Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

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P.F .E. Sloane A. Schelten G.A. Straka (Hrsg.) Beitrage zur Berufs- und Wirtschaftspadagogik

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P.F .E. Sloane A. Schelten G.A. Straka (Hrsg.)

Beitrage zur Berufs- und Wirtschaftspadagogik

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Schriften der Deutschen Gesellschaft fiir Erziehungswissenschaft (DGfE)

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P.F.E. Sloane A. Schelten G.A. Straka (Hrsg.)

Beitrage zur Berufs- und Wirtschaftspadagogik Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Leske + Budrich, Opladen 1998

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Gedruckt auf saurefreiem und a1tersbestandigem Papier.

ISBN 978-3-8100-2077-2 ISBN 978-3-322-97416-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97416-7

© 1998 Leske + Budrich, Opladen

Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede VelWertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfliltigungen, Ubersetzungen, Mi­kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Inhaltsiibersicht

Vorwort ......................................................................................................................... 7

Wolfgang Lempert & Michael Corsten Soziale Bedingungen moralischen Lernens in Kuchen und Labors - Resultate einer explorativen Studie des Max-Planck-Instituts flir Bildungsforschung, Berlin ......................................... 9

Sigrid Ludecke Bedingungen der Entwicklung des moralischen Urteils bei angehenden Versicherungskaufleuten .......................................................... 25

Christoph Sczesny Das Losungsverhalten bei wirtschaftskundlichen Aufgaben - visuelle und physiologische Begleitprozesse situierter kognitiver Leistungen

Wemer Kusch "Duale Berufsausbildung und Fachhochschulreife" -Sowohl flir die Wirtschaft als auch den Arbeitnehmer

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ein Gewinn (Kurzfassung des Modellversuchs) ............................................... 59

Dieter Cors Arbeitsplatzbezogenes Lernen im Einzelhandel -Lernen zwischen Informationsbewiiltigung und Leistungsdruck .......................................................................................................... 69

Markus Kleinmann & Cerald A. Straka Selbstlernbereitschaft und erlebte Arbeitsplatzbedingungen von Beschiiftigten in kaufmiinnisch-verwaltenden Berufen 87

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Vorwort

Die Tagungen der Kommission Berufs- und Wirtschaftspadagogik der Deut­schen Gesellschaft fUr Erziehungswissenschaft konnen wohl kaum die Spannbreite berufs- und wirtschaftspadagogischer Forschungsarbeiten darle­gen. Mit Berichten aus aktuellen Forschungsarbeiten von Mitgliedern der Kommission wird aber regelmiiBig ein Schlaglicht auf aktuelle Forschungs­schwerpunkte gesetzt.

Es ware so auch vermessen, die Beitrage in diesem Band systematisch zu ordnen bzw. einer Wurdigung zu unterziehen. Daher haben wir uns fUr einen Abdruck der Referate und Diskussionsbeitrage entsprechend des Ta­gungsverlaufs entschieden.

Durch die Arbeiten von Wolfgang LempertJMichael Corsten und Sigrid Ludecke wird ein Schwerpunkt auf das Thema 'Moralische Entwicklung' ge­legt. Die weiteren vier Darstellungen weisen mit Arbeiten zu den Themen Losungsverhalten bei wirtschaftskundlichen Aufgaben (Christoph Sczesny), Duale Berufsausbildung und Fachhochschulreife (Werner Kusch), Ar­beitsplatzbezogenes Lernen im Einzelhandel (Dieter Gors) und Selbst­lernbereitschaft und Arbeitsplatzbedingungen (Markus KleinmannlGerald A. Straka) den Weg in unterschiedliche Aufgabenfelder der Berufs- und Wirt­schaftspadagogik. Eine Beschaftigung mit den Beitragen zeigt nicht nur un­terschiedliche thematische Forschungsinteressen, sondern bietet auch die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einem breiten forschungsmetho­dischen Repertoire. So liiBt die Publikation durchaus erkennen, daB die Zu­sammenkunft und der Ideenaustausch auf dem Gebiet der Berufs- und Wirt­schaftspadagogik wesentliche Impulse setzen kann.

Mit der Reihe 'Berufs- und Wirtschaftspadagogische Forschungsberichte' wird so die Gelegenheit wahrgenommen, einem breiteren Publikum den Zu­gang zu aktuellen Forschungsarbeiten zu ermoglichen. Dadurch moge die kritische Diskussion innerhalb der Disziplin aber auch interdisziplinar weiter angeregt werden.

Munchen, im Sommer 1997 Peter F.E. Sloane Andreas Schelten Gerald A. Straka

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Soziale Bedingungen moralischen Lemens in Kuchen und Labors - Resultate einer explorativen Studie des Max-Planck-Instituts fur Bildungsforschung, Berlinl

Wolfgang Lempert / Michael Corsten

Zusammenfassung

Moralische Kompetenzen sind - so wird gegenwartig wiedet verstiirkt unter­stellt - nach wie vor auch zur Regulation und Koordination beruflichen Han­delns in betrieblichen Kontexten erforderlich, und ihre Entwicklung wird hier nach vorliegenden Befunden teils gefordert, teils behindert. Im folgenden Beitrag werden berufsmoralische Lernchancen skizziert, die sich in Ausbil­dungsstatten von 31 jungen Kochen und Kochinnen, Chemielaboranten und Chemielaborantinnen gezeigt haben. Die Erhebung fand 1992/93 statt. AIs Datenquellen dienten vor allem Intensivinterviews und Expertengesprache. Die Resultate deuten auf erhebliche Anregungspotentiale, aber auch auf ent­wicklungshemmende Varianten sozialer Ausbildungsstrukturen hin. So wur­den einerseits Lehrverhaltnisse gefunden, deren Anforderungen nicht nur am ehesten mit Hilfe relativ komplexer Formen moralischen Denkens bewaltigt werden konnen, sondern die auch die Entfaltung der zugrundeliegenden Fa­higkeiten begunstigen, andererseits aber auch Ausbildungsmilieus identifi­ziert, die den Auszubildenden keinerlei Impulse fur ihre moralische Ent­wicklung bieten durften.

1. Vorreden

1.1 Wovon gleich die Rede sein soli und wovon warum besser nicht

Urn falschen Erwartungen sofort das Wasser abzugraben: Ich spreche hier le­diglich uber Chancen moralischen Lernens in der Ausbildung von Kochinnen und Chemielaborantinnen. (Der Einfachheit halber und urn der ausgleichen­den Gerechtigkeit willen verwende ich in diesem Vortrag meist die weibliche

Ausfiihrlicher werden die hier referierten Befunde sowie weitere Ergebnisse unserer Studie in einem Buchtext dargestellt, der 1997 veroffentlicht werden soli (CORSTEN und LEM­PERT 1996).

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Form, egal ob beide Geschlechter oder nur Frauen gemeint sind.) Ich werde weder auf die Frage eingehen, ob Moralitat im Beruf und im Betrieb tiber­haupt am Platz sei - dartiber mogen Klaus BECK und Michael CORSTEN einander hinterher in die Haare geraten -; noch werde ich mich tiber die Nut­zung dieser Chancen auslassen - dann mtiBte ich namlich spekulieren, denn die frtihere Struktur der berufsbezogenen Moralvorstellungen unserer Unter­suchungspersonen, die wir erst Jahre nach ihrer Lehrzeit befragten, ist nicht bekannt; noch kann ich jene Gelegenheiten moralischen Lemens behandeln, die sich den Befragten in ihren spateren Arbeitsmilieus boten - denn ehe ich dazu komme, ist meine Redezeit langst vortiber. Urn sie nicht maBlos zu tiberschreiten, halte ich mich auch eng an mein Manuskript.

1.2 Theoretische Annahmen

!ch beginne mit einigen theoretischen Hinweisen. !ch darf doch wohl voraussetzen, daB Sie alle wissen, was Moral ist. (Falls in der Diskussion gleichwohl ein diesbeztiglicher Notstand erkennbar werden sollte, ist es dann noch fruh genug ftir eine nachgeschobene Definition.)

!ch unterstelle femer Ihr Vermogen, zwischen mehr und minder komple­xen Formen moralischen Denkens zu differenzieren, die in der individuellen Entwicklung nacheinander auftreten - von vorkonventionellem Egozentris­mus tiber zunachst eher rigide, spater eher kompromiBhafte soziozentrische konventionelle Orientierungen bis hin zur umsichtigen und weitsichtigen postkonventionellen Integration von ego und alter im Lichte universeller Prinzipien wie Gerechtigkeit, Ftirsorglichkeit und Wahrhaftigkeit.

So bleibt mir vorab nur zu explizieren, nach welchen Gesichtspunkten ich Ausbildungsstrukturen hinsichtlich ihres moralischen Anregungspotenti­als taxiere. Dabei sttitze ich mich auf Ergebnisse einer fruheren Untersu­chung unseres Instituts, die ich zusammen mit Emst HOFF und Lothar LAP­PE ausgeftihrt habe, die in unserem 1991 verOffentlichten Buch ausftihrlich dokumentiert sind und deren Quintessenz Sie auf der Tabelle 1 des Anhangs etwas ausftihrlicher dargestellt finden als in meinem Referat. (Von ihnen wird auch im nachfolgenden Vortrag von Sigrid UJDECKE die Rede sein.) Danach wird die Entwicklung des moralischen BewuBtseins durch folgende soziale Prozesse begtinstigt:

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offene Konfrontation mit sozialen Problemen und Konflikten, zuverlassig gewabrte Wertschatzung, Zuwendung und Untersttitzung, zwanglose Kommunikation, partizipative Kooperation und angemessene Zuweisung und Zurechnung von Verantwortung.

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'Angemessen', d. h. demjeweiligen Entwicklungsstand der Sozialisanden ent­sprechend strukturiert mussen auch die ubrigen vier Bedingungen der Ent­wicklung moralischer Urteilsfahigkeit sein. Das heiBt, wenn die Heranwach­senden noch vorkonventionell denken, bei ihnen also der Ubergang zum kon­ventionellen Denken als nachster Entwicklungsschritt ansteht, sind fur ihre moralische Entwicklung besonders fOrderlich:

Konflikte, in denen Normen mit Interessen kollidieren, Wertschatzung als Mitglied sozialer Einheiten (wie Familien und Schul­klassen, Lern- und Arbeitsgruppen), Kommunikation, Kooperation und Verantwortungsattribution im Rahmen fraglos anerkannter konkreter Normen.

Konventionell denkende Personen hingegen brauchen anspruchsvollere Ent­wicklungsanstOBe durch ihr soziales Milieu, wenn sie zu postkonventionellem Denken iibergehen sollen, namlich

Normenkollisionen und Wertediskrepanzen, Respektierung als einzigartige Person, diskursive Problematisierung und partizipative Revision geltender Nor­men, schlieBlich Attribution komplexer Verantwortung, d.h. die Erwartung, angesichts konkurrierender sozialer Anspruche selbstandig zu entscheiden.

Dabei genugt es nicht, daB einzelne dieser Bedingungen gelegentlich vorlie­gen: Nahezu alle mussen so ausgepragt sein wie angedeutet, wenn die betref­fende Transformation der Struktur moralischen Urteilens erfolgen soIl - al­lenfalls Konflikterfahrungen erscheinen weniger relevant -; und solche Struk­turtransformationen vollziehen sich auch nicht von heute auf morgen, son­dern dauern oft Jahre und finden meist nur statt, wenn die betreffenden Be­dingungen ebenso lange - konsistent oder, besser noch, berechenbar diskon­tinuierlich und inkonsistent - gegeben sind (LEMPERT 1993a, 1993b).

1.3 Empirische Methoden

Genug der Abstraktionen. Ehe ich wirklich zur Sache, d.h. zu unseren kon­kreten Untersuchungsbefunden komme, nur noch ein paar obligatorische Angaben zu den verwendeten Methoden. Zunachst: Warum haben wir ausge­rechnet KiJchinnen und Chemielaborantinnen untersucht? Antwort: Weil beide Berufe einerseits relativ groBe und ansteigende Lehrlingszahlen und zudem eine einigermaBen ausgewogene Geschlechterproportion aufweisen

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und weil sie andererseits hinsichtlich ihrer Rekrutierungsfelder, Arbeitsplatz­sicherheit, Mobilitatsrisiken und -cbancen stark differieren.

Da wir jeden einzelnen Fall intensiv untersuchen wollten, haben wir uns auf eine Stichprobe von 31 Berliner Lehrabsolventinnen beschrankt. Sie wa­ren zur Zeit der Erhebung - 1992/93 - iiberwiegend zwischen 25 und 35 Jah­ren alt - besaBen also schon einige Berufserfahrung - und verteilten sich auf die Geschlechter, die beiden Berufe und hier auf die wichtigsten Betriebsar­ten etwa gleichmaBig. Details zeigt die Tabelle 2.

Diese Lehrabsolventinnen wurden zweimal halbstandardisiert interviewt - zuerst iiber ihre aktuelle Arbeitssituation, dann iiber ihre berufliche Biogra­phie sowie iiber ihre Moralvorstellungen -, groBenteils auch bei der Arbeit beobachtet. Weitere wichtige Informationen wurden durch Gesprache mit betrieblichen und iiberbetrieblichen Expertinnen gewonnen. Uber die Aus­bildungsverhaltnisse geben vor allem die biographischen Interviews Aus­kunft; deshalb stiitze ich mich bier besonders auf diese.

2. Funde: Konstellationen sozialer Anregungspotentiale moralischer Entwicklung und personlicher Entfaltung in Ausbildungsstatten von Kochinnen und Chemielaborantinnen

2.1 Zwei kontrastierende Einzeljiille

!ch wende mich jetzt unseren ResuItaten zu und stelle zunachst zwei Falle etwas genauer dar, die sich nach den Auspragungen jener Anregungspoten­tiale moraliscber Entwicklung, die ich eben abstrakt gekennzeichnet habe, bemerkenswert voneinander unterscheiden. Dadurch wird vielleicht auch noch etwas deutlicher, was mit diesen Entwicklungsbedingungen gemeint ist. Die wesentlichen Punkte sind von der Tabelle 3 abzulesen - ich werde sie noch ein wenig erlautern.

Da ist zunachst der Koch Jeder, der seinen Beruf in einem realsozialisti­schen Universitatsklinikum erlernt. Sein Ausbildungsmilieu kann global als relativ komplex und moralisch weitgehend forderlich gekennzeichnet wer­den: Konflikte spielen zwar keine allzu groBe Rolle, sie werden auch teilwei­se 'unter den Teppich gekehrt' (bzw. gleich unter demselben gehalten), aber auch immer wieder ausgetragen; dabei geht es urn die Optimierung der Ar­beit und Ausbildung der Lehrlinge, die sich auch mit einander widerstreiten­den Anspriichen verschiedener Lehrkochinnen auseinandersetzen und des­halb ihren 'eigenen Reim' daraus machen miissen. Wertschatzung wird ihnen reichlich und in verschiedenen Formen gewahrt: Ihre Ausbildung ist iiber­wiegend nach padagogischen Gesichtspunkten strukturiert, d.h. mehr an der

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Forderung als an der Auslese oder gar Ausnutzung der Lehrlinge orientiert; anerkannt und belohnt werden - wie wohl in den meisten Ausbildungsstlitten - fachliche Leistungen und diszipliniertes Verhalten, dariiber hinaus aber auch individuelle Initiativen und personliche Eigenarten. Kommuniziert wird - wie in alIen groBeren Kuchen ublich und notig - extensiv und intensiv: Der kooperative Charakter der Nahrungszubereitung in einer Krankenhauskiiche, die unterschiedlichen Anforderungen vieler Stationen, z.T. auch DHitvor­schriften fiir einzelne Patientinnen erfUllen muB, verlangt detaillierte und fle­xible Abstimmungsprozesse in alIen Arbeitsphasen, von der Vorausplanung iiber die laufende Koordination der Einzelaktivitaten bis hin zu deren nach­traglicher Beurteilung und eventuellen Korrektur. Das gilt besonders dann, wenn noch relativ unerfahrene Auszubildende an diesen Arbeiten mitwirken. Aus der formelI erforderlichen intensiven Zusammenarbeit erwachsen dann oft auch informelIe Beziehungen und private Kontakte. Die Kooperation des Auszubildenden Jeder mit seinen 'Oberen' ist zwar iiberwiegend in der her­kommlichen Weise hierarchisch strukturiert, gelegentlich konnen die Lehr­linge aber auch selbstersonnene Arbeitsvarianten ausprobieren; im iibrigen arbeiten sie mit ihresgleichen gleichberechtigt mitbestimmend zusammen. Im Laufe ihrer Lehrzeit wird ihnen zunehmend mehr Verantwortung iibertragen; am Ende werden sie wie 'fertig' ausgebildete Kochinnen eingesetzt und ha­ben haufig eigene Entscheidungen zu treffen -, vor allem auch dann, wenn die an sie adressierten Erwartungen mehrerer 'Auftraggeberinnen' einander widersprechen.

Im Ausbildungsbetrieb des Herrn Jeder ging es also insgesamt so zu, wie es nach unseren Annahmen wiinschenswert erscheint, wenn den Auszubil­denden moralisch 'auf die Spriinge geholfen' werden solI. DaB die Lehrlinge dabei wahrscheinlich noch kaum iiber das konventionelIe Niveau hinaus­kommen konnten, haben wir weniger aus entsprechenden Defiziten ihres Ausbildungsmilieus erschlossen als daraus abgeleitet, daB sie als Auszubil­dende noch zu jung waren fiir einen Entwicklungsschritt, der nach vorliegen­den Befunden alIenfalIs im Erwachsenenalter volIzogen wird.

Ganz anders beurteilen wir die Chancen moralischen Lernens in der Arzneimittelfabrik, in der die Chemielaborantin Crings ausgebildet worden ist. Zwar 'stimmt' auch hier einiges - das gilt besonders fiir die Konflikte und Kommunikation mit sowie die Wertschatzung von Lehrkolleginnen -; die so­zialen Beziehungen zu den fUr die Ausbildung verantwortlichen Personen sind aber durch deren kompromiBlose Ausrichtung auf Hochstleistungen strukturiert, nach dem Prinzip: Wer da hat, dem wird gegeben, und wer da nicht hat, dem wird genommen werden. Konkret: Jiihrlich werden aus einer Zahl von 200 bis 300 Bewerberinnen jene neun als Lehrlinge ausgelesen, die fUr diesen Beruf und Betrieb am besten geeignet erscheinen. Sie werden dann zwar fortgesetzt intensiv gefordert, aber nur solange, wie sie sich als exzel-

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lent erweisen: Bereits bei mittelmaBigen Berufsschulnoten droht der Aus­schluB vom betrieblichen Forderunterricht. Proteste sind nicht nur fruchtlos, sie werden auch schon von vornherein unterdruckt; von einer Mitbestimmung der Auszubildenden kann auch sonst keine Rede sein. Deren Verantwortung beschriinkt sich weitgehend auf die eigene berufliche Zukunft sowie auf die Erfiillung detailliert vorgegebener Leistungsanspruche und sonstiger Nor­men; sie ist also sehr einfach strukturiert.

Unter diesen Bedingungen exzessiver Meritokratie, so folgerten wir zu­sammenfassend, konnen Auszubildende im Betrieb moralisch wahrscheinlich iiberhaupt nichts lernen, ganz gleich, ob sie zum Beginn ihrer Lehrzeit noch vorkonventionell denken oder bereits zur konventionellen Orientierung iiber­gegangen sind. Denn Vorkonventionelle entbehren hier jenen Vertrauensvor­schuB in ihre Lernfahigkeit, deren sie zum Ubergang auf die konventionelle Ebene bediirfen - "trust in advance" lautet der Titel eines Artikels von Fritz OS ER und Wolfgang ALTHOF (1993), in dem dieses moralpadagogische Desiderat besonders plastisch herausgearbeitet wird -; und Konventionelle kommen angesichts des stiindigen Leistungsdrucks und der allzu simplen Verantwortungsstruktur des beschriebenen Ausbildungsmilieus moralisch auch nicht weiter. EntwicklungsanstOBe konnen in diesem Fall daher nur in anderen Lebensbereichen erfahren werden und dann auch aus der Reflexion des Kontrasts zwischen betrieblicher und auBerbetrieblicher Umwelt resultie­ren.

2.2 Gesamtbild der Stichprobe: iiberwiegend "positiv"

Richten wir jetzt unser Augenmerk auf die gesamte Stichprobe und sehen nach, was bei allen 31 Befragten 'unter dem Strich' herausgekommen ist, dann zeigt sich jenes relativ giinstige Bild, das auf der Tabelle 4 wiedergege­ben ist: Nur zwei weitere Lehrabsolventinnen befanden si ch insofern in einer ahnlichen Ausbildungssituation wie Frau Crings, als auch sie in ihrem Lehr­betrieb moralisch kaum angeregt worden sein diirften; alle iibrigen hatten zumindest die Chance, si ch von der vorkonventionellen Ebene auf das kon­ventionelle Niveau fortzubewegen; 13 konnten, soweit sie hierher schon frii­her gelangt waren, bis an die Grenze zum postkonventionellen Denken ge­fOrdert werden.

Koche und Kochinnen, Chemielaboranten und -laborantinnen, auch Ab­solventen sehr verschiedenartiger Ausbildungsstiitten verteilen sich etwa gleichmaBig auf moralisch fOrderliche und restriktive Bedingungskonstella­tionen. Anregungspotentiale wie Entwicklungsbarrieren moralischen Den­kens waren wahrend der Lehrzeit der Befragten also in sehr unterschiedli­chen beruflichen Kontexten und Ausbildungseinrichtungen zu finden; auch wurden jungen Mannern und Frauen insofern ahnliche Gelegenheiten gebo-

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ten. Dieser Befund kontrastiert stark zu dem vorhergehenden Fallvergleich und provoziert Reflexionen, die ich hier angesichts meiner 'Deadline' unter­drticken muB.

2.3 Evaluation: wozu und weshalb moralisch forderliche Lehrver­hiiltnisse auch sonst noch gut sind und warum sie andernorts hiiufiger fehlen durften

Welche Bedeutung ist den mitgeteilten Ergebnissen beizumessen? Zunachst: Nehmen wir einmal an, die Grundsatzdebatte, die an unsere For­schungsberichte anschlieBen solI, endete mit dem Resultat, daB individuelle moralische Motivation, Selbststeuerung und Selbstkontrolle im beruflichen und betrieblichen Handeln tiberfltissig ist, ja den wtinschenswerten Arbeits­ablaufen und Geschaftsgangen geradezu hemmend entgegenwirkt, weil die ausschlieBliche Orientierung an MaBstaben einzelwirtschaftlicher Rationalitat auch gesamtwirtschaftlich und sozialpolitisch optimale Effekte zeitigt, wenn nur die institutionellen, rechtlichen Rahmenbedingungen okonomischen Handelns unter ausreichender Berticksichtigung moralischer Maximen defi­niert sind. Doch auch dann ware es nicht unwichtig, wie es in den Betrieben um jene sozialen Bedingungen bestellt ist, die wir durch unsere Untersu­chung exemplarisch erhellt haben. Denn erstens wird nicht nur in der Schule, sondern auch im Betrieb auch for das Leben in anderen Bereichen gelernt, weil jene bereichsbezogene Segmentierung, von der wir im Referat von Si­grid LUDECKE horen werden, nicht liberall und immer gelingt; zweitens fOrdern diese Bedingungen nicht nur die Entwicklung moralischer Urteils­kompetenz, sondern auch die Entfaltung einer Reihe weiterer wichtiger Per­sonlichkeitsmerkmale, wie des Selbstwertgeftihls und der Kontrolltiber­zeugungen; und drittens stellen sie Elemente humaner Arbeitsstrukturen und demokratischer Betriebskulturen dar und sind damit auch schon um ihrer selbst willen erstrebenswert.

Die referierten Befunde lassen die untersuchten Verhaltnisse in einem ziemlich giinstigen Licht erscheinen. Sie sollten aber nicht als beruhigender Hinweis darauf miBverstanden werden, daB es im dualen System, jedenfalls was die moralische Sozialisation der Auszubildenden anbetrifft, im Grunde schon weitgehend zum Besten bestellt sei, moralpadagogischer 'Handlungs­bedarf' also kaum existiere. Denn die interviewten Lehrabsolventen haben ihre Lehre eher in sozial mustergiiltigen als in moralisch defiZitiiren Betriebs­milieus absolviert: Sie wurden nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewahlt, sondern muBten durch 'sozialforschungsfreundliche' Vorgesetzte fUr unsere

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Untersuchung geworben werden - ein anderes Auswahlverfahren lieBen die geltenden Bestimmungen zum Schutze personenbezogener Daten nicht zu.

Deshalb machte ich in einem kurzen SchluBteil meines Referats noch ei­nige praktische Konsequenzen aus unserer Studie andeuten, ferner auf noch offene Forschungsfragen verweisen.

3. Folgerungen

3.1 Fur die moralische Erziehung von Auszubildenden

Moralpadagogisch kannen aus den referierten Befunden keine direkten Schliisse gezogen werden. Solche Konsequenzen ergeben sich erst unter Be­riicksichtigung jener Pramissen, die unserer Studie zugrundeliegen, namlich erstens, daB individuelle Moralitat auch im Beruf und im Betrieb zumindest stellenweise manchmal am Platz ist, und zweitens, daB sie auch hier am wirk­samsten nicht durch theoretische Belehrungen oder gar bevormundende Pre­digten erzeugt, sondern durch indirekte Methoden, eben durch die Herstel­lung jener Bedingungen vermittelt werden kann, deren Wiederholung ich uns jetzt wohl ersparen darf. Wie diese Bedingungen berufs- und betriebsspezi­fisch umgesetzt werden kannen, ist unter anderem von EinzeWillen abzule­sen, wie dem von Herrn Jeder im Unterschied zu Frau Crings. Deren Ver­gleich diirfte vor allem eine 'Botschaft' eindrucksvoll unterstreichen, die auch schon aus anderen, iihnlichen Untersuchungen hervorgeht, sich hier aber besonders aufdrangt: daB moralisches Lernen vor allem Vertrauen der Sozialisatoren in die Handlungskompetenz und Entwicklungsfahigkeit der Sozialisanden voraussetzt, durch jede vorschnelle Selektion also blockiert wird. Denn miBtrauische Kontrolle diirfte eher zu auBerlicher Konformitat motivieren; vorgeschossenes Vertrauen aber signalisiert Wertschiitzung, die sich im Selbstwerterleben widerzuspiegeln und in innerer Verpflichtung nie­derzuschlagen vermag. DaB solch padagogischer Optimismus manchmal enttauscht wird, sollte uns nicht vorzeitig entrnutigen; denn es fiihrt meines Wissens kein anderer Weg zur moralischen Selbstbestimmung (OSER und ALTHOF 1992).

Den Ausschlag gibt demnach die 'Kultur', die in den Ausbildungsstatten gepflegt wird. Hierzu gehart, daB die Ausbildenden relativ selbstandig und zumindest zeitweise frei von Zeitdruck agieren kannen. Dann finden auch gezielte Informationen ihren Platz, die die Auszubildenden iiber moralisch bedeutsame Aspekte ihrer beruflichen Tatigkeiten sensibilisieren.

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3.2 Fur die Berufsbildungsforschung

Last not least: Zwar lassen auch schon die vorliegenden Befunde einige In­terventionschancen erkennen, doch wliren ftir eine aufgekllirte moralpiidago­gische Praxis in der Berufserziehung manche weitere Forschungen hilfreich. Urn nur einige Beispiele zu nennen:

(1) Liingsschnittstudien: sie dienen dem besseren Verstiindnis von Entwick­lungsprozessen (tiber eine derartige Studie wird Sigrid UJDECKE gleich berichten),

(2) Entwicklung einfacher Erhebungs- und Auswertungsinstrumente: zum Gebrauch fUr 'Praktiker', die behebbare Mangel des 'moralischen Kli­mas' ihrer Betriebe ausfindig machen mochten,

(3) entsprechende Untersuchungen in anderen wichtigen Ausbildungsberu­fen: zur Identifizierung spezifischer Eingriffsmoglichkeiten,

(4) Analysen von Darstellungen neuartiger Ausbildungsformen sowie von Modellversuchen zur Forderung des Erwerbs moralischer Kompetenzen: urn mogliche Beitriige dieser Formen und Modelle zum moralischen Ler­nen zu ermitteln,

(5) 'Ergrtindung' und Erkliirung moralischer Motive wichtiger beruflicher Entscheidungen einzelner Personen, z.B. fUr das Ausscheiden aus Betrie­ben, deren Produkte sie fUr schiidlich halten,

(6) Studien zur 'Demoralisierung durch andauernde Arbeitslosigkeit': sie las­sen die rnoralische Relevanz von Arbeitserfahrungen ex negativo plasti­scher hervortreten.

Hier breche ich ab, denn meine Zeit ist urn.

Literatur

Corsten, M.,I Lempert, W. (1996): Beruf und Moral. Exemplarische Analysen beruf­licher Werdegange, betrieblicher Kontexte und sozialer Orientierungen erwerbs­tatiger Lehrabsolventen. Buchmanuskript. Berlin: Max-Planck-Institut rur Bil­dungsforschung.

Hoff, E.-H.I Lempert, W.I Lappe, L. (1991): Personlichkeitsentwicklung in Fachar­beiterbiographien. Bern: Huber 1991.

Lempert, W. (1993a): Moralische Sozialisation im Beruf. Bedingungsvarianten und -konfigurationen, ProzeBstrukturen, Untersuchungsstrategien. In: Zeitschrift rur Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 13 1, S. 2-35.

Lempert, W. (1993b): Moralisches Denken, Handeln und Lernen in einfachen Beru­fen. Ergebnisse einer Auswertung sozialwissenschaftlicher Veroffentlichungen. In: Zeitschrift rur Berufs- und Wirtschaftspadagogik, 89,1, S. 5-25.

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Oser, F.I Althof, W. (1992): Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.

Oser, F.I Althof, W. (1993): Trust in advance: on the professional morality of teachers. In: Journal of Moral Education, 22, 3, S. 253-275.

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Anhang: Tabellen

Tabelle 1:

Anregungs-potential

manifeste und gravierende ver-sus latente oder nur schwach aus-geprilgte soziale Konflikte

zuverlilssige Wertschiltzung versus Gering-schiltzung, In-differenz oder Unberechenbar-keit

Soziale Amegungspotentiale moralischen Lernens -theoretische Annahmen

Erwarteter EinfluB auf die moralische Entwicklung

behinderte morali-geftirderter Ubergang sche Entwicklung

vom vorkonventionel- vom konventionellen len zum konventionel- zum postkonventionel-lenDenken lenDenken

offene Konfrontation (individuelle) Ver- Artikulation allenfalls mit Gegensiltzen zwi- wicklung in explizite von Interessengegen-schen individuellen Widerspriiche zwischen siltzen, U nterdriik-oder sozialen Interessen normativen Erwartun- kung, Umlenkung einerseits, sozialen Nor- gen oder Wertvorstel- oder Verdrilngung men oder/und kulturel- lungen oder beiden von diskrepanten nor-len Werten andererseits mativen Erwartungen

und Wertvorstel-lungen

konstante emotionale permanente Wertschilt- Abneigung, Ableh-Zuwendung und soziale zung als miindiges Sub- nung oder Gleichgiil-Anerkennung zumin- jekt, einzigartige und tigkeit sowie unvor-dest als Mitgliedi Rol- vertrauenswiirdige Per- hersehbarer Wechsel leninhaber der sozialen son zumindest durch zwischen Wertschilt-Einheit, der sowohl die peers zung und Gering-sozialisierenden als schiitzung oder Indif-auch die sozialisierten ferenz Personen angehiiren, vor allem durch Auto-ritiltspersonen

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zwanglose versus freie AuBerung und un- Diskurs iiber die Le- tendenziel1 mono-eingescbrankte voreingenommene Prii- gitimitiit problemati- logische Verschlos-Kommunikation fung von Inter- sierter Geltungsansprii- senheit oder Domi-

pretationen und Appli- che sozialer Normen nanz einzelner Perso-kationen problernIos oder/und kulturel1er nen(gruppen), Versu-anerkannter sozialer Werte che manipulativer Normen Beeinflussung von

Personen und Grup-I pen

partizipative ver- Mitentscheidung im Mitwirkung an der Ver- Unterdriickung ande-sus direktive Ko- Rabrnen problernIos an- iinderung bestehender rer Personen, eigene operation erkannter sozialer Nor- oder der Schaffung EinfluBiosigkeit,

men neuer interpersonaler, Konkurrenz organisatorischer oder institutionel1er Normen

adiiquate versus vertrauensvol1e, klare vertrauensvol1e, klare MiLltrauen, Unklar-inadiiquate Zu- und flihigkeitsan- und flihigkeitsangemes- heit, Unterforderung, weisung und Zu- gemessene Zuweisung sene Zuweisung kom- Uberforderung, un-rechnung von einfacher Aufgaben, plexer Aufgaben, Zu- kontrolliertes Gewiih-Verantwortung Zurechnung faktischer rechnung faktischer renlassen, fehlende

Handlungen, Unterlas- Handlungen usw., die oder falsche Zurech-sungen, Handlungser- sowohl die eigene Per- nung von Handlun-gebnisse und -folgen, son als auch andere gen usw. die vor allem andere Menschen oder soziale Personen oder soziale Einheiten betreffen, Einheiten betreffen, schwer miteinander leicht miteinander kompatibel sind und kompatibel sind und kontrovers bewertet konsensuel1 bewertet werden werden

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Tabelle 2: Zusammensetzung der Hauptstichprobe

Berufe Betriebe Lehrabsolventen

Art Anzahl miinnlich weiblich

KochlKochina kleine Restau- 3 3 1 rants

gro6e Hotels 2 2 2

Veranstaltungs- 2 3 1 gastronomie

Gemeinschafts- 2 2 2 verpflegung

zusammen 9 10 6

Chemielaborantl kleine Industrie- 3 2 3

Chemielaborantinb betriebe

gro6er Indu- I 2 2 striebetrieb

Offentlicher 3 3 3

DienstC

zusammen 7 7 8

insgesamt 16 17 14

a einschlieBlich einer Diiitassistentin

b einschlieBlich dreier chemisch-technischer AssistenInnen

c einschlieBlich halboffentliches Forschungsinstitut

zusammen

4

4

4

4

16

5

4

6

15

31

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Tabelle 3:

Anregungs-I potential

Ausbildungs-stiitte

Konfliktea

Wertschiit-

zung etc,a

22

Soziale Anregungspotentiale moralischen Lernens In der Lehre - zwei kontrastierende Hille

Herr Jeder (Koch) Frau Crings (Chemielaborantin)

UniversitiUsklinik, in der Ku- (private) Arzneirnittelfabrik, etwa che: 140 Beschaftigte, 5-10 1000 Beschiiftigte, 9 auszubildende Lehrlin~e pro Lehriahr Chernielaborantinnen pro Lehriahr S: manchmal, hochstens rnittel- S: dauemd, gravierend, unter-schwer, teils unterdruckt, teils drtickt, fOrderungs- und selekti-offen ausgetragen, uber 'richti- onsbezogen; ge' Arbeitsmethoden und uber P: zeitweise, hochstens mittel-eine adiiquate Ausbildung, schwer, offen ausgetragen, frei-auch Intra-Rollenkonflikte; zeitbezogen P: nichts Priignantes erwiihnt S: institutionalisierte fachliche S: nur bei hohen Leistungen, dann Forderung, Anerkennung fach- auch Zuwendung und Toleranz; licher Leistungen und Sanktio- P: Anerkennung durch die Eigen-nierung allgemeiner 'Ar- gruppe, Geringschiitzung durch die beitstugenden', auch Forderung Fremdgruppe und Anerkennung individueller Kreativitiit und prinzipielle Re-spektierung als Person; P: keine Angaben

Page 21: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Kommunika- S: mit vielen Personen exten- S: im Rahmen der geltenden Lei-

tiona siv, aufPlanung und Bewer- stungsnormen eher zwanglos; tung der Arbeit bezogen, rnit P: im Betrieb zwanglos, in der Be-einer Person intensiv, tiber die rufsschule etwas eingeschrank.t Lehrzeit hinaus; P: Mit einem zwanglos, auch privat, mit anderen einge-schrank.t

Kooperationa S: in der Regel direktiv, auf S: tiberwiegend direktiv, d.h. keine Normanwendung bezogen, Mitbestimmung tiber Lerninhalte, gelegentlich partizipativ, auf Einsatzbereiche, Beurteilungen (kleine) Normanderungen be- und Teilnahme am Werkunterricht; zogen; P: keine Angaben P: intensiv, eher partizipativ, auf Normerfiillung bezogen

Verantwor- fUr die eigene Tatigkeit und fiir primiir fUr die eigene Tatigkeit und tung Lebensrnittel, zunehmend ge- berufliche Zukunft, generell hoch-

wichtig, zuletzt rnittelschwer, stens rnittelschwer, nur bei Min-manchmal rnittelkomplex derleistungen existentiell, durch-

gangig einfach strukturiert

wahrschein- 2->3 und 3->3/4 oder 4, auf- 2->2, vor allem mangels vorge-licher EinfluB grund aller berticksichtigten schossenen Vertrauens; aufdas mo- Bedingungen 3->3, besonders wegen Leistungs-ralische Den- druck und durchgangig einfacher

kenb sozialer Verantwortung

as = rnitldurch superiors, d.h. Ausbilder, Vorgesetzte, LehrabsolventInnen P = rnitldurch peers, d.h. andere Auszubildende

b 2 = vorkonventionell 3 = konventionell, rigide normorientiert 4 = konventionell, flexibel harmonisierend

23

Page 22: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Tabelle 4: Soziale Anregungspotentiale moralischen Lernens in der Lehre - alle Befragten

Bedingungskonstellation wahrscheinliche moralische Entwicklung Befragte

durchgangig eher re- 2->2 und striktiv 3->3, hochstens 3/4 (= Zwischenstu- 3

feIMischform) (wie bei Frau Crings)

fUr Vorkonventionelle 2->3 und eher fOrderlich, 3->3, hochstens 3/4 4 fUr Konventionelle eher restriktiv fUr Vorkonventionelle 2->3 und eher fOrderlich, 3->3/4, aber kaum weiter 6 fUr Konventionelle eher stabilisierend durchgangig eher fOrder- 2->3 und lich 3->3/4 oder 4 13

(wie bei Herrn Jeder) nur fUr Vorkonventio- 2->3 und nelle einschatzbar, und 3->? 5 zwar fOrderlich

zusammen 31

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Page 23: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Bedingungen der Entwicklung des moralischen Urteils bei angehenden Versicherungskaufleuten Sigrid Liidecke

1. Problemstellung

Am Beispiel von Auszubildenden in der Versicherungsbranche geht es im Rahmen des Projekts "Die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz in der kaufmannischen Erstausbildung"l um die Bestimmung des Standes des mo­ralischen Reflexionsvermogens, die Auspragungen von moralentwicklungs­relevanten Lebensumstanden und den Zusammenhang dieser Entwicklungs­bedingungen mit der moralischen Urteilsfahigkeit. Das Forschungsinteresse konzentriert sich bei der Urteilskompetenz zum einen auf die moralische Stu­fe, auf der die kaufmiinnischen Lehrlinge zu Beginn ihrer Ausbildungszeit urteilen, und zum anderen auf Veranderungen der Urteilsstruktur wahrend dieser Zeit bzw. in der sich anschlieBenden Erwerbstatigkeit. Ausgangspunkt fUr die Analyse der moralischen Urteilskompetenz ist die Theorie von Law­rence KOHLBERG (vgl. COLBY/KOHLBERG 1987). Ohne diese Theorie hier in ihren Grundztigen vorzustelIen, sei kurz auf eine zentrale Hypothese eingegangen, deren Analyse einen Projektschwerpunkt bildet: Das morali­sche Urteilsvermogen entwickelt sich vom Kindesalter an in Stufen; ein Indi­viduum, das sich nicht in einer Stufentibergangs- oder Stufenetablierungs­phase befindet, gibt situationsunabhiingig homogene Urteile ab ("Homo­genitatshypothese"). Dieser Annahme scheinen einige empirische Befunde zu widersprechen (ALTHOF/GARZJZUTAVERN 1988; NISAN 1986 a, b; SENGER 1985); sie solI in unserer Untersuchung daher einer kritischen Analyse unterzogen werden. Wir halten es fUr moglich, daB hinsichtlich ver­schiedener Lebens- bzw. Themenbereiche auf unterschiedlichen Moralstufen geurteilt wird ("Segmentierungshypothese") und setzen zur Bestimmung des Standes der moralischen Urteilskompetenz Dilemmata fUr verschiedene Be­reiche ein: zum einen fUr den beruflichen Kontext (hier unterscheiden wir zwischen betrieblichen Innen- und AuBenbeziehungen), zum anderen fUr den privaten Bereich (hierzu gehoren die Familie und der Freundeskreis). Es ist anzunehmen, daB in diesen Lebensbereichen - und fUr Auszubildende nattir­lich auch noch in der Berufsschule - der groBte und entwicklungsbezogen wichtigste Teil der Zeit verbracht werden dtirfte, und wir erfassen hierfUr

GefOrdert von der DFG im Rahmen des Schwerpunktprograrnms "Lehr-Lem-Prozesse in der kaufmiinnischen Erstausbildung", Az. Be 1077/5-1 und Be 1077/5-2.

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nicht nur die moralische Urteilskompetenz, sondem auch die moralrelevanten Entwicklungsbedingungen.1

Fur die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz scheinen weni­ger personale Reifungsprozesse als vielmehr bestimmte Umweltbedingungen wirksam zu sein, die sich fOrderlich oder hemmend auf diesen Kompetenz­erwerb auswirken k6nnen und die in den alltiiglichen LebensumsHinden eines Menschen zu finden sind. In diesem Zusammenhang wurden von HOFFILEMPERTILAPPE (1991) folgende soziobiographische Bedingungen als moralrelevant identifiziert:

(1) emotion ale Zuwendung und soziale Anerkennung, (2) Konfrontation mit sozialen Problemen und Konflikten, (3) Chancen zur Teilnahme an Kommunikationsprozessen, (4) M6glichkeit zur Mitwirkung an kooperativen Entscheidungen, (5) Verantwortungsubemahme, (6) Handlungschancen.

Diese Entwicklungsbedingungen werden im folgenden zunachst erlautert (Kap. 2.), bevor nach einer kurzen Darstellung des Erhebungsverfahrens (Kap. 3.1.; ausfUhrlicher siehe BECK! BROrnNGI LUDECKE-PLUMERI MINNAMEIERI SCHIRMERI SCHMID 1996) auf unsere empirischen Be­funde eingegangen wird. In bezug auf die soziobiographischen Umwelt­merkmale interessieren insbesondere die Auspragungen in verschiedenen Le­bensbereichen, ihre Veranderungen im Zeitablauf und bestimmte Lebenser­eignisse (z. B. Eintritt in das Erwerbsleben, Griindung einer Familie) hin­sichtlich ihrer m6glichen Auswirkungen auf die moralrelevanten Entwick­lungsbedingungen. So lassen sich einerseits aus den Bedingungskonstellatio­nen Erklarungsansatze ffir das gegenwartige moralische Urteil gewinnen; an­dererseits k6nnen - in einer prognostischen Wendung - spezifische Annah­men daruber gemacht werden, wie die kunftige moralische Entwicklung ei­nes gegebenen Individuums aufgrund des vorzufindenden Anregungspotenti­als verlaufen muBte.

2. Entwicklungsbedingungen der moralischen Urteilskompetenz

Nach KOHLBERG (1976) sind insbesondere die Rollen- und Perspektiven­iibemahme sowie die Konfrontation mit sozial-moralischen Konflikten als exteme Faktoren fUr die F6rderung oder Hemmung des moralischen Ent­wicklungsprozesses von Bedeutung. HOFFI LEMPERTI LAPPE (1991)

2 Fiir niihere Infonnationen siehe BECK! BRUTTINGI LUDECKE-PLUMERI MINNA­MEIERI SCHIRMERI SCHMID 1996

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Page 25: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

konnten in einer siebenjlihrigen Uingsschnittuntersuchung bei 21 Metallfach­arbeitern bestimmte Bedingungen herausfiltern, deren Vorkommen bzw. Nichtvorkommen und Auspriigungsgrad ftir die moralische Entwicklung be­deutsam erscheinen. Im folgenden werden diese Entwicklungsbedingungen, wie wir sie im AnschluB an die von LEMPERT geleitete Forschergruppe fas­sen und erfassen, kurz vorgestellt; neben den Bedingungen und deren Erliiu­terung sind die jeweiligen Unterbedingungen und m6glichen Auspriigungen angegeben: 1

Schaubild 1:

Bedingung

erfahrene Wert-schiitzung

wahrgenommene Konflikle

Kommunika-tionsmCig-Lichkeilen Kooperations-erfahrung

Verantwortung

Handlungs-

chancen

Soziobiographische Entwicklungsbedingungen der mora­lischen Urteilskompetenz (nach LEMPERT)

Erliiuterung Unterbedingung Au pdigung

Qualitlit der zwischen- als PersCinlichkeit; erfahren -menschlichen Bezie- als Rollentrliger enlzogen hungen, emotionale Zuwendung und so-ziale Anerkennung Konfrontation mit ge- Interesse vs. Interesse genslitzlichen Orien- oder offen - verdeckt tierungen interagie- Interesse vs. Wert render Personen oder manifest - latent (personengruppen) Wert vs. Wert Austausch von Mei- zwanglos -nungen, Behauptun- restringiert gen, Argumenten Art der Beziehungs- partizipativ -muster bei Entschei- direktiv dungen wahrgenommene adiiquat Zuweisung und ---------- ------------< Zurechnung von Ver- inadiiquat iiberfordernd antwortung oder unterfordernd wahrgenommene adiiquat Handlungsspiel- -----------f----------riiume bzw. Restrik- inadiiquat iiberfordernd tionen oder unterfordernd

3 Eine genauere Beschreibung dieser Entwicklungsbedingungen findet sich bei Lempert in diesem Band; ferner sei beispie1sweise aufLempert 1993 verwiesen.

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Mit Wertschiitzung ist die Achtung, Warme, Riicksichtnahme versus MiB­achtung, Klilte, Hme gemeint, die einer Person entgegengebracht werden. Wichtig ist u. E. die Unterscheidung, ob man als ganze Person, also auch mit all seinen Fehlem, akzeptiert wird (das bezeichnen wir mit Wertschlitzung als Personlichkeit) oder nur aufgrund bestimmter Leistungen (das ist die Wert­schlitzung als Fachmann bzw. Rollentrliger). Die Ausprligung kann 'erfahre­ne' oder 'entzogene' Wertschlitzung sein.

Bei der Konfliktaustragung geht es urn die Unvertrliglichkeit von Orien­tierungen interagierender Personen(gruppen), unabhlingig von ihrer Artiku­lation. Es konnen widerstreitende Interessen, Normen undloder Werte im Spiel sein. Hierbei sind die Auftretenshliufigkeit und die Art der Konflik­taustragung (ob offen oder verdeckt) bzw. der Verbalisierungsgrad (von ma­nifest bis latent) von Interesse.

Bei den Kommunikationsmoglichkeiten untersuchen wir den Austausch von Informationen, Meinungen, Behauptungen, Argumenten usw .. 'Zwang­los' bedeutet offen und sanktionsfrei; grundslitzlich konnen alle Themen zur Sprache gebracht werden. "Eingeschrlinkt" meint, daB nur ein enger Bereich von (meist sozial erwiinschten) MeinungsauBerungen fiir zulassig gehalten wird.

In engem Zusammenhang mit der Form der Kommunikationsbeteiligung steht die Kooperationsweise. Moralsozialisatorisch relevant ist hierbei, ob die Beziehungen zwischen Personen partizipativ oder direktiv geartet sind. Die Frage ist, ob es sich urn eine gleichberechtigte Teamarbeit und ein Eingebun­densein in Entscheidungsprozesse handelt oder - im Gegensatz dazu - urn di­rektive bzw. subordinative Beziehungsmuster, bei denen die Entscheidungen nicht zu beeinflussen sind, sondem alles vorgegeben wird, man sich eher unterordnen muB und Weisungen auszufiihren hat.

Bei der Verantwortungsiibernahme geht es urn die adliquate vs. inadliquate Zuweisung und Zurechnung von Verantwortung. Flihigkeitsan­gemessene Anforderungen werden als forderlich angesehen, Uber- oder Un­terforderung und Ungenauigkeit hinsichtlich der gestellten Anforderungen dagegen als die moralische Entwicklung behindemd.

Handlungschancen stehen in engem Zusammenhang mit Kooperation und Verantwortungszuweisung. Handlungsspielrliume lassen die Verwirkli­chung eigener Vorstellungen und Wiinsche zu. Im Kontrast dazu stehen Re­striktionen, denen das betriebliche bzw. auBerbetriebliche Handeln unterwor­fen ist.

LEMPERT hat fUr jede dieser Bedingungen hypothetisch prlizisiert, bei welchen Ausprligungen die moralische Entwicklung (Ubergang zur konven­tionellen bzw. postkonventionellen Ebene) gefordert und wann sie behindert wird (z. B. 1993, S. 7-18). Ein Entwicklungsfortschritt ist am wahrschein­lichsten, wenn moglichst alle Bedingungen forderlich ausgeprligt sind (ebd., S.3).

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3. Befunde zur Auspragung moralrelevanter Entwicklungs­bedingungen

3.1 Das Erhebungsverfahren

Unsere Untersuchung, die als Uingsschnittstudie angelegt ist, wird an einer kaufmannischen Berufsschule in Mainz bei Versicherungslehrlingen durch­gefUhrt. Der Beginn war im Jahr 1994, und zwar bisher bei denjenigen Be­rufsschiilern, die 1992, 1993, 1994, 1995 und 1996 ihre Ausbildung begon­nen haben. Die Erhebungen werden im Jahresabstand wiederholt, um Veran­derungen iiber die Zeit feststellen zu konnen. Solange sich die Probanden in der Ausbildung befinden, erheben wir in der Berufsschule. Nach der Ausbil­dung verfolgen wir im Langsschnitt bestimmte Einzelflille weiter. Ausge­wahlt werden dafiir solche Probanden, die in den moralischen Dilemmata homogen oder stark heterogen geurteilt haben. Sie werden zu Interviews ein­geladen, die an der Universitat stattfinden.

Fiir den Bereich der moralrelevanten Entwicklungsbedingungen setzen wir zunachst Fragebogen ein, und zwar mit Blick auf die Kindheit und Ju­gendzeit, die aktuelle famililire Situation, den Freundeskreis, den Betrieb und die Berufsschule. Im wesentlichen erheben wir pro Entwicklungsbedingung in jedem Lebensbereich zwei Informationen: 1. die personliche Empfindung iiber die Auspriigung und 2. dazu jeweils die personlichen Wichtigkeitsein­schiitzungen (denn von subjektiv unwichtigen Bedingungen diirfte keine nennenswerte Stimulationswirkung ausgehen). Durch eine geeignete Kombi­nation dieser Daten kann fiir jede Bedingung ein MeBwert berechnet werden, der von -1 (stark herabziehend, Regressionstendenzen) iiber ° (stabilisierend) bis + 1 (sehr fOrderlich) verlauft und der so etwas wie eine Veranderungs­wahrscheinlichkeit fUr die moralische Urteilskompetenz ausdriickt. Der Ein­fachheit halber wird in den folgenden Schaubildern nur noch ,,-" (ungiinstig), ,,0" (stabilisierend) und ,,+" (fOrderlich) unterschieden.1

3.2 Entwicklungskonstellationen eines ausgewiihlten Probanden

Im folgenden Schaubild sind die Auspragungswerte (-, ° und +) pro Ent­wicklungsbedingung und Lebensbereich fUr einen ausgewlihlten Probanden dargestellt. Dieser Proband ist weiblich und zum ersten Erhebungszeitpunkt (t1 = 1994), also am Beginn der Ausbildung, 22 Jahre alt. Sie hat das Abitur

Das Minuszeichen steht fur den Wertebereich -1.0 bis -0.31, die Null fur -0.30 bis +0.30 und das Pluszeichen fur +0.31 bis + 1.0.

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Page 28: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

an einem Wirtschaftsgymnasium gemacht, wohnt noch bei den Eltern und hat dort wahrend ihrer Kindheit und Jugendzeit (~) - retrospektiv betrachtet -durchgangig positive Bedingungen vorgefunden. Das ist auch zum ersten Be­fragungszeitpunkt (t\) noch der Fall.

In den Jahren 1995 (~) und 1996 (t3) gab es zum Teil andere Beurteilun­gen der familiiiren Situation. Wahrend Wertschiitzung, Verantwortung und Konflikte gleichbleibend gut eingeschiitzt wurden, sanken Kommunikation und Kooperation ab; die Handlungschancen werden zwischenzeitlich wieder als adiiquat empfunden. Bei der moralischen Urteilsstufe zeigt sich keine Veranderung: Sowohl zum Zeitpunkt t\ als auch in ~ wurde im Familien­Dilemma auf Stufe 3 geurteilt.

Im Freundeskreis werden ebenfalls zu alIen Erhebungszeitpunkten Mo­ralurteile auf der Stufe 3 abgegeben. Bis auf die Bedingungen Wertschiitzung in t\ und ~ sowie Verantwortung in t\ werden alle Bedingungen von der Pro­bandin als positiv ausgepriigt empfunden. Bei der Wertschiitzung gab sie an, daB sie gerne bessere Freundschaftsbeziehungen gehabt hiitte. Bei Nachfra­gen stellte sich heraus, daB sie fUr ihren Freund vieles aufgegeben hatte, aber nach der Trennung von ihm, die ein halbes Jahr zuriicklag, waren die Freun­de fUr sie da.

Im betrieblichen Bereich wurde nur die Kooperation zu Anfang der Aus­bildung als mittelmiiBig eingeschiitzt. Ansonsten lagen und liegen alle sub­jektiven Bedingungswahrnehmungen im positiven Bereich. Allerdings sind im moralischen Urteil Regressionstendenzen zu verzeichnen, was - gemiiB KOHLBERG - theoriewidrig ist. Zu Beginn der Ausbildung wurde in beiden betrieblichen Dilemmata auf der Moralstufe 3 geurteilt. Im weiteren Verlauf der Ausbildung nimmt das strategische Denken der Stufe 2 zu.

In der Berufsschule wurden nur Kommunikation und Handlungschancen durchgiingig als positiv empfunden. Ein zwischenzeitliches Hoch gibt es bei Konfliktaustragung und Wertschiitzung; umgekehrt ist es bei Kooperation und Verantwortung, die in ~ jeweils am negativsten erlebt wurden. Gerade fUr die Schule miissen sich noch differenziertere Analysen anschlieBen, da hier Informationen fUr verschiedene Lehrer und die Mitschiiler vorliegen.

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Page 29: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Schaubild 2: Entwicklungskonstellationen eines ausgewihlten Probanden

Familie

Freundes­kreis

o

to

Belrieb Moralstufe

+

o

Berufs.. schule

+

o

313

12

b

b

2..at2-3

b

Wensd\atzung Kol1'llllM\lkatlon V~~ Handlungschancen Kooperation Konlllkte

KoI1'llllM\lIcatIon Handluogsdleocen VIII'tII1IwortWI Konftlkle WfifUdliIIzlJng

Koope ... Uon

31

Page 30: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Unter der schon angesprochenen Segmentierungsproblematik ist von beson­derem Interesse, ob in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche sozi­obiographische Bedingungskonstellationen wirksam sind. Aufgrund der Da­tenerhebung im Uingsschnitt bietet sich zum einen die Moglichkeit, spezifi­sche Annahmen in bezug darauf zu formulieren, wie das Stimulierungspo­tential der verschiedenen Lebensbereiche die moralische Entwicklung beein­flussen miiBte (Prognose). Zum anderen kann ein Stiick weit nachvollzogen werden, auf welche Bedingungskonstellationen das gegenwfutige moralische Urteil zuriickzufiihren ist (ErkHirung). Fiir die Beispiel-Probandin bedeutet dies:

In der Familie lag und liegt das mg,ralische Urteilsniveau auf der Stufe 3. In Kindheit und Jugend gab es Voraussetzungen zum Erreichen des konven­tionellen Niveaus. Betrachtet man die momentanen Auspdigungen der Be­dingungen, so wird in naher Zukunft nicht mit einer moralischen Weiterent­wicklung zu rechnen sein. Es ist eher davon auszugehen, daB sich die Pro­band in in einer Stufenetablierungsphase befindet.

Im Freundeskreis konnen am ehesten Entwicklungschancen hin zur Stu­fe 4 gesehen werden. Vielleicht sind aber auch hier im Moment alle Mog­lichkeiten ausgeschopft, so daB das moralische Urteil der Probandin auf Stufe 3 bleibt.

Im Bereich Betrieb war ein Absinken des moralischen Reflexionsniveaus festzustellen. An den moralrelevanten Entwicklungsbedingungen scheint es nicht gelegen zu haben, und es wird interessant sein, zu verfolgen, wie sich die Probandin nach AbschluB der Ausbildung weiterentwickelt.

Fiir den Bereich Berufsschule sind die Erhebungen abgeschlossen, da die Probandin zum nachsten Befragungszeitpunkt bereits ihre Ausbildung abge­schlossen haben wird. Fiir diesen Lebensbereich, von dem vielleicht die Re­gressionsansWBe ausgehen, die sich im betriebsbezogenen Urteilsniveau zei­gen, wurde kein Dilemma eingesetzt.

3.3 Wahrnehmung der Entwicklungshedingungen im Verlauf der Aus­hildung

Hinweise auf die Frage, ob sich im Verlauf der Ausbildung Veranderungen in den wahrgenommenen Bedingungen ergeben haben, liefert das Schaubild 3. Die Daten sind iiber Probanden aggregiert, die 1994 ihre Ausbildung be­gonnen und 1996 zum groBen Teil schon abgeschlossen haben. Sie sind fiir drei Zeitpunkte dargestellt: t\ ist der Beginn der Ausbildung in 1994, ~ liegt im Jahr 1995 und t3 im Jahr 1996.

Im privaten Bereich (FamilieILebensgemeinschaft und Freundeskreis) haben sich keine groBen Veranderungen ergeben. Die Bedingungswahrneh­mungen sind in etwa gleich giinstig geblieben. Bei genauerer Betrachtung der

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Page 31: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Werte fUr das hausliche Umfeld fliUt auf, daB die mittleren Auspragungen (,,0") wahrend der Ausbildungszeit etwas zuriickgehen und die positiven Be­urteilungen sukzessive ansteigen. Dies mag daran liegen, daB der AblOsungs­prozeB von den Eltern immer weiter fortschreitet und die Auszubildenden mehr und mehr Unabhangigkeit edangen. Die gr6Bten Freiraume finden die Probanden zumeist in ihrer Gleichaltrigengruppe, weshalb es nicht verwun­dert, daB die Entwicklungsbedingungen des Freundeskreises im Vergleich zur Familie noch positiver eingeschatzt werden; das Zusammensein beruht bei den Peers auf Freiwilligkeit und zeichnet sich durch gegenseitiges Ver­standnis, Ober-alles-reden-K6nnen, gemeinsame Unternehmungen aus.

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Page 32: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Schaubild 3: W ahrnehm ung der Entwicklungsbedingungen im Verlauf der Ausbildung

%-Anlell der Pbn t1 t2 t3

100

80

Familie! 60

Lebens- 40 gemeinschaft

20

0 0 + 0 + 0 +

'I,-Anlell der Pbn t1 t2 t3

100

80

Freundes- 60 kreis

40

20

0 0 + 0 + 0 +

%-Anlell der Pbn t1

100 t2 t3

80

Betrieb 60

40

20

0 0 + 0 + 0 +

'I,-Anlell der Pbn t1 t2 t3

100

80

Berufs- 60

schu le 40

20

0 0 + 0 + 0 +

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Page 33: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Fiir den Betrieb dagegen waren die Entwicklungsbedingungen zum Zeitpunkt ~ sUbjektiv wesentlich schlechter ausgepragt als in t\ und 13. Das mag daran gelegen haben, daB der Arbeitsalltag eingekehrt war, fUr einige der Termin der Priifungen naher riickte oder fUr sie die Zukunft ungewiB war, d. h. es war unklar, ob sie nach AbschluB der Ausbildung iibemommen werden wiir­den. Diejenigen, die das dritte Ausbildungsjahr absolvieren, konnen in t3 schon relativ selbstandig arbeiten, was insgesamt die Zufriedenheit erhohen diirfte und sich dann auch in den Bedingungseinschatzungen niederschlagt.

Vergleicht man die verschiedenen Lebensbereiche im Zeitpunkt tl' so werden die Entwicklungsbedingungen in der Berufsschule am schlechtesten beurteilt. Dieses Bild kehrt sich aber schon zum Zeitpunkt t2 urn und liegt wertmaBig mit den anderen Lebensbereichen in 13 etwa gleich. Fiir 13 haben wir nur noch die Beurteilungen jener Probanden des Jahrgangs 1994, die eine zweieinhalb- oder dreijahrige Ausbildung machen. Sie sind nun Schiiler der Klasse von 1995, wiederholen quasi den Lehrstoff des zweiten Ausbildungs­jahres und fiihlen sich auch aufgrund ihrer Leistungen von den Lehrem wert­geschatzt.

Im Unterschied zum privaten Bereich sind in den beruflichen Lebensfel­dem (Betrieb und Berufsschule) wesentlich stiirkere Veranderungen in den Bedingungseinschatzungen iiber die Ausbildungszeit feststellbar. Diese In­stabilitat in den fUr die Probanden neuen Erfahrungsraumen kann allerdings auch als mogliche Ursache dafUr gesehen werden, daB eine moralische Ent­wicklung - auf eine hohere oder niedrigere als die bereits erreichte Stufe -stimuliert wird.

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3.4 Entwicklungsbedingungsauspriigungen in verschiedenen Lebensbereichen

Wahrend im Schaubild 3 die Entwicklungsbedingungen der Versicherungs­klasse des Jahrgangs 1994 zu einem Gesamtscore zusammengefaBt waren, gibt das Schaubild 4 AufschluB dariiber, wie die einzelnen Entwicklungsbe­dingungen pro Lebensbereich iiber alle Probanden ausgepragt sind.

Im privaten Bereich (Kindheit und Jugend, gegenwiirtige Familiensitua­tion, Freundeskreis) zeigen sich durchgehend eher moralentwicklungsfOrder­liche Bedingungsauspragungen. Die Probanden fuhlen sich sowohl als Rol­lentrager als auch als Personlichkeit wertgeschiitzt. Nicht alle Konflikte wer­den offen ausgetragen, doch die iibrigen Bedingungen sind iiberwiegend po­sitiv eingestuft, so daB insgesamt - abgesehen vielIeicht von Einzelfiillen -keine hemmenden Einfliisse auf die Moralentwicklung ausgehen. Vergleicht man das familiiire Umfeld und den Freundeskreis, so werden die Entwick­lungsbedingungen im Peer-Bereich wiederum durchschnittlich giinstiger ein­geschatzt.

Auch im Betrieb wird den Auszubildenden mehrheitlich Wertschatzung entgegengebracht, wobei die Wertschatzung als Personlichkeit noch die Wertschatzung als RolIentrager iibertrifft. Konflikte und Handlungschancen sind nicht so giinstig ausgeprligt. Die Probanden erleben die am Arbeitsplatz auftretenden Konflikte teils als offen, teils als verdeckt. Die zugeteilten Handlungschancen werden nicht immer als adaquat empfunden, teilweise werden sie als iiber- oder unterfordernd erlebt. Der Anteil neutraler bzw. sta­bilisierender Gegebenheiten (weder fOrderlich noch herabziehend) ist ver­gleichsweise hoch. Bei den Dimensionen Kommunikation, Kooperation und Verantwortungsiibernahme gibt es kaum stabilisierende, aber vorwiegend fOrderliche Auspragungen; hier ist alIerdings auch der Anteil herabziehender Elemente im Vergleich zu den privaten Lebensfeldern hoher.

Von alIen untersuchten Lebensbereichen konnte in der Berufsschule das geringste moralentwicklungsfordernde Potential festgestelIt werden. Wert­schatzung aufgrund erbrachter Leistungen wird den Probanden von den Leh­rern nicht in einem AusmaB entgegengebracht, das als entwicklungsstimulie­rend bezeichnet werden konnte. Jedoch fiihlen sich die Auszubildenden als Personen in einem Grad anerkannt, der eine entwicklungsforderliche Wir­kung haben konnte; bei dieser Bedingung "Wertschatzung als Personlichkeit" muB aber nachdenklich stimmen, daB fur die Schule prozentual weniger po­sitive Einschiitzungen vorliegen, als fiir die anderen Lebensbereiche. Was die Konflikte und die Kooperation betrifft, so sind beide Dimensionen groB­tenteils als stabilisierend oder herabziehend zu bezeichnen. Etwas, aber nicht viel besser sieht es bei den Handlungschancen aus. Lediglich Kommunika-

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Page 35: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

Schaubild 4:

%-Ant.lI. de' Pbn

Kindheit und

Jugend

%-Ant.lI.

Entwicklungsbedingungen in verschiedenen Lebensbereichen aus Sicht der Auszubildenden

W.rtllchltz. W.rtllchltz. Kommunl- Koop.-RolI.ntrtg., P ... CSnllchk. Konfllkt. katlon ration

V.rant- Handlun;.­wortun; chancen

1Hr------------------------------------------------------, •• ~--_==-----or~------------~~--------r_----~----~~ •• ,. 2.

- 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 +

d.,Pbn 1Hr---------------------~------~------~--------------,

Familiel Lebens­

gemeinschaft (gegenw~rtig)

%-Antlll. dorPbn

%-Antllll dorPbn

Betrieb

'''-Antoll.

I. L-__ ~'-_--'

•• ,. 2.

- 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 +

1Hr---------------------------_==---------~------~-----,

~r---;_r_--~~----------~

2.

- 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 +

- 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 + - 0 +

de,Pbn 1~ r-----------------------------~---------------------_,

1.~----~--------------~------r-----~------~----_4

I. 1------------1

'. 1--1-==------1 2.

37

Page 36: Beitr¤ge zur Berufs- und Wirtschaftsp¤dagogik: Forschungsberichte der Herbsttagung 1996

tion und Verantwortung konnten eine moralentwicklungsfOrderliche Wir­kung entfalten. Insgesamt scheint die Schule eher eine stabilisierende Funk­tion zu libernehmen. Allerdings findet man gerade dort zugleich die starkste Auspragung regressionsauslOsender Konstellationen - ein Befund, der eher bedenklich erscheinen mag und dessen Ursachen es noch genauer nachzuge­hen gilt.

Uber alle Dimensionen scheint von der Konfliktaustragung die starkste Stabilisationswirkung in bezug auf die moralische Entwicklung auszugehen; Kooperationsweise und Handlungschancen stellen eher die starksten Regres­sionskrafte dar.

3.5 Moralische Atmosphiire im privaten und beruflichen Bereich

Mit Bezug auf die Segmentierungshypothese liiBt sich der Frage nachgehen, ob in den verschiedenen Lebensbereichen der Auszubildenden unterschiedli­che Bedingungen vorliegen, die verschiedene Entwicklungsverlaufe erklaren bzw. prognostizieren lassen konnten. Flir die im folgenden Schaubild darge­stellte Uberblicksbetrachtung wurden liber alle Probanden zusammenfassen­de Scores berechnet, die einen Gesamteindruck vom Stimulierungspotential der verschiedenen Lebensbereiche vermitteln sollen.

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Im privaten Bereich (Kindheit und Jugend, gegenwlirtige Lebensgemein­schaft und Freundeskreis) zeigen sich sehr gute Voraussetzungen fUr die mo­ralische Entwicklung. Am besten sieht es im Freundeskreis aus, was nicht be­sonders verwundert, da das die einzige Bezugsgruppe mit freiwilligem Cha­rakter ist. Im Durchschnitt nicht ganz so gut werden die vorfindbaren Bedin­gungen im Betrieb eingeschlitzt.

Am aufflilligsten ist das Profil der Berufsschule, die insgesamt am we­nigsten als moralentwicklungsstimulierend empfunden wird. Das wider­spricht ganz offenkundig ihrem Selbstanspruch und man wird nach mogli­chen Griinden fUr diesen Befund suchen mtissen. In Detailanalysen muB die­ses Bild noch nach Unterrichtsflichem differenziert werden, denn wir haben den Eindruck, daB zwischen einzelnen Fachem bzw. zwischen den Lehrem deutliche Unterschiede bestehen - und die sind in diesem Gesamtscore nicht erkennbar.

Das Gesamtbild eher entwicklungsgtinstiger KonstelIationen darf nicht suggerieren, daB bei den Probanden durchweg in absehbarer Zeit mit einem Ubergang zur nlichsthoheren Stufe zu rechnen ist. Bei der Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz von Stufe zu Stufe handelt es sich um einen oft langandauemden, mehrjlihrigen ProzeB, fUr den alIe Entwicklungsbedin­gungen zeitlich stabil in fOrderlichem AusmaB vorliegen solI ten. Auch fUr die Phase der Etablierung auf einer neuen Stufe konnen positive Bedingungsaus­prligungen wahrscheinlich als Voraussetzung daftir angenommen werden, daB es nicht zu schnelIen Rtickschritten kommt. Bereits bei der ungtinstigen Auspragung in einer der sieben Bedingungen kann der Entwicklungsfort­schritt fUr das gesamte jeweilige Lebensfeld ausbleiben (z. B. LEMPERT 1993, 3), selbst wenn im iibrigen der Eindruck einer moralentwicklungsfOr­derlichen Atmosphlire bestehen mag.

Im AnschluB an diese ErgebnisdarstelIungen, die wegen des nach wie vor laufenden Llingsschnitts in vielen wichtigen Punkten noch offen bleiben mtissen, solI nicht versliumt werden, einige Folgefragen und Folgeprobleme anzudeuten. So ist beispielsweise nicht gekllirt, in welchem MaBe und mit welchen theoretischen Begriindungen es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Entwicklungsbedingungen gibt. Es stellt sich femer die Frage, ob einige Bedingungen doch bedeutsamer sind als andere und ob eventuell Kompensationen stattfinden. Zu diesen Bereichen werden wir nach AbschluB unseres Projekts Daten vorliegen haben. Bei den theoretischen Begriindun­gen fUr das gesamte moralische Entwicklungsgeschehen kann zwar auf die Anslitze von KOHLBERG (1984), COLBY/KOHLBERG (1987) und die LEMPERT'schen Konzeptualisierungen zuriickgegriffen werden. Aber un se­re Befunde zeigen auch, daB sowohl ftir die Konzeptualisierung der Ent­wicklungsbedingungen als auch des Entwicklungsverlaufs noch eine Reihe von Prazisierungen wtinschenswert erscheinen. Insbesondere das Segmentie-

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rungsproblem laBt sich gegenwfutig noch nicht zufriedenstellend theoretisch fassen. Damit zusammen hangt die Frage nach der (Un-)Abhangigkeit der Bedingungskonstellationen filr die moralische Entwicklung zwischen den verschiedenen Lebensbereichen. Bestehen die erwlihnten Kompensationsbe­ziehungen ggf. nur innerhalb eines Bereichs zwischen verschiedenen Bedin­gungskonstellationen oder konnen sie sich auch bereichsiibergreifend entfal­ten? Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Auswirkungen nicht nur auf die Bewertung der praktisch vorgefundenen Verhiiltnisse, sondern auch auf die theoretisch befriedigende Erkliirung von Segmentationserscheinun­gen. Wenn namlich die Entwicklungsbedingungen bereichsiibergreifende Kompensationseffekte ermoglichen, miiBte das Segmentationsphanomen auf andere Ursachen zuriickgefilhrt werden.

Dber die Ergebnisse einer weiteren Untersuchungsmoglichkeit, namlich der Frage danach, ob in bezug auf die Auspriigungen der Entwicklungsbe­dingungen Unterschiede zwischen den subjektiven Wahrnehmungen der Auszubildenden und denjenigen der Ausbilder und der Lehrer bestehen, kann ebenfalls zu einem spiiteren Zeitpunkt berichtet werden.

Literatur

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Beck, Klausl Briitting, Bernhardl Uidecke-PHimer, Sigridl Minnameier, Gerhardl Schirmer, Uta! Schmid, Sabine Nicole (1996): Zur Entwicklung moralischer Ur­teilskompetenz in der kaufmannischen Erstausbildung - Empirische Befunde und praktische Probleme. In: Zeitschrift flir Bemfs- und Wirtschaftspadagogik, Bei­heft 13, 1996, S. 187-206.

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Lempert, Wolfgang (1990): Moralische Sozialisation im Bemf. In: Zeitschrift flir Be­mfs- und Wirtschaftspadagogik (86) 1990, S. 3-22.

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Lempert, Wolfgang (1993): Moralische Sozialisation im Beruf. Bedingungsvarianten und -konfigurationen, ProzeBstrukturen, Untersuchungsstrategien. In: Zeitschrift fiir Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (13) 1993, S. 2-35.

Nisan, Mordecai (1986a): Begrenzte Moralitiit. Ein Konzept und seine erzieherischen Implikationen. In: Oser, Fritz/Fatke, ReinhardIHOffe, Otfried (Hrsg.): Transfor­mation und Entwicklung. (Suhrkamp) Frankfurt 1986, S. 192-214.

Nisan, Mordecai (1986b): Die moralische Bilanz. Ein Modell menschlichen Entschei­dens. In: Edelstein, WolfgangINunner-Winkler, Gertrud (Hrsg.): Zur Bestimmung der Moral. (Suhrkamp) Frankfurt 1986.

Oser, Fritzl Althof, Wolfgang (1992): Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. (Klett-Cotta) Stuttgart 1992.

Senger, Rainer (1985): Segmentation of Soldiers' Moral Judgment. In: Lind, Ge­orgIHartmann, Hans A.lWakenhut, Roland (eds.): Moral Development and the Social Environment. (Precedent) Chicago 1985, S. 221-242.

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Das Losungsverhalten bei wirtschaftskundlichen Aufgaben - visuelle und physiologische Begleitprozesse situierter kognitiver Leistungen Christoph Sczesny

Vorbemerkungen

Ein wichtiges Bestimmungsmerkmal computerbasierten Unterrichts ist seine 'Objektiviertheit'. Diese dokumentiert sich in der Unterrichtsvorlage, die ge­geniiber 'subjektivem' Lehrer-Unterricht, der nicht schriftlich fixiert sein muB (= einmaliges, individuelles Ereignis), "in allen Einzelheiten festgelegt" ist und demzufolge objektiv nachgepriift werden kann (ECKEL 1989, S.l). Die Vorlage mit der 'Vor-Beschreibung' des Unterrichts "reprasentiert eine spezifizierte, konkrete Unterrichtstheorie, die (im Unterricht) mit dem Com­puter sehr genau examiniert werden kann" (ebd., S.7). Dies ist deswegen moglich, weil der Computer nicht nur die Steuerung der Lehrstoffdarbietung und der Kommentierungen von Lernerreaktionen erlaubt, sondern dariiber hinaus den Verlauf des Wissenserwerbs durch Registrierung und Speiche­rung von Lernwegdaten ermoglicht, die in einem Zyklus von Unterrichts­durchfUhrnng und Verbesserung der Unterrichtsvorlage aufgrund der Lern­weganalyse zu einer sukzessiven Optimierung des unterrichtlichen Gesche­hens beitragen konnen.

Die Lernwegprotokolle als Ausdruck einer eher statischen 'Einpunkt­messung' werden dabei primar unter dem Aspekt des individuellen Vorge­hens beim Bearbeiten von Problemstellungen analysiert und es wird ex post nach Begriindungen fUr die auftretenden Fehler beim Schiiler gesucht, wobei in den meisten Fallen das Scheitern des Schiilers an der Aufgabe darin 'er­kannt' wird, daB er fehlerhafte Losungspfade beschreitet oder inkorrekte be­reichsspezifische Regeln anwendet (KUNZ & SCHOTI 1987). Diese Art der Bewertung von Instruktionseffekten ist jedoch insofern defizitar, als sie den konstruktiven Charakter menschlicher Informationsverarbeitungsprozesse mit den Komponenten individuelle Informationssuche, Wissensstruk­turierung und Verarbeitung neuer Lerninhalte im Denken (des Lerners) not­wendigerweise auBer acht laBt.

Das Problem des retrospektiven SchlieBens auf zuvor abgelaufene kogni­tive Operationen laBt sich 'entscharfen', wenn man neben der Aufzeichnung des Lernwegs auf 'physische' ProzeBdaten zuriickgreift, deren Analyse die Moglichkeit eroffnet, einzelne Stationen des Verarbeitungsprozesses von der

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Aufnahme von Information bis hin zu einer abgegebenen Reaktion zu beob­achten.

Der Versuch, physiologisches Aktivierungsgeschehen und visuelles Ex­plorationsverhalten als Instrument zur Beschreibung der Qualitat des Infor­mationsverarbeitungsprozesses einzusetzen, der wahrend der Beschiiftigung mit einer Aufgabe aktualisiert wird, impliziert, daB sich mentale Anforderun­gen an das kognitive System in organismischen RegelgroBen, also auf physi­scher Ebene, reflektieren. DaB Blickbewegungen wahrend des Verarbei­tungsprozesses etwas mit Aufmerksarnkeitslenkung und Denken zu tun ha­ben, ist in zahlreichen Untersuchungen besHitigt worden (zusammenfassend RADACH 1996). Es herrscht weitgehend Konsens dariiber, daB die Aufein­anderfolge von Augenbewegungen kein willkiirlicher ProzeB sei, sondern vielmehr einem festgelegten Programm gehorche, das mit kognitiven Kom­ponenten durchsetzt ist (LUER 1988) und in dessen Zentrum ein permanen­ter Vorgang steht, der dazu dient, zuvor aufgestellte Hypotbesen sukzessiv zu iiberpriifen (SANDERS 1971). Die Auswahl der Fixationsorte innerhalb ei­ner Reizvorlage, etwa eines Aufgabentextes, steht in einem direkten Zusam­menhang mit der Aufmerksamkeitsverteilung (BOERSMA & MUIR 1975). Sie geschieht nicht wahllos und zufiillig. Vielmehr werden bereits an jedem Fixationsort Reize aus der Gesichtsfeldperipherie vorverarbeitet (HAKEN & HAKEN-KRELL 1992), die dann gezielte sakkadische Spriinge vornehmlich zu solchen Elementen ermoglichen, die den h6chsten Informationsgehalt ha­ben und deshalb als bedeutend eingestuft werden (GAARDER 1975). Die dabei ablaufenden kognitiven Prozesse spiegeln sich im individuellen Blick­muster des Rezipienten.

Uberblickt man die Arbeiten zum Zusammenhang zwischen phys(iolog)ischer Aktivierung und kognitivem ProzeBgeschehen, so zeichnet sich prinzipiell ein ahnliches Bild ab. Fest steht, daB die in einem Informati­onsverarbeitungsprozeB zusammenwirkenden Teiloperationen (Informations­aufnahme, Informationsbearbeitung, Informationsbewertung und Stimulus­beantwortung; Aktion und Reaktion) nur dann ausgelost werden konnen, wenn ihre neuronale Basis im Gehirn ein bestimmtes Aktivationsniveau auf­weist. Aktivierung ist eine ElementargroBe menschlichen Verhaltens, die dem Organismus dazu dient, seine psychophysische Basis fiir adaquates Rea­gieren auf externe und interne Anforderungen zu optimieren (vg!. SCHAN­DRY 1989). AIs Regulationsmechanismus scheint hierbei das sogenannte un­spezifische Modulationssystem (Formatio reticularis) zu dienen (vg!. BIR­BAUMER & SCHMIDT 1990; ROTH 1994). Dieses System verfiigt iiber ei­ne Komponente, die eine VersHirkung oder Abschwachung des laufend durch die Sinnesorgane aufgenommenen und als sensorische Information an das Gehirn weitergeleiteten Outputs in Abhangigkeit von dessen (biologischer) 'Wichtigkeit' ermoglicht. Diese Fahigkeit des Nervensystems zur selektiven AktivitatserhOhung wird also durch Aufmerksamkeitsprozesse gesteuert, die sich organismisch z.B. im Herzfrequenz-Muster spiegeln.

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Vor diesem Hintergrund stehen im Mittelpunkt der vorliegenden experi­mentellen Studie, die im Feld einer grundlagenorientierten wirtschaftsplid­agogischen Lehr-Lern-Forschung angesiedelt ist, zwei Fragenaspekte: (1) Unterscheiden sich die Verlliufe visueller Selektion und des physiologi­

schen Aktivierungsgeschehens unterschiedlich kompetenter Schiiler wlih­rend der Bearbeitung einer Aufgabe aus dem Bereich der Wirtschaftskun­de?

(2) Wie wirken sich individuelle kognitive und emotional-motivationale Lernvoraussetzungen dabei aus?

METHODE Untersuchungsmaterial Als Untersuchungsmaterial diente eine Aufgabe aus dem Ubungsteil eines selbstentwickelten PC-Lehrprogramms zum Thema "Lieferverzug" (vgl. SCZESNY, 1994). Bei der Aufgabe handelt es sich urn ein konstruiertes Fallbeispiel, das aus zwei Abschnitten besteht (siehe Abb. 1).

Wie muB dieser Fall erglinzt werden, damit ein Lieferverzug vorliegt ? (Bitte kreuzen [x] Sie entsprechend an!)

Die Blickerei Rohrmiiller kauft bei der GroBhandlung Max durch briefliche Bestellung 20 Zentner Mehl. - Heutiges Datum: 10.03.1989, Zeit: 19.00 h und die Ware ist noch nicht eingetroffen.

1. Als Liefertermin war vereinbart: [ ] 15. Mlirz 1989. [ ] Im Februar 1989. 2. Die Biiekerei Rohrmiiller [ ] mahnt die Lieferung an und setzt als Frist den 09.03. 1989. 3. Die Gro8handlung Max liefert nieht, [ ] weil die Bestellung aus Versehen verlorenging. [ ] weil der Lieferer in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde.

Abb. 1: Aufgabe aus dem Lehrprogramm

Im Aufgabenkopf wird das Ausbleiben der Lieferung einer bestellten Ware zu einem definierten Zeitpunkt konstatiert. Der Aufgabenrumpf enthlilt Bau­steine mit zwei alternativen Angaben zum vereinbarten Liefertermin, zwei iiber den Grund der Nichtlieferung und eine Angabe hinsichtlich Mahnung und Nachfristsetzung. Die Aufforderung an den Probanden lautet, das Fall­beispiel durch richtige Kombination der Textpassagen im Aufgabenrumpf so

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zu erganzen, daB ein Lieferungsverzug zwingend vorliegt. Hat der Proband die Aufgabe falsch gelost, so wird ihm auf einem nachfolgenden "Bild­schirm" sein Losungsmuster nochmals prasentiert und er bekommt einen Hinweis, wie die Informationen bezuglich der Voraussetzungen miteinander verknupft werden mussen, damit sie einen Verzug begriinden. AnschlieBend wird ihm die Aufgabe erneut zur Bearbeitung vorgegeben.

Das gesamte PC-Lehrprogramm besteht hauptsachlich aus zwei 'Kapiteln': Voraussetzungen zum Lieferverzug und Rechte des Kaufers beim Lieferverzug.1 Beide Kapitel sind identisch aufgebaut und enthalten als Kernstuck einen je spezifischen Informationsteil, der sich aus thematischen Abschnitten mit entsprechenden Uberleitungen zusammensetzt. Eingeleitet werden sie durch die Angabe der Lehrziele, an die sich ein zusammenfassen­der Uberblick anschlieBt. Den AbschluB bilden Ubungsaufgaben zur Vertie­fung und Absicherung des dargebotenen Stoffes, denen jeweils ein Priif­schema zur Forderung kognitiver Strategien, ein wiederholendes Hervorhe­ben wesentlicher Gesichtspunkte und die Kontrolle des Gelernten unmittelbar vorausgehen. Im Lernkontrollteil werden dem Schiiler Aufgaben vorgelegt, mit denen er uberpriifen kann, ob er mit den Voraussetzungen des Lieferver­zugs genugend vertraut ist. Die drei Sachverhalte Fillligkeit, Mahnung, Ver­schulden sind durch jeweils einen konstruierten Beispielfall reprasentiert, und der Lernende ist aufgefordert zu entscheiden, ob die betreffende Vorausset­zung im vorliegenden Fall erfiillt ist oder nicht.

Untersuchungsrahmen und Versuchspersonen

Die Daten stammen aus einem bereits abgeschlossenen Projekt (vgl. SCZESNY 1994). Am Experiment nahmen insgesamt 40 Schiiler der 9. Klassenstufe einer Wirtschaftsschule teil. Urn die Beziehung zwischen Ler­nerspezifika, Aktivierungsgeschehen und Blickverhalten analysieren zu kon­nen, wablte ich fUr diese Studie vier Gruppen aus, die sich einerseits darin gleichen, daB sie bis zum Zeitpunkt der Aufgabenbearbeitung die Teachware erfolgreich absolviert haben und beim ersten Losungsversuch der Aufgabe gescheitert sind, sich andererseits aber hinsichtlich der Merkmale Bearbei­tungsresultat beim zweiten Losungsversuch, Kurzeitspeicher-Kapazitat (KZS-K) als Indikator fUr allgemeine Intelligenz und erlernte Hilflosigkeit (HI) als Indikator fur Anstrengungsbereitschaft und Erfolgszuversicht unter­scheiden.

Dabei bin ich so verfahren, das folgende vier Gruppen mit jeweils drei Schiilern gebildet werden konnten (vgl. Tabelle 1):

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Urn die habituierte Uinge einer Unterrichtsstunde nicht zu iiberschreiten, hatten die Pro­banden im Rahmen des Experiments nur das erste Kapitei zu bearbeiten.

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SchGrA: Aufgabe beim zweiten Versuch richtig gelost (E+), Kurz­zeitspeicher-Kapazitiit hoch (KZS-K +), Hilflosigkeitswert niedrig (HI-).

SchGrB: Aufgabe beim zweiten Versuch richtig gelOst (E+), Kurz­zeitspeicher-KapaziUit gering (KZS-K-), Hilflosigkeits­wert niedrig (HI -).

SchGrC: Aufgabe (auch) beim zweiten Versuch falsch gelost (E-) Kurzzeitspeicher-Kapazitat hoch (KZS-K +), Hilflosig­keitswert hoch (HI+).

SchGrD: Aufgabe (auch) beim zweiten Versuch falsch gelOst (E-), Kurzzeitspeicher-Kapazitat gering (KZS-K-), Hilflosig­keitswert hoch (HI+).

Tabelle 1: Versuchspersonen-Gruppen.

Erhebungsinstrumente

(a) Kurzzeitspeicher-Kapazittit: Diese GroBe wurde mit Hilfe des 'Kurztest fur allgemeine BasisgroBen der Informationsverarbeitung' (KAI; LEHRL, GALLWITZ & BLAHA 1981) ermittelt. (b) Hilflosigkeit: Zur Erfassung dieses Merkmals wurde die Skala 'Hilflosigkeit' von R. SCHW ARZER (1986) eingesetzt. Dieses Instrument enthlilt Items, die das Urteil von Schtilern hinsichtlich des AusmaBes ihrer Kontrolle uber schulische Anforderungssituationen erfassen. Hohe Punkt­werte identifizieren den anstrengungsbereiten, erfolgszuversichtlichen, nied­rige Punktwerte den anstrengungsvermeidenden, miBerfolgsangstlichen (hilflosen) Schiiler. (c) Visuelles Explorationsverhalten: Zur Bestimmung dieser GroBe wurde die Methode der Blickaufzeichnung eingesetzt. Die Registrierung der Blickbe­wegungen erfolgte mit dem System DEBIC90.1

Apparative Ausstattung

DEBIC90: Bei diesem System handelt es sich urn eine MeBeinrichtung, die die Aufzeichnung von Augenbewegungen auf der Basis der Cornea-Reflex­Technik ermoglicht (vgl. Skizze zum Versuchsaufbau in Abb. 2). Gegenuber anderen Apparaturen hat dieses Blickaufzeichnungssystem den Vorteil, hori-

Hersteller: Demel Microcomputer GmhH, Haan.

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zontale und vertikale Augenbewegungen simultan zu registrieren. AuBerdem laBt es die Versuchsperson relativ unbeeinfluBt, da Blickbewegungsmessun­gen indirekt, d.h. ohne Beriihrung des Probanden, m6glich sind. Auch ist wahrend der Messung eine Fixierung des Kopfes nicht notwendig. Eine spe­zielle 'Kopfnachfuhrung' sorgt fUr das kontinuierliche 'Auffangen' von Kopfbewegungen. Die Blickbewegungsdaten (Zeit, x-Koordinate, y-Koordi­nate, Pupillendurchmesser) werden alle 20 Millisekunden ausgegeben und auf einer Magnetplatte gespeichert.

Interaktives Lehr-Lern-System (iLLS): Fur die Applikation des Lehrpro­gramms diente ein IBM-Rechner. An die Zentraleinheit waren eine Tastatur, eine MS-Mouse und ein Sony Multiscan Bildschirm (GVM-2100QM) ange­schlossen. Die Monitor-Diagonale betrug 21".

SOM: Das SOM ist ein modulares System, das mehrere MeBeinheiten fUr den physiologischen Bereich in einem Geriit vereinigt. Der von uns ein­gesetzte Apparat war so konfiguriert, daB wir u.a. die physiologische Funk­tion Herzfrequenz messen konnten. Uber eine spezielle Karte wurden die Pulsdaten Real Time zum Rechner ubertragen, digitalisiert und gespeichert.

VL 1

Trennwand

Abb. 2: Versuchsanlage

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c:Ju o

Infrarot­kamer a

Szenen­kamera

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Vorgehensweise

Vor der experimentellen Phase hatten die Versuchspersonen einen Teil des Papier- und Bleistift-Materials zu bearbeiten. Der Test zur Erfassung der Kurzzeitspeicher-Kapazitat wurde unmittelbar vor dem Experiment appli­ziert, das in einem speziell eingerichteten Raum stattfand. Dort nahm die Vp in einem mit einer hohen Lehne ausgestatteten Stuhl Platz, etwa 95 cm von einem Tisch entfernt, auf dem in AugenhOhe der Monitor des interaktiven Lehr-Lern-Systems aufgestellt war. Unter dem Monitor befand sich die Au­genkamera des MeBsystems DEBIC90, mit dessen Hilfe die Blickbewegun­gen aufgezeichnet wurden. Der Kopf der Versuchsperson war durch eine in­tegrierte Stiitze leicht fixiert. Nach der Eichung des MeBsystems konnte die Versuchspersonen mit der Bearbeitung des Lehrprograrnms ohne Zeitbegren­zung beginnen. Zuvor jedoch wurde sie appellativ aufgefordert, sie moge versuchen, die sogleich dargebotenen Inhalte zu verstehen und moglichst gut zu behalten, da ihr gegen Ende des Programms dazu FragenlAufgaben ge­stellt wiirden, die sie moglichst korrekt zu beantworten habe.

Parallel zur Bearbeitung der Teachware wurde im Sekundentakt die Herzfrequenz der Probanden aufgezeichnet.

Ergebnisse und Diskussion

Will man die gestellte Frage im Hinblick auf das visuelle Selektionsverhalten angemessen bearbeiten, ist zunachst notwendig, die gesamte Folge von Blik­ken, die wiihrend der Aufgabenbearbeitung entsteht, in sinnvolle Teilsequen­zen zu gliedern, die jeweils in sich eine inhaltliche Einheit reprasentieren. Solche Teilmengen werden von RHENIUS & LOCHER (1992) als Betrach­tungsmengen bezeichnet:

"Diese Teilmengen von Bild-Elementen nennen wir Betrachtungsmengen. Hiernach zerfiillt die gesamte Sequenz von Blickbewegungen in eine Folge von Teilsequenzen. Innerhalb einer solchen Teilsequenz pendelt der Blick zwischen den Elementen einer Betrachtungsmenge (BM) hin und her, bevor er in der niichsten Teilsequenz zu einer anderen BM iibergeht. Die Elemente einer BM [. .. J miissen nicht notwendig beieinander liegen; sie werden aber kognitiv gemeinsam verarbeitet" (RHENJUS & LOCHER, 1992, S. 651).

Analysiert man die von uns gewiihlte Aufgabe, so wird eine charakteristische Grundstruktur sichtbar, die folgende Segmentierung als sinnvoll erscheinen laBt:

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Segment A:

Segment B: SegmentC:

SegmentD: SegmentE: SegmentF: Segment G: Segment H: Segment I: Segment J: Segment K: SegmentL: Segment M: SegmentN: Segment 0:

"Wie muG der Fall erganzt werden, damit ein Lieferverzug vorliegt?"

,,(Bitte kreuzen [xl Sie entsprechend an!)" "Die Backerei Rohrmuller kauft bei der GroGhandlung Max

durch briefliche Bestellung" ,,20 Zentner Mehl" "Heutiges Datum: 10.03.1989, Zeit: 19.00 h" "und die Ware ist noch nicht eingetroffen" "Als Liefertermin war vereinbart" ,,15. Miirz 1989" "Im Februar 1989" "Die Backerei Rohrmuller" "mahnt die Lieferung an" "und setzt als Frist den 09.03.1989. "Die GroGhandlung Max liefert nicht" "weil die Bestellung aus Versehen verlorenging" "weil der Lieferer in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde"

Zur Bildung der Betrachtungsmengen fur die entsprechenden Segmente wur­de ein Verfahren von RHENIUS & LOCHER (1992) eingesetzt, das auf der Moving-Window-Methode beruht. Es zeichnet sich durch folgendes Vorge­hen aus:

.. In dem Protokoll legt man nacheinander auf jede Blickhewegung zwischen zwei Elementen ein 'Fenster' mit der Breite b+b (von einer Blickhewegung b nach links und b nach rechts, f ... ]) und registriert, wieviele Elemente der linken Fenster-Hiilfte zugleich in der rechten Fenster-Hiilfte liegen. Dies ist der Ahnlichkeitswert. 1st er groj3, so befindet man sich in der Mitte einer Betrachtungsmenge; ist er gleich = 0 (oder minimal), so liegt ein Obergang von einer Betrachtungsmenge zu einer anderen vor" (RHENlUS & WeHER 1992, S. 651).

Abbildung 3 dient dazu, den Auswertungsalgorithmus zu veranschaulichen.

A B C A IB C DI E A cl B D E F 232 01000

Abb. 3: Blickbewegungsprotokoll und Ahnlichkeitswerte for die Fensterbreite b = 3.

Verfahrt man in der beschriebenen Weise, so ergeben sich fUr jeden Schtiler spezifische Ahnlichkeitswerte in den Blick-Abfolgen wahrend der Aufga-

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benbearbeitung.1 In Abbildung 4 sind die Ahnlichkeitswerte eines Schiilers aus Gruppe A dargestellt.

10~-----------------------------------------'

8

6

4

2

o~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ADI LLLLLLOOOOOOO

C E H H H K K EKE N N N N N E N

Abb. 4: Ahnlichkeitswerte fUr die Aufgabe (ein Schiiler aus Gruppe A).

Bei der Betrachtung der Ahnlichkeitswerte flillt auf, daB die Blick-Abfolgen des Schiilers sich grob in drei Teilsequenzen gliedern. Die erste Teilsequenz (BMl) ist von den Elementen H und I bestimmt, in def zweiten kommen die Elemente K, L und E vor, die dritte Teilsequenz setzt sich aus den Elementen N, 0 und E zusammen. Anders verhalt es sich bei den iibrigen Schiilern. Zwar kommen auch hier in den einzelnen Betrachtungsmengen die genann­ten Elemente vor, jedoch in Kombination mit anderen Elementen, so daB ein direkter Vergleich iiber die Schiiler hinweg auf dieser Grundlage nicht mog­lich ist. Bedenkt man jedoch, daB die Anforderung, die mit der gestellten Aufgabe korrespondiert, darin besteht, aus dem Textangebot der Aufgabe insbesondere diejenigen Informationen zu extrahieren, die einen direkten Beitrag zur ihrer Losung leisten, so gewinnt man ein Kriterium, das es er­moglicht, die Zentralitat der einzelnen Elemente innerhalb der jeweiligen Betrachtungsmenge einzuschatzen. Danach konnen in BMl die Elemente I, H (und E), in BM2 die Elemente K, L (und E) und in BM3 die Elemente 0, N als zentral betrachtet und ihre kombinierte Bearbeitung zugleich als Aus­druck von Systematik gewertet werden.

Einem Vorscblag der Autoren folgend, babe icb Ahnlichkeitswerte fur die Fensterbreiten b=3, b=5, b=9 ermittelt und anschlieBend aufsummiert.

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Damit ergibt sich die Moglichkeit, den AnteiI zentraler bzw. dezentraler Elemente und den prozentualen Zeitaufwand flir deren Bearbeitung in den Betrachtungsmengen zu ermitteln und folglich die vier Schiilergruppen hin­sichtlich dieser GroBen direkt zu vergleichen. Tabelle 2 gibt einen Uberblick uber die ermittelten Kennwerte flir den ersten Losungsversuch:

Prozentualer Anteil Prozentualer Zeitaufwand zentraler Elemente flir die Bearbeitung zentra-

ler Elemente Betrachtungsmenge 1 SchGrA: HI-/KZS+ 90 90 SchGrB: HI-/KZS- 60 69 SchGrC: HI+/KZS+ 88 89 SchGrD: HI+/KZS- 62 67 Betrachtungsmenge 2 SchGrA: HI-/KZS+ 81 83 SchGrB: HI-/KZS- 54 66 SchGrC: HI+/KZS+ 85 83 SchGrD: HI+/KZS- 61 70 Betrachtungsmenge 3 SchGrA: HI-/KZS+ 89 90 SchGrB: HI-/KZS- 85 91 SchGrC: HI+/KZS+ 88 90 SchGrD: HI+/KZS- 80 82

Tabelle 2: Kennwerte for den ersten Versuch.

Wenn man einmal von der KZS-Kapazitlit absieht, so zeigen die Kennwerte, daB sich die Gruppen beim ersten Versuch, die gestellte Aufgabe zu bewlilti­gen, insofern nicht voneinander unterscheiden, als alle einen hohen Anteil zentraler Elemente visuell selektieren und fur deren Bearbeitung auch einen betrlichtlichen Teil der Gesamtbearbeitungszeit aufwenden. Bezieht man die KZS-Kapazitlit in die Betrachtung mit ein, so flillt auf, daB eine geringe KZS­Kapazitlit den AnteiI zentraler Elemente in den Blickfolgen reduziert. Diese Differenz betrifft die Erfolgszuversichtlichen und Hilflosen gleichermaBen. Danach beachten sowohl die erfolgszuversichtlichen als auch die hilflosen Schiiler mit hoher KZS-Kapazitlit durchweg mehr zentrale Elemente als die­jenigen, deren KZS-Kapazitlit vergleichsweise gering ist. Den Nachteil einer geringen SpeicherkapaziHit, der ihnen ein gelegentliches 'Abschweifen' von den zentralen Elementen auferlegt, scheinen diese Schiiler jedoch durch ver­llingerte Beschliftigung mit zielflihrender Information zu kompensieren.

Differenzierter stellen sich die Kennwerte flir den erneuten Bewlilti­gungsprozeB dar. Sie sind der Tabelle 3 dokumentiert.

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Prozentualer Prozentualer Zeit- Herzfre-Anteil zentraler aufwand fUr die quenz Elemente Bearbeitung zen- (HR)

traler Elemente Betrachtungsmenge 1 SchGrA: HI-/KZS+ 91 93 SchGrB: HI-/KZS- 63 72 SchGrC: HI+/KZS+ 36 34 + SchGrD: HI+/KZS- 33 29 + Betrachtungsmenge 2 SchGrA: HI-/KZS+ 81 83 SchGrB: HI-/KZS- 57 70 SchGrC: HI+/KZS+ 46 44 + SchGrD: HI+/KZS- 44 42 + Betrachtungsmenge 3 SchGrA: HI-/KZS+ 90 92 SchGrB: HI-/KZS- 90 93 SchGrC: HI+/KZS+ 53 53 + SchGrD: HI+/KZS- 50 48 +

Tabelle 3: Kennwerte flir den zweiten Versuch (HR: - = Ab/all im Ver-gleich zum ersten Versuch; + = Anstieg im Vergleich zum er-sten Versuch).

Auf den ersten Blick zeigt sich zunachst, daB die erfolgszuversichtlichen Gruppen A und B ihre Blickstrategie kaum andern. Sie weisen nach erlebtem MiBerfolg ebenso viele zentrale Elemente in den Betrachtungsmengen auf wie zuvor und sie wenden sich ihnen etwa gleich lange zu. Dabei macht sich erneut der EinfluB der KZS-Kapazitiit bemerkbar. Anders als vorher betrifft er jetzt aber nur die Schiiler der beiden erfolgszuversichtlichen Gruppen A undB.

Demgegeniiber geht der Anteil zentraler Elemente in den Betrachtungs­mengen hilfloser Schiiler drastisch zurUck. Sie investieren nach erlebtem MiBerfolg einen betrachtlichen Teil der aufgewendeten Bearbeitungszeit in die Beschaftigung mit Detailinformation, die im Hinblick auf die Losung der Aufgabe eher unwichtig ist. Anders gesagt: Sie schenken den zentralen Ele­menten nicht mehr Beachtung als der iibrigen Textinformation.

Die Ergebnisse der Auswertung fUr das organismische Reaktionsverhal­ten fUgen sich gut in dieses Bild ein. Organismisch reagieren die hilflosen Schiiler der Gruppen C und D namlich mit einem deutlichen Anstieg der

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Herzfrequenz. Damit zeigen sie eine Reaktion, die starke Affinitat zur Defen­siv-Reaktion sensu SOKOLOV (1975) aufweist und sich dadurch auszeich­net, daB das initialisierte kognitive ProzeBgeschehen von hemmender, emo­tional geHirbter (StreB-)Aktivation iiberlagert wird. Die Verarbeitung der aufgenommenen Information geschieht unter dieser kognitiv ungiinstigen Bedingung eher "fliichtig" und fiihrt - weil ihr eigentlicher Bedeutungsgehalt nicht erkannt wird - zu einer suboptimalen Repriisentation (vg!. z.B. LACEY & LACEY 1970; MONTGOMERY 1977). Insgesamt empfinden die hilflo­sen Schi.iler die mit der Bewiiltigung der Aufgabe verbundene Situation of­fenbar als unangenehm und trachten danach, ihr moglichst rasch zu entflie­hen. Die relativ kurzen Bearbeitungszeiten scheinen einen Beleg hierfiir zu liefern.

Im Gegensatz dazu wird der erneute Bewiiltigungsversuch erfolgszuver­sichtlicher Schi.iler von einem Abfall der Herzfrequenzwerte begleitet. Sie weisen damit ein Aktivierungsgeschehen auf, das nach gesicherten Befunden aus dem Bereich der Biopsychologie die physiologische Grundlage fiir die Verbesserung der Reizaufnahme und der Verarbeitungsfahigkeit bereitstellt (vg!. SCHANDRY 1989; BIRBAUMER & SCHMIDT 1990).

Effizienz bei der Bearbeitung der gestellten Aufgabe reflektiert sich demnach in einer Blickstrategie, die aus dem Textangebot gezielt iiberwie­gend solche Informationen extrahiert, die einen direkten Beitrag zur Aufga­benlOsung leisten. GroBere Speicherkapazitiit wirkt sich hierbei "zeiterspa­rend" aus. Hilflosigkeit hingegen erschwert den LosungsprozeB, wenn zuvor MiBerfolg erlebt wurde. Sie ruft ein suboptimales Aktivierungsgeschehen der organismischen Basis hervor, das eine Abwehrfunktion gegen AuBenreize ausiibt. Demzufolge nimrnt der Anteil zentraler Elemente in den Betrach­tungsmengen ab und die Beschiiftigungsdauer mit ihnen sinkt entsprechend. Ein erneuter Abgleich der einmal gefundenen Losung mit den zielfiihrenden Inhalten der Aufgabe kann nur bruchstiickhaft erfolgen; die Chance, doch noch erfolgreich zu sein, schrumpft auf ein Minimum.

Insgesamt legen unsere Befunde den SchluB nahe, daB die Schi.iler mit ungiinstigen Lernvoraussetzungen in emotional-motivationaler Hinsicht die Riickmeldung auf den fehlerhaften ersten Losungsversuch nicht konstruktiv nutzen konnen, weil das Feedback offenbar kaum dazu beitriigt, die Auf­merksamkeit derart zu lenken, daB der Erfolg bei der erneuten Vorlage der Aufgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit eintritt. Hatte der Proband die Aufga­be falsch gelost, so wurde ihm zuniichst sein Losungsmuster nochmals prii­sentiert, wie Abbildung 5 zeigt.

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Sie haben das Fallbeispiel so ergiinzt: (1) Vereinbarter Liefertermin:

15.03.1989. (2) Mahnung mit Fristsetzung:

09.03.1989. (3) Verkiiufer kann infolge eines unverschul­

deten Verkehrsunfalls nicht liefern. Abb. 5: Muster einer inkorrekten AufgabenlOsung

Dartiber hinaus erhalt der Schiiler folgenden sachlich-neutralen Hinweis:

" Versuchen Sie es bitte noch einmal! Bedenken Sie dabei: Ein Verzug liegt nur dann vor, wenn alle drei Voraussetzungen erfii.llt sind, d.h. 1. die Lieferung fiillig ist und 2. der Kiiufer den Lieferer gemahnt hat (ausgenommen beim Fixkauf) und 3. der Ver­kiiufer die Lieferung schuldhaft verzogert. "

Dieser Hinweis reicht offenbar nicht aus, den als hilflos bezeichneten Schii­lern ein Gefiihl der Kontrolle iiber die mit der Aufgabe verbundene Anforde­rungssituation zu vermitteln. Dazu miiSte die Riickmeldung in Form des fehlerhaften Losungsmusters womoglich durch einen Hilfstext flankiert wer­den, der schrittweise expliziert, warum die Erganzung des Fallbeispiels in der aktuell gewiihlten Kombination nicht zum gewiinschten Ziel fiihrt. Das ela­borierte Feedback konnte etwa lauten:

"Sie haben so ergiinzt: l ... ] (s. Abb. 5). Dies jedochfUhrt nicht zu dem gewUnschten Ziel, den Lieferer in Verzug zu setzen. lm Gegenteil: aufgrund des vereinbarten Liefertermins (1) ist die Lieferung gar nicht fiillig und eine Mahnung (2) mithin sinnlos! AufJerdem: 'Hohere Gewalt' (3) schliefJt ein Verschulden aus = kein Verzug!"

Inwieweit eine so gestaltete Riickmeldung tatsachlich verhindern kann, daB hilflose Schiiler nicht in einen emotionalen Zustand geraten, der sie an der Kontrolle iiber das eigene Leistungsvermogen zweifeln laBt, muS sich in weiteren Studien erweisen. Vorlaufig laBt sich jedenfalls auf Grund der von uns experimentell erzielten Befunde im Hinblick auf die Ausgangsfrage zu­sarnmenfassend hervorheben,

daB sich die Verlaufe visueller Selektion und des physiologischen Akti­vierungsgeschehens unterschiedlich kompetenter Schiiler wiihrend der Bearbeitung einer Aufgabe aus dem Bereich der Wirtschaftskunde unter­scheiden und

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daB sich hierbei individuelle kognitive und emotional-motivationale Lemvoraussetzungen spezifisch auswirken.

Demzufolge konnen die Verlaufe des Blickverhaltens und des physiologi­schen Aktivierungsgeschehens prinzipiell herangezogen werden, wenn es darum geht, herauszustellen, durch welches organismische 'Profil' sich er­folgreiche AufgabenlOser auszeichnen und wie weniger erfolgreiche Aufga­benlOser hinsichtlich ihrer (psycho)physischen Basis wahrend des Bewalti­gungsprozesses ("Verlaufsmuster") zu charakterisieren sind.

Die Eigenschaft, Aufgabenverstandlichkeit bzw. Aufgabenschwierigkeit sensibel zu reflektieren, macht den (physiologischen) Indikator Herzfrequenz und das Blickverhalten aber noch in einer anderen Hinsicht interessant, nam­lich als Evaluierungs- und Optimierungskriterium fur Aufgabentexte. Die physiologisch uber die Herzfrequenz und das visuelle Explorationsverhalten gewonnenen Einblicke in das Losungsgeschehen erlauben offenbar, das noti­ge "Optimierungswissen" auf der Basis prozeBnaher Informationen abzulei­ten und damit das Problem des retrospektiven SchlieBens, welches mit gan­gigen Evaluierungsverfahren (z. B. Lemweganalyse, Protokolle lauten Den­kens) in der Regel verbunden ist, geschickt zu umgehen.

Literatur

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"Duale Berufsausbildung und Fachhochschulreife" -Sowohl fiir die Wirtschaft als auch den Arbeitnehmer ein Gewinn (Kurzfassung des Modellversuchs)

Werner Kusch

Vorbemerkungen zum Modellversuch

Der Modellversuch bietet leistungsfahigen Schiilern die M6glichkeit, in drei Jahren sowohl eine berufliche Erstausbildung als auch die Fachhochschulrei­fe zu erwerben, so daB sie danach unmittelbar ein Studium an einer Fach­hochschule aufnehmen k6nnen. Im Vergleich zum sonst iiblichen Bildungs­gang - Besuch der Jahrgangsstufe 12 der Fachoberschule im AnschluB an ei­ne berufliche Ausbildung und mit mittlerem SchulabschluB - werden auch im Modellversuch alle sonst iiblichen Lerninhalte vermittelt.

Dieser neue Bildungsgang im Dualen System der Berufsbildung beriick­sichtigt sowohl die geanderten Qualifikationsanforderungen an Mitarbeiter der "mittleren bis gehobenen Fiihrungsebene" (hervorgerufen durch neue Arbeitsorganisationsformen im Bereich der industriellen Fertigung und den erh6hten Bedarf an leistungsstarken Mitarbeitern in anspruchsvollen moder­nen Ausbildungsberufen) als auch die Forderung der Wirtschaft nach kiirze­ren Ausbildungszeiten.

Kennzeichnend fiir die didaktisch-methodische Konzeption des Modell­versuchs ist der Ansatz, ein profilbildendes berufliches Leitfach (hier: Tech­nologieffechnische Mathematik) auszuweisen. Hierdurch k6nnen die wissen­schaftlichen Erkenntnisse der Lernpsychologie beriicksichtigt werden, die verlangen, daB Schiiler Lerngegenstande in ihrem 'natiirlichen Gesamtzu­sammenhang' erfahren sollten (Ganzheitlichkeit des Lernens). Des weiteren soIl das Prinzip eines beruflichen Leitfachs dem Schiiler auch helfen, sich allgemeinbildende Lernziele besser und schneller zu erschlieBen. Durch die verstiirkte Verzahnung kann so das groBe Potential des betrieblichen Erfah­rungslernens besser genutzt werden. Dies verlangte aber, daB teilintegrative Lehrplane mit facheriibergreifenden beruflichen ebenso wie allgemeinbil­denden Lerninhalten entwickelt wurden. So sind z. B. Lerngebiete aus den naturwissenschaftlich-technischen und den allgemeinbildenden Fachern in das Leitfach verlagert worden, wenn auf technologischer Seite ein inhaltli­cher Zusammenhang gegeben war. Anhand der im technologischen Unter­richt zu bearbeitenden Lerngegenstande werden den Schiilern z. B. die Grundlagen der Physik, Chemie, Mathematik, Arbeitsplanung, Praktischen

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Fachkunde sowie des Deutsch-, Religions- und Englischunterrichts anschau­lich und anwendungsbezogen dargeboten.

Die konzeptionelle Ausgestaltung des Modellversuchs verrnag die At­traktivitiit und das Selbstverstandnis des beruflichen Schulwesens zu steigern, dies vor allem aufgrund des - im vorherigen Absatz beschriebenen - didakti­schen Ansatzes eines beruflichen Leitfachs Technologierrechnische Mathe­matik, der Homogenisierung der Leistungsvoraussetzungen bei der Bildung der Versuchsklassen und durch die Integration zweier bisher getrennter Schularten im Modellversuch.

Formale Rahmenbedingungen

Der Modellversuch geht auf eine Initiative des Verbandes der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie und des Bayerischen Staatsministeriums fUr Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst in Zusammenarbeit mit den Fir­men AUDI AG Ingolstadt (IN) und BMW AG Dingolfing (DGF) im Novem­ber 1993 zUrUck; ferner waren die Industrie- und Handelskammern fUr Mun­chen und Oberbayern sowie fur Niederbayern an der Konzeption beteiligt. Neben Angeboten fUr die Leistungsschwacheren sollen im dualen System der Berufsausbildung auch attraktive Bildungsangebote fUr leistungsstarkere Ju­gendliche eingerichtet werden.

Der Modellversuch wird aus Mitteln des Bundesministeriums fUr Bil­dung und Wissenschaft sowie des Bayerischen Staatsministeriums fUr Unter­richt, Kultus, Wissenschaft und Kunst gefordert. Die Laufzeit geht vom 1.1.95 bis zum 31.12.99. AnschlieBend wird das Forschungsprojekt als baye­rischer Schulversuch bis zum 31.8.2001 weitergefUhrt.

Projekttrager ist das bayerische Staatsinstitut fur Schulpadagogik und Bildungsforschung, Abt. Berufliche Schulen, in Munchen. Die Abt. Allge­meine Wissenschaften fUhrt die wissenschaftliche Begleituntersuchung durch.

Am Modellversuchsstandort Dingolfing werden sowohl Industriemecha­niker als auch Energieelektroniker ausgebildet, in Ingolstadt ausschlieBlich Industriemechaniker. Folgende berufliche Schulen sind daran beteiligt:

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Staatliche Berufsschule mit Berufsaufbauschule in Dingolfing Staatliche Berufsschule 1 mit Berufsaufbauschule in Ingolstadt Staatliche Fachoberschule in Landhut Staatliche Fachoberschule in Ingolstadt.

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Erste Ergebnisse - Stand 31. juli 96 -

Es folgen Einschlitzungen von Projektmitarbeitern wlihrend der ersten zwei Jahre des Modellversuchs:

Lehrer des Leitfaches Technologieffechnische Mathematik werden durch den flicherubergreifenden, lerninhaltlichen Ansatz im kognitiven Bereich erheblich mehr gefordert. Durch die Einfiihrung eines beruflichen Leitfachs in Verbindung mit ei­ner Verkurzung der Ausbildungszeit beteiligen sich die Ausbildungsbe­triebe aktiv an der Erarbeitung der im Modellversuch giiltigen Lehrplline. Betriebliche Erfahrungen der Schiiler (hier aus industriellen GroBbetrie­ben mit einem hohen Automatisierungsstandard) konnten bei der inhaltli­chen Ausgestaltung der Lehrplline zielgerichteter als bisher - im Sinne anwendungsorientierten beruflichen Lernens - berucksichtigt werden. Verkurzte Ausbildungszeiten bei gleichzeitigem Zwang, den Ausbil­dungsstandard im Dualen System nicht zu verringern, verlangen eine noch engere Kooperation der daran beteiligten Partner. Der didaktische Ansatz eines beruflichen Leitfachs kann dazu beitragen, das Profil des beruflichen Schulwesens innovativ zu verlindern.

Im einzelnen (auszugsweise) kommt die Abt. Allgemeine Wissenschaften des ISB durch die Auswertung ihres Fragebogens zu den Zielen des Modellver­suchs und durch die Auswertung der Notenbllitter der Modellversuchs­teilnehmer an den verschiedenen Versuchsschulen bei den ersten zwei Aus­bildungsdurchglingen (Eintrittsjahrglinge 94/95 [l.Jg.] und 95/96 [2.Jg.]) zu folgenden Ergebnissen:

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Gesamtanzahl der Se hili er nach VorUluferschulen und A usbildungsberufen

40 ~----------------------or-----------------------,

30

IM EE

illIID RS I RS III ~ FOS GYM

S RS 11 ~ RS [;11 WS

WlYous 5. I. 97

Abb. 2: Gesamtzahl der Modellversuchsteilnehmer

Es zeigt sich, daB gute Schiiler mit einem mittleren SchulabschluB aus den verschiedensten Schularten am Modellversuch teilnehmen. ErwartungsgemaB sind die Realschiiler/-innen des Schwerpunktes 1 (mathematisch-natur­wissenschaftlich) am haufigsten vertreten. Das Zahlenverhaltnis im Modell­versuch von Industriemechanikern (IM) zu Energieelektronikern (EE) liegt bei 3: 1.

In der folgenden Abbildung erkennt man, daB die von den Versuchsteil­nehmern erzielten Noten in dem neuen, integrativen Unterrichtsfach sowohl im ersten Modellversuchsjahrgang (Eintrittsschuljahr 94/95) als auch lm zweiten Durchgang (Eintrittschuljahr 95196) iiberdurchschnittlich sind.

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Verlauf der Notendurchschnitte im Fach Technologiel Technische Mathematik

3 ~----------------------.----------------------,

2,!> +----l

2 +-------Y

1 ,5

C,5

o

Abb.3 :

Aus.ab. 1 Aus.ab.2

I ~ OGF 2, Jg. ~ I 2. Jg, Bi OGF 1. Jg. I§$&1IN 1. Jg.

'NB/bus 15.1.97

Verlauf der Notendurchschnitte im neuen Fach Technolo­gieffechnische Mechanik

Es ist ein Trend erkennbar, daB mit zunehmender Ausbildungsdauer die Schiiler in der Lage sind, die schulische Note im Fach Technologie/ Techni­sche Mathematik noch zu verbessern.

Es steht auBer Zweifel, daB der Erfolg bzw. MiBerfolg des Modellver­suchs am Abschneiden der Versuchsteilnehmer bei den traditionellen Kam­merpriifungen und der staatlichen Fachhochschulreifepriifung ('harte' Ver­gleichskriterien) gemessen werden muB.

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Abb.4a:

ZwischenprOfungsergebnisse 96 bei AUOf AG Industriemechan iker

4 ~--------------------,---------------------~

o

IllffiI 1 7 H S

g;:~ 9 RS

Prax is

~ 1 FOS

[§ 17 DBFH

Theorie

'NB/UU S 1.97

Ergebnisse der Zwischenpriifung 96 (AUDI AG: Ausbildungs­beruf Industriemechaniker)

In der Abb. 4a werden die Notendurchschnitte der Modellversuchsteilnehmer in der theoretischen und praktischen Zwischenpriifung der Kammern im Jah­re 96 mit den Ergebnissen der Teilnehmer im 'reguliiren' Priifungsjahrgang vergleichend dargestellt, wobei bei den 'reguliiren' Teilnehmern nach den Vorlauferschulen unterschieden wird. Es ist gut zu sehen, daB trotz einer einjiihrigen Verktirzung der Ausbildungszeit, die Modellversuchsteilnehmer beider Standorte (s. a. Abb. 4b) zumindest gleich gute, wenn nicht bessere Ergebnisse sowohl in dem theoretischen als auch in dem praktischen Prti­fungsteil erreicht haben.

Leider sind am Standort Ingolstadt im Laufe des Versuchszeitraums ftinf Teilnehmer ausgeschieden (rechte Saule der Abb. 4a).

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Zwlschenprllfungsergebnlsse 96 bei BMW AG In dustrie m echaniker

4 y-------------------~------------------~

Abb4b:

Pr axis Theone

IIIlUIl 28 HS t:!?~ 6 RS 1" :::::-'-1 7 DBFH I WIVUW •. ~. 1 .9 1

Ergebnisse der Zwischenpriifung 96 (BMW AG: Ausbildungs­beruf Industriemechaniker)

Energ ieelektro niker Zwischenprtlfungsergebnisse 96 bei BMW AG ~

4 r---------r---------,

3 !! ~

'c s:: ~ 2 c: Ql

a z

Prax is Theorie

I ffilIIl12 HS ,:::!112 RS ~ 4 FOS I:::{: I 11 DBrH I

Abb.4c: Ergebnisse der Zwischenpriifung 96 (BMW AG: Ausbildungs­beruf Energieelektroniker)

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Nicht ganz so giinstig - aber trotzdem noch vergleichweise gut - sind die Prii­fungsergebnisse der Energieelektroniker am Standort Dingolfing.

Erscheint Ihnen die Zelt ausreichend. um alle fOr Ihren Ausbildungsberuf erforderlichen praktischen Fertigkeiten zu

beherrschen?

100 92,9- 87,5.--------,----------, 73,3

% 50

o ausrelchend nicht ausreichend kelne Antwort

!~ DGF 1. Jg. ~ OGr 2.Jg. ~ IN 1. Jg. ~ IN 2. Jg. I WBlbus , S 1.97

Abb.5: Orad des Konnens bei den praktischen Fertigkeiten; Einschat­zungen der Modellversuchsteilnehmer

Sowohl die erreichten Ergebnisse in der Zwischenpriifung als auch die Aus­wertung der individuellen Einschatzungen der MV-Teilnehmer belegen, daB trotz erheblich verringerter 'praktischer' Ausbildungszeit, ein ausreichender Standard bei den manuellen Fertigkeiten im Modellversuch erreicht werden konnte. Dies stimmt auch mit den Aussagen der am Modellversuch beteilig­ten betrieblichen Ausbilder iiberein (s. a. KUSCH, W. et al., VerOffentli­chungen, a. a. 0.)

Interessant sind auch die Aussagen der Modellversuchsteilnehmer zu der individuellen Verwertung der im Modellversuch erworbenen Berechtigungen (berufliches AbschluBzeugnis und Studienberechtigung) in der Zukunft.

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Welches Abschlussziel haben Sie sich gesteckt?

kelne Entscheidung ••••••••••••••••••••••••••••••• ::::::::: ::::::: :-=_::::::::::::: 30.2

FH S udium und dann ••••••••••••••••••••••••••• ! ~ ••••••••••••••••••••••••••• 27 en scheiden •••••••••••••••••••••••••••

nach MV ubernahmef.;.;.;.~.;.;. ; •• ;.l.;,.;,.~.~.l.~.~.~.;.!.;.::=~=fr=-+---1 •••••••••••••••••••••• 222

durch Betlieb ...................... I FH-Studium und ....... ~;;;;~;;;::r:!I 20 61

Ruckkehr in den Betneb~';';';'1';';' ;" ;'I'~'~'~'~'~'~'~'~'~'1~~-'t---1--1 ob Studlum, abhangig 1 ................ 1 I

von FOS- oten ~,""""":I 1 5,9

nach 2 1/2 Jahren ......... 9 Facharbelter i. Betrieb ,!:":::::::I ,S

~~-++-+-t----1 wahrsc )einl ich ..... : = ••••• 6.3 VerZi 1t aut FH Reite .....

evtL sp:lter Aufnahme t;.;.;.;.~.:;-=-t----t--t---t--t--l ..... 63

elnes Studiums ••••• '

\1eister werdcn In ~ 1,6 einem anderen Betrieb

ob Sludium, abhangig ~ 1,6 vo Wlrt. Si uatlon j

0 5 10 15 20 25 30 3S

Anzahl der SchOler In Prozentwerten

VlBlbIls 1 S. 1.9/

Abb.6: Frage: Welches AbschluBziel haben Sie sich gesteckt ?

Jeder 3. Teilnehmer halt sich seine endgiiltige Entscheidung bzgl. der Ver­wertung von erworbenen Abschliissen offen. In etwa gleich viele wollen erst das Diplom der Fachhochschule (hier: Dipl.-Ing.[FH)) erworben haben, be­vor sie eine Entscheidung bzgl. einer zukiinftigen Berufslaufbahn oder des Beschaftigungsortes treffen wollen. Gut jeder 5. Teilnehmer weiB schon wiihrend des Versuchszeitraums, daB er in 'seinen' Ausbildungsbetrieb zu­riickkehren mochte. Nicht mit den Modellversuchszielen in Ubereinstim­mung steht allerdings die Tatsache, daB fast jeder 10. Teilnehmer nach der

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vorzeitigen Facharbeiterpriifung (d. h. nach 2 Y2 Jahren) im Ausbildungsbe­trieb weiterarbeiten mochte, ohne die Fachhochschulreife zu erwerben oder gar an die Aufnahme eines Fachhochschulstudiums zu denken.

Hatten Sie auch ohne dieses Angebot lIor, nach der Berufsausbildung die Fachhochschulrelfe zu erwerben?

100~----------~r------------r--------81,3

% 50

11,1 7,1 6.7

o ja nein Fos sicher

DGF 2. Jg. ~ IN 1. Jg. ~ IN 2. Jg. I WB/bus 15 . . 91

Abb.7: Frage: Hatten Sie auch oh ne dieses (Qualifizierungs-) Angebot des Modellversuchs vor, nach der Berufsausbildung die Fach­hochschulreife zu erwerben ?

Die Auswertung dieser Antworten iiberrascht. Ca. 33% der Modellversuchs­teilnehmer wollten urspriinglich keine Studienberechtigung (Fachhoch­schulreife) zum Studium an einer Fachhochschule erwerben, obwohl sie gute Noten in den Vorliiuferschulen erworben hatten. Offensichtlich hat die At­traktivitiit des Modellversuchs diese Teilnehmer zu einem Umdenken veran­laSt.

Im Juni 97 werden die ersten Teilnehmer an den beiden Standorten die Fachhochschulreifepriifung ablegen. Es wird sich zeigen, inwieweit der Mo­dellversuch und seine Konzeption den bisherigen, positiven Trend weiterfiih­ren kann.

Literaturverzeichnis

Kusch, W. et al.: Doppelqualifizierende Bildungsgange - fUr die Wirtschaft als auch den Arbeitnehmer ein Gewinn. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis; Zeitschrift des Bundesinstituts fUr Berufsbildung; Bertelsmann, Heft 2; Berlin 1996

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Arbeitsplatzbezogenes Lemen im Einzelhandel -Lemen zwischen Informationsbewrutigung und Leistungsdruck Dieter Gors

Im folgenden werden einige ausgewiihlte Ergebnisse und Erfahrungen zum arbeitsplatzbezogenen Lernen von Verkaufspersonal auf der Grundlage meh­rerer langjiihriger Forschungsprojekte zur betrieblichen Weiterbildung, Per­sonalentwicklung und Belegschaftsinteressen vorgestellt. Es werden einige Aspekte struktureller sozio-okonomischer Verlinderungen skizziert sowie ausgewiihlte Daten und branchenspezifische Merkmale des Einzelhandels aufgezeigt, um so Problempunkte neuerer Formen der Verkniipfung von Lern- und Arbeitsprozessen zu verdeutlichen.1

1. Einige Aspekte struktureller Veranderungen

In der fachwissenschaftlichen Literatur werden seit geraumer Zeit struk­turelle Verlinderungen der Produktions-, Dienstleistungs- und Arbeitsorga­nisation thematisiert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daB mit der Einfiihrung neuer betrieblicher Organisations- und Managementkonzepte et­wa seit Mitte der achtziger Jahre in einer Vielzahl von Unternehmen in unter­schiedlichen Branchen auch die betrieblich-unternehmerische Weiterbildung vielfach grundlegend neu orientiert und reorganisiert wurde. Diese Neuori­entierungs- und Reorganisationsprozesse sind in den betrieblich-unterneh­merischen Systemen offensichtlich nachhaltig durch Strukturverlinderungen in der Produktions- und Arbeitsorganisation geprligt, deren sozio-okono­mische Auswirkungen und Entwicklungslinien keineswegs einheitlich, ge­radlinig verlaufen. Je nach Branche, Produktpalette, BetriebsgroBenklasse undloder Markt- bzw. Verkaufsstrategien zeigen sich erhebliche Differen­zierungen, gegenlliufige Entwicklungen und unterschiedlich neue innerbe­triebliche Arbeits- und Weiterbildungsformen.

Die folgenden Ausfiihrungen basieren auf Ergebnissen empirischer Studien, die im Rah­men des Forschungsschwerpunktes "Arbeit und Bildung" der Universitat Bremen und der Hans-Bockler-Stiftung, Dlisseldorf in der Zeit von 1998 - 1996 geftirdert wurden. Es wer­den in den folgenden Abschnitten u.a. Textpassagen libemommen, insbesondere aus den Kap. 3 - 6 der Studie: Gors, Dieter/Goltz, Mariannellller, Carola (l994a) zitiert als Gors u.a. 1994a). In diesen Studien sind auch detaillierte Angaben zur auBer- und innerbetriebli­chen Weiterbildung enthalten.

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Dem vieWHtig propagierten neuen Organisationsmodell zufolge scheint das tayloristische Betriebsgestaltungsmodell mit seiner ausgepriigten Ar­beitsteilung und seiner Resistenz gegen umfassende, vielseitige, anspruchs­volle Qualifikationsanforderungen obsolet zu sein. Es soll - so die neuen Ma­nagementkonzepte - auf- und abge16st werden, zugunsten von Konzepten, die einen breiten Zugriff auf das Arbeitsvermogen, die Mitgestaltungs- und Innovationsfiihigkeiten der abhiingig Beschaftigten ermoglichen. Die Abkehr von diesem traditionellen Organisations- bzw. Produktionsparadigma ist ver­bunden mit der facettenreichen Anpreisung von neuen arbeitsplatznahen Lernformen, von partizipativen Managementkonzepten und betrieblichen Beteiligungsstrategien, die u.a. auf dezentrale Organisations- und Ent­scheidungsstrukturen abzielen, groBere Aushandlungsmoglichkeiten auch auf den unteren betrieblichen Hierarchieebenen erOffnen sollen und die fallweise Mitarbeit von abhiingig Beschiiftigten in Projekt- und Planungsgruppen als sinnvoll ansehen. Verschiedene empirische Studien - und auch unsere eige­nen Untersuchungen (vgl. z.B. GORS/GOLTZ 1993; GORS u.a. 1994a) - be­ziiglich konkreter betrieblicher Umstellungsfiille zeigen nun, daB eine gewis­se Offenheit betrieblicher Strukturen in betrieblichen Innovationsprozessen gegeben ist. Sie konnen tatsiichlich tendenziell Chancen der Beteiligung und EinfluBnahme der abhiingig Beschiiftigten auf die Gestaltung der Arbeitsfor­men erOffnen, denn ganz offensichtlich sind die strukturellen Auswirkungen technisch-organisatorischer Veranderungsprozesse in Betrieben nicht ein­deutig vorgegeben, insbesondere nicht technisch determiniert. D.h. die - hier nur knapp benannten - Veriinderungsprozesse erzwingen weder eine weitere Arbeitsteilung (Taylorisierung) noch verhindern sie die Einrichtung von Gruppenarbeit, die Gestaltung ganzheitlicher Arbeitsaufgaben oder die Er­weiterung von betrieblichen Partizipationschancen der abhangig Beschiiftig­ten. Die vorhandenen Gestaltungsspielriiume und -moglichkeiten konnten im Rahmen einer integrierten betrieblichen Personalentwicklungs-, Arbeits- und Qualifikationsplanung fUr die Vermittlung, Anwendung, Sicherung und Er­weiterung fachlich-innovativer und sozialer Qualifikationen ebenso genutzt werden, wie fUr die Organisation neuer Formen intentionalen und funktiona­len Lernens innerhalb des betrieblichen Arbeitsprozesses. D.h. Arbeiten kann und konnte so geplant und organisiert werden, daB Lernen moglich und auch gewiinscht ist. Der umfassenden Realisierung dieser Moglichkeiten stehen einerseits das Fortwirken traditioneller, hierarchiestiitzender Problem16-sungsmuster in den betriebspraktischen Fiihrungsstrategien (ganz im Gegen­satz zur neueren Managementliteratur und der Proklamation von 'weichen' Managementstrategien) und andererseits die erhebliche Distanz der Gewerk­schaften und der betrieblichen Interessenvertretungen (im Gegensatz zu den oft verbalradikalen Gewerkschaftsforderungen) gegeniiber einer Mitbestim­mung am Arbeitsplatz und ihre fehlende offensive Einmischung in die be­triebliche Qualifikationsplanung und in die Gestaltung der betrieblichen

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Lernformen entgegen (vg!. hierzu u.a. R. BAHNMULLER u.a. 1992 und 1993; GORS/GOLTZ 1993, Kap. IlL).

Im Kontext mit der Notwendigkeit von Veranderungsprozessen und ihrer Einleitung bzw. ihrem Vollzug auf betrieblicher Ebene sind eine Reihe von neuen Problemlagen und Fragestellungen zur betrieblichen Weiterbildung und beruflich-fachlichen Qualifizierung aufgeworfen. In dem MaBe, in dem neben der seminarfOrmigen Weiterbildung das Lernen am Arbeitsplatz in seinen unterschiedlichen Auspragungsformen an Bedeutung gewinnt, greift ein enger, sich nur auf die Betrachtung von Seminaren beschrankender Lern­und Weiterbildungsbegriff zu kurz. Der Blick nur auf Teilnahmefalle an or­ganisierten Lernformen z.B. in Kursen gibt nur einen Teilaspekt der betrieb­lichen Weiterbildung wieder, wenn arbeits(platz-)nahe Lernformen nicht be­achtet werden. Wobei diese einer quantitativen und qualitativen Betrachtung nur auBerst schwer zuganglich sind. Damit ist auch z.B. fUr die auBerbetrieb­lich orientierte oder initiierte Forschung eine mogliche Bewertung von Nut­zen und Erfolg des Lernens am Arbeitsplatz erschwert. Zumal in der aktuel­len (weiter-)bildungspolitischen Diskussion mit der engeren Verkniipfung von Arbeiten und Lernen nahezu durchgangig positive Erwartungen verbun­den werden. Bemerkenswert ist, daB in der berufs- und erwachsenenpadago­gischen Diskussion die notwendige oder mogliche engere Verkniipfung von Arbeits- und Lernprozessen vor allem auf industriesoziologische Aussagen Bezug genommen wird, verbunden mit einer Fixierung auf Industriearbeit, vornehmlich in groBbetrieblichen Einheiten. Andere quantitativ bedeutsame Branchen und Beschliftigungsgruppen, wie z.B. der Einzelhandel und die Verkaufsarbeit werden weitgehend auBer acht gelassen (1992 ca. 2,9 Mio. Beschaftigte; 1993 ca. 2 Mio. sozialversicherungspflichtige Beschaftigte im Einzelhandel in den alten Bundeslandern).

Aus diesem Grund mochte ich im Rahmen dieser Fachtagung einige aus­gewahlte Ergebnisse und Erfahrungen zum Lernen im ProzeB der Arbeit auf der Grundlage mehrerer langjahriger Forschungsvorhaben zur betrieblichen Weiterbildung, Personalentwicklung und Belegschaftsinteressen im Einzel­handel vorstellen (vg!. u.a. GORS/GOLTZ 1993; GORS u.a. 1994a; GORS u.a. 1994b).

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-Je unkdniglicher die Verhiilt­nisse fur das Verkau£spersonal, desto waniger ~£indet si ch die Kundscha£t in der Kdnigs­rolle- (BAG 4/96)

2. Zur Zielsetzung des Forscbungsprojektes

Das Forschungsprojekt "Betrieblich-unternehmerische Weiterbildung und Belegschaftsinteressen" - wurde zunachst von 1988 bis 1991 durch den For­schungsschwerpunkt Arbeit und Bildung der Universitat Bremen und dann durch ein AnschluBprojekt tiber die "Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse betrieblicher Weiterbildungskonzeptionen fUr das Verkaufspersonal im Ein­zelhandel" weitergeftihrt und vertieft. Dieses Projekt wurde dann von 1991 bis Anfang 1995 durch die Hans-Bockler-Stiftung gefOrdert. Bezogen auf dieses mehrstufige Forschungsvorhaben wurden verschiedene Lehrveran­staltungen und ein mehrsemestriges Lehrprojekt - mit einem integrierten ein­semestrigen Betriebspraktikum - durchgefUhrt, um so StudentInnen auch in das forschende Lernen und in die betriebliche Bildungspraxis einzufUhren. Vierzehn Diplomarbeiten sind in diesem Forschungs- und Lernzusammen­hang bisher abgeschlossen worden. Einige stehen noch aus. Gegenstand un­serer Forschungsarbeiten ist die Praxis betrieblich-unternehmerischer Wei­terbildungsaktivitaten im Bereich des Einzelhandels einerseits und die sub­jektiven Bildungs- und Qualifizierungsbedtirfnisse, Einschatzungen, Bewer­tungen und Ansprtiche an die betrieblich organisierte Weiterbildung auf sei­ten der Beschaftigten - primiir der Verkauferinnen - anderseits. Ziel war, em­pirische Einblicke in den Entwicklungsstand, die inhaltIichen Schwerpunkte und die allgemeinen Organisationsformen der von Betrieben organisierten Weiterbildung dieser Branche zu gewinnen.

Zunachst sollten Ursachen und Bedingungen der aktuellen Veran­derungsprozesse in der betrieblich organisierten Weiterbildung des Einzel­handels untersucht und aufgearbeitet werden. Dazu waren u.a. auch die allge­meinen organisatorischen Strukturen und Angebote der Weiterbildungspraxis in betrieblichen Bereichen und in auBerbetrieblichen Einrichtungen des Ein­zelhandels aufzubereiten (vgl. hierzu GORS u.a. 1994b). Das besondere For­schungsinteresse war zugleich auch darauf bezogen, den unternehmenspo­litischen Stellenwert der betrieblichen Weiterbildung im Kontext mit der Per­sonal- und Organisationsentwicklungsplanung in ausgewiihlten Unternehmen und die moglichen Partizipationsspielraume von Verkauferinnen auszuloten.

Grundlage der Studien bilden - neben der Dokumenten- und Literatur­analyse zur Aufarbeitung der branchenspezifischen Strukturen und Entwick­lungstendenzen - Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Verkaufs-

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beschaftigten und themenzentrierte Interviews mit Expertinnen/Experten bzw. Sachversmndigen auf der Ebene der Unternehmens- und Konzernlei­tung, der betrieblichen und wirtschaftsregionalen Ebene sowie mit Experten der Sozialvertragsparteien und der betrieblichen Interessenvertretungen (vgl. hierzu ausfiihrlich GORSIGOLTZ 1993; GORS u.a. 1994a).

Zur Absicherung der Auswertungsergebnisse und zur Riickkoppelung der von uns identifizierten Problemfelder und Handlungsanforderungen fan­den Workshops in kooperierenden Unternehmen und Seminare mit Betriebs­ratsmitgliedern statt. Das stufenweise Auswertungsverfahren fiihrte zu the­matischen Schwerpunktbildungen. Dazu gehoren u.a. die 'nicht aufstiegsori­entierten' Weiterbildungsformen und die Schulungsansatze zum 'Lernen am Arbeitsplatz' in den Abteilungen von Waren- bzw. Kaufhausfilialen. Uber die hier kurz berichtet werden solI.

Zuvor ist aber noch darauf zu verweisen, daB die auBerordentliche Hete­rogenitat der Betriebsformen und eine entsprechende Vielfalt innerbetriebli­cher Arbeitsstrukturen mit ebenso vielen unterschiedlichen Weiterbildungs­ansatzen und -moglichkeiten eine besondere Spezifik des Einzelhandels bil­det.

Der wirtschaftsstatistische Handelsbegriff, verschiedene Wirtschaftssta­tistiken und sozialwissenschaftliche Abhandlungen schlie3en unterschied­liche Handelsstufen ein und beziehen sich nicht nur auf den Absatz bzw. Verkauf an private Haushalte als Endverbraucher, sondern auch auf den Ab­satz an z.B. Wiederverkaufer, Produktionsunternehmen sowie auf den Han­del in fremden Namen, wie etwa Handels- bzw. Versandhandelsvertretungen und -vermittlungen. So werden zum Handel u.a. auch Tochterunternehmen von gro8en Industriekonzernen gezahlt. Folglich werden deren Umsatze, Be­schaftigtenzahl, Weiterbildungskosten undloder Berufsbildungsaktivitaten u.a.m. auch statistisch dem Handel zugerechnet. Diese statistische Zuordnung ist nicht immer unproblematisch, wenn es beispielsweise urn die Transparenz und urn aussagekraftige Daten zur Tatigkeits- bzw. Qualifikationsstruktur, zur Unternehmenskonzentration und zu den Weiterbildungsquoten innerhalb der unterschiedlichen Handelsstufen (GroBhandel, Einzelhandel etc.) geht. Vollkommen unreflektiert wird in sehr vielen Pressemeldungen und Nach­richtensendungen suggeriert, der Begriff 'Handel' sei identisch mit dem Be­griff 'Einzelhandel' .

Orientiert an den Betriebs- und Absatzformen sowie am Warenangebot bzw. -sortiment wird der Einzelhandel wirtschaftssystematisch wie folgt ge­gliedert (vgl. Statistisches Bundesamt 1986, S. 17f.):

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·Viele geben Bdt den KUnden nicbt sebr liebevoll um. Aber das reflektiert letztlicb aucb nur die Art und Weise, wie beu­te die Leute in diesem unter­nebmen Bd t sicb selbst umgeben· (Der Handel, 10/94)

3. Strukturelle Veranderungen als Rahmen arbeitsplatzbezogenen Lernens

In den vergangenen drei lahrzehnten haben sich im Einzelhandel gravierende strukturelle Veranderungen sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der An­gebotsseite vollzogen. Der WandlungsprozeB kommt nicht nur in den Kauf­kraft- bzw. Nachfrageverschiebungen, dem veranderten Kundenverhalten, der Zunahme von Selbstbedienungsbetrieben, sondern insbesondere auch in der vorangeschrittenen wirtschaftlichen Konzentration und Zentralisation zum Ausdruck. Signifikant ist in diesem Zusammenhang der Wandel der Betriebs- und Vertriebsformen, die Dominanz von Laden- und Handelsketten und der hohe Grad des zentralisiert organisierten Einkaufs und Marketings.

Stichwortartig zusarnmengefaBt sind folgende wesentliche Veranderun­gen bzw. Entwicklungstendenzen zu nennen, die sich auf die Qualifikations­anforderungen an das Verkaufspersonal auswirken:

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Marktanteilsverschiebungen nach Betriebsformen und -groBen bei gleich­zeitiger Heterogenitat dieser Entwicklung; fortschreitende Unternehmens- und Umsatzkonzentration. Umsatze wer­den durch finanzielle Transaktionen und Unternehmenstibernahmen dazu gekauft (vg!. z.B. Metro- Kaufhof-Horten-Asko-Konzern); zunehmender Einsatz rechnergesteuerter W aren-Wirtschaftssysteme in Verbindung mit unternehmensinternen Um- und Neustrukturierungen ar­beitsorganisatorischer MaBnahmen; Veranderte Umsatzrelationen zu Lasten von Waren des Grundbedarfs zu Gunsten von Freizeit- und Gebrauchs- bzw. Verbrauchsartikeln des geho­benen Bedarfs; veranderte Kundenstrukturen in Form einer tendenziellen Polarisierung von einerseits weniger und von andererseits starker kaufkraftigen Kun­dengruppen mit hoheren Warenqualitats- und Beratungsansprtichen. Dies vollzieht sich bei gleichzeitig gestiegenem Informationsniveau sowie er­hOhtem Gesundheits- und UmweltbewuBtsein von Kunden;

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auBerordentlich viele Kaufer scheinen das Einheitsangebot - zumindest im Lebensmittelbereich - leid und suchen HandlerlLadenIMarkte mit ei­nem auf ihre Anspruche (Kundenalter, Familienstruktur, Einkommensho­he etc.) zugeschnittenen Warensortiment und Beratungsangebot.

Mit diesen Veranderungen - in der Tendenz quasi vom "Verkaufer- zum Kaufermarkt" (vgl. BAG-Nachrichten 1984, S. 49) - sehen sich insbesondere Warenhauser, Fachgeschafte und Lebensmittel-Unternehmen in unterschied­lichen Wirtschaftsregionen konfrontiert.

Ganz allgemein kann zunachst festgestellt werden, daB sich der Einzel­handel gegenwartig in einem umfassenden absatz- und personalpolitischen Neuorientierungs- und UmstrukturierungsprozeB befindet, der neben neuen kunden- bzw. zielgruppenorientierten Absatz- bzw. Umsatzstrategien als ei­nen Ansatzpunkt auch den Ausbau undloder Neustrukturierung der betriebli­chen Weiterbildung umfaBt.

Alle uns verfOgbaren Daten und ausgewerteten Dokumente konnen ver­deutlichen, daB die Entwicklung von Rationalisierungen, Betriebs- und Ab­satzformendifferenzierungen sowie personellen Arbeitseinsatzstrategien im Einzelhandel schon in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch grundsatzli­che Elemente, wie sie erst in jiingster Zeit in Konzepten von 'Lean Producti­on' und 'Lean Management' propagiert werden, gepragt sind. Wobei aller­dings bis in die achtziger Jahre hinein der Einzelhandel im Bereich der be­trieblich organisierten Weiterbildung als eine eher ruckstandige Branche an­zusehen ist, in der der Weiterbildungs- bzw. Qualifizierungsbedarf und die realisierte Weiterbildungsteilnahme der verschiedenen Beschaftigtengruppen erheblich auseinanderklafften (vgl. u.a. BIBBIIAB 1986).

Nunmehr scheint seit einigen Jahren in einzelnen Betriebsformen des Einzelhandels eine Trendwende der betrieblichen Weiterbildungspraxis ein­zusetzen, die vor allem im Zusammenhang mit der verkaufsstrategischen Neuorientierung und den aktuellen Nachwuchsproblemen des Einzelhandels zu sehen ist. In einer Reihe von Unternehmen wurde die Aufstiegsfortbildung systematisiert und ausdifferenziert sowie die Anpassungs-Fortbildung fOr das Verkaufspersonal im Zuge der unternehmenspolitischen Aufwertung der Verkaufsarbeit intensiviert. Zum Teil erfolgte hierbei gleichzeitig die EinfOh­rung und Erprobung qualitativ neuer projektorientiert und arbeitsnah ange­legter Lern- und Organisationsformen der Weiterbildung, die sich an aktuell diskutierten Leitlinien der Personalentwicklung orientieren und dabei anstre­ben, Grundlagen fOr eine kontinuierliche Organisationsentwicklung zu legen.

Im Bereich der nicht aufstiegsbezogenen Weiterbildung und Personal­entwicklung fOr VerkauferInnen konnen sehr verschiedene Formen der Ver­kniipfung von Lernen und Arbeiten mit unterscheidbaren Schwerpunkten bzw. Handlungsfeldern identifiziert werden. Die genutzten Formen des Ler-

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nens im ProzeB der Arbeit sind heterogen und stelIen haufig eine Mischung zwischen der Umsetzung neuer Konzepte und der vielfach reflektierten Nut­zung traditionelIer Formen der Qualifizierung und Information am Arbeits­platz dar. Zu nennen sind hier u.a.

Unterweisung am Arbeitsplatz durch Vorgesetzte, Einarbeitung am Arbeitsplatz, Warenprasentation durch HerstelIer in der Abteilung, Information und Schulung durch Fachzeitschriften (z.B. Modezeitschrif­ten) und schriftliche HerstelIerinformationen, Abteilungsbesprechungen (ausfUhrlicher dazu GORS u.a. 1994a, S. 142ff.; GORS u.a. 1994b)

Diese Aktivitaten werden in der betrieblichen Praxis ganz uberwiegend offi­zielI nicht als 'Weiter- oder Berufsbildung' bezeichnet, da sie sonst mitbe­stimmungspflichtig sein konnten (vgl. §§ 96 - 98 Betr.VG.)

Am Beispiel zweier empirisch vorgefundener Schulungs- bzw. Trai­ningsansatze und Organisationsformen der Anpassungsfortbildung in Waren­hausunternehmen solI die Problematik des Lernens am Arbeitsplatz skizziert sowie die Umsetzungs- bzw. die Realisierungsproblematik knapp verdeut­licht werden.

"Ein Angestell ter im Handel wird viermal niiufiger fur sei­nen Dmsatz belonnt, als fur gu­ten Service" (WAZ 11.9.96).

4. Lernen im Proze6 der Arbeit - als Strategie zur Informationsbewaltigung?

Eine wesentliche Erscheinungsform der 'dezentralen' Organisationsform ar­beitsorientierten Lernens ist die Verlagerung der Weiterbildung von Verkau­ferInnen in den Aufgabenbereich der AbteilungsleiterInnen im Verkauf. Da­nach ubernehmen diese Fuhrungskrlifte im Verkauf - als unmittelbare Vorge­setzte des Verkaufspersonals - eine arbeitsplatznahe intensivierte Schulung fUr den Bereich verhaltensbezogener Verkaufsschulungen und anderer kom­munikativ ausgerichteter Lernformen. Vorrangiges Ziel ist, mit Hilfe der AbteilungsleiterInnen eine Umorientierung bei VerkauferInnen in Richtung Beratung und Bedienung herbeizufUhren, nachdem durch vorangegangene Rationalisierungsprozesse die Verkaufsarbeit auf die SicherstelIung organi­satorischer Ablaufe ausgerichtet wurde. Orientiert am 'train-the-trainer'­Prinzip wurde von der zentralen Personalentwicklung eines Warenhauskon­zerns ein Schulungskonzept fur die 'Trainer/ Innen' entwickelt, nach dem in

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filialinternen Schulungsraumen auf der Grundlage zentral erstellter Module in Kleingruppen u.a. wesentliche Grundlagen des Verkaufsgespraches ver­mittelt werden sollen.

Die vorliegenden Erfahrungen mit diesem Lernformkonzept zeigen, daB die Flihrungskrafte im Verkauf mit der Durchflihrung dieser Schulungen in ihren Kompetenzen liberfordert sind. Rlickblickend wird dieses train-the­trainer-Programm als arbeitsplatznahe Schulung von alIen Betroffenen zwar liberwiegend positiv geschildert, weil es 'alIen SpaB' machte. D.h. die positi­yen Beurteilungen beziehen sich dabei vor allem auf die 'Seminarsituation' selbst und auf die Moglichkeit, intensiver miteinander ins Gesprach zu kom­men, was offensichtlich ein deutlich empfundenes Defizit im Verkaufsalltag bildet. Bezogen auf die Inhalte und das eigentliche Lernziel - Verbesserung der Verkaufskompetenzen - wird jedoch Skepsis deutlich, sowohl im Hin­blick auf ein eher mechanisches Verstiindnis der Interaktionsprozesse zwi­schen KundInnen und VerkauferInnen, vor allem aber wegen der offenbar relativ weitgehenden Ausblendung der gegebenen Arbeits- und Rahmenbe­dingungen im Verkauf (vgl. GORS u.a. 1994a, S. 153f.). In der Manage­mentkonzeption wird dem unmittelbaren VerkaufsprozeB, den Kundenge­sprachen und dem kundenorientierten Verhalten der VerkauferInnen eine ho­he Bedeutung filr die Umsatz- und Ertragsentwicklung beigemessen (vgl. da­zu Gors/Goltz 1993). Kundenorientierung bezieht sich - der Konzeption ent­sprechend - auch auf eine Veranderung der Beratungstatigkeit im Hinblick auf die gestiegenen und gleichzeitig differenzierten Kundenansprliche. Da­nach ist es Aufgabe des Verkaufspersonals im Gesprach mit den Kunden, de­ren Wtinsche differenziert aufzunehmen und liber einzelne Warengruppen sowie liber das Waren- und Dienstleistungsspektrum des Hauses orientierend beraten zu konnen (vgl. BAETHGE u.a. 1992, S. 48). Aufgrund der 'Ausdlinnung des Verkaufspersonalbestandes' und der Kostenreduzierung mlissen Verkauferinnen aber die 'Mehrfach- oder Vielzahlkundenbedienung' und die 'Mehrstellen-Arbeit' fast gleichzeitig realisieren. D.h. der Einsatz des Verkaufspersonals wird unter personalwirtschaftlichen Rationalisierungsas­pekten in der Praxis in unterschiedlichen Aufgabenfeldern ad hoc gefordert, wie z.B. Kassieren, Bedienen, Regalauffilllen, Lagersortierung.

Unsere Befunde bezliglich der Realisierungsprobleme des Konzeptes ar­beitsplatznahen Lernens zeigen, ein wichtiger Grund filr deren geringe Durchsetzungsfiihigkeit liegt in der mangelnden Berucksichtigung der realen Anforderungssituationen im Verkauf. In der zentral entwickelten Konzeption filr diese dezentral durchzuftihrende Lernform wird verkannt, daB im Ge­samtspektrum der Verkaufsarbeit die organisatorischen 'Nebenarbeiten' eher zu Hauptarbeiten geworden sind und Kundenberatung als traditioneller Kernbereich des Verkautberufs zwar auf der Ebene der Konzern- und Unter­nehmensleitungen eine Aufwertung erfahren hat, sich faktisch im Verkaufs-

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alltag jedoch nur als 'Resttiitigkeit' aufrechterhalten laBt (vgl. GORS u.a. 1994a, Kap. 5.2). "Im Schnitt eines normalen Arbeitstages bleibt einer Ver­kauferin oder einem Verkaufer maximal noch 50 Prozent der Arbeitszeit fUr den eigentlichen Verkauf. Wenn in der Lebensmittelabteilung eine Kollegin erkrankt, steht das ganze System fast vor dem Zusammenbruch. Fiir fach­kundige Beratung bleibt den Kolleginnen dann keine Luft mehr" (Betriebsratin, Forum 10/96, S. 10).

Ein zweites hier zu nennendes Konzept der Verkniipfung von Lernen und Arbeiten geht iiber die Zieldimension von Schulung und angestrebten Verhaltensanderungen hinaus. Es unterscheidet sich insbesondere auch hin­sichtlich der praktizierten zeitlich-raumlichen Organisationsform. Dieses ar­beitsorientierte Konzept zur Verbesserung von Beratungsqualitat und von Arbeitsablaufen im Verkauf ist ein methodisch gestiitztes Abteilungsge­sprach, das taglich fUr einen begrenzten Zeitraum von ca. 5 bis 10 Minuten in der Verkaufsabteilung unter Anleitung der Fiihrungskriifte z.B. Abteilungs­leiterInnen, SubstitutInnen in dem jeweiligen Verantwortungsbereich der Abteilung durchgefiihrt wird (ausfUhrlicher dazu GORS u.a. 1994a, Kap. 5.2.2; HILF/KRUSE 1994). Diese taglichen Abteilungsgesprache (- Motto: TIP = Taglich im Programm) zielen nicht nur auf eine Verbesserung des Verkaufsverhaltens ab, sondern der Arbeitsalltag im Verkauf insgesamt wird kritisch zur Diskussion gestellt. Insofern kann hier von einem 'arbeitsorien­tierten' Lernansatz bzw. Konzept gesprochen werden. Die abteilungsinternen taglichen Besprechungen am Arbeitsplatz sollen moglichst morgens (auBer samstags) oder in zeitlichen Phasen mit geringem Kundenandrang durchge­fiihrt werden. Sie zielen ab auf eine umfassende Verbesserung von Arbeits­qualitat und -ablaufen u.a. beim abteilungsinternen und funktionsiibergrei­fenden Informationsaustausch sowie durch die Diskussionen von Problemen, die im Arbeitsalltag in Erscheinung treten, einschlieBlich der Frage nach Lo­sungen. Es ist erklmes Ziel, Gestaltungsverbesserungen aufzuzeigen und so u.a. die Arbeitsmotivation des Verkaufspersonals zu steigern.

Urn die Fiihrungskriifte bei der DurchfUhrung der Besprechungen zu un­terstiitzen, wurde als methodisches Hilfsmittel ein inhaltlich offenes Modera­tionskartensystem entwickelt. Die Karten thematisieren das gesamte Tatig­keitsspektrum im Verkauf. Die diskutierten ProblemlOsungsvorschlage sollen zunachst unmittelbar auf der Abteilungsebene realisiert werden. Fiir Pro­blemstellungen auBerhalb der Entscheidungskompetenz der Abteilungslei­tung ist eine direkte Weiterleitung an die Filialgeschaftsfiihrung vorgesehen. Eine direkte Information des Betriebsrates hieriiber ist nicht eingeplant.

Die bisherigen Erfahrungen mit diesem arbeitsorientierten Lernkonzept zeigen, daB es insgesamt von alien Beteiligten positiv beurteilt wird. Aus der Sicht der VerkauferInnen bildet die verbesserte Information einen wichtigen Beurteilungsaspekt, vor allem aber auch die Moglichkeit, mittels dieser Be­sprechungen stiirker 'gehort' zu werden. Denn viele VerkauferInnen erleben in ihrer Berufspraxis erstmals, daB sie 'ernst genommen' werden, ihre Mit-

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wirkung, ihre Meinung, ihre Erfahrung undloder ihr Fach- und Sachverstand beachtet oder gar akzeptiert werden. Schon wenn aufgrund ihrer Vorschlage kleine Belastungen - mit denen sie sich evtl. schon langere Zeit abmiihen -beim Arbeitsvollzug reduziert oder beseitigt werden, haben sie ein wichtiges Erfolgserlebnis. Ein Erfolgserlebnis, das sie bisher im Zusammenhang mit der Arbeit von Betriebsraten oder von gewerkschaftlichen Gremien nicht kennengelernt haben. Positiv wird von seiten der VerkauferInnen auch die Beriicksichtigung von Teilzeitkriiften und Aushilfen bei diesem Konzept her­vorgehoben, was angesichts der hohen Zahl von Teilzeitbeschaftigten (ca. 35 % des Verkaufspersonals) nachvollziehbar ist.

Diese taglichen Abteilungsbesprechungen sind im Prinzip eine organi­satorisch neue Form friiherer Abteilungsgesprache, die sonst in unregelmiilli­gen zeitlichen Abstanden oder iiberhaupt nicht stattfanden. Die jetzige Form ermoglicht zunachst eine kontinuierliche abteilungsinterne Information, die u.a. eine bessere Transparenz ein- und verkaufspolitischer Entscheidungen (Sortimentsstruktur, Sonderverkaufsaktionen, Sonderangebote etc.) ermogli­chen.

In der bisherigen Praxis zeigt sich nun, daB z.T. von den Fiihrungskraf­ten die Themenauswahl weitgehend festgelegt wird und die EinfluBnahme der VerkauferInnen hierauf eher gering zu sein scheint.

Speziell im Hinblick auf die Zielsetzung, diese Form des Lernens am Arbeitsplatz als Problemlosungs- und Verbesserungsinstrument zu nutzen, bildet die kurze zeitliche Dauer ein durchgangiges Problem. Oft miissen wichtige Diskussionen abgebrochen werden, weil die Besprechungszeit ab­gelaufen ist oder die ersten Kunden in der Abteilung erscheinen. Eine Fort­setzung begonnener Diskussionen wird - soweit erkennbar - nicht praktiziert und ist aufgrund der personellen Rahmenbedingungen im Verkauf auch schwer vorstellbar. Teilzeitkriifte und Aushilfen sind zu unterschiedlichen Tageszeiten und Wochenarbeitstagen anwesend, so daB die taglichen Gespra­che personell unterschiedlich besetzt sind. Diese strukturell bedingten Defi­zite und Probleme sollen u.a. durch eine schriftliche Protokollierung der be­handelten Themen gemindert werden, so daB eine nicht teilnehmende Ver­kauferin sich spater hieriiber informieren kann.

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·NlItiirlich versuche ich, immer freundlich zu sein. Aber hill ten Sie das mal auf Dauer IIUS·

(EXpress 15.9.96)

5. Lernen am Arbeitsplatz - Lernen in der "OfTentlichkeit"

Lernen im ProzeB der Arbeit wird in der berufs- und erwachsenenpiidagogi­schen Literatur vielfach als anzustrebender, positiv zu bewertender Weiter­bildungsansatz und als notwendig zur Aktualisierung von Lernpotentialen und Partizipationschancen hervorgehoben (vgl. u.a. DEHNBOSTEL u.a., 1992a und 1992b; Quem-Bulletin H3/96). Gegentiber solchen relativ hochge­steckten Zielvorstellungen und Erwartungen, die hiiufig ohne zeitliche Di­mension und ohne die konkreten sozio-okonomisch-technisch-organisa­torischen Rahmenbedingungen propagiert werden, sind aufgrund unserer Studien - bezogen auf den Einzelhandel - einige kritische Anmerkungen zu machen.

Zwischen der deutlich proklamierten Aufwertung des Lernens am Ar­beitsplatz, dem sehr breit thematisierten Bedeutungszuwachs beruflicher Qualifikation und der in diesem Zusammenhang als notwendig herausge­stellten betrieblichen (Weiter-)Qualifizierung einerseits und der betrieblichen Weiterbildungs- und Qualifizierungsrealitat andererseits besteht offenkundig noch eine groBe Lticke. Modelle, Erprobungen sind zweifelsohne bedeutsam, aber noch keine 'fliichendeckende' Realitat, sie beinhalten Chancen, konnen aber auch von grundlegenden strukturellen Problemkonstellationen ablenken.

Die von uns vorgefundenen neuen Lernformen stoBen bei umfassender Realisierung auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten. AIs Problem stellt sich zum einen die insgesamt zu knapp bemessene Zeit ftir die Vermittlung und Diskussion. Es lassen sich z.B. die lO-mintitigen taglichen Besprechungen zwar relativ problemlos in die zeitlich-organisatorischen Rahmenbedingun­gen des Verkaufs einftigen, ein intensiver kommunikativer ProzeB, der auch die Stufe problembezogener Kontroverse und Reflexion erreichen sollte, ist bei einer so schmal dosierten zeitlichen Dimension kaum denkbar. Wobei die Kommunikations- und auch Kooperationsbeziehungen ein besonderer Pro­blemkomplex im Verkauf sind, denn im Verkaufsalltag sind Kommunikation und Kooperation durch die personelle 'Ausdtinnung' in den Abteilungen auBerst unzulanglich. Eine halbwegs funktionierende unmittelbare Kommu­nikation ist aber dringend erforderlich, urn den notwendigen Informa­tionsfluB zwischen Ftihrungskraften und VerkauferInnen zu gewahrleisten sowie die permanenten Vertretungserfordernisse zwischen verschiedenen Sortimentsbereichen zu ermoglichen. Durch den in den letzten Jahren gestie­genen Leistungsdruck und die hOhere Arbeitsdichte, u.a. bedingt durch die enorme Verkaufsflachenerweiterung, die Sortimentserweiterung und -diffe-

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renzierung sowie durch die reale und 'fiktive' Reduzierung des Verkaufs­personals, haben sich die kommunikativen und kooperativen M6glichkeiten in der Verkaufspraxis erheblich verschlechtert. Zum anderen ist zu erkennen, daB zentralseitig entwickelte Konzepte noch nicht in ausreichendem MaBe die konkreten Arbeitsbedingungen und die Bedurfnisse des Verkaufsperso­nals antizipieren, zumal auch die Kompetenzen der Trainerlnnen in padago­gischer Hinsicht nicht als ausreichend anzusehen sind.

Ein sehr grundsatzliches Problem des Lernens am Arbeitsplatz im Ver­kauf ist, daB sich die Verknupfung von Arbeiten und Lernen innerhalb der 'permanenten Offentlichkeit' vollzieht, so daB Lernen nur begrenzt m6glich ist:

"Wenn sie im Verkauf zu dritt stehen und da kommt ein Kunde und sieht, die klOnen da, das ist ein Wahnsinnsproblem. Das sieht der Kunde ja nicht, daft wir eigentlich was for ihn machen letztendlich. Das kann er auch nicht sehen, das kann man ihm auch nicht veriibeln" (Abteilungsleiterin).

Dieses Problem, unter den kritischen Blicken der Kunden zu lernen, wird durch die zu knappe Personalbemessung verschiirft, da die Kunden mit ihren Fragen meist nicht zu anderen Verkauferlnnen der Abteilung gehen k6nnen und auch deshalb die Besprechung, das Informationsgesprach, als Teilele­ment des Lernens am Arbeitsplatz unterbrochen werden muG.

·Viele Kolleginnen sind zutiefst unglucklich mit ihrer Situation. Sie wUrden gerne fachgerecht und k~etent beraten, aber ihnen sitzt der StreS im Nacken. Du

kannst nicht mebr entspannt dei­ner Arbeit nachgehen, sondern du bist VOID Morgen bis Abend damit beschaftigt, irgendwelche Locher zu stopfen-. (Forum 10 96, S. 11).

6. Zusammenfassend einige Problemaspekte betrieblicher Weiterbildung im Einzelhandel

In verschiedenen Unternehmen wird an neuen konzeptionellen Vorstellungen zur Anpassungs- und zur Aufstiegsfortbildung gearbeitet und in unterschied­lichen Formen werden Ansatze einer dezentralen beteiligungsorientierten

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Bildungsbedarfsermittlung entwickelt. Aber zwischen der - vom Manage­ment - deutlich proklamierten Aufwertung der Personalentwicklungspolitik, dem sehr breit thematisierten Bedeutungszuwachs beruflicher Qualifizierung des Verkaufspersonals und der in diesem Zusammenhang als notwendig her­ausgestellten betrieblichen Weiterbildung einerseits und der Weiterbildungs­realitat andererseits besteht offenkundig noch eine groBe Liicke. Bei den von uns in die Untersuchung einbezogenen Waren- bzw. Kautbaus- und Lebens­mittelfilial-Unternehmen scheint der eindeutige Arbeitsschwerpunkt der Bil­dungsabteilungen im Bereich der Berufsausbildung und nicht in der Weiter­bildung zu liegen. Es gibt zwar mehr oder weniger formalisierte Nachwuchs­fCirderprogramme, die im wesentlichen yon iibergeordneten Personalabtei­lungen konzipiert werden, aber auf einen relativ allgemeinen Personalent­wicklungsbedarf beruhen.

Von den yon uns befragten Bildungsabteilungen wird zwar eine Weiter­bildungsplanung von etwa einem Jahr und eine zeitlich dariiber hinausgehen­de langerfristige Personalentwicklungsplanung als wichtig angesehen. In der Praxis - so unsere Feststellung - wird aber nur eine relatiy vage Qualifizie­rungsplanung und -bedarfsermittlung Yorgenommen, die sich - falls sie iiber­haupt stattfindet - nun keineswegs auf alle Beschliftigungsgruppen gleichma­Big bezieht. Praktisch zeigt sich, daB eine relatiy kurzfristige Bedarfser­mittlung dominiert und WeiterbildungsmaBnahmen yorwiegend auf dem schlichten Verfahren des Experten- bzw. Vorgesetztenurteils beruhen. Die VerkauferInnen sind dann bei diesem Verfahren quasi 'Objekt' und nicht 'Subjekt'. Zumal die Qualifizierungsplanung fUr das Verkaufspersonal keine ausgepragte Prioritlit hat.

Folglich zeigt sich auch, daB die yon den Vorgesetzten fUr VerkauferIn­nen als zweckmliBig angesehene Anpassungsweiterbildung (z.B. Produkt­schulungen, yerhaltensbezogene Verkaufsschulungen) nicht den Bediirfnis­sen der VerkauferInnen entsprechen. Aus der Sicht (PerspektiYe) yon Ver­kauferInnen treffen die fUr sie yorgesehenen Angebote ihren Bedarf nur zu­fallig oder iiberhaupt nicht.

Die Qualifizierungs- bzw. Weiterbildungsplanung insbesondere fiir Ver­kauferInnen setzt fast immer ein (wenn iiberhaupt), wenn betriebsorganisato­rische und/oder Sortimentsentscheidungen bereits getroffen bzw. yollzogen wurden.

Der nicht besonders ausgepragten Weiterbildungspraxis fUr das Ver­kaufspersonal stehen Anspriiche und Erwartungen yon VerkauferInnen an Weiterbildung gegeniiber, die sich auch an der praktischen Verwendbarkeit in ihrer taglichen Arbeit orientieren.

Praktische Verwendbarkeit bezieht sich hierbei sowohl auf die als sub­jektiv notwendig erachtete Bewliltigung yon Arbeitsanforderungen, als auch auf den Erwerb yon Kenntnissen, die es erlauben, die Arbeit besser zu ma­chen.

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Ein Beispiel fur letzteres ist der von VerkauferInnen geauBerte Wunsch, nicht nur oberflachlich iiber neu eingefiihrte Artikel informiert zu werden, sondern auch iiber deren Herstellung und Qualitatskriterien Bescheid zu wis­sen, urn Kundinnen und Kunden besser beraten zu konnen. Solche Ansprii­che werden in der Praxis vielfach verletzt, indern entsprechende Angebote fehlen.

In diesern Zusamrnenhang ist darauf hinzuweisen, daB in der betriebli­chen Praxis vielfach die notwendigen Inforrnationen iiber rnogliche Weiter­bildungsangebote, die Verkauferinnen haufig eher zufallig erreichen und sie -auch wenn ein schriftlich fixiertes urnfangreicheres Prograrnm vorliegt - von ihren unrnittelbaren Vorgesetzten undJoder dern Betriebsrat kaurn inforrniert werden, ihnen also der Gesamtiiberblick der betrieblich organisierten Wei­terbildung nicht ermoglicht wird.

Trotzdern ist festzuhalten, eine deutliche Intensivierung - eine den Ent­wicklungstendenzen adaquate - betriebliche Qualifizierung des Verkaufsper­sonals wird zwar vielfach proklamiert und als notwendig herausgestellt, ist aber noch nicht ansatzweise in einern quantitativ und bezogen auf die Ge­sarntzahl der VerkauferInnen, nennenswerten Urnfang realisiert.

Objektiv gesehen besteht irn Einzelhandel ein Handlungsdruck irn Be­reich der Weiterbildung, der verstiirkt wird durch die aktuellen Nachwuchs­problerne und auch durch die besondere Beschiiftigtenstruktur, wie z.B. Teil­zeitarbeitskrafte, insbesondere aber durch die relativ hohe Zahl nicht be­rufsadaquat aus- oder vorgebildeter Beschaftigter.

In Expertengesprachen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen wurde relativ iibereinstirnrnend ausgefiihrt, daB die kiinftige Produktivitatssteige­rung irn Einzelhandel vornehrnlich erfolgen so11 durch u. a.:

"Verbesserung des Inforrnationsflusses zwischen Geschiiftsfiihrung und MitarbeiterInnen" , "die Aufnahrne hoherwertiger Produkte in das Sortirnent", "die weitere Einfiihrung neuer Kassentechnologien", "Verbesserung der bisherigen Lagertechnik bzw. -flusses" , "verstiirkte Fachbedienung und -beratung" und "verstiirkten Einsatz von Teilzeit- und Aushilfskraften"l

Hier scheint sich nun - aus unserer Sicht - ein Spannungsfeld irn Einzelhan­del zu ergeben. Niimlich z. B. einerseits eine verstiirkte Fachbedienung anzu­streben und andererseits den Anteil der Teilzeit-/Aushilfskrafte zu erhohen, wobei eben die vorliegenden Daten darauf hinweisen, daB die VerkauferIn­nen und insbesondere die Teilzeitbeschiiftigten und Aushilfen bisher relativ sehr wenig in die betriebliche Weiterbildung einbezogen wurden und daB

vg!. Mitt.AB 3/88, S. 384

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konkrete, fachlich differenzierte Weiterbildungskonzeptionen fUr diese Be­schMtigungsgruppen - wie bereits erwalmt - erst ansatzweise entwickelt wer­den. Ein deutlicher Unterschied besteht jedoch im Hinblick auf das groBe Gewicht von MaBnahmen zur Vorbereitung auf die Besetzung von Substitu­ten- und Abteilungsleiterpositionen ("Aufstiegsfortbildung").

Die jeweiligen ortlichen (oder regionalen) Bildungsabteilungen iiber­nehmen hier insbesondere in Warenhausern die Vermittlung des weitgehend zentral vorgegebenen Lernstoffs, wobei die zweijiihrig Ausgebildeten nur in seltenen AusnahmefaIlen in diese Aufstiegsfortbildung gelangen.

Literatur

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BIBBIIAB (Bundesinstitut fUr Berufsbildungl Institut fUr Arbeitsmarkt- und Berufs­forschung) (Hrsg.) (1986), Neue Technologien: Verbreitungsgrad, Qualifikatio­nen und Arbeitsbedingungen. In: Beitr.AB, Heft 118

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Gors, Dieter! Goltz, Marianne! Iller, Carola : Personalentwicklung und Weiterbildung im Einzelhandel, Reihe "Arbeit und Bildung", Bd. 29, Universitat Bremen 1994a

Gors, Dieter! Goltz, Mariannel Iller, Carol a! Krome, Ute : AuBerbetriebliche Weiter­bildung im Einzelhandel. Werkstattbericht "Arbeit und Bildung", Bd. 22, Univer­sitat Bremen 1994b

Hilf, Ellenl Kruse, Wilfried : "TIP"-Taglich im Programm - Bedarfsgerechte Weiter­bildung fUr Mitarbeiter im Handel, hrsg. v.d. Sozialforschungsstelle Dortmund (als Manuskript vervielfaItigt) 1994

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Taylor, Frederick, W. (1913): Die Grundsatze wissenschaftlicher BetriebsfUhrung, neu hrsg. und eingeleitet von Volpert, Walter und Vahrenkamp, Richard, Wein­heim - Basel 1977

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Selbstlembereitschaft und erlebte Arbeitsplatzbedingungen von Beschaftigten in kaufmannisch-verwaltenden Berufen l

Markus Kleinmann / Gerald A. Straka

1. Problemstellung und Ziele der Untersuchung

Selbstgesteuertes Lernen erfahrt im Zuge technisch-organisatorischer Veran­derungen in der Arbeitswelt zunehmende Aufmerksamkeit. Wie erste repra­sentative Erhebungen belegen, bilden sich drei von vier Erwerbstatigen an ih­rem Arbeitsplatz mit Formen eigenstandigen Lernens beruflich weiter. Da­ruber hinaus gibt jeder dritte Befragte an, sich auch wahrend seiner Freizeit flir den Beruf eigenstandig zu qualifizieren. Fur jeden vierten Befragten be­deutet selbstandiges Lernen die wichtigste Form beruflicher Weiterbildung; damit steht das selbstgesteuerte Lernen noch vor den konventionellen For­men beruflicher Bildung wie z.B. Kurse oder Seminare an der Spitze (KUW AN, 1996). Neben dieser Einschatzung aus der Sicht von Beschaftig­ten ist es inzwischen ausdruckliches Ziel zahlreicher Unternehmen, Mitar­beiter durch organisatorische und betriebspadagogische MaBnahmen zum be­rufsbezogenen selbstgesteuerten Lernen anzuregen (GREIF & KURTZ, 1996).

Selbstgesteuertes Lernen kann als eine Form des Lernens definiert wer­den, bei der eine Person je nach Art und Starke ihrer Lernbereitschaft bei der Festlegung von Lernzielen, Lernorganisation, Kontrolle bzw. Bewertung ih­rer Lernerergebnisse Selbst- oder Mitbestimmung ausubt (SCHIEFELE & PEKRUN, 1993). Der Lernende ubernimmt eine aktive Rolle in der Gestal­tung seines Lernens; sich selbst gegenuber sozusagen Lehrfunktionen (SIMONS, 1993). Die Moglichkeit zur Ausubung dieser Funktionen sind je­doch von inneren und auBeren Bedingungen des Lernenden abhangig.

Befunde aus der Trainings- und Lernstrategie-Forschung belegen diffe­renzierte Zusammenhange zwischen motivationalen Voraussetzungen und der Anwendung von Lernstrategien (SCHIEFELE & SCHREYER, 1992; KRAPP, 1993). Demnach begunstigen Formen intrinsischer bzw. interessen­geleiteter Lernmotivation den Einsatz von selbstgesteuerten Lerntatigkeiten. Diese Befunde stammen uberwiegend aus den Bereichen Schule und Hoch­schule. Dagegen wurde im deutschsprachigen Raum das berufsbezogene selbstgesteuerte Lernen von Erwachsenen im auBerschulischen, nicht institu-

1 Das Projekt wird aus Mitteln der DFG gefOrdert (Forderkennzeichen 266/10-1).

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tionalisierten Weiterbildungskontext bisher - trotz des inzwischen hohen Stellenwerts sowohl aus Sicht der Erwerbstatigen als auch der Unternehmen -weitgehend vernachlassigt (FRIEDRICH & MANDL, 1995).

Eine liingere Tradition empirischer Forschung hat das selbstgesteuerte Lernen in der nordamerikanischen Erwachsenenbildung (im Uberblick BROCKETI & HIEMSTRA, 1991). Neben zahlreichen Untersuchungen zu 'Lernprojekten' Erwachsener (TOUGH, 1967, 1979), die insbesondere die Art und Haufigkeit selbstgesteuerten Lernens Erwachsener zum Gegenstand hatten, wurden Untersuchungen zur Erfassung der Bereitschaft zum selbstge­steuerten Lernen durchgefiihrt (GUGLIELMINO, 1977). Ein in diesem Zu­sammenhang entwickeltes Instrument, das iiberwiegend eingesetzt wird, wurde jedoch ohne motivationstheoretische Grundlage entwickelt (FIELD, 1989, 1990; STRAKA, 1996).

Ausgehend vom hohen praktischen Stellenwert selbstgesteuerten Ler­nens von Erwerbstatigen einerseits und dessen weitgehender Vernachlassi­gung in der empirisch orientierten Erwachsenenbildungsforschung im deutschsprachigen Raum andererseits wird mit dieser Arbeit zunachst ver­sucht, auf der Grundlage motivationstheoretischer Uberlegungen einen Be­zugsrahmen zur Erfassung von Dimensionen der Bereitschaft zum berufsbe­zogenen selbstgesteuerten Lernen (Selbstlernbereitschaft) zu entwickeln. Diese Form der beruflichen Qualifizierung findet nicht nur, jedoch iiberwie­gend am Arbeitsplatz statt (KUW AN, 1996; STRAKA, STOCKL & KLEIN­MANN, 1992). So liegt es nahe, daB Bedingungen am Arbeitsplatz Dimen­sionen der Selbstlernbereitschaft beeinflussen. Doch welche der moglichen Arbeitsplatzbedingungen sind theoretisch begriindet als potentiell selbstIern­relevant anzusehen? Im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie ist damit ein theoretischer Bezugsrahmen fiir die Identifikation jener Arbeitsplatzbedin­gungen zu entwerfen, der Hinweise auf jene Bedingungen am Arbeitsplatz gibt, die Dimensionen der Selbstlernbereitschaft beeinflussen sollten. Die Zu­sammenhange dieser so entwickelten Konstrukte werden empirisch anhand einer Stichprobe von Beschiiftigten aus kaufmannisch-verwaltenden Berufen gepriift.

2. Theoretische Bezugsrahmen

Fiir die Entwicklung eines theoretischen Bezugsrahmens zur Beschreibung von Dimensionen der Selbstlernbereitschaft wird auf zwei motivationstheo­retische Ansatze zuriickgegriffen: Grundgedanken des erwartungswerttheo­retischen Ansatzes werden mit interessentheoretischen Uberlegungen diffe­renziert.

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2.1 Bereitschaft zum beruJsbezogenen selbstgesteuerten Lernen (Selbstlernbereitschaft )

Kognitive erwartungswerttheoretische Ansatze gehen von folgendem Bild des Menschen aus: Sie sehen ihn als ein bewuBt und planvoll handelndes bzw. zielgerichtetes Wesen (KRAMPEN, 1987). Erwartungswerttheoretische Ansatze gehen vom Individuum aus, indem sie seine Wertvorstellungen mit seinen Erwartungen verkniipfen und zwar:

a) die subjektive Wertschiitzung einer Person von bestimmten Tatigkeitsfol­gen (Wertkomponente) sowie

b) die Erwartungen einer Person, daB bestimmte Tatigkeiten durchgefiihrt werden konnen und zu bestimmten Ergebnissen fiihren (Erwartungs­komponente).

Aus der Verkniipfung der beiden Komponenten resultiert eine allgemeine Handlungstendenz bzw. -bereitschaft (HECKHAUSEN, 1989). Dieser Grundgedanke kann zur Bestimmung der Bereitschaft zum selbstgesteuerten Lernen verwendet werden.

Bezogen auf selbstgesteuertes Lernen: Eine Person ist dann bereit, sich selbstgesteuert weiterzubilden, wenn sie sich einerseits in der Lage sieht, selbstgesteuertes Lernen praktizieren zu konnen und andererseits fiir das Er­gebnis dieser Aktivitaten eine gewisse Wertschatzung besitzt. Beide Bedin­gungen miissen gegeben sein, damit es zum Vollzug von selbstgesteuerten Lerntatigkeiten kommt. Eine geringe Selbsteinschatzung hinsichtlich der 'Machbarkeit' selbstgesteuerten Lernens (z.B. traut eine Person sich den Vollzug selbstgesteuerten Lernens nicht zu) steht Selbstlernaktivitaten eben­so im Wege wie eine geringe Wertschatzung moglicher Lernerergebnisse (z.B. wegen mangelndem Interesse an beruflicher Weiterbildung).

Der Grundgedanke der erwartungswerttheoretischen Ansatze beschrankt sich hinsichtlich der Wertkomponente jedoch auf die Bewertung von Hand­lungsergebnissen. Inhaltliche bzw. lerngegenstandsbezogene und tatigkeits­vollzugsbezogene Wertschatzungen werden vernachlassigt (KRAPP, 1992a). Durch eine Integration interessenstheoretischer Uberlegungen kann diesen Defiziten begegnet werden.

Der Ansatz der padagogischen Interessentheorie fuBt ebenso wie die er­wartungswerttheoretischen Ansatze auf einem kognitiven Bild des Lernenden (KRAPP, 1992a). Er beschreibt Interessen allgemein als eine Beziehung, die eine Person zu einem Gegenstand hat. Interesse wird dabei als eine Disposi­tion (personliches Interesse1) im Sinne einer zeitlich und situativ relativ sta-

Der personlichkeitsorientierte Aspekt der padagogischen Interessentheorie ist abzugrenzen VOID Aspekt des situationalen Interesses, der nicht die iiberdauemden Personlichkeits-

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bilen Wertschlitzung fUr einen bestimmten Gegenstand aufgefaBt. Eine sol­che Disposition ist geprligt durch Erfahrungen mit diesem Gegenstand und zeichnet sich durch folgende Merkmale aus (KRAPP 1992a):

personliche Bedeutsamkeit des Gegenstands, positive emotionale Tonung (SpaB/Flow) im Umgang mit dem Gegen­stand, weitgehende Selbstintentionalitlit in der Auseinandersetzung mit dem Ge­genstand.

Die Disposition 'Interesse' zeigt sich, wenn eine Person bestimmte Gegen­stlinde fUr wichtig erachtet und sich mit ihnen wiederholt, freudvoll und weitgehend ohne liuBere Veranlassung auseinandersetzt. Gegenstand einer Auseinandersetzung kann der Vollzug einer Tlitigkeit sein (z.B. Tennis spie­len) undloder das Thema bzw. der Inhalt, auf den eine Tlitigkeit bezogen (z.B. ein bestimmtes Wissensgebiet) ist (KRAPP, 1992b). Interesse als Per­son-Gegenstands-Beziehung ist insofern mehrdimensional: einerseits tlitig­keitsvollzugsbezogen und andererseits inhaltsbezogen.

Diese Uberlegungen werden auf die Wertschiitzungskomponente der be­rufsbezogenen Selbstlernbereitschaft iibertragen, indem die inhaltsbezogene Dimension als zeitlich und situativ relativ stabile Wertschlitzung fiir berufli­che Sachverhalte definiert und mit 'Interesse for berufliche Sachverhalte' (IB) bezeichnet wird. Entsprechend wird die tlitigkeitsvollzugsbezogene Di­mension des Interesses als zeitlich und situativ relativ stabile Wertschlitzung des Vollzugs eigener berufsbezogener, dem Lernenden Entscheidungsspiel­rliume bietende Lerntlitigkeiten definiert und mit dem Konstrukt 'Interesse an beruJsbezogenen selbstzusteuernden Lerntiitigkeiten' (IL) gefaBt.

Im Kontext von beruflichem Lernen driickt die Erwartungskomponente der Selbstlernbereitschaft zum einen die individuelle Abschlitzung eigener Flihigkeiten zum Vollzug von selbstzusteuernden Lerntlitigkeiten aus (STRAKA & MACKE 1981) und wird als Konstrukt 'Selbstwirksamkeits­iiberzeugungen selbstzusteuernder Lerntiitigkeiten' (SW) gefaBt. Damit wird die zeitlich und situativ relativ stabile Uberzeugung einer Person erfaBt, in welchem AusmaB dieser Person in neuen beruflichen Situationen selbstzu­steuernde Lerntlitigkeiten zur Verfiigung stehen und in welchem MaBe be­rufliche Kenntnisse und Flihigkeiten durch selbstzusteuernde Lerntlitigkeiten auf- und ausgebaut werden konnen. Zum anderen wird der inhaltsbezogene Aspekt der Erwartungskomponente mit dem Konstrukt 'Inhaltliche Er­schlieftbarkeit neuer beruflicher Sachverhalte' (lE) bezeichnet. Es ist defi-

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merkrnale einer Person betrachtet, sondem einen in einer Situation aktualisierten psychi­schen Zustand. Beide Aspekte werden von den Vertretem der padagogischen Interessen­theorie als sich erganzend angesehen (Krapp 1992a).

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niert als zeitlich und situativ relativ stabile Uberzeugung einer Person, neue berufliche Sachverhalte unter inhaltlichem Aspekt verarbeiten zu konnen.

2.2 Erlebte Arbeitsplatzbedingungen

In arbeits- und organisationspsychologischen Studien zum Weiterbildungs­verhalten Erwachsener (DOMSCH, GERPOTf, HAUGRUND & MER­FORT, 1990; DUB IN, 1990) wurden Arbeitsbedingungen ermittelt, die mit der Bereitschaft zur Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen in Form von Seminaren bzw. Kursen in Beziehung stehen. Beispiele fur derartige Be­dingungen sind: Karriere-Aussichten, Bezahlung, Betriebsklima, Unterneh­menspolitik. Die Bestimmung dieser Variablen erfolgte tendenziell empirisch und weniger theoretisch begrtindet sowie unter einer objektivistischen Per­spektive. Selbstlernspezifische Aspekte wurden in diesem Zusammenhang allenfalls implizit thematisiert. So wie ein Lehrziel durch den Lernenden zu einem Lernziel gemacht wird, werden die 'objektiven' Bedingungen erst lernwirksam, wenn sie vom Lernenden so ausgelegt werden. Daher sollen unter Ruckgriff auf die konstruktivistisch angelegte "Selbstbestimmungs­theorie der Motivation" (DECI & RYAN, 1985, 1993) Arbeitsplatzaspekte bestimmt werden, die fur Dimensionen der berufsbezogenen Selbstlernbereit­schaft fUr bedeutsam erachtet werden konnen.

Gegenstand der Selbstbestimmungstheorie der Motivation von DECI und RYAN (1985, 1993) ist der EinfluB von Aspekten der Umgebung auf interes­sengeleitetes bzw. intrinsisch motiviertes Handeln. Die konstruktivistische Ausrichtung dieses Ansatzes hat zur Folge, daB nicht die 'objektiven' Umge­bungsbedingungen, sondern ihre subjektive Rekonstruktion fur verhaltensre­levant betrachtet wird, die unter den Perspektiven von Autonomie, Kompe­tenz und sozialer Einbindung erfolgt (DECI & RY AN, 1985).

Die Perspektive 'Autonomie' umfaBt; ob und inwieweit sich eine Person als Verursacher ihrer Handlungen erlebt, d. h. ihr Handeln und ihre Ziele selbst entwirft und festlegt. Die Perspektive 'Kompetenz' beschreibt ob und inwieweit eine Person sich gegenuber selbst- und/oder fremdgesetzten An­forderungen gewachsen, handlungsfahig und erfolgreich erlebt. Die Perspek­tive 'Soziale Einbindung' umfaBt ob und inwieweit eine Person mit anderen Personen interagiert und kommuniziert und diese Aktivitaten positiv erlebt (Deci & Ryan, 1993).

Die zentrale, empirisch belegte These von DECI und RYAN (1993) ist, daB die Wahrscheinlichkeit selbstbestimmten bzw. interessierten Handelns zunimmt, wenn Personen bei ihrem Handeln Kompetenz, Autonomie und so­ziale Einbindung erleben (DECI & RYAN, 1993). Unter diesen subjektiv konstruierten Bedingungen erfahrt sich eine Person als Verursacher ihres

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Handelns, indem sie ihre Ziele weitgehend selbst festlegt und ihre Hand­lungsentwiirfe selbst vornimmt; Anforderungen, die sie sich selbst stellt oder die an sie gerichtet werden, sieht sie sich gewachsen und erfiihrt sich bei ih­rem Vollzug als fiihig und erfolgreich. Ihre Interaktion und Kommunikation rnit Anderen erfahrt sie als zufriedenstellend und angenehm.

Diese Uberlegungen werden fur die Perspektiven Autonomie, Kompe­tenz und soziale Einbindung auf Gegebenheiten in der Arbeitswelt iibertra­gen. Unter Bezug auf Situationen am Arbeitsplatz wird Autonomieerleben mit dem Konstrukt 'Erleben von Autonomie am Arbeitsplatz', Kompe­tenzerleben als 'Erleben von Kompetenz am Arbeitsplatz' bestimmt. Die Per­spektive 'soziale Einbindung' wird unter Bezug auf arbeits- und organisa­tionstheoretische Uberlegungen (DOMSCH et aI., 1990) auf die Bezugsgrup­pen 'Vorgesetzte(r)' und 'Kollegenlinnen' gerichtet. Im einzelnen wurden folgende Konstrukte definiert: 1) "Erleben von Autonomie am Arbeitsplatz" (AE) bezieht sich auf das Erle­

ben von Freiheitsgraden bzw. Spielraumen, die der Berufstatige wiihrend seiner beruflichen Tatigkeit erfiihrt, beispielsweise durch Moglichkeiten zum selbstandigen Handeln und zum Vertiefen von Aufgaben oder auch sein Eindruck, eigene Fahigkeiten am Arbeitsplatz entfalten zu konnen.

2) "Erleben von Kompetenz am Arbeitsplatz" (KE) umfaBt das Erleben einer Person, zur Erfiillung beruflicher Aufgaben selbst bzw. entscheidend bei­zutragen und dieses Handeln selbst zu kontrollieren.

3) "Erleben von sozialer Einbindung im Verhiiltnis zum Vorgesetzen" (SEV) bezieht sich auf das Erleben einer Person, am Arbeitsplatz durch den Vorgesetzten akzeptiert und in seiner Arbeitstatigkeit unterstutzt zu wer­den.

4) "Erleben von sozialer Einbindung im Verhiiltnis zu KoUegen/innen" (SEK) bezieht sich auf das Erleben einer Person, am Arbeitsplatz durch Kollegenlinnen akzeptiert zu werden und mit ihnen gut zusammenarbei­ten zu konnen.

2.3 Hypothesen und Operationalisierung der Konstrukte

Unter Bezug zu DECI und RYAN (1985, 1993) und die Ubertragung dieser Uberlegungen auf die spezifischen Bedingungen am Arbeitsplatz werden als Hypothesen positive Zusammenhiinge postuliert:

a) Innerhalb der Dimensionen erlebter Arbeitsplatzbedingungen (differen­ziert nach den Erlebnisperspektiven 'Autonomie', 'Kompetenz' und 'Soziale Einbindung im Verhaltnis zum Vorgesetzten' sowie 'Soziale Einbindung im Verhiiltnis zu Kollegenlinnen'),

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b) innerhalb der Dimensionen der Selbstlernbereitschaft (differenziert nach 'Interesse an beruflichen Sachverhalten', 'Interesse an berufsbezogener selbstzusteuernden Lerntatigkeit', 'Inhaltliche ErschlieBbarkeit neuer be­ruflicher Sachverhalte' und 'Selbstwirksamkeitsuberzeugungen selbstzu­steuernder Lerntatigkeiten') und

c) zwischen den Dimensionen der erlebten Arbeitsplatzbedingungen und den Dimensionen der Selbstlernbereitschaft, wobei das Erleben von Au­tonomie insbesondere mit den Konstrukten der Wertschiitzungskompo­nente und das Erleben von Kompetenz mit den Konstrukten der Erwar­tungs- bzw. Uberzeugungskomponente in Zusammenhang stehen sollte.

Die entwickelten Konstrukte wurden berufs- und selbstlernbezogen operatio­nalisiert. Dazu wurde auch auf Items aus vorhandenen Instrumenten zuruck­gegriffen 1, die vergleichbare bzw. iihnliche Konstrukte messen. Die Skalie­rung der Items erfolgte mit einer vierfach gestuften Antwortvorgabe (von "trifft genau zu" bis zu "trifft nicht zu"). Der Fragebogen bestand entspre­chend der zu erfassenden Dimensionsbereiche aus zwei Teilen (Items zur Selbstlernbereitschaft einerseits und Items zu den erlebten Arbeitsplatzbedin­gungen andererseits). Die Items wurden innerhalb der Bereiche in Zufallsrei­henfolge angeordnet.

3. Beschreibung der Stichprobe

Befragt wurden insgesamt 1503 Beschaftigte aus kaufmannisch-verwal­tenden Berufen. Von den Befragten waren 70% weiblich. Die Befragten ar­beiteten in folgenden Branchen:

Branche Befragte Prozent

Touristik2 934 62,1 Offentlicher Dienst 239 15,9 Handel 166 11,0 Banken 63 4,2 Versicherungen 47 3,1

2

In den Itempool gingen u.a. Items aus dem Fragebogen zur Erfassung yon Studieninteres­sen (FSI) yon SCHIEFELE, KRAPP, WILD und WINTELER (1992) ein. Fiir die erlebten Umgebungsbedingungen ist insbesondere der Fragebogen yon PRENZEL, EITEL, HOLZ­BACH, SCHOENHEINZ und SCHWEIBERER (1993) zum motiyationalen Erleben wiih­rend des Studiums zu nennen.

Die Dominanz der Touristikbranche resultiert aus einer bundesweiten Befragung eines in Bremen ansliBigen Touristik-Untemehmens.

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Produktion 43 2,9 Kaufmann.ljuristische 6 0,4 Dienstleistungen Sonstige (keine Angabe) 5 0,3 Gesamt 1503 100

D· Al le terszusammensetzun d S· h b er tIc lpro e zelgt nac MI d Tbll Olgen e a e e: Altersf?ruppe Anzahl Prozent unter 20 Jahre 37 2 20 - 29 Jahre 778 52 30 - 39 Jahre 386 26 40 - 50 Jahre 193 13 iiber 50 Jahre 103 7

n=1497; keine Angabe: 6 Personen Das Gros der Befragten ziihIte sich demnach zu den AItersgruppen der unter 30-Jiihrigen.

D· S h Ib·Id le c u I d B f ung er e ragten b I e egt eme weltere Tbll a e e: Bildunf?sabschluf3 Anzahl Prozent VoIks-, Hauptschule 96 6 ReaI-, Berufsfachschule 569 38 FachhochschuIreife, Abitur 720 48 Fachschule, Berufsakademie 57 4 FachhochschuIabschluB 28 2 UniversitiitsabschluB 22 2 n=1492; keme Angabe: 11 Personen

Die Analyse der sozialdemographischen Daten zeigt, daB sich die Stichprobe iiberwiegend aus Frauen und verhiiItnismiiBig jungen Personen (55% waren jiinger aIs 30 Jahre) zusammensetzte, die zudem einen hohen Ausbildungsab­schIuB (52% hatten Abitur oder HochschulabschluB) vorwiesen.

4. Faktorenanalytische Priifung des Erhebungsinstruments

Vor dem Hintergrund der theoretisch abgeleiteten und berufsbezogen opera­tionalisierten Konstrukte gaIt es im niichsten Schritt, die Tauglichkeit des Fragebogens zur Priifung der Hypothesen zu testen. Dazu wurde eine Kon­struktvalidierung mittels Faktorenanalyse durchgefiihrt.

FUr die vorliegende Untersuchung wurden folgende Selektionskriterien einer Faktorlosung vorgegeben:

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* Eigenwert eines Faktors: > 1, * GesamtvarianzaufkUirung: > 50%, * Mindestladung eines Items auf einem Faktor: > 0040, * Einfachstruktur der FaktorlOsung, * Interpretierbarkeit der Faktoren. Ermittelt wurden die Faktormatrizen nach der Hauptkomponentenmethode und schiefwinkliger Rotation 1. Folgende Ubersichten zeigen wesentliche Kennwerte der ermittelten Faktorlosungen2:

I) Berufsbezogene Selbstlernbereitschaft Faktor Eigenwert Anzahl Items Varianzaujkliirung in Prozent

Faktor kum.

1 5,20 6 24,7 24,7 2 2,35 5 11,2 35,9 3 1,80 5 8,6 44,5 4 1,37 5 6,5 51,0

KM03: 0.88 Die postulierte Zuordnung von Items wurde durch die ermittelte Vier­Faktoren-Losung bestatigt. Die erklarte Varianz fur diesen Teil des Fragebo­gens betragt 51 %.

Die schiefwinklige Rotation (Obliminrotation) im Rahmen der Faktorenanalyse wurde we­gen der angenommenen Zusammenhange der Faktoren gewiihlt (vg!. auch die Untersu­chungshypothesen unter Abschnitt 2.3).

2 Eine Itemliste kann bei Bedarf von den beiden Autoren angefordert werden. 3 Die Angemessenheit der Stichprobe und Items fiir eine Faktorenanalyse wurde mittels dem

Kaiser-Meyer-Olkin-MaB gepriift. Die fiir die beiden Teile des Fragebogens ermittelten Werte sprechen fiir eine gute Auswahl von Variablen fiir eine Faktorenanalyse (Brosius, 1989).

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2) Erlebte Arbeitsplatzbedingun~en Faktor Eigenwert Anzahl Items Varianzaujkliirung in Prozent

Faktor kum. 1 4,83 6 30,2 30,2 2 1,87 4 11,7 41,9 3 1,60 3 10,0 51,9 4 1,02 3 6,4 58,3

KMO: 0.87 Fiir die Skalen, mit denen die erlebten Arbeitsplatzbedingungen erfaBt wur­den, konnte mit einer Vier-Faktoren-Losung die postulierte Itemzuordnung ebenfalls bestatigt werden. Die Faktoren erklaren zusammen ca. 58% der Va­rianz.

Fazit zur Konstruktvalidierung Mit den ermitteIten Faktorlosungen konnten die theoretisch abgeleiteten Di­mensionen weitgehend rekonstruiert werden. Die teilweise geringe Anzahl der Items auf einzelnen Dimensionen - insbesondere im Bereich der erlebten Arbeitsplatzbedingungen - unterstreicht den Pilotstudien-Charakter dieser Untersuchung. Der Fragebogen bzw. einzelne dimension ale Skalen bediirfen einer Erganzung durch zuverHissige Items zur Erhohung ihrer MeBgtite. Dennoch werden die Konstrukte zumindest insoweit abgebildet, daB eine Priifung der Hypothesen unter meBtheoretischem Aspekt vorgenommen wer­den kann.

5 Ergebnisse der Hypothesenpriifung

Zur Analyse der Hypothesen zwischen Dimensionen erlebter Arbeitsplatzbe­dingungen und berufsbezogener Selbstlernbereitschaft wurden Produkt­Moment-Korrelationen auf Basis der Summenwerte der Faktoren berechnet. Die Korrelationskoeffizienten zeigt folgende Ubersicht:

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Korrelationsmatrix der untersuchten Dimensionen (n=1503; **=p>O.OOI):

SW IB IL AE KE SEK SEV

Inhaltl. Erschl. (lE) .26** .17** .34** .16** .31 ** .18** .01 Selbstw.-UZ. (SW) .16** .43** .26** .30** .06 .10** Inter. am Beruf (IB) .40** .53** .24** .15** .22** Inter. an SGBL (IL) .31 ** .22** .10** .13** Autonomie-Erl. (AE) .37** .28** .42** Kompetenz-Erl. (KE) .37** .19** Soz. E. Kollegen (SEK) .38**

Abb. 1: Korrelationsmatrix

Die Ergebnisse der Korrelationsanalyse stiitzen die formulierten Hypothesen weitgehend. Die Spannweite der positiven Korrelationen erstreckt sich von r = .01 bis r = .53 (p < .001). Da aufgrund der groBen Stichprobe verhaltnis­maBig kleine Korrelationen signifikant sind (BROWN, AMOS & MINK 1976), werden bei der weiteren Analyse und Interpretation nur Korrelationen beriicksichtigt, die mindestens .30 erreichen (mittelstarke Zusammenhange), da kleinere Korrelationen auf eine praktisch vernachlassigbare Varianzauf­klarung hinweisen. Sie sind im Strukturdiagrarnm zu finden:

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Abb.2:

Zusammenhange der untersuchten Dimensionen - Korrelationskoeffizienten r >= .30 (n=1503 Pers.)-

r= .37

Selbstwirksamkeits­iiberzeugungen I+---L ...... ;w..----.;

Soziale Einbindung

Kollee:en

= .42 1 r=.38

Soziale Einbindung Vorgesetzter

Strukturdiagramm zu Korrelationen >= .30 zwischen den Unter­suchungsvariablen

Zwischen den Dimensionen der Selbstlernbereitschaft zeigen sich erwar­tungsgemaB zahlreiche systematische Zusammenhange. Die Dimension 'In­teresse an selbstzusteuernden LernHitigkeiten' steht dabei im Mittelpunkt der Beziehungen. Deutliche Zusammenhange bestehen zwischen dieser Dimen­sion und allen iibrigen der Selbstlernbereitschaft. Der stiirkste Zusammen­hang besteht zu den 'Selbstwirksamkeitsiiberzeugungen selbstzusteuernder Lerntatigkeiten'; diese Beziehung laBt sich dahingehend interpretieren, daB eine hahere Auspragung methodischen Selbstvertrauens mit einem stiirkeren methodischen Interesse einher geht.

Zwischen den Dimensionen der erlebten Arbeitsplatzbedingungen beste­hen ebenfalls zahlreiche mittelstarke Beziehungen. Demnach hangt das 'Er­leben von Autonomie am Arbeitsplatz' mit fast alIen anderen Dimensionen zusammen. Lediglich zur Dimension 'Erleben sozialer Einbindung im Ver­haltnis zu Kollegenlinnen' besteht kein mittelstarker Zusammenhang. Er­wartungswidrig besteht zwischen dem Erleben von Kompetenz und dem 'Erleben sozialer Einbindung im Verhaltnis zum Vorgesetzten' keine zumin­dest mittelstarke Beziehung. Gerade das Riickmelde-Verhalten des Vorge­setzten sollte flir das Erleben von Kompetenz wichtig sein.

Bereichsiibergreifend zeigen sich die Beziehungen zwischen dem 'Erleben von Autonomie am Arbeitsplatz' mit den beiden interessentheoreti­schen Konstrukten der Wertschatzungskomponente der Selbstlernbereit­schaft. Demnach besteht zwischen dem Erleben von Freiheitsgraden und Handlungsspielraumen am Arbeitsplatz und dem Interesse an beruflichen Sachverhalten eine starke Beziehung (r = .53). Das 'Erleben von Kompetenz

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am Arbeitsplatz' steht dagegen mit den beiden Konstrukten der Erwartungs­bzw. Uberzeugungskomponente der Selbstlernbereitschaft in mittelstarkem Zusammenhang.

6. Diskussion

Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse bestatigen einerseits die motiva­tionstheoretisch fundierte Differenzierung von Dimensionen berufsbezogener Selbstlernbereitschaft und erlebter Arbeitsplatzbedingungen. Andererseits belegen die Befunde, daB Arbeitsplatzbedingungen von Personen nach unter­schiedlichen, zusammenhangenden Gesichtspunkten verarbeitet werden und daB diese verschieden stark mit Dimensionen der berufsbezogenen Selbst­lernbereitschaft in Beziehung stehen.

Die Ergebnisse stehen im Einklang mit Befunden, denen der theoretische Ansatz der Selbstbestimmungstheorie der Motivation von DECI und RYAN (1985) zugrunde lag. So lieBen sich signifikante Zusammenhange - auch in ahnlicher H6he - zwischen dem Erleben von Autonomieunterstiitzung, Kom­petenzunterstiitzung und sozialer Einbindung mit der motivationalen Dimen­sion studentischen Lernens nachweisen (PRENZEL, EITEL, HOLZBACH, SCHOENHEINZ & SCHWEIBERER, 1993). Unter den Bedingungen der Arbeitswelt konnten Beziehungen zwischen dem Erleben von Dimensionen der Arbeitszufriedenheit und unterstiitzendem Vorgesetztenverhalten empi­risch belegt werden (DECI, CONNELL & RYAN, 1989). Insofern deutet sich ein bereichsiibergreifender Zusammenhang zwischen Aspekten des Er­lebens von Umgebungsbedingungen und motivationalen Dimensionen des Lernens an.

Die Ergebnisse liefern erste Hinweise fUr eine differenzierte, arbeits­platzbezogene Forderung selbstgesteuerten Lernens. Zwar konnen aus den ermittelten Korrelationen keine kausalen Schliisse gezogen werden, doch las­sen die Ergebnisse zumindest die Interpretation zu, daB bei einer Vernachlas­sigung des Autonomie- und Kompetenzerlebens von Beschaftigten die Be­reitschaft zum selbstgesteuerten Lernen nur bedingt zu fOrdern ist. Der Auf­und Ausbau von methodischen und inhaltlichen Lerninteressen der Erwerbs­tatigen ist kaum zu erwarten, wenn sie nicht zugleich den Eindruck von Handlungsspielraumen am Arbeitsplatz besitzen. Ebenso wird durch die mangelnde Erfahrung eigener Kompetenz am Arbeitsplatz das Vertrauen in die eigenen Lernfahigkeiten unter inhalts- und prozeBbezogenen Aspekten nicht gefOrdert. Angesichts der Ergebnisse dieser Pilotstudie erscheint eine Forderung von Dimensionen der Selbstlernbereitschaft durch eine spezifische Gestaltung von arbeitsplatzbezogenen Rahmenbedingungen moglich. Auf der Grundlage .der Ergebnisse sind in einem weiteren Schritt Uberlegungen zu

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arbeitsplatzbezogenen MaBnahmen und Instrumenten im Rahmen einer inte­grierten Personal- und Organisationsentwicklung anzustellen.

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