Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ || Historische...

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2 Historische Einführung 2.1 Das Raumproblem in der Physik, von Aristoteles bis Newton Riemanns Schriſt verknüpſt in neuartiger Weise verschiedene emenstränge aus Mathe- matik, Physik und Philosophie, und Helmholtz bringt dann noch zusätzlich die Sinnes- physiologie in die Diskussion ein. Um daher Riemanns Schriſt historisch zu verorten, ist zunächst eine Skizze der Geschichte des Raumproblems in den beteiligten Wissenschaf- ten erforderlich. Bezugspunkt der geometrischen Forschung ist Euklid (fl. ca. 300 v. Chr.). Bekanntlich hat er in seinen Elementen aus wenigen Definitionen, Postulaten und Axio- men in konstruktiver Weise eine ebene und räumliche Geometrie entwickelt, die dann die weitere Entwicklung derart stark geprägt hat, dass sie oſt und lange als alternativlos angesehen wurde. Während die Beziehung der euklidischen Geometrie zur platonischen Philosophie unproblematisch war, passte sie allerdings nicht mit der aristotelischen Physik zusammen. Der euklidische Raum ist homogen, d. h. alle Punkt in ihm sind geometrisch gleich, und isotrop, d. h. alle Richtungen in einem Punkt sind geometrisch gleich. Kein Punkt und keine Richtung sind in irgendeiner Weise ausgezeichnet. Aristoteles (384–322 v. Chr.) konzeptionalisierte dagegen die Welt als Ansammlung von Örtern. Der Ort eines Gegenstandes war dabei durch dessen begrenzende Oberfläche bestimmt. Jedes Ding besaß seinen natürlichen Ort, zu dem es hinstrebte. Somit war die Welt heterogen. Da Gegenstän- de natürlicherweise von oben nach unten fallen, war insbesondere die Richtung von oben nach unten von anderen Richtungen unterschieden, und der aristotelische Raum war nicht isotrop. In dieser Gegenüberstellung von Euklid und Aristoteles ist schon die grundsätz- liche Frage nach dem Verhältnis von Geometrie und Physik zu erkennen, oder in etwas anderer Formulierung die Frage nach der Beziehung zwischen dem geometrischen Raum und den ihn erfüllenden Gegenständen. Physikalisch stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Existenz des Vakuums, des leeren, inhaltslosen Raumes, erfor- derlich für die antike Atomtheorie von Demokrit und Leukipp, aber von Parmenides und 9 B. Riemann, Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“, Klassische Texte der Wissenschaſt, DOI 10.1007/978-3-642-35121-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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2Historische Einführung

2.1 Das Raumproblem in der Physik, von Aristoteles bis Newton

Riemanns Schrift verknüpft in neuartiger Weise verschiedene Themenstränge aus Mathe-matik, Physik und Philosophie, und Helmholtz bringt dann noch zusätzlich die Sinnes-physiologie in die Diskussion ein. Um daher Riemanns Schrift historisch zu verorten, istzunächst eine Skizze der Geschichte des Raumproblems in den beteiligten Wissenschaf-ten erforderlich. Bezugspunkt der geometrischen Forschung ist Euklid (fl. ca. 300 v. Chr.).Bekanntlich hat er in seinen Elementen aus wenigen Definitionen, Postulaten und Axio-men in konstruktiver Weise eine ebene und räumliche Geometrie entwickelt, die danndie weitere Entwicklung derart stark geprägt hat, dass sie oft und lange als alternativlosangesehen wurde. Während die Beziehung der euklidischen Geometrie zur platonischenPhilosophie unproblematisch war, passte sie allerdings nicht mit der aristotelischen Physikzusammen. Der euklidische Raum ist homogen, d. h. alle Punkt in ihm sind geometrischgleich, und isotrop, d. h. alle Richtungen in einem Punkt sind geometrisch gleich. KeinPunkt und keine Richtung sind in irgendeiner Weise ausgezeichnet. Aristoteles (384–322v. Chr.) konzeptionalisierte dagegen die Welt als Ansammlung von Örtern. Der Ort einesGegenstandeswar dabei durch dessen begrenzendeOberfläche bestimmt. JedesDing besaßseinen natürlichenOrt, zu dem es hinstrebte. Somit war dieWelt heterogen. DaGegenstän-de natürlicherweise von oben nach unten fallen, war insbesondere die Richtung von obennach unten von anderen Richtungen unterschieden, und der aristotelische Raumwar nichtisotrop. In dieser Gegenüberstellung von Euklid und Aristoteles ist schon die grundsätz-liche Frage nach dem Verhältnis von Geometrie und Physik zu erkennen, oder in etwasanderer Formulierung die Frage nach der Beziehung zwischen dem geometrischen Raumund den ihn erfüllenden Gegenständen. Physikalisch stellt sich in diesem Zusammenhangauch die Frage nach der Existenz des Vakuums, des leeren, inhaltslosen Raumes, erfor-derlich für die antike Atomtheorie von Demokrit und Leukipp, aber von Parmenides und

9B. Riemann, Bernhard Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“,Klassische Texte der Wissenschaft, DOI 10.1007/978-3-642-35121-1_2,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Aristoteles als unmöglich angesehen. Der euklidische Raum ist unendlich,1 und die Fra-ge nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit des physikalischen Raumes wurde ebenfallsin der Antike kontrovers diskutiert, wobei Aristoteles wiederum auf der Gegenseite stand.Für diesen konnte Unendlichkeit nur als Potentialität in der Zeit, aber nicht als Aktualitätim Raum existieren.

Ein neuer Gesichtspunkt wird dann von den Künstlern und Kunsttheoretikern der ita-lienischen Renaissance eingebracht. Diese wollten bekanntlich Gegenstände nicht mehrin ihrer wirklichen, objektiven Größe oder Personen in einer ihrer Bedeutung entspre-chenden Größe darstellen, sondern so, wie sie sich subjektiv dem Auge des Betrachterszeigten. Hierfür mussten sie auf die als objektiv gültig angesehenen Gesetze der geometri-schen Optik zurückgreifen, die wiederum den Regeln der euklidischen Geometrie folgen.In gewisser Weise wurde als eine Physik der Körper durch eine Physik der Lichtstrahlenersetzt, die dann mit der euklidischen Geometrie zur Deckung gebracht werden konnte.Möglicherweise haben auch die durch den Aufschwung des Seehandels bedingten Erfor-dernisse der Kartographie hierfür Anregungen geliefert, denn dort ging es ebenfalls umdie adäquate Darstellung räumlicher Beziehungen.2 Jedenfalls ist die Linearperspektive,als deren Entdecker der Florentiner Architekt und Künstler Filippo Brunelleschi (1377–1466) gilt und deren erste Darstellung sich in demBuch „Della Pittura“ (1435) des Literatenund Gelehrten Leon Battista Alberti (1404–1472) findet, die euklidische Konstruktion derProjektion aus dem dreidimensionalen Raum auf eine zweidimensionale Fläche. Dies in-spirierte dannKepler (1571–1630) undDesargues (1591–1661) zu einer neuenBehandlungder Kegelschnitte.3 In den Händen der Mathematiker führte dies (erst) in der ersten Hälftedes 19. Jahrhunderts zur Entwicklung der projektiven Geometrie,4 die dann wiederum inVerbindungmit vonRiemann und anderenMathematikern der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts entwickelten Ideen in die algebraische Geometrie einmündete.

In der italienischen Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts beginnt dann auch die Ab-lösung des bis dahin dominierenden aristotelisch-scholastischenWeltbildes.5

1 Die Konzeption des Unendlichen in der Antike unterschied sich allerdings von der modernen,wesentlich durch Cantor geprägten Auffassung der modernen Mathematik. Das Unendliche wurdenicht als aktuell, sondern als potentiell oder konstruktiv verstanden, in dem Sinne, dass man bei-spielsweise eine Gerade immer weiter verlängern kann, ohne an ein Ende zu gelangen, aber ohne dassman dabei schon allen Punkten dieser unendlichen Geraden eine vorgängige Existenz zusprechenmüsste. Für eine systematischeAnalyse der geschichtlichen Entwicklung des Unendlichkeitskonzep-tes s. J. Cohn, Geschichte des Unendlichkeitsproblems im abendländischen Denken bis Kant. Leipzig,Wilhelm Engelmann, 1896.2 Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, München, 20023 s. z. B. J. V. Field,The invention of infinity, Oxford, New York u. a., 19974 s. die ausführliche Darstellung von Kirsti Andersen, The Geometry of an Art. The History of theMathematical Theory of Perspective from Alberti to Monge. Berlin etc., Springer, 20075 Für eine systematische Darstellung der gesamten Entwicklung verweisen wir auf E. Cassirer, DasErkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4 Bde., Darmstadt, Wiss.Buchgesellschaft, 1974 (Nachdruck der 3. Aufl. der Bde. 1,2 von 1922, der 2. Aufl. des Bdes. 3 von1923, der 2. Aufl. des Bdes. 4 von 1957).

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Julius Caesar Scaliger (1484–1558) greift die Lehre vom Leeren aus der antiken Ato-mistik wieder auf, Voraussetzung dafür, dass der Raum zum Behälter für Dinge werdenkann. Der Ort eines Gegenstandes ist dann im Gegensatz zu Aristoteles nicht mehr durchdessen begrenzende Oberfläche bestimmt, sondernwird zu dem durch diese Grenzen um-schlossenen dreidimensionalen geometrischen Inhalt. Der Raum begrenzt also nicht mehrGegenstände, sondern Gegenstände füllen den Raum aus. Bernardino Telesio (1508/9–1588) entwickelt eine antiaristotelische dynamische Naturphilosophie. Für ihn ist der (lee-re) Raum unkörperlich und wirkungslos, bloße Aufnahmefähigkeit der Dinge.6 Für Fran-cesco Patrizi (1529–1597) ist der RaumUrsprung undQuelle der Quantität, und er verleihtder Körperwelt ihre Grundlage. Weil er keinen Widerstand zeigt, ist er nicht körperlich,aber gleichzeitig durch das Merkmal der Ausdehnung von rein geistigen Entitäten unter-schieden. Der Raum hat also hier, im Gegensatz zu Aristoteles, keine den Gegenständeninnewohnende, sondern eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit. Die hier angesproche-nen Gedanken blieben in der weiteren Entwicklung des Raumbegriffes wesentlich undwirksam.

Die Physik von Galileo Galilei (1564–1642), die im Gegensatz zu der qualitativ-lo-gischen Argumentation des Aristoteles quantitativ-mathematische Gesetzmäßigkeitenaufstellt,7 setzt die euklidische Geometrie voraus. Es werden idealisierte Situationen be-

6 NebenCassirer, Bd. 1, loc .cit., s. auch den Artikel zu Telesio in R. Eisler, Philosophenlexikon, Berlin,1912, S. 741f.7 Mit seiner Konzentration auf den empirisch messbaren Ablauf physikalischer Prozesse anstellevon deren Begründung aus finalen Prinzipien, mit seiner Annahme, dass die Welt daher für denMenschen nicht ohne Weiteres aus geoffenbarten Prinzipien erkennbar ist, sondern erst mühsamempirisch erkundet und gemessen werden muss, und den von ihm zugrunde gelegten atomisti-schenVorstellungen hebelteGalilei die von der Scholastik desMittelalters in der Aristotelesrezeptionentwickelte Philosophie aus, für welche die Welt ein auf den Menschen bezogener Ordnungszusam-menhang war (s. z. B. die prägnante Analyse bei E. A. Burtt,The metaphysical foundations of modernscience, Mineola. Dover, 2003 (Nachdruck der 2. Aufl. von 1932)). Auf dieser Philosophie, beispiels-weise der für dieAbendmahlslehrewichtigen aristotelischenUnterscheidung von Formund Substanzberuhte aber das in der Gegenreformation verhärtete Weltbild der katholischen Kirche. (Der obenskizzierte Beginn der Auflösung des aristotelischenWeltbildes in der italienischenNaturphilosophiedes 16. Jahrhunderts war dagegen noch von päpstlichem Wohlwollen belgeleitet worden.) Wenn esstatt der aristotelischen Substanzen, in die verschiedene Formen eingeprägt werden konnten, unddie dann umgekehrt imWunder der Transsubstantiation bei gleichbleibender Form verwandelt wer-den konnten, nach Galilei nur noch gestaltlose Atome gab und sich qualitative Eigenschaften wieFarbe erst im Wahrnehmungsprozess konstituierten, so wurde ein solches Wunder unmöglich oderbestenfalls noch als krude Sinnestäuschung plausibel. Und natürlich harmonisierte auch das koper-nikanische Weltbild nicht mit einem auf den Menschen bezogenen Schöpfungsplan. Dies sind wohldie tieferen Gründe für denWiderstand, den Galilei bei den führenden intellektuellenVertretern derkatholischen Kirche vorfand, auch wenn in populären Darstellung ein kleingeistig wirkenden Streitum diewörtliche Auslegung bestimmter Bibelstellen, wie derjenigen, wo Josua bei der Einnahme vonJericho angeblich die Sonne still stehen ließ, als Grund für die Verfolgung Galileis vorgestellt wird.Bibelstellen konnten auch von der katholischen Kirche, wenn sie dies aus systematischen Gründenfür erforderlich oder zweckdienlich hielt, durchaus allegorisch ausgelegt werden, und die Bibelstellendienten wohl in einer Zeit, in der auch intellektuelle Diskussionen die von Macchiavelli propagier-

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trachtet, wie die auf einer unendlich ausgedehnten schiefen Ebene rollende Kugel oder diegleichförmige, beschleunigungsfreie Bewegung im leeren Raum, die sich mathematischexakt beschreiben lassen und die gleichzeitig die physikalischen Vorgänge in der realenWelt approximieren. Der Unterschied zwischen der idealen und der realen Bewegungwird durch als (im Gegensatz zu Aristoteles) konzeptionell sekundär angesehene Effektewie die Reibung oder den Luftwiderstand hervorgerufen. Die Gleichförmigkeit des idea-lisierten physikalischen Prozesses setzt die Gleichförmigkeit des Raumes voraus, in demer sich abspielt. In moderner Terminologie lassen sich die Invarianzen der physikalischenBewegung auf Transformationen des Raumes zurückführen, die dessen Geometrie nichtverändern. Dies ist das sogenannte Konzept der Galileiinvarianz, dass die Gesetze derPhysik in allen Bezugssystemen identisch sind, die sich gegeneinander mit gleichförmi-ger Geschwindigkeit, also ohne Beschleunigung, bewegen. Dies bleibt auch in Einsteinsspezieller Relativitätstheorie gültig, in welcher allerdings die Galileitransformationendurch die relativistischen Lorentztransformationen ersetzt werden, bei denen nicht nur dieräumlichen Positionen, sondern auch die Zeit linear transformiert wird. Diese Lorentz-transformationen vollziehen sich daher nicht mehr im dreidimensionalen euklidischenRaum, sondern in einem durch die Hinzunahme der Zeit erweiterten Raum, dem vierdi-mensionalen Minkowskiraum.

Galilei ersetzte also die aristotelische Konzeption eines geordneten und strukturiertenKosmos durch den einheitlichen Wirkungszusammenhang eines an sich unstrukturierten(und schon von Giordano Bruno (1548–1600) enthusiastisch als unendlich propagierten)Universums.8 Dies war nicht nur der entscheidende Durchbruch der modernen Physik,sondern begründete auch erst die Fragestellungen der modernen Geometrie, wie sie dannin Riemanns Werk ihren Kulminationspunkt erreichten.

Für die Physik von Isaac Newton (1642–1727) war der euklidische Raum der inva-riante Behälter, in welchem sich die physikalischen Objekte, typischerweise als Massen-punkte idealisiert, unter dem Einfluss von Kräften bewegen. Diese für die weitere Physikrichtungsweisende Konzeption musste sich allerdings erst gegen die cartesianische Vor-stellung durchsetzen, der als das kennzeichnende Kriterium der Materie ihre Ausdehnung

ten Methoden einsetzen konnten, eher als Material für rhetorische Finten. Selbst bei physikalischenExperimenten ist es häufig unklar, ob sie tatsächlich durchgeführt worden sind oder ihre Resultatenur unter Berufung auf anschaulichePlausibilität als Belege für eine systematischeTheorie behauptetworden sind, s. z. B. Alexandre Koyré,Galilée et l’expérience de Pise: À propos d’une légende, in: Anna-les de l’Université de Paris, 1937. Auch wenn Pietro Redondi, Galileo eretico, Torino, Einaudi, 1983(deutscheÜbersetzung:Galilei, derKetzer,München, Beck, 1987), Belege dafür aufgefunden hat, dassdie Kirche eigentlich die Begründung der für die Konzeption der Gegenreformation zentralen Trans-substantionslehre durch Galilei gefährdet sah und ihn deswegen maßregelte, sind die Konsequenzendieser Entdeckung wohl noch nicht richtig in die wissenschaftshistorischeDiskussion eingearbeitetworden.8 Die klassischeDarstellung ist Alexandre Koyré, From the closed world to the infinite universe, Balti-more, Johns Hopkins Univ. Press, 1957; dtsche. Übers. Von der geschlossenen Welt zum unendlichenUniversum, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1969, 1980. Materialreicher und in mancher Hinsicht tiefereindringend bleibt Cassirer, loc. cit.

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angesehen hatte; René Descartes (1596–1650) wäre also der Newtonsche Begriff des Mas-senpunktes als völlig sinnlos erschienen. Aber erst die von Johannes Kepler vorbereiteteund von Newton entwickelte Vorstellung von Körpern, die nicht durch ihre räumlicheAusdehnung charakterisiert sind,9 sondern durch ihre dynamischen Kraftwirkungen, al-so zunächst vom Raum unabhängige Eigenschaften oder Wirkmöglichkeiten, ermöglichtees, dass Körper aufeinander ohne direkten räumlichen Kontakt Kräfte ausüben.10 Hiermitvollzog Newton einen für die weitere Entwicklung der Physik entscheidenden Schritt überdie mechanistische Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts hinaus, welche nur direkte me-chanische Einwirkungen von Körpern aufeinander zulassen wollte.11 Nur stellt sich danndie Frage, welche Newton nicht beantworten konnte, wie eine solche Kraftausübung übereine räumliche Entfernung hinmöglich sein kann.12 Den tief religiösenNewton führte dies

9 Newton war der Ansicht, dass die cartesianische Konzeption der Materie als durch Ausdehnungcharakterisiert gerade die wesentlichen Eigenschaftenvon RaumundKörpernmiteinander verwech-sele. Newton sah deswegen als wichtiges Charakteristikum von Körpern ihre Undurchdringlichkeitan und widerlegte die cartesianischeTheorie mit physikalischen Argumenten, Isaac Newton,Mathe-matische Prinzipien derNaturlehre, Berlin, 1872,NachdruckDarmstadt,Wiss. Buchgesellschaft, 1963,Übersetzung der 3. Auflage von 1726 durch J. Wolters. Nichtsdestoweniger argumentiert Alexand-re Koyré, Newtonian Studies, Chicago, Univ. Chicago Press, 1965, für einen entscheidenden Einflussvon Descartes auf Newton. Auch Wissenschaftshistoriker scheinen ihre Lieblingshelden zu haben.Die AuseinandersetzungNewtonsmit denKonzeptionen vonDescartes wird vielleicht am deutlichs-ten aus dem nachgelassenen, aber wohl vor der Ausarbeitung der Principia verfassten Manuskript,welches üblicherweise nach seinen Anfangsworten „De gravitatione . . . “ zitiert wird, zuerst mit eng-lischer Übersetzung veröffentlicht in A. R. Hall und M. Boas Hall, Unpublished scientific papers ofIsaac Newton, Cambridge, Cambr. Univ. Press, 1962, S. 89–156, deutsch übersetzt von G. Böhme,Frankfurt, Klostermann, 1988.10 Kepler betrachtete die Anziehungskraft der Erde als eine Art von magnetischer Kraft, angeregtdurch die Erforschung des Magnetismus durch William Gilbert (1543–1603) und dessen Entde-ckung, dass die Erde sich auch wie einMagnet verhält, woraus sich die Eigenschaften des Kompasseserklären lassen. Bemerkenswerterweise ist es aber der Physik immer noch nicht endgültig gelungen,Magnetismus und Gravitation in einer einheitlichenTheorie zu erfassen, wie wir weiter unten nochgenauer darlegen werden.11 Für eine knappe, aber sehr klare Darstellung s. Richard S. Westfall, The construction of modernscience. Mechanisms and mechanics. John Wiley, 1971; Cambridge, Cambridge Univ. Press, 1977.Eine ausführliche Analyse des Newtonschen Kraftbegriffs und seiner historischen Vorbereitung

und Genese findet sich in Richard S. Westfall, Force in Newton’s physics, London, MacDonald, 1971.Man vgl. auch Ferdinand Rosenberger, Isaac Newton und seine physikalischen Prinzipien, Leipzig,Ambrosius Barth, 1895, Nachdruck Darmstadt, Wiss. Buchges., 1987.12 Es ist wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert, dass diese Vorstellung in den Händen Keplersnoch für die Physik fruchtbar und zukunftsweisend gewesen war. Kepler hatte die Gezeiten im Ge-gensatz zu Galilei, der sie durch die Erddrehung begründen wollte und glaubte, damit umgekehrteinen Beweis für die Erddrehung und somit für die Richtigkeit des kopernikanischen Systems ge-funden zu haben (allerdings mit dieser Erklärung seinem eigenen Relativitätsprinzip widersprach),auf die Einwirkung des Mondes zurückgeführt, also auf eine Wirkung über eine räumliche Distanzhinweg. Wäre dieser Gedanke nicht akzeptiert worden, wäre auch das großartige System Newtonsnicht möglich gewesen. Als dann aber die allgemeine Annahme der NewtonschenTheorie die Hin-terfragung dieses Gedankens erschwerte, wurde auch der weitere Fortschritt der Physik behindert.

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zu einer theologischen Pirouette. Während die heliozentrische Vorstellung des Koperni-kus von Martin Luther direkt aufs Heftigste zurückgewiesen wurde, und sich Papst UrbanVIII nach langem Zögern schließlich auch zu einer Verurteilung des Galilei entschloss,wurde der Newtonsche Gedanke, dass die in der Gravitation zum Ausdruck kommendenFernwirkungen ein Beweis für die göttliche Steuerung des Weltgeschehens sei, von demaufgeklärteren Christentum Englands gerade als glanzvolleWiderlegung der als atheistischangesehenen Vorstellungen des Cartesius angesehen, der in seiner physikalischen Theo-rie versucht hatte, auch die Gravitation durch die Wirbelbewegungen von sich berühren-den und gegenseitig beeinflussenden Materiepartikeln, also durch direkten physikalischenKontakt statt durch Fernwirkungen und damit auch ohne eine irgendwie geartete göttlicheVermittlung zu erklären.13 Aber auch wenn die theologischeWendung, die Newton damitder Sache gegeben hatte, in England seinerzeit viel Zuspruch fand, war dies natürlich einewissenschaftliche Sackgasse.

Ein zentraler Aspekt der nachfolgenden Ideengeschichte und damit auch ein gewisserLeitfaden unserer Darlegungen ist, wie dieses Problem der räumlichen Vermittlung vonKräften über das aus der Elektrodynamik entstehende Konzept des Feldes, welches dieFern- durch eine Nahwirkung ersetzt, schließlich über die Riemannsche Neukonzeptiondes Raumes und seiner Eigenschaften und näheren Bestimmungen zum Gedanken derAllgemeinen Relativitätstheorie Einsteins einer dynamischen Wechselwirkung zwischenRaum undMaterie führt.

Die zeitabhängigen Positionen dieser NewtonscheMassenpunkte ließen sich durch car-tesische Koordinaten beschreiben, also durch auf drei zueinander senkrecht stehendenKoordinatenachsen abgetragene Zahlen. Somit war durch den mittels cartesischer Koor-dinaten parametrisierten euklidischen Raum ein festes Referenzsystem für alle physika-lischen Prozesse gewonnen. Für Newton bekam der – stets euklidisch gedachte – Raumdadurch auch ontologische Priorität gegenüber den Dingen, und Newton fasste ihn dannals Attribut Gottes auf, als Ausdruck von dessen Allgegenwart.14 Dieser absolute RaumNewtons wurde vonGottfriedWilhelm Leibniz (1646–1716) scharf kritisiert.15 Leibniz sahräumliche Beziehungen als Relationen zwischen Dingen an und gelangte auf diese Weise

13 s. z. B. Koyré, Geschlossene Welt, loc. cit.14 DieVorstellung des Raumes als Ausdruck derAllgegenwartGottes war schon von demCambridgerPlatoniker und Freund Newtons Henry More (1641–1687) und diejenige der Zeit als Ausdruck derEwigkeit und ständigen Präsenz Gottes von Isaac Barrow (1630–1677), dem Kollegen Mores undLehrer, Kollegen und Freund von Newton entwickelt worden. Vgl. die Darstellung in E. A. Burtt,The metaphysical foundations of modern science, Mineola. Dover, 2003 (Nachdruck der 2. Aufl. von1932). Raum und Zeit wurden für Newton sogar die Sensorien Gottes, und von hier aus lag danneine Charakterisierung Gottes als Selbstwahrnehmung der Wirklichkeit nahe. Auf derartige spätereEntwicklungen kann hier allerdings nicht eingegangen werden.15 s. die berühmten Streitschriften zwischen Leibniz und dem Newtonanhänger Samuel Clarke(1675–1729), z. B. in G. W. Leibniz,Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Teil I, p.81–182,übersetzt von A. Buchenau, hrsg. von E. Cassirer, Hamburg, Meiner, 1996 (Neuausgabe der 3. Aufl.von 1966).

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zu einem relativen Raumbegriff.16 Er konnte allerdings das Newtonsche Gegenargument,dass man an Rotationsbewegungen von Flüssigkeiten die physikalischeWirkung des abso-luten Raumes demonstrieren könne, nicht entkräften (dies gelang erst im 19. JahrhundertErnst Mach (1838–1916), der diese physikalischen Phänomene durch die gravitativen Ef-fekte des Fixsternhimmels erklärte17). Auch wenn die Leibnizschen Überlegungen viel fürdie Physik Zukunftsweisendes enthielten (z. B. Kontinuitätsprinzip und Nahwirkung oderdie Erhaltung der Energie), behauptete die Newtonsche Physik seinerzeit wegen ihres denLeibnizschen Konzepten überlegenen Kraftbegriffes das Feld. Überhaupt war es ein Leitge-danke Newtons, dass sich die wahren geometrischen Sachverhalte in den Wirkungen vonKräften ausdrücken. Dass die Sonne im Zentrum des Planetensystems steht, erkennen wirdaran, dass sie durch ihre Anziehungskraft die Planeten in ihren Bahnen hält. Newtonsmathematische Formulierung des Gravitationsgesetzes wurde zum Leitbild einer physika-lischen Theorie schlechthin, auch wenn der dahinterstehende Raumbegriff problematischwar und Newton selbst sich bei dem Konzept der Fernwirkung, der Wirkung der Anzie-hungskraft durch den leeren Raum hindurch auf entfernte Objekte, unbehaglich fühlte.18

Das Konzept der Fernwirkung wurde, wie schon erläutert, später durch die auf der infinite-simalen Ausbreitung vonWirkungen beruhenden Feldtheorien von Faraday und Maxwellabgelöst. In diesen Theorien ging es um den Elektromagnetismus, also eine andere physi-kalische Kraft als die Gravitation, aber die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins stelltedann eine Feldtheorie der Gravitation dar.

Es war jedenfalls ein bedeutender Fortschritt, dass sowohl Leibniz als auch Newton ge-gen Aristoteles und Descartes die begriffliche Trennung von Raum und Körper vollzogen,endgültig, wie es damals schien. Aber auch diese begriffliche Separation wird durch dieAllgemeine Relativitätstheorie in gewisser Weise wieder aufgehoben.

16 Für eine grundlegendeDarstellung undAnalyse des LeibnizschenRaumbegriffs imKontext seinerPhilosophie verweise ich aufVincenzoDeRisi,Geometry andMonadology. Leibniz’Analysis Situs andPhilosophy of Space, Basel etc., Birkhäuser, 2007, S. 283–293. Die strukturellen Überlegungen vonLeibniz gingenweit über denDiskussionsstand seinerZeit hinaus, hatten aber,weil nicht systematischpubliziert und von seinen Zeitgenossen nicht richtig verstanden, keinen nachhaltigen Einfluss.17 Aber auch dieses Machsche Argument lieferte nicht die endgültige Erklärung. Diese wurde erst inder Allgemeinen Relativitätstheorie geliefert, wie unten noch genauer erläutert wird.18 Newton selber untersagte sich in den „Principia“ die Frage nach der Ursache der Gravitation.Gemäß seiner empiristischen Einstellung wollte er durch sorgfältige Beobachtung der Phänomeneinduktiv zu Gesetzmäßigkeiten vordringen, die dann in mathematischer Formulierung und mit ma-thematischen Methoden die empirisch überprüfbare Vorhersage weiterer Phänomene erlaubte. Indiesem Sinne ist sein berühmtes „Hypotheses non fingo“ zu verstehen. Allerdings stellte er an an-deren Stellen durchaus Spekulationen über einen die Gravitation und andere physikalische Kräftevermittelnden Äther an, s. E. A. Burtt, loc. cit.

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2.2 Kants Philosophie des Raumes

Die Newtonsche Physik und die Leibnizsche Ontologie waren dann auch der Ausgangs-punkt für Immanuel Kant. Kant wollte eine philosophische Begründung der NewtonschePhysik liefern. Er entkräftete den Gegensatz zwischen dem rein relationalen Raumver-ständnis Leibniz’ und dem absoluten Raum Newtons, indem er den Raum nicht mehrder Dingwelt zuschlug, sondern als Anschauungsform ins erkennende Subjekt verlegte.19

Der Raum wird bei Kant als Möglichkeit des Nebeneinander zu einer Voraussetzung derErkenntnis. Der Raum ist für Kant in diesem Sinne empirisch real, aber transzendentalideal, weil er nicht den Dingen an sich selbst zu Grunde liegt. Kant geht dann noch einenwesentlichen Schritt weiter und betrachtet Aussagen über den Raum als synthetische Ur-teile a priori, d. h. vor jeder Erfahrung liegende (und umgekehrt Erfahrung überhaupterst ermöglichende) Konstruktionen des erkennenden Subjektes. Dass die Konstruktio-nen synthetisch sind, bedeutet, dass sie nicht einfach aus einer Analyse des Raumbegriffesgewonnen werden können, sondern autonome Setzungen sind. Diese synthetischen Urtei-le a priori schließen bei Kant die Axiome der euklidischen Geometrie ein. Damit arbeitetKant gegen Leibniz und Wolff (1679–1754) den axiomatischen Charakter der Geometrieheraus, dass also die Geometrie echte Axiome20 hat und dass die Sätze der Geometrienicht analytisch aus Definitionen gewonnen werden können. Für diese wesentliche undvon der Mathematik akzeptierte Einsicht waren vermutlich auch die Kontakte Kants zudem Mathematiker Lambert, einem Vorläufer der nichteuklidischen Geometrie, hilfreich.Insbesondere ist die euklidische Geometrie für Kant nicht logisch notwendig.

Darüberhinaus betont Kant den konstruktiven Charakter der Geometrie und leitethieraus dann die Einzigartigkeit der dreidimensionalen euklidischen Geometrie als an-schaulich konstruierbar ab. Ob die euklidische Geometrie damit nach Kants Ansichtdenknotwendig wird, ist ein vieldiskutierter Punkt von zentraler Bedeutung in der Kant-interpretation. Riemanns Schrift weist nämlich implizit auf, dass die Annahmen dereuklidischen Geometrie nicht denknotwendig sind, sondern spezifische geometrischeHypothesen darstellen, und Helmholtz macht diesen Punkt zum Kern seiner erkennt-nistheoretischen Argumentation. Die orthodoxen Kantianer lehnten daher zunächst dieÜberlegungen von Riemann und Helmholtz ab.21 Weil aber dann die Haltlosigkeit dieser

19 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, in: ders., Werkausgabe Bd. III/IV, hrsg. v. W.Weischedel, Frankfurt, 197720 wobei Axiome hier allerdings nicht im modernen, durch Hilbert geprägten Sinne als willkürlicheSetzungen zu verstehen sind21 In diesem Zusammenhang kann es nur zur Verwirrung beitragen, wenn Paul Franks im vonBrian Leiter und Michael Rosen herausgegebenen Oxford Handbook of Continental Philosophy, Ox-ford etc., Oxford Univ. Press, 2007, S. 243–286 (zu Helmholtz insbesondere S. 269–276), Helmholtzals Neo-Kantianer klassifiziert, denn die sog. Neo-Kantianer waren gerade neben den von ihmso bezeichneten Nativisten wie Hering seine wichtigsten philosophischen Widersacher. In diesemKontext erwähnenswert ist G. Schiemann, Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner

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2.2 Kants Philosophie des Raumes 17

Position allmählich immer klarer wurde, bemühte man sich später, die Argumente vonRiemann und Helmholtz in das kantianische System einzubauen.22

Weil dies ein wichtiger Aspekt der Rezeptionsgeschichte ist, ist es erforderlich, die An-sicht Kants etwas genauer darzustellen. Es handelt sich hierbei um die in der Kritik derreinen Vernunft entwickelte Theorie des Raumes; es ist zu bemerken, dass Kant seine Auf-fassung vom Raum im Laufe seines Lebens mehrfach geändert hat, immer ringend umdas Verhältnis zwischen der Newtonschen Physik mit ihrem absoluten Raumbegriff undder Leibnizschen Ontologie, die das Sein des Raumes nur als das Sein einer Relation undfolglich als nicht real, sondern als ideal fasst, wobei beide diese Diskussion noch mit theo-logischenAspekten vermengen. In seiner frühen Schrift „Gedanken von der wahren Schät-zung der lebendigen Kräfte“ stellt Kant die These einer Beziehung zwischen den im Raumwaltenden Kräften und seiner geometrischen Struktur auf, insbesondere zwischen demGravitationsgesetz und der Dreidimensionalität des Raumes, und zieht auch die Möglich-keit höherdimensionaler Räume in Betracht.23

In seiner Dissertation argumentiert Kant dann aber für die ontologische Priorität desRaumes gegenüber den sich in ihm befindenden Dingen.24 Er verwendet hierfür das Bei-spiel der linken und rechten Hand (oder einer Hand und ihres Spiegelbildes, oder eineslinken und eines rechten Handschuhs, oder eines linksdrehenden und eines rechtsdre-henden Schraubengewindes), die in sich gleichartig – in heutiger mathematischer Ter-minologie zueinander isomorph – sind, aber sich dadurch voneinander unterscheiden,dass sie nicht im Raume zur Deckung gebracht werden können, was nach Kant bedeu-tet, dass ihre Eigenschaften nicht vollständig aus sich selbst bestimmt sind, sondern dassihnen eine wichtige Eigenschaft, die Händigkeit, erst vom Raume zugewiesen wird. Derletzte und für Kants Zwecke wichtige Teil des Argumentes lässt sich allerdings nicht hal-ten, wofür aber eine vertiefte Einsicht in die Struktur des Raumes erforderlich ist, die Kantnoch nicht zur Verfügung stand. Um dies zu verstehen, betrachten wir die um eine Di-mension reduzierte Version eines linken und eines rechten Handabdrucks in der euklidi-schen Ebene. Diese Figuren können ebenfalls nicht durch eine Bewegung in der Ebene

Naturphilosophie. Darmstadt, Wiss. Buchges., 1997. Schiemann arbeitet insbesondere heraus, wiesich Helmholtz’ Ansatz einer Begründung der Erfahrung in den Voraussetzungen physikalischerMessungen von dem kantianischen Ausgangspunkt des erkennenden Subjektes unterscheidet, unduntersucht die systematischen Wandlungen, die Helmholtz’ Naturphilosophie im Laufe seines Le-bens erfährt. Man vgl. auch einige Aufsätze in dem Sammelband David Cahan (Hrsg.), Hermannvon Helmholtz and the foundations of nineteenth-century science, Berkeley etc., Univ. California Press,1993.22 s. Referenzen unten bei der Rezeptionsgeschichte23 Dies hatte auch Leibniz schon getan, s. De Risi, loc. cit., der sich dann bemühte, die Dreidimen-sionalität des Raumes zu beweisen.24 Immanuel Kant, Von dem ersten Grunde der Unterschiede der Gegenden im Raume, 1768, in: ders.,Vorkritische Schriften bis 1768, Werkausgabe Bd. II, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt, 1977, S. 991–1000; das Beispiel wird wieder aufgegriffen in ders., Prolegomena zu einer jeden künftigenMetaphysikdie alsWissenschaft wird auftreten können, 1783, in: ders., Schriften zurMetaphysik und Logik 1,Werk-ausgabe Bd. V, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt, 1977, S. 111–264, §13

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18 2 Historische Einführung

(oder in anderer Interpretation durch eine Bewegung der Ebene) ineinander überführtwerden. Dies ist aber gerade keine Eigenschaft der beiden Figuren, sondern liegt an dertopologischen Struktur der Ebene. Wenn wir einen ebenen Streifen (in welchem sich diebeiden betrachteten Figuren befinden mögen) zu einem Möbiusband zusammenkleben,so wird es möglich, in diesem neuen geometrischen Raum die beiden Figuren ineinan-der zu überführen. Der Unterschied zwischen der Ebene und demMöbiusband, die beide,wie unten erläutert, die gleiche innere Geometrie haben, denn die Figuren werden beider Herstellung des Möbiusbandes in keiner Weise verzerrt, besteht darin, dass letzteresnicht orientierbar ist. Dies bedeutet, dass nicht mehr in konsistenter Form eine Händig-keit ausgezeichnet werden kann, und es verschwindet somit der geometrische Unterschiedzwischen den beiden Figuren. Eine andere Möglichkeit, die beiden Figuren zur Deckungzu bringen, ergibt sich, wenn wir von der Ebene in den umgebenden Raum ausweichenund einfach die Figuren umklappen können. Es handelt sich dabei geometrisch um ei-ne Spiegelung der Ebene an einer Geraden, eine Operation, die nicht als kontinuierlicheBewegung in der Ebene, sondern nur als Bewegung im dreidimensionalen Raum vollzo-gen werden kann. Wenn wir also entweder dem Raum seine Orientierung nehmen oderihm eine Dimension hinzufügen, wird die Bewegung der linken in die rechte Figur mög-lich, und links und rechts hören auf, Eigenschaften der Figuren zu sein. Analoges ist imdreidimensionalen Raum möglich. Man kann wie das Möbiusband auch mathematischeinen dreidimensionalen nichtorientierbaren Raum mit lokaler euklidischer Geometriekonstruieren, und man kann auch vom dreidimensionalen zum vierdimensionalen Raumübergehen, um eine linke in eine rechten Hand durch eine Bewegung im Raum über-führen zu können. Die Händigkeit ist also keine absolute Eigenschaft der geometrischenObjekte, die ihnen durch den Raum zugewiesen wird, sondern die Möglichkeit, eine Un-terscheidung nach Händigkeit zu treffen, ist eine topologische Eigenschaft des Raumes.25

In Kants Beispiel wird dann diese Eigenschaft des Raumes durch Beobachtungen an imRaum befindlichen Gegenständen festgestellt, wodurch gerade die ontologische Prioritätdes Raumes in Frage gestellt wird.26 DieKlärung dieses Sachverhaltes wurde aber erst durchdie geometrischen Erkenntnisse vonGauß (1777–1855) undRiemannmöglich. Gauß27 ar-gumentierte jedenfalls schon gegen Kant, dass die von Kant selbst gemachte Bemerkung,dass wir „unsere Anschauung dieses Unterschiedes“ (i. e., zwischen links und rechts) „an-deren nur durch Nachweisung an wirklich vorhandenen materiellen Dingen mittheilenkönnen“ gerade beweise, „dass der Raum unabhängig von unserer Anschauungsart einereelle Bedeutung haben muss“. Dieses Argument richtet sich aber nicht (oder nicht nur)gegen die ontologische Priorität des Raumes vor den Dingen, sondern gegen die in der Kri-

25 s. z. B. Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, München, 6. Aufl.,1990, S. 108.26 Für einen Vergleich der Positionen von Leibniz und Kant zu dieser Frage und einen neuerenÜberblick über die diesbezügliche Literatur verweisen wir auf Vincenzo De Risi, Geometry and Mo-nadology. Leibniz’ Analysis Situs and Philosophy of Space, Basel etc., Birkhäuser, 2007, S. 283–293.27 Carl Friedrich Gauß, Werke, Göttingen, 1870–1927, Nachdruck Hildesheim, New York, 1973;Bd. II, S. 177

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2.2 Kants Philosophie des Raumes 19

tik der reinen Vernunft entwickelte Lehre vom Raum als der reinen Anschauungsform deräußeren Sinnes, die eine wesentliche Veränderung gegenüber der Dissertation darstellt.„Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungenzum Grunde liegt“, denn man kann sich zwar einen Raum ohne Dinge vorstellen, abernicht, dass es keinen Raum gibt. Der Raum ist eine Anschauung, kein Begriff, da sich ausihm nicht offensichtliche Schlussfolgerungen, die geometrischen Sätze, ziehen lassen.28 Eshandelt sich um eine reine, nicht empirische Anschauung, weil „die geometrischen Sät-ze [. . . ] apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden“ sind, wieinsbesondere die Dreidimensionalität. Ein Beispiel, auf welches wir unten noch zurück-kommen werden: „Daß die gerade Linie zwischen zweien Punkten die kürzeste sei, ist einsynthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von Größe, sondernnur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durchkeine Zergliederung aus dem Begriffe der geraden Linie gezogen werden. Anschauungmuß also hier zu Hülfe genommen werden, vermittelst deren allein die Synthese mög-lich ist.“29

Insbesondere ist diemathematischeAnschauungnicht empirisch: „. . . liegen unsern rei-nen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde . . .Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren und bedeuteteine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume.“30

Da diese Anschauung nicht empirisch ist, muss sie im erkennenden Subjekt selbst liegen.Die Notwendigkeit der geometrischen Sätze kommt daher aus dem erkennenden Subjekt,als Voraussetzung der Möglichkeit, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in einem Ne-beneinander zu ordnen, und insofern sind die Sätze der euklidischen Geometrie nichtlogisch notwendig. Für Kant ist die euklidische Geometrie aber dadurch ausgezeichnet,dass sie anschaulich konstruierbar ist. Wir Menschen stellen uns daher notwendigerwei-se den Raum als euklidisch vor. Das nachfolgende Beispiel Kants bringt dies deutlich zumAusdruck: „So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossenist, kein Widerspruch, denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammen-stoßung enthalten keine Verneinung einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nichtauf dem Begriffe an sich selbst, sondern der Konstruktion desselben im Raume, d. i. denBedingungen des Raumes und der Bestimmung desselben, diese haben aber wiederum ih-re objektive Realität, d. i. sie gehen auf mögliche Dinge, weil sie die Form der Erfahrungüberhaupt a priori in sich enthalten“.

Die Kantinterpretation war allerdings in diesen Punkten durchaus schwankend. Zumeinen liegt das natürlich daran, dass Kant selber seine Ansicht mehrmals geändert hat

28 Dass sich aus mathematischen Axiomen Schlussfolgerungen ziehen lassen, die nicht offensicht-lich sind, ist ein zentralesThema der Philosophie der Mathematik. Die platonisch geprägten Ansätzesehen daher in der Mathematik eine Möglichkeit zur Schau ewiger Wahrheiten. Weyl, Philosophie,arbeitet dagegen den konstruktiven und kreativen Charakter der Mathematik heraus.29 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Einleitung, S. 38 (Hervorhebung im Original)30 Ebd., S. 136

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20 2 Historische Einführung

und die entscheidenden Stellen in der Kritik der reinen Vernunft Begriffe verwenden, dieerst im Kontext späterer Stellen erhellen. Zum anderen bereitete es den Kantianern nichtunbeträchtliche Schwierigkeiten, eine Interpretation einschlägiger Stellen bei Kant zu ent-wickeln, die im Einklang mit späteren mathematischen und physikalischen Erkenntnissenstand.

2.3 Der euklidische Raum als Grundmodell

Wir wollen nun einige der dargestellten Entwicklungen noch einmal im Hinblick auf dasRiemannsche Werk einordnen, also die historische zugunsten einer konzeptionellen Sys-tematik verlassen. In der Geometrie Riemanns und ihrer späterenWeiterentwicklung wirdzwar einerseits die Priorität des euklischen Raumes aufgegeben, aber andererseits genießtdieser weiterhin eine gewisse Sonderstellung als Bezugsmodell. Eine Riemannsche Geo-metrie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie infinitesimal, im Unendlichkleinen, euklidischist (aber nicht mehr notwendigerweise lokal, wegen der Möglichkeit der Krümmung, undnicht mehr im Großen, wegen der Möglichkeit andersartiger topologischer Verhältnis-se). Die Krümmung misst die lokale Abweichung vom euklidischen Modell. Die Krüm-mung ist dadurch normalisiert, dass demeuklidischenRaumdieKrümmungNull zugewie-sen wird.31 Nach dieser Vorwegnahme eines grundlegenden Konzeptes der RiemannschenGeometrie wollen wir noch einmal zu der Frage zurückkehren, wie der euklidische Raumhistorisch diese Rolle eines Nullmodells gewinnen konnte. Hier fließen wieder verschiede-ne Entwicklungsstränge zusammen.

1. Wir hatten schon die Herausarbeitung der auf der euklidischen Geometrie beru-henden der Linearperspektive in Theorie und Praxis der Malerei der Renaissancedargestellt, welche wiederum auf den euklidisch vorgestellten Ausbreitungsgesetzenvon Lichtstrahlen beruhte. In der dahinterstehenden Konzeption der Projektion deseuklidischen Raumes auf eine Ebene werden parallele Geraden als sich im Unend-lichen treffend vorgestellt, und ein solcher unendlichferner Schnittpunkt, also einBündel paralleler Geraden, wird im Fluchtpunkt zusammengezogen.

2. Wir hatten ebenfalls erläutert, wie sich die Vorstellung des euklidischen Raumes alsTräger physikalischer Prozesse anhand der Entwicklung der Gravitationstheorie her-ausgebildet hatte. Wir wollen dies noch einmal aufgreifen, weil es für ein vertieftes Ver-ständnis der Grundlagen auch der mathematischen Entwicklung wesentlich erscheint.Das Trägheitsgesetz besagt, dass sich ein Körper, auf den keine äußeren Kräfte ein-wirken, unbeschleunigt und daher insbesondere geradlinig im mathematisch als eu-klidisch und physikalisch als leer vorgestellten Raum bewegt. Es ist nun wichtig, sichklarzumachen, dass eine solche Situation eigentlich unphysikalisch ist, denn physikali-

31 Der euklidische Raum wird auch als „eben“ bezeichnet, und das Wort „Krümmung“ soll dannsprachlich gerade die Abweichung von dieser ebenen, geraden Gestalt zum Ausdruck bringen.

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2.3 Der euklidische Raum als Grundmodell 21

scheProzesse sind ihrerNatur nachWechselwirkungen zwischenKörpern. So hatte sichauch Galilei noch geweigert, eine solche Konstellation zur Grundlage seiner physikali-schenTheorie zumachen. In seinenModellen legt er (in späterer Sprechweise, daGalileinatürlich noch keine Gravitationstheorie besaß) eine ansonsten kräftefreie Bewegungin einem zentralen Gravitationsfeld zugrunde. Er war also nicht bereit, Körper, auf diekeine gravitativen Kräfte wirken, als Grundsituation anzuerkennen, weil solche Körpereben keine physikalische Realität besitzen.32 Daher ersetzt er in seiner Argumentati-on auch häufig die unendliche (euklidische) Ebene durch eine sphärische Fläche, aufwelcher sich ein nur einer zentralen Schwerkraft ausgesetzter Körper ansonsten kräfte-frei bewegt. Ein entscheidender Schritt, den Galilei in letzter Konsequenz zu vollziehennicht bereit war, bestand also darin, eine physikalische Situation als Abweichung voneinem unphysikalischen Nullmodell zu konzipieren.Newton dagegen hatte dann, wie dargelegt, gerade diesem Nullmodell eine ontologi-sche Realität als absoluter Raum zugeschrieben.

3. Da der euklidische Raum dann auch als physikalisch leer gedacht werden kann, wirder physikalisch auch zumVakuumraum, oder zummathematischen Substrat des Vaku-ums. Die Frage nach der Möglichkeit des Vakuums rührt nun ebenfalls an die Grund-lagen der physikalischen Theorie, und, wie skizziert, haben beispielsweise sowohl Ari-stoteles als auch Descartes das Vakuum abgelehnt, weil mit ihren physikalischenTheo-rien nicht kompatibel. Descartes scheiterte als Physiker insbesondere auch deswegen,weil seine mathematischen Konzepte nicht mit seinen physikalischen Vorstellungenzusammenpassten. Seine große mathematische Leistung bestand in der Einführungdes cartesischen Koordinatenraumes zur systematischen Beschreibung und Darstel-lung algebraischer Gleichungen.33 Dieser Raum ermöglichte dann später auch die sys-tematische Behandlung funktionaler Zusammenhänge durch cartesische Graphen. Derdreidimensionale cartesische Raum ist ein euklidischer Raum, in welchem die Positioneines Punktes durch drei auf zueinander senkrechten Koordinatenachsen abgetrageneZahlenwerte bestimmt wird.34

32 Alexandre Koyré, Etudes galiléennes, Paris, Hermann, 1966, versucht deshalb, Galilei die Erkennt-nis des Trägheitsgesetzes abzusprechen, auchwenn dieses Gesetz in den von ihm zitierten Stellen beiGalilei und seinen Nachfolgern Cavalieri (1598–1647) und Torricelli (1608–1647) und bei Gassendi(1592–1655)mehrfach implizit vorausgesetzt und auch explizit ausgesprochenwird. Er hat dies eben,im Gegensatz zuNewton, nur nicht zur Grundlage seiner physikalischenTheorie gemacht, weil er ei-ne Bewegung ohne Gravitation, also ohne den Einfluss anderer Körper als unphysikalisch angesehenhat.33 Die cartesischen Koordinaten sind allerdings nur implizit in der Geometrie des Descartes ange-legt und werden von ihm noch nicht explizit konzipiert. Weil Descartes aber die konzeptionellenGrundlagen legt, ist es trotzdem gerechtfertigt, diese Koordinaten nach ihm zu benennen. Siehe bei-spielsweiseMariano Giaquinta, La forma delle cose, Roma, Edizioni di Storia e Letteratura 2010, oderA. Ostermann, G. Wanner, Geometry by Its History, Berlin, Heidelberg, Springer, 2012.34 Wie wir unten noch darlegen werden, ist das eigentliche logische Verhältnis aber eher umgekehrt:Man gewinnt die metrische Struktur des euklidischen Raumes, indem man auf jeder Koordinaten-achse eines cartesischen Raumes die Beträge von Koordinatendifferenzen als Abstände interpretiert

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22 2 Historische Einführung

Der cartesischeRaumeignet sich also eigentlich vorzüglich zur Beschreibung desVaku-ums, zumindest wenn man, wie seinerzeit implizit angenommen, davon ausgeht, dassdies die topologischen und dimensionalen Verhältnisse des Vakuums richtig erfasst.35

Die Physik vonDescartes beruhte dagegen aufmechanischenWechselwirkungen durchStöße. Daher war also für ihn im Vakuum keine Physik möglich. Galilei dagegen stehtin der Traditionslinie des Atomismus, der bekanntlich schon im Altertum von Leukipp(5. Jhdt. v. Chr.), Demokrit (ca. 460–370 v. Chr.) und Epikur (341–270 v. Chr.) entwi-ckelt worden war (allerdings mehr als naturphilosophische Spekulation ohne konkretephysikalische Grundlage), und für ihn ist das Vakuum daher unproblematisch. DieNewtonscheTheorie warf dann, wie dargelegt, die Frage auf, inwiefern der leere RaumTräger physikalischer Kräfte sein kann.

4. Der euklidische Raum ist nicht nur leer, sondern auch unbegrenzt und unendlich. DerUnterschied zwischen diesen beiden Eigenschaften wurde wiederum erst durch Rie-mann geklärt, der darlegte, dassMannigfaltigkeiten durchaus unbegrenzt sein können,ohne unendlich sein zu müssen (in heutiger Terminologie wären dies geschlossenekompakte Mannigfaltigkeiten wie beispielsweise die Kugeloberfläche und deren höher-dimensionale Analoga, s. die untenstehenden Erläuterungen zu Riemanns Text). DieUnendlichkeit des Raumes ist ebenfalls lange aus naturphilosophischen und theolo-gischen Erwägungen abgelehnt worden, von Aristoteles bis noch zu Kepler. Die Vor-stellung eines unendlichen Raumes wurde von Nikolaus von Kues (1401–1464) vor-bereitet und von Giordano Bruno emphatisch als Befreiung aus der Beschränktheit desmittelalterlichen Weltbildes begrüßt.36 Es ist dann bemerkenswert, dass ein solcher un-endlicher Raum das Bezugsmodell auch für endliche Räume (kompakte RiemannscheMannigfaltigkeiten) werden kann.

5. Die von Leibniz und Newton eingeführte Differentialrechnung kann als lineares Ap-proximationsschema für möglicherweise nichtlineare Prozesse angesehen werden. EinProzess ist also in dieser Konzeption infinitesimal linear, und die lineare Struktur ineinem gegebenen Zeitpunkt t wird durch die Ableitung in t festgelegt. Lokal dagegenweicht der Prozess aufgrund von Wechselwirkungen von dieser linearen Approxima-

und die verschiedenen Koordinatenachsen als zueinander senkrecht deklariert. Der euklidischeRaum besitzt also eine metrische Struktur, die in dem cartesischen Konzept als solchem nochnicht vorhanden ist, während der cartesische Raum eine Koordinatenfestlegung besitzt, die im eu-klidischen Konzept nicht vorausgesetzt ist. Die klare Trennung von geometrischen Sachverhaltenund ihren verschiedenen Beschreibungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Koordinatensystemenist dann gerade eine der wesentlichen Leistungen Riemanns.35 Die Frage, ob es berechtigt ist, dem Vakuum die geometrische Gestalt des euklidischen Raumeszuzuschreiben, führt in die moderne Physik, welche erst weiter unten dargestellt wird.36 S. hierzu Alexandre Koyré, From the closed world to the infinite universe, Baltimore, Johns Hop-kins Press, 1957, deutsche Übersetzung: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum,Frankfurt/M., Suhrkamp, 1969. Bemerkenswerterweise geht die heutige Kosmologie wieder von ei-nem endlichenKosmos aus, u. a. deswegen, um die EntstehungdesUniversums aus einem singulärenAnfang, dem Urknall, „erklären“ zu können, also die historische Dimension gegenüber einem zwarunendlichen, aber dafür statischen Universum zurückzugewinnen.

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2.4 Die Entwicklung der Geometrie: nichteuklidischeGeometrie und Differentialgeometrie 23

tion ab. Die Differentialrechnung, die also ursprünglich zur Analyse zeitlicher Prozesseentwickelt worden war, wird insbesondere in den Händen Leonhard Eulers (1707–1783), also desjenigen Mathematikers, der das 18. Jahrhundert dominiert hat, zu einemallgemeinen Werkzeug zur Approximation auch statischer Strukturen. Die Differenti-algeometrie und insbesondere die Riemannsche Geometrie werden dann insbesondereein allgemeines räumliches Gebilde als infinitesimal linear ansetzen und die lokale Ab-weichung in der Nähe eines gegebenen Punktes p von einer linearen Approximationdurch dieKrümmungdes Raumes in p quantifizieren.Der euklidisch-cartesischeRaumist dann dadurch ausgezeichnet, dass er global und nicht nur infinitesimal eine lineareStruktur trägt (er ist ein Vektorraum in moderner mathematischer Terminologie). So-mit wird er also wieder zum Modellraum, mit dem ein allgemeiner Raum verglichenwerden kann.37 Außerdem wird Riemann die globale Koordinatisierung des cartesi-schenRaumes in die lokaleKoordinatenbeschreibung einerMannigfaltigkeit (ein untenerläutertes Riemannsches Konzept) überführen. Koordinaten werden somit statt einerontologischen Grundlage zu einer konventionellen Beschreibung geometrischer Sach-verhalte und physikalischer Prozesse. Dies wiederum wird dann in die Grundfrage dereinsteinschen Relativitätstheorie münden, die von der jeweiligen Koordinatenwahl un-abhängigen geometrischen und physikalischen Gegebenheiten zu identifizieren. DieRegeln für die Transformation zwischen verschiedenen Koordinatenbeschreibungen,die insbesondere von den Nachfolgern Riemanns systematisch entwickelt wurden, unddie Riemannsche Idee der Krümmungsinvariantenwerden Einstein dasmathematischeFundament liefern.

6. Der Hilbertraum der Quantenmechanik ist ein unendlichdimensionaler euklidischerRaum. Insbesondere trägt er eine euklidische Maßstruktur.

Nach diesem etwas längeren Vorgriff kehren wir nun aber wieder zur historischen Ent-wicklung vor Riemann zurück.

2.4 Die Entwicklung der Geometrie: nichteuklidische Geometrie undDifferentialgeometrie

Ein Leitproblem in der Entwicklung der Geometrie war das Parallelenproblem.Das 5. Postulat oder 11. Axiom Euklids besagt, „daß, wenn eine gerade Linie beim

Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehendeWinkel

37 Allerdings werden dann nach Riemann allgemeinere Raumkonzepte eingeführt, die diese Be-dingung der Approximierbarkeit durch einen euklidischen Raum aufgeben, beispielsweise die sog.topologischen Räume. Auch wird das Riemannsche Konzept der Mannigfaltigkeit später dahinge-hend entwickelt, dass nur noch sog. differenzierbare Mannigfaltigkeiten, aber nicht mehr beliebigeMannigfaltigkeiten dieseApproximierbarkeitsbedingung erfüllen. Damit wird der euklidische Raumdann endgültig seine Sonderrolle verlieren. Nähere Einzelheiten werden unten nach der Darstellungvon Riemanns Schrift präsentiert.

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24 2 Historische Einführung

zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlänge-rung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammenkleiner als zwei Rechte sind“.38 Die in einer äquivalenten Formulierung des euklidischenParallelenaxioms geforderte Existenz von genau einer zu einer gegebenen Gerade paralle-len Geraden durch einen nicht auf ersterer liegenden Punkt ist wiederum äquivalent dazu,dass die Winkelsumme in jedem Dreieck genau 180 Grad beträgt. Dieses Postulat nahmoffensichtlich eine Sonderstellung im Rahmen des euklidischen Werkes ein, und es stell-te sich daher die Frage, ob dies nicht aus den anderen Axiomen und Postulaten abgeleitetwerden könne, also nicht von diesen unabhängig wäre. Nach intensiven, aber letztlich ver-geblichen Versuchen, aus der Annahme, dass dieses Axiom nicht gelte, einenWiderspruchherzuleiten, und somit seine Abhängigkeit zu demonstrieren, reifte langsam die Erkennt-nis, dass auch eine zur euklidischen alternative Geometrie logisch möglich sei, in welcherdas Parallelenaxiom nicht gültig ist. Nach dem wichtigen Vorläufer Johann Heinrich Lam-bert (1728–1777) wurde dies unabhängig voneinander zunächst Carl Friedrich Gauß, derseine Erkenntnisse allerdings aus Angst vor dem Unverständnis seiner Zeitgenossen nichtöffentlich bekannt machen wollte, und dannNikolai I.Lobatschewsky (1792–1856) und Ja-nos Bolyai (1802–1860) in den Jahren vor 1830 klar.39

Die Begründer der nichteuklidischen Geometrie gelangten zu der Ansicht, dass die Fra-ge, welche Geometrie gültig sei, eine euklidische oder nichteuklidische, eine empirischewar, also durch Winkelmessungen in Dreiecken im Raum entschieden werden konnte.Selbst auf einer astronomischen Skala konnte aber seinerzeit im Rahmen der verfügbarenMessgenauigkeit keine Abweichung von der euklidischen Winkelsumme festgestellt wer-den.40

Der geometrische Ausgangspunkt Riemanns war aber nicht die nichteuklidische Geo-metrie, die Riemann anscheinend gar nicht zur Kenntnis genommen hatte,41 sondern dievon Carl Friedrich Gauß entwickelte Flächentheorie.42

Anlässlich der von ihm geleiteten Vermessung des Königreiches Hannover untersuchteGauß die Geometrie von Flächen im euklidischen Raum. Von weitreichender Bedeutung

38 zitiert nach Euklid,Die Elemente, Buch I–XIII, nachHeibergs Text aus demGriechischen übersetztund herausgegeben von Clemens Thaer, Darmstadt, 7. Aufl., 198039 deutsche Übersetzungen der entsprechenden Werke in Hans Reichardt, Gauß und die Anfängeder nicht-euklidischen Geometrie, Leipzig, 1985, englische Übersetzungen in Roberto Bonola, Non-Euclidean Geometry. A Critical and Historical Study of its Developments, Dover, 1955. Für weitereAngaben verweisen wir auf die Bibliographie.40 für Einzelheiten s. z. B. R. Torretti, Philosophy of Geometry from Riemann to Poincaré, Dordrecht,Boston, Lancaster, 1984, 63f, 38141 s. E. Scholz, Riemanns frühe Notizen zumMannigfaltigkeitsbegriff und zu den Grundlagen der Geo-metrie, Arch. Hist. Exact Sciences 27, 1982, 213–28242 C. F. Gauß, Disquisitions générales cira superficies curas. Commentationes Societatis Gottingen-sis, 1828, 99–146; Werke, Bd. 4, 217–258; deutsche Übersetzungen durch O. Böklen, 1884, und A.Wangerin, Leipzig, 1889, wiederabgedruckt in: Gaußsche Flächentheorie, Riemannsche Räume undMinkowski-Welt, hrsg. v. J. Böhm und H. Reichardt, Leipzig, 1984. S. auch Peter Dombrowski, 150years after Gauß’ “ Disquisitiones generales circa superficies curvas”, Astérisque 62, Paris, 1979

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2.4 Die Entwicklung der Geometrie: nichteuklidischeGeometrie und Differentialgeometrie 25

war seine Unterscheidung zwischen geometrischen Größen, die sich allein durch Mes-sungen auf der Fläche selbst bestimmen lassen, und solchen, zu deren Bestimmung auchMessungen außerhalb der Fläche im umgebenden Raum erforderlich sind, also die Un-terscheidung zwischen innerer und äußerer Geometrie von Flächen im Raum. Als funda-mentale Größe der inneren Geometrie identifizierte Gauß die dann nach ihm benannteGaußsche Krümmung, welcher Riemann dann eine neuartige Interpretation und weitrei-chende Verallgemeinerung gab. Ausgangspunkt für Gauß waren dabei zunächst Größender äußeren Geometrie, die sog. Hauptkrümmungen einer Fläche S in einem gegebenenPunkt P. Zu deren Bestimmung betrachtet man die Ebenen, die S in P senkrecht schnei-den. Der Schnitt zwischen einer solchen Ebene und S (auch Normalenschnitt genannt) istdann (in derNähe von P) eineKurve c auf S. Diese Kurve besitzt dann eine (mit Vorzeichengemessene) Krümmung k. Unter allen diesen Schnittkurven findet man dann eine kleinsteKrümmung k und eine größte Krümmung k.43 Diese beidenHauptkrümmungen hängeni. a. von der Gestalt der Fläche im Raum ab. Gauß leitet dann aber den bemerkenswertenSatz (sog. Theorema egregium) her, dass das Produkt K = k ⋅ k nicht mehr von dieserLage abhängt, somit eine Größe der inneren Geometrie ist. Insbesondere ist die GaußscheKrümmung damit eine biegungsinvariante Größe, ändert sich also nicht, wenn man dieFläche ohne Dehnungen oder Stauchungen verbiegt. Beispielsweise lässt sich ein Blatt Pa-pier zu einem Zylinder oder einer kegelförmigen Tüte aufrollen, und dies verändert nichtdie Gaußsche Krümmung, welche in diesem Falle 0 ist und bleibt. Eine Kugeloberflächehat dagegen positive Gaußsche Krümmung, und zwar ist die Krümmung umso größer, jekleiner der Radius der Kugel ist (K ist invers proportional zum Quadrat des Radius). Weildie Gaußsche Krümmung eine Biegungsinvariante ist, folgt aus den für Ebene und Kugelverschiedenen Werten von K also, dass sich eine ebene Fläche nicht dehnungsfrei in einekugelförmige Gestalt bringen lassen kann. Eine sattelförmige Fläche hat negative GaußscheKrümmung, weil in diesem Fall die beiden Hauptkrümmungen entgegengesetztes Vor-zeichen haben, da sich die beiden zugrundeliegenden Ebenenschnitte in entgegengesetzteRichtungen krümmen.44

Gauß hat dann auch eine Beziehung zwischen der Winkelsumme in einem Dreieckaus kürzesten Linien auf einer Fläche und dem Integral von K über dieses Dreieck auf-gestellt (theorema elegantissimum). Hier besteht dann ein direkter Zusammenhang zurnichteuklidischen Ebene. Diese ist nichts anderes als die innere Geometrie einer Flächekonstanter negativer Krümmung, und die Winkelsumme in einem Dreieck ist daher klei-ner als 180 Grad. Gauß selbst hat wohl diesen Zusammenhang schon gesehen, aber dessen

43 Dies wurde zuerst von Leonhard Euler (1707–1783) gezeigt, s. Opera omnia, Leipzig, Berlin,Zürich, 1911–1976, 1. Reihe, Bd. XXVIII, S. 1–22. Sofern nicht alle Normalenschnitte die gleicheKrümmung haben, sind diese beiden Schnittkurven mit extremaler Krümmung eindeutig festgelegtund schneiden einander in einem rechtenWinkel.44 Für eine moderne Darstellung s. beispielsweise J. Eschenburg, J. Jost, Differentialgeometrie undMinimalflächen, Heidelberg, Berlin, 2007

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26 2 Historische Einführung

wirklicheTragweitewird erst durchRiemann klar (obwohl dieser die nichteuklidischeGeo-metrie überhaupt nicht rezipiert hatte).

2.5 Die Entstehung von Riemanns Habilitationsvortrag

Riemann hatte sich zwar neben seinen eigentlichen mathematischen Forschungen viel mitnaturphilosophischen Spekulationen beschäftigt und dabei in vieler Hinsicht Mathematik,Physik und Naturphilosophie durchaus als Einheit aufgefasst,45 aber dass die Schrift, diehier vorgestellt wird, überhaupt zustande kam, verdankt sich vielleicht doch eher einemZu-fall. Wie auch heute noch üblich, musste Riemann der Fakultät für seine Habilitation dreiverschiedene Themen für eine Probevorlesung zur Auswahl angeben. Es war aber meistüblich, dass das erste Thema ausgewählt wurde. So wählte Riemann dann die ersten bei-den Themen nach seinen derzeitigen mathematischen Forschungsthemen und gab dannals drittesThema dasjenige zu den Grundlagen der Geometrie an. Zu seiner Überraschungwählte die Fakultät dann aber, wohl auf Betreiben von Gauß,46 das letzte Thema aus, unddie Vorbereitung seines diesbezüglichen Vortrages innerhalb der gesetzten Frist versetz-

45 Riemann berief sich dabei in seinen privaten Aufzeichnungen insbesondere auf den PhilosophenJohann Friedrich Herbart (1776–1841) und nennt diesen auch am Anfang seiner Schrift, s. ders.,Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge herausgegeben von Karl Kehrbach und Otto Flügel,19 Bde., Langensalza, 1882–1912, wiederabgedruckt Aalen, Scientia-Verlag, 1964, darin insbesonde-re Psychologie als Wissenschaft, 2 Teile, Bd. 5, 177–402, und Bd. 6, 1–339 (ursprünglich erschienen1824/25). Herbart wurde 1809 Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Königsbergund übernahm 1834 den Lehrstuhl für Philosophie in Göttingen. Er markiert den Umbruch vomIdealismus zum Realismus in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Er kritisiert Kant voneinem empiristischen und assoziationspsychologischen Ansatz aus. Das einzelne Seiende ist für ihneine Einheit, ein Merkmalsbündel, das durch das Zusammenkommen mit anderen verschiedene Ei-genschaften bekommt, welche sich in jeweils verschiedenenKontinua darstellen lassen. So ist Schneeweiß, wenn das Auge ihn sieht, kalt, wenn die Hand ihn berührt. Diese Kontinua können für ihnräumlich konzipiert werden. Er betont dabei insbesondere die geschichtliche Geworden- und Be-dingtheit des Raumbegriffes, der für ihn nach den gerade vorgestelltenÜberlegungen nur ein Beispieleiner „ continuierlichen Reihenfolge“ war. Das Verhältnis zwischen den VorstellungenHerbarts undden Konzepten Riemanns wird diskutiert in Benno Erdmann, Die Axiome der Geometrie. Eine phi-losophische Untersuchung der Riemann-Helmholtzschen Raumtheorie, Leipzig, Leopold Voss, 1877,pp.29–33, und Luciano Boi, Le problème mathématique de l’espace, Berlin, Heidelberg, Springer, 1995,pp.129–136. Erhard Scholz,Herbart’s influence on Bernhard Riemann, Historia Mathematica 9, 413–440, 1982, kommt dagegen zu dem Schluss, dass letztendlich der Einfluss der Gedanken Herbarts aufden RiemannschenMannigfaltigkeitsbegriff eher gering zu veranschlagen ist, auch wenn die Orien-tierung an allgemeinen PrinzipienHerbarts, wie dasjenige, das für jedenBereich derWissenschaft einHauptbegriff auszuarbeiten sei, oder dass die Vorstellungen wie Ton oder Farbe nicht nur quantitativverschieden sind, sondern auch in ihren KontrastenmathematischenGesetzmäßigkeiten unterliegenund daher mit denMethoden derMathematik untersuchtwerden sollten, Riemann durchaus geleitethaben kann. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Darstellung in Pulte, Axiomatikund Empirie, S. 375–388.46 s. das entsprechende Zitat aus der Dekanatsakte bei Laugwitz, Riemann, S. 218.

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te Riemann in einige Verlegenheit. Der Vortrag wurde am 10. Juni 1854 gehalten. Gauß,der sonst sehr schwer zu beeindrucken war, war von Riemanns Vortrag außerordentlichbeeindruckt.

Trotzdem konnte Riemann sich nicht zu einer Veröffentlichung entschließen; zu dieserkam es erst posthum im Jahre 1868 durch Richard Dedekind.