigte sich mit der Kontrolle des supragingivalen Biofilms und der Risiko -faktoren in der ersten Therapiephase und in der unterstützenden Betreuung (UPT) des erfolgreich behandelten Parodontitis- Patienten.

Die Teilnehmer des Workshops ge-wichteten nicht nur die Stärke der Evi-denz für die verschiedenen Behand-lungen, sondern einigten sich auch auf ein Maß an Stärke für die Empfehlung dieser Interventionen unter Berücksich-tigung anderer Aspekte, wie beispiels-weise die Kohärenz der Evidenz, die klinische Relevanz der Ergebnisse, eine Nutzen-Schaden-Abwägung, ethische, rechtliche und wirtschaftliche Erwä-gungen, Patientenpräferenzen, An-wendbarkeit und Praktikabilität des Routineeinsatzes.

Insgesamt wurden 62 Empfehlungen für die gesamte Behandlungsstrecke der Stadien I-III der Parodontitis ver -abschiedet. Um nur einige wenige heraus zugreifen: Die europäische Leit-linie sieht aus Gründen der global

PROF. DR. MORITZ KEBSCHULLChair of Restorative Dentistry

The School of Dentistry, University of Birmingham

5 Mill Pool Way, Edgbaston Birmingham B5 7EG, England

[email protected]: privat

PROF. DR. BETTINA DANNEWITZGemeinschaftspraxis Dres.

Dannewitz & GlassLanggasse 36-38, 35781 Weilburg

und Poliklinik für Parodontologie, Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum), Johann Wolfgang Goethe

Universität Frankfurt am Main Theodor-Stern-Kai 7, 60596 Frankfurt/Main

[email protected]: privat

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zunehmenden Resistenzentwicklungen einen sehr restriktiven Einsatz ad -juvanter systemischer Antibiotika vor (Antibiotic Stewardship), von einem adjunktiven Einsatz von Lasern wird gegenwärtig abgeraten ebenso wie von der Verabreichung von adjunktiven Probiotika – die Evidenz ist nicht aus-reichend oder widersprüchlich. Ein Grad-II- oder -III-Furkationsbefall ist kein Grund zur Zahnextraktion – klare Indikationen für regenerative, aber auch resektive Therapieverfahren wurden für diese Zähne definiert. Die große Bedeutung der UPT wurde her-vorgehoben mit Intervallen zwischen drei und zwölf Monaten in Abhängig-keit vom individuellen Risikoprofil des Patienten und seinem Parodontal-zustand bei Abschluss der aktiven The-rapiephase, das heißt nach Therapie-stufe 2 beziehungsweise 3.

Nun kann eine europäische Leitlinie ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie auch auf nationaler Ebene verfügbar gemacht wird. So hat erfreulicherweise die DG PARO genauso wie die britische und die spanische Fachgesellschaft sehr frühzeitig den Prozess der natio-nalen Implementierung initiiert. Nach der Übersetzung der S3-Leitlinie ins Deutsche und der Einbeziehung einer großen Zahl (über 30!) von Vertretern anderer wissenschaftlicher Fachgesell-schaften, der Standesorganisationen wie BZÄK und KZBV und von Patienten-gruppen wurden alle 62 Empfehlungen in langen Online-Konferenzen disku-tiert, abgestimmt, zumeist adoptiert (übernommen) und einige auch adap-tiert (geringfügig abgewandelt und an die deutschen Verhältnisse angepasst). Eine endgültige formale Zustimmung aller beteiligter Organisationen steht

noch aus und wird für den Herbst erwartet. Die beiden deutschen S3-Leit-linien der DGPARO/DGZMK zur Prä-vention und Therapie der Gingivitis bleiben weiterhin gültig, allerdings werden die bisherigen S3-Leitlinien zur subgingivalen Instrumentierung und zur adjuvanten systemischen Antibio-tikagabe dann ersetzt werden.

Therapieempfehlungen in Bezug auf Parodontitis im Stadium IV, gekenn-zeichnet durch umfangreiche Zahn -verluste, mastikatorische Dysfunktion und/oder pathologische Zahnwande-rung, was in der Regel eine sehr kom-plexe multidisziplinäre Therapie er -fordert, werden im Mittelpunkt des nächsten EFP-Perio-Workshops im Juli 2021 stehen. Schon jetzt wird in der Vorbereitung die Evidenz hierzu in Zusammenarbeit mit internationalen Experten unter anderem aus Kiefer -orthopädie, Prothetik und Implantolo-gie erarbeitet. !

Sanz M, Herrera D, Kebschull M, Chapple ILC, Jepsen S, Berglundh T, Sculean A, Tonetti M. on behalf of the EFP Workshop Participants and Methodological Consultants. Treatment of stage I-III periodontitis – The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2020;47:4–60. Downloadlink: https://doi.org/10.1111/jcpe.13290

Nach Abschluss des Prozesses der nationalen Implementierung der EFP-Empfehlungen in Deutschland werden die zm ausfürlich über die neue Leitlinie berichten.

Foto

: EFP

Mit 12 von 90 Teilnehmern waren die deutschsprachigen Experten in allen Arbeits gruppen prominent vertreten (von links nach rechts): M. Kebschull, T. Dietrich, P. Eickholz, J. Meyle, J. Derks, C. Walter, T. Kocher, C. Dörfer, B. Dannewitz, S. Jepsen, A. Sculean, H. Dommisch.

Vereinfachte Darstellung des von der EFP konsentierten therapeutischen Stufenplans zur Behandlung der Parodontitis der Stadien I-IIIGrafik: zm

Therapeutischer Stufenplan (vereinfachte Darstellung)

Stufe 1: Kontrolle des supragingivalen Biofilms und der Risikofaktoren

Stufe 2: Subgingivale Instrumentierung und anschließende Re-Evaluation

Stufe 3: Chirurgische Therapie und anschließende Re-Evaluation

Stufe 4: Nachsorge, Unterstützende Parodontaltherapie (UPT)

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