BERICHTE UND MITTEILUNGEN - LWL-Archivamt...Drs. Hans Scheurkogel, Archiefschool, Universiteit van...

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BEITRAGE

K a t h a r i n a T i e m a n n51. Westfalischer Archivtag am 16. und 17. Marz 1999 in Olpe . . 1

B e r n w a r d S e l t e rZur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart . . . . 3

A n d r e a s G i l s b a c hDie Bedeutung kommunaler Archive bei der Erstellung einesAltlastenkatasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

H e r m a n n J o s e f B a u s c hInformationen zu Altlasten in einem Stadtarchiv: Das BeispielDortmund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

N i e l s F r a n k eStiftung Naturschutzgeschichte: Sammelfelder der Natur- undUmweltschutzgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

A l b e r t E ß e rDie kulturgeschichtliche Bedeutung von Vereinsarchiven.Das Beispiel des Vereins „Liederkranz 1845 e.V.“in Bergisch-Gladbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

H a n s - J u r g e n H o o t m a n nDie Uberlieferung von Personalvertretungen . . . . . . . . . 29

K o r n e l i a R e n n e r tMannesmann-Archiv: Die Uberlieferung der Betriebsrate . . . . 34

M o n i k a L o e c k e nDie Wendener Hutte – Technisches Kulturdenkmal mit großerschriftlicher Uberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

10. Deutsch-Niederlandisches Archivsymposium 1998(Fortsetzung zu Heft 49/1999, S. 14ff.)

E r i c K e t e l a a rBildung der Archive und Ausbildung der Archivare:neue Identitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

H a n s S c h e u r k o g e lDie Ausbildung an der Archivschule der Niederlande . . . . . . 46

B e t t y W . L u t k e S c h i p h o l tZiel und Inhalt der Ausbildung „Management & DokumentativesInformationswesen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

T h i j s L a e v e nDie Fortbildung von Archivaren in den Niederlanden . . . . . . 52

BERICHTE UND MITTEILUNGEN

Neuverzeichnung des Freiherr vom Stein - Nachlasses . . . . . . 55Tagungsbericht: NS-Herrschaft und bezettingstijd im deutsch-niederlandischen Grenzraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Die Steinwache. Ein Beispiel aus der praktischen Arbeit einerMahn- und Gedenkstatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Fotoausstellung „Auschwitz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Wiedereroffnung Stadtarchiv Dortmund . . . . . . . . . . . . . 66

AUS DEN ARCHIVEN IN WESTFALEN UND LIPPE 68

HINWEISE AUF NEUE BUCHER . . . . . . . . . 69

MITARBEITER DIESES HEFTES

Hermann Josef Bausch, StadtarchivDortmund, Friedensplatz 5, 44122 Dort-mund — Dr. Wolfgang Bockhorst, West-falisches Archivamt, 48133 Munster (Bo)— Hans-Wilhelm Bohrisch, StadtarchivDortmund, Friedensplatz 5, 44122 Dort-mund — Dr. Horst Conrad, WestfalischesArchivamt, 48133 Munster (Co) — Prof.Dr. Paul Derks, Universitat Essen, Fach-bereich 3, Sprach- und Literaturwissen-schaften, 45117 Essen — Albert Eßer,Stadtarchiv Bergisch-Gladbach, 51439Bergisch Gladbach — Matthias M. Ester,Munster — Dr. Norbert Fasse, Stadt-archiv Bocholt, Munsterstraße 76, 46397Bocholt — Dr. Nils Franke, Stiftung Na-turschutzgeschichte, Schwannstraße 3,40476 Dusseldorf — Dr. Werner Frese,Westfalisches Archivamt, 48133 Munster(Fr) — Andreas Gilsbach, MSP GmbH,Beratgerstraße 36, 44149 Dortmund —Josef Haming, Westfalisches Archivamt,48133 Munster (Hg) — Dr. Gunther Hogl,Stadtarchiv Dortmund, Friedensplatz 5,44122 Dortmund — Hans-Jurgen Hoot-mann, Westfalisches Archivamt, 48133Munster — Gabriele John, Leverkusen— Drs. Frank Keverling Buisman, Rijks-archief Gelderland, Markt 1, 6811 CGArnheim — Rickmer Kießling, Westfali-sches Archivamt, 48133 Munster (Kie) —Thijs Laeven, Innogration, Koggewagen47, 1261 KB Blaricum — MonikaLoecken, Museumsverein WendenerHutte, Danziger Str. 2, 57462 Olpe —Drs. Betty W. Lutke Schipholt, Hoch-schule Management und Dokumen-tatives Informationswesen, Woerden —Tim Michalak, Stadtarchiv Dortmund,Friedensplatz 5, 44122 Dortmund —Eckhard Moller, Stadtarchiv Harsewinkel,Postfach 1564, 33419 Harsewinkel —Brigitta Nimz, Westfalisches Archivamt,48133 Munster (Ni) — Dr. NorbertReimann, Westfalisches Archivamt,48133 Munster (Rei) — Kornelia Rennert,Mannesmann-Archiv, Mannesmann AG,Postfach 103641, 40027 Dusseldorf —Annekathrin Schaller, WestfalischesArchivamt, 48133 Munster (Scha) —Drs. Hans Scheurkogel, Archiefschool,Universiteit van Amsterdam — Dr. Bern-ward Selter, Forstliche Dokumentations-stelle, Arnsberg — Dr. Gunnar Teske,Westfalisches Archivamt, 48133 Munster(Ts) — Katharina Tiemann, Westfa-lisches Archivamt, 48133 Munster (Tie)

Diese Zeitschrift ist – wie alleanderen Publikationen desWestfalischen Archivamtes –auf saurefreiem und alterungs-bestandigem Papier gedruckt.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

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51. Westfalischer Archivtag am 16. und 17. Marz 1999 in Olpe

Zukunft der nichtstaatlichen Archivpflege – Historische Umwelt-forschung – Uberlieferungsformen nichtamtlichen Schriftgutes

von Katharina Tiemann

Am 16. Marz 1999 eroffnete der Leiter des Westfali-schen Archivamtes, Dr. Norbert Reimann, in Anwesen-heit von rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmernden 51. Westfalischen Archivtag in der Stadthalle in Ol-pe. Aus aktuellem Anlaß war die Eroffnungsveranstal-tung vor dem Hintergrund der drohenden Auflosung derLandschaftsverbande ganz von der Sorge um den Fort-bestand der nichtstaatlichen Archivpflege durch die Ar-chivpflegeamter in Westfalen und im Rheinland be-stimmt. Mit dem Verweis auf die vielfaltigen Tatigkeits-felder des Landschaftsverbandes, zu denen auch dieArchivpflege im Bereich der Kultur zahlt, ubergab Dr.Reimann das Wort an den Landesdirektor des Land-schaftsverbandes Westfalen-Lippe, Wolfgang Schafer.In seiner Einfuhrungsrede ging Schafer ebenfalls aufdie Plane der Landesregierung, eine Verwaltungsstruk-turreform in Nordrhein-Westfalen unter Auflosung derLandschaftsverbande durchzufuhren, ein, und verliehinsbesondere seiner Sorge Ausdruck, daß mit der Auf-losung der beiden Landschaftsverbande nicht nur be-wahrte Einrichtungen der kommunalen Selbstverwal-tung verloren gingen, sondern auch die Identitat West-falens in einem erheblichen Maße beschnitten werde.Speziell an das Fachpublikum gerichtet, machte erdeutlich, daß, sofern die derzeitigen Plane der Landes-regierung realisiert wurden, die nichtstaatliche Archiv-pflege den Staatsarchiven zuzuweisen, eine solche Re-gelung dem Auftrag der nichtsstaatlichen Archivpflegegrundsatzlich zuwiderlaufe und zwangslaufig zu Ver-schlechterungen fuhre. Schafer beendete seine Ausfuh-rungen mit einem engagierten Appell an die Teilnehme-rinnen und Teilnehmer, sich aktiv dafur einzusetzen,daß die Landschaftsverbande und mit ihnen die kom-munalen Archivpflegeeinrichtungen in ihrer jetzigenForm erhalten bleiben. Neben dem Burgermeister HorstMuller und dem Landrat Hanspeter Klein, die sich eben-falls gegen die Plane der Landesregierung ausspra-chen, richtete der Vorsitzende der Bundeskonferenz derKommunalarchive beim Deutschen Stadtetag, Prof. Dr.Hans Eugen Specker, ein Grußwort an die anwesen-den Fachkolleginnen und -kollegen. Specker hob aufdie Grundung und die Betatigungsfelder der Bundes-konferenz der Kommunalarchive ab und unterstrichinsbesondere die wichtige Rolle der Archivberatungs-stellen in Nordrhein-Westfalen in diesem Gremium.Eine Verschlechterung der nichtstaatlichen Archivpfle-ge, die durch die Auflosung der Landschaftsverbandenicht auszuschließen sei, habe Auswirkungen weituber die Grenzen Nordrhein-Westfalens hinaus. Dies

betreffe auch die jahrliche Ausrichtung der Archivtage,die vor allem fur kleinere Kommunalarchive ein wichti-ges Forum zur Diskussion und zum Erfahrungsaus-tausch sei.

Unter dem Sondertagungsordnungspunkt Zukunft dernichtstaatlichen Archivpflege berichtete Dr. Reimannvom aktuellen Stand der Diskussion uber die von derLandesregierung geplante Verwaltungsstrukturreform,die in weiten Teilen recht konzeptionslos verlaufe. Spezi-ell auf die Zukunft der Archivberatungsamter bezogenbetonte Reimann, daß weder eine Aufteilung auf diemoglicherweise zu bildenden 5 bzw. 6 regionalen Dienst-leistungszentren, die staatliche wie kommunale Aufga-ben unter einem Dach bundeln, noch die jungst vorge-schlagene Eingliederung der nichtstaatlichen Archivpfle-geamter in Munster und Brauweiler in die Staatsarchivein Munster und Dusseldorf ein sinnvoller Weg sei. HerrMuller, Leiter des Stadtarchivs Paderborn, bat anschlie-ßend den Archivreferenten im Ministerium fur Schuleund Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung NRW,Ministerialrat Dr. Hans Schmitz, insbesondere zu denneuerlich bekanntgewordenen Verstaatlichungsabsich-ten Stellung zu beziehen. Schmitz erlauterte das Zustan-dekommen der Plane damit, daß an ihn die Aufgabe her-angetragen worden sei, ein Konzept uber den Verbleibder Archivberatungsamter fur den Fall zu entwickeln,daß die Landschaftsverbande aufgelost werden. Aus ar-chivfachlicher Sicht sei dies die beste Losung. Zudemlegte er sehr großen Wert darauf, daß die Archivamterden Staatsarchiven nicht „zugeschlagen“, sondern mitkompletter Personal- wie Sachausstattung zugeordnetwurden. In diesem Zusammenhang unterstrich der stell-vertretende Leiter des Westfalischen Archivamtes, Dr.Horst Conrad, die Ausrichtung der Archivamter als Bera-tungsstellen, Dienstleistungseinrichtungen demnach, dieden Kommunen gleichberechtigt gegenuberstehen unddamit fachlich wesentlich mehr ausrichten konnen, alswenn eine staatliche Einrichtung als vorgesetzte Behor-de den Kommunen Vorschriften mache. Der Leiter desRheinischen Archiv- und Museumsamtes, Dr. KurtSchmitz, verwies auf die Anfange der Archivberatungs-stellen, die zunachst bei den Staatsarchiven angesiedeltwaren, fachliche Grunde ließen jedoch eine Selbstandig-keit notwendig erscheinen. Diese, uber Jahre bewahrteEntwicklung wieder ruckgangig zu machen, ohne uber-zeugende Konzepte zu haben, gefahrde die nichtstaatli-che Archivpflege in Nordrhein-Westfalen in erheblichemMaße.

BEITRAGE

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

KatharinaTiemann: 51. Westfalischer Archivtag am 16. und 17. Marz 1999 in Olpe

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Nach der engagiert gefuhrten Diskussion verlas HerrMuller eine Resolution gegen die durch die drohendeAuflosung der Landschaftsverbande Gefahrdung dernichtstaatlichen Archivpflege in Nordrhein-Westfalen, dievom Plenum mit einer Gegenstimme angenommen wur-de und im Verlauf der Fachtagung von vielen Kollegin-nen und Kollegen unterschrieben wurde.

Nach der Verabschiedung der Resolution wurde zumvorgesehenen Programm ubergegangen, wenngleichdas Thema Verwaltungsstrukturreform wahrend der ge-samten Fachtagung in Einzelgesprachen weiter disku-tiert wurde. Den traditionell stattfindenden historischenEinfuhrungsvortrag hielt in diesem Jahr der Direktor desNordrhein-Westfalischen Staatsarchivs in Munster, Pro-fessor Dr. Wilfried Reininghaus zum Thema „Die Revolu-tion 1848/49 in Westfalen und Lippe“. Reininghausstellte die Konzeption der in Gemeinschaftsarbeit ent-standenen Ausstellung zum Thema vor, die in verschie-denen Orten in Westfalens gezeigt wird, erorterte dieQuellenlage und stellte die wichtigsten Forschungs-schwerpunkte vor.

Die erste Arbeitssitzung nach der Mittagspause, die vonDr. Horst Conrad, Westfalisches Archivamt, moderiertwurde, stellte schwerpunktmaßig archivische Quellenzur Umweltgeschichte in den Mittelpunkt. Dabei sollteexemplarisch gezeigt werden, was diese zu Umweltpro-blemen der Vergangenheit aussagen konnen und wel-chen Stellenwert sie fur die Gegenwart haben. Als ersterRedner referierte Dr. Bernward Selter, Forstliche Doku-mentationsstelle Arnsberg, uber das Thema „Zur Rele-vanz forstgeschichtlicher Quellen fur die Gegenwart“ amBeispiel von Quellen aus dem Sauerland. Es wurde u.a.deutlich, daß Forstgeschichte zu einem integrativen Be-standteil einer Reihe verschiedenster Fachdisziplinengeworden ist, wie etwa der Historischen Geographie, derGeschichtswissenschaft wie auch der Kulturwissen-schaften, die sich mit dem Wald aus der Perspektivewirtschafts-, sozial-, umwelt- und technikhistorischer undsoziokultureller Fragestellungen befassen. Herr UweRaabe von der Landesanstalt fur Okologie, Bodenord-nung und Forsten in Recklinghausen fuhrte die teilneh-menden Archivarinnen und Archivare mit seinem Thema„Aspekte der Geschichte der floristischen Forschung inWestfalen“ in weitgehend unbekanntes wie exotischesTerrain. Seine Ausfuhrungen waren auch mit dem Aufrufan die Teilnehmenden verbunden, ihn uber Quellen wieetwa alte Herbarien oder aber sonstige historische Quel-len zur Botanik in den verschiedensten Archiven zu infor-mieren, damit diese in die Forschung einbezogen wer-den konnen.

Nach der Kaffeepause befaßten sich zwei Referentenmit der Bedeutung kommunaler Archive bei der Er-mittlung von Altlasten. Andreas Gilsbach von derFirma MSP-GmbH Dortmund referierte aus der Sichteines Nutzers uber die „Bedeutung kommunaler Ar-chive bei der Erstellung eines Altlastenkasters“. Diearchivischen Quellen und Dienstleistungen einesKommunalarchivs in Sachen Altlastenrecherchestellte Hermann Josef Bausch vom Stadtarchiv Dort-mund mit seinem Beitrag „Archivische Informationenzu ’Altlasten’ einer Industriestadt. Das Beispiel Dort-mund.“ vor.

Am Abend empfing Burgermeister Muller die Teilnehme-rinnen und Teilnehmer des 51. Westfalischen Archivta-

ges. Bei einem reichhaltigen Abendessen auf Einladungder Stadt bestand genugend Moglichkeit, den begonne-nen Erfahrungsaustausch fortzusetzen.

Die zweite Arbeitssitzung am folgenden Tag befaßtesich, moderiert von Dr. Gunnar Teske, WestfalischesArchivamt, mit dem Generalthema „Uberlieferungsfor-men nichtsstaatlichen Schriftgutes“ mit der Zielrich-tung, auf die Bedeutung des Schriftgutes gesellschaft-licher Organisationen hinzuweisen, auf die Kommunal-archive keine unmittelbare Zugriffsmoglichkeit haben.Als erster Redner stellte Herr Nils Franke vom Archiv-forum und Museum zur Geschichte des Naturschutzesin Dusseldorf das Projekt „Stiftung Naturschutzge-schichte“ vor, indem er deren Sammelfelder zur Natur-und Umweltschutzgeschichte skizzierte. Dr. AlbertEßer vom Stadtarchiv Bergisch-Gladbach befaßte sichmit Vereinsuberlieferung: „Die kulturgeschichtliche Be-deutung von Vereinsarchiven. Das Beispiel des Ver-eins ’Liederkranz 1845 e.V.’ in Bergisch-Gladbach“.Neben einem kurzen Abriß zur Geschichte der Sanger-bewegung im 19. Jahrhundert, ging Eßer auf die Uber-nahme, den Inhalt sowie den Quellenwert des vorhan-denen Bestandes ein, Ergebnisse, die auch auf andereVereinsarchive Anwendung finden konnen. Nach derKaffeepause hielt Hans-Jurgen Hootmann vom West-falischen Archivamt ein Grundsatzreferat zur „Uberlie-ferung der Personalrate“, ein Thema, zu dem es bis-lang weder praktische Erfahrungen noch einschlagigeLiteratur gibt. Neben einem Abriß zur Geschichte derMitwirkung, stellte er die zu erwartenden Quellengrup-pen vor und bewertete sie hinsichtlich ihres Quellen-wertes. Fur die kommenden Monate plant Hootmann,sich aktiv um die Uberlieferung der Personalrate im Be-reich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zubemuhen. Mit der „Uberlieferung der Betriebsrate“ be-faßte sich Kornelia Rennert vom Archiv der Mannes-mann AG Dusseldorf. Sie stellte dar, daß die Uber-lieferungssituation von Betriebsratsquellen immernoch unbefriedigend ist, im Unterschied zur Uberliefe-rung der Personalrate allerdings muhen sich Kollegin-nen und Kollegen vor allem in den Wirtschaftsarchivenseit Jahren um diese Quellengruppe, da es sich hier-bei um eine außerst wichtige Uberlieferung insbeson-dere zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte handelt.So konnte mittels einer Umfrage im Jahr 1995 festge-stellt werden, daß 31 % der westdeutschen Wirt-schaftsarchive uber entsprechende Quellen verfugen,wenngleich auch zum Teil nur luckenhaft. Der letzteBeitrag befaßte sich mit „Schriftgut der Ratsfraktionenin Kommunalarchiven“. Gotz Bettge schilderte dabeiseine Erfahrungen, die er bislang mit der Schriftgut-ubernahme von Parteien im Stadtarchiv Iserlohn ge-macht hat.

Nach dem Mittagessen wurden aktuelle Fragen derArchivpflege erortert. U.a. wurden die anwesendenKolleginnen und Kollegen uber den neuen Ausbil-dungsberuf fur Medien und Informationsdienste in-formiert. Zum Schluß der Fachtagung fuhrte FrauMonika Loecken vom Museum „Wendener Hutte“ indie Geschichte des Industriedenkmals ein, daß an-schließend von einem Großteil der Teilnehmendenbesichtigt wurde.

Dr. Reimann beendete die Tagung mit einem herz-lichen Dank an alle Beteiligten, die zum Gelingen desArchivtages beigetragen haben.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

KatharinaTiemann: 51. Westfalischer Archivtag am 16. und 17. Marz 1999 in Olpe

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Zur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart

von Bernward Selter

1 Einleitung

„Was kummert es den, der Geld bedarf und in zehn Jah-ren zu verbrauchen gedenkt, wovon sein Urenkel nochzehren sollte“1, brachte Ernst Moritz Arndt 1820 eine ty-pisch menschliche Verhaltensweise auf den Punkt. Eswar eine Anspielung auf die Weigerung vieler Kleinwald-besitzer, die im Namen der rationellen Forstwirtschaftvon den Behorden verordneten Aufforstungen vorzuneh-men. Die Akzeptanz fur Aufwendungen, deren Fruchteerst spatere Generationen ernten konnten, war in derBevolkerung nicht sehr groß; ganz besonders in Zeiten,in denen die Landwirtschaft -so auch in Sudwestfalen - nochmassiv von der traditionellenWaldnutzung abhangig war.Der forstokonomische Wunschnach umfassenden Nadelholz-aufforstungen und der Redu-zierung landwirtschaftlicherForstnutzungen scheiterteauch in unserer Region nochbis Ende des 19. Jahrhundertsvielerorts an der soziookonomi-schen Wirklichkeit.

Ohne nun fur die eine oder an-dere Seite - sprich Land- oderForstwirtschaft - Stellung zubeziehen, bleibt festzuhalten:der Wald umreißt einen derzentralen Raume, in dem sichder zeitliche Wandel desmenschlichen Einflusses aufdie Natur sowie umgekehrt dieAuswirkungen der naturlichenGegebenheiten auf die Ge-schichte der Menschen vollzogund noch immer - wenn auch unter den Vorzeicheneines Waldfunktionswandels - vollzieht.

Wie wir wissen, sind die Produktionszeitraume in derForstwirtschaft außerordentlich lang. Zu Beginn des vor-igen Jahrhunderts hat man daher damit begonnen, denWaldbau uber eine derart große Zeitspanne planerischzu bewaltigen. Forstplaner und Historiker konnen daherauf einen reichen Fundus historisch wertvoller Unterla-gen zuruckgreifen, sofern letztere nicht - wie leider imVerlauf mehrerer Umorganisationen der Forstverwaltungschon geschehen - als Altpapier ein unruhmliches Endefinden.

2 Forstgeschichte und Umweltgeschichte: Bedeu-tung und Aufgaben

Wozu brauchen wir eine Forstgeschichte? Was kann siekonkret zur Losung aktueller Probleme beitragen? Be-kanntlich soll der wissenschaftliche Umgang mit Ge-schichte auch Orientierungswissen liefern, neue Einsich-ten und Erfahrungen befordern, zukunftiges Handelnmitbestimmen. Daß dies ganz besonders fur das Forst-wesen zutrifft, soll weiter unten anhand mehrerer Bei-

spiele verdeutlicht werden. Denn besonders in der Forst-wissenschaft ist - so der Forstwissenschaftler Karl Hasel- „das Bedurfnis nach Klarung der geschichtlichen Ur-sprunge und Zusammenhange besonders (...) ausge-pragt.“2 Die Forschungen auf diesem Gebiet erstreckensich mittlerweile soweit, daß selbst die asthetisch-emo-tionalen Wahrnehmungen von Wald und Natur zum Ge-genstand forstwissenschaftlicher Untersuchungen ge-worden sind. Gleich daran anknupfend sei daher ge-fragt: Ist immer das ursprungliche Natur, was wir als sol-ches in die Natur hineininterpretieren, an ihr schon fin-den?

Manchem schwebt beim Anblick solcher Baumexempla-re - Waldbilder, die uns auch heute mancherorts nochbegegnen - sicher ein romantisches Idealbild einer un-zerstorten Natur und weitgehend unberuhrten „Wildnis“vor. Doch sollten wir im Auge behalten, wie leicht unsunser subjektives Empfinden tauschen kann. Denn Bau-me dieser Art sind eher Zeugen dafur, wie sehr mensch-liche Eingriffe in die Vegetation auch deren Form veran-dert haben (im obigen Fall wahrscheinlich durch fruhereWaldweide und Brennholznutzung). Baume verkorpernein Stuck lebendig gebliebene Geschichte. Natur ist inunseren Breiten nahezu immer schon vom Menschenuberformte Natur - und das nicht erst seit der massen-haften Aufforstung des Sauerlandes mit der standort-fremden Fichte.

Abb. 1: Reste eines alten Hudewaldes (Arnsberger Wald, Aufnahme vor dem Krieg)3

1 Ernst Moritz Arndt: Ein Wort uber die Pflegung und Erhaltung der For-sten und der Bauern im Sinne einer hoheren d. h. menschlichen Gesetz-gebung. Schleswig 1820. In: ders.: Agrarpolitische Schriften, hg. von W.O. W. Terstegen. 2. Aufl., Goslar 1942, S. 323-423, hier S. 360.

2 Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß fur Studium und Praxis. Ham-burg und Berlin 1985, S. 14.

3 Vorlage aus Fritz Mielert: Das schone Westfalen. 4. Bd., Dortmund o. J.,S. 29.

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Bernward Selter: Zur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart

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Aber nicht nur die Beschreibung historischer Sachver-halte und die Uberprufung der Authentizitat der Quellenzahlen zu den Aufgaben des Forsthistorikers, sondernauch die Aufdeckung der Hintergrunde landschaftsge-schichtlicher Entwicklungen, der Interessen und Wahr-nehmungen der handelnden Menschen. Es geht um dieErforschung langfristiger Lebens- und Reproduktionsbe-dingungen im Handlungs- und Erfahrungsraum Wald;ferner darum, wie diese Prozesse kollektive Mentalitatenbeeinflußten bzw. durch letztere bestimmt wurden. DasOkosystem Wald findet ja nicht nur als Teil des biologi-schen Systems unser Interesse, sondern auch als Be-standteil sozialer Systeme. Mehr denn je fordern heutigegesellschaftliche Anspruche einen nachhaltigen Um-gang mit der Natur. Kenntnisse uber den Werdegangdes Okosystems Wald sind somit auch außerhalb derklassischen Forstwirtschaft erwunscht.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zunachst ei-nige Anmerkungen uber den wissenschaftlichen Standortder heutigen Forstgeschichtsforschung anfugen. GegenEnde der 1970er Jahre wurde in verschiedenen Fachdis-ziplinen auch die historische Dimension der Umweltver-anderung und -zerstorung „entdeckt“. Dies geschah frei-lich - in Abgrenzung zur traditionellen Forstgeschichte -aus einem technik- und umwelthistorischen Ansatz her-aus. Die Anpassung der vorindustriellen Gesellschaft andie Grenzen naturlicher Ressourcen (Stichwort „Holz-mangel“) wurde erforscht, Wahrnehmungen und Lo-sungsstrategien im Umgang mit Umweltschaden und be-grenzten Ressourcen sollten ergrundet werden.

Die mittlerweile interdisziplinar angelegte Diskussion istweiterhin im Gange. Insgesamt hat der Diskurs dazu ge-

fuhrt, daß sich erstens die Forstgeschichte nicht mehrnur als eine mehr oder weniger isolierte, nur der Forst-wirtschaft zugewandte Disziplin versteht, und zweitensdas Forschungsobjekt Wald mittlerweile zum integrati-ven Bestandteil einer Reihe von Fachdisziplinen gewor-den ist. Historische Geographie, Geschichtswissen-schaft oder auch die Kulturwissenschaften beschaftigensich mit dem Wald aus der Perspektive wirtschafts-, so-zial-, umwelt- und technikhistorischer sowie auch sozio-kultureller Fragestellungen.

Dieser Entwicklung wurde erfreulicherweise inzwischenauch auf organisatorischer Ebene Rechnung getragen.Im Sommer 1998 wurde eine nationale Arbeitsgemein-schaft „Forstgeschichte“ des Deutschen VerbandesForstlicher Forschungsanstalten (DVFFA) ins Leben ge-rufen, in der auch „Nicht-Forstleute“ aktiv vertreten sind.Daneben existiert auf internationaler Ebene eine SektionForstgeschichte in der International Union of Forest Re-search Organisations (IUFRO). Im universitaren Bereichwidmet man sich besonders an der Universitat Freiburgder forstgeschichtlichen Forschung. Der dortige Arbeits-bereich Forstgeschichte am Institut fur Forstpolitik plantfur die Zukunft ein „Europaisches Zentrum fur Forstge-schichtliche Informationen“.

3 Forstgeschichtliche Quellen und ihre Relevanzfur die Gegenwart

Wie viele von Ihnen wissen, sind Abgaben von Forst-akten an die Archive eine eher seltene Erscheinung.Einer der Grunde hierfur ist unbestreitbar der Einsatzalter Unterlagen im noch laufenden Dienstbetrieb. DerAussagefahigkeit des historischen Materials wird wie-

Abb. 2: Wirtschaftskarte vom Stadtwald Arnsberg aus dem Jahre 1880 (Bestand Forstliche Dokumentationsstelle)

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Bernward Selter: Zur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart

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der mehr Gewicht beigemessen. Forstakten und Be-triebswerke besitzen als umweltgeschichtliche Quelleneinen hohen Informationswert. Insbesondere dann,wenn dazugehorige Kartenwerke (Betriebskarten, Spe-zialkarten, Grenzkarten usw.) noch erhalten sind undden notigen Flachenbezug mit entsprechenden Anga-ben zur Lage der einzelnen Flachen, der Baumarten-verteilung sowie den verschiedenen Altersklassen her-stellen.

Tabellarische, kartographische und deskriptive Darstel-lungen zusammen versorgen uns mit zum Teil detail-lierten Angaben uber biotische und abiotische Ein-flusse auf den Wald. Ein wichtiges Kritierium dieserQuellen ist, daß sie meist periodisch verfaßt wurden.Die Forsteinrichtungswerke etwa alle 10 oder 20 Jahremit zwischengeschalteten sogenannten Taxationsrevi-sionen. Es ist daher moglich, in mehreren zeitlichenQuerschnitten die Bestandesgeschichte zusammen-hangender Waldgebiete zu rekonstruieren. Das Wis-sen uber die Vorgeschichte von Waldbestanden, dieLebensgeschichte der an einem Standort im Laufe derZeit stockenden Waldabteilungen ist von unschatzba-rem Wert fur die weitere Forst- und Landschaftspla-nung. Denn in Sudwestfalen hat in den letzten 200 Jah-ren ein massiver Holzartenwechsel vom Laubholz hinzum Nadelholz vielerorts das Gesicht der Landschaf-ten grundlegend verandert. Eine Entwicklung, die imStaatswald sogar noch moderater ablief als im Privat-wald.

Einen Hinweis auf die Anfange des Nadelholzanbauszeigt uns der folgende Ausschnitt aus dem Betriebswerkder Oberforsterei Obereimer (siehe Abb. 4, Seite 7).

Die recht umfangreichen Waldbeschreibungen sind einewertvolle Erganzung des vorhandenen Zahlenmaterials.Deskriptive Quellen wie etwa die zum obigen Betriebs-werk gehorende „Generelle Beschreibung der Oberfor-sterei Obereimer“ liefern weitere Informationen - wie hierz. B. uber die Motive des Fichtenanbaus -, aber auchEmpfehlungen fur die zukunftige Forstplanung:

„Was nun ferner die Fichte anbelangt, so ist dieselbe inden letzten 40 Jahren angebauet und namentlich aufden mit Heidekraut uberzogenen, verwilderten Sommer-seiten, den alten Ackerlandern und verraseten, einen let-tigen Boden habenden Viehweiden. (...)

Kunftighin sollen die Fichten nur zur Ausbesserung einigerverangerter Saamenschlage und uberhaupt nur als Ue-bergang zur Verbesserung des Bodens benutzt werden.“ 4

Wie man sieht, verliert man noch kein Wort uber diegroßflachige Einfuhrung von Fichtenmonokulturen; dassollte erst spater kommen. Bis in die 1860er Jahre legteman in unserer Region das Hauptaugenmerk auf denAnbau des Laubholzes.

Abb. 3: Holzartenwechsel im Staatswald des Forstamtes Arnsberg (1800-1997) (nach den Betriebswerken des Forstamtes Arnsberg)

4 Akten Forstamt Arnsberg.

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Bernward Selter: Zur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart

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Abb. 4: Ausschnitt aus dem Betriebswerk der Oberforsterei Obereimer von 1852 (transkribiert, Akten Forstamt Arnsberg)

Abb. 5: Ausschnitt aus der Beschreibung der Oberforsterei Rumbeck aus dem Jahre 1853 (mit Angaben zur Nachzucht derEiche; Akten Forstamt Arnsberg)

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Bernward Selter: Zur Relevanz forsthistorischer Quellen fur die Gegenwart

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Wie das folgende Beispiel zeigt, konnen Waldbeschreibun-gen zusatzliche Informationen uber die zeitgenossischenWaldnutzungen enthalten: im vorliegenden Fall sind es An-

gaben uber den Nutzholz- und Kohlholzbedarf der im Ein-zugsbereich liegenden Eisenindustrie. Auch finden sichwiederholt Auflistungen noch bestehender Forstservituten.

Als weitere Quellengruppe mochte ich die sogenann-ten Taxations-Notizenbucher, Revierchroniken oderHauptmerkbucher erwahnen. Sie waren in erster LinieOrientierungshilfen fur neu eingetretene Forstbeamteund erleichterten die Revisionsarbeiten. In ihnen fin-den wir uber einen Zeitraum von mehreren Jahrzehn-ten hinweg die besonderen Vorkommnisse auf allenGebieten des Forstwesens im jeweiligen Forstbezirkverzeichnet. So gibt es beispielsweise Eintragungenzur personellen Ausstattung des Forstamtes, Bemer-kungen uber besondere klimatische Ereignisse, Insek-tenschaden, den Ausfall der Mast, uber die Herkunftdes forstlichen Saatguts, die Nutzholzausbeute usw.Leider ist die Uberlieferung recht uneinheitlich; nichtzuletzt deshalb, weil der Umfang dieser Notizbuchernicht unwesentlich vom Schreibengagement des je-

weiligen Forstbeamten abhangig war. Erganzt wurdendiese Werke u. a. noch durch Kulturmerkbucher, dieexakt Buch fuhrten uber die vorgenommenen Kultu-ren.

Auch in der historischen Umweltforschung ist der Ein-satz solcher forstgeschichtlicher Quellen sinnvoll, wiedas unten folgende Beispiel der Auflistung von Buchen-mastjahren zeigt.

Der Begriff der Mast verdeutlicht wie kein anderer diefruhere Funktion der Nahrwalder, deren Kennzeichen Er-halt und Schutz der sogenannten fruchtbaren Baumewar. Aber mit dem „fruchtbaren Baum“ wurde nicht nurauf die mit der Mast verbundene Tiernahrung verwiesen,sondern gleichzeitig auf die Bedeutung dieser Baume fur

Abb. 6: Ausschnitt aus der Beschreibung der Oberforsterei Rumbeck aus dem Jahre 1853 (Akten Forstamt Arnsberg)

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die Verjungung der Waldbestande. Der Ausfall der Mastist - auch wenn ihre Einschatzung eher subjektiven Maß-staben unterlag - zudem ein Indikator fur die Wuchsver-haltnisse am jeweiligen Standort, fur den Einfluß klimati-scher Faktoren.

Sind Daten uber die Haufigkeit und den Umfang derMast in den Unterlagen uberliefert, so konnen sie ausge-wertet und kodiert eine Datenreihe ergeben:

Nun befinden wir uns im Sauerland in einer Region, inder sich im 19. Jahrhundert eine einschneidende Veran-derung der Waldvegetation vollzog. Sie ist das Ergebniseines Waldfunktionswandels, der mit der Durchsetzungeiner auf Nutzholzproduktion ausgerichteten Holzokono-mie traditionelle landwirtschaftliche und gewerblicheNutzungen aus den Waldern verdrangte. Auch hier imRaum Olpe stand man zu Beginn des letzten Jahrhun-derts an einem Wendepunkt. Angeblich die Halfte desWaldbodens - so wurde berichtet - sei von Holz volligentbloßt, der Rest noch zu gut einem Drittel mit Strauch-werk bewachsen.5 Selbst wenn die Beschreibungenuber angebliche Waldverwustungen kritisch hinterfragtwerden mussen, so waren Entwaldungen und damit ein-hergehende Bodendegradierungen ortlich doch so gra-vierend, daß sie bei den Zeitgenossen einen gewissenInnovationsdruck erzeugten. Durchgreifende Verande-rungen von Bestandsaufbau und Holzartenzusammen-setzung im Namen der neuen rationellen Forstwirtschaftwaren die Folge. Wie diese auch in der Fachliteraturstandig zitierten forstgeschichtlichen Entwicklungslinienallerdings im Detail abliefen und welche Motive tatsach-lich eine Umorientierung im Waldbau einleiteten, gilt esmittels der bislang erst sporadisch ausgewerteten Be-triebsunterlagen weiter zu uberprufen.

Forstgeschichtliche Quellen bieten also einen mehr oderweniger direkten Zugriff auf umweltrelevante Daten. Sieumreißen das Feld der klassischen forstgeschichtlichenForschung, getreu dem Motto: Forstgeschichte erklartGegenwartsphanomene - oder, auf die sauerlandischenVerhaltnisse ubertragen: woher kommen die vielen Fich-tenwalder?

Doch sollten unsere Untersuchungen noch weiter ge-hen. Das betrifft zum einen die Quellenkritik, zum ande-ren den indirekten Zugriff auf weitere in den Dokumentenverborgene Informationen.

Zur Quellenkritik mochte ich bemerken, daß auch forst-geschichtliche Unterlagen zunachst einmal nicht dasuberliefern, was sich tatsachlich zugetragen hat, son-dern das, was davon aufgezeichnet wurde. Auch ist ent-scheidend, wer die Aufzeichnungen anfertigte und zuwelchem Zweck sie verfaßt wurden. Im Hinblick auf diein der forstlichen Planung eingesetzten Nutzungs-, Pfle-ge- und Kulturmaßnahmen sollten beispielsweise diewechselnden Erhebungsmethoden in Betracht gezogenwerden. Daneben tauchen in den Planen eine Reiheschriftlich fixierter Vorhaben auf, die moglicherweise nie-mals in die Tat umgesetzt wurden.

Bei der Auswertung normativer Quellen - wie etwa denForstordnungen - mussen wir von vornherein eine Luk-ke zwischen Anspruch und Wirklichkeit einkalkulieren.Viele der in ihnen festgehaltenen Erwartungen und Be-stimmungen waren eben noch nicht erfullt; sonst hatteman sie nicht so haufig wiederholen mussen.

Forstgeschichte ist auch Geschichte der Nutzung desWaldes, und zwar unter besonderer Berucksichtigungagrarstruktureller Zwange, sozialer Interessen und Ver-teilungskonflikte und technisch-energetischer Probleme.Dabei ist es nicht immer leicht, zwischen der Identifika-tion forstpolitischer bzw. forstwirtschaftlicher Maßnah-men mit den Interessen sozialer Gruppen und dem wald-baulichen Inhalt der benutzten Quellen den Spuren hi-storischer Waldnutzungen zu folgen.

Auch bringt es der sehr heterogene Quellenbestand mitsich, daß in den verschiedenen Unterlagen viele Varia-blen verstreut und oft isoliert auftauchen und daher nurein indirekter Zugang zu den relevanten Informationenmoglich ist. Haufig muß „gegen den Strich“ gelesen wer-den, mussen neue Fragestellungen an bereits bekannteQuellen gerichtet, Kenngroßen zur Beschreibung histori-scher Forstnutzungen definiert werden. So steht z. B.nirgendwo geschrieben, wie groß die Weidebelastungeines bestimmten Waldes tatsachlich war. Nicht zu uber-horen bzw. zu uberlesen sind dagegen die Klagen derzeitgenossischen Forster uber diese angeblich soschadliche Forstnebennutzung. Welche Auswirkungenhatte die Waldweide nun tatsachlich auf die Bodenvege-tation? Wie dringend bestand ein Handlungsbedarf, dasVieh moglichst zugig aus dem Wald zu verbannen? UmAnworten auf diese und ahnliche Fragen zu bekommen,gilt es Großen zu rekonstruieren, wie z. B. die Weidefla-che im Wald, die Weideergiebigkeit der zur Verfugungstehenden Flachen, den Futter- und Weidebedarf derTiere, den Umfang moglicher Waldschaden usw.

Neben der sozial-, wirtschafts- und umwelthistorischenErforschung fruherer Waldbehandlungen wird das For-schungsinteresse des Forst- und Umwelthistorikers vonder schon angeklungenen Relevanz historischer Er-kenntnisse fur die Gegenwart geleitet. ForsthistorischeQuellen stellen wertvolle Informationen sowohl fur denlaufenden Forstwirtschaftsbetrieb als auch fur den Na-turschutz und die Landschaftsplanung bereit. Informatio-nen z. B. uber die Anlage und Pflege noch existierenderWaldbestande sind fur die zukunftige waldbauliche Be-handlung eine wertvolle Hilfe. Daneben ist es wichtig zuerfahren, welchen Einfluß menschliche Tatigkeiten aufdie Waldgestaltung und damit auf die Entwicklung derKulturlandschaft genommen haben.

Dazu ein Beispiel aus dem waldbaulichen Bereich. In derNahe Arnsbergs unweit des Dorfes Wennigloh befindetsich im heutigen Forstbetriebsbezirk Stemel ein außeror-dentlich wuchsiger Douglasienbestand. Zuerst kamdiese Nadelholzart 1827 aus dem westlichen Nordameri-ka nach Europa und stand vereinzelt in Parkanlagen. ImRheinland und in Westfalen tauchen sie dort Mitte des19. Jahrhunderts auf. Nachdem man die Wuchsfreudig-keit der Baume erkannt hatte, begann man damit, derar-tige „Exoten“ gezielt im Gelande anzubauen. Der Steme-ler Douglasienbestand wurde im Rahmen der preußi-schen Versuchsanbauten der 1880er Jahre, an denenauch die damalige Oberforsterei Obereimer beteiligt war,angelegt. Die Baume stehen in einem hervorragendenBestand und sind mit die schonsten Exemplare im Land.Sie weisen ein Alter von ca. 115 Jahren auf und sind biszu 55 Meter hoch. Ihr Samen stammt aus den Nordwest-

5 So u. a. in einem Bericht aus dem Jahre 1808. In: StA MS, Grhzm. Hes-sen IV Q, Nr. 3.

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Abb. 7: Ausschnitt aus dem „Speciellen Theil des Taxations-Notizenbuchs“ der Oberforsterei Obereimer (beginnend mit demWirtschaftsjahr 1876, Akten Forstamt Arnsberg)

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staaten der USA. Fur den zukunftigen Waldbau und dieSaatgutgewinnung sind Erkenntnisse uber die bisherigeBehandlung derartiger Bestande von großem Nutzen.

Angaben hierzu finden wir beispielsweise in den ent-sprechenden Merk- und Kulturmerkbuchern, wie die fol-genden Beispiele dokumentieren.

Abb. 8: Nachweis fruher Douglasienkulturen im Bereich des Forstamtes Arnsberg (Quelle: „Specieller Theil des Taxations-Notizenbuchs“ der Oberforsterei Obereimer, beginnend mit dem Wirtschaftsjahr 1876“, Akten Forstamt Arnsberg)

➞ 1881

„Der in den Bemerkungen uber Hauungen und Cultu-ren der speciellen Beschreibung pp. mehrfach ertheil-ten Anordnung, Eichen mit Fichten im Gemisch aufNeuculturflachen anzubauen, wird durchweg nicht zuentsprechen sein, indem in der Oberforsterei Obere-imer ganz besonders zahlreiche Belege vorliegen, wieunzweckmaßig diese Holzartenmischung ist. DieFichte, besonders schnellwuchsig hierorts, uber-wachst unter allen Umstanden die Eiche, so daß, wur-de sie von neuem in diesen Mischculturen eingefuhrt,nachdem zahlreiche Beispiele inzwischen aufzufuhrensind, daß durch verspateten Fichtenaushieb die Ei-chen vergangen sind, uber kurz die Fichten wieder zuentfernen sein wurden, sollen die Eichen gerettet wer-den. Referent neigt sich der Ansicht zu, an Stelle derFichte in dieser Mischcultur die Kiefer einzufuhren,wenn ein Nadelholz das Zwischenholz zu bilden hat.Es ist ins Auge gefaßt, an einzelnen Oertlichkeiten (...)der Eiche fremde Nadelholzer - Douglas Fichte - bei-zugesellen.“ (S. 74)

➞ 1885

„ (...) Die 3 Jahre lang ausgefuhrten Saaten der Hik-kory-Nuß auf tiefgrundigem Kalkboden Block IV kon-nen nicht anders, als befriedigend angesprochen wer-den. Nachdem die Pflanzen im ersten und 2ten Jahre

im Wuchse zuruckhalten, entwickeln sie sich - Som-mer 1885 - ungeachtet sie 2 mal durch Frost den Mai-trieb verloren hatten, mit besonders kraftiger Laubent-wicklung.Nicht gleiches ist zu erwahnen hinsichtlich der Dou-glas-Tanne. Es ist sehr fragwurdig, diese Holzart hie-rorts umfangreich anzubauen. Mehrjahrig ist beobach-tet, daß die Kamppflanze schon leidet. 2-, 3-jahrig blei-chen die Nadeln nach vorangegangenem weichen Ja-nuarwetter durch Februar- und Maerzfroste, fallenschutterartig ab, und geben der Pflanze ein leidendesAussehen. Hoch empfindlich gegen das geringste Ver-sehen bei dem Transport vom Kampe nach der Pflanz-stelle leidet die Douglas-Tanne durch Maifroste, Wild-verbiß, Grasuberlagerungen, so daß starker Abgangstattfindet. Froste haben 1885 an 40 % der gepflanz-ten Douglas-Tanne getodtet. Rothwild zehrt die Pflan-ze bis auf den Wurzelknoten auf. Grasuberlagerungtodtet sie. Allein diesen Widerwartigkeiten undSchwierigkeiten zu begegnen, zu denen auch nochRusselkaferfraß hinzukommt, erfordert Kosten, die mitden dereinstigen Erfolgen der inlandischen Fichte ge-genuber nicht im Einklange stehen mochten.“ (S. 244)

Anmerkungen zum Douglasienanbau in der Oberforsterei Ober-eimer (transkribierter Ausschnitt aus dem Hauptmerkbuch der Ober-forsterei Obereimer, beginnend mit dem Jahre 1858, Akten ForstamtArnsberg)

Weitere Einsatzgebiete fur forst- und umwelthistorischeForschungen sind Naturschutz und Landschaftsplanung.Um Naturschutzanliegen durchzusetzen, braucht man dieAkzeptanz der Bevolkerung. Dabei spielt die asthetisch-

emotionale Ausrichtung des Umweltbewußtseins einezentrale Rolle. Wie wurde und wird der Wandel der Kultur-landschaft wahrgenommen? Wie stellen wir uns heuteeine „naturliche“ Landschaft, einen naturnahen Wald vor?

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Abb. 9: Fragebogen zur Naturdenkmalpflege samt Beschreibung des auf der folgenden Seite abgebildeten Baumes (1910, Bestand Forstliche Dokumentationsstelle)

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In diesem Zusammenhang sollte nicht nur versucht wer-den, die fruheren Stadien unserer heutigen Kulturland-schaft zu rekonstruieren, sondern parallel dazu den hi-storischen Natur- und Umweltbegriff der Bevolkerungnachzuspuren. Die Veranderungen unserer landschaftli-chen Umgebung laufen extrem langsam ab, dement-sprechend schleppend finden sie Beachtung durch denMenschen; nur allmahlich, mit großer zeitlicher Verzoge-rung, losen sie angemessene Reaktionen aus. Alte ver-innerlichte Natur- und Wald-Leitbilder wirken lange nachund pragen auch unser heutiges Umweltbewußtseinnachhaltig.

Naturlich haben wir es hier mit einem Forschungsfeld zutun, wo sich Belege aus dem Quellenmaterial nur muh-sam rekonstruieren lassen. Und selbst wenn das Ausse-hen der Natur fruher einmal thematisiert wurde - etwa imZusammenhang mit den angeblichen Waldverwustun-gen durch das vorindustrielle Gewerbe -, spiegeln vieleUnterlagen doch eher den Standpunkt ihrer behordli-chen Verfasser wider und nur selten die Sicht der Betrof-fenen vor Ort. Das betraf auch den noch in den Kinder-schuhen steckenden Naturschutz. Dazu ein letztes Bei-spiel (vgl. Abb. 9, Seite 11).

Wahrend sich z. B. die offizielle Naturdenkmalpflege ei-nem eher musealen, konservierenden Schutzgedankenhingab und Einzelobjekte, „Naturdenkwurdigkeiten“ furdie Nachwelt zu retten suchte, sahen die betroffenenBauern den Wald, der damals noch Wirtschaftsraumwar, naturlich anders. Sie interessierte weniger die Land-schaftsasthetik, als vielmehr die konkrete Gefahrdungder eigenen Existenz. Nicht etwa die Schonheit alterBaumriesen im intensiv genutzten Hudewald stand beieiner Nadelholzaufforstung auf dem Spiel, sondern dieBedeutung dieser alten Eichen und Buchen fur die Vieh-haltung der bauerlichen Wirtschaft.

Ob der Wandel in der Waldbewirtschaftung eine Re-aktion auf eine sich abzeichnende okologische und eineVersorgungskrise war, und inwieweit mogliche (auchnegative) Veranderungen der umgebenden Natur vonder Bevolkerung wahrgenommen wurden, ist bislangerst wenig erforscht.

4 Schlußbemerkungen

Ich komme hiermit zum Schluß und hoffe, daß ich Ihneneinen kleinen Einblick in die aktuelle Bedeutung derForstgeschichte geben konnte.

Forstgeschichte ist nicht nur dieBeschreibung der Geschichtedes Waldbaus und der Forst-ordnungen, sondern wesentlichmehr. Es wurde anhand einigerBeispiele gezeigt, daß eine Viel-zahl zum Teil noch unerschlosse-ner Quellen existiert, deren Aus-wertung sowohl forst- als auchumweltgeschichtliche Forschun-gen weiterfuhren werden. Da-neben haben diese Unterlagenbei der Unterstutzung aktuellerForst- und Landschaftsplanun-gen sowie bei der Losung gegen-wartiger Umweltprobleme einenicht zu unterschatzende Bedeu-tung.

Fur die Arbeit all derjenigen, diesich mit der Umwelt- und Forst-geschichte befassen, wunscheich mir daher, daß das Prinzip derforstlichen Nachhaltigkeit nichtnur draußen im Wald, sondernauch im Umgang mit den uber-lieferten Quellen weiterhin Be-achtung finden wird.

Abb. 10: Die „Dicke Eiche“ in Niedereimer (1904)6

6 Aus: E. Schliekmann (Bearb.): Westfalensbemerkenswerte Baume. Ein Nachweishervorragender Baume und Waldbestandenebst Darstellung der Standortsverhalt-nisse. Bielefeld 1904, S. 10.

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Die Bedeutung kommunaler Archive bei der Erstellungeines Altlastenkatasters

von Andreas Gilsbach

Einfuhrung

Altlasten entstanden wahrend der letzten 150 Jahre imZuge der Industrialisierung. Damals wußte man nur we-nig oder gar nichts uber das Verhalten chemischer Ver-bindungen in der Umwelt und deren Auswirkungen aufdie menschliche Gesundheit. Oftmals sorglos wurdenumweltgefahrdende und / oder gesundheitsschadlicheStoffe in großen Mengen gelagert, ohne besondereSchutzvorkehrungen verarbeitet und Produktionsruck-stande, Verarbeitungsreste und sonstiger Mull einfachauf Halden verbracht, in Kiesgruben abgekippt oder inGewasser geleitet.

Heutzutage existiert ein großeres Wissen uber die Stoffeund deren Wechselwirkungen in der Umwelt, die techni-schen Schutzvorrichtungen wurden verbessert und beimUmgang mit solchen Stoffen herrscht eine großere Vorsicht.Dazu wurden umfassendere Umweltgesetze erlassen,deren Vollzug sich konsequenter und effektiver gestaltet.

Aber auch heute wird noch immer mit gefahrlichen undwassergefahrdenden Stoffen umgegangen. Sie werdengelagert, verwendet, transportiert und mussen als Pro-duktionsreste entsorgt werden. Neben großeren „Unfal-len“ mit diesen Stoffen ist in Einzelfallen auch eine„Schlamperei“ nie auszuschließen. Dieses verdeutlicht,daß immer ein „Restrisiko“ beim Umgang mit Chemika-lien fur die Umwelt bleibt.

Neben der Vorsorge – die technische Weiterentwicklungund Kontrolle von Betrieben – gilt es, die Auswirkungender bereits verursachten Schaden durch stillgelegte An-lagen (= Altstandorte) und nicht mehr genutzte Abfallhal-den (= Altablagerungen) zu reduzieren. Diese „altenSchadstoffherde“ konnen auch heute noch eine Gefahrfur die dort lebenden Menschen darstellen. Ebenso ver-unreinigen sie moglicherweise das Grundwasser und be-eintrachtigen die naturliche Funktion des Bodens.

Gemaß § 29 des Landesabfallgesetzes Nordrhein-West-falen (LabfG NW) fuhren die unteren Abfallwirtschaftsbe-horden der Kreise und kreisfreien Stadte Erhebungenuber Altablagerungen und Altstandorte durch. Wie dieseErhebungen durchzufuhren sind, ist im Gesetz nicht de-tailliert erlautert. In der Praxis hat sich aber herausge-stellt, daß eine moglichst breit angelegte, umfassende,systematische und flachendeckende Recherche auf denverschiedensten Informationsebenen und die Zusam-menfuhrung der Ergebnisse in einem EDV-gestutztenKataster erhebliche Vorteile aufweist:– es schafft mehr Planungs- und Rechtssicherheit fur

Burger und politische Entscheidungstrager und ganzbesonders fur die Verwaltung in den unterschiedlich-sten Interessenbereichen, wie z.B. bei Bauleitplanun-gen, Baugenehmigungen, beim Grundstucksverkehrund bei anderen Auskunften;

– durch die exakte Abgrenzung der Altablagerungenund Altstandorte lassen sich die Kosten fur eine ggf.spater durchzufuhrende Gefahrdungsabschatzung imRegelfall drastisch reduzieren;

– der verbesserte Informationsstand zu jeder Ver-dachtsflache fuhrt zu einer deutlichen Zeitersparnisfur die Sachbearbeitung im jeweiligen Einzelfall;

– Durch eine Vereinheitlichung des Datenbestandes zujeder Altlast-Verdachtsflache wird die Altlastenbear-beitung fur die Mitarbeiter der Umweltbehorde trans-parenter; dadurch erhoht sich die Akzeptanz der Ver-waltungsarbeit bei den politischen Gremien und beiden Burgern;

– ein komplettes Kataster, das Planungen und derenRealisierung beschleunigt und effizientes Verwal-tungshandeln ermoglicht, erleichtert Investitionen unddient damit mittelfristig der Verbesserung der wirt-schaftlichen Situation.

Vor dem Hintergrund dieser Vorteile hat die Kreisverwal-tung Neuss als erster Kreis in Nordrhein-Westfalen ent-schieden, eine systematische, flachendeckende Erfas-sung von Altstandorten und Altablagerungen durchfuh-ren zu lassen. Mit der Durchfuhrung dieser Arbeiten wur-de die MSP – Dr. Mark, Dr. Schewe & Partner GmbH ausDortmund Mitte 1997 beauftragt. Die Arbeiten wurdenAnfang 1999 abgeschlossen.

In den nachfolgenden Abschnitten wird aufgezeigt, wel-che unterschiedlichen Informationsquellen im Verlauf derRecherchen ausgewertet wurden. Dabei wird vor allemauf die Bedeutung kommunaler Archive als „Basisquel-le“ eingegangen. Insgesamt wurden 12 Kommunalarchi-ve mit in die Recherche einbezogen, deren Bestandegerade bei der Erfassung der Altstandorte (= stillgelegtealtlastrelevante Betriebe) eine unverzichtbare Quelledarstellten, die in den unterschiedliche Projektphasenimmer wieder genutzt wurde, so daß insgesamt rund1.500 Altstandorte fur das Neusser Kreisgebiet lokali-siert werden konnten. Dieser „Praxisbericht“ aus der Ar-beit eines Ingenieurburos verdeutlicht, welche „Umwelt-relevanz“ zum Teil 150 Jahre alte Archivdokumente auchheute noch besitzen.

Vorstudie

Das Vorhaben einer flachendeckenden Erfassung vonAltstandorten und Altablagerungen stellt immer eine au-ßerst komplexe und vielschichtige Aufgabe dar, so daßder dazu erforderliche Arbeitsaufwand auf Anhieb kaumzuverlassig einzuschatzen ist. Die Grunde hierfur liegen- gerade bei einem Kreisgebiet - in der Vielzahl der inden Recherchen zu berucksichtigenden Informations-quellen sowie dem unterschiedlichen Umfang bzw. Infor-mationsgehalt. Wenn also der finanzielle Aufwand fur dieDurchfuhrung der Untersuchung und die Qualitat der Er-gebnisse in einem proportionalen Verhaltnis stehen sol-len, mussen die anzuwendenden Methoden der Informa-tionsgewinnung, namlich die– Archivrecherche und Schriftgutauswertung sowie– die multitemporale Kartierung, d.h. die auf verschiede-

nen Zeitebenen erfolgende Auswertung von Kartenund Luftbildern,

in strenger Abfolge miteinander kombiniert werden. DenVerfahrensablauf verdeutlicht Abb. 1.

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Im Sinne einer moglichst okonomischen Vorgehenswei-se empfahl es sich daher, das fur das Kreisgebiet Neussrelevante Quellenmaterial vor der eigentlichen Erfas-sung der Altstandorte und Altablagerungen durch eineVorrecherche zu ermitteln. Alle im Rahmen dieser Vorre-cherche durchzufuhrenden Arbeiten dienten dem Ziel,Art und Umfang derverfugbaren und zurErfassung der Alt-standorte und Altabla-gerungen heranzuzie-henden Quellen exaktzu bestimmen und soden Zeit- und Kosten-aufwand der spaterenHauptstudie zu prazi-sieren.

Dementsprechend lie-ferte die Vorstudie imErgebnis eine Uber-sicht uber die relevan-ten Archive und die zuanalysierenden Infor-mationstrager (Archi-valien, Luftbildaufnah-men und Karten).Diese Ubersichten so-wie die zusatzlich ge-wonnenen Informatio-nen aus Gesprachenmit Archivaren undSachbearbeitern wur-den vor dem Hinter-grund der Erfahrungenaus anderen Projekten

analysiert und mit Blick auf die anschließende Hauptun-tersuchung bewertet.

Die nachfolgende Ubersicht zeigt die Ergebnisse derVorrecherche zur flachendeckenden Erfassung von Alt-ablagerungen und Altstandorten des Kreises Neuss.

Abb. 1: Ubersicht uber den Projektverlauf

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Auf Grundlage der Quellentypen und der zugeordnetenZeitabdeckungen und nicht zuletzt auch der praktischenErfahrungen des Auftragnehmers wurden Empfehlungenformuliert, welche der verfugbaren Quellen unbedingt indie Recherche einbezogen werden sollten und welchenur bei offensichtlichen Informationsdefiziten zu beruck-sichtigen waren.

In Abstimmung mit dem Amt fur Umweltschutz des Krei-ses Neuss wurde dann ein Ablaufschema sowie ein dif-ferenziertes Leistungsverzeichnis fur die Hauptuntersu-chung erarbeitet.

Hauptstudie

Insgesamt gliederte sich das Projekt in eine Vielzahlvon Einzelschritten. Die nachfolgenden Ausfuhrungenbeschranken sich aber nur auf solche Schritte, beidenen kommunalen Archiven eine wesentliche Bedeu-tung zukam. Dies traf vor allem fur die flachendecken-de Erfassung der Altstandorte zu. Abb. 2 verdeut-licht die unterschiedlichen Ebenen der Schriftgut-recherche.

Abb. 2: Ebenen der Schriftgutrecherche

Die erste Phase diente der Vorbereitung einer systema-tischen Erfassung von Altstandorten ab 1850; sie um-faßte im einzelnen folgende Arbeitsschritte:

Mit Schritt 3 war also erstmals eine Sichtung kommuna-ler Archivbestande erforderlich. Fur die zielgerichteteund umfassende Ermittlung von Altstandorten mußte einUberblick uber die historische Entwicklung des Wirt-schaftsraumes erarbeitet werden. Hierzu stand umfang-reiches Material in den Stadt- bzw. Gemeindearchivensowie im Kreisarchiv zur Verfugung.

Die Aufbereitung der gewonnenen Daten erfolgte u.a. ineiner Datenbank stadt-/gemeindebezogener Daten.Diese enthielt neben statistischen Angaben bereits erste

Einzelbetriebe – teilweise mit detaillierten Informationenzur Nutzungsgeschichte -, so daß ein nahtloser Uber-gang in die nachste Arbeitsphase moglich war.

Mit dem Ziel einer moglichst luckenlosen Erfassung vonAltstandorten wurden in dieser zweiten Untersu-chungsphase zunachst Quellen ausgewertet, die fla-chendeckend uber lange Zeitraume hinweg Informatio-nen zu heute nicht mehr existierenden Gewerbe- und In-dustriebetrieben liefern. Es handelte sich dabei um dienachgenannten Quellen:

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Die Erfassung von Altstandorten durch Auswertung vonAdreßbuchern, Gewerbeverzeichnissen, Gewerbekartei-en und Akten zu Gewerbeabmeldungen sowie Auswer-tung des Datenbestandes der KDVZ (= KommunalesDatenverarbeitungszentrum) war sehr ergiebig. Als Er-gebnis der Phase stand eine Datenbank zur Verfugung,die ca. 20.000 Eintrage enthielt. Der Grund fur diese ho-he Zahl ist in der guten Quellenlage sowie in der breitangelegten Erfassung zu sehen.

Diese „Ur-Datensammlung“ enthielt noch eine Vielzahl– von Mehrfacherfassungen (aus verschiedenen Quellen);

– von Standorten, die heute noch in gleicher Weise ge-nutzt werden und damit per Definition keine Altstand-orte darstellen;

– von Standorten, die zunachst aufgrund einer „ver-dachtigen“ Bezeichnung aufgenommen wurden, beidenen sich der Verdacht aufgrund weiterer Recher-chen aber nicht bestatigt hat.

Erwartungsgemaß war daher ein umfassender Datenab-gleich erforderlich, der in der nachfolgenden drittenPhase erfolgte:

Die Auswertung der Konzessionsakten erbrachte:– neue Standorte, so z.B. altere Tankstellen und Be-

triebszapfstellen;– wichtige Zusatzinformationen insbesondere uber die

alteren Standorte;

– Hilfen fur die Lokalisierung alterer Standorte; hier sindzum Beispiel die Konzessionsakten fur Dampfkessel-anlagen hervorzuheben, die i.d.R. Lageplane enthiel-ten.

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Die Ergebnisse wurden in die bestehende Datenbankeingearbeitet. Art und Umfang der gesichteten und aus-gewerteten Aktenbestande wurden in einem FindbuchAkten und Schriftgut dokumentiert.

Der Prozeß der Lokalisierung und des Datenabgleicheserwies sich insgesamt wesentlich aufwendiger und kom-plexer als erwartet. Als Grunde hierfur sind insbesonde-re anzufuhren:– sehr luckenhafte Informationen uber Straßennamens-

anderungen; ganzlich fehlende Informationen uberHausnummernanderungen;

– mit wenigen Ausnahmen fehlten brauchbare histori-sche Stadtplane;

– die Auswertung aller Akten und des sonstigen zur Ver-fugung stehenden Schriftgutes erbrachte eine Flut vonEinzelinformationen, von denen ein großer Teil fur sichgenommen keine Moglichkeit der Lokalisierung zuließ,da kein Bezug zu heutigen Adressen herstellbar bzw.kein eindeutig lokalisierbarer Standort zuzuordnenwar;

– eine großere Zahl von Datensatzen enthielt Hausnum-mern, die heute nicht mehr existieren bzw. bei denendie Lokalisation der Adresse zu einem Wohngebaudeoder einem Gebaude fuhrt, das zum Zeitpunkt der alt-lastrelevanten Nutzung nicht existierte; aufwendigeUberprufungen anhand alterer DGK 5 und in Einzelfal-len auch alterer Stadtplane ermoglichten in einer Rei-he von Fallen Aufklarung.

Mit Abschluß dieser dritten Phase stand dennoch einebereinigte Datenbank zur Verfugung. Die Erfassungder Altstandorte lieferte – wie beschrieben – rein quanti-tativ sehr gute Ergebnisse. Die Uberfuhrung der Daten inein endgultiges Kataster und insbesondere die zweifels-freie Lokalisierung der Standorte konnte auch nach um-fassenden Abgleichen aber nicht als abgeschlossen an-gesehen werden. Es war im weiteren erforderlich, dieseProblemfalle zu losen. Die standortbezogenen Ergan-zungsrecherchen der vierten Phase zielten somit vor

allem auf eine Plausibilitatsuberprufung und Absiche-rung der Lokalisierung.

Vor einer endgultigen Aufnahme in das Kataster warendie Gewerbemeldungen mehrfach kritisch zu uberpru-fen, da die genutzten Quellen (Gewerbekartei, Adreßbu-cher, Konzessionsakten) Wirtschaftsbetriebe teilweiseunter anderen Gesichtspunkten erfassen und im Einzel-fall Wirtschaftszweigen zuordnen, als es im Hinblick aufdie Erstellung eines Altstandortkatasters wunschenswertist.

Eine großere Zahl von Datensatzen wurde in einem er-sten Teilschritt als in keinem Fall lokalisierbar bzw. zuzu-ordnen aus der weiteren Bearbeitung ausgeschlossen.Es handelte sich hierbei um unvollstandige Gewerbe-meldungen, in der Mehrzahl ohne vollstandige Adreßan-gabe. Nach Ausschluß dieser Datensatze bestand wei-terer Entscheidungsbedarf in folgenden Fallen:– Gewerbemeldungen, die Wohnhausern zuzuordnen

waren und– Gewerbemeldungen, bei denen trotz vollstandiger

Adresse keine eindeutige Lokalisierung bzw. Zuord-nung moglich war oder Zweifel hinsichtlich der Altla-stenrelevanz bestanden.

Ziel der nachfolgend beschriebenen Arbeitsschritte war– die vertiefende Plausibilitatsprufung und Vorbewer-

tung: Uberprufung der Plausibilitat einer/der altlastre-levanten Nutzung; Kennzeichnung und Ausscheidungder Gewerbemeldungen, die begrundete Zweifel hin-sichtlich ihrer Altlastrelevanz entstehen lassen,

– die Absicherung, Korrektur bzw. Konkretisierung derLokalisierung und Abgrenzung,

– die Ermittlung von Zusatzinformationen zur Standort-geschichte (Angaben zur Errichtung bzw. zum Abrißvon Gebauden; Lageplane; Kriegseinwirkungen).

Die Uberprufung erfolgte anhand dreier hintereinandergeschalteter Filter.

Die Auswertung der Bauakten konzentrierte sich auf dieFalle,

– deren Lokalisation unsicher/fraglich war (ggf. Wohn-sitz des Firmeninhabers),

– deren Abgrenzung als unsicher eingestuft wurde,– fur die Unsicherheiten aufgrund unklarer Straßenum-

benennungen bzw. vermuteter Hausnummernande-rungen bestanden und

– deren Bestandsdauer unklar war.

Entsprechend einer Vorausschatzung handelte es sichdabei um maximal ca. 900 Standorte und damit Bauak-tenauswertungen.

Im Rahmen eines Tests wurden insges. 80 Bauakten inMeerbusch und in Grevenbroich ausgewertet. In insges.40% der Falle erbrachte die Bauaktenauswertung gute Er-gebnisse, die zur Absicherung bzw. Korrektur der Abgren-zung fuhrten. In weiteren 10% der Falle waren den Bau-akten Zusatzinformationen zum Standort zu entnehmen.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Andreas Gilsbach: Die Bedeutung kommunaler Archive bei der Erstellung eines Altlastenkatasters

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Die Quellenlage und Erschließung im Bereich der Bau-akten erwies sich dennoch als sehr unterschiedlich, wasauch die nachstehende Ubersicht verdeutlicht; zum ei-

nen, was die generelle Verfugbarkeit anbelangt, zum an-deren hinsichtlich der Sortierung und damit der Auffind-barkeit.

Die Tabelle macht deutlich, daß hinsichtlich der Ergiebig-keit der Recherchen die Stadte Grevenbroich und Kor-schenbroich sowie die Gemeinde Rommerskirchen ne-gativ herausfallen. Dennoch hat sich der Arbeitsschrittinsgesamt bewahrt und zu einer Absicherung und Er-ganzung der Datenbasis gefuhrt.

Ergebnisaufbereitung

Die Ergebnisse der Erfassung wurden – wie bereitsmehrfach erwahnt – in Datenbanken (ACCESS) aufbe-reitet, deren Feldstruktur dem in der Ausschreibung vor-

gegebenen Dossier entspricht. Es wurde ein nutzer-freundliches Bedienmenu programmiert, das es ermog-licht, gezielt nach Standortkennungen, Straßen oderDGK-Blattern zu suchen und sich die entsprechendenDossiers anzeigen zu lassen. Die in den Dossiers abge-legten Informationen sind jeweils mit Quellenkennziffernversehen, die somit den Ruckschluß auf den zugrundeliegenden Informationstrager ermoglichen. Hierdurchwird eine großtmogliche Transparenz – zum Beispiel beispater ggf. durchzufuhrenden Untersuchungen – ge-wahrt.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Andreas Gilsbach: Die Bedeutung kommunaler Archive bei der Erstellung eines Altlastenkatasters

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Informationen zu Altlasten in einem Stadtarchiv:Das Beispiel Dortmund

von Hermann J. Bausch

Altlasten einer Industriestadt:vergessene oder verdrangte Industriegeschichte?

Dem Vortrag vorangestellt ist eine Themenkarte desstadtischen Umweltamtes, die die Bedeutung des The-mas Altlasten fur eine Industriestadt wie Dortmund ein-drucksvoll illustriert1. Die hinterlegten Flachen im Stadt-gebiet kennzeichnen die Verdachtsflachen der Altlasten,wobei die großten Flachenanteile auf die aktuellen undhistorischen Standorte der Schwerindustrie und desBergbaus fallen. Weiterhin uberspannt ein Netz vonSymbolen fur die Verdachtsflachen in Form von Abgra-bungen, Verfullungen, Altablagerungen und Schuttun-gen sowie Altstandorten der Industrie das dargestellteStadtgebiet. Bislang wurden in Dortmund nahezu 2 000Altstandorte und Altablagerungen erfaßt. Die Verdachts-flachen machen insgesamt ca. 1/7 der Stadtflache ausund sollen - soweit moglich - einer neuen Nutzung zuge-fuhrt bzw. so gesichert werden, daß von ihnen keine Ge-fahren fur die Bevolkerung und die Umwelt ausgehen.Die lokale Bodensituation ist untrennbar verbunden mitder ausgepragten industriellen Geschichte und demgroßstadtischen Charakter Dortmunds, so daß die Bo-den im Stadtgebiet eine fur industrielle Ballungsraumeubliche Belastung ausweisen. Im Dortmunder Stadtge-biet geht der Altlastenverdacht uberwiegend von denehemaligen Betriebsstandorten der Zechen, Kokereien,Gaswerke und der Schwerindustrie sowie von ehemali-gen Gruben (z.B. Ziegelgruben) aus. Letztere wurdenbis in die 70er Jahre als teilweise illegale Ablagerungs-moglichkeiten fur Bauschutt, Bodenaushub, Hausmulletc. genutzt.

Als die Stadt Dortmund 1985 erstmals eine solche The-menkarte herausgab, raumte der zustandige Planungs-dezernent ein, daß jede Kommune Angst habe, ein sol-ches Werk aufzustellen. Die Dortmunder Presse kom-mentierte: „Die Altlasten-Karte wird die Stadt Dortmundund ihre Burger die nachsten Jahrzehnte in Atem halten“(Westdeutsche Allgem. Zeitung / WAZ 27.9.1985). Alserste Großstadt im Ruhrgebiet hatte Dortmund mit dersystematischen und flachendeckenden Erfassung vonsogenannten „Altlasten“ zu Beginn der 80er Jahre be-gonnen - nicht freiwillig, sondern weil die Giftfunde aufehemaligen Bergbau- und Kokereistandorten in denOrtsteilen Dorstfeld-Sud, Mengede und Scharnhorst seit1979 die Planer endlich wach werden ließen. Der Ver-dacht auf eine Altlast im Boden reichte aus, um Stadtent-wicklungs- und Bauleitplanung, die Wirtschaftsforderungund die Stadtsanierung nachhaltig zu beeinflussen.Nach dem Erscheinen der Karte 1985 wurden in Dort-mund sogleich acht Bebauungsplane, die solche Altla-sten-Verdachtsflachen beruhrten, vorsichtshalber ge-stoppt.

Heute kame kein Stadtplaner, kein Ratsvertreter auf denGedanken, eine Industriebrache ohne vorherige Unter-suchung zu einem Siedlungsgebiet zu machen. Als sich1970 in Dortmund (fur die Dauer von 5 Jahren) erstmalseine Kommission aus Rat, Verwaltung und DortmunderInstitutionen fur die „eingehende Untersuchung der Ge-

fahrdung der Burger unserer Stadt durch Larm, Staub,Abgase, Abwasser und Mull“ grundete, war das Wort„Altlast“ noch ganzlich unbekannt. In der Erkenntnis oderErahnung heranziehender Umweltprobleme wollte manmit einer solchen Kommission - so die SPD-Ratsbegrun-dung - verhindern, daß mit den Problemen Emotionengeweckt wurden oder „berufsmaßige Naturschutzer“Veranlassung hatten, „durch Initiativen, die uber das Zielhinausschießen, die Industrie zu verargern“2. Die 70erJahre waren im Stadtebau des Ruhrgebietes vielfachnoch ein Jahrzehnt der sogenannten „Kahlschlag-Sanie-rung“; neue stadtebauliche Projekte wurden oft ohneKenntnis und unter Ignoranz fruher dort vorhandenerBaustrukturen und Ortsteilgeschichte entworfen und ge-plant. Die frei gewordenen Flachen der in den 60er Jah-ren geschlossenen Steinkohlenzechen harrten in vielenFallen bis in die 70er Jahre auf eine neue Nutzung, an-dererseits war es Aufgabe der Kommunen, neue Gewer-be- und Wohngebiete zu erschließen. So wurde z. B.erst 1980 auf einem bereits 1965 von der Stadt Dort-mund angekauften Betriebsgelande der 1963 stillgeleg-ten Zeche Dorstfeld, und zwar „auf dem alten Zechen-holzplatz“, aufgrund eines rechtskraftigen Bebauungs-planes aus dem Jahr 1972 mit dem Bau von rund 200Wohnhausern begonnen. Es war der Beginn des spaterbundesweit bekanntgewordenen Umweltskandals„Dorstfeld-Sud“. Hinter der harmlosen Bezeichnung„Holzlagerplatz“ verbarg sich das fruhere Impragnier-werk der Zeche, in dem krebserregende Steinkohlen-teerole verarbeitet worden waren.

Als es 1981 erstmals konkrete Hinweise auf Bodenver-unreinigungen in Dorstfeld gab, wurden Planer undKommunalpolitiker von der eigenen Stadt- d. h. ihrer In-dustriegeschichte eingeholt, an die sich seltsamerweisekaum einer von denen noch erinnern konnte, die an denBeschlußfassungen zu diesem Bebauungsplan im Jahr1972 beteiligt waren. Die Schlagzeilen der Presse laute-ten dementsprechend: „Die Industriegeschichte vonDorstfeld vergessen!“ Und auf die Nachlassigkeit derPlaner gemunzt hieß es weiter: „Dabei war die Proble-matik der Altlasten bekannt, bevor in Dorstfeld auch nurein Bagger angerollt war. Ein einziger Blick ins Stadtar-chiv hatte genugt, um die Gesundheit der Menschen ...zu schutzen“ (WAZ 26.4.1985). Als die Dortmunder Gru-nen den Fall 1983 vor den Rat brachten, hinterließ derzustandige Dezernent den Eindruck, als hore die Ver-waltung zum ersten Mal von einer ehemaligen Kokereiauf den fraglichen Grundstucken. Seltsamerweise warenzudem in der Hausaktenverwaltung des Bauordnungs-amtes bestimmte Dokumente verschwunden (WAZ16.4.1985). „Doch“ - so ein zeitgenossischer Kommentarmit dem Titel ,Viele Spuren’ (WAZ 22.2.1986) - „Dorst-feld-Sud hinterließ in zahlreichen Archiven seine Spu-ren.“ Das Stadtarchiv wurde damals sowohl von Seitender Verwaltung als auch der betroffenen Burger/-innen

1 Altstandorte und Altablagerungen. [Themen-]Karte, hrsg. vom Umwelt-amt der Stadt Dortmund, aktualisierte Ausgabe 1996, Kartographie undReproduktion: Vermessungs- und Katasteramt Dortmund

2 Unterlagen der Umwelt-Kommission im Stadtarchiv Dortmund

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und der interessierten Offentlichkeit eifrig benutzt. DieGrunen weiteten ihre Recherchen auf das StaatsarchivMunster aus, wo sie Nachweise daruber fanden, daß derBetreiber der Kokerei bereits 1952 eine Anlage schlie-ßen mußte, da das Bergamt ubermaßige Giftkonzentra-tionen nachweisen konnte (WAZ 24.4.1985). Eigentlichwar klar, daß bei etwas Aktenstudium in Dorstfeld-Sudnie ein Haus hatte gebaut werden durfen. Doch sogarder ortliche Bezirksvorsteher, der selbst als Maschinistund Betriebsrat 14 Jahre lang in jener Kokerei gearbeitethatte, versuchte noch 1981 besorgten Neusiedlern weiß-zumachen, daß fruher dort „nur eine grune Wiese undsonst weiter nichts“ gewesen sei (DIE ZEIT 13.7.1984).Dieser Umgang von Kommunalpolitikern und Zeitgenos-sen mit der industriellen Umwelt sowie deren „Kurzzeit-gedachtnis“ sprechen fur sich und sind ein Pladoyer furdie Existenz der Archive. Neben der kommunalpoliti-schen Auseinandersetzung begann nun die sich uberJahre hinziehende, 92 Mio. DM teure Sanierung desdurch Altindustrien verseuchten Gelandes, durchgefuhrtaufgrund der Auswertung von elf wissenschaftlichenGutachten, Berichten und Stellungnahmen, komplettiertdurch Vorschlage und Empfehlungen der verschiedenenfachzustandigen Behorden, Institute und anerkanntenExperten aus Wissenschaft und Technik. Als die Stadt1985 versucht hatte, die Harpen AG als letzte Betreibe-rin der Kokerei fur die Sanierungskosten heranzuziehen,konnte letztere u. a. mittels eigener Recherchen imStadtarchiv nachweisen, daß die Stadtverwaltung zumZeitpunkt der Bebauung das Gebiet mit seinen Altlastendurchaus kannte (WAZ 17.10.1985).

Altlastenermittler

Diese Ausfuhrungen zu einem Teilabschnitt DortmunderStadtgeschichte sind deshalb vorausgeschickt, weil sie -neben dem optischen „Eingangsbild“ der Karte - darle-gen, seit wann und in welchem Umfang Umweltge-schichte als Teil des Alltags in einer Industriestadt wieDortmund Bestandteil wurde. Vor zwanzig Jahren warendie Begriffe Umwelt oder Altlasten in den Archiven desRuhrgebiets kein Recherche-Kriterium. Als der Sanie-rungsfall Dorstfeld-Sud das Altlastenproblem wie einenEisberg mit seiner Spitze zu Tage befordert hatte, hattedas stadtische Ordnungsamt mehrere Mitarbeiter spezi-ell fur Archivrecherche abgeordert, die das gesamteStadtgebiet auf das Vorhandensein industrieller Altlastenund somit auf seine industrielle Vorgeschichte hin unter-suchen sollten. Allerdings waren diese stadtischen Mit-arbeiter, uberwiegend mit einer Ausbildung als Verwal-tungsangestellte, vielfach weder mit den historischenProzessen der Industrialisierung sowie der technischenund anlagemaßigen Entwicklung der Betriebe noch imUmgang mit Recherchen, Sichtung, Auswahl und Aus-wertung von archivischen Unterlagen geschult und er-fahren. Sie akzeptierten mehr oder weniger jede Quelle,die das Stadtarchiv ihnen anbot. Das Resultat der Aus-wertungen von Karten- und Aktenmaterial, Fotografien,Adreßbuchern etc. und Luftbildinterpretationen fand sei-nen Niederschlag in einem stadtischen Altlastenkataster.Die Ergebnisse werden seit 1985 in einer Themenkarte„Altstandorte und Altablagerungen“ im Maßstab1 : 20 000 wiedergegeben (s. o.). War die erste noch vonder Bergbauabteilung des Vermessungs- und Kataster-amtes bearbeitete Karte nur unter Auswertung der imVermessungsamt vorhandenen Kartenwerke aus denJahren 1850 bis 1961 vorgenommen worden, so wurdenerst die folgenden Kartenausgaben durch weitere Re-

cherche und Aktualisierung (zuletzt 1996) informations-und damit aussagekraftiger.

Durch Angliederung des planerischen Umweltschutzesan die „Reparatur-Abteilung Umwelt“ des Ordnungsam-tes, die sich mit der Bewaltigung der Altlasten herum-schlug, schuf die Stadt Dortmund 1986 als eine der er-sten deutschen Stadte ein Umweltamt. An erster Stelledes Aufgabenkataloges stand die „Auseinandersetzungmit den historischen Sunden der Industrialisierung undZersiedelung des Stadtraumes“. Insgesamt wurden seit1985 vom Umweltamt fur ca. 300 Verdachtsflachen inDortmund Gefahrdungsabschatzungen durchgefuhrt. Eskann heute bei der Beurteilung der Belastungssituationim Dortmunder Stadtgebiet auf weitere 500 gutachterli-che Stellungnahmen und Berichte von Bauantragsstel-lern zuruckgreifen. Aus der Sicht des Umweltamtesheute ist das Problem Altlast, „wenngleich immer im Ein-zelfall zu losen, aufgrund der langjahrigen Erfahrung al-ler Beteiligten zu einer kalkulierbaren Große gewor-den“3.

Waren es zu Beginn der 80er Jahre noch Mitarbeiter derstadtischen Amter, die fur das kommunale Altlastenkata-ster Archivrecherchen betrieben, so wurden im Zuge derflachendeckenden Ausdehnung des Katasters in den fol-genden Jahren zunehmend private Firmen fur die Erfas-sung und Bewertung von Altlastverdachtsflachen heran-gezogen. Ingenieur- und Beratungsgesellschaften, diediese neue „Wachstumsbranche“ vertraten, zahlten nunbald zu den neuen Kunden des Kommunalarchivs. Alsbetroffener Archivar nahm ich in der Folgezeit erfreut zurKenntnis, daß aus der anfanglichen „Investition“ in Formintensiver Gesprache zwischen Benutzerberatung undAltlastenermittlern - oft aus dem wissenschaftlichenFachbereich der Geographie kommend - uber die Dar-stellung der Quellenlage zum Thema Altlasten in kom-munalen Archiven erfreulicherweise recht schnell eineprofessionellere Handhabung der vorhandenen Quellenzur Betriebs- und Anlagengeschichte als die der Bedien-steten des Ordnungsamtes erfolgte. Bereits 1991 gab esin Dortmund unter der Schirmherrschaft des neuen Um-weltamtes ein Symposium „Praxis der Erfassung undErstbewertung ziviler und rustungsbedingter Altlast-Ver-dachtsflachen“. War es Anfang der 80er Jahre nochmuhsam, den neuen Interessenten den Unterschied zwi-schen einer sammelnden Dokumentationsstelle und ei-nem von Zustandigkeiten gepragten Archiv zu vermit-teln, so hatten die Vertreter der neuen Unternehmenbald eigene Leitfaden und Rechercheraster entwickelt,die auch die Archivrecherche beinhalteten und eine kur-ze Aufklarung uber die Struktur des deutsches Archivwe-sens gaben. Von dem zur Verdachtsflachenerfassungdurch Luftbild- und Kartenauswertung sowie Archiv-recherche eingesetzten Personal werden heute von eini-gen Unternehmen als Qualitatsmerkmal ausdrucklich

3 Umweltsituation in Dortmund 1997/98. Umweltbericht der Stadt Dort-mund, hrsg. vom Umweltamt Stadt Dortmund (1999), 104 S. u. Anh.,hier S. 51; vgl. weitere Veroffentlichungen des Umweltamtes: Altstand-orte und Altablagerungen (Dortmunder Beitrage zur Umweltplanung),Umweltamt Stadt Dortmund (1994), 17 S.; Tagungsband zum Sympo-sium „Praxis der Erfassung und Erstbewertung ziviler und rustungsbe-dingter Altlast-Verdachtsflachen“, am 14. Nov. 1991, Umwelt-ZentrumDortmund (1991), 61 S.; Ergebnisbericht zur Erfassung kriegs- und ru-stungsbedingter Verdachtsflachen in Dortmund, Umwelt-Zentrum Dort-mund (1991); vgl. auch: Die Verwendung von Karten und Luftbildern beider Ermittlung von Altlasten. Ein Leitfaden fur die praktische Arbeit vonProf. Dr. Jurgen Dodt u.a., 2 Tle., hrsg. vom Min. fur Umwelt, Raumord-nung und Landwirtschaft des Landes NRW, Dusseldorf 1987

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Hermann J. Bausch: Informationen zu Altlasten in einem Stadtarchiv: Das Beispiel Dortmund

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Kenntnisse uber die fruheren und heutigen Gestaltungs-vorschriften und Inhalte der amtlichen Kartenwerke,Kenntnisse uber die Struktur des staatlichen und priva-ten Archivwesens verbunden mit historischen Kenntnis-sen des Erhebungszeitraumes sowie Kenntnisse derSutterlin- und der altdeutschen Schrift gefordert. Leiderhat man vergessen, auch den Berufsstand der Archivareim vorgeschlagenen Arbeitsteam aus Photogrammetern/ Fernerkundern, Kartographen, Geographen, Chemie-und Verfahrenstechnikern zu berucksichtigen, der fur dieArbeitsablaufe der archivischen Quellenermittlung, -sich-tung und -auswertung m. E. pradestiniert ist.

Unterlagen im Kommunalarchiv

Informationen zu Altlasten finden sich im Kommunalar-chiv zum großten Teil in der Uberlieferung der Bau- undtechnischen Amter sowie der Ordnungsverwaltung. Er-fahrungsgemaß konzentrieren sich die Altlastenermittlerfur die Erstellung einer generellen Gebietsinventur zurErfassung und Lokalisierung von Altlastenverdachtsfla-chen (Altlastenkataster) zunachst auf grundlegende Un-terlagen in Form von Karten und Luftbildplanen. Die Tat-sache, daß Luftbilder einen Raumausschnitt ohne gene-ralisierende Informationsverringerung objektiv undhochst realitatsgetreu abbilden, laßt sie zu einer der auf-schlußreichsten Informationsquellen fur die Verdachts-flachenerkundung werden. In der Regel suchen die Alt-lastenerkunder in NRW heutzutage die Luftbilder in an-deren Fundorten als den Kommunalarchiven, namlichFundorten zentraler Archivierung wie in der TechnischenZentralstelle des Landesamtes fur Agrarordnung, imLandesvermessungsamt, beim Kampfmittelraumdienstund im Hauptstaatsarchiv NRW; dabei bieten auch dieKommunalarchive oft solche bildlichen Quellen. DasStadtarchiv Dortmund besitzt aus Ablieferungen derBau- und Stadtplanungsverwaltung einen Bestand anLuftbildplanen (Reihensenkrechtmeßbilder auf panchro-matischem Schwarzweißfilm) von ca. 3 000 Exemplaren;hiervon datieren 250 Plane in die Zeit 1925 - 1928(großtenteils zeitgenossische Fotoabzuge), die meistenPlane umfassen die Jahrgange ab 1952 bis in die 80erJahre, hergestellt im Abstand von 2 - 4 Jahren; eindurchschnittlicher Befliegungssatz fur das Stadtgebietumfaßt ca. 100 Exemplare des Plans 1 : 5 000. Bemer-kenswerte Luftbildbestande sind neben einigen wenigenLuftbildplanen der Sonderluftbildabteilung des Reichs-luftfahrtministeriums und von Hansa-Luftbild aus denJahren 1938/39 (mit Fehlflachen fur Gebiete der Großin-dustrie und des Militars) ca. 300 Befliegungsaufnahmendurch die alliierten Luftstreitkrafte im Fruhjahr 1945, diedas Stadtarchiv als Originalfotoabzuge ankaufen bzw.als Großformatnegative aus der ehemaligen Fotoabtei-lung des Vermessungsamtes ubernehmen konnte; diesedurften evtl. als Erganzung zu den an anderen Fundor-ten bekannten Aufnahmen anzusehen und auszuwertensein. Als Findmittel fur die Benutzung der Luftbilder von1945, die nur bestimmte Flugrouten abdecken, ließ dasStadtarchiv eine Befliegungsubersicht auf der Karten-grundlage des amtlichen Stadtplanes anfertigen. Fur dieanderen Befliegungen des Stadtgebietes liegen Blatt-und Bildmittenubersichten vor, die mit den Luftbildplanenubernommen wurden. Neben den Senkrechtaufnahmenbesitzt das Stadtarchiv auch einen großeren Bestand anLuftbild-Schragaufnahmen aus den 1920er bis 1950erJahren, die neben Zugangen vom Planungs- und Pres-seamt aus Erwerbungen vom KVR und von privatenLuftbildfotografen stammen. Hierunter befinden sich be-

sonders auch mehrere Aufnahmen von Steinkohlenze-chen und Industriebetrieben. Die durch Schragaufnah-men dokumentierten Stadtgebietsbereiche sind in einereigens angefertigten Ubersichtskarte des Stadtarchivsnachgewiesen.

Karten erweisen sich ebenfalls als leistungsfahige Infor-mationsquellen der Verdachtsflachenerfassung. Beson-ders die Meßtischlatter im Maßstab 1 : 25 000 werdenahnlich wie die Luftbildplane von den Altlastenerkundernvorwiegend uber das Landesvermessungsamt, die kom-munalen Kataster- und Vermessungsamter, die Staats-archive oder sonstige regionale oder uberregionaleDienststellen benutzt. Als Sammlungsgut und aus Beila-gen zu Aktenvorgangen stammend besitzt das Stadtar-chiv Dortmund einen Bestand von rund 100 Meßtisch-blattern im Maßstab 1 : 25 000 sowie Vergroßerungen 1:10 000 mit verschiedenen Daten- und Fortfuhrungsstan-den fur das Stadtgebiet.

Ein gerade fur das Ruhrgebiet als Bergbauregion wichti-ges topografisches Kartenwerk, das das Stadtarchiv bis-lang in verschiedenen jungeren Ausgaben aus dem Zeit-raum 1920 - 1939 besitzt, sind die von der WestfalischenBerggewerkschaftskasse in Bochum herausgegebenenUbersichts- und Flozkarten des rheinisch-westfalischenSteinkohlenbezirks im Maßstab 1 : 10 000 bzw. 1 :25 000, deren Vorlaufer in die 1860er Jahre datieren(weitere Herstellungsjahre sind 1864-1868, 1879-1889,1911-1932). Als Unterlagen fur die Darstellung auf die-sen Karten dienten fast ausschließlich die amtlichenGrubenbilder, erganzt durch Planunterlagen der Stadteund Gemeinden, der Wasserstraßenbehorden und Was-serwirtschaftsverbande, der Reichsbahn, des Katastersund einzelner Industriewerke, ferner seit 1925 auch ent-zerrte Luftbildaufnahmen. Umfangreiche komplette alte-re Satze dieses Kartenwerks aus dem fruheren Sachge-biet Bergwesen des Vermessungs- und Katasteramteswird das Stadtarchiv in absehbarer Zeit vom Umweltamtubernehmen, das die Plane nach Abschluß der Auswer-tung fur das Altlastenkataster nicht mehr fur den laufen-den Geschaftsbetrieb benotigt.

Neben der staatlichen und bergbaulichen Kartenproduk-tion ist es vor allem die originare Kartenproduktion derkommunalen Vermessungsstellen, die als großmaßsta-bige Grundkarten und weiterverarbeitete Ubersichtskar-ten eine wichtige Quelle fur die Erforschung der Altlast-Verdachtsflachen bildet und sich im Stadtarchiv befindet:Seit der ersten flachenhaften Neuvermessung der Stadt(M. 1 : 250) in den 1870er Jahren fertigte die Stadtver-messung in den Folgejahren Flurkarten in den Maßsta-ben 1 : 625 bis 1 : 2 500 an (ca. 1000 Ex.), die das(innere) Stadtgebiet in einer dichteren Abfolge als diestaatliche Katasterkartenproduktion dokumentieren. Mitdem Bedarf an großmaßstabigen Flurkarten und Baupla-nen stieg auch der Bedarf an Ubersichtskarten: bereitsseit 1872 fertigte die Stadtvermessung Stadtplane imMaßstab 1 : 10 000 und seit 1906 im Maßstab 1 : 5 000an, die einen hohen topographischen Informationswerthaben. Zwischen 1900 und 1950 wurden orthogonaleBauplanvermessungen der gesamten Topographie ein-schließlich sichtbarer Grenzen flachendeckend uber et-wa 75 km2 durchgefuhrt und kartiert. Diese „Bebau-ungsplane im Maßstab 1 : 500 und 1 : 1 000“ (ca. 620Ex.) wurden zu „Grundplanen 1 : 2 000“, „Karten 1 :5 000“ und „Hauptkarten 1 : 1: 10 000“ weiterverarbeitet.Das einheitliche Kartenwerk des Grundplanes 1 : 2 000,

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der Vorlaufer der Deutschen Grundkarte M. 1 : 5 000,war 1925 unter Mitwirkung der Vermessungsamter derGroßstadte des Ruhrgebiets als neuzeitliches Karten-werk ins Leben gerufen worden, weil zuvor „jede Ge-meinde ein nach Begrenzung, Maßstab und Darstellungeigenartiges Kartenwerk hergestellt“ hatte. Von großenSubstanzverlusten wahrend des Zweiten Weltkriegesgezeichnet, gelangte dieses wichtige und umfangreichekommunale Grundkartenwerk in Dortmund zersplittertuber zahlreiche Akzessionen des Vermessungsamtessowie in Form unterschiedlicher Materialzeichnungstra-ger (Handzeichnungen, z. T. auf Aluminiumplatten ka-schiert, Drucke, Lichtpausen, SW-Filme Großformat und13x18), an das Stadtarchiv. In den 50er Jahren wurdeein aus uber 800 Karten bestehendes großmaßstabigesRahmenkartenwerk der heutigen Stadt-Grundkarte 1 :1 000 (1 : 500) erstellt, das sowohl den amtlichen Kata-sterbestand als auch topographische Angaben enthalt.Seit Anfang der 1960er Jahre gibt es fur das Stadtgebietdie ersten Ausgaben des uberortlichen topographischenKartenwerks Deutsche Grundkarte im Maßstab 1 :5 000, das aus der Stadtgrundkarte entwickelt wurde.Das Stadtarchiv besitzt als Ablieferungen des Vermes-sungsamtes einige Ausgaben der altesten Kartensatze,die mit jeweils rund 100 Blattern das Stadtgebiet abdek-ken.

Neben der eigentlichen kommunalen Kartenproduktiondes Vermessungs- und Katasteramtes konnten in denzuruckliegenden Jahren aber auch aus dem Gebrauchs-archiv dieses Amtes Plane mit Provenienzen der Indu-strie und des Bergbaus als Kopien (Lichtpausen u. a.)ubernommen werden, die fur die Altlastenfrage einegute Quelle sind. Hierbei handelt es sich im wesentli-chen um Lageplane aus den 1940er bis 1960er Jahren,die wohl in der Reproabteilung des Vermessungsamtesvervielfaltigt wurden. Inhaltlich betrifft dies Gaswerke,Klaranlagen, Truppenunterkunfte, Betriebsbahnhofe, Fir-men- und Betriebsgelande von Brauereien, Huttenwer-ken und Schachtanlagen.

Zu den wichtigsten archivischen Unterlagen in Kommu-nalarchiven (sofern sie schon dorthin abgegeben wur-den), die fur die objektbezogenen Standortrecherchenzu Altlasten-Verdachtsflachen herangezogen werdenkonnen, zahlen die Baugenehmigungsakten der Bauord-nungsbehorden, auch Gebaude- oder Hausakten ge-nannt. Diese Akten beinhalten neben Bau- und Anlage-beschreibungen von einzelnen Objekten auch das zuge-horige, meist großformatige Karten- und Planmaterialwie Lageplane, Grundriß-, Ansichts- und Querschnitt-Zeichnungen. Die Hausaktenverwaltung des Bauord-nungsamtes hatte dem Stadtarchiv bereits Ende der1960er Jahre die alteren Bande von Bauunterlagen derDortmunder Zechen und Anlagen der Eisenindustrie ausder Zeit vor 1945 zur Aufbewahrung ubergeben (400Bde.).

Ebenfalls objektbezogene Akten sind bei der kommuna-len Ordnungsverwaltung entstanden, der die Gewerbe-aufsicht und Konzessionierung von technischen Anlagenund Betrieben oblag. So finden sich in den Unterlagender Gewerbepolizei bzw. Gewerbeaufsicht (seit 1850),des Stadtausschusses der Großstadt Dortmund sowieder Kreisausschusse der Landkreise Dortmund und Hor-de (1887-1929) neben der uberaus guten Dokumentati-on der Zulassung von Dampfkesselanlagen zahlreicheEinzelfallakten uber die Konzessionierung von Brauerei-

en, Farbereien, Teer- und Erdol-Destillationen, Gaswer-ken, Gerbereien, Hochofen, Huttenwerksanlagen, Klar-anlagen, Maschinenbauwerkstatten, Kalkofen, Metall-gießereien, Schlachthausern, Topfereien, Ziegeleien,Zinkhutten, etc. Die Akten enthalten allerdings nicht injedem Fall Zeichnungsmaterial (z. B. Lageplane) zu denBetriebsanlagen. Die Schachtanlagen und Auswirkun-gen des Bergbaus (v. a. Bergschaden) dokumentierendie vor kurzer Zeit vom Umweltamt ubernommenen undursprunglich in der Abteilung Bergwesen des Vermes-sungsamtes entstandenen Akten und Karten.

Ahnliche Informationen wie die vorerwahnten objektbe-zogenen Unterlagen, namlich Lageplane oder Beschrei-bungen, enthalten auch weitere zahlreiche Verwaltungs-akten kommunaler Provenienz, vor allem aus den Sekto-ren Straßen- und Wasserbau, Liegenschaften, Eisen-bahn- und Straßenbahnverkehr. Aus Akten uber die Ein-ziehung bzw. Enteigung von Wegen oder Heranziehungzu Straßenbaukosten lassen sich beispielsweise detail-lierte Informationen uber die Nutzung und die kartenma-ßige Darstellung eines Zechen- und Kokereigelandesgewinnen. Beschreibende Unterlagen uber Standorteder Industrie und deren Auswirkung, findet man biswei-len auch in gleichtitulierten Sachakten (Larm, Wasser-und Luftverschmutzung oder Bergschaden) der Kommu-nalverwaltungen uber die Gesundheitsfursorge (Ge-sundheitspolizei). Den Akten der Kommunen uberGrundbesitz-, Anlage- und Unterhaltungsfragen bezug-lich Strecken, Bahnhofen und Werkstatten der Eisen-und Straßenbahnen kommt insofern eine gesteigerteBedeutung zu, weil die Deutsche Bahn AG fruher ihreneigenen Archiven und Registraturen keinen Aufhebens-wert beimaß. So suchten beispielsweise1997 Mitarbeiterder Bahn AG das Stadtarchiv auf, um mittels fehlendereigener Unterlagen Grundlageninformationen zu Strek-ken und Anlagen der Bahn fur die Ermittlung von Altla-sten auf Dortmunder Bahngebiet zu sichten, auszuwer-ten und sozusagen ein Ersatzarchiv anzulegen. Bezug-lich eines jungeren Verkehrsmittels als die Bahn, laßtsich hier anmerken, daß ich vor einigen Jahren sehr er-staunt war, als das Stadtarchiv ausgerechnet vom Rech-nungsprufungsamt ein Konvolut von Bauplanen zumNeubau der Dortmunder Flughafengebaude in den1930er Jahren bekam, der im 2. Weltkrieg militarischerFliegerhorst war.

Unterlagen fur die Erfassung kriegs- und rustungsbe-dingter Altlast-Verdachtsflachen finden sich in Kommu-nalarchiven naturgemaß weniger, da Anlagen wie Kaser-nen, Fliegerhorste, Schießplatze und Munitionslager alsmilitarische und damit staatliche Einrichtungen einer ge-wissen Geheimhaltungsstufe oblagen und zudem nichtin kommunaler Zustandigkeit lagen. Zu diesen Objektenbesitzt das Stadtarchiv einige Detail-Lageplane aus derunmittelbaren Vorkriegs- oder Nachkriegszeit aus einemSammelbestand von Plankopien des Vermessungsam-tes. Auch etliche Plane des im Zweiten Weltkrieg bestan-denen Luftschutzamtes (u. a. Organisation Todt) uberBunker und unterirdische Stollenanlagen gelangten alsKopien oder Filme vom Vermessungsamt an das Archiv.Dortmund besaß eine der großten unterirdischen Luft-schutz-Stollenanlagen in Deutschland. Umfangreiche In-formationen zu Luftschutzbauten im Zweiten Wekltkriegbeinhalten Akten des Ordnungsamtes bzw. der Feuer-wehr, die das Archiv kurzlich vom Umweltamt uberneh-men konnte. Es ist uberhaupt festzustellen, daß vieleder Unterlagen, die ursprunglich beim Vermessungsamt,

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Hermann J. Bausch: Informationen zu Altlasten in einem Stadtarchiv: Das Beispiel Dortmund

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Ordnungsamt und der Feuerwehr entstanden und nach1986 dem neugegrundeten Umweltamt mit der Sachbe-arbeitung ubergeben worden waren, jetzt nach Abschlußder ersten Auswertungsphase der Unterlagen fur die Alt-last-Verdachtsflachenermittlung an das Stadtarchiv ab-gegeben werden. Uberlieferung zu den Schaden durchalliierte Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg befindet sichim Archivbestand der amtlichen Dortmunder Kriegschro-nik, die im Zweiten Weltkrieg vom Stadtarchiv gefuhrtwurde. Dieser 57 Bande umfassende Bestand beinhaltetu. a. die als vertraulich eingestuften Luftschutzdienst-meldungen und Schadensmeldungen des Kreispropa-gandaleiters der NSDAP als Luftschutzbeauftragter anden Oberburgermeister bzw. das Stadtarchiv. Der Be-stand an Luftbildplanen aus alliierter Befliegung 1945wurde bereits oben erwahnt.

Gedruckte Quellen zur Geschichte der Dortmunder Wirt-schaft und deren Betrieben findet der Altlastenermittlerneben den besonders hervorzuhebenden lokalen Adreß-

buchern (Stadte und Land-Kreise Dortmund und Hordesowie einzelne Amter) in Form einer Vielzahl von Publi-kationen zur Industrie- und Anlagengeschichte, desglei-chen Firmenjubilaums- und Festschriften und Betriebs-chroniken oder Jahres- und sogenannte Rechenschafts-berichte von Firmen in der Bibliothek des Stadtarchivs.Auch manche Ortsteilgeschichte, darunter die wissen-schaftlichen heimatkundlichen Examensarbeiten der50er und 60er Jahre, bieten Informationen zur lokalenIndustriegeschichte. Einen nicht zu unterschatzendenInformationsbestand stellt die Fotoabteilung des Stadtar-chivs dar, die bildliche Unterlagen zur Dortmunder Topo-grafie beinhaltet.

Nach zuruckliegenden Jahren mehr oder weniger inten-siver Altlastenrecherchen auch im Stadtarchiv, wird esnach dem nun bereits bestehenden sehr dichten Altla-stenkataster der Stadtverwaltung auch im Archiv ruhigerund vielleicht detailreicher in der „Kriminalermittlung“ be-treffend Altlasten werden.

Stiftung Naturschutzgeschichte: Sammelfelder derNaturschutz- und Umweltschutzgeschichte

von Niels Franke

Die Geschichte des Natur- und Umweltschutzes inDeutschland ist weitgehend unerforscht. Das erstaunt,bildet doch das okologische Bewußtsein am Ende des 2.Jahrtausends einen akzeptierten Bestandteil des kultu-rellen Kanons in Europa und großen Teilen der Welt.Diesen Widerspruch zu schließen hat sich die StiftungNaturschutzgeschichte zum Ziel gesetzt.

Das 1994 gegrundete „Archiv, Museum und Forumzur Geschichte des Naturschutzes in Deutschland“wird getragen von dem Land NRW, dem Land Branden-burg und der NRW-Kulturstiftung. Die Trager haben sichzum Ziel gesetzt, innerhalb der folgenden zwei Jahre einArchiv, ein Museum und eine Veranstaltungsreihe mitder Bezeichnung „Forum“ zu verwirklichen. Fur diesenZeitraum darf sich die Stiftung als Gast des Ministeriumsfur Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft in Dussel-dorf betrachten. Wahrend der Vorbereitungen wird aberauch die Vorburg von Schloß Drachenburg im Siebenge-birge bei Konigswinter fur die Stiftung restauriert. ImJahre 2001 soll der Umzug aus dem Ministerium in Dus-seldorf und die Eroffnung vor Ort, also im Siebengebirge,erfolgen. Im „Archiv, Museum und Forum zur Geschichtedes Naturschutzes in Deutschland“ widmen sich dreiWissenschaftler und eine Verwaltungskraft dem gestell-ten Thema.

Voraussetzung fur die Erforschung der Natur- und Um-weltschutzgeschichte in Deutschland ist die Schaffungeiner zentralen Adresse zu ihrer Dokumentation. DieseFunktion wird das Archiv ubernehmen. Darunter verste-hen die Trager allerdings dezidiert kein Zentralarchiv -das ware aus archivrechtlichen und unter den gegebe-nen raumlichen Voraussetzungen nicht moglich -, son-dern eine Institution, die dem Nutzer Informationen be-reitstellt, in welcher deutschen Bibliothek oder in wel-chem deutschen Archiv er Quellen zu seinem For-schungsthema findet. Lediglich unverzichtbare histori-

sche Dokumente sollen auf der Vorburg vorgehaltenwerden.

Außerdem wird die Stiftung die Sicherung von wichtigenQuellen betreiben und deren Erschließung leisten. Dabeiwird allerdings die Beteiligung eines bereits bestehen-den staatlichen oder nichtstaatlichen Archivs vor Ort an-gestrebt.

Konkret bedeutet das: Treffen die wissenschaftlichenMitarbeiter z. B. bei einer Personlichkeit des Naturschut-zes auf wichtiges Quellenmaterial, dann bietet die Stif-tung die Aufarbeitung im Sinne der Dokumentierung an.Diese Aufarbeitung wird aber faktisch erst dann gelei-stet, wenn der Eigentumer sein Einverstandnis erklartund wenn es gelungen ist, ein Archiv vor Ort fur diesenBestand gewonnen zu haben. Im Idealfall erschließt daswissenschaftliche Team der Stiftung den Bestand inForm einer Datenbank und einem ausgedruckten Find-buch. Das Material selbst wird moglichst in dem Archivvor Ort vorgehalten.

Im Gegenzug fur diese Sicherung erhofft sich die Stif-tung von Privatleuten und Archiven in Westfalen unddaruber hinaus Hinweise auf Bestande, die fur dieNaturschutz- und Umweltschutzgeschichte relevantsind.

In Deutschland gibt es insgesamt drei Einrichtungen, diesich bisher mit der Geschichte des Naturschutzes oderdes Umweltschutzes auseinandergesetzt haben. Zu-nachst das „Institut fur Umweltgeschichte und Regional-entwicklung“ in Berlin, das sich temporar und geogra-phisch auf den Bereich der ehemaligen DDR speziali-siert hat.

Das „Eco-archiv“ in Hofgeismar/Hessen, das sich v. a.der Erforschung der sozialen Bewegung des Naturschut-

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Niels Franke: Stiftung Naturschutzgeschichte: Sammelfelder der Naturschutz- und Umweltschutzgeschichte

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zes widmet und die Akademie fur Naturschutz und Land-schaftspflege in Laufen/Bayern, die das Thema jedochnur peripher bearbeitet.

Ein weiteres Ziel der Stiftung ist es, auf der Ebene desArchivs diese drei Forschungsorte zu vernetzten. Ar-beitsschwerpunkt ist dabei die Vereinheitlichung derelektronischen Erfassung der Quellen und die Benut-zung desselben Thesaurus. Zentraler Informationspunktwird die Stiftung Naturschutzgeschichte, die mit Hilfe desDatenbanksystems „Faust“ die Daten sammelt und zurVerfugung stellt.

Der zweite Teil des Vortrages widmete sich den Sammel-schwerpunkten der Naturschutz- und Umweltgeschichte,um zu verdeutlichen, was sich eigentlich hinter diesemneuen Forschungsgebiet verbirgt. Dabei betonte er, daßdie Art der Quelle unproblematisch sei. Ein personlicherBriefwechsel zwischen zwei Naturschutzern zu einembestimmten Thema sei ebenso willkommen wie Karten,die die Landschaftsveranderung innerhalb der letzten150 Jahre verdeutlichen.

Diese Quellen sollten aber thematisch etwas mit folgen-den Inhalten zu tun haben:

Sie sollen Aussagen treffen zur Geschichte des Schut-zes der Natur und der Umwelt: zum Beispiel zum Arten-schutz.

Es ist bereits heute klar zu erkennen, daß die Art, Tiereund Pflanzen zu schutzen, sich wahrend hundert Jahrensehr stark verandert hat. So zeigen die Dokumente deut-lich, daß man am Ende des 19. Jahrhunderts einzelneSingvogelarten zu schutzen versuchte, indem man dieAbschußraten verringerte.

Heute jedoch bilden nicht mehr die Abschußraten diegroßte Gefahr, sondern die Zerstorung des Lebens-raums der Avifauna. Will der Mensch folglich eine Artschutzen, muß man den Lebensraum im Gesamten si-chern. Diesen Ubergang in der Schutzstrategie zu doku-mentieren, ware eines der Ziele der Stiftung.

Die Quellen sollen die historische Veranderung derLandschaft nachvollziehbar machen.

Die Landschaft hat sich seit 100 Jahren mit zunehmen-der Geschwindigkeit vereinheitlicht. Straßen wurdenz. B. in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts in atembe-raubender Geschwindigkeit gebaut. Um die Versiege-lung der Landschaft, den daraus folgenden schnellerenAbfluß von Wasser und der damit vergroßerten Uber-schwemmungsgefahr machte sich die Gesellschaft da-mals keine Gedanken. Heute werden Wasserlaufe indiesem Sinne wieder renaturiert.

Der Natur- und Umweltschutz war bis 1962 in NRWrein ehrenamtlich organisiert und diese Organisations-form ist auch heute noch die Basis. Faktisch gab esin den letzten hundert Jahren Tausende und Abertau-sende von Vereinen, Initiativen, Verbanden, Arbeits-gruppen usw. Einen Uberblick uber die Verwaltung desNatur- und Umweltschutzes zu gewinnen, ware sehr imInteresse der Stiftung. Aber nicht nur der Nachweisihrer Existenz, sondern auch deren Grundsatzdoku-mente, deren Aufrufe, Programme usw. sind selbstver-standlich wertvoll.

Die philosophische Betrachtung und das ethische Ver-haltnis von Mensch und Umwelt hatten und haben natur-lich Einfluß auf Natur- und Umweltschutz. Die christlicheAuffassung lehrt den Menschen, sich die Erde Untertanzu machen, Fortschritt basiert heute auf dem Verbrauchvon Ressourcen. Die Natur- und Umweltschutzer habendagegen uber 100 Jahre hinweg versucht, gedanklicheinen Neuansatz zu finden. Diese Geistesgeschichte in-teressiert die Stiftung sehr.

Damit hangt auch die Landschaftsasthetik, die sich uberdie Jahrhunderte stark verandert hat, zusammen. DieGestaltung von Grunflachen wie dem Englischen Gartenin Munchen wurde heute ganz anders verlaufen; derenglischen Garten ist ein Produkt der Aufklarung, in derder Mensch sich wieder der Natur als Wert an sich zu-wandte. Im Barock dagegen ruhmte sich der Mensch,die Natur zu beherrschen, und zeigte das z. B. auchdurch die Anlage von Garten, die mit Lineal und Zirkelgeplant wurden.

Quellen zur Wissenschaft- und Technikgeschichte ha-ben naturlich große Bedeutung in der Natur- und Um-weltschutzgeschichte, da Wissenschaft und Technikeinerseits den Menschen bei der Umgestaltung derNatur unterstutzt und andererseits auch Instrumenteentwickelt, die diese Eingriffe wieder ausgleichensollen.

Quellen zur Geschichte des Tourismus und der Erholungsind verhaltnismaßig leicht zu finden. Die Erkenntnis,daß der Aufenthalt in der Natur Geist und Korper wohl-tut, hat vielen Landschaftsteilen Segen, anderen, wiez. B. den Alpen, eine Ubernutzung eingetragen. DieserZwiespalt ist fur die Natur- und Umweltschutzgeschichtevon großer Bedeutung.

Die historische Entwicklung der Umweltbildung ist eben-falls sehr interessant, da die Bildung und Sensibilisie-rung der Gesellschaft von vielen Naturschutzern als einwichtiger Schlussel fur den Erhalt der Umwelt angese-hen wurde und wird. So befindet sich z. B. im Besitz derStiftung ein Diaapparat aus dem Jahr 1910 mit etwa 300Glasplattendias. Der Apparat ist in einem fur ihn konstru-ierten Koffer zu verstauen und damit leicht tragbar. Erwurde dazu benutzt, bei offentlichen Veranstaltungen diegenannten Dias zu zeigen und war damit ein transpor-tables Medium.

Die Auseinandersetzung von Wirtschaft und Umwelt-schutz, Umweltschutz und Politik pragten und pragendie Naturschutz- und Umweltschutzgeschichte. Ohnesie ist eine Erforschung des gestellten Theams undenk-bar.

Als letztes sei darauf hingewiesen, daß die Stiftung ins-besondere nach ehrenamtlichen Naturschutzern sucht,die sich ein Leben lang diesem Thema gewidmet habenund die heute aus ihrer langen Erfahrung sprechen. Das„Archiv, Museum und Forum zur Geschichte des Natur-schutzes in Deutschland“ interviewt gezielt solche Zeit-zeugen und betreiben damit oral History.

Das hier geschilderte Projekt befindet sich im Aufbau. Esbedarf viel Unterstutzung, da der Versuch, Nordrhein-Westfalen zu einem Zentrum einer neuen Forschungs-disziplin im historischen Bereich zu machen, nur durchgroße Anstrengungen erfolgreich sein wird.

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Die stadtgeschichtliche Bedeutung von Vereinsarchiven.Das Beispiel des Gesangvereins Liederkranz 1845 e.V. imStadtarchiv Bergisch Gladbach

von Albert Eßer

Der Bergisch Gladbacher Burgermeister Jakob Herwegwurde am 13. Dezember 1851 von dem fur ihn zustandi-gen Landrat in Mulheim am Rhein aufgefordert, uber denin Gladbach bestehenden Gesangverein zu berichten.Der preußische Innenminister hatte in einer Rundverfu-gung davon gesprochen, dass in einzelnen Gesangver-einen „die Forderung demokratischer Tendenzen“ beob-achtet worden sei, und er hatte es als erforderlich be-zeichnet, „den Vereinen dieser Art einen hoheren Gradvon Aufmerksamkeit zuzuwenden“. Herweg berichtetedem Landrat am 15. Dezember 1851, der GladbacherGesangverein habe sich, solange er als Burgermeisterim Amte sei, „bezuglich seiner Tendenzen keinen Ver-dacht zugezogen“ und sich so verhalten, dass „nicht diegeringste Vermuthung aufgekommen“ sei, er sei „demo-kratischen Bestrebungen irgend zugethan“1. DieserSchriftwechsel in den Gladbacher Polizeiakten zeigt,dass Gesangvereine in der Mitte des 19. Jahrhundertseine politische Dimension haben konnten, und er er-weckt auf den ersten Blick den Eindruck, als ob der 1845in Bergisch Gladbach gegrundete Mannergesangverein„Liederkranz“ von solchen politischen Tendenzen unbe-ruhrt geblieben ware.

Im Jahre 1997 ist das Vereinsarchiv des „Liederkranz“ indas Stadtarchiv Bergisch Gladbach ubernommen wor-den. Unter den Schriftstucken des Vereinsarchivs befin-det sich unter anderem ein Brief, den der Mitbegrunderund erste Vorsitzende des Vereins, Vincenz von Zuccal-maglio, am 1. Januar 1850 aus Huckeswagen an die Mit-glieder des Vereins richtete und in dem er auf das Wir-ken des jungen Vereins zuruckblickte. In diesem Briefschreibt Zuccalmaglio unter anderem:

„Das jungste Mitglied hat im Vereine stets soviel gegol-ten, als das alteste, der Kleine soviel als der Große, undbei Abstimmungen hat sich die Minderzahl dem Aus-spruche der Mehrheit stets willig unterworfen, wenn-gleich sie vermeinen mochte, daß sie dabei im Nacht-heile stehe oder eine Last ihr aufgeburdet sei. Ohne die-ses Opfer furs Wohl des Ganzen kann auch keine rechteRepublik und kein Gesangverein bestehen, jede Fruchtdes Zusammenwirkens wurde im Keime erstickt sein,wenn der Eine seinem eigenen Kopfe nach in dynasti-schem Geluste die Mehrheit zu bewaltigen sich vermes-sen wollte. Jene republikanische Tugend, ohne welchenichts Großes von Menschen geschaffen werden kann,hat der Liederkranz stets bewahrt, und dies sicherte seinAufkommen und Gedeihen“2.

Das gleichberechtigte Zusammenwirken freier Men-schen im Verein erscheint hier als Ideal fur gesellschaft-liches Zusammenleben uberhaupt. Und im Unterschiedzu der 1850 in Preußen tatsachlich bestehenden Staats-form wird dieses Ideal von Zuccalmaglio ausdrucklich alsrepublikanisch bezeichnet. Anders als die Außensichtder Polizeiakten gibt die Innensicht der Vereinsuberliefe-rung den Blick auf das Selbstverstandnis der Vereins-grunder frei. Und in diesem Selbstverstandnis hatte der

Verein nicht nur durch seine Organisationsform, sonderndaruber hinaus auch durch seinen Zweck, den Chorge-sang, einen gesellschaftsbildenden und damit durchauspolitischen Charakter. Der gesellschaftsbildende Cha-rakter des Chorgesangs wird im Neujahrsbrief Vincenzvon Zuccalmaglios an einer anderen Stelle angespro-chen, die ich Ihnen ebenfalls zitieren mochte:

„Wie jedes Gute durch sich selber lohnt, so wurde der’Liederkranz’ durch Gesang gelohnt, denn wir haben da-mals erfahren, daß uns im Gesange nicht blos Erheite-rung, sondern auch Erhebung und Bildung unseres Ge-fuhles zu Theil wurde, ja, daß wir fur die reinste Gesellig-keit erzogen wurden durch den Gesang. Denn wie in un-serm Chore der demokratische Baß, die aristokratischenLeitstimmen und die zahlreichen Mittelstimmen stets invorgeschriebenem Verhaltnisse bleiben mußten, wie dasHervortreten der einen oder andern Stimme das Gelin-gen des Ganzen gestort hatte, so stort in der Gesell-schaft jede Anmaßung, und wie ein unrichtiges TaktirenAlles umwirft, davon haben wir ja in der Gesellschaft lei-dige Beispiele.“

Zuccalmaglio verstand den Gesangverein als „Schuleder wahren Geselligkeit“3. Schon mit seinem Namen„Liederkranz“ ordnete sich der Bergisch Gladbacher Ver-ein in die von dem Schweizer Hans Georg Nageli inspi-rierte Sangerbewegung des Vormarz ein. Nageli hattedie „nationalpolitische Erziehungsfunktion des Manner-chorgesangs“4 theoretisch begrundet und bei der Grun-dung des ersten Liederkranzes 1824 in Stuttgart Pategestanden.Von Suddeutschland aus griff die Sangerbe-wegung zu Beginn der 1840er Jahre auf Nord- undWestdeutschland uber5. Fur den Kontakt der Sanger un-tereinander spielten Sangerfeste, wie beispielsweise dasdeutsch-flamische Sangerfest 1846 in Koln, eine ent-scheidende Rolle. An diesem Sangerfest in Koln, das zuden wichtigen „Wegmarken in der Entwicklungsge-schichte der deutschen Nationalbewegung“6 gehorte,nahmen auch die Mitglieder des Bergisch GladbacherLiederkranzes teil, und im Vereinsarchiv haben sich un-ter anderem die Notenbucher mit den vaterlandischenLiedern erhalten, die wahrend dieses Sangerfestes ge-sungen wurden.7

1 Verfugung des Landrats in Mulheim vom 13. Dezember 1851 undMarginalbericht des Burgermeisters von Bergisch Gladbach vom 15.Dezember 1851, in: Stadtarchiv Bergisch Gladbach, C 905.

2 „Neujahrsbrief“ Vincenz von Zuccalmaglios, 1. Januar 1850, in: Stadt-archiv Bergisch Gladbach, O 10/2.

3 Ebenda.4 Dieter Duding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in

Deutschland (1808-1847). Bedeutung und Funktion der Turner- undSangervereine fur die deutsche Nationalbewegung (Studien zur Ge-schichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 13), Munchen 1984,S. 165.

5 Duding, Nationalismus, S. 178-179.6 Duding, Nationalismus, S. 201. Vgl. auch Dieter Duding: Politische

Opposition im Vormarz. Das deutsch-flamische Sangerfest 1846 inKoln, in: Geschichte im Westen 3, 1988, Heft 1, S. 7-18.

7 Stadtarchiv Bergisch Gladbach, O 10/62-65.

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Albert Eßer: Die stadtgeschichtliche Bedeutung von Vereinsarchiven

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Wie die Turnerbewegung, so erlebte auch die Sangerbe-wegung in der Zeit des Vormarz eine massenhafte Neu-grundung von Vereinen. Ganz allgemein war die Bildungvon Vereinen zu den unterschiedlichsten Zwecken undZielen in Deutschland bis zu den 1840er Jahren zu einer„Massenbewegung geworden, die, soweit es das Ver-einsrecht zuließ, alle Schichten der Bevolkerung bis hinzur Handwerksgesellenelite der entstehenden Arbeiter-schaft ergriffen hatte“8. Der freiwillige Zusammen-schluss zur Verfolgung gemeinsamer Interessen schufneue, gleichberechtigte Formen von Kommunikation undKontakt, die zur Veranderung des kulturellen und gesell-schaftlichen Lebens in Deutschland beitrugen. Vereinehatten in der Zeit des Vormarz daher schon von ihrerOrganisationsform her eine politische Dimension. DerHistoriker Wolfgang Hardtwig hat formuliert, dass dasVereinswesen in der Zeit vor 1848 „zum Teil gewollt,zum Teil uber das gewollte Maß hinaus, zum Kristallisa-tionskern politischer Emanzipationsanspruche“ gewor-den sei9.

Die mit der Revolution von 1848 durchgesetzte Vereins-freiheit hatte zur Folge, dass der Verein als Organisati-onsform seine politische Dimension verlor. Gleichwohlerfullen Vereine auch heute noch als in der Offentlichkeitwirkende Organisationen vielfach politische und vorpoli-tische Funktionen. Im lokalen Beziehungsgeflecht einerKommune dient das Engagement in ortlichen Vereinennicht selten als Sprungbrett und Karriereeinstieg furKommunalpolitiker10. Vereine tragen haufig zur Bindungan den Wohnort bei und starken die Identifikation mit ei-nem Ort oder Ortsteil11. In den Vereinen spiegeln sichdie Strukturen und Konflikte der lokalen Gesellschaft,und nicht selten dienen Vereine und Burgergemein-schaften auch dazu, bei lokalen InteressengegensatzenGruppeninteressen zu artikulieren und durchzusetzen.Gesellschaftliches Leben und die gesellschaftliche Ent-wicklung einer Stadt spielt sich zu einem großen Teil inVereinen ab und wird von ihnen mit gepragt.

Von daher ist es einleuchtend, dass auch das Archivgutvon Vereinen fur die Geschichte einer Stadt Bedeutunghaben kann. Wie groß diese Bedeutung ist, sollte dabeiaus der Sicht eines Stadtarchivars danach beurteilt wer-den, in welchem Maße sich in dem Vereinsarchiv Stadtge-schichte widerspiegelt. Ein erstes Kriterium dafur ist dieEinbindung des Vereins in die stadtische Gesellschaft, sei-ne Beteiligung am offentlichen Leben und sein Einfluss aufstadtische Entwicklungen. Dafur ist nicht primar die Mit-gliederzahl ausschlaggebend; kleine Zirkel einflussreicherPersonlichkeiten konnen manchmal mehr bewegen alsgroße Vereine. Der Verein sollte jedoch durch seine Mit-gliederstruktur, sein ortliches Ansehen oder seine offent-liche Wirksamkeit einen besonderen Stellenwert im gesell-schaftlichen Gefuge der Stadt einnehmen.

Ein zweites Kriterium ist die inhaltliche Aussagekraft desvorhandenen Archivguts. Ein Vereinsarchiv kann nurdann stadtgeschichtliche Informationen liefern, wenn dieVereinsaktivitat schriftlichen Niederschlag gefunden hat.Das hangt nicht nur von der Sorgfalt des Schriftfuhrersab, sondern auch von der Art des Vereinszwecks. Dieeigentliche Aktivitat eines Taubenzuchtervereins bei-spielsweise hat weniger schriftlichen Charakter als dieTatigkeit einer Burgergemeinschaft, die die Interesseneines Stadtteils offentlich zur Geltung bringen will. DieUberlieferung einer solchen Burgergemeinschaft wieder-um wird an Aussagekraft gewinnen, wenn sich in ihr

nicht nur die Eingaben an den Stadtrat finden, die jaauch in der stadtischen Uberlieferung vorhanden sind,sondern moglicherweise auch Unterlagen, die die Mei-nungsbildung und die Interessenkonstellationen inner-halb des Stadtteils nachvollziehbar machen.

Beide Kriterien, die Einbindung in das stadtische Lebenebenso wie die Aussagekraft des Archivguts, sind beimArchiv des Bergisch Gladbacher Gesangvereins Lieder-kranz erfullt. Er gehort zu den altesten Vereinen Ber-gisch Gladbachs und hat seit seiner Grundung immerwieder stadtische Feiern und Veranstaltungen musika-lisch unterstutzt. Die Grundungsmitglieder waren haupt-sachlich Lehrer, Forster und Juristen und gehorten zurgeistigen Fuhrungsschicht Bergisch Gladbachs. Die Li-ste der Ehrenmitglieder und Ehrenvorsitzenden desChores seit 1849 enthalt mehrere Bergisch GladbacherBurgermeister und zahlreiche Lehrer, Juristen und Un-ternehmer. Der Liederkranz stellte einen wichtigen Teildes gesellschaftlichen Lebens in Bergisch Gladbach dar.

Die Geschichte des Chores ist durch das Vereinsarchivaber auch gut uberliefert. Zu den insgesamt 230 Ver-zeichnungseinheiten des Vereinsarchivs gehoren dieProtokollbucher, die von der Grundungsversammlungam 19. September 1845 bis zum Jahre 1990 reichen,Satzungen, Anwesenheitslisten von Chorproben, Ver-einspublikationen, Festschriften, Noten und Notenbu-cher, Fotos, Plakate, Urkunden und Erinnerungsstuckewie Medaillen, Teller oder Pokale. In einer chronologi-schen Ablage sind Schriftwechsel, Konzertprogrammeund Zeitungsausschnitte zusammengefasst.

Die Archivalien geben Auskunft uber die Konzerte undAktivitaten des Chores, uber die Entwicklung des Lied-gutes und uber die Kontakte des Chores zu anderenVereinen und zur Stadt. Der eingangs zitierte Neujahrs-brief Vincenz von Zuccalmaglios ist eine eindrucksvolleQuelle uber das Selbstverstandnis eines Gesangvereinsim Umfeld der 1848er Revolution. Auch die Gleichschal-tung des Chores nach der Machtergreifung der National-sozialisten lasst sich mit Hilfe des Vereinsarchivs nach-vollziehen: Rundschreiben des Kolner Sangerbundesaus dem November 1933 erlautern das Fuhrerprinzip, inden Protokollbuchern findet sich mehrfach die Klage,dass der Eintritt von Vereinsmitgliedern in Organisatio-nen der Partei zu einem schlechten Besuch der Chorpro-ben gefuhrt habe, und in den chronologischen Akten hatsich unter anderem ein Schreiben aus dem April 1934erhalten, in dem der Vereinsfuhrer bei der Reichsmusik-kammer dagegen protestiert, dass ein Obmann derReichsmusikkammer dem Chorleiter des Liederkranzesseine Tatigkeit als Dirigent untersagt habe.

Das Vereinsarchiv ist dem Stadtarchiv 1997 als Deposi-tum ubergeben worden. Im Depositalvertrag wurde furdie Benutzung des Vereinsarchivs eine 30jahrige Sperr-

8 Wolfgang Hardtwig: Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzendes Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: Otto Dann (Hrsg.):Vereinswesen und burgerliche Gesellschaft in Deutschland (Histori-sche Zeitschrift, Beiheft 9), Munchen 1984, S. 11-53, Zitat S. 19.

9 Ebenda, S. 23.10 H.-Jorg Siewert: Zur Thematisierung des Vereinswesens in der deut-

schen Soziologie, in: Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und burgerli-che Gesellschaft, S. 151-180, hier S. 176-178.

11 Albrecht Lehmann: Zur volkskundlichen Vereinsforschung: in: OttoDann (Hrsg.): Vereinswesen und burgerliche Gesellschaft, S. 133-149, hier S. 141.

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Albert Eßer: Die stadtgeschichtliche Bedeutung von Vereinsarchiven

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frist festgelegt. Die vom Chor immer wieder zu besonde-ren Anlassen benotigten Vereinsfahnen und mehreregroßformatige gerahmte Bilder wurden nicht mit insStadtarchiv ubernommen. Ein Problem bei der Verzeich-nung des Vereinsarchives bestand darin, die unter-schiedlichen Archivalienarten jeweils angemessen zu la-gern, ohne den Zusammenhang des Bestandes zu zer-storen. Bei den Plakaten beispielsweise wurde diesesProblem dadurch gelost, dass die Konzertplakate desChores der Plakatsammlung zugeordnet wurden, imComputer aber die Zugehorigkeit zum Bestand Lieder-kranz vermerkt wurde. Die Erfassungsdaten dieser Pla-kate werden sowohl im Findbuch der Plakatsammlungwie auch im Findbuch des Vereinsarchivs ausgedruckt.

Die Ubernahme des Vereinsarchivs in das StadtarchivBergisch Gladbach war eine verspatete Frucht des150jahrigen Jubilaums, das der Chor im Jahre 1995 ge-feiert hatte. Bei der Vorbereitung einer Ausstellung zurGeschichte des Chores und bei der Herausgabe einerChorgeschichte hatte das Stadtarchiv den Verein unter-stutzt. Ein wichtiger Motor fur die Abgabe des Vereinsar-chivs war auch die Frau des Vereinsarchivars, die nichtlanger ein ganzes Zimmer ihrer Wohnung mit den altenVereinssachen blockiert sehen wollte. Dass der Chor

sein Archiv im Stadtarchiv besser aufgehoben sah als ineiner Privatwohnung, hing moglicherweise aber auch miteinem Faltblatt zusammen, das das Stadtarchiv Ber-gisch Gladbach Anfang der neunziger Jahre gemeinsammit dem Kreisarchiv des Rheinisch-Bergischen Kreisesherausgegeben hatte. Dieses Faltblatt wollte „Anregun-gen fur Vereine, Verbande und Privatpersonen im Um-gang mit ihrem Archivgut“ geben, Verstandnis fur denWert alter Unterlagen erzeugen und konkrete Tipps furdie Aufbewahrung von Archivgut und die Wahl geeigne-ten Materials geben. Wahrend ein Volkshochschulvor-trag zu Archivierungsproblemen nur maßig besucht war,wurde nach dem Faltblatt auch in spateren Jahren im-mer mal wieder nachgefragt.

Sicherlich ist nicht jedes Vereinsarchiv so wertvoll, dasses auf Dauer teuere Magazinflache in einem offentlichenArchiv belegen sollte. Der Archivar muss hier nach dergesellschaftlichen Bedeutung des Vereins und nach derAussagekraft der Vereinsuberlieferung auswahlen. Ersollte aber durch archivische Offentlichkeitsarbeit unddurch personliche Kontakte zu Vereinsvorstanden dahinwirken, dass fur die Stadtgeschichte bedeutsame Ver-einsarchivalien im Verein selbst oder auch im Stadtar-chiv erhalten bleiben und ausgewertet werden konnen.

Die Uberlieferung von Personalvertretungen

von Hans-Jurgen Hootmann

I. Einleitung

Wenn sich in einer Arbeitssitzung des Westfalischen Ar-chivtages, die mit dem Titel „Uberlieferungsformen nicht-amtlichen Schriftguts“ uberschrieben ist, ein Referat zurPersonalratsuberlieferung wiederfindet, mag das bei an-fanglicher Betrachtung erstaunen. Sind uns doch diePersonalvertretungen zumindest durch die periodischstattfindenden Personalratswahlen als ein selbstver-standlicher Teil des Behordengefuges durchaus vertraut.Auf den zweiten Blick stellt sich aber unter Hinzunahmeder gesetzlichen Bestimmungen in Form des Personal-vertretungsgesetzes fur das Land Nordrhein-Westfalen1

sowie insbesondere der einschlagigen Fachliteratur2

heraus, daß es sich bei dem Gebilde Personalrat umeine grundsatzlich von der Dienststellenleitung wei-sungsungebundene Institution handelt, die im Rahmender Gesetzesvorgaben eigenverantwortlich und unab-hangig ihren Aufgabenbereich wahrnimmt.

Bei der Vorbereitung dieses Archivtages und der Suchenach einer mit der Themenstellung einschlagig vertrau-ten Vortrags-Person wurde deutlich, daß offensichtlichim uberwiegenden Teil der Kommunalarchive in Westfa-len-Lippe - wenn nicht sogar in toto - keine Erfahrungenmit der Betreuung des Schriftgutbildners Personalratvorliegen und in der Konsequenz nahezu keine Bestan-de zu Personalvertretungen in den Archiven vorzufindensind. Daß diese Erfahrung anhand der Durchsicht ver-schiedener Bestandeubersichten im ubrigen zumindestfur den Aspekt der Uberlieferungsbildung auch auf diestaatliche Archivlandschaft ubertragen werden kann,komplettiert die ernuchternde Ausgangslage. Demzufol-ge scheint eine Behandlung dieses Themas auch vonarchivisch-fachubergreifendem Interesse zu sein.

Vordringlich ist hierbei die Frage zu klaren, ob die beimPersonalrat entstehenden Unterlagen grundsatzlich alsarchivwurdig einzustufen sind. Gegebenenfalls schlie-ßen sich daran die Fragen nach Bewertungsmethoden,nach Eigentums- und Nutzungsrechten an.

Da konkrete Erfahrungen mit dieser Materie weitestge-hend fehlen, stutzt sich das Referat hauptsachlich aufeine Aufgaben- und Funktionsanalyse der Personalver-tretungen mittels Auslegung des Landespersonalvertre-tungsgesetzes fur Nordrhein-Westfalen. Es ist insoweitauch eine weitgehend theoretisierende Ausarbeitung,deren praktischer Nutzen insbesondere darin bestehensoll, Handlungsspielraume und -moglichkeiten fur dieArchive aufzuzeigen.

Der folgende Vortrag ist in drei Abschnitte gegliedert. Zu-erst wird in aller Kurze ein geschichtlicher Abriß uber dieEntwicklung des Personalvertretungsrechtes und damitder wesentlichen Grundzuge der Mitbestimmung im Be-reich des offentlichen Dienstes gegeben. Anschließendfolgt in einem umfangreicheren Teil der Versuch, die po-tentielle Uberlieferung anhand des gesetzlich vorgege-benen Aufgabenbereiches zu beschreiben und, auf die-ser Grundlage aufbauend, die Schriftgutstrukturen der

1 Landespersonalvertretungsgesetz vom 01.06.1958 (GVBl. NW S. 209ff.), zuletzt modifizeirt durrch das Dritte Gesetz zur Anderung desPersonalvertretungsgesetzes fur das Land NW vom 27.09.1994(GVBl. NW S. 846 ff.).

2 Hierzu zahlen v.a. die zahlreichen Kommentare zu den Landes- unddem Bundespersonalvertretungsgesetz. Fur diesen Beitrag wurdeinsbesondere herangezogen: Erwin Krieg/Klaus Orth/Horst Welko-borsky, Landespersonalvertretungsgesetz fur Nordrhein-Westfalen.Kommentar fur die Praxis, 3., vollig uberarb. u. erw. Auflage (Koln1986).

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Personalrats-Uberlieferung aufzuzeigen. In diesem Zu-sammenhang werden dann auch Bewertungsuberlegun-gen skizziert. Im dritten Abschnitt folgen dann punktuellUberlegungen zu rechtlichen Fragen, die sich in Zusam-menhang mit der Ubernahme von Personalrats-Schrift-gut ergeben.

II. Entwicklung des Personalvertretungsrechtes

Die im Kaiserreich fortschreitende Industrialisierung unddie damit untrennbar verbundene wachsende Bedeu-tung der Arbeitnehmerschaft fand nach dem Zusammen-bruch des monarchischen Regierungssystems unter derneuen Gesellschaftsordnung in der Weimarer Republikihren erstmaligen reichsumfassenden legislativen Aus-druck in dem Betriebsrategesetz vom 04.02.19203. Die-ses Gesetz umfaßte einerseits zur Wahrnehmung dergemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitneh-mer dem Arbeitgeber gegenuber und andererseits zurUnterstutzung des Arbeitgebers in der Erfullung der Be-triebszwecke sowohl die Arbeitnehmer in der privatenWirtschaft als auch die des offentlichen Dienstes. Als Ar-beitnehmer waren die Arbeiter und Angestellten defi-niert, hingegen nicht die offentlichen Beamten, die vondiesem Gesetz ausdrucklich ausgenommen waren.

Ein langer Bestand war dem Betriebsrategesetz nichtvergonnt, die Nationalsozialisten losten es durch dasGesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom20.01.19344 wieder auf. Praktizierte Mitbestimmung alsAusdruck staatsburgerlicher Verantwortung widerlief be-kanntermaßen der nationalsozialistischen Herrschafts-ordnung.

Die Wiedererrichtung der Betriebsrate erfolgte durch dieBesatzungsmachte, die im April 1946 mit dem Kontroll-ratsgesetz Nr. 225 ein Betriebsrategesetz erließen, dasin seinen lediglich 13 Artikeln die Aufgaben und Rechtedes Betriebsrates nur ansatzweise formulierte und dieMoglichkeit fur Arbeitnehmer und Arbeitgeber schuf, infreier Vereinbarung die Einzelheiten ihrer Beziehungenzueinander zu ordnen. Bezeichnend fur die Weitma-schigkeit des Betriebsrategesetzes ist die Tatsache, daßdie Errichtung und Tatigkeit von Betriebsraten lediglichgestattet wurde, anstatt sie analog zum Betriebsratege-setz von 1920 zwingend vorzuschreiben.

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens ist dieser le-gislativen Konzeption des Kontrollratsgesetzes Nr. 22gefolgt und hat - allerdings entsprechend ihrer Organisa-tionsgewalt nur fur die Dienststellen der Landesverwal-tung - insbesondere durch die gemeinsam mit der Ge-werkschaft Offentliche Dienste, Transport und Verkehr1948 propagierte Musterbetriebsvereinbarung das Per-sonalvertretungswesen in Form normativen Satzungs-rechts geregelt6.

Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes nahm derBundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz imBereich des Arbeitsrechts im Rahmen der konkurrieren-den Gesetzgebung wahr und verabschiedete 1952 ge-gen den Widerstand der Gewerkschaften7 das Betriebs-verfassungsgesetz8. Dieses Gesetz bedeutete einenRuckschritt gegenuber fruheren Vereinbarungen und ge-setzlichen Regelungen und differenzierte insbesonderezwischen den Arbeitnehmern der privaten Wirtschaftund denen des offentlichen Dienstes, auf die das Gesetzkeine Anwendung fand. Vielmehr dauerte es noch weite-

re drei Jahre, bevor der Bundestag mit dem Bundesper-sonalvertretungsgesetz vom 09.09.1955 auch die Folge-gesetzgebung fur den offentlichen Dienst verabschiede-te9. Dabei machte der Gesetzgeber von seiner ihm nachArtikel 75 des Grundgesetzes zustehenden Ermachti-gung Gebrauch, fur die Ausgestaltung des Personal-vertretungsrechts in den Verwaltungen der Lander, Ge-meinden und anderen Korperschaften des offentlichenRechts Rahmenvorschriften zu erlassen.

Obwohl das Bundespersonalvertretungsgesetz keineBefristung fur die landesgesetzliche Neugestaltung desPersonalvertretungswesens im offentlichen Dienst ent-hielt, bestand gleichwohl in dieser Situation Mitte der50er Jahre Handlungsbedarf fur die LandesregierungNordrhein-Westfalens. Denn zum einen stimmten die bisdato fur den offentlichen Dienst geltenden Rechtsnor-men teilweise nicht mit den zwingenden Rahmenvor-schriften des Bundesgesetzes uberein, zum anderen be-durfte es einer gesetzlichen Regelung der Personalver-tretung fur die Beamten10.

Am 01.10.1957 verabschiedete die Landesregierungnach zahlreichen Beratungen mit den gewerkschaftli-chen Spitzenorganen und Berufsverbanden sowie demLandespersonalausschuß den Entwurf eines Landesper-sonalvertretungsgesetzes, das nach Abschluß des Ge-setzgebungsverfahrens am 01. Juni 1958 als Personal-vertretungsgesetz fur das Land Nordrhein-Westfalen11

in Kraft trat. Es bestimmt in § 1 diejenigen Geltungsbe-reiche des offentlichen Dienstes, in denen Personalver-tretungen zu bilden sind. Hierzu zahlen die Dienststellendes Landes, der Gemeinden, der Gemeindeverbandeund der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehen-den Korperschaften, Anstalten und Stiftungen des of-fentlichen Rechts.

Das Landespersonalvertretungsgesetz wurde 1974,1984 und zuletzt 199412 jeweils zugunsten einer Aus-weitung von Mitbestimmungsrechten und der Initiativ-rechte des Personalrats grundlegend novelliert.

III. Potentielles Schriftgut des UberlieferungsbildnersPersonalrat

Wie in dem kurzen historischen Abriß bereits angedeutetworden ist, umfaßt demokratische Staatsburgerschaftnotwendigerweise auch die Berechtigung, sich im Wegeder Mitbestimmung aktiv an der Gestaltung der Arbeits-

3 RGBl. 1920, S. 147 ff.4 RGBl. 1934 I, S. 45 ff.5 Amtsblatt der Militarregierung Deutschland. Britisches Kontrollgebiet,

S. 197 ff. Berichtigung ebd., S. 239. Durch die Berichtigung wurde derursprunglich in Artikel V als Pflichtbestimmung definierte Aufgaben-kreis des Betriebsrates („...hat der Betriebsrat grundsatzlich die ...Aufgaben“) in eine Ermessensbestimmung („... kann sich der Be-triebsrat mit den ... grundsatzlichen Aufgaben beschaftigen“) umge-wandelt.

6 Ministerialblatt fur das Land NW 1949, Sp. 738 ff.7 Vgl. Walter Nachtmann, 100 Jahre OTV-Geschichte, hrsg. von der

Gewerkschaft Offentliche Dienste, Transport und Verkehr (Frankfurt/M. 1996), S. 327.

8 BGBl. 1952 I, S. 681 ff.9 BGBl. 1955 I, S. 477 ff.

10 Vgl. Landtagsdrucksache 3/589 - Begrundung der Landesregierungzum Entwurf eines Personalvertretungsgesetzes fur das Land NW, in:Landtag NW, 3. Wahlperiode, Drucksachen Bd. IV (Dusseldorf 1958).

11 GVBl. NW 1958, S. 209 ff.12 GVBl. NW 1974, S. 1514 ff.; GVBl. NW 1985, S. 29 ff.; GVBl. NW

1994, S. 846 ff.

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prozesse zu beteiligen. Gerade fur den Bereich des of-fentlichen Dienstes, dessen rechtsgeschichtliche Wur-zeln im reinen Staatsdienertum liegen und dem oftmalsentsprechende Denk- und Verhaltensweisen nachge-sagt werden, hat die nicht zuletzt durch die Einfuhrungund den Ausbau des Personalvertretungsrechts gefor-derte Demokratisierung dazu gefuhrt, die Verwaltungs-strukturen sachgemaß und zeitgerecht auszubauen unddie Verwaltung von einem Diener des Staates zu einemDienstleister fur die Bevolkerung zu wandeln. Ein Zitatdes ehemaligen nordrhein-westfalischen InnenministersSchnoor soll diese einfuhrende und grundsatzliche Be-trachtung uber die Bedeutung von Personalrat und Mit-bestimmung abschließen. Er fuhrt im Vorwort zu einemKommentar des Landespersonalvertretungsgesetzesaus: „Die Mitbestimmung des arbeitenden Menschen amArbeitsplatz ist unverzichtbare Grundlage unserer staat-lichen Ordnung und unseres Gesellschaftssystems. Siefestigt unsere Demokratie und hilft, den sozialen Friedenzu bewahren.“13

Soweit der theoretische Uberbau - wie sehen nun dieBestimmungen des Landespersonalvertretungsgeset-zes, die letztlich die Arbeit der Personalrate und damitauch maßgeblich die Aktenuberlieferung bestimmen, imeinzelnen aus?

Neben allgemein gehaltenen Aufgabenzuweisungenwird die Arbeit der Personalrate insbesondere gepragtdurch die Mitbestimmung, die Mitwirkung und die Anho-rung als drei in ihrer Bedeutung und Wirkung abgestufteFormen beteiligungspflichtiger Angelegenheiten.

Zu den allgemeinen Aufgaben gehoren hauptsachlichdie Uberwachung der Gleichbehandlung aller Beschaf-tigten, die Beantragung von Maßnahmen, die der Dienst-stelle und ihren Angehorigen dienen, die Uberwachungder Durchfuhrung von Gesetzen, Tarifvertragen, Dienst-vereinbarungen u.a., die Entgegennahme von Anregun-gen und Beschwerden von Beschaftigten, die Eingliede-rung und Forderung Schwerbehinderter, die Eingliede-rung auslandischer Beschaftigter sowie die Verhutungvon Unfall- und Gesundheitsverfahren.

Das wichtigste, starkste und umfassendste Recht desPersonalrates ist die Mitbestimmung. Im Rahmen derMitbestimmung sind Dienststelle und Personalrat gleich-berechtigt an der Entscheidungsbildung beteiligt. Maß-nahmen, die der Mitbestimmung unterliegen, konnenvon der Dienststelle ohne Zustimmung des Personalratsnicht durchgefuhrt werden. Wird zwischen Dienststelleund Personalrat keine Einigung erzielt, entscheidet aufAntrag des Dienststellenleiters oder der Personalvertre-tung die sogenannte Einigungsstelle uber die strittigemitbestimmungspflichtige Angelegenheit. Die Einigungs-stelle wird als unabhangiges Gremium bei der oberstenDienstbehorde bzw. im kommualen Bereich bei denobersten Leitungsgremien gebildet.

Die der Mitbestimmung unterliegenden Angelegenheitensind unterteilt in 1. Personalangelegenheiten, 2. sozialeAngelegenheiten, 3. Rationalisierungs-, Technologie-und Organisationsangelegenheiten sowie 4. in weiterearbeitsorganisatorische Angelegenheiten. Die unterdiese vier Hauptgruppen fallenden Mitbestimmungsrech-te sind im Landespersonalvertretungsgesetz enumerativaufgefuhrt. Hier im einzelnen die 45 Mitbestimmungstat-bestande aufzulisten, wurde zu weit fuhren. Um aber ei-

nen ansatzweisen Eindruck der Funktion, Bedeutungund Verantwortung des Personalrats bei der Gestaltungdes Dienstbetriebes zu vermitteln, durften bereits einigeSchlagworte aus dem Aufgabenkatalog ausreichen, zunennen waren hier: Einstellung, Beforderung, Eingrup-pierung, Hohergruppierung, Versetzung, Abordnung,Kundigung, Ablehnung von Antragen auf Teilzeitbe-schaftigung oder Beurlaubung, Aufstellung von Sozial-planen, Umschulungen, neue Arbeitsmethoden (insbe-sondere Maßnahmen der technischen Rationalisierung),Einsatz neuer Technologien am Arbeitsplatz, Anderungder Arbeitsorganisation, Privatisierung, Verhutung vonGesundheitsschadigungen, Gestaltung der Arbeitsplat-ze, Regelung der Ordnung in der Dienststelle.

Daneben steht dem Personalrat in allen mitbestim-mungspflichtigen Angelegenheiten ein formliches Initia-tivrecht zu, das ihn dazu berechtigt, sowohl eigenstandigMaßnahmen bei der Dienststellenleitung zu beantragenund gegebenenfalls bis zur Einigungsstelle zu betreiben,als auch Gegenvorstellungen zu einer beabsichtigtenMaßnahme der Dienststellenleitung in Form eines Initia-tivvorschlages zu erheben, der dann den Lauf von Fri-sten auslost und eine Entscheidung herbeifuhrt.14

Die Mitwirkung ist die zweite im Landespersonalvertre-tungsgesetz vorgesehene und gegenuber der Mitbestim-mung die wesentlich schwacher ausgebildete Beteili-gungsform. Maßnahmen, die der Mitwirkung unterliegen,konnen auch ohne Zustimmung des Personalrats durch-gefuhrt werden. Allerdings ist eine rechtzeitige und ein-gehende Erorterung mit dem Ziel einer Verstandigunggesetzlich vorgegeben. In Konfliktfallen hat der Perso-nalrat auch das Recht, die Entscheidung der vorgesetz-ten Dienststelle zu beantragen. Der vorgesetzten Dienst-stelle entspricht bei Kommunalverwaltungen wegen desfehlenden mehrstufigen Verwaltungsaufbaus das verfas-sungsmaßig zustandige oberste Organ oder der von ihmbestimmte Ausschuß.

Die Mitwirkungsfalle sind im Landespersonalvertretungs-gesetz abschließend aufgefuhrt. Es handelt sich umneun Tatbestande, die sich im wesentlichen auf Maß-nahmen organisatorischer Art beziehen. Zu nennen wa-re hier exemplarisch die Mitwirkung bei Verwaltungsan-ordnungen einer Dienststelle fur die innerdienstlichen,sozialen oder personlichen Angelegenheiten der Be-schaftigten und die Mitwirkung bei Auftragen zur Uber-prufung der Organisation oder Wirtschaftlichkeit einerDienststelle durch Dritte. Gerade der letztgenannte Tat-bestand ist insoweit von Bedeutung, als durch solcheOrganisationsuberprufungen oftmals schon Vorentschei-dungen auf spatere, der Mitbestimmung unterliegendeMaßnahmen getroffen werden und der Personalrat eingrundlegendes Interesse daran hat, so fruhzeitig wie mog-lich in Rationalisierungsprozesse eingeschaltet zu werden,um diese so wirksam wie moglich zu beeinflussen.15

Schließlich gibt es noch die Beteiligungsform der Anho-rung, die so rechtzeitig zu erfolgen hat, daß die Auße-

13 Das Vorwort datiert vom 15.03.1985, in: Hans Havers, Personalver-tretungsgesetz fur das Land Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 6.Auflage (Siegburg 1985).

14 So Krieg/Orth/Welkoborsky (wie Anm. 2), hier: § 66 Gliederungspunkt9, S. 356.

15 So Krieg/Orth/Welkoborsky (wie Anm. 2), hier: § 73, Gliederungs-punkt 9, S. 540 f.

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rung des Personalrats noch Einfluß auf die Willensbil-dung der Dienststelle nehmen kann. Letztendlich ist hierjedoch nur die Moglichkeit fur die Dienststelle geschaf-fen, die in der Regel fundierten Kenntnisse des Perso-nalrates uber die internen Verhaltnisse und Strukturen inder Belegschaft und der Dienststelle zu nutzen und sichumfassend zu informieren. Formale Einflußmoglichkei-ten des Personalrates gibt es nicht. Die sieben Anho-rungstatbestande sind ebenfalls abschließend im Lan-despersonalvertretungsgesetz aufgefuhrt und stellen-weise sehr interpretationsfahig. In einzelnen Punktensind die Grenzen zwischen dem Mitbestimmungsrechtund dem Anhorungsrecht fließend.

Soweit die einfuhrende Ubersicht uber die Aufgabenfelderund die Handlungsmoglichkeiten der Personalrate nachden gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsformen. Wiesieht nunmehr die Umsetzung in der Praxis aus? Undnoch konkreter gefragt: Welche Akten entstehen bei derPersonalrats-Arbeit und wie sind diese Akten strukturiert?

Zum ersten Teil der Frage ist wieder das Landesperso-nalvertretungsgesetz heranzuziehen. Dort ist im Ab-schnitt Geschaftsfuhrung zwingend vorgeschrieben, daßuber jede Verhandlung des Personalrates eine Nieder-schrift aufzunehmen ist, die mindestens den Wortlautder Beschlusse und die Stimmenmehrheit, mit der siegefaßt sind, enthalten muß. Ob der Begriff der Verhand-lungen neben den Personalratssitzungen auch a) dieVierteljahresgesprache zwischen Dienststelle und Per-sonalrat, die mindestens einmal im Vierteljahr stattfindenmussen und in denen die Gestaltung des Dienstbetrie-bes und insbesondere alle Vorgange, die die Beschaftig-ten wesentlich beruhren, behandelt werden sollen, unddes weiteren auch b) die Erorterungen im Rahmen derMitbestimmungs- und Mitwirkungsverfahren umfaßt,wird in den einschlagigen Kommentaren unterschiedlichbeurteilt16 und von Personalraten in der Praxis meinesWissens auch unterschiedlich gehandhabt.

Dienstvereinbarungen, die zwischen Personalrat undDienststelle geschlossen werden konnen und auf ver-traglicher Basis insbesondere die Rechts- und Arbeits-verhaltnisse der Beschaftigten gestalten, bedurfenselbstverstandlicherweise ebenfalls der Schriftform. DieFormvorschrift der Schriftlichkeit ist demnach zumindestfur einen zentralen Bereich der Personalrats-Arbeit,namlich den Personalratssitzungen, umfassend unddeckt somit gleichsam fokussierend einen Großteil dessich aus dem Landespersonalvertretungsgesetz erge-benden Aufgabenbereiches der Personalrate ab.

Aber die Registraturen der Personalrate umfassen nochweiteres Schriftgut. Im wesentlichen handelt es sich da-bei zum einen um Unterlagen, die im Rahmen der ge-setzlich vorgeschriebenen vertrauensvollen Zusammen-arbeit dem Personalrat von der Dienststelle zugehen,zum anderen um Materialien, die der Personalrat vonden in der Dienststelle vertretenen gewerkschaftlichenOrganisationen erhalt.

Verbindliche Aussagen zur Struktur des Registraturgu-tes sind bislang nicht moglich, da einerseits auf einembreiten Erfahrungshorizont basierende Kenntnisse hier-uber fehlen und andererseits die spezifischen Ordnungs-voraussetzungen von Fall zu Fall sehr unterschiedlichsein durften. Nach bisherigem Kenntnisstand ist davonauszugehen, daß das Schriftgut schon aufgrund der viel-

faltigen und in großeren Dienststellen auch umfangrei-chen Uberlieferung oftmals durch einen Aktenplan er-schlossen ist. Ein solcher Aktenplan ist immer eine Ei-genproduktion des Personalrates. Musteraktenplane lie-gen nicht vor und sind bei den unterschiedlichen Arbeits-weisen und Arbeitsschwerpunkten der Personalrateauch nicht zweckmaßig. Was ebenfalls fehlt, sind Akten-ordnungen, Hinweise zur Schriftgutaufbewahrung undAufbewahrungsfristen - Indizien, die fur eine unstruktu-rierte, beliebige Aktenfuhrung sprechen.

Kommen wir zur Bewertungsfrage. Als Ergebnis der bis-herigen Darstellung ist meines Erachtens festzuhalten,daß bei dem Schriftgutbildner Personalrat grundsatzlicharchivwurdiges Material entsteht. Das Schriftgut bietet inTeilbereichen interessante Informationen uber die Aus-ubung von Mitbestimmungsrechten durch die Arbeitneh-mervertretung und dokumentiert die Mitwirkung der Be-diensteten an innerdienstlichen Entscheidungsprozes-sen. Diese Mitwirkung fuhrt nach Meinung von Befurwor-tern des fortschrittlichen Personalvertretungsrechts inNordrhein-Westfalen unter anderem dazu, daß Verwal-tung effektiv und demokratisch arbeiten kann.17 DasSchriftgut vermittelt einen in dieser unmittelbar von denInteressen der Bediensteten gepragten Uberlieferungs-form wohl einzigartigen Einblick in das Innenleben einerDienststelle, der sich nicht im Verwaltungsschriftgut derDienststellen widerspiegelt und auch in dieser Intensitatnicht bei externen Registraturbildnern wie Gewerkschaf-ten oder Arbeitsgerichten vorhanden ist.

Problematischer wird es naturgemaß, wenn man vondiesen grundsatzlichen Erwagungen auf die konkreteAktenebene herabsteigt. Im Hintergrund muß dabei im-mer das Bewußtsein stehen, daß die Aktenqualitat im-mer mehreren unberechenbaren Faktoren unterworfenist. Zu benennen ist insbesondere, daß trotz des vomGesetzgeber gewunschten Kontinuitatsprinzips die not-wendigerweise periodische Amtszeit des Personalrates,die 1958 anfanglich zwei Jahre betrug und mit der Ge-setzesnovellierung 1994 sinnvollerweise auf vier Jahreausgedehnt worden ist, eine Fluktuation von Personal-ratsmigliedern bedingt, die wiederum negative Auswir-kungen auf die Schriftgutqualitat haben kann. Des weite-ren handelt es sich um eine ehrenamtliche Tatigkeit, dieuberwiegend von Laien betrieben wird, denen es an denerforderlichen juristischen Kenntnissen mangelt. TrotzFreistellungen von der dienstlichen Tatigkeit ist es furPersonalrats-Mitglieder schwierig, die umfangreiche,komplexe und formalistische Materie nur annahernd zuubersehen und zu beherrschen. Hierbei durfte der Orga-nisationsgrad der Personalrats-Mitglieder in gewerk-schaftlichen Organisationen proportional zur Qualitat derPersonalrats-Arbeit stehen.

Unter Beachtung dieser Ausgangslage erscheint es trotzweitestgehend fehlender praktischer Erfahrungen legitim,

16 Krieg/Orth/Welkoborsky (wie Anm. 2) gehen von einem umfassendenVerhandlungsbegriff aus (vgl. § 37, Gliederungspunkt 1, S. 216), wah-rend Horst Welkoborsky, Landespersonalvertretungsgesetz Nord-rhein-Westfalen. Basiskommentar, (Koln 1996), nur die Protokolle derPersonalratssitzungen in die gesetzliche Regelung einbezieht (vgl.§ 37 Abs. 1, S. 102).

17 Vgl. hierzu die Landtagsdiskussion zur ersten Lesung der Gesetzent-wurfe von der Fraktion DIE GRUNEN, der Fraktion der F.D.P. sowieder Landesregierung zur Anderung des Landespersonalvertretungs-gesetzes, in: Landtag NW, 11. Wahlperiode, Plenarprotokolle, Bd. 12,hrsg. vom Landtag NW (Dusseldorf 1993), S. 12052 ff.

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die nachfolgenden Uberlegungen zur Bewertung zuaußern. Dazu ist es notwendig, sich vorab die drei obenerwahnten wesentlichen Registraturbereiche in Erinne-rung zu rufen, namlich a) Schriftgut, das sich ausdem gesetzlich vorgegebenem Aufgabenbereich ergibt,b) Materialien der gewerkschaftlichen Organisationenund c) Unterlagen der Dienststelle, die aus der Verpflich-tung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit erwachsen.

Der letztgenannte Registraturbereich kann bei den Be-wertungsuberlegungen nahezu vollstandig ausgeschlos-sen werden, da die Federfuhrung eindeutig bei derDienststelle liegt und das Schriftgut sich in organisch ge-wachsener Form in der Dienstregistratur befindet. Ledig-lich wenn der Personalrat eine Verwaltungsvorlage zumAusgangspunkt intensiver eigenstandiger Bearbeitungnimmt, kommt eine Archivwurdigkeit in Betracht.

Schwieriger ist die Bewertung der Materialien, die beiden Peronalraten im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mitden Gewerkschaften entstehen. Analog zu den Dienst-stellenunterlagen der Verwaltung waren diese nach demFederfuhrungsmodell18 kassabel. Aber der Grundsatz,Uberlieferung auch jenseits der eigenen Zustandigkeitzu berucksichtigen, spielt in diesem Fall eine besondereRolle, wenn man bedenkt, daß viele gewerkschaftlicheOrganisationen bislang nicht in der Lage sind, dasSchriftgut ihrer Basisverbande - und auf dieser Ebeneerfolgt in der Regel die Zusammenarbeit mit den Perso-nalraten - archivfachlichen Anforderungen entsprechendzu betreuen. Die Betatigung der Gewerkschaft in derDienststelle laßt sich demzufolge nur uber die Registra-tur des Personalrats dokumentieren, wobei die Quantitatund Qualitat gewerkschaftlicher Uberlieferung abhangigist vom Organisationsgrad der Personalrats-Mitgliederund der Große der Dienststelle. Konsequenterweise er-scheint eine Einzelaktenbewertung dieses Registratur-bereiches unausweichlich.

Was nun den Schwerpunkt der Schriftgutuberlieferunganbelangt, der den aktiven und entscheidungspragendenAufgabenbereich nach dem Landespersonalvertretungs-gesetz umfaßt, so konnen hier nur grob Bewertungsan-satze geschildert werden. Eine Archivwurdigkeit durftezweifellos bei den Protokollen der Personalrats-Sitzun-gen, der Vierteljahresgesprache und der Personalver-sammlungen sowie beim Schriftgut zu Dienstvereinba-rungen und zu Vorgangen, die aus dem Initiativrecht desPersonalrats resultieren, gegeben sein. Schwieriger istdie Beurteilung desjenigen Schriftgutes, das aus denMitbestimmungs- und Mitwirkungsverfahren hervorgeht.Hier ist es ohne Analyse der einzelnen Aktenbande kaummoglich, rationale Bewertungsentscheidungen zu treffen.Bei einer solchen Analyse steht die Frage im Vorder-grund, ob gegenuber der Dienststelle ein entscheidungs-pragendes Vorgehen des Personalrats betrieben wirdoder ob der Personalrat nur in passiver Form seine Betei-ligungsrechte ausubt respektive diese Rechte routine-maßig - wie beispielsweise bei formlichen und unproble-matisch verlaufenden Personalangelegenheiten wie Ein-stellung, Hohergruppierung, etc. - abwickelt.

IV. Uberlegungen aus archivrechtlicher Sicht

An dieser Stelle soll noch ansatzweise auf einige Beson-derheiten eingegangen werden, die sich im archivrechtli-chen Bereich bei der Ubernahme von Schriftgut des Per-sonalrats ergeben.

Der Personalrat untersteht nicht der Organisationsge-walt der Dienststellenleitung. Er ist ein unabhangiges Or-gan der Dienststellenverfassung, dessen Arbeit „nichtder amtlichen oder dienstlichen Tatigkeit zugerechnetwerden kann“.19 Da somit keine unmittelbare Anbie-tungs- und Ablieferungspflicht im Sinne des nordrhein-westfalischen Archivgesetzes besteht20, ist es zweck-maßig, das Schriftgut des Personalrats als Depositumzu ubernehmen. Diese Ubernahmeform gewahrleistetein besonderes Vertrauensverhaltnis zwischen Archivund Personalrat und durfte auch im Hinblick auf die Fluk-tuationssituation im Bereich der Personalrate dazu bei-tragen, ein kontinuierliches und insbesondere partner-schaftliches Verhaltnis aufzubauen.

Die obige Feststellung zum Status des Personalrates hatwesentliche Auswirkungen auf die Betreuung desSchriftgutbildners Personalrat durch das Archiv. Der Per-sonalrat ist zuallererst davon zu uberzeugen, daß Teileder von ihm produzierten Unterlagen archivwurdigesSchriftgut beinhalten, das zur dauernden Aufbewahrungaus seiner zumindest raumlichen Verfugungsgewalt indas Archiv ubergehen soll. Diese Aufgabe ist fur Archiv-bedienstete sicherlich nicht neu, es ist aber darauf hinzu-weisen, daß Schwierigkeiten bei den Bemuhungen umeine Schriftgutubernahme insbesondere dann entstehenkonnen, wenn der Personalrat die im Landespersonal-vertretungsgesetz aufgefuhrte, weitgehende Schweige-pflicht fur die Argumentation gegen eine Abgabe desSchriftgutes an das Archiv benutzt. Personalrats-Arbeitist in den uberwiegenden Aufgabenbereichen vertrauli-che Arbeit und bedingt eine Schutzpflicht insbesonderegegenuber den Beschaftigten. Diese Schutzpflicht wirkthauptsachlich intern im Verhaltnis zur Dienststelle, aberauch nach außen gegenuber Dritten. Beim Auftreten vonProblemen in diesem Bereich durften aber sowohl die Er-fahrungen, die die Archive im nahezu taglichen Umgangmit Daten- und Personlichkeitsschutz aufweisen konnen,als auch die im nordrhein-westfalischen Archivgesetz ent-haltenen Bestimmungen uber die Nutzung von Archivguteiner sachgerechten Diskussion forderlich sein.

Nur angedeutet werden soll in diesem Zusammenhangauch das Problem der Sperrfristen. Gemaß dem nord-rhein-westfalischem Archivgesetz darf Archivgut, das ei-nem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis oder be-sonderen Rechtsvorschriften uber Geheimhaltung unter-lag, erst 60 Jahre nach Entstehung der Unterlagen ge-nutzt werden. Sofern es sich um personenbezogenesSchriftgut handelt, darf das Archivgut fruhestens 10 Jah-re nach dem Tod der betroffenen Personen genutzt wer-den21. Beide Voraussetzungen treffen auf die Unterla-gen des Personalrates zumindest partiell zu, allerdingssollte im Bereich der sachbezogenen Akten - unter derPramisse, daß ein Depositalvertrag abgeschlossen wird- auf dem Vereinbarungswege mit dem Personalrat einean der regularen 30-jahrigen Sperrfrist orientierte Losung

18 Vgl. hierzu Hans-Dieter Kreikamp, Das Bewertungsmodell des Bun-desarchivs - Federfuhrung als Bewertungskriterium, in: Bilanz undPerspektiven archivischer Bewertung, hrsg. von Andrea Wettmann,(VOAS Marburg, 21), Marburg 1994, S. 83ff.

19 So Dieter Leuze, Anmerkungen zur Schweigepflicht im Personalver-tretungsrecht, in: Die Personalvertretung, 41. Jahrgang, Heft 1-2/98,S. 72.

20 Gesetz uber die Sicherung und Nutzung offentlichen Archivguts imLande Nordrhein-Westfalen vom 16.05.1989, Textabdruck in: Der Ar-chivar 43 (1990), Sp. 237-242, hier: § 3.

21 Wie Anm. 21, hier: § 7.

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angestrebt werden. Nicht nur dem Archivbenutzer durfteschwer zu vermitteln sein, weshalb Personalrats-Unter-lagen beispielsweise uber die Einfuhrung neuer Techno-logien oder aber die Beteiligung an Rationalisierungspro-zessen erst 60 Jahre nach Aktenschluß einzusehensind, wahrend die Gegenuberlieferung der Dienststellebereits nach einer 30-jahrigen Sperrfrist benutzt werdenkann.

V. Zusammenfassung

Das Schriftgut von Personalraten sollte starker als bisherin den Blickpunkt der Archive gelangen. Es bietet nichtnur wertvolle Einblicke in das Innenleben einer Dienst-stelle aus der Sicht der Beschaftigten, sondern kannauch genutzt werden zu weiterfuhrenden Untersuchun-gen uber Auswirkungen der Mitbestimmung auf eine effi-ziente, demokratische und fortschrittliche Verwaltungs-fuhrung sowie zur Rolle von Personalrat und Gewerk-schaft in der Ausgestaltung des sozialen Raumes inner-halb des offentlichen Dienstes.

Eine kontinuierliche Uberlieferung ist in aller Regel fru-hestens ab 1958, dem Zeitpunkt der Verabschiedungdes Landespersonalvertretungsgesetzes, zu erwarten.Etwaig vorhandene Uberlieferungen von Vorlaufergre-mien durften die zwar erfreuliche, aber seltene Aus-nahme sein. Mit den Gesetzesnovellierungen 1974,1984 und 1994 verbunden ist ein Ausbau der Rechtedes Personalrates und damit eine positive Beeinflus-

sung der Schriftgutqualitat. Die allerdings wiederumohnehin von mehreren unberechenbaren Faktoren wieEngagement und Organisationsgrad der Personalrats-Mitglieder (insbesondere der/des Vorsitzenden), Auspra-gung der Schriftlichkeit und fluktuationsbedingte Uberliefe-rungsbruche abhangig ist. Nicht zuletzt dadurch sind ver-allgemeinernde Bewertungsempfehlungen kaum auszu-sprechen.

Das Referat kann zum gegenwartigen Zeitpunkt nurdie Funktion eines Problemaufrisses haben und sollteals Anstoß fur eine weitere Beschaftigung mit diesemThema dienen. Das Archiv des LandschaftsverbandesWestfalen-Lippe bemuht sich momentan um eine Kon-taktaufnahme mit samtlichen Personalvertretungen imBereich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.Hierzu zahlen neben dem Gesamtpersonalrat anna-hernd 40 ortliche Personalrate, die im gesamten Auf-gabenspektrum des Landschaftsverbandes von denPsychiatrien uber Jugendeinrichtungen, der innerenVerwaltung und dem Straßenbau bis hin zu den Kultur-einrichtungen angesiedelt sind. Ob Bestandsbildun-gen erfolgen und gegebenenfalls in welchem Umfangdas Schriftgut der Personalvertretungen archivwurdi-ge Unterlagen beinhaltet, bleibt abzuwarten. Aber dieBemuhungen um eine Uberlieferungsbildung solltennicht zuletzt dazu beitragen, dem Ziel der Arbeit derArchive naherzukommen, namlich der moglichst um-fassenden Abbildung der gesellschaftlichen Wirklich-keit.

Die Uberlieferung der Betriebsrate

von Kornelia Rennert

Betriebsrate sind die laut Betriebsverfassungsgesetzgewahlten Interessenvertreter der Arbeitnehmer inner-halb eines Betriebes. Gewahlt werden konnen sie inBetrieben mit mindestens funf wahlberechtigten Be-schaftigten, von denen wiederum mindestens drei wahl-bar sind. Es soll im Rahmen dieser Ausfuhrungen nichtnaher darauf eingegangen werden, daß der BegriffBetrieb in der Wissenschaft unterschiedlich weit defi-niert wird, sondern Betrieb soll lediglich vereinfacht alsorganisatorisch weitgehend selbstandige, ortlich oft ab-gegrenzte Einheit der Produktion oder der Verwaltungverstanden werden. In einem Unternehmen kann esdementsprechend mehrere Betriebe und Betriebsrategeben, betriebsubergreifend werden dann neben deneinzelnen Betriebsraten Gesamtbetriebsrate und Kon-zernbetriebsrate gewahlt.

Betriebsrate sind weitgehend autonome Institutionen.Als Vertreter der Arbeitnehmer sind sie Teil des Unter-nehmens; der Arbeitgeber ist in bestimmtem Rahmenverpflichtet, ihre Arbeit zu unterstutzen bzw. zumindestnicht zu behindern. Er ist dem Betriebsrat gegenubernicht weisungsbefugt - auch nicht bezuglich der Archivie-rung von Betriebsratsakten. Betriebsrate arbeiten haufigeng mit den Gewerkschaften zusammen - rund 80 % dergewahlten Betriebsratsmitglieder sind auch Gewerk-schaftsmitglieder - aber sie sind keine gewerkschaftlicheEinrichtung.

Die historischen Wurzeln der Betriebsrate reichen bis indas 19. Jahrhundert zuruck. Die erste reichseinheitlicherechtliche Grundlage war das Betriebsrategesetz von1920. Nach dem Zweiten Weltkrieg gestattete der Alli-ierte Kontrollrat ab 1946 wieder die Errichtung von Be-triebsraten, aber erst 1952 wurde ein fur die Bundesre-publik Deutschland einheitliches Betriebsverfassungsge-setz verabschiedet. In seiner Fassung von 1972 ist es,abgesehen von einigen kleineren Anderungen, heute im-mer noch gultig.1

Als ich vor vier Jahren erstmals einen Vortrag zur Uber-lieferungsproblematik von Betriebsratsakten fur denDeutschen Archivtag in Hamburg vorbereitete, konnteich mich zu meiner Uberraschung zunehmend nicht desEindrucks erwehren, archivisches Neuland zu betreten.Ich fand keine Publikation, in der ein Archivar sich nahermit diesem Thema befaßt hatte, und Recherchen zeig-ten, daß eine systematische Archivierung von Betriebs-ratsakten nicht stattfand. Im Gegenteil, die Uberlieferungder Aktivitaten und Leistungen der Betriebsrate warmassiv gefahrdet. An dieser Situation hat sich bis heuteleider wenig geandert.

1 U.a. zur historischen Entwicklung der Betriebsrate vgl.: Kornelia Ren-nert - Betriebsrate und deren Uberlieferung. In: Archive und Gesell-schaft: Referate des 66. Deutschen Archivtags, 25. - 29. September1995 in Hamburg. Siegburg, 1997. (Der Archivar, Beibd. 1), S. 107 ff

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Bereits seit dem Betriebsrategesetz von 1920 ist ge-setzlich vorgeschrieben, daß uber jede Sitzung desBetriebsrates und seiner Ausschusse ein Protokoll an-gefertigt werden muß, daß mindestens den Wortlautder Beschlusse und die Stimmenmehrheit, mit der siegefaßt wurden, enthalt. Weitere Formerfordernisse, seies uber Inhalt, Verfasser oder Aufbewahrungsfristenstellt das Gesetz bis heute nicht. Allein der jeweiligeBetriebsrat entscheidet uber Aufbewahrung oder Ver-nichtung dieser Protokolle und aller eventuell sonstnoch entstehenden Akten. In einem der im Mannes-mann-Archiv uberlieferten Betriebsratsbestande findetsich eine vom Betriebsrat beschlossene Geschaftsord-nung vom Anfang der 1970er Jahre, in der es heißt:„Der Schriftwechsel des Betriebsrats, alle Niederschrif-ten und Akten werden vom Schriftfuhrer in den Rau-men des Betriebsrats aufbewahrt. ... Niederschriftendes Betriebsrats und der Ausschusse sind mindestenswahrend der folgenden ordentlichen Wahlperiode, Be-triebsvereinbarungen sind standig aufzubewahren.“Bei Betriebsraten in anderen Unternehmen wird es sicher-lich ahnliche Regelungen geben. Was nach Ablauf der hiergenannten Aufbewahrungspflicht - eine Wahlperiode dau-ert 4 Jahre - mit den Betriebsratsprotokollen und auch mitden sonstigen ev. beim Betriebsrat entstehenden Aktenpassiert, wenn sie nicht mehr fur den taglichen Geschafts-betrieb gebraucht werden, ist von vielerlei Zufallen undnicht zuletzt dem jeweiligen Interesse der einzelnen Be-triebsrate abhangig. Kaum ein Betriebsrat wird jedoch per-sonell oder finanziell in der Lage sein - wenn er denn diehistorische Bedeutung des von ihm produzierten Schrift-gutes erkennt - ein eigenes historisches Archiv zu unter-halten. Diese Situation hat dazu gefuhrt, daß die Quellen-uberlieferung der Betriebsrate bis heute außerst lucken-haft und zersplittert ist.

Der großte Teil der Betriebsratsakten wird sehr baldnach seiner Entstehung wieder vernichtet oder - alsvermeintlicher Privatbesitz der Betriebsratsmitglieder -nach deren Ausscheiden aus diesem Gremium mitnach Hause genommen, wo sie in den folgenden Jah-ren fruher oder spater - zumeist spatestens nach demTod des jeweiligen Betriebsratsmitgliedes - einer gro-ßeren Aufraumaktion zum Opfer fallen und vernichtetwerden.

Es gibt kein zentrales Archiv fur Betriebsratsakten. Voruber zehn Jahren, 1987, grundete die Hans-Bockler-Stif-tung ein historisches Archiv zur Geschichte der Mitbe-stimmung, das auch Betriebsratsakten aufnehmensollte. Bereits nach vier Jahren, 1991, wurden diese Be-strebungen ersatzlos eingestellt. Die bis dahin ubernom-menen Akten sind zum großten Teil an die jeweiligen Be-triebsrate bzw. deren Nachfolger zuruckgegeben wor-den. Einige wenige gelangten mit Einverstandnis der Be-triebsrate in die zustandigen Unternehmensarchive, z.B.der Bestand der Mannesmannrohren-Werke Remscheidin das Mannesmann-Archiv. Die Einrichtung eines sol-chen zentralen Archivs war meines Erachtens ohnehinnicht sinnvoll und rechtlich zumindest umstritten. Die Un-ternehmensleitung hat zwar selbst keinen Zugriff auf dieAkten des Betriebsrates, konnte aber im Einzelfall si-cherlich verhindern, daß Unterlagen an Außenstehendeabgegeben werden, wenn diese Akten geheimhaltungs-pflichtige Interna aus der Arbeit des Unternehmens oderschutzwurdige Interessen von Mitarbeitern beinhalten -und davon ist bei Betriebsratsakten auszugehen. Mit dersicherlich schwierigen Problematik der dauerhaften Fi-

nanzierung einer solchen Einrichtung will ich mich garnicht erst auseinandersetzen.

Die Erfahrung lehrt, daß der beste Aufbewahrungsort furAkten der Ort bzw. das unmittelbare Umfeld ihrer Entste-hung ist. Dort werden sie am haufigsten vermutet undnachgefragt, dort stehen sie inhaltlich in einem sinnvol-len Kontext und dort ist auch die Anschlußuberlieferungam ehesten gewahrleistet. Im Fall von Betriebsratsaktenbedeutet dies Archivierung beim Betriebsrat selbst oder -wenn er die Akten fur seinen laufenden Geschaftsbetriebnicht mehr benotigt - im Unternehmensarchiv, wenn dasUnternehmen eine solche hauptamtlich betreute Einrich-tung besitzt. Nur in Fallen, in denen in einem Unterneh-men kein eigenes Unternehmensarchiv besteht oder dasUnternehmen selbst bereits nicht mehr existiert, solltedie Abgabe von Betriebsratsakten an andere Institutio-nen in Betracht gezogen werden. Deutschland besitzteine so vielfaltige Archivlandschaft, daß es auch in die-sem Fall fur Archivgut Moglichkeiten der dauerhaftenBewahrung gibt.2

Auch heute schon findet man Archivalien von Betriebs-raten vereinzelt in Regionalen Wirtschaftsarchiven,Stadtarchiven, bei Arbeiterkammern oder den Archivender Einzelgewerkschaften. Diese Tatsache wirft aber be-reits das nachste, daraus folgende Problem auf. Es gibtkein Findmittel, um festzustellen, ob und wenn ja wo dieBetriebsratsakten eines Unternehmens uberliefert sind.Denn ich bin mir sicher, auch die Mitglieder der jeweili-gen Betriebsrate werden nach Ablauf einiger Jahrekeine Auskunft mehr daruber geben konnen, wo denndie Akten ihrer Vorganger abgeblieben sind, dazu ist diepersonelle Fluktuation zu groß.

Kurz erwahnen mochte ich an dieser Stelle die im ver-gangenen Jahr, 1998, in Bochum gegrundete StiftungBibliothek des Ruhrgebiets3. Kern dieser Stiftung istdie Bewahrung der ihr ubertragenen Buchbestandeder Bergbau-Bucherei in Essen, der Bibliothek desInstituts zur Erforschung der europaischen Arbeiter-bewegung der Ruhr-Universitat Bochum sowie derBibliothek der fruheren Industriegewerkschaft Berg-bau und Energie. Als eigenstandige Abteilung der Stif-tung ist das Archiv fur soziale Bewegungen eingerich-tet worden, das den Archivbestand der fruheren Indu-striegewerkschaft Bergbau und Energie ubernommenhat. Dieses Archiv soll auch als uberregionale Auf-fangstelle fur andere Archivalien, u. a. zur betriebli-chen und uberbetrieblichen Mitbestimmung dienen,wenn deren dauerhafte Sicherung durch andere Archi-ve nicht gewahrleistet ist.

Der großte Teil der bis heute uberlieferten Betriebsrats-akten - leider insgesamt viel zu wenige - befindet sich inden Wirtschaftsarchiven, d.h. vor allem in den Histori-schen Archiven der Unternehmen. Dies konnte ich durcheine Umfrage feststellen, die ich fur meine Ausfuhrungenauf dem Archivtag 1995 bei hauptamtlich besetzten Wirt-schaftsarchiven in Westdeutschland durchgefuhrt habe.

2 Wessel, Horst A. - Deutsche Wirtschaftsarchive: Bestande, Forschun-gen, Entwicklungen. In: Die deutsch-franzosischen Wirtschaftsbezie-hungen 1945 - 1969. Kolloquium des Deutschen Historischen Insti-tuts Paris 8. - 10. Dezember 1994, hrsg. von Andreas Wilkens.Sigmaringen, 1997 (Beihefte der Francia, Bd. 42)

3 Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets. In: Gluckauf 134 (1998), Nr. 7/8,S. 425 ff

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Bei den ostdeutschen Archive habe ich aufgrund der zudiesem Zeitpunkt noch ungeklarten archivischen Situati-on in den neuen Bundeslandern nur stichprobenweiseangefragt, sie wurden in meinen damaligen Ausfuhrun-gen, die ich hier nur kurz heranziehen will, zunachstnicht berucksichtigt.4

Meine Umfrage ergab, daß 69 % aller westdeutschenWirtschaftsarchive keine Akten aus der Arbeit von Be-triebsraten besaßen, lediglich 31 % hatten Akten aus derProvenienz des Betriebsrates in ihrem Bestand, unddiese wiederum wiesen oft große Lucken auf. Eine Ar-chivschachtel fur mehrere Jahrzehnte Laufzeit ist dabeikeine Seltenheit. Etwas besser ist die Uberlieferung derBetriebsratsarbeit in den Akten der Unternehmenslei-tung, immerhin 49 % der westdeutschen Wirtschaftsar-chive besaßen Akten des Managements, deren Inhaltsich auf den Betriebsrat bezieht - haufig aber lediglichauf die Organisation von Betriebsratswahlen. Aufgrundder unterschiedlichen Blickrichtung und der manchmalauch voneinander abweichenden Interessenlage von Ar-beitgeber und Arbeitnehmer konnen solche Akten aller-dings ohnehin hochstens eine sinnvolle Erganzung,nicht aber eine Alternative zur Uberlieferung von origina-ren Betriebsratsakten sein.

Die Reaktion auf meinen Hamburger Vortrag war zu-nachst sehr positiv. Von den Archivaren und auch vonder Forschung wurde die Aufdeckung dieses Mißstan-des begrußt, und innerhalb kurzer Zeit konnten von ver-schiedenen Unternehmensarchiven einige Betriebsrats-bestande ubernommen werden. Wie ich damals auchausfuhrte, hatten ein großer Teil der Wirtschaftsarchiva-re, genau 55 %, bis zu diesem Zeitpunkt aus den unter-schiedlichsten Grunden den Betriebsrat niemals person-lich auf die Ubernahme seiner Akten angesprochen.Meine Umfrage hatte nun die erfreulich direkte Folge,daß einige unserer Kollegen sie zum Anlaß nahmen,den Betriebsrat endlich anzusprechen. So bekam ich mitder Rucksendung meines Fragebogens mehrfach mitge-teilt, daß auf diese Anregung hin historische Akten ge-rade ubernommen worden seien oder in der nachstenZeit erwartet wurden. Viele Kolleginnen und Kollegennutzten auch die im darauffolgenden Jahr erscheinendePublikation meines Vortrages im Tagungsband oder dieausfuhrlichere, in Archiv und Wirtschaft erschieneneFassung und sandten sie in Kopie an die Betriebsrateihres Unternehmens mit der Bitte, eine Aktenabgabe zuuberdenken. Auch wir im Mannesmann-Archiv sind aufdiese Weise verfahren und die Reaktion war erfreulich.Einige Betriebsrate ubergaben uns ihre historischen Ak-tenbestande zur dauerhaften Aufbewahrung, z.T. nach-dem sie unser Unternehmensarchiv besichtigt hattenund sich erstmals intensiver mit unserer Arbeit auseinan-dergesetzt hatten. Einige Betriebsratsbestande vermit-telten wir auch an Zweigarchive des Mannesmann-Ar-chivs, die wir in großeren Tochtergesellschaften vor Ortbei den einzelnen Unternehmen unterhalten. Erschrek-kend war allerdings die große Zahl der Antworten, in de-nen uns mitgeteilt wurde, daß man leider keine Aktenbesitze, die alter als die letzte bzw. aktuelle Amtsperiodedes Betriebsrates waren. Das Mannesmann-Archiv hattezwar schon vor dieser systematischen Kontaktaktion Ak-ten aus der Provenienz Betriebsrat in seinem Bestand,und zwar aus der Zeit seit 1916, aber diese Zahl steht inkeinem Verhaltnis zu dem was im Unternehmen seitdem Ende des Zweiten Weltkrieges an Betriebsratsar-beit geleistet wurde.

Insgesamt ist die Uberlieferungssituation der Betriebs-ratsquellen also immer noch unbefriedigend, und diesnicht nur bei Mannesmann, sondern auch bei vielen an-deren Unternehmensarchiven. Leider ist es uns und un-seren Kollegen aus den anderen großen Wirtschaftsar-chiven trotz vieler einzelner, durchweg recht positiv ver-laufener Gesprache mit Betriebsratsmitgliedern nicht ge-lungen, die Gesamtheit des Betriebsrates zu uberzeu-gen und zu einem Beschluß zu veranlassen, der die Ak-tenuberlieferung konzernubergreifend systematisierenwurde. Immer wieder wird von den Betriebsratsmitglie-dern mit der Einhaltung von Datenschutzbestimmungenargumentiert und die Akten werden eher vernichtet, alsdaß man sie an ein Archiv ubergibt. Es scheint bei vielenBetriebsratsmitgliedern ein tiefes Mißtrauen gegenuberder vermeintlichen „Arbeitgeberinstitution“ Unterneh-mensarchiv zu bestehen und gleichzeitig ein mangeln-des historisches Bewußtsein und ein volliges Unver-standnis fur die langfristige Bedeutung der eigenen Ar-beit. Hier hilft nur kontinuierliche Uberzeugungsarbeitder Archivarin bzw. des Archivars getreu dem Motto,Steter Tropfen hohlt den Stein’.

Wir im Mannesmann-Archiv, aber auch zahlreiche an-dere Wirtschaftsarchivarinnen und -archivare habenviel Zeit und Engagement auf die Akquisition von Be-triebsratsakten verwendet, und es darf mit Recht ge-fragt werden, ob das Ergebnis diesen Aufwand wert ist,insbesondere wo Betriebsratsakten aufgrund des hau-fig sehr personenbezogenen Inhalts sehr genau auf dieDauer der Sperrfristen gepruft werden mussen und ofterst nach sehr langer Zeit der Forschung zuganglichgemacht werden konnen. Was beinhalten Betriebsrats-akten, was nicht in Doppel- oder gar Mehrfachuber-lieferung auch in anderen Quellen der Wirtschafts-archive zu finden ist?

Auf diese Fragen gibt es meines Erachtens nur eine Ant-wort: Ja, der Inhalt der Akten rechtfertigt diesen Aufwandund je weniger Betriebsratsquellen insgesamt uberliefertwerden, um so großer ist die Bedeutung derer, die vorder Vernichtung bewahrt werden konnen - wo auch im-mer, im Unternehmensarchiv oder in jedem anderenArchiv.

Spatestens seit dem Gesetz von 1920 haben Betriebsra-te ein Mitspracherecht bei der Einfuhrung neuer Techni-ken und Arbeitsmethoden, bei der Verwaltung von Pen-sionskassen, Werkswohnungen und sonstigen betriebli-chen Sozialeinrichtungen, bei der Erweiterung, Ein-schrankung oder Stillegung von Betrieben, bei der Ein-stellung, Versetzung und Entlassung von Arbeitnehmernund bei der Bekampfung von Unfall- und Gesundheits-gefahren. Mitwirkungsrechte hat der Betriebsrat auch -falls keine anderweitigen tarifvertraglichen Regelungenbestehen - bei der Festsetzung von Akkord- und Stuck-lohnen, der Arbeitszeit, den Urlaubsregelungen, bei derEinfuhrung neuer Entlohnungsmethoden, beim Betriebli-chen Vorschlagswesen und auch bei der Aus- und Wei-terbildung. Der Betriebsrat ist ermachtigt zum Abschlußvon Arbeitsordnungen und bindenden Betriebsvereinba-rungen. Er ist der erste Ansprechpartner der Arbeitneh-mer bei Problemen aller Art, beim Konflikt mit dem Vor-

4 vgl. dazu Kornelia Rennert - Zur Uberlieferungsproblematik von Be-triebsratsakten. Erweiterte Fassung des Vortrags vom deutschenArchivtag 1995. In: Archiv und Wirtschaft, 29. Jg., 1996, Heft 3,S. 123 ff

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gesetzten ebenso wie bei Problemen mit den Kollegen.Wahrend die Akten der einzelnen Betriebsrate und dervon ihnen gebildeten zahlreichen Ausschusse viele Fa-cetten des taglichen Lebens im Unternehmen vor Ortdirekt widerspiegeln in Diskussionen uber Betriebsab-laufe, Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen,Unfallberichten und Verbesserungsvorschlagen, inNotizen uber die Gesprache sowohl mit Arbeitnehmernals auch mit der Unternehmensleitung, finden sich inden Akten der ubergeordneten Gremien wie Gesamt-und Konzernbetriebsraten verstarkt Themen wie dieKontakte zu den einzelnen im Unternehmen vertrete-nen Gewerkschaften, den Berufsgenossenschaften,die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, die Be-schaftigungslage und in Krisenzeiten auch zu Umstruk-turierungen, Vorruhestandsregelungen und Sozialpla-nen. Und am Rande findet man - wie das folgende Bei-spiel zeigt - auch Unterlagen uber den Alltag in unsererGesellschaft, die man an dieser Stelle nicht unbedingterwarten wurde.

In der Regel hat der Betriebsrat ein Mitspracherechtbei der Vermietung und dem Verkauf von Werkswoh-nungen sowie von im Besitz des Unternehmens be-findlichen Hausern. Die eigentliche Hausverwaltung istAufgabe des Unternehmens, bzw. der von ihm beauf-tragten Dienstleistungsgesellschaften. Trotzdem fin-den sich in den Akten der Wohnungsausschusse, diezahlreiche Betriebsrate eingerichtet haben, haufig Un-terlagen mit Beschwerden der Mieter uber den Zu-stand der Wohnungen, uber Konflikte mit den Nach-barn und ahnliche Probleme, in denen der Betriebsratsowohl von der Arbeitnehmer- als auch von der Arbeit-geberseite als potentieller Vermittler angesprochenwird. In Unterlagen aus den 1970er Jahren findet sichder interessante Fall, daß man aufgrund aktuellerSchwierigkeiten im taglichen Zusammenleben in Erwa-gung zog, der standig steigenden Zahl der turkischenMieter die Hausordnung in turkischer Sprache auszu-handigen. Diese eigentlich auf den ersten Blick ver-nunftige, selbstverstandlich erscheinende Maßnahmeunterblieb aber letztendlich aus rechtlichen Grunden.Mehrere Versuche, die Hausordnung ins Turkische zuubersetzen, fielen so unterschiedlich aus und wiesenbei der zur Kontrolle angeforderten Ruckubersetzungso viele sinnentstellende Formulierungen aus, daßletztendlich die Rechtsabteilung ihr Veto einlegte. Esist ein interessanter Hinweis nicht nur fur Sprachwis-senschaftler, daß offensichtlich zahlreiche deutscheRechtsbegriffe sich als nicht ubersetzbar erwiesen unddurch Umschreibungen erklart werden mußten, dienach Ansicht der Juristen die eindeutige Rechtsposi-

tion des Vermieters gefahrdeten. Die deutsche Haus-ordnung blieb somit rechtswirksamer Bestandteil desMietvertrages, die turkische Ubersetzung durfte nichtausgehandigt werden, und das tagliche Zusammen-leben zwischen Auslandern und Deutschen wurdeweiter erschwert.

Die Aktenuberlieferung der Betriebsrate ist ein kaumzu uberschatzender Quellenfundus der Wirtschafts-und Sozialgeschichte. Diese Archivalien beleuchtendie Unternehmen aus der Perspektive der in ihr arbei-tenden Menschen, und das ist immerhin die Mehrheitunserer Bevolkerung. Bei den Betriebsratswahlen1994 inklusive der Nachwahlen in den privatisiertenPostunternehmen 1996 sind bei einer Wahlbeteiligungvon 77,26 % in 40.441 Betrieben 225.769 Betriebsrats-mitglieder gewahlt worden5, d. h. weit uber 200.000 Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten hier dieunmittelbaren Alltagsinteressen - oder zumindest soll-ten sie dies - ihrer Kolleginnen und Kollegen. In diesenAkten finden wir zum Teil Antworten auf Fragen, diedie Forschung so haufig stellt und so schwer beant-worten kann. Wie sieht der Arbeitsalltag aus? WelcheProbleme beschaftigen die Arbeitnehmer? Und viel-leicht konnten diese Akten auch die Fragen beantwor-ten, die von Arbeitnehmer-, Gewerkschafts-, Arbeitge-ber- und auch Politikerseite so haufig nur theoretischdiskutiert werden. Welche Bedeutung hat die innerbe-triebliche Mitbestimmung fur ein Unternehmen, fur dieGesellschaft? Vermag sie die ihr zugedachten Aufga-ben im Betrieb zu erfullen? Welchen Einfluß hat derBetriebsrat auf den technischen und wirtschaftlichenStrukturwandel? Welche Schwachen und welche Lei-stungen hat ein Betriebsrat? Hier fehlen empirischeUntersuchungen auf der Basis einzelner Unterneh-men, die sich dann branchen- und gesellschafts-ubergreifend uberprufen lassen. In keinem anderenLand der Welt ist der Dialog zwischen Arbeitgeber undArbeitnehmer in einer solchen Form institutionalisiertwie in Deutschland. Konnten hier in Zeiten zunehmen-der Globalisierung nicht Lehren gezogen werden, z. B.fur die Regelung der Mitbestimmung auf europaischerund globaler Ebene? Ohne die Akten der Betriebsrateund die archivische Basisarbeit der Wissenschaftlerwerden viele dieser Fragen auf Dauer unbeantwortetbleiben.

5 Zahlen nach freundlicher Auskunft der Abt. Arbeits-, Sozial- und Mit-bestimmungsrecht des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Dusseldorf.Die statistische Zusammenfassung der Betriebsratswahlergebnissevon 1998 wird voraussichtlich erst im Sommer 1999 vorliegen.

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Die Wendener Hutte – Technisches Kulturdenkmalmit großer schriftlicher Uberlieferung

von Monika Loecken

Im Sommer 1976 stellte der damalige Kreisheimatpflegerund Kreisdirektor a. D. Theo Hundt die in der WendenerHutte vorgefundene schriftliche Uberlieferung mit den fol-genden Worten im „Sauerlandischen Volksblatt“ vor:

„Das Archiv der Wendener Hutte leuchtet .... in großeund historisch bedeutsame wirtschaftliche Zusam-menhange und gibt Aufschlusse, die weit uber dieGrenzen des Kreises Olpe hinausgehen“.

Auf der Grundlage dieser Beschreibung, die auch vonanderen Personlichkeiten wie zum Beispiel dem damali-gen Oberkreisdirektor Grunebach oder dem damaligenLeiter des Westfalischen Freilichtmuseums in Hagen,Herrn Prof. Dr. Sonnenschein geteilt wurde, entschloßman sich zunachst fur eine Sanierung der Huttenanlage.Die Einschatzung ebnete aber auch den Weg zu demspateren Entschluß, hier ein Museum zur Eisentechnolo-gie im sudlichen Westfalen einzurichten.

Durch diese - ich mochte es „Euphorie der fruhen Tage“nennen - wurde, um es mit den Worten des Westfali-schen Wirtschaftsarchives zu sagen, eine „Renais-sance“ der Wendener Hutte eingeleitet und festgeschrie-ben. Ich bleibe im Bild, wenn ich Herrn Dr. Ing. EberhardNeumann als „Geburtshelfer“ bezeichne, denn er war es,der im Jahre 1969 im Auftrage des Landeskonservatorsden Kreis entlang historischer Karten bereiste und quasizufallig auf das lexikalisch nirgendwo verzeichnete, aberin situ erhaltene Gebaudeensemble der Hutte samt dem,auf dem Dachboden der ehemaligen Verwaltung aufbe-wahrten, Huttenarchiv stieß.

Letzteres ubernahm das Westfalische Wirtschaftsarchivim Jahre 1975 als Depositum und veroffentlichte vor funfJahren das Inventar zum Archivbestand F 40.

Im Jahre 1977 begann der Kreis Olpe und die GemeindeWenden im Verein mit einem Forderkreis zur Erhaltungder Hutte sowie einer in Wendenerhutte ansassigen In-teressengemeinschaft mit dem Wiederaufbau der Anla-ge. Rekonstruiert wurden der Hochofen, die Geblase,alle Wellen- und Wasserrader und das Hammerwerk.Damit war man dem Zeitgeist in diesem Falle etwas vor-aus, denn in der Mitte der 1970er Jahre war ein solchesEngagement durchaus noch nicht ublich.

Sie wissen, daß uber lange Zeit allein der asthetischeWert bestimmend fur den Erhalt von denkmalwurdigenObjekten war und daß erst das „Gesetz zum Schutz undzur Pflege der Denkmale im Lande Nordrhein-Westfalen“seit dem 11. Marz 1980 einen Denkmalbegriff fest-schrieb, der auch die Erhaltung und Nutzung vorsieht,wenn ein Gebaude oder eine technische Anlage bedeu-tend fur die Geschichte der Menschen, fur Stadte undSiedlungen oder fur die Entwicklung der Arbeits- undProduktionsverhaltnisse ist und fur die Erhaltung undNutzung kunstlerische, wissenschaftliche, volkskundli-che oder stadtebauliche Grunde vorliegen.

Damit wurde den Unteren Denkmalbehorden aufgegeben,nicht nur allgemeine Bau- und Bodendenkmale unter

Schutz zu stellen, sondern auch Denkmale der Sozial-,Wirtschaft- und Technikgeschichte zu schutzen, zu pflegen,sinnvoll zu nutzen und wissenschaftlich zu erforschen.

Diese Aufgaben waren nun auch in Bezug auf die Wen-dener Hutte zu losen, die als Technisches Kulturdenkmaldurch offentliche Zuschusse, die vor allem durch denLandschaftsverband Westfalen-Lippe, die GemeindeWenden und den Kreis Olpe geleistet wurden, von demGesetz profitiert hatte, nun aber vor dem Problem standuber die Sanierung hinaus ein plausibles Konzept zu er-stellen. Sie mussen bedenken, daß die Diskussion amBeginn der 1980er Jahre noch nicht den heutigen Stan-dard hatte und man, anders als heute, kaum auf ver-gleichbare Projekte zuruckgreifen konnte.

Insbesondere gestalteten sich die Moglichkeiten derNutzung und der Erforschung zunehmend schwierig.Der enge Zusammenhang von Bestandserforschungund Rekonstruktion machten ganz praktisch deutlich,daß das Hochbauamt des Kreises allein hier nicht weiterkommen wurde. Man erkannte daruber hinaus, daß we-der die Technik der Eisenverhuttung noch die von die-sem Gewerbe abhangigen wirtschaftlichen und sozialenBedingungen allein vom Baubestand ablesbar sein wur-den. Eine Translozierung ins Westfalische Freilichtmu-seum in Hagen wurde nur kurz ernsthaft diskutiert, dannaber allein aus Grunden der enormen Massen und Ko-sten wieder verworfen.

Im Jahre 1989 entschloß man sich deshalb zur Grun-dung eines Museumsvereins Wendener Hutte e. V., dersich als eingetragener Verein im Sinne des Vereinsge-setzes konstituierte. Sein Ziel war und ist der Ausbaudes Technischen Kulturdenkmals Wendener Hutte undder Aufbau eines Museums zum Eisengewerbe im sud-lichen Westfalen. Der Verein, der aus 7 Mitgliedern be-steht, (dem Kreis Olpe, der Gemeinde Wenden, derHandwerkerschaft des Kreises Olpe, dem Unternehmer-verband des Kreises Olpe, dem Verein Deutscher Eisen-huttenleute, dem Forderkreis Wendener Hutte sowie derInteressengemeinschaft Wendenerhutte) wird durch ei-nen Vorstand vertreten, dessen Vorsitz in 2 jahrlichemWechsel vom Burgermeister der Gemeinde Wenden aufdem Oberkreisdirektor des Kreises Olpe ubergeht. DerVorstand bestimmt einen Geschaftsfuhrer, der dieVereinsgeschafte fuhrt und bei dem es sich satzungsge-maß um einen hoheren Beamten des Kreises Olpe han-deln muß. Die wissenschaftliche Museumsleitung wurdeals hauptamtliche Kraft installiert. Diese Form der kom-munalen Teiltragerschaft hat aus meiner Sicht nur Vor-teile: Sie enthebt den Verein den engen Grenzen, dieeine kameralistischen Haushaltsfuhrung fordert, sie er-moglicht vielmehr eine flexible Mittelbewirtschaftung undsichert zugleich eine große institutionelle Bestandigkeit.

Die Huttenanlage sowie das Grabensystem stehen heuteunter Denkmal- (bzw. Bodendenkmal) Schutz. Das Ham-merwerk wurde als Reckhammerwerk rekonstruiert undermoglicht regelmaßige Schmiedevorfuhrungen. Seinebeiden Schwanzhammer und Geblase, die durch drei

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Monika Loecken: Die Wendener Hutte – Technisches Kulturdenkmal mit großer schriftlicher Uberlieferung

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Wasserrader angetrieben wer-den, und das große Kasten-geblase des Hochofens, miteinem 6 Meter hohen Wasser-rad, geben den Besucherneinen Einblick in die Moglich-keiten der mechanischen Nut-zung der Wasserenergie in derZeit von der Verbreitung derDampfmaschine. Neben dentaglichen Huttenfuhrungenwerden jahrliche Sonderaus-stellungen sowie monatlicheSchmiedevorfuhrungen undnach Absprache, Fuhrungenauf einem huttenkundlichenWanderweg angeboten.

Die Eisenhutte

Die Hutte ist eine Grundungdes Jahres 1728, sie liegt ander oberen Bigge in der Ort-schaft Wendenerhutte.

Kurfurst Clemens August, Erzbischof von Koln, konzes-sionierte sie Peter und Johann Ermert, die im sayni-schen Betzdorf, also im heutigen Rheinland-Pfalz, an-sassig waren. Die Familie Ermert war eine vermogendeburgerliche Familie. die Kleriker, Schoffen und Unterneh-mer hervorgebracht hatte Nach dem DreißigjahrigenKrieg wandten sich verschiedenen Familienmitgliederdem Bergbau und Eisenhuttenwesen zu. Doch schonnach wenigen Jahren gelangte die Hutte in den Besitzder Familie Remy, die im 18. Jahrhundert zu den Pionier-en der deutschen Eisenindustrie zahlte. Am Ende des18. Jahrhunderts bildete die weitverzweigte Familie inBendorf und Neuwied den Kern eines rheinischen, durchHeirat verbundenen. Eisensyndikats, dessen wirtschaft-licher Mittelpunkt das Werk Rasselstein in Neuwied war.Hier wurde im Jahre 1773 das Walzen von Eisenstabenin die deutsche Eisenindustrie eingefuhrt; hier nahmendie Remys 1824 Versuche zum englischen Puddelver-fahren auf, das sie erstmalig in Deutschland, in Alf ander Mosel, zu einem wirt-schaftlichen Verfahrenweiterentwickelten. Dieersten in Deutschland ver-legten Eisenbahnschie-nen auf der Strecke Nurn-berg - Furth sind auf denWalzen des Rasselsteinshergestellt worden. DieWendener Hutte gehorteseit der Mitte des 18.Jahrhunderts dem Remy-schen Kompanien an. Wil-helm Remy war zunachstin Teilhaberschaft an derHutte beteiligt, seit demJahre 1771 gehorte dasWerk ganz der Familie. Ih-rem Einfluß ist es zu ver-danken, daß die Wende-ner Hutte sich aus derReihe der anderen imsudlichen Westfalen an-sassigen Huttenwerke

durch die Qualitat ihrer Produkte heraushob. So wurdeder erste im Herzogtum Westfalen erbaute Rafinierham-mer, auf dem hochwertige, auf dem Rotterdamer Eisen-markt absetzbare Stahlstabe geschmiedet werden konn-ten, dem Huttenwerk im Jahre 1774 angegliedert. Erstmit dem technischen Ubergang von den mit Holzkohlebetriebenen Hochofen, zu denen mit Steinkohlen betrie-benen und der damit verbundenen Verlagerung der Ei-sen- und Stahlindustrie ins Ruhrgebiet sowie dem Bauder Eisenbahnlinie von Siegen nach Hagen durch dasLennetal, gingen die Standortvorteile verloren und dieProduktion auf der Wendener Hutte war nicht mehr kon-kurrenzfahig. Im Jahre 1866 wurde das Werk endgultiggeschlossen.

Der Archivbestand

Die Situation, daß sowohl in situ erhaltenen Gebaudenals auch ein huttenkundliches Archiv erhalten werdenkonnte, schafft einen fur die altere Wirtschafts- und

Gießhallenbauplan 1809, Baumeister Muller, Museumsarchiv Wendener Hutte

Ansicht der Wendener Hutte, Zeichnung Hermann Remy um 1826, Museumsarchiv WendenerHutte

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Monika Loecken: Die Wendener Hutte – Technisches Kulturdenkmal mit großer schriftlicher Uberlieferung

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Technikgeschichte seltenen Fall. Der vor Ort aufgefun-dene Archivbestand befindet sich heute - wie gesagt - imWirtschaftsarchiv in Dortmund, er umfaßt 699 Nummernund reprasentiert funf Zeitabschnitte: Relativ wenig hatsich aus der Zeit der Familie Ermert (1728-1769) erhal-ten, hier finden sich Journale sowie Vertrage. Die Ge-werkschaft Bruder Remy und Bayer (1770 bis 1820) istmit einer großeren Menge Archivalien vertreten. Hervor-zuheben sind hier die Geschaftsbucher sowie umfang-reiche Aufzeichnungen des Huttenverwalters GerhardBayer. Aus dieser Epoche stammen auch die Manu-skripte des Siegener Bergmeisters Johann Daniel En-gels uber den Siegener Erzbergbau und ein fur ihn ver-faßtes Manuskript des Sangerhauseners Friedrich Roh-de uber eine mineralogische Reise in den Staat New Jer-sey (USA) 1802. Die dichteste Uberlieferung betrifft dieJahre zwischen 1820 und 1866. Erhalten sind u. a. Kor-respondenzen mit Geschaftspartnern aus einzelnenJahren zwischen 1831 und 1855. Vom Volumen her sindneben der Korrespondenz mit der Familie Remy die ein-gegangenen Briefe der Bankhauser Braselmann undBredt (837 Briefe) und Johann Herstatt, Koln (609 Brie-fe) besonders hervorzuheben. Weitere thematischeSchwerpunkte betreffen Bauprofile und Verordnungenzum Straßen- und Eisenbahnbau zwischen 1819 und1848 sowie Eingaben zu konkurrierenden benachbartenHutten. Die Endphase des Huttenbetriebs reprasentie-ren Geschaftsbucher, Vertrage und Plane zu techni-schen Anlagen der Familie Born nach 1866. Den chrono-logischen Schluß bilden Bestande zum Ingenieur LouisBorn sowie zu einem Nachfolgebetrieb auf dem Hutten-gelande, der Strumpfstrickerei Niklas. Hinzu kommennoch Dokumente in privatem Besitz aus der Zeit von1761, 1810 bis 1866, unter denen sich Briefwechsel derGebruder Remy, Zeichnungen, Preisvergleiche mit eng-lischer Ware und technische Skizzen befinden. Noch vorvier Monaten erhielt der Verein ein Kontobuch aus einemFamilienbesitz in Wenden.

Neben diesem in der Huttenverwaltung selber angefalle-nen Archivbestand sind aber auch noch die Komplemen-tarbestande in den verschiedenen Staats- und Landes-sowie den Gemeinde und den Kirchenarchiven zu be-rucksichtigen.

Wie schon erwahnt stammt die Familie Ermert aus derGrafschaft Sayn und die saynischen und nassauischenHuttenverwaltungen reagierten besonders in der Mittedes 18. Jahrhunderts sehr heftig auf die westfalischeKonkurrenz, die ihnen plotzlich erwuchs. Das heißt, daßsich Aspekte der Huttengeschichte im Landeshauptar-chiv Koblenz befinden.

Die Landeshoheit lag bis 1803 bei den Kolner Furst-bischofen mit Sitz in Bonn und Regierung in Arnsberg,so daß in Bezug auf die Bergamter, die Regierung inArnsberg, den Landkreis Olpe und die preußische Zeitnach 1816 auf Bestande des NRW Staatsarchivs Mun-ster und in Bezug auf das Bergamt Bonn auf die Bestan-de des NRW Hauptstaatsarchivs Dusseldorf zuruckge-griffen werden kann. Die kurze Zeit der Hessen-Darm-stadtischen Regierung zwischen 1803 und 1816 schlagtsich in den Bestanden des Staatsarchivs Wiesbadennieder.

Zu berucksichtigen sind auch Bestande im KreisarchivOlpe, den Stadtarchiven in Olpe, Attendorn und Drolsha-gen und dem Gemeindearchiv in Wenden sowie in den

zustandigen Personenstandsarchiven der Kirchenge-meinden.

Akten zur Familie Remy finden sich neben dem Bestanddes Stadtmuseums in Bendorf vor allem im privatem Be-sitz der Familie. Untersuchungen zur Geschiche derRohstoffversorgung um 1800, insbesondere der Versor-gung mit Holz, sollten dagegen auf Bestande des Frei-herrn von Furstenbergischen Archiv Herdringen, unddes Graf von Spee’schen Archivs, Schloß Ahausen, zu-ruckgreifen.

Im Eigentum des Vereins befindet sich daruber hinauseine als Schenkung vermachte Bibliothek zum Eisenhut-tenwesen und zur Technikgeschichte, die uber 2000 Titelumfaßt und den Besuchern des kunftigen Museums of-fenstehen soll. Die technikgeschichtliche Literatur selberbietet wenig vergleichbare Arbeiten zum Themenkom-plex des Eisengewerbes vor 1800. Denn noch immer giltdie Feststellung von Ulrich Troitsch, daß Zeit vor der In-dustrialisierung in Deutschland als Periode der Technik-geschichte lange Zeit kaum Forschungsschwerpunkt ge-wesen ist.1 Die unkonturierte Zeitspanne wurde vielmehrals unperfekte Vorlaufphase zum industriellen Boom desspaten 19. Jahrhunderts interpretiert.

Ungleichzeitige Entwicklungen in den Regionen, diffe-renzierende technische Standards sowie verschiedenar-tige Wirkungen auf das soziale Leben, Betriebsformenund Gesetzgebungen ließen und lassen einen ubergreif-enden methodischen Zugriff nur schwer zu. Neueretechnikgeschichtliche Arbeiten haben, aber ausgehendvon naturalen, humanen und sozialen Dimensionen derTechnik nicht nur die eigenstandige Bedeutung der vor-industriellen Zeit aufgewertet, sondern ihr auch denRang einer technikgeschichtlichen Epoche zugespro-chen. So wurde durch den Blick auf die Stofflichkeit derWerkstoffe und auf den Umgang mit Ressourcen dasProfil einer eigenen historischen Einheit herausgearbei-tet, die von Joachim Radkau das „holzerne Zeitalter“2

benannt wurde und dessen Hohepunkt das 18. Jahrhun-dert darstellt.

Andere Arbeiten stellen auch die sozialen und techni-schen Verknupfungen dieser Zeit in den Mittelpunkt, sodaß die Auswertung der Archivalien einen wissenschaft-lichen Zusammenhang erhalt und moglicherweise in derLage ist, dem Ansatz neue Erkenntnisse zu liefern.

Eine systematische Auswertung ist aber auch die Grund-lage fur das Konzept des Museums in der WendenerHutte, zu dessen Besuch ich Sie hiermit auch im Namendes Vorstandes, im Namen von Herrn OberkreisdirektorFrank Beckehoff und Herrn Burgermeister Peter Bruserherzlich einladen mochte.

Literatur:Troitsch, Ulrich: Deutschsprachige Veroffentlichungen zur Geschichte derTechnik 1978-1985. Ein Literaturbericht, in: Archiv fur Sozialgeschichte(1987), S. 361-438, hier S. 372.Radkau, Joachim; Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zurGegenwart, NHB Ed. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1989. S. 59.

1 vergl. Troitsch, U. 1987, S. 3722 Radkau, Joachim, 1989, 59.

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10. Deutsch-Niederlandisches Archivsymposion 1998(Fortsetzung zu Heft 49/1999, S. 14ff.)

Bildung der Archive und Ausbildung der Archivare:neue Identitaten*

von Eric Ketelaar

“Time present and time pastAre both perhaps present in time futureAnd time future contained in time past.“(Aus: Burnt Norton von T.S. Eliot)

In der Zukunft werden Gegenwart und Vergangenheitprasent sein. Im 21. Jahrhundert wird es Archive geben,die in der Vergangenheit geschaffen und unterhaltenwurden. Dieses Erbe besteht in erster Linie aus dem,was wir zur Zeit, in der Gegenwart, erhalten. Wir habenaus der Vergangenheit ererbt was wir als Treuhander zubewahren und der Zukunft weiterzureichen haben. Ge-nauso wie es Fachleute gibt, die die Archive aus dem 8.bis zum 20. Jahrhundert bewahren und zuganglich ma-chen, genauso werden die kunftigen Generationen Men-schen notig haben, die sie mit dem Wissen aus diesemErbe versorgen und die der Gesellschaft ein Verstandnisfur die Vergangenheit vermitteln konnen. Diese Aufgabesollte man nicht den Historikern uberlassen. Es ist dieAufgabe der Fachleute der funktionellen Archivwissen-schaft oder Archivistik, wie sie von Bruno Delmas, Ange-lika Menne-Haritz und anderen vertreten wird.1 DieseFachleute heißen Archivare.

Akten entstehen und werden im Zusammenhang mitArbeitsprozessen und Handlungen benutzt, die denArchiven ihren Kontext und ihre Struktur geben und dieaussere Form der Dokumente bestimmen. Die Archi-vistik oder Archivwissenschaft2 konzentriert sich aufKontext, Struktur und außere Form, wie sie von diesenProzessen bestimmt werden, und nicht auf dem Inhaltdes Dokuments. Diese Auffassung - die zugleich dieGrundlage fur neue Methoden archivischer Bewertungbildet - ist durchaus nicht neu. In den letzten hundertJahren hat die Handleiding von Muller, Feith und Fruindem Archivar das Verstandnis fur „das Raderwerk deralten Verwaltung“ abverlangt. Wir mussen daher dieAkten der Verwaltung studieren. Archivare sind „Ge-lehrte [des Systems] der Schriftgutverwaltung“ 3. DieseGelehrsamkeit benutzt das Wissen, die Methoden unddie Hilfsdisziplinen der Geschichtswissenschaft: derVerwaltungsgeschichte, Rechtsgeschichte, Heuristik,Palaographie und Diplomatik. Dies waren Hilfsfacherklassischer deskriptiver Archivistik, als Archivwissen-schaft von der Auffassung beherrscht war, Archive sei-en historische Quellen. Aber auch heute mussen jene,die moderne funktionelle Archivistik studieren, diehistorische Methode und die Hilfsdisziplinen der Ge-schichtswissenschaft beherrschen, um Verwaltungs-geschichte und die Geschichte der Aktenentstehungund -pflege zu erlernen.4 Archivare studieren nichthistorische Themen, um vergangene soziale Zusam-menhange um ihrer selbst willen zu verstehen, son-dern eher um die Archive, die archivalische Erbschaft,zu verstehen, kritisch zu interpretieren, zu erschließen,zu erhalten und mitzuteilen.5

Unabhangig von der Erbschaft zwolfhundertjahriger Do-kumentierung werden die Archive des 21. Jahrhundertsdas beinhalten, was die Menschheit zwischen heute unddann erschaffen wird. In dem Videofilm „Into the future“(„Blick in die Zukunft“), der kurzlich von der amerikani-schen Commission on Preservation and Access produ-ziert wurde, sehen wir, wie die Entsorgung von Problem-abfall dokumentiert wird: Akten die in der Zukunft wichtigsein werden, um Mulldeponien zu lokalisieren, um dieentsorgten Materialien zu identifizieren und die Risikenfur Mensch und Umwelt einzuschatzen.

Akten entstehen in einer Organisation, um Arbeit zu un-terstutzen und zu steuern, um zu dokumentieren warum,wann, wo, in welcher Funktion und von wem Handlun-gen ausgefuhrt wurden. Archivistik befaßt sich mit Fra-gen wie: Was veranlaßt eine Gesellschaft oder Organi-sation, Archive in der gegenwartigen Form zu schaffenund zu benutzen? Und: wird uns ein besseres Verstand-nis fur die Art und Weise, wie Menschen in Organisatio-nen Archive erstellen und pflegen, Aussagen uber eineeffiziente und effektive Aktenerstellung machen las-sen?6 Wir betrachten daher Gesellschaften, Organisa-tionen und Personen, die Archive bilden. Dies nenne ichsoziale und kulturelle Archivistik.7 Ihr Objekt ist das Kon-tinuum der Bildung, Verarbeitung und Nutzung der Akten:

* Einfuhrungsvortrag zum 10. Deutsch-niederlandischen Archivsympo-sium, 10-11. November 1998 in Bocholt. Ubersetzung aus dem Engli-schen: drs. Maarten van Driel und Dr. Hans D. Oppel.

1 B. Delmas, Bilan et perspective de l’archivistique francaise au seuildu troisieme millenaire, in: O. Bucci (ed.), Archival science on thethreshold of the year 2000. Proceedings of the International Confe-rence Macerata, 3-8 September 1990 (Ancona 1992), 89; A. Menne-Haritz, Archivfachliche Ausbildung: den Anforderungen der Gesell-schaft des 21. Jahrhunderts gerecht werden, in: Archivum 39 (1994),269; F.C.J. Ketelaar, Voorwerp van archiefwetenschap. Rede uitge-sproken bij de aanvaarding van het ambt van hoogleraar in de ar-chiefwetenschap aan de Rijksuniversiteit te Leiden op vrijdag 22 okto-ber 1993 (Houten 1993), 20.

2 H. Rumschottel, Archivkunde, Archivlehre, Archivistik, Archivwissen-schaft. Bemerkungen zur Situation der archivischen Theorie und Pra-xis in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bucci, Archival science onthe threshold, 111-126.

3 So: R. Cox, Advocacy in the graduate archives curriculum: a NorthAmerican perspective, in: Janus (1997.1), 32.

4 Menne, 274.5 T.Eastwood, Reforming the archival curriculum to meet contemporary

needs, in: Archivaria 42 (1996), 80-88.6 F.G. Burke, The future course of archival theory in the United States,

in: American Archivist 44 (1981), 42-43; T. Nesmith, Archives fromthe bottom up: social history and archival scholarship, in: Archivaria14 (1982), 26, wieder abgedruckt in: T. Nesmith (ed.), Canadian ar-chival studies and the rediscovery of provenance (Metuchen-London1993), 180.

7 F.C.J. Ketelaar, Archivalisering en archivering. Rede uitgesproken bijde aanvaarding van het ambt van hoogleraar in de archiefweten-schap aan de Universiteit van Amsterdam op vrijdag 23 oktober 1998(Samsom, Alphen aan den Rijn 1998).

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das Kontinuum von Akten und Archiven, von Archief-bescheiden - im Niederlandischen deckt der eine BegriffRegistraturgut und Archivgut ab.

Traditionell war das Objekt der Archivwissenschaft derArchivkorper, sobald er die Schwelle des Repositoriumsuberschritten hatte.8 Der Archivar war gewohnlich nurein Wachter und ein Warter, der empfing, abhangig vondem was die Verwaltung geschaffen und weitergegebenhatte.9

Kurzlich aber haben die Archivare ihr Augenmerk vonder passiven Phase im Leben der Information dem vor-deren Ende des Akten- und Archivkontinuums („recordscontinuum“) zugewandt.10 Nach Carol Coutures Redeauf der Veranstaltung zur 75-Jahrfeier der niederlandi-schen Archivarsausbildung im Jahre 1994 sollte der Ar-chivar darauf vorbereitet sein, „an einem Schreibtisch zusitzen, den es in modernen Organisationen nur seltengibt, den des „strategic information manager“.11

Dies impliziert, daß der Archivar sogar schon seinen Bei-trag einzubringen hat, bevor Dokumente in ein Aktenver-waltungssystem („recordkeeping system“) aufgenom-men werden. Bei der Entwicklung der Informationsstra-tegie einer Organisation sollten wir unsere Aufmerksam-keit auf die Phase richten, die der Dokumentierung vor-ausgeht. In meiner Antrittsvorlesung an der UniversitatAmsterdam habe ich dies kurzlich Dokumentalisierung12

genannt: sich bewußt oder unbewußt, beeinflußt von so-ziale und kulturelle Werte und Normen, entschliessen,ein Vorgang zu dokumentieren. In einer Metapher KarlPoppers muß der Suchscheinwerfer der Dokumentali-sierung die Welt durchstreifen, damit etwas im archivi-schen Sinne aufleuchtet, bevor wir dazu ubergehen, eszu registrieren, zu dokumentieren und als Akte aufzube-wahren. Wenn wir Dokumentalisierung und Dokumentie-rung voneinander unterscheiden, gewinnen wir einenEinblick in die sozialen und kulturellen Faktoren, dieWerte und die Ideologie, die in die Entstehung von Un-terlagen und Archivalien einfließen.

Dokumentalisierung bestimmt nicht nur ob und wieHandlungen in Unterlagen dokumentiert sind. In den fol-genden Phasen der Akten- und Archivverwaltung undder Archivalienbenutzung spielt die von sozialen und kul-turellen Faktoren bestimmte Programmatik des Geistes(„software of the mind“) ebenso einen Rolle. Menschenerschaffen, verarbeiten und benutzen Archive und sinddabei von kulturellen und sozialen Faktoren beeinflußt.Menschen die in unterschiedlichen Organisationen ar-beiten, schaffen und benutzen ihre Dokumente auf un-terschiedliche Weise. Selbst innerhalb derselben Orga-nisation generieren Buchhalter, Juristen, Ingenieure ihreDokumente auf unterschiedliche Weise nicht nur wegender rechtlichen Notwendigkeiten, sondern hauptsachlichweil sie unterschiedliche berufliche - d. h. soziale undkulturelle - Standards haben. Richard Cox und WendyDuff schreiben, dass „wir unser Verstandnis dafur erwei-tern mussen, wie Organisationen arbeiten und wie Doku-mente in dieses Arbeitsumfeld und in diese Kultur pas-sen“.13

Daher befaßt Archivistik sich nicht nur mit den Doku-menten in ihrer Entstehung, sondern umfaßt auch dieOrganisationskultur und die Menschen in diesen Organi-sationen, die Dokumente schaffen - und all dies in ihremsozialen, religiosen, kulturellen, politischen, wirtschafli-

chen und technologischen Kontext. Auch dies ist wiedernichts vollig Neues. Traditionell studiert der ArchivarRechts- und Verwaltungswissenschaften, um zu verste-hen, wie die Gesellschaft funktioniert und ihre Archivehervorbringt. Aber der Archivar muß weitergehen: eroder sie muß die sozialen und kulturellen Faktoren derDokumentalisierung verstehen.14 Und ebenso wie derArchivar, der mit historischen Archiven umgeht, Ge-schichte und ihre Hilfswissenschaften benutzt, so mußder Archivar, der sich mit den Dokumenten von heuteund morgen befaßt, mit Organisationssoziologie, -an-thropologie und -informatik vertraut sein .

Das Verstandnis von Dokumentalisierung und Dokumen-tierung in ihren sozialen und kulturellen Kontexten wirdes uns ermoglichen, Aussagen uber effiziente und effek-tive Verwaltung von Akten und Archiven zu machen. Dasist in unserer Informationsgesellschaft von besondererBedeutung. Wir mussen dieses Verstandnis auch kunfti-gen Archivbenutzern vermitteln und sie wiederum ver-stehen lassen, warum die Archive auf bestimmte Weisegeformt wurden, und nicht nur was geschah. Dies impli-ziert, dass Archivistik auch vergleichend sein muß: ver-gleichend zwischen Organisationen, vergleichend in derZeit und vergleichend zwischen Nationen: VergleichendeArchivwissenschaft, fur die ich kurzlich in einem Artikelin Archivaria eingetreten bin.15 Unser Beruf ist interna-tional, umso mehr, als elektronische Archive keine Gren-zen kennen. Der Archivar muß deshalb auf dem interna-tionalen Forum agieren konnen, wo Englisch - ob wirwollen oder nicht - Berufssprache ist.16

Dokumente sind eine Quelle fur und ein Teil des Ge-dachtnisses der Organisation („organizational memory“),d. h. „das Mittel, durch welches Kenntnis von der Ver-gangenheit in gegenwartigen Handlungen zum Tragengebracht wird, woraus hohere oder niedere Ebenen derOrganisationseffektivitat resultieren“.17 Archivare wur-den, in der Retrospektive betrachtet, die Gelehrten des

8 Eastwood, 85.9 C. Couture, Today’s students, tomorrows archivists: present-day fo-

cus and development as determinants of archival science in the twen-ty-first century, in: Archivaria 42 (1996), 97.

10 S. McKemmish, Yesterday, today and tomorrow: a continuum of re-sponsibility, www.sims.monash.edu.au/rcrg/publications/recordsconti-nuum, gedruckt in: P.J. Horsman - F.C.J. Ketelaar - T.H.P.M. Thomas-sen (red.), Naar een nieuw paradigma in de archivistiek. Jaarboek1999 Stichting Archiefpublicaties, 195-210.

11 C. Couture, The new reality and outlook for development of archivalscience issues in teaching our discipline, in: Janus (1995/2), 69; Cou-ture, Today’s students, 96.

12 Siehe Note 7. Die Neubildung archivalisering auf niederlandisch darfauf deutsch kein Archivalisierung heissen: sie geht an archiveringvoraus, welches nicht Archivierung sondern Dokumentierung oderAufzeichnung entspricht.

13 R.J. Cox - W. Duff, Warrant and the definition of electronic records:questions arising from the Pittsburgh project, in: Archives and Mu-seum Informatics 11 (1997), 227.

14 B.L. Craig,Serving the truth: the importance of fostering archives re-search in education programmes, including a modest proposal forpartnerships with the workplace, in: Archivaria 42(1996), 112.

15 E. Ketelaar, The difference best postponed ? Cultures and comparati-ve archival science, in: Archivaria 44 (1997), 142-148, wieder abge-druckt in: Horsman-Ketelaar-Thomassen, Naar een nieuw paradigma,21-28.

16 A. Menne-Haritz,What can be achieved with archives?, in: The con-cept of record. Report from the second Stockholm conference on ar-chival science and the concept of record 30-31 May 1996 (Stockholm1998), 14; M. Hedstrom, Cohesion and chaos. The state of archivalscience in the United States, in: The concept of record, 38.

17 E.W. Stein, Organizational memory: review of concepts and recom-mendations for management, in: International Journal of InformationManagement 15(2) (1995), 17-32. Zitat v. S.22.

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Langzeitgedachtnisses der Organisation. Sie solltenauch Spezialisten des laufenden und Kurzzeitgedacht-nisses der Organisation werden, Spezialisten fur dessenWert und fur dessen Beitrag zur Effektivitat einer Organi-sation. Die meisten Organisationen verwahren keine Do-kumente uber mißlungene Projekte, machen uberhauptkeine formelle Anstrengung zu verstehen, was schief liefund versuchen nicht, aus ihren Fehlschlagen zu ler-nen.18 Sollte da der Archivar nicht aktiv werden? Archivesind beides, Gedachtnis und Gewissen, wie eine Bro-schure des niederlandischen Reichsarchivdienstes be-sagt. Das Gewissen einer verantwortlichen Organisati-on, wie es unsere australischen Kollegen zurecht beto-nen. Verantwortlich gegenuber Teilhabern, Kunden, Pa-tienten, Burgern - der gesamten Gesellschaft. Verant-wortlichkeit wurzelt in dem Gewissen und in Gedachtnis-funktionen von Archiven und spiegelt sich darin wieder.Die jungste Forschung zum judischen Vermogen im Ho-locaust, zur Ruckerstattung und Wiedergutmachung inder Nachkriegszeit, hat einmal mehr die Bedeutung desin der Vergangenheit geschaffenen und gegenwartig ge-nutzten archivischen Gewissens und Gedachtnisses insRampenlicht gestellt. Fur die Zukunft muß der Archivar,am vorderen Ende des „recordkeeping system“ Verant-wortlichkeit, Aussagekraft und Inhalte von kunftig ge-schaffenen und verwahrten Dokumenten sicherstellen.

Der Archivar, der das archivische Erbe formt: dies mußfur jene wie Ketzerei klingen, die immer noch glauben,der Archivar sei ein desinteressierter, unbeteiligter Emp-fanger neutraler Archive. Archive sind aber nicht neutral:„Selbst wenn direkt aus dem staubigen Archiv“ [stam-mend], schreibt Alan Munslow, „besteht der Beweis im-mer im voraus innerhalb narrativer Strukturen und ist mitkulturellen Bedeutungen befrachtet - wer hat die Archivezusammengesetzt, warum, und was haben sie aufge-nommen oder nicht?“19 Archivare formen tatsachlichden Kontext und dadurch die Bedeutung von Dokumen-ten und Archiven. Wenn ein Dokument als Archivale be-stimmt wurde oder wenn ein archivalisches Dokumentnach einem Zeitplan fur dauernde Aufbewahrung be-stimmt ist, wird es, wie Tom Nesmith bemerkte, auf ei-nen Sockel gestellt, bekommt einen besonderen Status,wobei es nicht-archivalische Dokumente verdrangt.20

Durch den Erhalt einiger Dokumente, wahrend man an-dere die im selben Kontext geschaffen wurden, kassiert,wird dieser Kontext verandert. Diese Veranderung desKontextes wird irrevokabel in einer Bedeutungsverande-rung resultieren. Solche Veranderungen des Kontextesund der Bedeutung geschehen auch, wenn Dokumentedie in der dynamischen Dokumentalisierungs- und Doku-mentierungsphase geschaffen wurden, in die semistati-sche Phase eintreten und schliesslich in Staats- oderKommunalarchiven oder anderen „Gedachtnisinstitutio-nen“ gelagert werden.

Archivrepositorien sind „lieux de memoire“ (Gedachtnis-statten), aber was aufbewahrt wird, ist nicht langer „me-moire vecue“, ein lebendiges Gedachtnis, sondern einbewußt und organisiertes „memoire perdue“, archivier-tes und deshalb verderbtes Gedachtnis.21 Terry Cookschrieb: „Archivare ... sind sehr aktive Erbauer ihrer ei-genen „Hauser des Gedachtnisses“ geworden. Und sosollten sie taglich ihre eigene Politik der Gedachtniser-haltung im archiverzeugenden und gedachtnisformieren-den Prozeß uberprufen“.22 Das schließt nach meinerAuffassung Wissen um die Geschichte der Archivinstitu-tionen und die Rolle des Archivars in der Gesellschaft

ein. Bemerkenswerte Beispiele sind die historischenStudien uber das deutsche Archivsystem von FriedrichKahlenberg und Torsten Musial und die sich einsetzen-dende Vergangenheitsbewaltigung des sowjetischen Ar-chivwesens.23 Sollten niederlandische Archivare bei-spielsweise nicht die Rolle ihrer Vorganger bei der Ver-nichtung von Dokumenten erforschen, die sich auf dieNachkriegswiedergutmachung fur die Opfer des 2. Welt-krieges beziehen?

Sie werden bemerkt haben, daß ich allgemein von Archi-varen und Organisationen gesprochen habe. Einige vonIhnen werden sich gewundert haben, warum ich nichtArchivare und Dokumentenverwalter unterschieden ha-be, warum ich Staats-, Kommunal- und Wirtschaftsarchi-ve nicht einzeln angefuhrt habe. Ich weiß, daß ein Archi-var heute, in vielen Landern und an vielen Orten, der Be-wahrer historischer Archive ist, der konzeptionell, recht-lich und berufsbezogen getrennt ist von den laufendenDokumenten und den Spezialisten, die ihre Erstellungund Pflege besorgen. Ich weiß, daß zur Zeit in vielenLandern und an vielen Orten der Archivarberuf auf Archi-vare des offentlichen Dienstes beschrankt ist, getrenntvon Archivaren und Informationsverwaltern der Wirt-schaft. Ich weiß, daß derzeit in vielen Landern und anvielen Orten Archivare graduierte oder sogar promo-vierte Historiker sind, die entweder an einer Archivschu-le, an einer Universitat (zumeist in einer geschichts- oderbibliothekswissenschaftlichen Abteilung) oder in der Be-rufspraxis selbst erganzende Ausbildung erhalten ha-ben.

Diese haben den Archivarberuf gerade um der Vergan-genheit willen erwahlt. Sollen sie sich um Gegenwartund Zukunft bemuhen?

Heute ist die Antwort vielleicht nein, aber sie sollte undwird nicht gultig sein fur den neuen Archivar von mor-gen, der sich den Herausforderungen des 21. Jahrhun-derts stellt. Der neue Archivar ist ein Professional in In-formation und Kommunikation, der in jeder offentlichenoder privaten Organisation tatig werden kann, dort woDokumente geschaffen und gepflegt werden, um Arbeitzu unterstutzen und zu verwalten, um zu dokumentierenwarum, wann, wo, in welcher Funktion und von wem

18 So K. Ewushi-Mensah, Z.H.Przasnyski, Learning from abandoned in-formation systems development projects, in: Journal of InformationTechnology 10(1) (1995), 3-14.

19 A. Munslow, Deconstructing history (London-New York 1997), 6. Vgl.T. Nesmith, Archivaria after ten years, in: Archivaria 20 (1985), 13-21.

20 T. Nesmith, What is a Postmodern Archivist? Paper presented at theannual meeting of the Association of Canadian Archivists, Halifax,May 1998.

21 P. Nora, Entre memoire et histoire. La problematique des lieux, in: P.Nora (ed.), Les lieux de memoire. I. La Republique (Paris 1984),XXVIII; J. Derrida, Mal d’archive (Paris 1995), 33-34 (Deutsche Aus-gabe: Dem Archiv verschrieben (Berlin 1997)).

22 T. Cook, What is past is prologue: a history of archival ideas since1898, and the future paradigm shift, in: Archivaria 43 (1997), 46, wie-der abgedruckt in: Horsman-Ketelaar-Thomassen, Naar een nieuwparadigma, 64.

23 F. Kahlenberg, Deutsche Archive in Ost und West. Zur Entwicklungdes staatlichen Archivwesens seit 1945 (Dusseldorf 1972); T. Musial,Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Ar-chivwesens in Deutschland 1933-1945 (Potsdam 1996); W. Ernst, Ar-chival action: the archive as ROM and its political instrumentalizationunder National Socialism, in: History of human sciences 12/2 (May1999), 13-34; H. Schreyer, Archive und Archivare im Dienste und alsOpfer des totalitaren Staates. Ein Beitrag zur sowjetischen Archivge-schichte, in: F. Beck - W. Hempel - E. Henning (Herausg.), Archivisti-ca docet. Beitrage zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinarenUmfelds (Potsdam), 165-187.

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welche Handlungen ausgefuhrt wurden. Der neue Archi-var hat die Fahigkeit, das Kontinuum der Dokumentener-stellung, ihrer Verarbeitung und Benutzung zu verwaltenund zu beherrschen, das Kontinuum von Akten und Ar-chiven in jeder Form und in jedem Medium und in jedeminstitutionellen Kontext. Er oder sie versteht die sozialenund kulturellen Faktoren, die Werte, die Ideologie, die indie Entstehung von Dokumenten einfliessen. Der neueArchivar ist ein Spezialist in Hinblick auf die Konzeption,Aufnahme, Lagerung, Einordnung, Beschreibung, Be-wertung, Vernichtung, Erhaltung und Nutzung von Doku-menten und Archiven vergangener, gegenwartiger undzukunftiger Zeit. Er oder sie muß diese Funktionen auchsteuern, verwalten, und beherrschen. Sicherlich, dies istaußerhalb des Bereichs der Archivistik, aber ein Archivarhat nicht nur in Archivtheorie, -methodologie und -praxisausgebildet zu werden; er oder sie muß auch in der Ver-waltung der grundlegenden Funktionen eines Archiv-systems ausgebildet werden: Erfassung, Lagerung, Ein-ordnung, Beschreibung, Kassation, Abgabe, Konservie-rung und Auskunftsdienst. Weiterhin muß er oder siesich mit Leitungsdisziplinen vertraut machen: mit Ver-waltungsorganisation, Planung, Personalverwaltung, Fi-nanz- und Sachmittelverwaltung.

All diese sind wichtig, und archivische Ausbildungspro-gramme sollten sie vorsehen. Aber von allen ist die Be-nutzung am wichtigsten. Benutzung ist die „raison d’etre“von Entstehung, Kassation und Bewahrung von Doku-menten und Archiven. Die Erstellung und Bewahrungvon Dokumenten ist sinnlos, ja Unsinn, wenn die Doku-mente in der Zukunft nicht benutzt werden.24 Benutztvon dem Dokumentenbildner, oder jemand im sozialen,kulturellen, politischen und rechtlichen Umfeld.

Kommunikation ist der Kern jeglichen Informationspro-zesses. Wir konnen sicher einen Zuwachs an Moglich-keiten der Informations- und Kommunikationskultur, derInformations- und Kommunikationsmethoden vorhersa-gen, aber nicht im einzelnen benennen. Es wird eineweitere Verschiebung von Technologie-bedingter zuTechnologie-bedingender Entwicklung geben. Die sichverandernden Informations- und Kommunikationswegewerden so wie heute weitgehend von Informations- undKommunikationstechnologie (ICT) diktiert und gefordert.Aber gleichzeitig und verstarkt wird die Sorge um denBenutzer von Systemen und Technologien zu einemWechsel des Blickpunktes fuhren: weg vom System, hinzum Benutzer, zu seiner oder ihrer Interaktion mit Syste-men und zu den Erwartungen, Bedurfnissen und Wun-schen des Benutzers. Wie Nicolas Negroponte in sei-nem Bestseller Total Digital 25 vorhersagt, wird die Infor-mation auf das Informationsprofil des Individuums zu-rechtgeschneidert. Der Benutzer wird seine eigene Zei-tung lesen, sein eigenes TV-Programm betrachten, vomSystem maßgeschneidert auf der Grundlage der Vorlie-ben des Benutzers. In solcher Informationskultur mußder neue Archivar das in den „Archiven ohne Grenzen“enthaltene Wissen mitteilen. Um den Benutzer zu die-sem Wissen und dieser Bedeutung zu fuhren, muß derAchivar mehr tun als nur ein reiner Informationsmaklerzu sein. Der Archivar muß sich, wahrend aller Phasendes Kontinuum, auf den Kontext konzentrieren, auf Pro-venienz, muß Authentizitat und Integritat der Archive si-cherstellen. Aber in der Vergangenheit haben wir ange-nommen, daß dasselbe System fur Bewahrung und Ver-waltung von Archiven in ihrer provenienzbedingten Ord-nung fur einen Forscher nutzbar sein sollte, der Informa-

tion aus diesem Archivkorper erhalten mochte. DieseFehlplanung sollte einer Wissensorganisation Platz ma-chen, in der das Interface zwischen dem Benutzer undden Archiven die Sprache des Benutzers versteht, des-sen Fragestellung in die Semiotik der Archive ubersetzt,und mit benutzerrelevanter Information antwortet, in wel-che die kontextuelle archivische Information vom Inter-face integriert wurde.26 Das Internet ist die hauptsach-lich treibende Kraft, die Art der Prasentation und des Er-halts archivischer Information zu verandern. Leider gibtes zu viele archivische Websites, die nicht mehr sind alseine Darstellung des papierenen Findmittelsystems, daswir in den Lesesalen benutzen. Und es gibt noch zu vieleLesesale, in denen der Benutzer mit den Registern undIndizes arbeiten muß, die von den Schreibern des 18.und 19. Jahrhunderts erstellt wurden. Archivare mussendie Arten der Wissensorganisation und des informationretrieval neu uberdenken, indem sie in das System dieintuitiven und kreativen Wahrnehmungen hineinbauen,die der Kern eines Forschungsprozesses, sowie Kon-text, Struktur und Erscheinungsform von Archiven undarchivischen Dokumenten sind. Sicherzustellen, daß Ar-chive benutzt werden und benutzbar sind, - das ist keinHandwerk, kein Computerprogramm oder ein prakti-scher Trick, es ist eine Kunst. Eine Kunst, die wir vorhundert Jahren und auch heute aus den Augen verlorenzu haben scheinen, wahrend wir uns beschrankten aufreine Standardisierung einer archivische und archivari-sche - also nicht: Benutzerorientierte - Deskription.

Unser kanadischer Kollege Tom Nesmith schrieb kurz-lich: „Zu fragen, was ein Archivar im 21. Jahrhundert wis-sen muss, ist, in gewisser Hinsicht, die falsche Frage: Esist besser zu fragen: wie sollte der Archivar im nachstenJahrhundert denken?“27 Es ist eine Angelegenheit vonGeist der uber der Materie steht. Fur einen Lehrer be-deutet dies, daß er oder sie den Studenten kein Fachvermittelt, sondern die Fahigkeit uber das Fach etwas zulernen. Carol Couture sagte: „Wenn Studenten ihre Aus-bildung beenden, sollten sie mehr Fragen als Antwortenhaben“.28 Studenten zu lehren, wie man als Archivardenkt, ist wichtiger, als praktisches Wissen zu lehren,um so mehr, als das praktische Wissen bald uberholtsein wird. Weiterhin riskiert der Unterricht nur des prakti-schen Wissens, wie er zu oft in der innerdienstlichenAusbildung stattfindet, „eine eher pragmatische Disposi-tion“ zu sein, „und kann kaum eine berufliche Identifika-tion begrunden“, wie Angelika Menne-Haritz feststellte.29

Lernen wie ein Professional zu denken, eher als zu ler-nen, wie man ein Handwerk ausubt. Fur die archivischeAusbildung bedeutet dies den Brennpunkt von denhandwerklichen Fahigkeiten und dem Wissen zu ver-schieben, hin zum Verstandnis und zu bestimmten Gei-steshaltungen. Ein Weg, dies zu erreichen, wurde essein, Studenten in engen Kontakt mit der archivwissen-schaftlichen Forschung zu bringen, wobei man tatsach-

24 F.C.J. Ketelaar, Von Papierarchiven zu Menschenarchiven, in: Archiv-pflege in Westfalen und Lippe 37 (1993), 2-3.

25 N. Negroponte, Total Digital (Munchen 1997).26 E. Ketelaar, Exploitation of new archival materials, in: Archivum, 35

(1989), 189-199, wieder abgedruckt in E. Ketelaar, The Archival Ima-ge. Collected essays (Hilversum 1997), 67-79; deutsche Fassung:Die Auswertung neuartigen Archivguts (Paris 1988).

27 T. Nesmith, Professional education in the most expansive sense:what will the archivist need to know in the twenty-first century?, in:Archivaria 42 (1996), 92.

28 Couture, The new reality, 75.29 Menne, Archivfachliche Ausbildung, 278.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Eric Ketelaar: Bildung der Archive und Ausbildung der Archivare: neue Identitaten

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lich die Forschung zu einem Bestandteil der Ausbildungmacht. Durch Einbindung in die archivistische For-schung werden Studenten eher warum als was fragenlernen. Die Forschung wird sie lehren, dass Praxis undMethode Mittel zum Zweck, und dem Wandel unterwor-fen sind. „Forschung kultiviert“, nach Barbara Craig,„eine Gewohnheit, empfangene Ideen auf ihre fortwah-rende Pertinenz und Relevanz zu untersuchen.“30 Solcheine Gewohnheit ist fur den neuen Archivar wesentlich,der viel besser dafur ausgerustet sein wird, mit demWandel umzugehen, dem konstanten Wandel in seineroder ihrer Umwelt, und dabei Wandel in der Dokumente-nerstellung, -verwahrung, -kommunikation und -benut-zung bewirkt. Er oder sie wird selbst ein Agent des Wan-dels werden. „Vielleicht der kritischste Erfolgsfaktor ist,dass der Archivar ein Agent/Prophet des Wandels inner-halb seiner Organisation werden muss.“31 „Forschungwird unser Verstandnis all der Dimensionen befordern,die der Bewahrung und Vermittlung offentlichen Vertrau-ens in Dokumente und unseren Fahigkeiten, neuen Be-durfnissen zu begegnen, inharent sind.“32 Forschungsollte, gleichermassen auf undergraduate- und gradu-ate-Ebene, ein Bestandteil der archivischen Ausbildungsein. Ausbildung erfordert Forschung und Forschungbraucht Ausbildung. Wie Angelika Menne-Haritz aufdem Montrealer Kongress sagte: „Der Archivarsberufbraucht eine Ausbildung, die die zukunftigen Absolven-ten zu den erforderlichen Innovationen im Rahmen derunverzichtbaren Grundprinzipien der Archivistik befa-higt. Die Verbindung zur archivwissenschaftlichen For-schung ist ein Prufstein fur Ausbildungseffizienz und Be-rufsidentifikation...“33 und sie betonte, daß solche For-schung „den Hintergrund eines Universitats- oder For-schungsinstitutes“ benotigt, „wo sie frei von den Zwan-gen direkter Umsetzung in die Praxis und im Austauschmit anderen Wissenschaften in Kolloquien und Semina-ren, mit Hausarbeiten und Dissertationen neuen Ansatzeentwickeln konnen.“34 Und trotzdem fehlt es in Deutsch-land an ein Lehrstuhl fur Archivwissenschaft !

Lassen Sie mich hinzufugen, daß auch die Archivausbil-dung selbst ein Objekt der Forschung sein sollte. Vor eini-gen Jahren hat Richard Cox eine Forschungsagenda furarchivische Ausbildung in den Vereinigten Staaten ent-wickelt, die zahlreiche Vorschlage enthalt. die wir auch inEuropa verwenden konnten.35 Ich zitiere einige seinerVorschlage. Wie verhalt sich die Erfahrung des Archivarsin seiner ersten beruflichen Anstellung zu dem, was imKlassenzimmer unterrichtet wurde? Welche Effektivitathaben Ausbildungsprogramme, wie kann man archivi-sche Ausbilder und das von ihnen benutzte Lehrmaterialbewerten? Warum und wie wahlt mancher den Beruf desArchivars? Welches sind die Einstellungspraktiken derArbeitgeber im Archivbereich? Wonach suchen sie?

Darf ich als Nebengedanke hinzufugen, daß wir hier alsArchivare die archivische Ausbildung diskutieren, abermussen wir nicht auch, wie Timothy Ericson schrieb, an

einem Punkt unserer Diskussion einen Arbeitgeber ho-ren, der Archivare oder andere Informationsdienstleistereinstellt?36 Richtig, aber ich muß vor dem Fehler war-nen, daß Archivausbildung auf das Wissen und die Fa-higkeiten begrenzt wurde, die Arbeitgeber von neu denBeruf beginnenden Archivaren fordern. Was unsere Stu-denten an Erfahrung ermangeln, die in der Vergangen-heit gewonnen wurde, machen sie mit der Vorwartsge-richtetheit in die Zukunft wett, indem sie durch die kon-ventionelle Weisheit ihrer Vorgesetzten hindurchschau-en, deren Nachfolger sie einst sein werden.

Alles sehr gut, werden Sie sagen, diese Rede vomneuen Archivar des 21. Jahrhunderts. Doch was ist mituns erfahrenen Archivaren, die in der Vergangenheitausgebildet wurden und in der Gegenwart tatig sind:was ist mit unserer Zukunft?

Meine Antwort ist: Treten Sie dem neuen Archivar zurSeite, profitieren Sie von dem, was die neue Generationlernt und lehrt, gestatten Sie sich, einen erfrischendenEinblick in das zu gewinnen, was heute fur morgen ge-lehrt wird. Beklagen Sie sich nicht uber die Ausbildung,die sie nicht erhalten haben oder uber die Moglichkeiten,die Sie verpassten. Aber, lassen Sie sich von dem neuenArchivar durch die Passage fuhren, die Sie nicht wahl-ten, zu der Tur, die wir nie offneten.

Am Anfang zitierte ich T.S.Eliot. Lassen Sie mich mit derWeiterfuhrung dieses Zitats schließen:

If all time is eternally presentAll time is unredeemableWhat might have been is an abstractionRemaining a perpetual possibilityOnly in a world of speculation.

What might have been and what has beenPoint to one end, which is always present.Footfalls echo in the memoryDown the passage which we did not takeTowards the door we never openedInto the rose garden...

30 Craig, 110.31 R.M. Kesner,The changing face of office documentation: electronic/

optical information technologies (IT), in: A. Menne-Haritz (ed.), Infor-mation handling in offices and archives (Munchen etc. 1993), 125.

32 Craig, 114.33 Menne, Archivfachliche Ausbildung, 279.34 Menne, Archivfachliche Ausbildung, 273-274.35 R.J. Cox, A research agenda for archival education in the United Sta-

tes,in: R.J.Cox, American archival analysis: the recent developmentof the archival profession in the United States (Metuchen-London1990), 113-163.

36 T.L. Ericson, Forming ’Structures of exquisite beauty’: archivists andeducation, in: Archivaria 42 (1996), 123.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Eric Ketelaar: Bildung der Archive und Ausbildung der Archivare: neue Identitaten

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Die Ausbildung an der Archivschule der Niederlande

von Hans Scheurkogel

Einige Thesen uber die Funktion des Archivars im21. Jahrhundert und uber die Art und Weise, wie die Nie-derlandische Archivausbildung auf diesen Beruf vorbereitet.

Die Niederlandische Archivausbildung befindet sich in ei-nem tiefgreifenden Umwandlungsprozeß. Selbstverstand-lich ist dies in den vergangenen Jahren einhergegangenmit zahllosen Verlautbarungen, Diskussionen, Anhorun-gen und dergleichen. Um Ihnen diesen komplexen Prozeßschildern zu konnen, brauchte ich mehr Zeit, als ich zurVerfugung habe. Daher werde ich mich einschranken.

Zunachst mochte ich mich auf unsere Ausgangspunktekonzentrieren und nicht auf die genaue Auslegung vonFachern.

Des weiteren werde ich die Ausbildung zum hoheren Ar-chivdienst als Ausgangspunkt wahlen. Im großen undganzen werden sich meine Ausfuhrungen allerdingsauch auf den gehobenen Archivdienst beziehen.

Und zum Schluß habe ich die Absicht, Ihnen die augen-falligsten Anderungen der Ausgangspunkte, die Lernzie-le, die Ausbildungsorganisation und die Endaussagen inForm von Thesen zu offenbaren. Meine heutigen Darle-gungen werden daher vor allem aus der Erlauterung die-ser Thesen bestehen. Bekanntlich wird man durch dasAussprechen von Thesen gezwungen, etwas ubertrie-ben zu formulieren.

Nebenbei noch ein letzter einleitender Hinweis: MeineThesen konnen vielleicht etwas anders klingen als ande-re Informationen, die Sie uber dieses Thema aus denNiederlanden gehort haben. Ich kann nur sagen, daß ichIhnen lediglich einen ,etat de questions’ biete in einerSituation, in der Grenzen noch langst nicht festgelegtsind. Und Sie wissen, daß in einer derartigen Situationdie eigenen Grenzen durchaus leidenschaftlich vertei-digt aber die Grenzen von anderen noch lieber uber-schritten werden. Nach diesen einleitenden Worten wirdes Zeit, daß ich Ihnen meine Thesen darlege:

Der Archivar der Zukunft hat diesen Namen, weil er einProfessional auf dem Gebiet der ,prozeßgebundenen’Information ist.

Diese These druckt den inhaltlichen Kern der geander-ten Form der Ausbildung aus. Sie ist ein Hinweis auf dasgeanderte wissenschaftliche Paradigma. Die inhaltli-chen, methodischen und praktischen Konsequenzendieser These verursachen namlich eine Verschiebung,die - innerhalb der engen Grenzen unserer Disziplin -fast mit dem zu vergleichen ist, was Kuhn einmal die„Scientific revolution“ genannt hat. In dieser These istdas Objekt, „Archiv“, mit dem Begriff „prozeßgebundeneInformation“ bezeichnet. Unter einem Archiv verstehenwir aus diesem Blickwinkel den Teil eines Informations-systems, das durch miteinander verknupfte Arbeits- oderBetriebsprozesse geschaffen wird, um von hier aus be-fragt zu werden. Ein Archiv besteht also aus in Doku-menten festgelegten Informationen, die eine gemein-same Entstehungsursache haben: namlich die zusam-

menhangenden Arbeits- oder Betriebsprozesse der ar-chivbildenden Einrichtung, Organisation oder Person.Die Organisation dieser Information in einem System istin erster Linie auf die Befragung aus der eigenen Organi-sation heraus gerichtet. Daher muß sie zunachst einmalvon diesem Umfeld heraus analysiert und verstandenwerden. Archivistisch wird hiermit nicht so sehr auf eineBeschreibung sondern auf eine funktionale Analyse ab-gezielt. Infolgedessen wird der Nachdruck noch starkerals bisher nicht auf die materielle, sondern auf die logi-sche Sammlung gelegt. Diese Stellungnahme hat erheb-liche Folgen fur die Ausbildung und den Beruf des Archi-vars. Dies ist das Thema meiner folgenden Thesen.

Der Archivar der Zukunft ist uberall dort einsetzbar, woprozeßgebundene Informationen gebildet, verwahrt, ver-waltet und benutzt werden.

Mit der Abstrahierung des Begriffs „Archiv“ auf „prozeß-gebundene Information“ geht ein anderer wichtigerUnterschied einher: die sogenannte „Deinstitutionalisie-rung“. Der Archivar wird dann nicht mehr nach dem Ort,beziehungsweise der Einrichtung benannt, in der er ar-beitet (sagen wir: dem Archivdienst), sondern nach demObjekt, mit dem er berufsmaßig beschaftigt ist. Beim Be-griff „Archiv“ denkt man im allgemeinen an etwas Altes,an etwas von fruher, an einen Archivdienst. Prozeßge-bundene Information hingegen befindet sich uberall,und, wichtiger noch, sie droht uberall ihre Bindung mitden Arbeitsprozessen zu verlieren, oder auf gut Deutschgesagt: ein Chaos zu werden. Ich weiß nicht genau, wiedie Situation in Deutschland ist, aber unsere Archivschu-le wird uberschuttet mit Telefonanrufen von Stiftungen,Krankenhausern und anderen, mit der Bitte, einer unse-rer Praktikanten moge das Chaos (am liebsten kosten-los!) aufraumen. Ja selbst in den Niederlanden gibt esjetzt schon einige erfolgreiche spezialisierte Buros, diebeauftragt werden, das Chaos in privaten Haushalten zubeseitigen. In vielen Fallen mussen sie sich nicht nur umdie hausliche Planung und Versorgung, sondern mehrum die haushalterische Verwaltung kummern. Sie kon-nen beruhigt sein, die Niederlandische Archivschule hatnicht die Absicht, Archivare explizit fur solche Buros aus-zubilden; aber das Ziel ist allerdings, daß unsere Absol-venten in jeder Phase des sogenannten „Lebenslaufs“eines Archivs einsetzbar sind. Sie mussen sowohl in ei-nem offentlichen Archiv mit den Bestanden des landes-herrlichen Rechnungsamtes umgehen konnen als auchin einer Firma wie Heineken ein „Record-keeping-system“erstellen konnen, sie mussen einen Ordnungs- und Infor-mationsstrukturplan in einem Ministerium empfehlen kon-nen, und sie mussen fahig sein, Kassationsentscheidun-gen zu treffen. Ich weiß nicht, ob ich hierfur die richtigendeutschen Ausdrucke verwende, aber ich konnte es alsdie Beruhrungsflache zwischen „Registraturgut“ und„Archivgut“ und zwischen offentlichen und privaten Institu-tionen bezeichnen. Ein solcher Professional braucht ganzeinfach eine breiter angelegte Ausbildung als die bishergebotene, daher meine folgende These:

Der Archivar der Zukunft soll kein „Historiker-plus“ sein,sondern ein Informationsprofessional.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Hans Scheurkogel: Die Ausbildung an der Archivschule der Niederlande

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Bis vor kurzem war die Archivschule insbesondere beiDiplomhistorikern beliebt als relativ kurze, praxisorientier-te, postakademische Ausbildung. Fur diese Kategorie wares allerdings oft ein Problem, in eineinhalb Jahren vom„Benutzer von Archiven“ auf einen „Bearbeiter und Ver-walter von Archiven“ umzuschalten. Dies hatte, gewiß ausarchivistischer oder archivwissenschaftlicher Sicht, weni-ger wunschenswerte Folgen. Im großen und ganzen gabes zwei Varianten: entweder blieb der Diplomarchivar inseiner tiefsten Gedankenwelt ein Historiker oder er wurdeein Manager, fur den das zu managende Objekt anderenEntscheidungsfaktoren untergeordnet war. Der neueTypus des niederlandischen Archivars soll ausgebildetsein, man kann sogar sagen intellektuell aufgewachsensein, mit „Information“, mit „Records“ und „Record-kee-ping-systems“ als Ausgangspunkt, er kennt die Bedeu-tung von Information in der heutigen Gesellschaft, er er-kennt die Beziehung zwischen Arbeitsprozessen und Infor-mation, er weiß, welche technischen Moglichkeiten undProbleme es gibt, und er hat gelernt, welche Entscheidun-gen innerhalb des Informationsmanagements getroffenwerden mussen. Aus dieser Sicht ist die historische Kom-ponente nur noch von relativem Interesse, - zwar immernoch sehr wohl ein Interesse. Der Archivar der Zukunftsoll sehr gut in der Lage sein, Archivbildung und Archiv-verwaltung in einen historischen Zusammenhang zu stel-len, sozusagen in einen historischen „Prozeß“, und auchdie Archivbildung selbst als historischen Prozeß zu sehen.Dies bringt mich zu meiner nachsten These:

Der Archivar der Zukunft hat ein Recht auf eine eigeneakademische Ausbildung, und zwar in der FachrichtungArchivwissenschaft.

In den Landern in Europa, in denen es keine selbstandi-gen Archivschulen gibt, ist die Archivarausbildung oft inder historischen Fakultat untergebracht. Archivwissen-schaft ist jedoch in einem historischen Umfeld eine Hilfs-wissenschaft und hat dadurch beinahe definitionsgemaßeine untergeordnete Rolle und ein dementsprechend ge-ringes Ansehen. Ansonsten ist die Archivarausbildungoft in der Bibliotheks- oder Informationswissenschaft an-gesiedelt und wird dort als Spezialisierung angeboten.Wo es ein selbstandiges Ausbildungsinstitut gibt (wiefruher in den Niederlanden), handelt es sich meistensum eine Weiterbildung nach einem akademischen Histo-rikerstudium. In den Niederlanden hat es die Archivschu-le im Jahr 1995 geschafft, als selbstandige Stiftung eineVereinbarung zur Zusammenarbeit mit der UniversitatAmsterdam zu schließen. Eine ahnliche Vereinbarungwurde geschlossen mit der Fachhochschule Amsterdamfur die Ausbildung zum gehobenen Archivdienst. An derUniversitat wurde erreicht, daß die neue Ausbildung einselbstandiges „Major“ - (fruher Fachrichtung) gewordenist, bei dem die archivistischen Module das Studienzielangeben. Ich werde Ihnen dies anhand des derzeitigenStudienprogramms erlautern. Die Ausbildung ist eine so-genannte postpropadeutische Ausbildung, das heißt, sieschließt sich an ein universitares Vorexamen an (in denNiederlanden heißt das einfuhrende Studienjahr: „Pro-padeutik“). An dieses Vorexamen werden archivistischkeine besonderen Anforderungen gestellt. Nach demVorexamen entscheidet man sich fur das betreffendeMajor. (Siehe: UvASHEET) Nach einer selbstverstandli-chen Einleitung, die sich mit der oben beschriebenenWandlung der archivwissenschaftlichen Ausgangs-punkte und -konzepte befaßt, wird die erste Gruppe vonFachern fur die Archivbildung angewendet. Das Haupt-

augenmerk richtet sich insbesondere auf die Analyseder archivbildenden Organisation, die Erfullung der Auf-gaben, fur die die Organisation ins Leben gerufen wor-den ist, vor allem jedoch auf die damit zusammenhan-genden Arbeitsprozesse und schließlich die Formungder hierfur benotigten Informationssysteme im allgemei-nen und das „Record-keeping-system“ im besonderen.Zusammen bilden diese Komponenten die Quintessenzdes in unserer Disziplin so wichtigen Konzepts des Zu-sammenhangs, der Kontext. Innerhalb dieses Rahmensliegen namlich die Voraussetzungen fur das, was man inangelsachsischen Landern „Accountability“ nennt: Inte-gritat, Authentizitat, Zuverlassigkeit. Die Informations-kunde schließt sich hieran an mit Teilgebieten uber diegesellschaftliche Funktion von Information und die Ent-wicklung und Bildung von Informationssystemen im all-gemeinen. Die Geschichte tragt ihren Teil zu diesemAusbildungsteil bei, indem sie die gesellschaftliche Ent-wicklung der Niederlande und die in diesem Land arbei-tenden Institutionen behandelt: Verwaltungs-, gerichtli-che, kirchliche und sonstige Einrichtungen. Mit einemseparaten Modul ’Organisationskunde’ wird die Analyseder Archivbildung zusatzlich unterstutzt. Das zweite Aus-bildungsthema ist, was wir zusammenfassend Archivbe-arbeitung nennen. In jeder Phase des Lebenslaufs wirddas Archiv instandgehalten, weil es wichtige, sinnvolleund/oder interessante Informationen enthalt. Hierfurmuß das System kontrollierbar und vor allem zuganglichsein. Mit anderen Worten, in dieser Gruppe von Fachernfinden wir die Kriterien fur die Bewertung, die Ordnungund die Verzeichnung. Diese Facher stellen allerdingsnicht die Zielsetzung der Module dar: der Ausgangs-punkt hierbei ist vor allem die Aufrechterhaltung der„Qualitat“. In der neuen Definition besteht diese zu ei-nem großen Teil aus dem Erhalten der Verbindung zwi-schen „recorded information“ und erzeugendem Prozeß,zwischen „Daten“ und „Metadaten“. Hieran schließt sichdie Informationskunde an, indem sie sich beispielsweisemit der Erneuerung anderer, großerer, komplexerer Infor-mationssysteme sowie mit der Moglichkeit der Zugang-lichkeit dieser Systeme befaßt. Und die Geschichtswis-senschaft befaßt sich in dieser Fachergruppe unter ande-rem mit der Theorie und Methodologie der Geschichtsfor-schung und liefert damit einen Beitrag zur wohl uberlegtenStellungnahme uber die Bewertung und die Zuganglich-keit. Daruber hinaus gehoren zu dieser Fachergruppe dieHilfswissenschaften wie Paleographie, Diplomatik usw.Aber diese werden auch hier archivistisch gedeutet, siespielen eine Rolle, insoweit sie zu einer archivistischenAnalyse dieser Dokumente beitragen konnen. Drittens:Die Fachergruppe Archivverwaltung. Wurde in den beidenvorigen Abschnitten vor allem die Archivistik betrachtet, sodreht es sich im dritten und letzten Abschnitt um die Kon-trolle des Objekts. Schließlich kann beziehungsweise mußsowohl bei der Archivbildung als auch bei der Bearbeitungeine große Auswahl getroffen werden: welche intellektuel-len und welche sonstigen Erwagungen bestimmen dieEntscheidungen, die bei der Archivverwaltung getroffenwerden mussen? Sie werden sicher nicht erstaunt sein,daß von der Seite der Informationssysteme aus gesehendie Kontrolle der Informationssysteme in diesem Teil derAusbildung eine zentrale Stelle einnimmt, wie auch der„Steuerungsmix“, der jenen profilieren kann. Es wird Sieauch nicht erstaunen, daß Geschichte in diesem Teil keineRolle spielt, denn Geschichte ist, wie auch immer geartet,uberhaupt kein kontrollierbares Objekt. Letztens: Das Aus-bildungsprogram wird mit einem Oberseminar und einerDiplomarbeit abgeschlossen.

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Hans Scheurkogel: Die Ausbildung an der Archivschule der Niederlande

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Wie Sie sehen, sind in dieser Ausbildungsorganisation dieRollen vertauscht: Die Archivwissenschaft ist Ausgangs-punkt und Richtungsweiser geworden; die geschichtswis-senschaftlichen und informationswissenschaftlichen Mo-dule sind nur deswegen Teil des Programms, um ein ar-chivwissenschaftliches Bedurfnis zu befriedigen; sie sindjetzt in gewissem Sinne die Hilfswissenschaften der Ar-chivwissenschaft geworden. Im Vergleich mit der fruhe-ren mangelt es der heutigen Ausbildung an einem Teil:dem Praktikum, der praktischen Erfahrung. Dies ist dasThema meiner nachsten These:

Die akademische Ausbildung ist so praxisorientiert, wiedies in einer wissenschaftlichen Umgebung maximalmoglich ist.

Bei der Berechnung der Studienbelastung der neuenAusbildung ist der Teil des Praktikums, der im alten Stilzum Fachgebiet eines Faches gehorte, konsequent die-sem Fach zugeteilt worden. So hat beispielsweise einFach wie Archivverwaltung, das in der alten Ausbil-dungsform nur 30 Stunden einnahm, in der neuen Aus-bildung eine Studienbelastung von 280 Stunden bekom-men. Auf diese Weise hat es sich als moglich herausge-stellt, daß in der neuen Ausbildung jedem Modul Aufga-ben zugeteilt wurden, die in einer konkreten praktischen

Situation untersucht werden mussen. Naturlich gibt eseinen wichtigen Unterschied: der Archivdienst bestimmtnicht mehr die Arbeiten, sondern jetzt sind die Universi-tatsausbildung und die wissenschaftliche Fragestellungdie bestimmenden Faktoren. Ein weiterer Unterschiedist die Tatsache, daß die Arbeiten infolge der Deinstitu-tionalisierung nicht mehr ausschließlich an den traditio-nellen Archivdiensten ausgefuhrt werden. Zur Zeit, wodie neue Ausbildung noch in ihren Kinderschuhensteckt, kommt es, (dies muß einmal gesagt werden), bis-weilen zu Anpassungsproblemen bei dem einen oderanderen Archivdienst. Diese Probleme sind jedoch an-gesichts der Wichtigkeit der Veranderung m. E. nichtgroß. An der Studienplanung sind viele Archivare betei-ligt, die Dozenten sind immer noch Archivare mit reicherErfahrung, die Schule hat einen Beratungsausschuß mitVertretern aus der Basis, und zwischen der Schule undden Archivdiensten in der Region gibt es regelmaßigKontakte. Es wird hochste Zeit, zum Schluß zu kommen,und ich werde dies, wie Sie richtig vermuten, mit einerThese tun, dieses Mal jedoch ohne Erlauterung und,oberflachlich betrachtet, paradoxal formuliert: Der Archi-var der Zukunft kann moglicherweise in traditionellerHinsicht weniger, aber er kann dennoch viel mehr als erweniger kann.

EINFHRUNGIN DIE

ARCHIV-WISSENSCHAFT

ARCHIV-„BILDUNG“

ARCHIV-BEARBEITUNG

ARCHIV-MANAGEMENT

ARCHIV-BESCHREIBUNG

DOKUMENT-ANALYSE

GESCHICHTEDER

NIEDERLANDE

STAATUND

VERWALTUNG

THEORIE UNDMETHODEN

GESCHICHTS-WISSENSCHAFT

EINFHRUNGIN DIE

INFORMATIONS-WISSENSCHAFT

DOKUMENTAREINFORMATIONS-TECHNOLOGIE

INFORMATIONS-UND

KENNTNIS-MANAGEMENT

FREIWAHL-OPTION

WISSENSCHAFTS-PHILOSOPHIE

ORGANISATIONS-KUNDE

OBER-SEMINAR

RESEARCHUND

DIPLOMARBEIT

Facherkanon der Archivschule der Niederlande

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

Hans Scheurkogel: Die Ausbildung an der Archivschule der Niederlande

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Ziel und Inhalt der Ausbildung„Management & Dokumentatives Informationswesen“

von Betty W. Lutke Schipholt

Zunachst mochte ich mich bei der Kongreßleitung fur dieEinladung und die Moglichkeit bedanken, die Hochschu-le „Management & Dokumentatives Informationswesen“prasentieren zu konnen. Fur uns ist es eine besondereFreude, da wir erst seit 1997 bestehen und naturlich un-sere Ausbildung gerne innerhalb des Fachgebiets vor-stellen mochten.

Ich mochte mich Ihnen vorstellen: Ich bin Betty LutkeSchipholt und leite die Stiftung „Ausbildung und Exa-men“ innerhalb des dokumentativen Informationswe-sens. Daruber hinaus bin ich verantwortlich fur das Aus-bildungsmanagement der Ausbildung „Management &Dokumentatives Informationswesen“. Durch die Ande-rung des Gesetzes fur Hochschulunterricht und wissen-schaftliche Forschung wurde es moglich, auch als Pri-vatinstitut eine hohere Berufsausbildung anzubieten.Gemeinsam mit einigen Experten wurden die Vorausset-zungen geschaffen: Aufstellung eines Lehrplans und ei-nes Qualitatskontrollprogramms sowie eine Ausbil-dungs- und Examensregelung. Die einzelnen Punktewurden vom niederlandischen Bildungsrat beurteilt undanerkannt.

In dieser Prasentation werde ich die Schwerpunkte derAusbildungsausrichtung und deren Inhalt erlautern.

Ich mochte mit der Prasentation des Berufsbilds begin-nen, das wir in Zusammenarbeit mit „hochqualifiziertenBerufstatigen“ erstellt haben. Die entsprechende Unter-suchung wurde im Rahmen einer Magisterarbeit von ei-nem Organisationspsychologen an der Universitat Nim-wegen durchgefuhrt. Danach erlautere ich, in welchenPunkten das Berufsbild an das Konzept des „New Archi-vist“ von Professor Doktor Erik Ketelaar anschließt undan welchen Stellen wir unsere eigene Philosophie ent-wickelt haben.

Daran schließt die Prasentation der Ausbildungsstrukturan und die Grunde, warum wir gerade von dieser Struk-tur ausgehen.

The purpose and contents of the Document Manage-ment study

(Introduction)

Profile of a document manager

To achive a good profile of a document manager, wehave defined six main working areas:

1. Managing a department2. Maintaining contacts3. Storing records4. Making records accessible5. Advising on innovations and quality of Document Ma-

nagement services6. Information security

1. Managing a department

Management in itself is not a specific document mana-gement activity. We have placed it at the top of the listhowever, because it affects all the other areas.

Management will become increasingly important in thisposition: creating and maintaining the preconditions tosupport the automated organisational process in thebest possible way, and optimising its effeciency. Thismeans that a document manager has to manage a de-partment that is able to respond to developments in in-formation technology in such a way that it can continueto deliver a hig quality product. A document managershould be able to draw up a scenario fur the next 5-10years, describing the potential significance of informati-on for the company.

This comes down to policy-making at a strategic level.

To his end a document manager needs creativity, courageand drive on the one hand, and insight, knowledge andskills on the other, They have to be the „participating chief“of a small organisational unit whose employees mainlycarry out the tasks to support one or several staff or linedepartments. Education and/or word experience havemade the document manager familiar with all aspects ofthe tasks to be carriet out by their own organisational unit.

2. Maintaining contacts

A document manager should maintain both internal andexternal contacts to explore, analyse, and structure theneed for information. They should know what goes on inthe organisation and use that knowledge to determinewhich information is required and which documents areworth archiving for a particular company.

Communication is an important tool in thes respect.Good relation with the internal automation departmentare essential. After all, the information needs signalledearlier should be formulated in such a way that the auto-mation experts understand what is required. Efficientcommunication is only possible if the document managerhas reasonable knowledge of IT.

3. Storing records

Archive management is currently undergoing a radicalchange. The old image of the government archives as adusty depot where miles of paper are kept is rapidly fa-ding. Changes in both the means and the organisationinvolved in archive management urgently call for a newvision. The Dutch audit office has made a report signal-ling a considerable number of bottlenecks in the existingarchive management of the national government.

The report presents the following conclusions:– There are insufficient management means for proper

management of the archiving process;

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– There is no policy on the storage and preservation ofrecords on automated information carriers, their statusand destruction;

– Archiving personnel ranks relatively low, which resultsin under-qualified personnel and a large turnover ofpersonnel;

– There are many lags in storage, assessibility, transferto (semi) static archives and destruction;

– There are huge numbers of personal archives.

The existing regulations with respect ot archive manage-ment are based upon principles that have become totallyoutdated in modern organisations and especially the mo-dern society. A document manager should thereforecreate a modern set of regulatins and procedures, andcontinue to adjust them to the rapid developments in thearchiving industry. One example of an new developmentis imaging.

The success of a document manager basically dependson knowing what archiving means. A document is storedfor 3 purposes:

The success of a document manager basically dependson knowing what archiving means. A document is storedfor 3 purposes:– to support the primary process– to reconstruct responsibilities at a later date, and– as a cultural heritage.

4. Making records assessible

A precondition of digitising records is that one should beable to consult and therefore retrieve them. This meansthat each document should be given access features,preferably in the natual language, because the usershould be able to determine easily which access featu-res were used for certain subjects. The set up and mai-ntenance of such access tools, especially word systems,constitute an important task of a document manager.

5. Advising on innovations and quality of DocumentManagement services

The developments in the information and communicationtechnology succeed each other with dazzling speed andhave an increasing impact on economic, social and cul-tural relationships. The main reason for this is that thesetechnologies have become much more than just tools inincrease efficiency in internal, large-scale and routineworking processes. Even the services industry becomesmore and more „informed“.

These developments create opportunities, bit dilemmasat the same time. The document manager should be in-formed of all developments and should be able to deter-mine which technology is suitable for the primary work-ing process involved. This requires close co-operationwith users and automation experts. It is also important toconsider how others (i. e. outside the organisation) usenew developments and applications, and to include thefindings in the ultimate advice.

6. Security

The government has become increasingly dependent oninformation and the systems in which it is recordet (elec-tronically). At the same time, the confidentiality of infor-

mation is more and more at risk - consider, for example,how valuable government information is to organisedcrime if the information concerns its members. The pro-tection of information, sometimes also called informationsecurity, goes beyond confidentiality and also coversavailability and reliability. Imagine what would happen ifa system broke down. Suddenly, the information is nolonger available to companies or civilians. Incorrect infor-mation also affects the quality of the system. A relativelynew spect is the security of external information relati-onships. The need for security of a covernment growsalong with the number of partners exchanging informati-on with the government. A majo issue in information se-curity is avareness. Crucial factors are the actual beha-viour uf users, whether government officials, civilians, orthird parties, and their perception of interests, require-ments and risks involved in the use of (information) tech-nologty. Basically, the „human facot“ is the major risk fac-tor of information security.

The keyword for a new policy therefore is „avareness“.Education and training should not be given asseparate courses, but should be embeddet in existingtraining courses as much as possible, thus making infor-mation security a part of the daily routine. Existing mea-sures supplementing the existing policy on informationsecurity deserve attention.

The main qualifications for a document manager

We have also considered the key qualifications thata good document manager needs to have. To be able todo the job successfully, a document manager needs thefollowing „assets“:– Knowledge of the document process and document

management– A customer-focuset attitude and skills in profiling tech-

niquesImportant aspects:– active listening– ability to summarise– marketing insights

– Expertise is essential. Knowledge of index languages,word systems, IT is required.

– Knowledge of the customer’s organisation, whichenables them to understand the customer’s needs.

– The ability to translate the organsiation’s wishes intothe possibilities of document management. Theyshould be able to empathise with the customer andeven antipate their wishes. This calls for a pro-active,sometimes even wilful attitude.

– The ability to generalise. They should be involved inthe entire field, and not specialise in one part of it.A holistic approach is required.

– A service oriented attitute.– The ability to consider a change as a challenge.– The ability to deal with an excess of information.

A document manager should know how to carry outa well-structured search in a mountain of information.

The „new archivist“

I would like to continue with a reaction to the „new archi-vist“ as described by Prof. Dr. Erik Ketelaar. The profes-sional profile of our institution generalli fits within theconceptual framework of the „new archivist“. This is notso surprising, because it is rather a loosely definedframework.

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Our Ideas are clearly focused.

First of all we define the document manager as a profes-sional with a wide-ranging education in all aspects of do-cument management. Secondly we consider extensiveknowledge of document authenticity most important.Please notice that we have reversed the order of import-ance. A document manager also builds up great know-ledge and skills in the area of management information.In our opinion the first responsibility of a document ma-nager is to support document streams in the present,and the cultural heritage perspective comes next. As thedocument manager operates in the force field of an orga-nisation, the development of management and commu-nication skills receives ample attention. This implies thatwe do not focus primaily on the basic principles of socio-logy, anthropology, economics and law.

The study structure(see the chart attached)

First of all it is important to realise that our students arealready working in the field; they are people with an inter-mediate vocational training who wish to improve themsel-ves and their position by doing the Document Manage-ment Study. Thes means that the study and all the workinvolved comes on top of their job. It also means that theycan use their own work invironment and the organisationthey word for as input for their assignments and papers.

One of the great advantages for our students is that thisstudy focuses on the practical side of the job, and that newinsights can emmediately be applied to their own situation.

In view of the students’ situation it is obvious that thestudy providet by our institution is a part-time study. Ittakes 4 yers to complete.

You will notice that the study as a whole is clearl split upin 2 sections: introduction and advanded. The introducto-ry modules cover the basics. The principles and maintheories of each subject are treated.

The advanced modules focus on applying the know-ledge acquired in the first section. The students haveto use their own word environment to make eva-luations of the current situation, to work out inprove-ment plans, to apply their improved communicationsskills, etc.

For each completed module, the students get credits.When all the modules are completed, the credits are ad-ded up and the total is known.

The Document Management study is divided into the fo-lowing 4 module sequences:

1. Management Information

This first sequence deals extensively with the structureof management information and how administration-fo-cused organisations obtain, sort, and process records.All courses are given by experts in management and ad-ministration.

2. Accessibility of Records

The basic principles of record assesibility are dealt within the first module of this sequence. Next, tools such asthe use of classifications and word systems are taught.In the advanced modules the students will practice ex-tensively with the use of index languages in documentmanagement automation packages, and will experimentwith innovations in this field.

3. Document Management

This sequence begins with a module on the principlesand definition of document management, and providesan introduction into information law/ archiving law andthe management of digital data files, including documentauthenticity.

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The next module elaborates on document storage anddestination.

Another important module of this sequence is informati-on policy and law, the functional requirements thatshould be drawn up for document management sy-stems. All aspects are then worked out and translatedinto everyday practice in a paper/thesis.

4. Management, Communication and Infrastructure

The final module sequence focuses on management andcommunication skills. As with all sequences, the first twomodules cover the basics: they provide information ab-out the main theories and models currently used in thefield. Once the students have reached the second stage,they have to become active to improve their own skills inmanagement and communication. This sequence iscompleted with a reflection on the structure and cultureof the students’ own organisation, and how that situationcould be improved.

SIX MAIN WORKING AREASOF A DOCUMENT MANAGER

1. Managing a department2. Maintaining contacts3. Storing records4. Making records assessible5. Advising on innovations and quality of Document Ma-

nagement Services6. Information security

The main qualifications for a document manager

– document proces and management– customer-focused and profiling techniques– field expertise– knowledge of the customer’s organisation– translating wishes into possibilities– the ability to generalise– a change is a challenge– dealing with an excess of information

Die Fortbildung von Archivaren in den Niederlanden

von Thijs Laeven

Es freut mich sehr, daß ich Ihnen berichten darf, wie dieNiederlandische Archivschule ihr Programm fur dieNach- und Weiterbildung von Archivaren aufbauen, ent-wickeln und organisieren wird. Ich bin innerhalb der Ar-chivschule der Projektleiter fur dieses Programm. DasProjekt steht - nach einer Periode von Vorbereitung - amAnfang der Entwickelprojekte. Diese Projekte werdenausgefuhrt in enger Zusammenarbeit mit den Berufsver-bande von Archivaren und mit den Archivamtern. Dar-uber werde ich spater mehr sagen.

Aufbau meines Beitrages

Entwicklungen im Beruf und in der Ausbildungvon Archivarendie Fortbildung von Archivaren

„state of the art“Transfer

die vier Pfeiler des Programms:BerufsprofileArchivdiensteArchivschuleZertifizierung

Fortbildung als „educational continuum“

Einleitung: Entwicklungen im Beruf und in der Aus-bildung von Archivaren

Die Amsterdamer Archivschule ist bis heute die einzigeSchule in den Niederlanden, die mit ihrem Programm dieBerufsausbildung von Archivaren auf der hochstenEbene ausfuhrt mit der volligen Anerkennung unseresKulturministeriums.

Es handelt sich um zwei Qualifikationsstufen: die soge-nannten Archivistik-A Stufe fur die Fachbildung in einemwissenschaftlichen Kontext und die Archivistik-B Stufefur die Fachbildung in einem nicht akademischen, so zu

sagen Fachhochschulen Kontext. Die Archivschule ver-sorgt innerhalb von den Programmen der AmsterdamerUniversitat und der Amsterdamer Hochschule die Son-derausbildungen fur die Archivwissenschaft.

Seit wir in unserem Lande ein neues Archivgesetz haben(seit 1996), sind fur die hoheren Positionen in den offent-lichen Archiven entweder ein Archivistik-A oder ein Ar-chivistik-B Diplom erforderlich. In diesem Schuljahr kon-nen wir die ersten Diplomierten erwarten. Die neuen Pro-gramme fur diese Studenten sind von der Archivschulevollig neu entwickelt worden. Deswegen nennen wirdiese Programme „neuer Stil“. Diese Programme sindentworfen auf Grund von den meist aktuellen Einsichten,Methoden und Theorien der Archivwissenschaft. Diezweite Eigenschaft ist die Einbettung der Archivarfach-bildung in den allgemeineren Fachrichtungen der Buch-,Archiv- und Informationswissenschaft beziehungsweisedie Informationsdienstleistung und -vermittlung.

Diese Programme des „neuen Stils“ unterscheiden sich vonden Programmen fur den mittleren und hoheren Archivbe-amten, die bis zum Jahre 1996 von der NiederlandischenArchivschule versorgt wurden und die entsprechend einemmehr traditionellen Berufsbild des Archivars entwickelt wor-den sind. Fur den Fortschritt der Profession des Archivarsund fur die Qualitat der Archivarbeit war es dann auch not-wendig, an die Archivare, die seit langerer oder kurzererZeit in der Profession arbeiten, eine Art Aktualisierungspro-gramm anzubieten. Dieses Programm sollte die berufstati-gen Archivare vertraut machen mit den aktuellen Einsich-ten, Methoden und Theorien der Archivwissenschaft undmit der Einbettung in einem weiteren Informationskontext.

Manche Archivare aus unserer Zielgruppe haben dieseEntwicklungen ubrigens in der Initialausbildung kennen-gelernt, weil sie Mentoren waren fur die Praktika unsererStudenten.

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Die wichtigsten Erneuerungen und Tendenzen im Berufund in der Berufsausbildung von Archivaren haben Sieschon kennengelernt, entweder aus eigener Erfahrungoder aus den Vortragen von Eric Ketelaar und HansScheurkogel.

Ich beschranke mich darauf, diese zusammenzufassenmit den folgenden Stichwortern:

das „record continuum“Arbeitsprozessbezogene InformationDigitalisierung und BuroautomatisierungInterdisziplinaritat und Archivwissenschaft als DisziplinInternationalisierungProfessionalisierung und berufliche Standarde und Ethik.

Die Fortbildung von Archivaren in den Niederlanden

Wenn es sich um die Fortbildung handelt, geht es dar-um, die berufstatigen Archivaren mit den „state of theart“ vertraut zu machen und die Konsequenzen darausfur die eigene Organisation und fur die eigenen Aktivita-ten ziehen zu konnen. Also – nichts mehr und auchnichts weniger:– state of the art– transfer.

Mit voller Anerkennung der Tendenz der sogenannten Ent-institutionalisierung, beschrankt sich unser Programm aufdie Archivbeamte in offentlichen Archiven. Dies hat vorallem mit der Finanzierung des Programms zu tun.

Unser Programm wird ab dem Herbst 1999 operationellsein. Das bedeutet, daß wir zur Zeit beschaftigt sind, umdas Programm zu entwickeln. Wir arbeiten eng zusam-men mit unseren Kunden, und das sind die offentlichenArchivdienste, nicht die einzelnen Archivare, weil die vonihren Arbeitgebern aus an dem Programm teilnehmen.Ebenfalls arbeiten wir zusammen mit den Berufsver-einen der Archivare.

Das nachste Bild zeigt den koniglichen Weg unseresVorgehens bei der Entwicklung des Programms.

An erster Stelle grunden wir unser Programm auf Be-rufsprofile. Zum Teil bestehen die Tatigkeitsprofileschon und zum anderen Teil mussen sie entwickelt undanerkannt werden. Selbstverstandlich existieren solcheProfile fur die Currikula der primaren Berufsausbildung.Es handelt sich dabei um junge Archivare, die am An-fang ihrer Laufbahn stehen und in das Berufsfeld einstei-gen, weil unser Programm sich an die berufstatigen Ar-chivaren wendet. Es geht also um Berufsprofile fur dieFortbildung.

Im allgemeinen beschreiben Berufsprofile die Kennt-nisse, die Fertigkeiten und das Berufsbild, die erforder-lich sind, fur die professionelle Betatigung in dem bezug-lichen Beruf. Fur Anfanger oder Junioren in irgendeinemBerufsfeld konnen diese Einsteigerprofile wichtige Hin-weise geben bei der Entwicklung von Currikula fur dieprimare Berufsausbildung. Fur uns aber handelt es sichum berufstatige Archivare. Darum mussen wir weiter ge-hen als die Anforderungen, die gultig sind fur Anfangeroder Junioren. Wir brauchen Anforderungen, die be-schreiben wie Mitarbeiter sich qualifizieren konnen furhohere Funktionen. Diese Anforderungen betreffen alsodie professionelle Entwicklung - oder wenn Sie wollen:die Karriere - von Archivbeamten.

Solche Berufsprofile sind wesentlich fur die Fortbildungvon berufstatigen Archivaren aufgrund der Personal-oder Karrierepolitik der Archivdienste. Leider gibt es dienoch nicht. In gemeinsamer Arbeit mit den Berufsverei-nen von Archivaren und mit den Personalverantwortli-chen der Archivdienste versuchen wir, diese zu entwik-keln. Selbstverstandlich brauchen die Profile die volligeZustimmung der Berufsvereine. Das ist ein langer Weg.Fur unser Programm wurde es reichen, wenn wir diewichtigsten Erneuerungen kennen und wußten, wie diesich in der taglichen Praxis auswirken. Welche Anforde-rungen sind relevant fur die Ubersetzung der neuen Ent-wicklungen und Methoden im Berufsfeld, national so wieinternational, nach der eigenen Situation und der eige-nen Praxis? Diese Anforderungen sind ein wesentlicherBestandteil der Berufsprofile. Wir sind glucklich, daß in-

dividuelle Archi-vare, Berufsver-bande und Ar-chivdienste die-se Anforderun-gen beschreibenund unseremProgramm damitbehilflich sind.

An zweiter Stellebrauchen wir dieZusammenarbeitmit den Archiv-diensten, ins-besondere mitden Personalab-teilungen. Nichtnur weil sie un-sere Kunden sind,sondern weil siefur die Personal-entwicklung undfur die Lernpoli-tik und die Aus-bildungskonzepte

Die vier Pfeiler des Programms

entwickeln

beurteilen

Modulangebot(Katalog)

Archivschule

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und -planung der ganzen Organisation und der samtli-chen Mitarbeiter verantwortlich sind.

Jeder Archivdienst kann die Berufsprofile benutzen zurBeurteilung des Fortbildungsbedarfs einzelner odersamtlicher Archivare. Die Beurteilung ist im Grunde einVergleich zwischen den gewunschten und den wirkli-chen Anforderungen. Die mogliche Diskrepanz zwischenden beiden ergibt die Ziele des Fortbildungsprogrammsfur einzelne oder fur Gruppen von Archivaren. Selbstver-standlich beschrankt sich die Diskrepanzanalyse auf dieMangel der archivistischen Kenntnisse und Fertigkeiten.Aussagen uber sonstige Aspekte vom Funktionieren derMitarbeiter (zum Beispiel: Kommunikationsfertigkeiten)konnen nicht gemacht werden und sind fur unsere Ziel-setzung nicht interessant.

Im Rahmen des Programms werden wir den Archivdien-sten ein Instrument zur Verfugung stellen, um diese Dis-krepanzanalyse machen zu konnen. Dieses Instrumentwird entwickelt werden in Zusammenarbeit mit den Dien-sten. Andererseits sind Berufsvereine und der Reichsar-chivdienst schon damit beschaftigt, ihre eigenen Fortbil-dungsprogramme zu entwickeln. Darum habe ich einendoppelten Pfeil in meiner Zeichnung gezogen.

Wenn auf diese Weise die Fortbildungsbedurfnisse fest-gestellt sind, konnen die Archivdienste der Archivschuleihre Wunsche bekanntmachen und ihre Wahl aus demAngebot der Module im Fortbildungsprogramm treffen.Und damit sind wir angekommen bei dem dritten Pfeilerdes Programms: das Angebot der Archivschule.

Das Fortbildungsprogramm wird wahrscheinlich dreioder vier Kernthemen umfassen:

– Hauptlinien der modernen Archivwissenschaft – dassind im Grunde die Elemente aus meiner Zusammen-fassung der aktuellen Entwicklungen.

– Archivbildung, insbesondere die Orientierung auf dieAnalyse der Organisationskontexte und der Betriebs-prozessanalyse zum Garantieren der Integritat, Au-thentizitat und Zuverlassigkeit. Auch die Entinstitutio-nalisierung (das Verschwinden der Grenze zwischendem dynamischen und dem semistatischen Archiv)und neue Gesetze und Regel u.s.w.

– Archivbearbeitung - mit Rucksicht auf die Qualitat derArchiveinordnung und Archivbeschreibung; wichtigeAspekte sind die Zuganglichkeit und das Behalten derBeziehung zwischen den hervorbringenden Prozes-sen und der Organisation und die Information, zwi-schen Metadata und Kontext und Data.

– Organisation und Information: die Einbettung der ar-chivistische Arbeit in ihren weiteren Kontext.

Neben diesen archivistischen Kernthemen kann die Ar-chivschule in ihrem Fortbildungskatalog Module eintra-gen, die von ihren Partnern ausgefuhrt werden. Die Am-sterdamer Universitat und die Amsterdamer Fachhoch-schule konnen Module anbieten, die Bezug haben aufden weiteren Kontext der modernen Archivistik. Es han-delt sich dabei um die mehr allgemeinen Aspekte der In-formationswissenschaft und der Betriebs- und Verwal-tungswissenschaft. Zum Beispiel: Betriebsprozessanaly-se, Entwicklung von Strukturplanen fur die Einrichtungder Betriebsinformation. Der moderne Archivar muß sichin diesen Domanen qualifizieren, um seiner primaren Ar-chivarbeit und Archivverantwortlichkeit Inhalt geben zukonnen. Er steht dabei manchmal seinen Kollegen ge-genuber, die nicht die Archivbelange verteidigen. Dermoderne Archivar muß darum eingefuhrt sein in dieseDomanen, damit er auf gleicher Ebene mit Nichtarchiva-ren diskutieren kann und Probleme auch aus einer nichtarchivistischen Perspektive betrachten kann.

Wir werden also im Katalog entscheiden zwischenvier Kernmodulen (obligatorisch) undweiterfuhrenden Modulen (optional).

Vier “Kernmodule“

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Thijs Laeven: Die Fortbildung von Archivaren in den Niederlanden

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Ein roter Faden im Programm wird auch die Digitalisie-rung der Archive und der Archivarbeit sein. Wir machendaraus nicht ein einzelnes Kernthema, sondern verwe-ben das mit den anderen Modulen, weil dieses Themaunloslich mit allen drei Themen zu tun hat.

Die Kernthemen werden ubrigens nicht nur als Theoriehervorgebracht. Die Module werden eine didaktischeForm bekommen, die die Ubersetzung der Theorie in dieeigene Praxis notwendig macht und ermoglicht. Die Teil-nehmer in einem Fortbildungsprogramm unterscheidensich dadurch, daß sie neue Kenntnisse mit eigener prak-tischen Erfahrung kombinieren und zu einer neuen Pra-xis kommen. Sie konnen die Theorie nach der eigenenArbeit transferieren. Im Programm wird der sogenannte„Transfer“ ein wichtiges Element sein.

Zum Schluß nenne ich noch einen vierten Pfeiler: dieZertifizierung.

Das Nachbildungsprogramm darf nicht unverbindlichsein. Die Archivare beteiligen sich an der Fortbildung,weil die Organisationen wo sie berufstatig sind, die Be-teiligung als notwendig erachten. Diese Notwendigkeithat sich aus der Diskrepanzanalyse ergeben. Darummussen die Archivdienste die Sicherheit haben, daß dieTeilnehmer sich mit gutem Erfolg eingesetzt haben. EinSystem von Zertifikaten, die aufgrund einer Prufung er-teilt werden, muß ihnen die Sicherheit geben. Die Zertifi-

zierung geschieht im Prinzip nur, wenn jemand alle furdas Zertifikat benotigten Anforderungen erfullt. Die An-forderungen ergeben sich aus den Berufsprofilen. Damitschließt sich der Kreis.

Der Aufbau der Zertifizierung steht in der Verantwortungder Berufsvereine. Sie konnen die Berufsprofile als Re-ferenz benutzen. Die Berufsvereine konnen die zertifizie-rende Prufung der Archivschule uberlassen und daruberdie Aufsicht fuhren.

Archivdienste konnen den Besitz von bestimmten Zertifi-katen erfordern, wenn ein Mitarbeiter Karriere machenwill. Die Teilnehmer in unserem Programm sind qualifi-ziert, weil sie ihre Diplome besitzen. Aber die Archivdien-ste konnen weitergehende berufliche Anforderungenstellen, um die Dienstleistung den modernen Entwicklun-gen anzupassen.

Zum Schluß

Man konnte mit einem Wortspiel sagen: so wie die Ar-chivwissenschaft das „records continuum“ als eine Vor-aussetzung akzeptiert, so wurde ich pladieren fur Fortbil-dung als einer education lifecycle oder als ein educationcontinuum, weil es darum geht, die Fortbildung nicht alseine einmalige Intervention anzusehen, sondern es imRahmen der sogenannte education permanente zu be-trachten.

BERICHTE UND MITTEILUNGEN

Neuverzeichnung desFreiherr vom Stein - Nachlasses

Mit Mitteln aus dem Forderprogramm der DeutschenForschungsgemeinschaft (DFG) fur die Erschließungneuzeitlicher Nachlasse wird seit Mai dieses Jahresbeim Westfalischen Archivamt der Nachlaß des Frei-herrn vom Stein (1757-1831) neu verzeichnet.

Der Nachlaß des preußischen Staatsministers und Re-formers befindet sich im Familienbesitz der Grafen vonKanitz auf Schloß Cappenberg und ist seit den 1930erJahren fur die Forschung zuganglich. Der CappenbergerBestand bildet den Hauptteil des GesamtnachlassesSteins (weitere Unterlagen befinden sich im GeheimenStaatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin) und um-faßt ca. 12 lfd. Meter aus einem Zeitraum vom 17. Jahr-hundert bis 1831. Er enthalt sowohl familiengeschichtli-che und biographische Dokumente zu Stein, als auchAkten aus seiner amtlichen und politischen Tatigkeit so-wie politische, wissenschaftliche und kunstlerische Ma-nuskripte und Korrespondenzen in verschiedenen Uber-lieferungsstadien. Von unschatzbarem Aussagewert furdie Ereignisse der preußischen, deutschen und europa-ischen Geschichte im ersten Drittel des 19. Jahrhundertssind Steins umfangreicher Schriftwechsel mit in Politik,Wissenschaft und Kultur fuhrenden Personlichkeiten sei-

ner Zeit, seine Akten aus der preußischen Reformzeit,zu den Befreiungskriegen, dem Wiener Kongreß undVerfassungsfragen des Deutschen Bundes. Steins Wir-ken in Westfalen, wo er auf Schloß Cappenberg ab 1816seine letzten 15 Lebensjahre verbrachte und sich in derihm eigenen Art fur die Einfuhrung der provinzialstandi-schen Verfassung, die Verteidigung der Rechte desAdels und weitere Belange der Provinz engagierte, hin-terließ auch fur diesen Bereich einen interessantenQuellenfundus an Ausarbeitungen und Korresponden-zen.

In seiner heutigen Struktur wurde der Nachlaß im Zugeder von Erich Botzenhart bearbeiteten Ausgabe vonBriefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen Steinsca. 1937 kunstlich zusammengestellt. Die damals vorge-nommenen Ordnungs- und Verzeichnungsarbeitenorientierten sich in erster Linie an den Bedurfnissen die-ser Edition, so daß die Erschließung unvollstandig undmit ungleichmaßiger Intensitat erfolgte. Waren in man-chen Bereichen Einzelbriefe mit eigener Signatur nach-gewiesen, fanden sich an anderer Stelle dicke Bande,die wichtige Einzelschriftstucke enthalten, mit einemknappen, kaum aussagefahigen Aktentitel versehen. Dieursprunglich vergebenen hochkomplizierten alphanume-rischen Signaturen waren schon vor einigen Jahren vomArchivamt durch fortlaufende Numerierung ersetzt wor-den. Fur die Benutzung lag jedoch weiterhin lediglich ein

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Archivpflege in Westfalen und Lippe 51, 1999

BERICHTE UND MITTEILUNGEN

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maschinenschriftliches Findbuch mit einer Vielzahl vonNachtragen und handschriftlichen Erganzungen vor, unddie so maßgeblichen Indizes, etwa fur Personen, Orteund Sachbetreffe, gab es nicht. In die beiden großenQuellenpublikationen zum Freiherrn vom Stein sind zwarTeile des Nachlasses eingegangen, aber nur in Auswahl,und insbesondere an Stein gerichtete Briefe wurden we-niger berucksichtigt.

Alles in allem war der Erschließungszustand dem hohenwissenschaftlichen Wert des Stein-Nachlasses nicht an-gemessen, und es entstand das Vorhaben einer Neuver-zeichnung, um im Rahmen eines Projektes eine einheit-liche, nach archivfachlichen Kriterien durchgefuhrte sy-stematische Ordnung und Verzeichnung herzustellen.Nachdem ein entsprechender Antrag positiv beschiedenwurde, kann nun eine aus Mitteln der DFG bezahlte wis-senschaftliche Mitarbeiterin die Neuverzeichnung durch-fuhren.

Die Erschließung findet in den Raumen des Westfali-schen Archivamts in Munster statt. Durch unmittelbareEingabe in den PC mit dem Archivprogramm AUGIASkann parallel zur Titelaufnahme bereits indiziert werden.Entsprechend der Bedeutung des Nachlasses gestaltetsich die Erschließung B in Abhangigkeit von der Bedeu-tung der Verzeichnungseinheit - sehr tief und geht biszur Einzelblattverzeichnung mit kurzen, regestartigen In-haltsangaben zum jeweiligen Schriftstuck. In dem fur dieBedurfnisse des Nachlasses angepaßten Verzeich-nungsformular finden folgende Angaben Aufnahme: AlteArchivsignaturen, die wahrend der Verzeichnung neuvergebene Signatur, Titel, Enthalt- und Darin-Vermerke,Ausstellungsort und Bdatum, Namen des Absendersbzw. Verfassers und des Empfangers, die Bezeichnungder Schreiberhand, die Fremdsprache (i.d.R. franzo-sisch), in der der Text verfaßt wurde, Uberlieferungssta-dium, Umfang, evtl. Angabe des Editionsortes und Be-schadigungen der Archivalie. Bislang wurden ca. 1300Einzeleinheiten verzeichnet. In die Arbeit einbezogenwird neben dem Nachlaßbestand der Bestand der Guts-verwaltung Cappenberg, aus dem Stein betreffendeSchriftstucke nachgewiesen werden sollen. Ziel der Ver-zeichnung ist einerseits ein gedrucktes Findbuch, dasden Nachweis von Personen- und Ortsnamen und Sach-betreffen einschließt. Zum anderen soll der Bestand amRechner recherchierbar sein und der Zugang fur die Of-fentlichkeit uber das Internet erleichtert werden.

(Scha)

Tagungsbericht:

NS-Herrschaft und bezettingstijd imdeutsch-niederlandischen Grenzraum.Historische Erfahrung und Verarbei-tung in binationaler Perspektive

(ESTA-Europa-Institut Bocholt, 22. - 23. April 1999)

Dem Zusammenhang von Ereignis- und Erfahrungs-,Wirkungs- und Wahrnehmungsgeschichte am Beispieldes deutsch-niederlandischen Grenzraumes unter NS-Herrschaft und deutscher Okkupation widmete sich eineTagung, die von der nordrhein-westfalischen Vereini-gung „Historikerinnen & Historiker vor Ort e.V.“, dem

Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD,Amsterdam), dem Zentrum fur Niederlande-Studien derUniversitat Munster und dem Streekarchivariaat RegioAchterhoek (Doetinchem) in Bocholt veranstaltet wurde.N. Fasse (Stadtarchiv Bocholt), verantwortlich fur dieKonzeption der Tagung, betonte in seiner Einfuhrung dienotwendige Verknupfung von Selbst- und Fremdwahr-nehmung als Forschungsstrategie sowie die wachsendeBedeutung der regionalhistorischen Forschung zur NS-Herrschaft und Besatzungszeit in Deutschland und denNiederlanden.

H. Lademacher, Direktor des Niederlande-Zentrums, er-offnete die Tagung mit grundsatzlichen Bemerkungenzur Selbst- und Fremdwahrnehmung und zu nationalenStereotypen im 19. und 20. Jahrhundert in sozialpsycho-logischer, soziologischer und politologischer Sicht.NIOD-Direktor J.C.H. Blom gab einen Uberblick uber dieniederlandische Gesellschaft zwischen 1930 und 1950.Zunachst skizzierte er die Ziele der deutschen Besat-zungsmacht seit Mai 1940: Nazifizierung der Gesell-schaft (wobei er auch die Problematik Kollaboration undWiderstand ansprach), Eliminierung der Juden aus derGesellschaft und wirtschaftliche Ausbeutung fur deut-sche Kriegsziele. Dann ging er auf die langfristigen Fol-gen der Besatzungszeit ein: Die segmentierte Gesell-schaft, wie sie sich in den 20er und 30er Jahren verfe-stigt hatte, sei nach 1945 „eher gestarkt als geschwacht“zum Vorschein gekommen, die 50er Jahre bezeichneteer als „die versaulteste und burgerlichste Phase ihrerGeschichte“. Es entstand somit - bei allen Differenzie-rungen - ein Bild der Kontinuitat von der Vor- zur Nach-kriegsgesellschaft, die erst in den 60er Jahren unter denDruck der sozialen und kulturellen Modernisierung ge-riet.

J.Th.M. Houwink ten Cate (NIOD) richtete den Blick aufdie Verarbeitung der Besatzungszeit in der niederlandi-schen Historiographie. Die nationalgeschichtliche For-schungstradition, begrundet in den 60er Jahren von deJong, bewertete die Besatzungszeit als eine „unaus-weichliche Niederlage“, sogar als einen „Bankrott desStaates und der Gesellschaft“. Damit wurde ein Zusam-menhang hergestellt zwischen der niederlandischen In-nen- und Außenpolitik und der segmentierten Gesell-schaft auf der einen und dem Erstarken Hitler-Deutsch-lands und seiner Unterwerfungspolitik auf der anderenSeite. Lademacher, so Houwink ten Cate, habe 1977erstmals das Augenmerk auf die Versaulung der nieder-landischen Innen- und Wirtschaftspolitik gelenkt und sodas differenzierte Feld der „versaulten Reaktionen“ aufdie deutsche Bedrohung und Besatzung der Jahre 1933-1945 erschlossen. In einem zweiten Schwerpunkt stellteHouwink ten Cate den „traditionellen Heimatgeschich-ten“ die „modernen Lokalgeschichten“ gegenuber. Dievon Laien betriebene Heimatgeschichte interpretiere dieBesatzungszeit als ein „wesensfremdes Intermezzo dereigenen Geschichte“, in der ein monolithischer und bar-barischer Besatzungsapparat jedwede Opposition unter-bunden bzw. verfolgt habe. Sie konzentriere sich folge-richtig auf die Phase des großten Terrors, die Jahre1943 bis 1945; diese Zeit werde als gemeinschaftlich be-standene Bewahrungsprobe gedeutet. Die professio-nelle moderne Lokal- und Regionalgeschichte hingegenrichte ihr Interesse starker auf den Zeitraum 1940-1943und damit auf die Besatzungsverwaltung im Reichskom-missariat, ihr Thema sei in erster Linie das Verhaltnisvon niederlandischen Behorden und nationalsozialisti-

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scher Besatzungsburokratie, ihr Untersuchungsgebietvor allem die Großstadte.

N. Fasse zeichnete in seinem Referat uber „NS-Herr-schaft und regionale Gesellschaft im Westmunsterland1933-1939“ ein sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichdifferenziertes Bild vom politischen Verhalten der Bevol-kerung und distanzierte sich von einem ausufernd ge-brauchten Widerstands-Begriff und der These von der„katholischen Volksopposition“, die gerade die kirchen-nahe Zeitgeschichtsforschung auf regionaler Ebene bisin die jungste Zeit vertreten habe. Vielmehr belegten ge-rade regionalgeschichtliche Studien ein Gemengelageaus Konsens und Loyalitat sowie situativem Dissens,kultureller Selbstbehauptung und partieller Verweige-rung.

In den folgenden sieben Sektionen nahmen insgesamt22 Referate Aspekte des jeweiligen Oberthemas auf.Die erste Sektion beschaftigte sich mit grenzuberschrei-tenden deutschen Oppositionszirkeln und ihren nieder-landischen Unterstutzern sowie mit der sozialen Lageemigrierter Schriftsteller in den Niederlanden. Die zweiteSektion behandelte in binationaler Perspektive die natio-nalsozialistische Judenverfolgung. G. Blumberg (Ober-finanzdirektion Koln, Außenstelle Munster) schilderte dielange unbeachtete Mitwirkung der westfalischen Finanz-und Zollbehorden bei der stufenweisen Enteignung undAusplunderung der Juden. D. van Galen Last (NIOD)zeichnete die Entwicklung der niederlandischen Flucht-lingspolitik nach. Bis 1938 bzw. 1940 nahmen die Re-striktionen in der Aufnahme der als „unerwunschte Aus-lander“ betrachteten Fluchtlinge stetig zu. Schon Ende1938 hatte die niederlandische Regierung die Einrich-tung eines zentralen Aufnahmelagers (Westerbork) zurInternierung der legalen wie illegalen judischen Fluchtlin-ge beschlossen. Ab 1942 fungierte Westerbork, nun un-ter deutscher Verwaltung stehend, fur die in den Nieder-landen lebenden Juden als Zwischenstation auf demWeg in die Vernichtungslager. Erganzend schilderte V.Jacob (Munster) die Existenzgrundlagen und Lebens-strategien deutscher Juden in den Niederlanden 1933-1940 auf Basis von Interviews mit Uberlebenden.

In der dritten Sektion („Fremdherrschaft und Judenver-folgung“) berichtete u.a. Chr. Spieker (Greven) uber dieOrganisationsstruktur und Politik des deutschen Polizei-apparates in den Niederlanden. Er machte deutlich, daßdie Rolle der Ordnungspolizei bei Repression und De-portation lange Zeit unterschatzt wurde, und ging auf Ko-operationen und Spannungen zwischen deutscher undniederlandischer Polizei ein. Aus den unter einer zivilenBesatzungsverwaltung stehenden Niederlanden wurdenrelativ gesehen sehr viel mehr Juden deportiert als ausden ubrigen, einer Militarverwaltung unterworfenen Lan-dern Westeuropas (z.B. Belgien), was er auf die Amtshil-fen der niederlandischen Polizei zuruckfuhrte.

In der vierten Sektion („Ausbeutung und Arbeitseinsatz“)gab H. de Beukelaer (Aalten) am Beispiel der ProvinzGelderland zunachst einen Uberblick uber Formen undFelder der Ausbeutung der niederlandischen Wirtschaftfur deutsche Zwecke. Damit naherte sich die Veranstal-tung auch Fragen der tagespolitischen Agenda, ist dochdie Diskussion um Entschadigungsleistungen an ehema-lige Zwangsarbeiter noch zu keinem Ergebnis gekom-men. V. Issmer (Osnabruck) kontrastierte die bis in diejungste Zeit eher beschonigenden Berichte deutscher

Regionalzeitungen uber Nachkriegskontakte ehemaligerZwangsarbeiter zu ihren „Arbeitgebern“ mit den vielfachnuchternen Selbstaussagen und Aufzeichnungen derniederlandischen Betroffenen uber die Jahre ihres „Ar-beitseinsatzes“. Er betonte jedoch, daß sie trotz vielernegativer Erfahrungen die Deutschen in der Erinnerung(und in der Gegenwart) in der Regel differenziert beur-teilten. G. Lotfi (Bochum) sprach uber niederlandischeZwangsarbeiter in den sog. Arbeitserziehungslagern derGestapo im rheinisch-westfalischen Raum. Diese staats-polizeilichen „Abschreckungs- und Verfolgungseinrich-tungen“ waren von großer Bedeutung fur die Durchset-zung des deutschen Zwangsarbeitssystems. Von der„Arbeitserziehung“ profitierten in erster Linie deutscheUnternehmen und Kommunen, die z.B. Auftrage fur Tief-bauarbeiten vergaben. Als Betroffener berichtete A.Pontier (Doetinchem) uber die Endphase der nationalso-zialistischen „Arbeitspolitik“ mit Razzien in den Groß-stadten und Deportationen nach Deutschland. Eindring-lich schilderte er die bedruckende Situation im Zwangs-arbeiterlager der Organisation Todt in Rees („Westfa-lenwall“).

Die funfte Sektion lotete die Bandbreite politischen Ver-haltens beiderseits der Grenze unter den Bedingungenvon Diktatur und Besatzung aus; insbesondere der inder niederlandischen Diskussion verwandte Begriff derAkkomodation stand im Mittelpunkt des Interesses.J.C.H. Blom wollte ihn, so sein Diskussionsbeitrag, vorallem als heuristisch-analytische Kategorie verstandenwissen, raumte aber auch seine Bedeutungsvielfalt ein.Unter Akkomodation lasse sich die begrenzte Anpas-sung von Parteien und administrativen Instanzen fas-sen, die der eigenen Bevolkerung angesichts der realenMachtverhaltnisse eine ertragliche Lebenslage sichernwollten, ferner auf der individuellen Ebene ein Nicht-auf-fallen-wollen, aber auch eine am einzelbetrieblichen Pro-fit orientierte Anpassung von Unternehmen. B.-A. Rusi-nek (Universitat Dusseldorf) beleuchtete Mobilisierungs-felder, Kollektivmeinungen und Verhaltensmuster in derdeutschen Kriegsgesellschaft und ging auf die Relatio-nen zum besetzten Nachbarland ein, C. Hilbrink (Ol-denzaal) erorterte die Bandbreite politischen Verhaltensauf niederlandischer Seite am Beispiel der heterogenenGrenzregion Twente. Er stellte im protestantisch geprag-ten Raum mehr Ansatze zu organisierter Illegalitat undWiderstand fest als in katholischen Gebieten. Da sichdie dem Widerstand zuzurechnenden Kreise voneinan-der abgeschlossen hatten, konne man von einer „Ver-saulung der Illegalitat“ sprechen.

Die beiden letzten Sektionen fragten nach der „Verar-beitung und Verdrangung“ der nationalsozialistischenVergangenheit in Deutschland und den Niederlanden.N. Fasse gab einen Uberblick uber apologetische Deu-tungsmuster der NS-Zeit im Kontext von Entnazifizie-rung, Verdrangung und Restauration im katholischenRegionalmilieu. I. Hoting und E. Große Vorholt (Ahaus)legten Beispiele fur das lange „Beschweigen“ der natio-nalsozialistischen Vergangenheit in Ahaus und die er-sten Ergebnisse einer sich herausbildenden Erinne-rungskultur vor. E. Munster-Schroer (Ratingen) schil-derte anhand historischer Filmaufnahmen, wie die Lei-chen von im April 1945 durch Dusseldorfer Polizeiange-horige ermordeten Zwangsarbeitern unter amerikani-scher Aufsicht von ehemaligen NS-Funktionaren exhu-miert und in Ratingen offentlich beigesetzt wurden. Mun-ster-Schroer erlauterte daran nicht nur die fruhe Politik

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der US-Besatzungsmacht gegenuber den Deutschen,sondern zeichnete auch den wechselvollen Umgang derRatinger mit der Erinnerung an ein Kriegsendphasen-Verbrechen bis in die Gegenwart nach.

J. Schuyf (Utrecht) lenkte die Aufmerksamkeit der Histo-riker aus sozialpsychologischer Sicht auf das Problemder traumatischen Kriegserfahrungen von Niederlandernund ihren individuellen und kollektiven Wirkungen bis indie Gegenwart. K. Happe (Siegen) kontrastierte zweiFormen des Umgangs mit Kollaborateuren in den Nie-derlanden nach 1945: auf der einen Seite die nachrechtsstaatlichen Grundsatzen vollzogene Bestrafungder Kollaborateure durch den Staat, auf der anderen Sei-te die spontane Demutigung und Stigmatisierung der so-genannten „Moffenmeiden“, also das Kahlscheren nie-derlandischer Frauen, die wahrend der Besatzungszeitein Verhaltnis mit Deutschen gehabt hatten; in diesemFall wurde aggressive Selbstjustiz als Ventil fur die lo-kale Bevolkerung toleriert.

Die Abschlußdiskussion versuchte, die Ausformung na-tionaler Erinnerungskulturen zu vergleichen. H. Ladema-cher betonte die Bedeutung des physischen und psychi-schen Leidens als die die kollektive Erinnerung der Nie-derlander pragende Haupterfahrung. Daher verbesseresich das niederlandische Deutschlandbild, dessen nega-tive Konturen sich bereits deutlich fruher herausgebildethatten, nur sehr langsam. In Gegensatz dazu stehe, daßdie Niederlande aus Einsicht in realpolitische Notwendig-keiten zu den wichtigsten Wegbereitern des wirtschaftli-chen Wiederaufbaus in Westdeutschland gehorten.Diese Disparitat zwischen den wirtschaftlichen und politi-schen Beziehungen einerseits und dem Unbehagen derBevolkerung dem großen Nachbarn gegenuber anderer-seits habe ihre Grunde nicht zuletzt in dem lange Jahrenur begrenzten deutschen Interesse an dem „zu kleinen“Nachbarn im Westen. H.-U. Thamer (Universitat Mun-ster) unterschied in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf deutscher Seite idealtypisch vier Pha-sen. Der Entnazifizierung bis Ende der 40er Jahre, diesich letztlich als Fehlschlag erwies, folgte bis Anfang der60er Jahre eine Phase der Mythisierung und Tabuisie-rung. Indem die deutsche Offentlichkeit die Verantwor-tung auf eine kriminelle, als gesellschaftliche Außensei-ter apostrophierte NS-Elite beschrankte, war ein dieMehrheit exkulpierendes Grundmuster gefunden, das eserlaubte, weitgehendes Stillschweigen uber vielfaltige in-dividuelle Verantwortung und Verstrickung zu wahren.Die in den 60er und 70er Jahren folgende „Tribunalisie-rung“ sei haufig zwar von Generalverdachtigungen, mo-ralischem Rigorismus und einer gewissen Selbstgerech-tigkeit der Nachgeborenen gepragt gewesen, habe aller-dings maßgeblich dazu beigetragen, eine offenere undsachgerechtere Auseinandersetzung mit der NS-Ver-gangenheit anzubahnen. Die seit den 80er Jahren ein-setzende „Historisierung“ versuche schließlich, verschie-dene Handlungs- und Wahrnehmungsebenen sichtbarwerden zu lassen, wozu auch die intensive Auseinander-setzung mit Tatern und Tatergruppen gehore.

J.C.H. Blom legte dar, daß auf niederlandischer Seite dieoffentliche Diskussion seit Kriegsende von einem gesell-schaftlichen Konsens gepragt wurde, der in je unter-schiedlicher Gewichtung von den Themen Nation, De-mokratie und Menschenrechte bestimmt worden ist. In-sofern lassen sich auch in der niederlandischen Verar-beitungsgeschichte vier Phasen unterscheiden. In der

unmittelbaren Nachkriegszeit stand das nationale The-ma im Vordergrund. Betont wurde die nationale Gemein-samkeit, mit der man die Besatzung ertragen habe undden Wiederaufbau auf sich nehmen wolle. Ab Ende der40er Jahre, als sich die Formen des offentlichen Geden-kens herauszubilden begannen und die politischen Dis-kussionen vom Kalten Krieg gepragt waren, habe dasThema Demokratie gegenuber dem nationalen Akzentan Gewicht gewonnen. Seit den spaten 50er Jahren tra-ten im Kontext von raschem Wohlstandswachstum undkultureller Revolution die Menschenrechte immer starkerin den Vordergrund. Dabei habe sich das Interesse zu-nachst auf die Opfer der bezettingstijd konzentriert,dann auf das Verhalten der Verwaltungs- und Wirt-schaftseliten. In den 80er und 90er Jahren wurde dasThema der Menschenrechte noch intensiver reflektiert,wobei u.a. Elemente niederlandischer Mitverantwortlich-keit an der Judenverfolgung in den Mittelpunkt ruckten.

Es war die binationale und zugleich regionale, sozial-und kulturgeschichtlich orientierte Untersuchung des po-litischen Handelns und Verhaltens unter je extremen Be-dingungen, die auch nach der Meinung der niederlandi-schen Mitveranstalter den besonderen Akzent dieser Ta-gung setzte. Ohne den kategorialen Unterschied zwi-schen Besatzern und Besetzten zu verwischen, fugtensich die vielfaltigen Gegenuberstellungen zu einer Zu-sammenschau der deutsch niederlandischen Grenzregi-on, in der Unterschiede nach Raumen und sozialenSchichten, Konfessionen und Geschlechtern sowie nachpolitischen Konstellationen, sozialen Voraussetzungenund kulturellen Bedingungen der jeweiligen Vorkriegs-,Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften hervortraten. Zu-gleich eroffnete sich anhand des niederlandischen „Ver-saulungs“-Begriffs und des deutschen „Milieu“-Begriffsauch manche uberraschende Analogie, so daß es uber-legenswert erscheint, die thematischen und methodolo-gischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede beiderKonzepte in Zukunft noch scharfer herauszuarbeiten.Schon zum Jahresende 1999 soll ein Tagungsband vor-liegen, der in der Reihe Niederlande-Studien des Zen-trums fur Niederlande-Studien der Universitat Munstererscheint.

Matthias M. Ester, MunsterGabriele John, Leverkusen

Die Steinwache –Ein Beispiel aus der praktischenArbeit einer Mahn- und Gedenkstatte

Die Mahn- und Gedenkstatte Steinwache Dortmund, einehemaliges Polizei- und Gestapogefangnis, ist seit ihrerEroffnung im Oktober 1992 zu einem Lern- und Geden-kort von zum Teil uberregionaler Bedeutung geworden.1

Das ehemalige Dortmunder Polizeigefangnis „Steinwa-che“, das wahrend des Dritten Reiches von der Gestapozu einer der beruchtigsten Folterstatten des DeutschenReiches pervertiert wurde, wird mit seiner standigen

1 Die Mahn- und Gedenkstatte Steinwache wird u. a. von Schulklassenaus Nordhorn und Bad Honnef (Rheinland) und in Zusammenarbeitmit der Gesamtschule Dortmund-Gartenstadt sogar von Schulklassenaus Oswiecim (Auschwitz) regelmaßig besucht. Durch Kontaktauf-nahme mit dem Bundesministerium fur Verteidigung zahlen auchBundeswehreinheiten aus ganz Nordrhein-Westfalen und Nieder-sachsen zu den Besuchern, s. hierzu auch StadtA DO SammelordnerPresseberichte und Besucherstatistik.

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Ausstellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund1933 - 1945“ nicht nur von Schulklassen als außerschuli-scher Lernort genutzt, sondern von einer Reihe andererBildungstrager aufgesucht. Neben Schulklassen aller Al-tersstufen und Schularten besuchen auch Polizeiausbil-dungsinstitute, Bundeswehreinheiten, Zivildienstschu-len, Unversitatsseminare, auslandische Gruppen sowieeine Vielzahl anderer gesellschaftlicher Institutionen dieDortmunder Mahn- und Gedenkstatte.

Um den verschiedenen Bedurfnissen der Ausstellungs-besucher gerecht zu werden, muß eine zeitgemaße Ge-denkstattenpadagogik ihre eigenen Vermittlungswegeund Ziele standig uberprufen. Eine Gedenkstatte wie dieDortmunder Steinwache, die als Gestapo-Gefangnis inder NS-Zeit als „Holle Westdeutschlands“ weit uber dieGrenzen Dortmunds hinaus eine traurige Bekanntheit er-langt hat, muß eine besondere gruppenspezifische Be-treuung anbieten, damit die gedenkstattenpadagogischeArbeit nicht in einem „formalen Erinnerungsritual“ ver-harrt.2 Das padagogische Hauptziel der Mahn- und Ge-denkstatte Dortmund liegt in einer Sensibilisierung desBesuchers fur die Inhalte der lokalen Auseinanderset-zung mit dem NS-Regime, um damit letztlich auch dieWahrung unserer demokratischen Grundordnung sicher-zustellen. Sie ist somit ein Ort der Erinnerung, der Trau-er, des Mahnens und Gedenkens, aber auch des konti-nuierlichen Lernens. Es soll fur jeden Besucher derSteinwache deutlich werden, daß die nationalsozialisti-sche Schreckensherrschaft nicht nur in Dachau, Bu-chenwald oder Auschwitz ihre schlimmste Ausformunggefunden hat, sondern auch - wie in einer deutschenGroßstadt, z. B. Dortmund - „vor der eigenen Woh-nungstur“ praktiziert wurde.

Die in das ehemalige Gestapogefangnis integrierte Aus-stellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 -1945“ des Stadtarchivs veranschaulicht daruber hinausaber auch, daß sich eine Vielzahl unterschiedlichster po-litischer und gesellschaftlicher Gruppen und Personendem nationalsozialistischen Regime durch politischenWiderstand oder Resistenz verweigert haben. Die Wi-derstandsaktionen und Protestformen werden in aus-drucksstarken Fotos, Dokumenten, Briefen und in per-sonlichen Berichten dokumentiert. Dasselbe gilt fur denBereich der vom NS-System verfolgten Minderheiten.

Die Authenzitat des Ortes wirkt auf den Gedenkstatten-besucher in den restaurierten Raumlichkeiten der Dort-munder Steinwache besonders nachhaltig, wenn eine in-dividuelle Besucherbetreuung moglich ist. Die ehemali-gen Vernehmungsraume der Dortmunder Gestapo, eineexemplarische „Inschriftenzelle“ (Inschriften von ehema-ligen Haftlingen) sowie die beruchtigte „Zelle 19“, dieauch als „Fertigmachzelle“ oder „Morderzelle“ bezeich-net wurde, lassen die Dortmunder Steinwache als au-thentischen Ort nationalsozialistischen Strafvollzugsauch heute noch erfahrbar werden. Begeben sich z. B.Schuler an einem historischen Lernort, wie ihn die Dort-munder Steinwache darstellt, auf „Spurensuche“, so er-geben sich neue Fragestellungen, die auch ein moder-ner Geschichtsunterricht nicht immer hervorbringenkann. Die „Faßbarkeit“ historischer Orte und Prozesseim unmittelbaren lokalen Umfeld uberrascht, sensibili-siert und motiviert meistens mehr, als oft im nuchternenLernort Schule erwartet werden kann. Die fur die Her-ausbildung eines spezifischen historischen Bewußtseinsnotwendige Betreuung leistet die Dortmunder Gedenk-

statte in Form von Gruppenangeboten, wie etwa Fuhrun-gen, Schulprogrammen, Filmvorfuhrungen, Diskussions-veranstaltungen oder Projekttagen.

Neben der „Erfahrbarkeit“ der jungsten deutschen Ge-schichte vor Ort kann aber auch eine weitergehendeAuseinandersetzung mit der lokalen und uberregionalenGeschichte des NS-Regimes reflektiert werden. Das Me-dium einer solchen „Sensibilisierung“ fur die Verbrechenund Strukturen des nationalsozialistischen Deutschlandwird in der einschlagigen Literatur kontrovers diskutiert.3

Die Erfahrungen der gedenkstattenpadagogischen Ar-beit in der Dortmunder Steinwache zeigen, daß mit derDarstellung von Taterbiographien und Opferprofilen, diez. B. wahrend einer Fuhrung durch die Gedenkstatte denBesuchern erklart und lebendig „erzahlt“ werden, nebenreinem sachlichen Interesse auch Anteilnahme fur dieOpfer der unmenschlichen Gestapomethoden hervorge-rufen werden kann. Gerade die starke biographischeAusrichtung der Dortmunder Ausstellung tragt zu einerindividuellen Auseinandersetzung des Gedenkstattenbe-suchers mit den bisher anonymen Frauen und Mannerndes Widerstandes gegen Hitler, aber auch mit den zahl-losen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungs-organe bei. Vielfach tabuisierte Themen, wie z. B. dieFrage nach der „Mitschuld“ der „normalen Bevolkerung“an den Verbrechen des NS-Regimes oder die nahtloseIntegration vieler ehemaliger aktiver Nationalsozialistennach dem Krieg in die Gesellschaft der jungen Bundes-republik (mit einer nachlassig betriebenen „Entnazifizie-rung“ und Suhne der NS-Verbrechen) werden mit denBesuchern ebenfalls ausfuhrlich diskutiert.4 In der Mahn-und Gedenkstatte Dortmund werden samtliche Themenangesprochen und diskutiert, die parallel dazu uberre-gional in Presse, Funk und Fernsehen abgehandelt wer-den. Durch die Projektion von Themen wie Polizei-, Ge-stapo- und NS-Verbrechen auf die lokale Ebene ergebensich erheblich deutlichere Konturen.

Eine der wichtigsten Aufgaben oder Anspruche der Dort-munder Steinwache sollte dabei nicht die bloße Fortset-zung des „Geschichtsunterrichts“ zum Thema „Natio-nalsozialismus“ sein, sondern eine Bewußtseinsbildungfur eine besondere Verantwortung gegenuber Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft. Denn nur mit einerSensibilisierung und Scharfung des historischen Be-wußtseins kann auf Dauer einer in unserer Gesellschaftweit verbreitete „Schlußstrichmentalitat“ entgegenge-wirkt werden.5 Gerade der in der Dortmunder Steinwa-che besonders intensiv gefuhrte Dialog mit den verschie-denen Besuchergruppen uber aktuelle Beispiele vonAuslanderfeindlichkeit, politischer Verfolgung etc., ma-chen den Sinn einer Gedenkstatte als Ort des histori-schen und politischen Lernens besonders manifest.Zahlreiche diesbezugliche Eintrage von Besuchern inden Gastebuchern der Steinwache sind Ergebnisse der

2 Hans-Wilhelm Bohrisch, Mahn- und Gedenkstatte Steinwache Dort-mund 1992 - 1996. Gedenken - Erinnern - Mahnen wider das Verges-sen und Verdrangen der Vergangenheit, in: Beitrage zur GeschichteDortmunds und der Grafschaft Mark, Bd. 87, 1996, S. 265 - 291.

3 So auch bei Annegret Ehmann (Hg.), Praxis der Gedenkstattenpad-agogik, Opladen 1995. Von besonderem Interesse in diesem Sam-melband ist der Aufsatz von Andreas Unger, Thesen zu Zielen undWegen der Gedenkstattenpadagogik am Beispiel der GedenkstatteBergen-Belsen, S. 294 - 296.

4 Zur Thematik vgl. immer noch grundlegend Ralph Giordano, Diezweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987.

5 Wie Anm. 2, S. 289.

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individuellen Auseinandersetzung mit der jungsten deut-schen Geschichte.6 Beispielhaft sei die Aussage einer16jahrigen Besucherin aus Oswiecim (Auschwitz/Polen)angefuhrt, die gegenuber einer Dortmunder Zeitungnach einem Besuch der Steinwache im Marz 1997 fol-gende Bemerkung machte: „Eigentlich sollten auch allePolen nach Dortmund fahren, um zu sehen, was hierpassiert ist“.7

Das gedenkstattenpadagogische Programm:

Fuhrungen durch die Mahn- und Gedenkstatte Stein-wache

Fur den interessierten Besucher werden kostenloseGruppenfuhrungen (ab 15 Personen), die ca. 1 1/2 bis 2Stunden dauern, angeboten.8 Die Fuhrungen, zum Teilauch fremdsprachlich, werden zur Zeit von 14 Honorar-kraften, zum großten Teil Historiker und Sozialwissen-schaftlicher, vorgenommen. Da die umfangreiche Aus-stellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 -1945“ eine Vielzahl unterschiedlichster Themen behan-delt, werden vor jedem Gedenkstattenbesuch Fuhrungs-schwerpunkte mit den jeweiligen Besuchergruppen ab-gesprochen.9 Bei der Anmeldung einer Fuhrung konnenim Vorfeld besondere „Wunsche“ mit den Fuhrungskraf-ten abgesprochen werden. Die Erfahrung zeigt, daß eineintensive Vor- und Nachbereitung, in die auch die Ge-denkstattenmitarbeiter/innen miteinbezogen werden, be-sonders zum Erfolg der gruppenindividuellen politisch-hi-storischen Bildung beitragen. Um positive und negativeKritik wird nach jeder Fuhrung gebeten, um eventuelleAnderungen im Programm der Gedenkstatte vornehmenzu konnen. Dazu liegt u. a. im Eingangsbereich ein Ga-stebuch aus.

„Eine sinnvolle Arbeit in der Steinwache muß ... standig... die Erfahrungen der Besucher hinterfragen, um ihnenadaquate Moglichkeiten zum Gesprach und zur Informa-tion bieten zu konnen.“10 Auch bei Fuhrungen zu denunterschiedlichsten Ausformungen des Widerstandesund der Verfolgung, aber auch bei Fuhrungen, die denUnterdruckungsapparat der Nationalsozialisten (Polizeiund Gestapo) zum Hauptinhalt haben, prasentiert sichdie Steinwache als multifunktionaler Lernort. Der Besu-cher, der durch die Gedenkstatte gefuhrt wird, soll erken-nen, daß sie ein Ort der Trauer, des Mahnens und Ge-denkens, aber auch ein Ort der Begegnung und des ver-tiefenden Lernens ist. Da eine Fuhrung aber selten mehrals einen Einblick in einen Kontext lokalgeschichtlichenThematik vermitteln kann, werden daruber hinaus vertie-fende, gedenkstattenpadagogische Medien und Grup-penprogramme angeboten.

Medien in der Mahn- und Gedenkstatte SteinwacheDortmund

Seit Ende 1996 wird in der Steinwache kontinuierlich einVideoarchiv mit Dokumentationen und Spielfilmen uberden Nationalsozialismus mit den Schwerpunkten Wider-stand und Verfolgung aufgebaut. Es besteht neben einernormalen Fuhrung durch das ehemalige Gefangnis nunauch die Moglichkeit, erganzend einen themenorientier-ten Film im Gruppenarbeitsraum vorzufuhren.11

Gegenwartig umfaßt das Videoarchiv der Mahn- und Ge-denkstatte Steinwache etwa 90 Cassetten mit uber 300Dokumentationen sowie zahlreichen personlichen Erin-

nerungen von ehemaligen Haftlingen der Steinwache.Ziel ist es, gerade jungere Besucher, die im Vorfeld desGedenkstattenbesuches wenig Vorabinformationen er-halten haben, anhand von aussagekraftigem Filmmateri-al mit der jeweiligen Veranstaltungsthematik vertraut zumachen. „Spezialfilme“, die nach der jeweiligen Schwer-punktfuhrung gezeigt und diskutiert werden, ermoglichenden interessierten Besuchern eine vertiefende Beschaf-tigung mit den einzelnen lokalbezogenen Bereichen derAusstellung. Mittlerweile kann zu jedem der 49 Ausstel-lungsthemen in der Dortmunder Steinwache adaquatesFilmmaterial angeboten werden.12 Ein Großbildfernseh-apparat steht hierfur im Gruppenarbeitsraum (fur ca. 50Personen) zur Verfugung. Eine Auswahl von Zeitzeu-genberichten kann in Form von Video- und Tonprasenta-tionen aber auch individuell in verschiedenen Raumender Mahn- und Gedenkstatte abgerufen werden.

Seit der Einbindung von Videofilmen erfreut sich diesesAngebot bei den Besuchergruppen besonderer Beliebt-heit und tragt zur Erfullung der oben genannten Maßsta-be des historisch-politischen Arbeitens bei. Ein Over-headprojektor fur Lehrerfortbildungen oder anderweitigeVeranstaltungen kann im Bedarfsfall ebenfalls im Grup-penarbeitsraum der Steinwache genutzt werden.

Neben dem Videoarchiv steht dem Besucher auch einspezifisch erarbeiteter Schuler- und Gruppenarbeitsbo-gen zur Verfugung, der bereits wiederholt erfolgreich furvertiefende „Schulprojekttage“ uber den Nationalsozia-lismus in Anspruch genommen wurde. Auf Wunsch kon-nen themenorientierte Fragebogen jeweils individuell furBesuchergruppen im Vorfeld des Besuches erarbeitetwerden. Eine Einarbeitung aktueller Bezuge in das Be-suchsprogramm ist auch kurzfristig moglich.

Das gedenkstattenpadagogische Angebot fur eine kriti-sche Auseinandersetzung mit einem gewahlten Schwer-punktthema der Ausstellung richtet sich nicht nur anSchulklassen und Kurse, sondern auch an Bundeswehr-einheiten, Zivildienstschulen, Polizeiausbildungsinstituteoder an alle anderweitigen Berufsausbildungsgruppenoder gesellschaftlichen Institutionen.

Projekttage in der Mahn- und Gedenkstatte Steinwache

Seit Anfang 1997 wird ein sogenannter kostenloser„Projekttag“ mit wachsendem Erfolg in der Steinwache

6 Anke Fraas, Auswertung der Gastebucher der Mahn- und Gedenk-statte Steinwache Dortmund der Jahre 1992 - 1996, StadtA DO, Ty-poskript 1997.

7 Auschwitz war auch anderswo. Polinnen besuchten Steinwache, in:Westdeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 145 v. 23. Juni 1997.

8 Anmeldungen hierzu konnen mindestens 14 Tage vor dem ge-wunschten Termin von Dienstag bis Sonntag, 10:00 bis 17:00 Uhr,vorgenommen werden, Tel. (0231) 50 - 2 50 02. An jedem 1. Sonntagim Monat, 11:00 Uhr, findet daruber hinaus eine kostenlose Gruppen-fuhrung statt.

9 Fuhrungsschwerpunkte sind z. B. Judenverfolgung in Dortmund,Machtergreifung in Dortmund, Gestapo und Polizei in der SteinwacheDortmund, Widerstandsgruppen in Dortmund, Euthanasie im NS-Staat etc. Grundsatzlich sind Schwerpunktfuhrungen zu jedem The-menraum in der Mahn- und Gedenksatte moglich.

10 Wie Anm. 2, S. 289.11 Eine ausfuhrliche Videoliste mit Inhaltsangaben der jeweiligen Filme

kann ebenfalls in der Steinwache angefordert werden, Tel. (0231) 50-25002. Der Veranstaltungstypus „Fuhrung + Film“ umfaßt etwa dreiStunden. Nahere Informationen hierzu finden sich in der Videoliste.

12 Das Videoarchiv der Dortmunder Steinwache umfaßt die wichtigstenDokumentationen der Jahre 1982 bis 1997 zur Thematik.

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durchgefuhrt. Diese vier- bis funfstundige Veranstaltungwird den Anspruchen einer vertiefenden Veranstaltungan einem „authentischen Lernort“ weitgehend gerecht.Die standige Ausstellung in der Steinwache war und istdamit vielleicht immer noch „gegenwartig das in NRWam weitesten entwickelte Konzept einer Mahn- und Ge-denkstatte“, wie der Leiter des Kolner NS-Dokumentati-onszentrums, Prof. Dr. H. Matzerath, festgestellt hat.13

Die Projekttage werden zu jedem der 49 Themen-schwerpunkte der Ausstellung, aber auch zu aktuellenEreignissen, wie etwa zur jungsten Diskussion uber dieAusstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ oder zurechtsextremistischen Gruppierungen in der Bundes-republik Deutschland angeboten.14

Anmeldungen zu den Projekttagen sollten mindestensdrei Wochen vor dem gewunschten Termin abgespro-chen werden. Ein individuelles Vorbereitungsgesprachmit den Gedenkstattenmitarbeitern/innen wird beson-ders empfohlen.

Da das ehemalige Gestapogefangnis als Ort der Ausein-andersetzung mit den Taterstrukturen, den Haftbedin-gungen und der Verhorpraxis der Nationalsozialisten im-mer mehr an Bedeutung und Interesse gewinnt, soll hierder Ablauf eines Projekttages mit dem Thema „Polizeiund Gestapo in der Steinwache Dortmund“ kurz vorge-stellt werden:

„Die restaurierten Raumlichkeiten der Steinwache for-dern dazu heraus, die Funktionsweise des nationalso-zialistischen Polizeistaates, dessen Spitzel- und Uber-wachungssystem, aber auch die Verhor-, Folter- undHaftmethoden der Gestapo kennenzulernen und sich einBild von der Behandlung derjenigen zu verschaffen, diein die Fange des Terrorapparates gerieten“ (Prof. Dr.Hans Mommsen).15

Das nach der Machtubernahme der Nationalsozialistenzu einer der beruchtigsten Folterstatten im DeutschenReich ausgebaute Polizeigefangnis der DortmunderSteinwache hat somit eine besondere gedenkstatten-padagogische Aufgabe. Neben den verschiedenenAspekten der lokalgeschichtlichen Auseinandersetzungmit dem politischen Widerstand muß gerade die Ausfor-mung des nationalsozialistischen Terrorregimes intensivfur den Besucher erfahrbar werden. Neben einer aus-fuhrlichen Information uber die Haftbedingungen in derDortmunder Steinwache 1933 - 1945 wird eine intensiveAufklarungsarbeit uber den originaren Charakter der Ge-heimen Staatspolizei als mythologisierte Legendenbe-horde geleistet.16 Nicht geheimpolizeiliches Geschickmit dauerhafter Prasenz „an jeder Straßenecke“, son-dern eine unmenschliche Vernehmungspraxis in Zusam-menarbeit mit dem alltaglichen „Denunziantentum“stellte den Erfolg der Nationalsozialisten im Kampf furdie Konsolidierung der Diktatur sicher. Dieses Themakann in der Dortmunder Steinwache als „authentischerOrt des Schreckens“ besonders anschaulich wahrend ei-nes Projekttages zur Polizei und Gestapo dargestelltwerden. Die ca. vier- bis funfstundige Veranstaltung (jenach Wahl) enthalt eine ausfuhrliche Fuhrung durch dieGedenkstatte, die Vorfuhrung eines Videodokumentar-films, Fragebogen fur eine vertiefende Auseinanderset-zung mit der Thematik in Kleingruppen sowie eine aus-fuhrliche Diskussions- und Fragerunde. Im folgendenwird eine solche Veranstaltung zur „Polizei und Gestapo“in ihrem zeitlichen Ablauf kurz vorgestellt:

Thementag „Tater im NS-Staat - Polizei und Gestapoin der Steinwache“ in der Mahn- und GedenkstatteSteinwache Dortmund

Dauer: 4 Stunden 45 Minuten

Fur jede Gruppe (Schulklassen, Polizeiausbildungsinsti-tute, Bundeswehr etc.) durchfuhrbar; ab 15 Personen

Programmablauf:

10:00 Uhr Begrußung/Einfuhrung, Vorstellung des Ta-gesprogramms im Gruppenraum

10:15 Uhr Videoeinfuhrungsfilm zur Mahn- und Ge-denkstatte Steinwache Dortmund und derAusstellung „Widerstand und Verfolgung inDortmund 1933 - 1945“

10:25 Uhr Kurzreferat zur Geschichte der DortmunderSteinwache vor 1933

10:35 Uhr Filmvorfuhrung im Gruppenraum „Gestapo.Mythos und Realitat“, 60 Minuten, BRD1997, oder „Wir haben nichts vergessen.Die Morde im Rombergpark und in der Bit-termark 1945“, 60 Minuten, BRD 1995

11:35 Uhr Pause11:50 Uhr Fuhrung zur Thematik durch die Gedenk-

statte mit kritischer Reflexion der Dokumen-tation

13:15 Uhr Einteilung in Kleinarbeitsgruppen, Bespre-chung der Arbeitsauftrage

13:30 Uhr Bearbeitungsphase14:00 Uhr Gruppenraum: Ergebnissicherung, Kritik,

Reaktionen, Fazit14:45 Uhr Ende der Veranstaltung

Die wahrend der Gruppenarbeitsphase eingesetztenFragebogen werden im Vorfeld der Veranstaltung indivi-duell auf die verschiedenen Gruppen abgestimmt underarbeitet. Auf Wunsch konnen auch einige Veranstal-tungspunkte erganzt oder fallengelassen werden. Nebendem oben vorgestellten Projekttag „Tater im NS-Staat -Polizei und Gestapo in der Steinwache“ werden u. a. fol-genden Thementage angeboten:

– Widerstandsgruppen in Dortmund

– Euthanasie im NS-Staat

– Judenverfolgung in Dortmund

– Zwischen Anpassung und Nonkonformitat -Judenopposition gegen Hitler

– Die Rolle der Wehrmacht im NS-Staat

13 Horst Matzerath, Mahn- und Gedenkstatte Steinwache in Dortmund,in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, H. 2/1992, S. 59.

14 Ein ausfuhrliches Informationsblatt mit den angebotenen Themenkann in der Steinwache angefordert werden.

15 Stadt Dortmund (Hg.), Der Nationalsozialismus in Dortmund, Redevon Prof. Dr. Hans Mommsen zur Eroffnung der Ausstellung „Wider-stand und Verfolgung in Dortmund 19433 - 1945“ am 14. Oktober1992, Schriften der Mahn- und Gedenkstatte Steinwache, Nr. 1, Dort-mund 1992, S. 12.

16 S. hierzu Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo -Mythos und Realitat, Darmstadt 1995. Von besonderem Interesse furdie Dortmunder Gestapo ist der Beitrag von P. Gerhard/AlexanderPrimavesi, Die Verfolgung der Fremdvolkischen in Dortmund (1940 -1945).

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BERICHTE UND MITTEILUNGEN

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Ausfuhrliches Informationsmaterial zu weiteren Themenkann in der Dortmunder Steinwache angefordert wer-den. Fur Schulklassen der jungeren Jahrgange, die dieDortmunder Steinwache ebenfalls nutzen wollen, wirdein besonderes Schulprogramm angeboten, das beson-ders auf die Lernbedurfnisse ab Klasse 7 der weiterfuh-renden Schulen abgestimmt ist.17

Das schulpadagogische Programm fur dieJahrgangsstufen 7 und 8

Das kostenlose schulpadagogische Programm mitSchulerarbeitsbogen wird seit Marz 1993 angeboten.Das sogenannte „Schulprogramm“ entspricht einer Un-terrichtseinheit von drei Stunden in der Steinwache. Esumfaßt eine Fuhrung nach einem vorab abgeklartenSchwerpunkt als Einfuhrung in die Thematik, eine Ar-beitsphase in Kleingruppen in der Gedenkstatte sowieeine Abschlußbesprechung im Gruppenarbeitsraum. AufWunsch kann eine erganzende Filmdokumentation ge-zeigt werden. Folgende Themen stehen zur Zeit zurAuswahl: Die Machtergreifung in Dortmund, Judenver-folgung in Dortmund, Tater im Nationsozialismus undWiderstandsgruppen in Dortmund. Eine intensive Vor-und Nachbereitung des Gedenkstattenbesuches ist hierbesonders zu empfehlen.

Zusammenarbeit mit anderen Bildungstragern,Vereinen und Organisationen

Seit Mitte 1995 bemuht sich das Stadtarchiv Dortmund,die Zusammenarbeit mit anderen Bildungstragern, Ver-einen und Organisationen in der Steinwache zu intensi-vieren. Zu Kooperationspartnern bei Veranstaltungen inder Steinwache zahlen mittlerweile die Katholische Fa-milienbildungsstatte Dortmund, die Gesellschaft furchristlich-judische Zusammenarbeit Dortmund, dieVolkshochschule Dortmund und Volkshochschulen derNachbarstadte, die Studienstiftungen der politischenParteien, der Verein „Gegen Vergessen - Fur Demokra-tie e. V.“/Regionalgruppe Rhein/Ruhr, die AvS (Arbeits-gemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten) unddie Mitglieder des Kuratoriums „Widerstand und Verfol-gung in Dortmund 1933 - 1945“ unter dem Vorsitz vonOberburgermeister Dr. Gerhard Langemeyer. Der Grup-penraum der Steinwache dient o. g. Vereinen und Orga-nisationen auch als Versammlungs- und Tagungsort. Sofand im Fruhjahr 1995 u. a. die Landestagung der Ge-sellschaften fur christlich-judische ZusammenarbeitNRW, die Grundung der Regionalgruppe Rhein/Ruhrdes Vereins „Gegen Vergessen - Fur Demokratie e. V.“und die Zusammenkunft des Internationalen Romberg-park-Komitees in der Steinwache statt. In diesem Jahrbeteiligte sich die Steinwache als Forderin auch amWettbewerb „Judisches Leben und Wirken im Ruhrge-biet von 1900 bis heute“ der Gesellschaften fur christ-lich-judische Zusammenarbeit in Dortmund, Gelsenkir-chen, Essen und Recklinghausen, wobei einer Reihevon Schulergruppen Hilfestellung bei der Bearbeitung ih-rer Untersuchungsthemen im Stadtarchiv Dortmund ge-geben wurde.

Zeitzeugenprojekt

In Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterndes Offenen Kanals Dortmund (Fernsehen) wird seit1996 eine Zeitzeugenbefragung durchgefuhrt, wobeiBurger und Burgerinnen Dortmunds zur Zeit des Natio-

nalsozialismus befragt werden. Die ca. 30-minutigenEndfassungen dieser Interviews wurden im Fruhjahr1998 gesendet. Von Lesungen und Referaten inder Steinwache wurden ebenfalls Aufzeichnungen ge-macht, deren Zusammenschnitte im Offenen Kanalgesendet wurden und ein breites Interesse in der Be-volkerung fanden.

Veranstaltungen in der Steinwache

Seit Mitte 1995 bemuht sich das Stadtarchiv Dortmund,durch verschiedene Veranstaltungen in der Mahn- undGedenkstatte (Lesungen, Referate, Ausstellungen)das Angebot in der Steinwache zu erweitern und sodas Interesse der Offentlichkeit an der standigen Aus-stellung wachzuhalten. Beispielhaft seien hier nur zweiKunstausstellungen des Jahres 1997 erwahnt. Von Maibis Juni 1997 zeigte die Steinwache Olgemalde zumThema Verfolgung und Deportation und eine Raum-installation zum Thema Bucherverbrennung des Sel-mer Kunstlers Heinz Cymontkowski. Die Menschen,die Heinz Cymontkowski dargestellt hat, zahlen zuden Gequalten, Verachteten und Verfolgten - zu denAußenseitern der Gesellschaft des nazistischenDeutschland von 1933 - 1945. In der Zelle Nr. 18 derSteinwache war ein vom Boden bis an die Decke rei-chendes Knauel von 1.000 m Stacheldraht zu sehen,welches den Zugang zu einem Bucherregal versperrte,das uber 100 Originalausgaben der von den National-sozialisten verfemten Autoren enthielt. Heinz Cymont-kowskis Ausstellung zeigte, wie Verfolgung begann -mit der Unterdruckung des Geistes - wie sie mit Depor-tation fortgesetzt wurde und in millionenfachem Mordendete.18

Von November 1997 bis Januar 1998 prasentierte dieSteinwache die Foto-Ausstellung „Der Schwarze Weg“(Fotografien der KZ-Gedenkorte Auschwitz, Belzec,Majdanek, Sobibor und Treblinka) des LeverkusenerFotografen Sigurd Maschke. Der sogenannte Schwar-ze Weg existierte tatsachlich. Die Haftlinge von Treb-linka hatten so die Wegstrecke von ihren Baracken zurMordstatte benannt. Von September 1989 bis Oktober1990 besuchte S. Maschke mehrfach die Orte derdeutschen Vernichtungslager auf polnischem Boden.Er hielt sich dort mehrere Tage auf, suchte dasGesprach mit anderen Menschen und unternahm dasmuhevolle Unterfangen einer eigenen Konfrontationmit der grausamen Vergangenheit des Nationalsozia-lismus.19

17 Wie Anm. 2, S. 285. Ausfuhrliches Informationsmaterial zum Schul-programm ist in der Mahn- und Gedenkstatte Steinwache erhaltlich.

18 Hans-Wilhelm Bohrisch, Arbeiten zum Thema Verfolgung und Depor-tation und eine Rauminstallation zum Thema Bucherverbrennung.Ausstellung O. T. (ohne Titel) in der Mahn- und Gedenkstatte Stein-wache Dortmund, in: Gedenkstatten- Rundbrief, Nr. 78, 1997, S. 37 -40. - ders., Ausstellung O. T. (ohne Titel), Arbeiten zum Thema Verfo-gung und Deportation, in: Gegen Vergessen. Informationsblatt fur Mit-glieder, Freunde und Forderer des Vereins „Gegen Vergessen - FurDemokratie e. V.“, Nr. 15/16, 1997, S. 26.

19 Andreas Winkelstrater, Stumme Zeugen ans unfaßbare Grauen, in:Westfalische Rundschau v. 01.11.1997; s. a. Bilder gegen das Ver-gessen in der Steinwache, in: Ruhr-Nachrichten v. 01.11.1997; Grasgedeiht auf Aschefeld - der Schwarze Weg. Ausstellung gegen dasVergessen, in: WAZ v. 01.11.1997; Der Schwarze Weg. Stumme Zeu-gen des Grauens, in: Der Dom, Kirchenzeitung fur das ErzbistumPaderborn, v. 26.10.1997, S. 21; Orte der Vergangenheit - Fotoaus-stellung in der Steinwache Dortmund zeigt KZ-Gedenkorte, in: Unse-re Kirche, Evangelische Wochenzeitung fur Westfalen und Lippe, Nr.50 v. 07.12.1997.

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Presse- und Offentlichkeitsarbeit

In der zeitgeschichtlichen Pressedokumentation desStadtarchivs20 und in einem speziellen Sammelordner21

befinden sich mittlerweile mehrere hundert Pressebe-richte, Fachaufsatze und Leserbriefe zum Thema Mahn-und Gedenkstatte Steinwache Dortmund.

Da es ein Ziel der Steinwache ist, einem moglichst gro-ßen Personenkreis die Ausstellung bekannt zu machen,nimmt die Presse- und Offentlichkeitsarbeit einen erheb-lichen Teil der alltaglichen Arbeit in der Gedenkstatte ein.

Seit Mitte 1996 werden den Redaktionen von Zeitungenin der Region kostenlose Artikel uber die Steinwache,denen Bildmaterial beigefugt ist, angeboten. In diese Ak-tion miteinbezogen wurden die Presseorgane der beidenchristlichen Kirchen22, die Publikationsorgane der Ver-folgtenorganisationen23 und die Zeitschriften andererVereine der Region.24

Gleichzeitig wurden die Schulamter in der Region mitHilfe von speziellen Informationsschreiben auf das Bil-dungsangebot der Steinwache aufmerksam gemacht.Mittlerweile besuchen selbst Schulklassen aus der vonDortmund recht weit entfernten Stadt Nordhorn die Aus-stellung. Durch Kontaktaufnahme mit dem Bundesmini-sterium fur Verteidigung zahlen auch Bundeswehreinhei-ten aus dem gesamten Land Nordrhein-Westfalen zuden Besuchern der Steinwache.

Bereits Ende 1996 ließ sich eine erfreuliche Bilanz derbisherigen Offentlichkeitsarbeit anhand gestiegener Be-sucherzahlen ablesen.

Mahn- und Gedenkstatte SteinwacheSteinstr. 50, 44147 DortmundTel. (0231) 50 - 2 50 02, Telefax (0231) 50 - 2 60 11Postanschrift s. o. oder Stadt Dortmund, Stadtarchiv,44122 Dortmund, Tel. (0231) 50 - 2 21 56Leitung: Dr. Gunther Hogl

Offnungszeiten:Dienstag - Sonntag, 10:00 - 17:00 Uhr, Eintritt frei

Fuhrungen:Anmeldungen fur kostenlose Gruppenfuhrungen undkostenlose schulpadagogische Programme (Jahr-gangsstufe 7 - 11) konnen wahrend der o. g. Offnungs-zeiten unter Tel. (0231) 50 - 2 50 02 (bitte drei Wochenim voraus) angemeldet werden. Ferner findet an jedem1. Sonntag mit Monat um 11:00 Uhr eine kostenloseGruppenfuhrung statt.

Verkehrsverbindung:U- und S-Bahn-Haltestelle Dortmund Hauptbahnhof/Nordausgang, 100 m vom Nordausgang in unmittelbarerNahe der Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen.

Katalog:Gunther Hogl (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Dort-mund 1933 - 1945. Katalog zur standigen Ausstellungdes Stadtarchivs Dortmund in der Mahn- und Gedenk-statte Steinwache. Zu beziehen im Direktverkauf in derMahn- und Gedenkstatte oder im Postversand durchdas Stadtarchiv Dortmund (DM 29,80 zzgl. Porto undVerpackungskosten).

Literatur:Bohrisch, Hans-Wilhelm: Mahn- und GedenkstatteSteinwache Dortmund, in: Geschichte, Politik und ihreDidaktik (Zeitschrift fur historisch-politische Bildung), 27.Jg. 1999, Heft 1/2, S. 100-103Bohrisch, Hans-Wilhelm/Michalak, Tim: Die Steinwache- Beispiele aus der praktischen Arbeit einer Mahn- undGedenkstatte, in: Forschen - Lernen - Gedenken. Bil-dungsangebote fur Jugendliche und Erwachsene in denGedenkstatten fur die Opfer des Nationalsozialismus inNordrhein-Westfalen, hrsg. vom Arbeitskreis NS-Geden-kstatten NW e. V., Dusseldorf 1999, S. 37-46Bohrisch, Hans-Wilhelm: Mahn- und GedenkstatteSteinwache Dortmund 1992 - 1996. Gedenken - Erin-nern - Mahnen wider das Vergessen und Verdrangender Vergangenheit, in: Beitrage zur Geschichte Dort-munds und der Grafschaft Mark, Bd. 877 1996, S. 265-291Hogl, Gunther: Die Mahn- und Gedenkstatte Steinwachein Dortmund, in: Archiv fur Polizeigeschichte, Zeitschriftder Dt. Gesellschaft fur Polizeigeschichte, 5. Jg., Heft 3/1994, S. 66-70Hogl, Gunther (Hrsg.): Widerstand und Verfolgung inDortmund 1933 bis 1945. Katalog zur standigen Ausstel-lung des Stadtarchivs in der Mahn- und GedenkstatteSteinwache Dortmund, Dortmund, 1992Klotzbach, Kurt: Gegen den Nationalsozialismus. Wider-stand und Verfolgung in Dortmund, Hannover, 1969Mahn- und Gedenkstatte Steinwache Dortmund, in: DenOpfern gewidmet - Auf Zukunft gerichtet. Gedenkstattenfur die Opfer des Nationalsozialismus in NRW, hrsg. vomArbeitskreis NS-Gedenkstatten NW e. V., Dusseldorf1999, S. 46-52Mommsen, Hans: Der Nationalsozialismus in Dortmund- Rede zur Eroffnung der standigen Ausstellung „Wider-stand und Verfolgung in Dortmund 1933 bis 1945“ am14. Oktober 1992 (Schriften der Mahn- und Gedenkstat-te Steinwache Dortmund, Nr. l), Dortmund, 1992Gust, Ewa/Zigan, GisaM. (Bearb.): Texte gegen das Ver-gessen (Schriften der Mahn- und Gedenkstatte Steinwa-che Dortmund Nr. 2), Dortmund, 1998

Hans-Wilhelm Bohrisch M. A.Tim Michalak

20 StadtA DO Best. 501 (Stadtarchiv).21 StadtA DO Sammelordner Presseberichte Steinwache.22 S. a. In der Holle auf Erden - Gestapo-Gefangnis wurde Mahn- und

Gedenkstatte, in: Unsere Kirche, Nr. 18 v. 28.04.1996; Widerstandund Verfolgung in Dortmund 1933 - 1945 - Steinwache dokumentiertWiderstand gegen NS-Regime, in: Der Dom, Nr. 23 v. 09.06.1996.

23 Drei Jahre Mahn- und Gedenkstatte Steinwache, in: AvS (Arbeitsge-meinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten)-Informationsdienst,Nr. 10, 1995; Hans-Wilhelm Bohrisch, Mahn- und Gedenkstatte Stein-wache, in: Gegen Vergessen (s. Anm. 18), Nr. 10/11, 1996, S. 26 f.

24 Hans-Wilhelm Bohrisch, Drei Jahre Mahn- und Gedenkstatte Stein-wache in Dortmund, in: Brucken, Zeitschrift der AuslandsgesellschaftNRW, Nr. 1, 1996, S. 13 - 16; ders., Mahn- und Gedenkstatte Stein-wache in Dortmund, in: Kultur und Heimat, Heimatblatter fur Castrop-Rauxel und Umgebung, Nr. 1/2, 1996, S. 4 - 9; Drei Jahre Mahn- undGedenkstatte Steinwache in Dortmund, in: Heimatpflege in Westfa-len, Nr. 1, 1996, S. 12 - 14; Mahn- und Gedenkstatte SteinwacheDortmund, in: Borussia BVB 09 Magazin v. 06.04.1996.

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BERICHTE UND MITTEILUNGEN

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Fotoausstellung „Auschwitz“vom 8. August bis 31. Oktober 1999in der Mahn- und GedenkstatteSteinwache DortmundDas Stadtarchiv Dortmund prasentiert in der Zeit vom 8.August bis 31. Oktober 1999 in der Steinwache, in Ko-operation mit der Auslandsgesellschaft NRW e. V. Dort-mund und der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgterSozialdemokraten Bezirk Westliches Westfalen und Un-terbezirk Dortmund, die Fotoausstellung Auschwitz vonThomas Bauer und Andreas Mangen.

Die Fotografien entstanden 1995 im Rahmen einer vonder Journalistenschule Ruhr durchgefuhrten Reise nachKrakau. Unter dem Titel „Begegnungen in Polen“ standdie Auseinandersetzung mit dem Polen von heute undgestern. Das Programm beinhaltete neben diversenTreffen mit polnischen Journalisten und Kunstlern auchden Besuch der in der Nahe von Krakau gelegenen Ge-denkstatte Auschwitz. Dieser Besuch bedeutete fur Tho-mas Bauer und Andreas Mangen - obwohl ihnen dieAuseinandersetzung mit den Verbrechen des Faschis-mus und des Nationalsozialismus stets prasent ist - eineunmittelbare, focussierte Wahrnehmung der Ereignissevon vor nunmehr uber funfzig Jahren.

„Alles, was wir in der Theorie, aus Buchern, Filmen, Er-zahlungen und anderen Darstellungen erfahren hatten,dringt mit unverblaßter Intensitat in uns ein und fordertseinen Platz in unserem Bewußtsein ... Die Fotografiensind eine Auseinandersetzung mit Geschehenem undExistierendem. Dort, an einem Ort, an dem nicht in Wor-te faßbare Ereignisse stattgefunden haben, wurde unsdie eigene Verantwortung fur Unterlassenes oder Geta-nes in all ihrer Harte bewußt. Die fotografischen Bilder

fuhren uns vor Augen, daß Auschwitz ein realer Ort warund ist; ein Ort, dessen bedruckende Realitat in der Ge-denkstatte erhalten bleiben muß. Jeder einzelne Steindort legt Zeugnis ab von Geschehnissen, die nicht ver-gessen werden durfen.“

Thomas Bauer, *1967, machte 1989 sein Hobby zumBeruf und ist seither als freier Fotograf national und in-ternational tatig. Einem Fotovolontariat bei der Westfali-schen Rundschau in Dortmund (1995-1997) folgte eineeinjahrige Tatigkeit als Fotoredakteur bei der WR; seit1998 wieder als freier Fotograf fur Magazine, Agenturenund Wochenzeitungen mit der Kamera unterwegs; Mit-autor des Bildbandes „Fotojournalismus“, Ausstellun-gen: 1995 „Begegnungen in Polen“, gemeinsam mit An-dreas Mangen in der Journalistenschule Ruhr/Essen,1996 „Le roi Arthus“ - der Entstehungsprozeß eines lyri-schen Dramas im Opernhaus Dortmund.

Andreas Mangen, *1968, Bildredakteur bei der West-deutschen Allgemeinen Zeitung in Duisburg, nach demAbitur Mitarbeit in verschienen Studios und bei Zeitung-en, seit 1992 bei der WAZ in Duisburg tatig, 1994-1996Volontariat, dann zwei aufregende Jahre als „Springer“und Ausbilder fur elektronische Bildverarbeitung bei derWAZ Essen; seitdem wieder in Duisburg, Ausstellungen:1990 „Rumanien“ im Rathaus Mulheim, 1991 „Ruma-nienII“ in der Sprakasse Mulheim, 1995 „Begegnungenin Polen“ zusammen mit Thomas Bauer in der Journali-stenschule Ruhr/Essen, 1997 „Probenbilder“ in der Otto-Pankok-Schule in Mulheim.

Auschwitz

Kleinstadt zwischen Krakau und Kattowitz wurde in derganzen Welt bekannt, durch das Konzentrationslager,das die Nationalsozialisten zu Beginn des 2. Weltkrie-

Denkmal Davidstern in Auschwitz

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ges in der Nahe errichteten. Der Name ist seitdem zumSymbol des fabrikmaßig perfektionierten Massenmor-des geworden, dem wahrend der nationalsozialisti-schen Herrschaft Millionen von Juden, Hunderttausen-de von politischen Gegnern, russische Kriegsgefan-gene, Zigeuner und viele andere Verfolgtengruppenzum Opfer fielen.

Das Lager wurde 1940 auf dem Gelande einer ehema-ligen Artilleriekaserne etabliert und bestand bis Anfang1945. Zunachst war es nur zur Aufnahme polnischerHaftlinge aus der Umgebung bestimmt. Seit Anfang1942 (Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942) wurdees dann im Rahmen der nationalsozialistischen Ausrot-tungsaktion gegen die europaischen Juden zum Zielvon Haftlingstransporten aus allen von deutschenTruppen besetzten Landern. In kurzer Zeit dehnte sichdas „Interessengebiet KZ Auschwitz“ uber 40 qkm aus.Neben dem Stammlager gab es 39 Außenstellen, diebis in das oberschlesische Industriegebiet reichten.Das eigentliche KZ wurde 3 km vom StammlagerAuschwitz entfernt bei dem Ort Birkenau errichtet. Esbestand zuletzt aus 250 primitiven Baracken, die fur je300-400 Haftlinge bestimmt waren, aber oft bis zutausend Menschen aufnehmen mußten. Wenn einneuer Transport mit Juden eintraf, wurden die Arbeits-fahigen auf der Bahnrampe in Birkenau aussortiert. DieAlten, Schwachen und die Kinder fuhrten die Aufsehersofort in die Gaskammern, die als Duschanlagen ge-tarnt waren.

Ein Angehoriger der Wachmannschaften schilderte ineinem Interview: „Ganz zuerst hat man sie eingegra-ben. Die vergasten Leute. Dann ist aber nach einigerZeit das Blutwasser raufgetreten. Das hat sich geho-ben das Ganze. Da hat man sie wieder ausgegraben

und alle verbrannt. Und dafur waren dann ja dieKrematorien da.“1

Die als „arbeitsfahig“ Eingestuften (meist weniger als25 %) wurden zu Bauarbeiten und zur Produktion in Ru-stungsbetrieben in der Umgebung herangezogen. Dieschwere Arbeit bei total unzureichender Verpflegungund standigem Terror, nicht zuletzt die katastrophalenhygienischen Verhaltnisse im Lager brachen nach weni-gen Wochen bzw. Monaten die korperliche und geistigeWiderstandkraft der meisten Haftlinge. Der Komman-dant von Auschwitz bezeichnete das Lager selbst einmalals die „großte Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zei-ten“. 1965 wurden in Frankfurt in einem der großten Pro-zesse der Nachkriegszeit 17 der daran unmittelbar Be-teiligten zu lebenslanglichen oder zeitlich befristetenFreiheitsstrafen verurteilt. Eine hollandische uberleben-de Judin sagte in einem Gesprach: „Heute wissen alleLeute, was Auschwitz war. Aber kaum einer weiß, wo eslag, und daß es den Ort und das Lager noch gibt. Alletun, als ware es auf dem Monde oder jedenfalls nicht aufder Welt. Und wenn ich ihnen sage: Auf dem Mond? Eswar keine 50 km von Gleiwitz und Hindenburg entfernt,und das waren zwei deutsche Großstadte damals! Dannsagen sie: „Hat euch denn keiner gehort“ - Aber das magGott wissen.“2

Hans-Wilhelm Bohrisch

1 Aussagen von SS-Bewachungspersonal des KZ Auschwitz in Inter-views; zit. nach E. Demant (Hg.), Auschwitz - „Direkt von der Rampeweg ...“, Hamburg 1979, S. 41.

2 Ernst Schnabel, Anne Frank, Spur eines Kindes, Frankfurt/M. 1958,S. 134.

Koffer der nach Auschwitz Deportierten

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BERICHTE UND MITTEILUNGEN

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Wiedereroffnung desStadtarchivs Dortmund

Tradition und Zukunft

Stadtarchiv bekommt neues Haus

Das ehemalige Siemens-Haus an der Markischen Stra-ße 14, vis a vis der S- und U-Bahnhaltestelle Stadthaus,das nach modernen Erkenntnissen umgebaut wurde,bietet alle Voraussetzungen dafur, eine Top-Adresse furdie Archivare und Historiker, aber auch fur die stadtge-schichtlich interessierte Offentlichkeit Dortmunds zuwerden. Klimatisierung, Compactus-Regalanlagen, Vor-trags- und Ausstellungsraum sowie großzugige Unter-bringungsmoglichkeiten gewahrleisteten die sorgfaltigeund fachgerechte Archivierung der Kostbarkeiten Dort-munder Geschichte. Die mit dem Umzug und Umbaudes Gebaudes verbundenen Vorbereitungs-, Beschaf-fungs- und Infrastrukturmaßnahmen sowie die baulichenund konzeptionellen Koordinierungen mit der Firma Sie-mens, dem Hochbauamt, dem Immobilienmanagementder Stadt sowie den am Umbau beteiligten Firmen konn-ten exakt in dem vorgegebenen Zeit- und Kostenplandurchgefuhrt werden, so daß das Stadtarchiv lediglich inder Zeit von Juli 1998 bis Jahresende vorubergehendgeschlossen bleiben mußte. Außer dem Gebaude ander Markischen Straße 14 wird das Stadtarchiv noch indem in unmittelbarer Nahe befindlichen stadtischen An-wesen an der Kupferstraße zusatzliche Raumlichkeitenfur die Restaurierungswerkstatt sowie die Altschriftabla-ge (Zwischenarchiv) der Stadt erhalten. Auch hierstheen die Bau- und Umzugsarbeiten unmittelbar vor ei-nem erfolgreichen Abschluß. Mit der Ausstattung unddem Verbund moderner, funktionsgerechter Raumlich-keiten, großzugiger Aufgaben eines Großstadtarchivsam Wendepunkt des 20. zum 21. Jahrhundert zu erful-len.

Wiedereroffnung des Stadtarchivs

Am Dienstag, 27. April, 16.30 Uhr, wurde vor uber 100geladenen Gasten, Freunden und Forderern des Ar-chivs, die offizielle Wiedereroffnung des Stadtarchivsam neuen Standort im Siemensgebaude an der Marki-schen Straße 14 gefeiert. Ein „Tag der Offenen Tur“ sollfolgen, wenn die Umbau- und Umzugsmaßnahmen anbeiden neuen Standorten des Archivs - sowohl an derMarkischen Straße als auch ander Kupferstraße - inklu-sive der Detail- und Feinarbeiten, ganz abgeschlossensind.

Nach der Begrußung durch den Leiter des Stadtarchivs,Dr. Gunther Hogl, sprachen Oberburgermeister GunterSamlebe, Stadtdirektor und Kulturdezernent Dr. GerhardLangemeyer sowie der Vorsitzende des HistorischenVereins fur Dortmund und die Grafschaft Mark, HelmutPhilippi. Fur die musikalische Umrahmung des kleinenFestaktes sorgte das Gilda Razani Quintett.

Zur Historie

Das Archiv der ehemaligen freien Reichs- und Hanse-stadt Dortmund ist eine der altesten Einrichtungen derStadt Dortmund und kann auf eine lange Traditionzuruckblicken. Seine Anfange lassen sich bis in das

13. Jahrhundert zuruckverfolgen. Aus dieser Zeit stam-men einige Urkundenladen, die heute im Museum furKunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund aufbe-wahrt werden. Sie hatten ursprunglich ihren Platz inden Wandschranken des Obergeschosses des altenRathauses am Markt, um bei den Sitzungen des Ratesim Bedarfsfalle zur Hand zu sein. Das Stadtarchiv Dort-mund besteht somit als Einrichtung seit dem spatenMittelalter und erhielt bereits im Jahre 1546 eigeneBaulichkeiten, als am Sudgiebel des alten Rathausesein Archivturm angebaut wurde. In diesem Turm befandsich das Stadtarchiv bis zum Jahr 1873. Der damaligeOberburgermeister von Dortmund, Dr. Hermann Becker,auch der „rote Becker“ genannt, seit 1871 erster Vorsit-zender des Historischen Vereins fur Dortmund und dieGrafschaft Mark, sorgte als geschichtinteressiertesStadtoberhaupt dafur, daß das Archiv allmahlich ar-beitsfahig wurde. Schließlich wollte man bei noch aus-stehenden stadtgeschichtlichen Forschungen auf einfunktionierendes stadtisches Archiv zuruckgreifen kon-nen.

Konnte man 1872 in einem Jahresbericht des Histori-schen Vereins noch lesen: „Das Archiv war schwer zu-ganglich, nur mangelhaft bekannt und noch mangelhaf-ter publiciert, dabei schlecht geordnet und dem Verder-ben ausgesetzt“, so anderte sich dieser Zustand baldzum Positiven. Auf Initiative Beckers erhielt im Juli 1873der junge Historiker und Lehrer Dr. Karl Rubel vom Magi-strat den offiziellen Auftrag zur Ordnung des Stadtar-chivs. Im Jahr 1875 wurde das Stadtarchiv mit der da-mals begrundeten Stadtbibliothek, der spateren Verwal-tungsbibliothek, organisatorisch verbunden.

Seit der ersten Besetzung des Stadtarchivs mit einemwissenschaftlichen Archivar 1873 ubte dieser zugleichdas Amt eines Schriftleiters bzw. Geschaftsfuhrers desHistorischen Vereins aus. Diese Organisationsform hatsich zum Wohle der Dortmunder Stadtgeschichts-schreibung seit nunmehr uber 125 Jahren bewahrt.Vom Jahr 1899 an, als Oberburgermeister WilhelmSchmieding - offiziell am 1. Mai - den Bezug des vonFriedrich Kullrich errichteten neuen Stadthauses ander Betenstraße feiern ließ und damit auch das Dort-munder Stadtarchiv erstmals eine geraumigere Bleibeunter diesem Dach fand, wird das Stadtarchiv ohneUnterbrechung hauptamtlich betreut. Mit dem Ab-schluß der bereits im 19. Jahrhundert beginnendenEingemeindung umliegender Gemeinden und Amter indie Stadt Dortmund im Jahre 1929 wurden auch um-fangreiche Amtsarchive in das Stadtarchiv ubernom-men. Nach Aussage der damaligen Archivdirektorin,Frau Dr. Luise von Winterfeld, war das Archiv in die-sem Jahr bereits wieder „so uberfullt, daß es in seinemnaturlichen Wachstum behindert“ war.

Zu einem bereits vor dem Krieg geplanten und von derArchivleitung erwunschten Neubau fur das Stadtarchivkam es nicht mehr. In der Endphase des Zeiten Welt-kriegs war das Archiv 1944, um die wertvollen Doku-mente vor Kriegseinwirkungen zu schutzen, voruberge-hend in das Schulte-Witten-Haus in Dorstfeld umgesie-delt, wahrend andere Urkunden und sonstige Bestandein das „Haus Dortmund“ in Meschede sowie das Kloster„Grafschaft“ bei Schmallenberg ausgelagert wordenwaren. Dennoch konnte nicht verhindert werden, daßein Teil der Archivalien in den Kriegs- und Nachkriegs-wirren fur immer verlorenging. Nach der Befreiung Dort-

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munds durch die Amerikaner befand sich das Archivvon Juli 1945 bis Mai 1947 im Hochbunker am West-park, bevor es wieder in den Giebelbau des Alten Stadt-hauses am heutigen Friedensplatz zuruckkehrenkonnte.

Fast 100 Jahre, von 1899 bis zum November 1998, be-fand sich das Stadtarchiv - von 1927 bis 1995 eigen-standiges Verwaltungsamt - seit 1990 im Zustandig-keitsbereich des Kulturdezernates und seit 1996 alsTeilbetrieb Bestandteil der stadtischen Kulturbetriebe,im Alten Stadthaus. Dieser traditionsgebundene Ortvermochte jedoch nicht mehr, was die Magazinierungvon Bestanden und Raumlichkeiten generell anging, imVerlauf der Jahre, bedingt durch mangelnde raumlicheKapazitaten, den vielfaltigen Aufgaben eines modernenGroßstadtarchivs gerecht zu werden. Die neue Uber-planung des Gesamtkomplexes Altes Stadthaus, in diedas Stadtarchiv aus verschiedenen Grunden nicht ein-bezogen werden konnte, eroffnete dann mit Unterstut-zung des Kulturdezernenten die Moglichkeit, einengeeigneten Standort fur das Stadtarchiv ausfindig zumachen und zu realisieren.

Zum Aufgabenbereich des Stadtarchivs gehort seit derEroffnung im Jahr 1992 die organisatorische Betreuungder Mahn- und Gedenkstatte Steinwache und der dortbefindlichen standigen Ausstellung. In den Raumen desehemaligen Gestapo-Gefangnisses wird die Ausstellung„Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945“,die vom Stadtarchiv konzeptioniert wurde, auf einer Ge-samtflache von uber 1.100 qm prasentiert. Im Jahr 1998konnte die Steinwache eine Gesamtbesucherzahl von14.410 Besuchern verzeichnen.

Umzug / Umbau 1998-1999

4.000 wertvolle Urkunden, uber 2.000 laufende Meterhistorischen Aktenmaterials, amtliches und außerstadti-sches Schriftgut, 6.500 laufende Meter stadtischesSchriftgut, uber 110 wertvolle Nachlasse von DortmunderPersonlichkeiten, dazu 40.000 Bucher zur Stadt- undRegionalgeschichte sowie 600.000 stadtgeschichtlicheFotos, 13.500 Karten und Plane, 3.000 Videokassettenund Filme sowie einige Spezialsammlungen, darunterEDV-geschutzte Dokumentation Dortmunder Personlich-keiten - dies alles hat an der Markischen Straße im ehe-maligen Dortmunder Siemens-Haus - einen nicht nurneuen, sondern heutigen, technisch modernen Erkennt-nissen angepaßten Platz. Dazu kommt der gerade vordem Abschluß stehende Umbau eines zweiten, der Stadtgehorenden Gebaudes an der Kupferstraße, nicht weitovn dem neuen Haupthaus. Hier werden die dem Stadt-

archiv unterstellte Altschriftablage (Zwischenarchiv) derStadtverwaltung (6.500 laufende Meter Aktenmaterial)sowie die Restaurierungswerkstatt des Stadtarchivs ein-ziehen, die bisher unter enormer Platznot gelitten hatten.Nun bekommen auch diese sowohl fur die gesamte Stadt-verwaltung als auch fur die stadtischen Kulturbetriebewichtigen Einrichtungen ein zeitgemaßes und gleichzeitigfunktionsgebundes Outfit.

Neue Perspektiven

Die neuen Gebaude stellen eine Herausforderung fur dieZukunft im Sinne einer konsequenten Optimierung derarchivinternen und externen Offentlichkeitsarbeit dar.Nun kann, aufgrund neuer Kapazitaten, die archivischeGrundlagenarbeit, bestehend aus der Sicherung und Er-ganzung stadtgeschichtlich relevanter Informationstra-ger, des fachgerechten Erwerbens, Sammelns, Bewert-ens und in der Aufbereitung von Akten und Nachlaßbe-standen fur die offentliche und wissenschaftliche Nut-zung weiter stringent fortgesetzt werden. Hieraus ergibtsich zusatzlich ein weiteres Plus im Sinne einer burger-orientierten Arbeit des Archivs. Erstmals in seiner uber400jahrigen Geschichte kann sich das Stadtarchiv im„eigenen“ Gebaude fur die breite Offentlichkeit als ein„Haus der Dortmunder Stadtgeschichte“ prasentieren.Der neue Vortragssaal, der auch fur kleinere stadtge-schichtliche Ausstellungen genutzt werden kann, ein Se-minarraum fur die Betreuung von Schuler- und Besu-chergruppen sowie fur die Abhaltung kleinerer Veran-staltungen, Tagungen etc., wesentlich verbesserte Ar-beitsbedingungen fur die Archivbenutzer in einem mo-dernen Leseraum, der jetzt erstmals auch fur Behindertezuganglich ist, optimieren die bisher unzureichende In-frastruktur.

Stadtarchiv DortmundMarkische Straße 1444135 Dortmund

Offnungszeiten:

Dienstag - Mittwoch 8.00 - 15.45 Uhr,

Donnerstag 8.00 - 17.15 Uhr,

Freitag 8.00 - 12.00 Uhr;

Benutzerberatung 10.00 - 11.45 Uhr.

Gunther Hogl

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Munster, Vereinigte WestfalischeAdelsarchive e.V.

Adelsarchivdepot vertraglichgesichertWestfalen verfugt uber besonders eine große AnzahlAdelsarchive in Privatbesitz. Die meisten von diesen -etwa 60 Archivbestande mit ca. 80.000 Urkunden undca. 350 Aktenbanden - werden noch heute in denSchlossern und Hausern der Eigentumer aufbewahrtund vor Ort vom Westfalischen Archivamt fachlich be-treut. Archive, bei denen dieses nicht moglich ist, kon-nen in ein Archivdepot der Vereinigten WestfalischenAdelsarchive e.V. uberfuhrt werden, fur das das Westfa-lische Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe seit 1987 Raume auf Schloß Cappenberg zur Ver-fugung gestellt hat.

Mit dem Bezug des Neubaus des WAA wurde das Depotwegen der besseren konservatorischen Bedingungenund der leichteren Zuganglichkeit fur die Benutzer in dasMagazin des Archivamtes im Gebaude Jahnstraße 26in Munster verlagert. Hieruber wurde ein neuer Vertragzwischen den Vereinigten Westfalischen Adelsarchivene.V. und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippegeschlossen, der den Verbleib der Archivbestande indiesem modernen Archivbau fur mindestens 15 Jahresichert.

Gelsenkirchen, Stadtarchiv

Die Anschrift des Stadtarchivs Gelsenkirchen hat sichgeandert:

Institut fur Stadtgeschichte/StadtarchivWissenschaftspark, Munscheidstraße 14,45886 Gelsenkirchen

Tel.: 0209/167 2962Fax: 0209/167 2951e-mail: [email protected]: http://www.institut-fuer-stadtgeschichte.de

Harsewinkel:Schriftenreihe des Stadtarchivs

Mit zwei Heften hat das Stadtarchiv Harsewinkel in die-sem Fruhjahr seine Schriftenreihe begonnen. Kurz vorOstern erschien als Heft 1 unter dem Titel „Lowe, Pferdund Kamm“ eine Geschichte des Harsewinkeler Stadt-wappens. Nach einem kurzen Uberblick uber die Ge-schichte der kommunalen Heraldik geht der Autor, Stadt-archivar Eckhard Moller, zunachst auf die Wappen desAmtes Harsewinkel und der amtsangehorigen Gemein-den ein, die im Jahr 1939 verliehen worden sind. Daranschließt sich ein Abschnitt uber das Wappen an, das deraus den Gemeinden Harsewinkel, Marienfeld und Gref-fen 1973 gebildeten Stadt ein Jahr spater verliehen wur-

de. In einem abschließenden Kapitel wirddas seit einigen Jahren gebrauchlicheLogo der Stadt vorgestellt, daß in der all-taglichen Korrespondenz und der Offent-lichkeitsarbeit das Wappen verdrangt hat.

Das im Mai erschienene zweite Heft be-schaftigt sich mit der Geschichte derHarsewinkeler Rathauser seit 1894. Bisdahin war die Amtsverwaltung jeweils inden privaten Hausern oder Wohnungendes Amtmannes untergebracht. Wahrenddas Amtshaus aus den 90er Jahren desvergangenen Jahrhunderts bis 1960 aus-reichte, erwies sich das in jenem Jahr be-zogene Rathaus bereits in den 90er Jah-ren zu klein. Aus Anlaß der Einweihungdes Rathauses 2, in das auch das Stadt-archiv mit dem Magazin umgezogen ist,erschien nun, ebenfalls vom Stadtarchi-var verfaßt, ein Ruckblick auf die Harse-winkeler Rathausgeschichte.

Beide Broschuren wurden durch groß-zugige Spenden von Sponsoren unter-stutzt, durch die das Erscheinen sicher-gestellt werden konnte. Interessentenkonnen die Hefte beim StadtarchivHarsewinkel bestellen.

Eckhard Moller

AUS DEN ARCHIVEN IN WESTFALEN UND LIPPE

Der Vorsitzende der Vereinigten Westfalischen Adelsarchive e.V., Freiherrvon und zu Brenken (links), und der Kulturdezernent des Landschaftsver-bandes, Prof. Dr. Karl Teppe, bei der Unterzeichnung des Vertrages aufSchloß Erpernburg in Buren-Brenken am 29. Oktober 1999

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Harsewinkeler Schuler erfolgreichEinen ersten Preis gewannen die sechs Schulerinnenund Schuler des evangelischen Religionskurses der 10.Jahrgangsstufe am Harsewinkeler Gymnasium, die sicham Wettbewerb „Juden und Christen in Nachbarschaft“der Evangelischen Landeskirche von Westfalen beteiligthatten. Ausfuhrlich beschaftigten sich die vier Jungenund zwei Madchen mit den die Juden betreffenden Ak-ten im Stadtarchiv und den bereits veroffentlichten Be-richten und Dokumenten zur kleinen judischen Gemein-schaft in Harsewinkel.

Ernst Tilly (Bunde), Mitglied der Kirchenleitung, hob inseiner Rede anlaßlich der Preisverleihung hervor, daßdie Jury vor allem die differenzierte Beurteilung derQuellen durch die Schulerinnen und Schuler und nicht

zuletzt die ansprechende Prasentation der Ergebnisseauf einer CD-ROM bewogen habe, der HarsewinkelerGruppe den 1. Preis zuzusprechen.

In vier Abschnitten stellen die jungen Autorinnen und Au-toren der CD-ROM zunachst die Geschichte der judi-schen Familien in Harsewinkel - mit ausfuhrlichenStammbaumen - und die Entwicklungen wahrend desNationalsozialismus dar. In den beiden folgenden Ab-schnitten geht es um die Wiedergutmachung undschließlich um das durch Memoiren gut dokumentierteSchicksal der Familie Mendels.

Interessenten konne die CD-ROM uber das StadtarchivHarsewinkel beziehen.

Eckhard Moller

Zwischen Disziplinierung und Integration: Das Lan-desjugendamt als Trager offentlicher Jugendhilfe inWestfalen und Lippe (1924-1999); hrsg. v. MarkusKoster und Thomas Kuster, Paderborn 1999, zahlr.Abb., X u. 358 S. (Forschungen zur Regionalge-schichte Bd. 31).

75 Jahre Landesjugendamt - ein geeigneter Anlaß fur eineDienststelle des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe,wie man zunachst vielleicht meinen konnte, die eigenenLeistungen der vergangenen Jahrzehnte in einer Fest-schrift offentlichkeitswirksam und dadurch eventuell auchunkritisch darzustellen. Die Einbindung des Beitragsban-des auf Anregung des zustandigen Landesrates Prof. Dr.Dr. Wolfgang Gernert in die Veroffentlichungsreihe For-schungen zur Regionalgeschichte des Westfalischen Insti-tuts fur Regionalgeschichte laßt jedoch schon auf eine vol-lig andere Form der Darstellung schließen. Wissenschaft-liche Veroffentlichungen, auch zu anderen klassischenAufgabenbereichen des Provinzial- bzw. Landschaftsver-bandes in den vergangenen Jahren wie etwa Kulturpolitik(Ditt), allgemeine Fursorge (Frie) und Anstaltspsychiatrie(Kersting, Walter, Kuster) haben bereits einen wichtigenBeitrag zur wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung einesTeils der Verbandsgeschichte geliefert.

Der Veroffentlichung liegt eine klare Dreigliederung zu-grunde. Der erste Teil befaßt sich aus gegebenem Anlaßmit der Geschichte des Landesjugendamtes als Instituti-on, dabei zunachst mit den gesetzlichen Rahmenbedin-gungen und politischen Entwicklungslinien, wobei allewesentlichen Zeitepochen in eigenstandigen Ausatzenbearbeitet wurden (die Anfange, das Dritte Reich, dieNachkriegszeit 1945-1960, die 60er Jahre, die siebzigerund achtziger Jahre). Damit wird den Leserinnen undLesern die Moglichkeit geboten, bei Fragestellungen, diesich auf besondere Zeitabschnitte beziehen, gezielt Ant-worten zu suchen. Den leitenden Beamten des Landes-jugendamtes wurde ein eigener Beitrag gewidmet. Inweiteren drei Aufsatzen wird das nicht immer unproble-matische Verhaltnis in der regionalen Jugendhilfe zwi-schen dem Landesjugendamt, den kommunalen Ju-

gendamtern und den freien Tragern beleuchtet. Derzweite Teil des Beitragsbandes befaßt sich mit den Auf-gabenfeldern in historischer Perspektive als da sind: dieoffentliche Erziehung (Fursorgeerziehung, Freiwillige Er-ziehungshilfe, Geschichte der eigenen Heime), die Ju-gendarbeit (Jugendpflege bis 1945, Jugendhof Vlotho,Forderung „Offener Jugendarbeit“), die Jugendsozialar-beit und der Jugendschutz sowie die Kinder- und Fami-lienhilfe (Kindergartengeschichte, Adoptionshilfe, Pfle-gekinderwesen). Der dritte und letzte Teil richtet denBlick auf Gegenwart und Zukunft des Landesjugendam-tes. Er skizziert bedingt durch den Wegfall der offentlichenErziehung als Folge des Kinder- und Jugendhilfegesetzes(KJHG) zum 1.1.1991 die Entwicklung von einer padago-gischen Fachbehorde hin zu einem Dienstleistungsunter-nehmen mit der Notwendigkeit einer volligen Neuorgani-sation. Daruber hinaus wird den Leitungen der Referate„Grundsatzfragen“ „Jugendforderung“, „Kinderhilfe“ und„Erzieherische Hilfen“ Raum geboten, ihre Tatigkeit einerbreiteren Offentlichkeit vorzustellen - im ubrigen der einzi-ge Teil, der allein von den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern des Landesjugendamtes ausgefullt wird.

Wer mit der Konzeption von wissenschaftlichen Beitrags-banden vertraut ist, kennt die Schwierigkeiten eines sol-chen Projektes. Den Herausgebern und Mitautoren Mar-kus Koster und Thomas Kuster ist es zweifelsohne gelun-gen, eine umfassende wissenschaftliche Darstellungregionaler Jugendhilfe in acht Jahrzehnten zu erstellen.Besonders hervorzuheben ist das Konzept, Fachleute ausunterschiedlichen Disziplinen (Historiker, Verwaltungs-fachleute, Juristen, Padagogen und Sozialpadagogen) alsAutoren in dieser Publikation zu vereinigen. So wird dieserBand, der zudem auch anschaulich bebildert ist, nicht nurfur Fachleute von Bedeutung sein, sondern auch deninteressierten Laien ansprechen. Leider wurde auf dieErstellung eines Sach- und Personenindexes verzichtet.

Entstanden ist eine durchaus auch kritische Festschrift,die dem Anlaß - 75 Jahre Landesjugendamt - alle Ehremacht.

(Tie)

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Angelika Menne-Haritz: Schlusselbegriffe der Archiv-terminologie. Lehrmaterialien fur das Fach Archivwis-senschaft, 2. uberarb. Aufl., Marburg 1999 (Veroffent-lichungen der Archivschule Marburg Nr. 20). DM 20.-

Auch das Archivwesen hat eine eigene Fachsprache ent-wickelt, in der bestimmte Begriffe eine zentrale Rolle spie-len. Diese Begriffe zu erfassen und sie verstandlich undallgemein verbindlich zu definieren ist Anliegen diesesHeftes. Aus der Praxis der Archivschule erwachsen, wen-det es sich nicht nur an die dort Studierenden, sondernebenso an alle, die sich mit dem Archivwesen beschafti-gen. Mit Recht wird in der Einleitung darauf hingewiesen,daß zentrale Begriffe im Archivwesen in anderen Berei-chen in ganzlich anderer Weise verwandt werden. Die der-zeitige Verwendung des Begriffs „Archiv“ in der elektroni-schen Datenverwaltung ist nur das auffalligste Beispiel.Um so notwendiger ist es, sich seiner Sprache zu verge-wissern und eine klar definierte Begrifflichkeit nicht nur un-ter sich, sondern auch gegenuber anderen zu verwenden.

Bei den erlauterten Begriffen handelt es sich um Schlus-selbegriffe, d. h. um eine Auswahl besonders wichtig er-scheinender zentraler Begriffe. Es sind Begriffe, die ausdem engeren Tatigkeitsfeld des Archivars stammen.Quellen- und aktenkundliche Termini fehlen fast ganz.Zwar sind Akte, Amtsbuch, Kopialbuch oder Riß defi-niert, nicht aber Brief, Urbar, Lagerbuch oder gar Patent.Urkunde ist als Schlusselbegriff aufgenommen, dochnicht Diplom oder Mandat. Ausgespart wurden auch Be-griffe der historischen Hilfswissenschaften wie Siegelund Wappen. Die hier definierten Begriffe konzentrierensich hauptsachlich auf den Bereich zwischen Archiv undVerwaltung. Erfaßt wird das Handeln der Verwaltung inseiner Bedeutung fur die Tatigkeit des Archivars. Hierhingehoren auch die Diagramme zur Erlauterung von Fach-begriffen, die sich im Anhang befinden.

Trotz der erkennbaren Bemuhungen, die Begriffe mog-lichst klar und eingangig zu definieren, was zumeist gelun-gen ist, kommt es doch mitunter zu umstandlichen undunscharfen Formulierungen. So fehlt etwa bei „Ausferti-gung“ der Hinweis, daß es sich um eine Reinschrift han-delt, und bei „Regest“ sollte in die Definition „Rechtsinhalt“aufgenommen werden. „Laufender Meter“ bleibt unver-standlich, so lange die Hohenangabe nicht angegeben ist.

Bei der Benutzung dieses Heftes sollte man sich daruberim Klaren sein, daß hier ausschließlich die Terminologieder Archivschule Marburg verwandt und propagiert wirdund nur Begriffe aufgenommen wurden, die von derArchivschule akzeptiert werden. Da es sich bei dieserPublikation um Lehrmaterial des Faches Archivwissen-schaft an der Marburger Archivschule handelt, ist diesesVorgehen zwar verstandlich, dennoch geht es nicht an,daß anscheinend nicht akzeptierte, gleichwohl im Archiv-wesen gangige Begriffe nicht vorkommen, etwa„Bar’sches Prinzip“ oder „Dokumentationsprofil“. Regel-recht unterschlagen werden Begriffe, die der Archivtermi-nologie der DDR entstammen wie „Registraturbildner“oder „Wertkategorie“. Es paßt zum Bild, daß das LexikonArchivwesen der DDR, das 1979 in dritter Auflage er-schien, uberhaupt nicht erwahnt wird. Ein derartiges Vor-gehen wirkt ideologisierend und ist der Sache nicht dien-lich. Ein Archivlexikon, das die Begrifflichkeit des Archiv-wesens verstandlich erfaßt und fur den Archivar eineechte Arbeitshilfe darstellt, bleibt weiterhin ein Desiderat.

(Bo)

Beate Sophie Gros, Das Hohe Hospital in Soest (ca.1178-1600). Eine prosopographische und sozialge-schichtliche Untersuchung, Munster 1999 (Verof-fentlichungen der Historischen Kommission furWestfalen XXV. Urkunden-Regesten der SoesterWohlfahrtsanstalten Bd. 5).

In der zweiten Halfte des 12.Jahrhunderts, - eine ge-falschte Urkunde des 14. Jahrhunderts nennt die Jahres-zahl 1178 -, wurde in Soest ein hl. Geist-Hospital gestif-tet, das fur die Unterbringung von Armen und Krankengedacht war. Anders als in anderen Stadten, wo sich dieSpitale am Stadtrand befanden, erfolgte in Soest dieGrundung in der Stadtmitte in einem Bauwerk, das alserzbischofliche Pfalz angesprochen wird. Das an so pro-minenter Stelle auf Initiative der Burger und zweifellosmit Billigung des Erzbischofs errichtete Hospital unter-stand der Aufsicht des Rates, der Spitalmeister einsetz-te und Ordnungen fur das Haus erließ. Als 1304 ein neu-es Hospital beim Jakobitor gegrundet wurde, das 1321 inden Großen Mariengarten verlegt wurde, erfolgte in denkommenden Jahrzehnten die Umwandlung des HohenHospitals in einen Jungfernkonvent, in dem unverehe-lichte Frauen christlich zusammenleben sollten. Obwohl1311 den dort lebenden Frauen vom Rat befohlen wur-de, Kleidung nach Art der Beginen zu tragen, handeltees sich doch nicht um ein Beginenhaus, sondern um ei-nen Konvent mit einer Tendenz zum Stift. Die Frauenstanden unter der Aufsicht von zunachst 6 Hospitalvor-mundern bzw. ab 1417 2 Hospitalherren, die vom Ratbestimmt wurden, und von 4 Meisterschen, die von denJungfern gewahlt wurden. Ursprunglich existierten 46Prabenden, die jedoch niemals samtlich besetzt warenund vermutlich infolge wirtschaftlicher Schwierigkeitenbei der Auflosung 1809 auf weniger als 20 zusammen-geschmolzen waren.

Die vorliegende Untersuchung, die an der UniversitatMunster als Dissertation entstand, gliedert sich in dreiTeile. Die ersten zwei Teile behandeln die beiden Pha-sen der Entwicklung des Hospitals als Armen- und Kran-kenhaus und als Jungfernkonvent. Eingehend werden indiesen beiden historischen Teilen die Verwaltung, die In-sassen und deren Zusammenleben im Hospital vorge-stellt. Nicht so deutlich werden die wirtschaftlichenGrundlagen. Die Quellen, Einkunfteverzeichnisse undRechenbucher, werden zwar erwahnt, doch konnte einedetaillierte Auswertung nicht erfolgen (S. 96). DerSchwerpunkt der Arbeit liegt auf den personen- und so-zialgeschichtlichen Untersuchungen. Zu den 21 Proviso-ren, 6 Spitalmeistern, 3 Priestern, 46 Hospitalvormun-dern, 12 Vogten und 14 Rektoren, insbesondere aber zuden 291 Jungfern, die bis 1600 Insassen des HohenHospitals waren, wurde umfangreiches prosopographi-sches Material zusammengetragen, das die Identifizie-rung und zeitliche Einordnung der einzelnen Personenerlaubt und den Zusammenhang mit den stadtischen Fa-milien und deren sozialen Stellung herstellt. Deutlichwird hierdurch die enge Verflechtung der Jungfern mitden Amtstragern und ihre Herkunft aus der stadtischenMittel- und Oberschicht. Das Hohe Hospital, das zu denaltesten Wohlfahrtsanstalten in Westfalen gehorte, wirddamit in seiner sozialen Funktion fur die Stadt darge-stellt. Der Wandel, dem es unterworfen war, ergab sichaus den Bedurfnissen der Soester Bevolkerung, die of-fenbar ein Haus fur Frauen benotigte, das hinsichtlichseiner Funktion zwischen einem Kloster oder Stift undeinem Schwestern- oder Beginenhaus, die beide vor-

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handen waren, anzusiedeln war. Diese besondere weib-liche Versorgungsanstalt in Soest, ihre Funktion und Or-ganisation erstmals umfassend dargestellt zu haben, istdas Verdienst dieser Arbeit. Im Westfalischen Kloster-buch wird das Hohe Hospital nicht erwahnt!

(Bo)

Olpe in Geschichte und Gegenwart: Jahrbuch desHeimatvereins fur Olpe und Umgebung, Olpe, 6 (1998)und 7 (1999), je DM 17,- ISSN 0943-996X.

Seit 1993 bereichert der Heimatverein fur Olpe und Um-gebung die Anzahl der lokal- und heimatgeschichtlichenVeroffentlichungen des sudlichen Sauerlandes durcheine eigene Jahresgabe, die seit Band 3 den Titel Jahr-buch tragt. Unter der redaktionellen Betreuung durchden Olper Stadtarchivar Josef Wermert werden Jahr furJahr zahlreiche Beitrage zu heimatgeschichtlichen The-men, aktuelle Berichte aus dem Vereinsleben und derHeimatpflege sowie Rezensionen und statistische Anga-ben der Stadt Olpe veroffentlicht. Zur Verdeutlichung desinhaltlichen Spektrums der Jahrbucher sollen beispiel-haft drei verschiedene Beitrage herausgegriffen werden.

Das Jahrbuch 1998 bringt anlaßlich des 350jahrigen Ju-bilaums des Westfalischen Friedens eine Edition derQuellen zur Geschichte des Dreißigjahrigen Krieges ausdem Stadtarchiv Olpe. Aufgrund zweier Stadtbrande istdie Uberlieferung im stadtischen Archiv gering: nur weni-ge Dokumente - sie nehmen im Abdruck knapp 30 Sei-ten ein - blieben erhalten. Die von Josef Wermert gebo-tenen Regesten, vollstandigen Transkriptionen, Quellen-angaben und Vermerke uber einen alteren Abdruck er-moglichen es einem breiten Personenkreis Einblick zunehmen in eine entbehrungsreiche Zeit, die in Umrissenfur die Stadt Olpe erkennbar wird.

Ebenfalls in Band 6 (1998) findet sich die Metarezensionvon Heribert Gruß uber sein Buch „Erzbischof LorenzJaeger als Kirchenfuhrer im Dritten Reich“. Diese eben-falls im Jahrbuch des Heimatvereins von Hans-BodoThieme rezensierte und insgesamt zwiespaltig aufge-nommene Publikation uber den in Olpe geborenen Erz-bischof von Paderborn war 1995 erschienen. Gruß nutztseine ausfuhrliche Metarezension nun fur Rechtfertigun-gen, um schließlich die in seinem Buch entwickelte neueSichtweise der Rolle Jaegers in der NS-Zeit zu unter-mauern. Die Breite des fur die Diskussion in Anspruchgenommenen Raumes belegt, daß ein endgultiges undunumstoßliches Urteil uber die Bedeutung Jaegers nichtin greifbarer Nahe liegt und weiterer Forschungsbedarfbesteht.

In den Jahrbuchern 6 und 7 beschaftigt sich der LinguistDr. Werner Beckmann mit den Mundarten des KreisesOlpe. Nach umfangreichen und fundierten Darlegungenuber die Herkunft der Mundarten des Kreises Olpe kommter zu dem Schluß, daß im Kreisgebiet zwei niederdeut-sche Sprachzweige aufeinandertreffen: das Niedersachsi-sche und das Niederfrankische. In einem zweiten Aufsatzvergleicht Dr. Beckmann die 1877 in der Stadt Olpe notier-ten 40 Wenkschen Satze - benannt nach einem deutsch-landweiten Mundartprojekt Georg Wenkers - mit demheute noch in Olpe gesprochenem Dialekt. Er kann Veran-derungen feststellen und fordert eine erneute Abfrage derWenkschen Satze im Kreis Olpe, um die sprachlichenVeranderungen zu dokumentieren.

Die Beispiele deuten die thematische Vielfalt der Jahrbu-cher, in denen Beitrage uber die ehemals selbstandigenGemeinden der heutigen Stadt Olpe in einem ausgewo-genen Maß vertreten sind, an. Die vom Stadtarchiv erar-beitete jahrliche Olper Bibliographie, die in ihrer Grund-lichkeit allen Anspruchen gerecht wird, erganzt jedenBand um einen wichtigen Beitrag. Insgesamt bleibt fest-zustellen, daß die Jahrbucher des Heimatvereins fur Ol-pe und Umgebung e. V. die gelungene Einbindung einesKommunalarchivs in seinen Archivsprengel dokumentie-ren. Lokalgeschichtliche Forschung und Offentlichkeits-arbeit finden hier eine Verbindung, die auch fur andereArchiv beispielhaft sein kann.

Rico Quaschny

Moller, Eckhard: Die Maires, Amtmanner, Amtsbur-germeister und Gemeindedirektoren in Herzebrock-Clarholz : 1808 - 1999 / [Recherche und Text: Eck-hard Moller]. - Herzebrock-Clarholz, 1999. - 43 S.

Einen Ruckblick auf 190 Jahre kommunale Verwaltungbietet die von der Gemeinde Herzebrock-Clarholz her-ausgegebene Broschure „Die Maires, Amtmanner,Amtsburgermeister und Gemeindedirektoren in Herze-brock-Clarholz“. Angefangen mit dem HerzebrockerMaire der Jahre 1807 bis 1817 Carl Henrich Batsche,uber den ersten Amtmann des Amtes Herzebrock-Clar-holz Friedrich-Wilhelm Breme, der es auf stolze 35 Jahrean der Spitze der Verwaltung brachte, bis hin zum am30. September 1999 ausgeschiedenen Gemeindedirek-tor Josef Korsten hat Gemeindearchivar Eckhard Mollerin tabellarischer Form die Lebenslaufe der ortlichen Spit-zenbeamten zusammengestellt. Soziale Herkunft derBeamten, ihr beruflicher Werdegang und ihr Wirken inHerzebrock und Clarholz werden in ubersichtlicher Formdargestellt. Die meisten Lebenslaufe sind mit einemPortraitfoto bebildert.

Waren die ersten preußischen Burgermeister nach 1816auswartige Beamte, die auf eine Offizierslaufbahn zu-ruckblicken konnten, wurde 1851 mit dem GeometerFriedrich Wilhelm Breme ein Einheimischer als Amt-mann des Amtes Herzebrock-Clarholz gewahlt. Fur die-ses war ein Jahr zuvor die Verwaltungsgemeinschaft mitder Stadt Rheda aufgehoben worden. Die Ernennungdes von der Amtsvertretung gewahlten Breme stieß beider Regierung in Minden auf Widerstand, weil ihm dieberufliche Qualifikation fehlte, konnte aber wegen derRegelungen der Gemeindeordnung von 1850 letztlichnicht verhindert werden.

Auffallig an den Lebenslaufen ist, daß seit der Mitte des19. Jahrhunderts die meisten Amtmanner aus landwirt-schaftlichen Verhaltnissen kamen. Das kann als ein In-diz dafur gewertet werden, daß die Laufbahn in derKommunalverwaltung typisch fur gesellschaftliche ,Auf-steiger’ war.

Den Lebenslaufen vorangestellt ist ein kurzer Aufsatz,der einen Uberblick uber die Verwaltungsstrukturen undihren Wandel von der Zeit der napoleonischen Staats-grundungen uber die lange preußische Ara bis zur kom-munalen Demokratie unserer Tage gibt. Die Broschureist fur Interessenten kostenlos zu erhalten im Burgerbu-ro der Gemeindeverwaltung oder im Gemeindearchiv.

Eckhard Moller

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Vollmer, Matthias: Die Flurnamen der Stadt Spenge(=Flurnamen in Ostwestfalen und Lippe, Bd. 1)Bielefeld: Verlag fur Regionalgeschichte 1996.95 Seiten, davon 22 Karten.

M. Vollmers Arbeit ist ein Neben-Produkt seiner Bielefel-der Dissertation: Zur Mikrotyponomie eines ostwestfali-schen Ortspunktes. Die Flurnamen der Stadt Spenge.Lage 1997. Kernstuck der hier zu besprechenden Arbeitist das Kapitel 9 mit einer Sammlung von 22 Karten imMaßstab 1 : 7500, in die die den einheimischen Mund-art-Sprechern heute gelaufigen Flurnamen eingetragensind. Der theoretische Teil betont neben allgemeinerenBemerkungen zur Charakteristik der Flurnamen beson-ders deren geschichtliche Seite: ihr Alter (19-20), ihreschriftliche Uberlieferung uber mehr als 600 Jahre (23-27), ihre Aussagekraft fur die Orts-Geschichte (27-34).Das Verfahren der Datenerhebung der mundlichen For-men und ihrer Verschriftung wird ausfuhrlich beschrie-ben (35-42). Den Karten folgt ein Glossar, ein kleines,leider unvollstandiges Ubersetzungs-Worterbuch zu denin den Flurnamen verfugten niederdeutschen Appellati-ven (67-71). Den Schluß bilden mehrere Register: einesder Flurnamen (71-89), eines der Hof- und Besitzungs-namen (90-92) und eines der in Flurnamen enthaltenenniederdeutschen Familiennamen (93).

Flurnamen sind nur und ausschließlich sprachliche Zei-chen. Damit gehoren sie zunachst in die Hand desSprachwissenschaftlers. Sie weisen aber auf Sachen,die geologisch, geographisch und topographisch, sied-lungs-, wirtschafts- und technik-geschichtlich, zoologischund botanisch ausgewertet werden konnen (14-17).„Flurnamenforschung ist demnach interdisziplinar auszu-werten“ (15). Daß diese weitergehende Auswertung hiernicht mehr erbringt als eine kleine Typologie nach Grup-pen (15-17), kann einem Sprachwissenschaftler nichtvorgeworfen werden. Er stellt nur das aufbereitete Mate-rial fur die Auswertung zur Verfugung anderer Diszipli-nen. So kann er mit nur sprachlichen Mitteln nicht klaren,ob etwa die Muele ’Muhle’ eine Wasser- oder eine Wind-muhle war, und auch nicht, was hier verarbeitet wurde,ob es sich um eine Korn-, eine Sage- oder eine Walk-muhle handelte, wenn sie nicht mehr vorhanden ist.

M. Vollmer betont nachdrucklich, daß in den Flurnamenein Gemenge von alteren und jungeren Bildungen vor-liegt. Daraus aber folgt, daß sie, um sie zum Sprechenzu bringen. mit außerster sprachwissenschaftlicherSorgfalt aufgearbeitet und dargestellt werden mussen.Das heißt, daß in jedem einzelnen Fall das zu Grundeliegende appellative Material festgestellt werden muß.Daß dabei kaum sprachliches Sondergut begegnet, daßdas meiste banal ist und in gleichen oder ahnlichen For-men uberall in Westfalen vorkommt, hindert nicht dieNotwendigkeit der Aufgabe.

Nun verstoren aber zwei grundsatzliche Aussagen M.Vollmers in erheblichem Maße: zum einen beschranktsich seine Arbeit „ausschließlich“ auf die heute gangigenmundlichen Formen (11); und weiter: „ln ihrer Eigen-schaft als Eigennamen konnen Flurnamen namenkund-lich ausgewertet werden, ohne daß Fragen der Bedeu-tung mitschwingen.“ (15). Zunachst die Einwande zumzweiten Punkt.

Zur Feststellung der Flurnamen gehort, wenn nicht einezweck-neutrale und damit nutzlose Verzeichnung vorge-

legt werden soll, zwingend notwendig auch die Feststel-lung des ihnen zuvor liegenden appellativen Wortschat-zes, der i m m e r eine Bedeutung mitbringt und sie indie Namen hinein vermittelt. Davon abzusehen, ist volligunmoglich, und die zitierte, fur grundsatzlich ausgegebe-ne Maxime ist falsch. Daß sie grundfalsch ist, ahnt M.Vollmer wohl selbst. Denn er verletzt sie zugleich durchseine Typen-Aufteilung (15-17) und durch das Glossar(67-71). Beide sind allerdings - und das mag er wiedermit dieser Maxime begrunden - unzureichend, weil un-vollstandig. Er erklart dadurch namlich das, was die un-aufgebbar notwendige Grundlage einer Flurnamen-Sammlung in sprachwissenschaftlicher Absicht seinmuß, zu einer beliebigen und uberflussigen Zutat. Undwie sollen Vertreter der nicht-philologischen Facher diesachliche interdisziplinare Auswertung ubernehmen kon-nen, wenn sich ihnen der sprachwissenschaftliche Bear-beiter im Verzicht auf Bedeutung ausdrucklich entziehtund implizit ihnen nur halbherzig zuarbeitet?

Der erste Punkt ist genauso schwerwiegend: die aus-schließliche Eingrenzung auf die Mundlichkeit. Wassollen dann die breiten Auslassungen uber die Ge-schichtlichkeit und den Wandel der Flurnamen in uber600 Jahren? Zur Sprache gehort notwendig ihre Ge-schichtlichkeit: das weiß M. Vollmer allerdings nurtheoretisch. Denn fur die praktische Durchfuhrung hatdies keinerlei Auswirkung. Dabei gehort auch die Ge-schichtlichkeit zum vom Verfasser breit beschworenen„Kulturgut“ (15). Zu dessen Entfaltung aber gehorendann auch die alten, hie und da in Urkunden und Ur-baren erwahnten Flurnamen bis hin zu ihrer systemati-schen Verzeichnung in den von der preußischen Ver-waltung angeordneten Urkatastern der ersten Halftedes 19. Jahrhunderts. Erst aus dem Vergleich der eherzufalligen Nennungen in mittelalterlichen und fruhneu-zeitlichen Quellen mit denen der Protokolle der Mar-ken-Teilungen, denen der preußischen Kataster undden gegenwartigen Formen kann uberhaupt irgendetwas uber die Geschichtlichkeit dieser sprachlichenZeichen erhoben werden. Die Auswertung der Urkun-den, Urbare und Teilungs-Rezesse ist gewiß muhseligund zeitraubend, auch wenn die wichtigsten Texte im-merhin in guten Drucken vorliegen. Aber ohne die Be-reitschaft zu dieser Arbeit, mit ausschließlicher Fixie-rung nur auf die gegenwartige Mundlichkeit bleibt dasganze Unternehmen trotz aller gegenteiligen Beteue-rungen unhistorisch.

Dadurch geraten diese Beteuerungen zur kreiselndenRedundanz. Sie konnten nur dann uberzeugen, wenndie geschichtliche Uberlieferung nicht nur breit behaup-tet, sondern als Material vorgezeigt, dargestellt und aus-gewertet wurde.

Das Literatur-Verzeichnis, das an das Ende gehort, fin-det sich mitten inne (42): es fuhrt gezahlte 22 Titel, wo-bei alle Autoren nach haßlicher Unsitte durch Abkurzungum ihre Rufnamen gebracht werden. Da finden sich un-ter anderem Arbeiten zur niederdeutschen Sprachge-schichte und Mundartforschung, die kaum ausgewertetwerden. An einschlagigen Arbeiten zur westfalischenFlurnamen-Forschung, werden zwei Projekt-Beschrei-bungen von Gunter Muller und Timothy Sodmann ge-nannt. Von der vergleichenden Flurnamen-Sammlungwird nur die von Ulrich Scheuermann uber die Flurna-men von Rotenburg an der Wumme aufgefuhrt; aber esfehlt jeder Hinweis auf die von der Munsterschen Schule

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gut aufgearbeiteten Flurnamen einzelner westfalischerOrte, die doch erheblich naher liegen. Von ihnen sei nureine musterhafte Darstellung genannt, die von ElisabethPiirainen: Flurnamen in Vreden. Textband. Kartenband.Vreden 1984. Sie zeigt, daß jedem einzelnen Flurnamenin alphabetischer Folge ein eigener Artikel zusteht, indem, wenn vorhanden, auch die spatmittelalterliche und/oder fruhneuzeitliche schriftliche Uberlieferung darge-stellt wird. Und in jedem einzelnen Fall wird mit dem mit-tel- oder neuniederdeutschen Wortschatz bundig auf dieBedeutung eingegangen. Das setzt Maßstabe fur wei-tere Arbeiten in einem intensiv aufzuarbeitenden Klein-Raum, wie ihn heute eine niederdeutsche Stadt-Ge-meinde darstellt. Genau so beispielhaft ist die von Hein-rich Dittmaier fur das Rheinland erstellte Gesamt-Uber-sicht: Rheinische Flurnamen. Bonn 1963. Damit wurdenStandards gesetzt, hinter die man heute nicht mehr zu-ruck fallen sollte. Ebenso wie diese maßgebenden Ab-handlungen fehlen im Besonderen zum Element siek die

Ausfuhrungen von Bernd-Ulrich Kettner: Das Namen-grundwort siek in Sudniedersachsen, in: Niederdeut-sches Wort 11 (1971), 37 ff. und Bernd-Ulrich Kettner:Flussnamen im Stromgebiet der oberen und mittlerenLeine. Rinteln 1972, 279-283, 374-378.

Ein Anlage nach solchen zu fordernden Einzel-Kapitelnbietet dann weiter die Gelegenheit, uber die notwendigesprachliche Erklarung und Bedeutungs-Analyse auch zuden auch von M. Vollmer geforderten außersprachlichenSach-Erklarungen beizutragen.

Fur weitere zu wunschende und in Planung befindlicheArbeiten im ostwestfalisch-lippischen Raum kann die nurtheoretisch aufwendige, aber mit zu bescheidenen prak-tischen Ergebnissen aufwartende Arbeit M. Vollmers je-denfalls nicht als Vorbild empfohlen werden.

Paul Derks

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