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VeRLag otto SagneR Anja Gattnar Beschreibungen russischer Kopfgesten und deren Bedeutung für die Lexikographie des modernen Russischen S L avo L i n g u i S t i c a 1 2

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In dieser deskriptiven arbeit wird das Phänomen der nonverbalenKommunikation am Beispiel russischer Kopfgesten untersucht, die verbaldurch Somatismen wiedergegeben werden. Das Ziel besteht in der linguis-tischen Beschreibung russischer somatischer Wendungen, die Kopfgestenwiedergeben. Methodisch werden mehrere Bereiche der Sprachwissenschaftmiteinander verbunden. Dazu gehören ansätze aus der Semiotik, diePhraseologie sowie die Lexikographie. Darüber hinaus decken pragmatischeFragestellungen die gebrauchsbedingungen der Somatismen auf und nehmendamit einfluss auf die semantische Beschreibung des jeweiligen ausdrucks.Die Datengrundlage bilden elektronisch verfügbare, literarische texte dermodernen russischen Sprache, z.B. russische Kriminalromane u.a.

anja gattnar promovierte mit dieser arbeit an der Universität tübingen.gegenwärtig arbeitet sie als Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 833„Bedeutungskonstitution – Dynamik und adaptivität sprachlicherStrukturen“ an der Universität tübingen im Projekt „Verbalaspekt im text:Kontextuelle Dynamisierung vs. grammatik. ein Vergleich des tsche-chischen und des russischen Systems.“ neben der erforschung des russi-schen aspekts liegt ihr arbeitsschwerpunkt in der Untersuchung nonverbalerKommunikation, in der Semiotik sowie in der slavischen Lexikographie undPhraseologie.

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Anja Gattnar

Beschreibungen russischerKopfgestenund deren Bedeutung für die Lexikographiedes modernen Russischen

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Herausgegeben von Tanja Anstatt, Tilman Berger, Karl Gutschmidt, Björn Hansen und Volkmar Lehmann Die letzten zehn Bände:

2 Björn Hansen: Das slavische Modalauxiliar. Semantik und Gramma-tikalisierung im Russischen, Polnischen, Serbischen / Kroatischen und Altkirchenslavischen. 2001.

3 Volkmar Lehmann / Ludger Udolph (Hgg.): Normen, Namen und Tendenzen in der Slavia. Festschrift für Karl Gutschmidt zum 65. Geburtstag. 2003.

4 Tilman Berger / Karl Gutschmidt (Hgg.): Funktionale Beschreibung slavischer Sprachen. Beiträge zum XIII. Internationalen Slavisten-kongress in Ljubljana. 2003.

5 Barbara Bartnicka / Björn Hansen / Wojtek Klemm / Volkmar Lehmann / Halina Satkiewicz: Grammatik des Polnischen. 2004.

6 Björn Hansen / Petr Karlík (eds.): Modality in Slavonic Languages. New Perspectives. 2005.

7 Volkmar Lehmann (ed.): Glagol’nyj vid i leksikografija. 2006.

8 Szymon S�odowicz: Control in Polish Complement Clauses. 2008.

9 Bernhard Brehmer: Höflichkeit zwischen Konvention und Kreativität. 2009.

10 Elena Dieser: Genuserwerb im Russischen und Deutschen. Korpusgestützte Studie zu ein- und zweisprachigen Kindern und Erwachsenen. 2009.

11 Sandra Birzer: Russkoe deepri�astie. Processy grammatikalizacii i leksikalizacii. 2010.

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Anja Gattnar

Beschreibungen russischer

Kopfgesten und deren Bedeutung für die Lexikographie

des modernen Russischen

VERLAG OTTO SAGNER · MÜNCHEN – BERLIN 2010

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Anja Gattnar:

Beschreibungen russischer Kopfgesten und deren Bedeutung für die Lexikographie des

modernen Russischen ISBN 978-3-86688-108-2

Verantwortliche Reihenherausgeber dieses Bandes: Tilman Berger, Tanja Anstatt Schlagworte: Nonverbale Kommunikation, Gesten, Phraseologie, Lexikographie, Russisch Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2010 bei Kubon & Sagner GmbH Heßstraße 39/41 80798 München (Germany) Telefon +49 (0)89 54 218-106 Telefax +49 (0)89 54 218-226 [email protected] «Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Printed in Germany

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Für Uli, Johanna und Jakob

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DanksagungAn dieser Stelle möchte ich mich bei einer Reihe von Personen herzlich bedanken, die mich jahrelang auf unterschiedlichste Weise bei der Entstehung dieser Arbeit unterstützt haben.

Für die Betreuung meiner Arbeit bedanke ich mich ganz herzlich bei meinem Doktorvater Professor Dr. Tilman Berger, der mir bei Bedarf jederzeit als Ansprechpartner mit wertvollsten Hinweisen zur Verfügung stand. Sein Engagement und seine Bereitschaft, mir die erforderliche wissenschaftliche Freiheit zu lassen, haben diese Arbeit erst ermöglicht. Besonders danke ich ihm aber auch für die jahrelange Geduld und das damit verbundene Vertrauen in meine Arbeit bzw. in deren Vollendung.

Für die allseits interessanten Gespräche mit und über Gestensprache sowie die Bereitschaft, als Zweitgutachter die Arbeit zu betreuen, danke ich Professor Dr. Jochen Raecke.

Professor Dr. Dietrich Wörn gilt mein besonderer Dank. Ohne seinen Zuspruch wäre diese Arbeit gar nicht erst entstanden.

Besonders danke ich auch Professor Grigorij Efomivi Krejdlin. In zahlreichen Diskussionen und Gesprächen ließ er mich an seinen neuesten Forschungen über die russischen Gesten und deren Lexikalisierung teilhaben. Während eines vom DAAD geförderten dreimonatigen Forschungsaufenthalts in Moskau lud er mich zu seinem „ “ am Institut für Russische Sprache der RGGU ein und gab mir damit die Möglichkeit, Teil eines sehr motivierten Forscherkreises zu sein. Durch die dort anzutreffende fast grenzenlose Bereitschaft und Begeisterung für nonverbale Kommunikation war es mir möglich, meine zahlreichen Beispiele zur Diskussion zu stellen. Ohne die SeminarteilnehmerInnen hätte ich meine empirischen Forschungen bei weitem nicht so ergebnisreich durchführen können. Deshalb gilt auch ihnen mein bester Dank.

Ein großer Dank geht aber auch an meine Freundin Tanja Anstatt. Sie gab mir mit ihrem fundierten Fachwissen viele Anregungen für meine wissenschaftliche Arbeit. Ohne ihr Wissen, ohne ihre Ideen, ohne ihre Kritik und ohne ihr freundschaftlicher Zuspruch in schweren Zeiten wäre mein Forschungsprojekt niemals soweit gekommen.

Ein sehr herzlicher Dank gilt meinen Eltern und meinem Bruder Jochen, die alle auf ihre Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.

Auch möchte ich mich bei meinen Freunden Heiko Berner, Olaf Blick und Heike Bötz bedanken, die für die erforderliche Abwechslung sorgten.

Meinem Mann Uli danke ich von ganzem Herzen für seine unermüdliche Unterstützung, seine Liebe und seine unendliche Geduld. Tübingen im Mai 2010 Anja Gattnar

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I n h a l t s v e r z e i c h n i s

A. Einführung und theoretische Grundlagen 9I. Inhalt und Ziel der Arbeit 9II. Forschungsstand und Terminologie 11

II.1. Nonverbale Kommunikation und Gesten 11II.1.1. Kommunikation 13II.1.2. Gesten 20

II.1.2.1. Definition 21II.1.2.2. Klassifikation 22II.1.2.3. Exkurs: Embleme 28II.1.2.4. Funktionen 29

II.2. Das Zusammenspiel von verbalen und nonverbalen Zeichen in der spontanen Rede

31

II.3. Die Verbalisierung von Gesten 36II.3.1. Die Übersetzung gestischer in sprachliche Zeichen 38II.3.2. Die Möglichkeiten der Verbalisierung von Gesten 42II.3.3. Phraseologismen und Somatismen 50

II.3.3.1. Somatismen 51II.3.3.2. "Gewöhnliche" Phraseologismen und Somatismen im Vergleich

53

II.4. Lexikographie von Gesten 59II.4.1. Beschreibungen und Sammlungen 60II.4.2. Wörterbücher somatischer Phraseologismen 64II.4.3. Russische Gestenwörterbücher 66

II.4.3.1. Monahan 67II.4.3.2. Akišina et al. 68II.4.3.3. Grigor´Eva et al. 71II.4.3.4. Dmitrieva et al. 77

II.5. Zusammenfassung 80B. Gestische Somatismen mit golova 85I. Datenerhebung und Auswertung der Belege 86II. Die horizontalen Kopfbewegungen 88

II.1. ´ golovoj 88II.1.1. Schütteln - olovoj 1 95II.1.2. Wiegen - olovoj 2 103

II.2. Krutit´ golovoj 107II.2.1. Schütteln 110II.2.2. Wiegen 112

II.3. Motat´ golovoj 114II.3.1. Schütteln 116II.3.2. Wiegen 118

II.4. Trjasti golovoj 120II.4.1. Schütteln 124II.4.2. Wiegen 125

II.5. Zusammenfassung 126

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8 Inhaltsverzeichnis

III. Die Vertikalen Kopfbewegungen 131III.1. Kivat´ (golovoj) 132

III.1.1. Kivat´ golovoj 1 139III.1.2. Kivat´ golovoj 2 142III.1.3. Kivat´ golovoj 3 144III.1.4. Zusammenfassung 151

III.2. Nagibat´ golovu 152III.3. Naklonjat´ golovu 155III.4. Opuskat´ golovu 162III.5. Podnimat´ golovu 173III.6. Položit´ golovu na koleni 178III.7. Niknut´ golovoj 183III.8. Ponurivat´ golovu 186III.9. Potupljat´ golovu 189III.10. Sklonjat´ golovu 192

III.10.1. Sklonjat´ golovu nabok 195III.10.2. Sklonjat´ golovu pered kem-/ em-libo 200III.10.3. Sklonjat´ -libo 202

III.11. Ronjat´ golovu 204III.12. Vtjagivat´/ 207III.13. Zadirat´ golovu 214III.14. Zakidyvat´ golovu 217III.15. Zusammenfassung 220

IV. Die Drehende Kopfbewegung 222IV.1. Otkidyvat´ golovu nazad 223IV golovu ot kogo-l. 230IV golovu k komu-l. 237IV.4. Zusammenfassung 244

V. Ergebnisse 244V.1. Zusammenfassung der Ergebnisse der russischen gestischen Somatismen mit dem Element golova 248V.2. Zusammenfassung der Ergebnisse der kommunikativen Bedeutung russischer gestischer Somatismen mit dem Element golova 256

C. Bibliographie 260I. Wörterbücher 260

I.1. Gestenwörterbücher 260I.2. Russische einsprachige Wörterbücher 260

II. Forschungsliteratur 263D. Tabellen- Und Abbildungsverzeichnis 277

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Einführung und theoretische Grundlagen

I. Inhalt und Ziel der ArbeitZiel der vorliegenden Arbeit ist die umfassende Darstellung russischer Wendungen, die Kopfgesten wiedergeben. Es handelt sich hier um eine deskriptive Arbeit, die das Phä-nomen der nonverbalen Kommunikation am Beispiel russischer Kopfgesten untersucht, die verbal durch somatische Wendungen wiedergegeben werden. Die eigentliche Moti-vation für diese Arbeit liegt darin begründet, dass es zwar einige wenige Wörterbücher russischer Gesten und Mimik gibt, sich bei genauerem Hinsehen jedoch die Frage stellt, ob es sich dabei um eine Darstellung russischer Gesten oder um eine Art phraseologi-scher Wörterbücher handelt, welche einen Ausschnitt russischer Phraseologismen, näm-lich somatische Phraseologismen bzw. gestische Somatismen, zum Inhalt haben. Denn die Wörterbücher sind Printmedien, d.h. es müssen verbale Wendungen gefunden wer-den, um die jeweiligen Gesten oder mimischen Bewegungen darstellen zu können. Nonverbale kommunikative Mittel müssen übersetzt werden in verbale Kommunikati-onsmittel. Die komplexen Bewegungsabläufe einer Geste müssen mithilfe möglichst knapper verbaler Wendungen abgebildet werden. Dabei ist das Spektrum der verbalen Tradierungsmöglichkeiten breit. Es kann von einer ausführlichen über eine verkürzte verbale Beschreibung bis hin zur vollkommenen Abstraktion der Körperbewegung ge-hen. Zwar werden in den Wörterbüchern vereinzelt auch Zeichnungen angeboten, die jedoch, da sie sich nicht bewegen, nur eine Andeutung der jeweiligen Gesten oder Mi-mik wiedergeben. Daraus ergeben sich nun im Grunde zwei verschiedene Möglichkei-ten, dieses Defizit auszugleichen. Zum einen hätte man sich die Aufgabe stellen können, russische Gesten als bewegte Bilder zu sammeln, ihre Bedeutung zu klären und ihre Verwendung darzustellen. Zum anderen – und dies wird diese Arbeit für einen Aus-schnitt russischer Gesten versuchen – erscheint es sinnvoll, sich eingehender mit den verbalen Wendungen zu beschäftigen, welche Gesten oder mimische Bewegungen ab-bilden. Das gesetzte Ziel ist deshalb nicht die Darstellung russischer Kopfgesten, son-dern die linguistische Beschreibung russischer somatischer Wendungen, die Kopfgesten (scheinbar) wiedergeben. Dies erfordert zunächst eine Beschäftigung mit dem Gegen-stand der Geste als einem Mittel der nonverbalen Kommunikation, um dann eine geeig-nete Form ihrer Beschreibung, Darstellung und Interpretation zu finden. Die Arbeit be-steht deshalb aus einem theoretischen Teil, der sich mit nonverbaler Kommunikation, Gesten und der Verbalisierung von Gesten beschäftigt, und einem empirischen, dem darstellenden Teil, in dem die Bedeutung und Verwendung russischer somatischer Phra-seologismen untersucht wird.

Die Arbeit ist auch ein Versuch, mehrere Bereiche der Sprachwissenschaft mit-einander zu verbinden. Dazu gehören a) Ansätze aus der Semiotik, insbesondere die Erforschung nonverbaler im Gegensatz zu verbalen Zeichen, im konkreten Fall die Be-

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10 Einführung und theoretische Grundlagen

schäftigung mit russischen Gesten, b) die Phraseologie, da es um Verbalisierungen ges-tischen Verhaltens geht, wobei festgestellt wurde, dass dies vorwiegend in feststehen-den Wendungen passiert, sowie c) der Lexikographie, aus der Ansätze zur Aufbereitung der Daten stammen, die eine befriedigende Darstellung der Untersuchungsergebnisse ermöglichen sollen. Hinzu kommen aber auch pragmatische Fragestellungen, die zur Aufdeckung der Gebrauchsbedingungen der Somatismen beitragen sollen und damit Einfluss nehmen auf die semantische Beschreibung des jeweiligen Ausdrucks. Aus den verschiedenen linguistischen Bereichen wurden nur diejenigen Grundlagen und Ansätze bemüht, die zur Erforschung des Untersuchungsgegenstandes konkret beitragen.

Im ersten Teil der Arbeit werden die verschiedenen Forschungsansätze der ein-zelnen linguistischen Bereiche vorgestellt sowie notwendige terminologische Fragen geklärt. Hierbei dienen zunächst slavistische Arbeiten, in der Mehrzahl russistische, als Grundlage. Diese werden, wenn nötig, durch die Vorstellung weiterer linguistischer Arbeiten ergänzt. Nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen Forschungsan-sätze zu russischen Gesten und nonverbaler Kommunikation beschäftigt sich der darauf folgende zweite Abschnitt ausführlich mit Forschungsansätzen zum Themenkomplex der Gesten. Hier werden verschiedene Definitionen und Klassifikationen von Gesten vorgestellt und beurteilt. Besondere Aufmerksamkeit wird auch auf die Funktionen von Gesten im Kommunikationsprozess gelegt. Der dritte Abschnitt untersucht theoretisch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verbaler und nonverbaler Zeichen, ihre Bezie-hung zueinander, der Übersetzung gestischer in sprachliche Zeichen, das Auftreten ges-tischer Zeichen im Kommunikationsprozess sowie die Vermittlung der Semantik gesti-scher Zeichen. Im vierten Abschnitt wird auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verbalisierung von Gesten eingegangen. Den Abschluss des ersten Teils ist der Lexiko-graphie von Gesten gewidmet. Es werden kurz verschiedene kleinere Arbeiten zu spezi-ellen russischen Gesten vorgestellt mit Blick auf die Darstellung in Printmedien. Be-sondere Aufmerksamkeit wird dabei auf Wörterbücher somatischer Wendungen gelegt. Im Anschluss daran werden vier russische Gestenwörterbücher ausführlicher vorgestellt und beurteilt. Am Ende werden im Überblick alle für den empirischen Teil der Arbeit wichtigen theoretischen Grundlagen zusammengefasst. Es wird gezeigt, wie wichtig alle genannten Bereiche und Zusammenhänge für die Untersuchung gestischer Somatismen bzw. somatischer Phraseologismen sind.

Der zweite Teil dieser Arbeit veranschaulicht am konkreten Beispiel, wie die theoretischen Überlegungen so umgesetzt werden können, dass eine umfassende Be-schreibung von gestischen Somatismen in Bezug auf ihre Bedeutung, Funktion und Stellung im Kommunikationsprozess sowohl für den Linguisten als auch den Nicht-Muttersprachler des Russischen von Nutzen sein kann. Bevor die einzelnen im Russi-schen existierenden Somatismen, die Kopfgesten wiedergeben, ausführlich besprochen werden, wird im einführenden ersten Abschnitt der Kopf im russischen Körperkonzept besprochen. Darauf folgt die Klassifizierung der russischen Kopfgesten nach ihrer Be-deutung und Funktion im Kommunikationsprozess. Anschließend erfolgen einige Be-merkungen zum verwendeten linguistischen Material und dessen Auswertung sowie Aufbereitung. Im zweiten Abschnitt werden dann die einzelnen Somatismen vorgestellt.

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Einführung und theoretische Grundlagen 11

Die insgesamt 24 gestischen Somatismen, die für 27 Gesten stehen, werden in drei Gruppen zusammengefasst. Diese Gruppen ergeben sich aus der Bewegungsrichtung des Kopfes, die während der gestischen Bewegung ausgeführt wird. Es können horizon-tale, vertikale sowie drehende Kopfbewegungen unterschieden werden. Da es sich in dieser Arbeit ausschließlich um gestische Somatismen handelt, die auf der Grundlage von Kopfgesten gebildet werden, erscheint mir die gestische Bewegung als Unterschei-dungskriterium am sinnvollsten zu sein. Dieses spiegelt sich zudem in den jeweiligen Verbelementen der Somatismen wider. Innerhalb dieser nach Bewegungsrichtung des Kopfes gruppierten Somatismen sind die einzelnen Beiträge alphabetisch nach den Verbelementen geordnet. Am Ende jeder Gruppe findet sich eine kurze Zusammenfas-sung, die vorwiegend auf die Besonderheiten der jeweiligen Somatismen eingeht. Sind alle Bewegungsgruppen besprochen, werden die Ergebnisse des empirischen Teils zu-sammengefasst sowie ein Ausblick gegeben auf die weiterführende Aufgabe der Kon-zeption eines zweisprachigen Wörterbuchs russischer gestischer Somatismen.

II. Forschungsstand und TerminologieDieses Kapitel umfasst vier Themenkomplexe. Den Beginn macht ein Abschnitt zur nonverbalen Kommunikation und zu Gesten, der allgemein die wichtigsten Forschungs-ansätze auf diesem Gebiet vorstellt. Sehr ausführlich wird dabei auf die Definition und Klassifikation von Gesten eingegangen sowie deren Funktionen erläutert. Darauf folgt ein Abschnitt zur Frage, auf welche Art und Weise verbale und nonverbale Zeichen in der spontanen Rede zusammen auftreten können. Nach diesen beiden, in die Materie einführenden Themenkomplexen, folgt in zwei weiteren Abschnitten die Beschäftigung mit den beiden für den empirischen Teil der Arbeit zentralen Bereichen. Dies stellt zum einen die Verbalisierung von Gesten, zum anderen die Lexikographie von Gesten dar. Zunächst wird die Beziehung zwischen sprachlichen und gestischen Zeichen sowie die Frage nach der Übersetzbarkeit gestischer in sprachliche Zeichen aufgegriffen, um so die Notwendigkeit der Verbalisierung von Gesten zu begründen, bevor die verschiede-nen Möglichkeiten der Verbalisierung dargestellt werden. Daraus ergibt sich die Be-schäftigung mit Phraseologismen und Somatismen bzw. gestischen Somatismen und somatischen Phraseologismen, die diesen Abschnitten folgt. Den letzten Themenkom-plex dieses Kapitels stellt die Lexikographie von Gesten dar. Als erstes werden ver-schiedene Beschreibungen und Sammlungen von Gesten, als zweites dann die russi-schen Gestenwörterbücher vorgestellt.

II.1. Nonverbale Kommunikation und GestenIn der nun folgenden Darstellung des Forschungsstandes zur nonverbalen Kommunika-tion und Gestik werde ich v.a. auf die russistische Linguistik1

1 Es werden hier die Arbeiten zu slavischen Sprachen, insbesondere aber zum Russischen berück-sichtigt.

eingehen und diese näher erläutern. Die Beschränkung auf russische Arbeiten ergibt sich zum einen aus dem Untersuchungsgegenstand selbst, zum anderen aber auch daraus, dass es bisher keine Darstellung der slavistischen bzw. russistischen Forschung zu diesem Gebiet der

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Sprachwissenschaft gibt. Zudem findet sich in der Dissertation von Müller (1998) über redebegleitende Gesten schon ein ausführlicher und meiner Meinung nach sehr gelun-gener Abriss der westlichen Forschung zur nonverbalen Kommunikation, der in der vorliegenden Arbeit nur wenn nötig durch die Erwähnung solcher Arbeiten ergänzt wird, die auf die slavistische Forschung Einfluss nahmen.

In russischen Arbeiten zur nonverbalen Kommunikation stehen v.a. die Gesten im Vordergrund. Dabei spielt die Klassifikation von Gesten und die Beschreibung ihrer Funktionen innerhalb der Kommunikation eine große Rolle. In einigen Arbeiten steht in diesem Zusammenhang die Verwendung der gewonnenen Erkenntnisse für den Fremd-sprachenunterricht im Mittelpunkt. Die Arbeiten beschränken sich im Allgemeinen auf eine sehr begrenzte Anzahl von Gesten.2

Ein weiterer Bereich ist die Untersuchung der nonverbalen Kommunikation hin-sichtlich ihrer Bedeutung für die verbale Sprache sowie Dekodierung und Verbalisie-rung der nonverbalen kommunikativen Mittel im Russischen.3 Hierzu gehören auch Arbeiten, die sich speziell mit ausgewählten russischen Gesten und deren metaphori-schen Bedeutung in Phraseologismen beschäftigen.4 In weiteren Arbeiten spielt der Zu-sammenhang von nonverbaler Kommunikation und Kultur eine wichtige Rolle.5

Insgesamt bilden diese Arbeiten jedoch, mit Ausnahme derjenigen, die sich mit der Klassifizierung von Gesten und nonverbaler Kommunikation allgemein beschäfti-gen, keine sprachwissenschaftliche Bewegung innerhalb der slavistischen Linguistik. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass bis in die 1990er Jahre hinein weder Me-thoden noch Fragestellungen der westlichen Forschung zur nonverbalen Kommunikati-on ausführlich rezipiert wurden. Eine eigene richtungsweisende Forschung zu diesem Thema gibt es bis hinein in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht. In den 30er Jahren wurden zwar einzelne Arten paralinguistischer Mittel untersucht, aber erst mit der Ar-beit von Nikolaeva und Uspenskij (1966) und Kolšanskij (1974) wurde die Paralinguis-tik ausführlicher behandelt. Trotzdem erfreute sich diese Teildisziplin der Linguistik darüber hinaus keines größeren wissenschaftlichen Interesses in der damaligen Sowjet-union. Mit Themen der Kinesik hat sich über die schon genannten Klassifikationen von Gesten etc. hinaus bis in neueste Zeit niemand beschäftigt. Erst mit den jüngsten Arbei-ten von Krejdlin beginnt die systematische Erforschung der russischen nonverbalen Kommunikation. Neben Gesten und Mimik beschäftigt sich Krejdlin auch mit Posen, dem Tasten und proxemischen Mitteln der Kommunikation. Sein Wörterbuch der Spra-che russischer Gesten Slovar´ jazyka russkich žestov ist die erste systematische und auf den Methoden der modernen Lexikologie basierende Darstellung zum Russischen. Sie umfasst 120 russische Gesten sowie deren Bedeutung und Verwendung im Russischen.

2 Z.B. Danow (1980), Odincov (1967), Šelgunova (1982, 1990)3 Z.B. Antipova (1989), Blinova (1994), Gorelov (1980), Krejdlin (unveröffentlichtes Manuskript),

4 Z.B. Filippov und Kutlovskaja (1975), Korzenko und Krejdlin (1999), Krasil´nikova (1977), Krejdlin (1999), Krejdlin (Manuskript 2000a)

5 Z.B. Akišina et al. (1982), Ambarcumova (1983), Dobrovol´skij (1997, 1998), Korzenko und a-

rine (2004)

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Einführung und theoretische Grundlagen 13

Zunächst soll kurz auf die Begriffe Kommunikation, nonverbale Kommunikation und Paralinguistik eingegangen werden.

II.1.1. KommunikationKommunikation6 wird als Form des Zeichengebrauchs verstanden. Mit ihrer Hilfe wer-den Mitteilungen von Gedanken an andere gemacht, die Beziehungen zu anderen gere-gelt oder Handlungen mit anderen koordiniert. Voraussetzung dafür, das Handeln von Menschen als kommunikativ einzustufen, sind intentionales (besser: bewusstes) Verhal-ten7

Im linguistischen Wörterbuch, das von Jarceva herausgegeben wurde, wird der Begriff Kommunikation „kommunikacija“ folgendermaßen definiert:

und partnerorientiertes Handeln. Kommunikation erfolgt immer symbolisch, d.h. bestimmte Zeichen stehen für bestimmte Sachverhalte etc. Dabei kann es sich um ver-bale oder nonverbale Kommunikation handeln, je nachdem, ob verbale Zeichen oder nonverbale Zeichen verwendet werden.

„ -vzaimodejstvija ljudej v processe ich poznavatel´no-trudovoj dejatel´nosti. (...) Kommunikacija skladyvaetsja iz kommunikativnych aktov (edinica

komponenty, naprimer žesty, mimika i t.d.“8

Kommunikation besteht nur dann, wenn ein Austausch von Informationen, Meinungen und Gedanken zwischen mindestens zwei Partnern stattfindet. Die Partner machen selbst oder interpretieren Äußerungen. Zur Kommunikation gehören jedoch nicht nur verbale Mittel, sondern auch nonverbale Komponenten wie die Gestik oder die Mimik.

(Jarceva ²1998, 233)

Nikolaeva und Uspenskij gehen von einer Semiotik des menschlichen Verhaltens aus. Für sie ist jegliches Verhalten kommunikativ, solange man es sich in einer Unter-haltung zwischen Adressant und Adressaten vorstellen kann. Dies setzt ein sehr weites Verständnis von Kommunikation voraus. Versteht man unter Kommunikation die be-wusste Vermittlung von Informationen an einen Adressaten, dann ist bei Weitem nicht jedes Verhalten kommunikativ. In diesem engeren Sinne des Wortes kommunikativ gehört dazu nur „sprachliches“ Verhalten.

6 Sämtliche kommunikationstheoretischen Ansätze wiederzugeben würde den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen. Hier soll nur kurz erläutert werden, von welchem Kommunikationsbe-griff in dieser Arbeit ausgegangen wird.

7 Ich möchte hier nicht so weit wie Watzlawick et al. (91996, 53) gehen, die davon ausgehen, man könne "nicht nicht kommunizieren" und damit jeglichem Handeln bzw. jeglichem menschlichen Verhalten eine Mitteilungswert zusprechen, auch wenn es sich dabei nicht um sprachliche Äuße-rungen handelt, wie z.B. die äußere Erscheinung eines Menschen.

8 Die deutsche Übersetzung lautet: „der Umgang, der Austausch von Gedanken, Nachrichten, Ideen etc. - spezifische Form des Wechselspiels von Menschen im Prozess ihrer Erkenntnis er-werbenden Tätigkeit. (...) Die Kommunikation setzt sich zusammen aus kommunikativen Akten (die Einheiten der Kommunikation), in denen Kommunikanten teilnehmen, die Äußerungen (Texte) erzeugen und sie interpretieren. (...) In die Kommunikation beim unmittelbaren Kontakt der Kommunikanten gehen auch nonverbale Komponenten, z. B. Gesten, Mimik etc. ein.“

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Obwohl laut Nikolaeva und Uspenskij jedes Verhalten zwischen mindestens zwei Akteuren Kommunikation ist, halten sie Gesten und Mimik nur für fakultative Erscheinungen des menschlichen Verhaltens, welche nur dann eine bestimmte Informa-tion tragen, wenn sie sprachliche Erscheinungen begleiten (Nikolaeva/Uspenskij 1966,65). Gesten gelten dabei neben anderen kommunikativen Mitteln als Bausteine der Kommunikation, wobei unterschieden wird zwischen verbaler und nonverbaler Kom-munikation. Dem stimmen Krejdlin et al. zu, konkretisieren gleichzeitig aber die Stel-lung nonverbaler Mittel im Kommunikationsprozess:

estestvennomu jazyku, odnako v kommunikacii mogut takže ispol´zovat´sja edinicy drugich sistem.“9

Unbestritten ist, dass Kommunikation aus verbalen und nonverbalen Teilen besteht, die in unterschiedlicher Zusammensetzung auftreten können. Jegliches Verhalten vor ande-ren Akteuren als kommunikativ zu bezeichnen fällt mir jedoch schwer, da hier eine Vo-raussetzung für Kommunikation nicht beachtet wurde.

(Krejdlin et al. 1995, 136)

10

Da der hier vorgestellte Untersuchungsgegenstand einen Teil der nonverbalen Kommunikation darstellt, wende ich mich im Weiteren zunächst der nonverbalen Kommunikation und ihrer Bedeutung im Kommunikationsprozess zu.

Zur Kommunikation gehört der Wille mindestens zweier Personen, miteinander kommunizieren zu wollen. Man kann vielleicht davon sprechen, dass jegliches Verhalten informativ ist, da es etwas über ei-nen anderen aussagt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass immer ein Austausch stattfinden muss.

Nonverbale KommunikationKommunikation verläuft auf zwei verschiedenen Kanälen der Wahrnehmung, dem audi-tiven und dem visuellen Kanal. Während der auditive Kanal durch die Stimme bedient wird, sind Körperbewegungen, Mimik und Gestik die Erscheinungen, die auf dem visu-ellen Kanal wahrgenommen werden. Sowohl in der verbalen als auch in der nonverba-len Kommunikation werden beide Kanäle verwendet. Die Wirkung der beiden Kommu-nikationskanäle verstärkt sich gegenseitig. Durch die Ausnutzung beider Möglichkeiten kann auf den Empfänger besser eingewirkt werden, pragmatisch gesehen wird der kommunikative Akt modifiziert (Klincková 1995, 100). Für jeden der Kanäle sind je-doch unterschiedliche Zeichensysteme charakteristisch. Wenn wir uns der nonverbalen Kommunikation zuwenden, dann bewegen wir uns zunächst ausschließlich innerhalb eines aktiven Kommunikationsprozesses, in der ihr eine besondere Rolle zukommt. Ge-rade in einem aktiven Kommunikationsprozess werden unterschiedliche Zeichensyste-me verwendet. Dazu gehören rein linguistische, paralinguistische und kinetische Zei-

9 "Das kommunikative Handeln des Menschen beinhaltet einige Untersysteme verschiedenen Typs. (...) Eine zentrale Rolle der menschlichen Kommunikation kommt der natürlichen Sprache zu, in der Kommunikation können jedoch auch Einheiten anderer Systeme gebraucht werden."

10 Weiter gedacht wäre nämlich dann jedes nonverbale Verhalten prosodisch, gestisch oder mi-misch.

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Einführung und theoretische Grundlagen 15

chen. Um all diese verschiedenen Zeichensysteme in der Untersuchung berücksichtigen zu können, ist eine Umorientierung der linguistischen Untersuchungen von der Untersu-chung der Sprachen zur Untersuchung der sprachlichen Tätigkeit notwendig. Dies ver-größert die Aufmerksamkeit, die der spontanen Rede zukommt. Die Situationen der spontanen Rede werden dadurch charakterisiert, dass die Gesprächsteilnehmer, die sich an ein und demselben Ort befinden, Informationen austauschen, die nicht von einem geschriebenen Text vorgelesen werden (Valjagin/Solov´eva 1989, 75). Es gibt eine enge Wechselbeziehung linguistischer und paralinguistischer Mittel gerade in der belebten mündlichen Rede. Gesten und Mimik begleiten die Wortreihe. Die nonverbale Kommu-nikation ist unmittelbar verbunden mit der verbalen Kommunikation und spielt dabei eine außerordentliche Rolle. Die nonverbalen Signale können eine Information ergän-zen, die durch die verbale Sprache vermittelt wird, oder sogar die verbalen Mittel gänz-lich verändern (Pachar´ 1999, 1). Die nonverbalen Zeichen können Vertreter bestimmter lexikalischer Mittel sein, wie ein Wort oder mehrere Wörter, in seltenen Fällen ein Satz (Klincková 1995, 100).

ParalinguistikIn der slavistischen Linguistik und insbesondere in der Russistik spielen Arbeiten zur Paralinguistik auf dem Gebiet der nonverbalen Kommunikationsforschung eine beson-dere Rolle. Hier können insbesondere die Arbeiten von Nikolaeva und Uspenskij, Kolšanskij, Gorelov sowie Krejdlin genannt werden. Unter ihnen herrschen unterschied-liche Meinungen darüber, welche Erscheinungen zu den paralinguistischen Mitteln zu zählen sind. Der Meinung von Nikolaeva und Uspenskij nach sind paralinguistische Erscheinungen eng verbunden mit dem ganzen Modell menschlichen Verhaltens, das sowohl kulturellen als auch biologischen Ursprungs ist (Nikolaeva/Uspenskij 1966, 78). Zu den paralinguistischen Mitteln zählen sie Gesten und andere nicht lautliche Phäno-mene, die selbst kein eigenes sprachliches System darstellen (Nikolaeva/ Uspenskij1966, 66).

Diese Meinung vertritt auch Kolšanskij. Die paralinguistischen Mittel sind nicht eigentlich sprachliche Mittel der sprachlichen Kommunikation, wobei zur Parasprache11

Hervorzuheben ist, dass die paralinguistischen Faktoren, und dies unterscheidet sie von den extralinguistischen, nur die konkrete Äußerung betreffen, indem sie an der Gestaltung einer eindeutigen Mitteilung mitwirken. Sie berühren jedes Mal nur die kon-krete Äußerung, indem sie an der Formierung des gleichbedeutenden Inhalts des Sprachaktes teilnehmen (Kolšanskij 1973, 18). Paralinguistische Mittel bilden ein Sub-system konventioneller Mittel. Die nichtsprachlichen Kommunikationssysteme des

alle Arten von Kinesik (von der Geste bis zur Pantomime), alle Arten der Stimmbildung (von Sprechen bis Singen) sowie sämtliche Arten der Verständigung gehören. Unter Kinesik im Speziellen versteht Kolšanskij die ausdrückenden Körperbewegungen, die an der Übermittlung von Informationen im Kommunikationsprozess beteiligt sind (Kolšanskij 1974, 10).

11 Darunter wird hier die Summe nicht eigentlich sprachlicher Mittel verstanden.

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16 Einführung und theoretische Grundlagen

Menschen sind untergeordnete, abgeleitete Systeme, die funktional an die Sprache an-gelehnt sind. Mit der Erhebung der Lautsprache zum einzigen Kommunikationssystem des Menschen starben alle anderen Kommunikationsarten als selbständige Systeme ab und wurden zu einem Anhängsel der allumfassenden Lautsprache (Kolšanskij 1974, 47). Kolšanskij geht auch auf den Bezug zur Semiotik ein, den Nikolaeva und Uspenskij sehen, bezieht diesen aber ausdrücklich auf seine funktionale Beschreibung paralinguistischer Mittel. Er differenziert zwischen der Wortsprache und den paralingu-istischen Mitteln als einem funktionalen Hilfssystem und einem selbstständigen sekun-dären Zeichensystem. Alle Hilfsmittel der verbalen Sprache existieren nur deshalb, weil es die natürliche Sprache gibt

„...funkcionirovanie vsech podsobnych sredstv verbal’nogo jazyka, po našemu

ich-libo žestov materialom estestvennogo jazyka“ (Kolšanskij 1974, 65).12

Gorelov betrachtet die nonverbalen Komponenten der Kommunikation nicht unabhän-gig von den verbalen Teilen, sondern deren gegenseitige Wechselbeziehung (GORELOV

1980, 4). Für seine Betrachtung kommen solche nonverbalen (paralinguistischen) Kom-ponenten eines „Zeichenproduktes“ (znakovogo produkta) in Frage, welche entweder bewusst (d.h. in solchem Maße bewusst wie auch die verbalen bewusst verwendet wer-den) vom Sprecher in die Kommunikation eingeführt werden, oder aber bewusst vom Rezipienten wahrgenommen werden. In seiner Argumentation geht Gorelov davon aus, dass die paralinguistischen Mittel unbedingt zur Kommunikation gehören und nicht, wie Kolšanskij meint, rein fakultativ sind. Dafür sprechen folgende Beobachtungen:

a) paralinguistische Komponenten existieren regelmäßig mit verbalen Kommunikati-onsmitteln;

b) nur in Teilen der Schriftsprache oder in der Telefon-Kommunikation fehlen paralin-guistische Komponenten;

c) der Gebrauch von paralinguistischen Mitteln ist nicht beschränkt auf Sprecher, deren Wortschatz klein ist, sondern wird auch von „hochgebildeten Sprechern oder genia-len Schauspielern“ verwendet;

d) paralinguistische Mittel müssen, wie die verbale Sprache auch, erlernt werden (Gorelov 1980, 16).

Gorelov geht hier sogar so weit in seinen Überlegungen, dass er bezüglich des Erlernens paralinguistischer Mittel von einem „genetischen Kode“ spricht, durch den diese seit Jahrhunderten in seinen hauptsächlichen (universellen) Erscheinungen ohne besondere Veränderungen bewahrt und vermittelt werden (Gorelov 1980, 24). 13

12 „das Funktionieren aller Hilfsmittel der verbalen Sprache kann, unserer Meinung nach, nur zu-stande kommen durch die Existenz und die Möglichkeit einer expliziten Äußerung der Bedeu-tung von irgendwelchen Gesten durch das Material der natürlichen Sprache.“ [Übers. d. A.]

Hervorzuheben ist bei Gorelov, dass er vom Zeichencharakter paralinguistischer Mittel ausgeht. Dies ist eine gute Basis für den Vergleich mit verbalen Komponenten der Kommunikation. Pa-

13 Dies zu klären soll hier nicht das Thema sein. Es sei auf die Spracherwerbsforschung verwiesen.

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Einführung und theoretische Grundlagen 17

ralinguistische Mittel kann man als Ausdrucksmittel menschlicher Informationsvermitt-lung bezeichnen. Sie können zwar, wie Gorelov gezeigt hat, unabhängig von verbalen Mitteln bestehen, jedoch nur bezüglich der Ausdrucksfunktion, nicht als Komponente des Denkprozesses.

Eine etwas andere Richtung vertritt in jüngerer Zeit Krejdlin (2000).14

Paralinguistische Mittel

Dieser er-forscht das nonverbale Verhalten des Menschen und dessen Zusammenwirken mit ver-balen sprachlichen Kodes im kommunikativen Akt. In einem kommunikativen Akt exis-tieren gleichzeitig mehrere Zeichensysteme, die das kommunikative Verhalten des Menschen kennzeichnen. In seiner Arbeit geht es Krejdlin um die Beschreibung des nonverbalen Verhaltens des Menschen im Kommunikationsprozess sowie den Zusam-menhang von nonverbaler und verbaler Kommunikation. Krejdlin betrachtet den Men-schen und die Besonderheiten seines nonverbalen Verhaltens in den Wechselbeziehun-gen des Kommunikationsaktes (Krejdlin 2000, 3). Gleichzeitig verknüpft er die Semio-tik mit der Paralinguistik und schöpft eine Art „neue Disziplin“: die nonverbale Semio-tik, die sich mit der nonverbalen Kommunikation, dem nonverbalen Verhalten des Men-schen und den Wechselbeziehungen zwischen ihnen im Kommunikationsprozess be-schäftigen soll. Den Terminus Paralinguistik fasst Krejdlin enger als Kolšanskij. Er ver-steht darunter die Wissenschaft, die sich mit zur Sprache beigefügten lautlichen Kodes beschäftigt, die in den Prozess der aktuellen Sprachkommunikation einbezogen sind und dabei eine Sinninformation in den Prozess einbringen. Die Besonderheiten paralinguis-tischer Mittel besteht seiner Meinung nach darin, dass sie, obwohl sie nicht zum System der natürlichen Sprache gehören, in beträchtlicher Weise den kommunikativen Akt or-ganisieren und bestimmen, worin auch ihre Gemeinsamkeit mit den gestischen und mi-mischen Mitteln besteht. Zu den paralinguistischen Mitteln zählen demnach nur lautli-che Erscheinungen. Im Gegensatz zum Vorherigen werden darunter kinetische Mittel nicht verstanden.

Welche Arten von paralinguistischen Mitteln werden in den verschiedenen Arbeiten imEinzelnen unterschieden? Nikolaeva und Uspenskij unterteilen paralinguistische Mittel in solche, die ohne die Sprache nicht existieren, wie z.B. Lautstärke, und solche, die zwar ohne sprachliche Äußerungen vorkommen können, die jedoch nur innerhalb eines kommunikativen Prozesses verstanden werden. Als dritte Gruppe nennen Nikolaeva und Uspenskij solche Elemente, die unabhängig von der Sprache verwendet werden und trotzdem ihre Bedeutung bewahren, wie z. B. lachen oder weinen (Nikolaeva/ Uspenskij1966, 73). Die Zeichen paralinguistischer Komponenten werden durch drei Arten von nonverbalen Mitteln vermittelt. Zum einen durch lautliche Komponenten, die keine Wortbedeutung besitzen, zum anderen durch mimisch-gestische sowie pantomimische Mittel. Diese Arten von paralinguistischen Mitteln können auch gemischt auftreten und zur Vervollständigung der Kommunikation beitragen. Paralinguistische Mittel können

14 Freundlicherweise stellte mir G. E. Krejdlin das Manuskript seines Referats während meines Forschungsaufenthalts in Moskau im Jahre 2001 bereits vor seiner Veröffentlichung zur Verfü-gung. Inzwischen ist es als Buch erschienen.

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18 Einführung und theoretische Grundlagen

zusätzliche Informationen zu den verbalen Komponenten liefern, wie z.B. zusätzliche oder andere Bedeutungen sowie verschiedene Konnotationen. Oft kommt es innerhalb eines Kommunikationsaktes sogar vor, dass gerade beim Ausdruck von Emotionen die im eigentlichen Sinne begleitende nonverbale Komponente früher zum Ausdruck kommt als die verbalen Komponenten. Zu den paralinguistischen Parametern zählen für Gorelov nur die Melodie sprachlicher Intonation, die Gradation der Intensität des Lau-tes, Länge der Pausen, Timbre, Tempo, Rhythmus und Tonhöhe der Sprache. Hervorge-rufen werden unterschiedliche stimmliche Ausprägungen durch die biologischen, psy-chologischen, physiologischen, sozialen und nationalen Merkmale eines Sprechers (Gorelov 1980, 15). Zu den paralinguistischen Systemen gehören demnach nur nonver-bale Laute, die durch den Mund oder Fuß erzeugt werden, wie niesen, husten, schlu-cken, pfeifen, schluchzen, stampfen etc., welche zur Begleitung, Unterstützung, Ver-stärkung oder Dementi von Worten, Gesten, Proxemik oder anderen Äußerungen ver-wendet werden.

Wenn die paralinguistischen Mittel – und darin sind sich alle einig – ein fester Bestandteil der spontanen Rede sind, stellt sich die Frage, welche Funktionen sie erfül-len können. Für Kolšanskij sind paralinguistische Komponenten nie unabhängig von der Sprache möglich. Die paralinguistischen Mittel haben nur begleitende Funktion inne. In diesem Sinne kann man nach Kolšanskij zwei Funktionen unterscheiden: 1. Paralinguis-tische Mittel sind Hilfselemente für das Erreichen einer eindeutigen Kommunikation in Verbindung mit dem verallgemeinerten und halbsemantischen Charakter eigentlich sprachlich immanenter Mittel, und 2. paralinguistische Mittel dienen zur Kompensation einiger im realen Prozess der Kommunikation eliminierter überschüssiger sprachlicher Mittel (Kolšanskij 1973, 21). Dies zeugt von einem Doppelcharakter paralinguistischer Kommunikationsmittel: zum einen ermöglichen sie eine verkürzte Ausdrucksweise, zum anderen wirken sie ausgleichend innerhalb der Kommunikation. Sie sind jedoch nicht selbstständig, sondern ein Hilfsglied der sprachlichen Kommunikation (Kolšanskij1974, 8). Kolšanskij gesteht paralinguistischen Mitteln zu, eliminierte Elemente einer sprachlichen Struktur ersetzen und einen beliebigen Inhalt gleichwertig wiedergeben zu können. Sie sind „diejenigen funktional begründeten Erscheinungsformen des Zustands des sprechenden Subjekts, die erforderlich sind, um Lücken der verbalen Kommunika-tion zu schließen“ (Kolšanskij 1974, 32). Es kommt dabei zu einer sparsameren Ver-wendung der eigentlich sprachlichen Mittel, der Kompression von Sätzen, einem schnelleren Kommunikationstempo oder dem Ausgleich sprachlicher Ellipsen. Mit ei-nem Minimum an sprachlichen Zeichen soll ein maximaler Effekt der Information er-reicht werden (Kolšanskij 1973, 25). Die Funktionen der natürlichen Sprache gelten auch für paralinguistische Mittel. Zu diesen Funktionen gehören die soziative (Kontakt herstellende), emotive (emotionale), voluntative, kommunikative, apellative und reprä-sentative Funktionen. Paralinguistische Komponenten der Kommunikation können lin-guistische Informationen vervollständigen, das linguistische Zeichen ersetzen, indem die verbale Kommunikation unterbrochen wird oder zusammen mit ihr auftreten und dadurch den Inhaltsplan der Äußerung verdoppeln. Unterbrechen paralinguistische Komponenten den verbalen Teil der Kommunikation, führt dies seitens der linguisti-

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Einführung und theoretische Grundlagen 19

schen Kommunikation zu elliptischen Konstruktionen, die durch die nonverbalen ersetzt werden. In dieser Funktion können paralinguistische Komponenten praktisch jedes Satzglied ersetzen (Gorelov 1980, 15). Sie können alle Hauptfunktionen sprachlicher Zeichen erfüllen und faktisch an die Stelle eines verbalen Mittels im Text treten. Da-durch wird jedoch das semantisch-syntaktische Textganze deformiert. Um trotzdem die gesamte Kommunikation nachvollziehen zu können, müssen deshalb sowohl der verba-le Teil als auch die nonverbalen Komponenten wahrgenommen werden, um wieder eine sprachliche Einheit zu bilden (Gorelov 1980, 64).15

Zwischen linguistischen und paralinguistischen Elementen können Beziehungen funktionaler Synonymie und Translation bestehen, letztere v. a. bei den Gesten, voraus-gesetzt man sieht sie als eine Art paralinguistischer Mittel. Ein besonderes Kennzeichen paralinguistischer Erscheinungen ist es, dass sie sowohl bewusst als auch unbewusst gebraucht werden können. Unbewusste paralinguistische Mittel in der Kommunikation können auch imitiert werden. Deshalb ist es in manchen Fällen schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen bewusstem und unbewusstem Gebrauch dieser Erscheinungen (Nikolaeva/Uspenskij 1966, 72). Für Nikolaeva und Uspenskij ist es bei der Untersu-chung paralinguistischer Erscheinungen nicht von Bedeutung, ob dieses Verhalten aus Sicht des Adressanten selbst Zeichencharakter besitzt. Wie natürlich oder konventionell paralinguistische Mittel sind, kann nur für sich genommen entschieden werden und ist unabhängig von einem konkreten Verhalten oder dem konkreten Kommunikationspro-zess (Nikolaeva/Uspenskij 1966, 72). Alle paralinguistischen Erscheinungen begleiten die Redetätigkeit. Sie können jedoch unterschiedlich stark mit der Sprache verbunden sein.

Nicht zuletzt erfüllen sie auch eine kommunikative Funktion.

Im Folgenden wird versucht, paralinguistische von kinetischen Mitteln abzu-grenzen. Die Grenze zu ziehen zwischen rein paralinguistischen und kinetischen Ele-menten, ist jedoch auch nach der Meinung von Nikolaeva und Uspenskij nicht einfach. Letztere sind nicht unmittelbar mit der Sprache verbunden. Manchmal kann ein und dasselbe Verhalten sowohl als paralinguistische als auch als kinetische Erscheinung beurteilt werden. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen. Pa-ralinguistische Erscheinungen kann man funktional, unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung16

15 Unter einer sprachlichen Einheit versteht Gorelov irgendein Zeichen oder eine Verbindung belie-biger Zeichen, welche eine semantisch-syntaktische Einheit darstellen sowie eine Information in sich tragen, welche adäquat vom Adressaten aufgenommen werden kann (Gorelov 1980, 69). Im Gegensatz dazu steht das engere Verständnis von sprachlicher Einheit, worunter nur ein Wort oder eine Wortverbindung mit denselben Eigenschaften verstanden wird.

unterscheiden, wohingegen kinetische durch ihre lexikalische Bedeutung zu bestimmen sind, auch unabhängig von ihrer Funktion im Kommunikationsprozess (Nikolaeva/Uspenskij 1966, 70). Gemeinsam ist den beiden Erscheinungen, dass sie kein System im Sinne eines sprachlichen Systems bilden, wie die natürliche Sprache, bei der jedes Bedeutung tragende Element durch ein anderes erklärt werden kann. Die Gesamtheit der paralinguistischen Elemente stellt in diesem Sinne keine Sprache dar, da sie kein System per se besitzt, sondern sich auf die natürliche Sprache bezieht, welche

16 Nikolaeva und Uspenskij verwenden für Bedeutung den Begriff Substanz.

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20 Einführung und theoretische Grundlagen

sie begleitet (Nikolaeva/Uspenskij 1966, 71). Hier wird im Grunde leider nicht ganz klar, wo die kinetischen Erscheinungen in der Paralinguistik anzusiedeln sind. Sind sie Teil von ihr oder unabhängig davon eine weitere kommunikative Erscheinung?

Krejdlin versucht das Problem zu lösen, indem er sich den Besonderheiten kommunikativen Verhaltens nonverbaler und verbaler Einheiten zuwendet (Krejdlin2000, 5). Während es sich bei der Paralinguistik um außersprachliche Phänomene der Kommunikation handelt, befasst sich die Kinesik mit Gesten, Mimik, Posen und ande-ren Körperbewegungen mit Zeichencharakter. Sie beschäftigt sich mit linguistischen und psychologischen Beschreibungen der Gesten etc., ist demnach ausdrücklich kein Bestandteil der Paralinguistik. Kinetisches Verhalten in der Kommunikation erfüllt mehrere Funktionen, es

1) wiederholt oder dupliziert die sprachliche Information;2) widerspricht sprachlichen Äußerungen;3) ersetzt die Sprache;4) unterstreicht, verstärkt Komponenten der Rede;5) ergänzt in Sinnbezügen die sprachliche Äußerung;6) erfüllt die Rolle des Regulators der Kommunikation.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Einordnung kinetischer und damit ges-tischer oder mimischer Kommunikationsmittel zu den paralinguistischen Mitteln nicht von allen hier aufgeführten Linguisten einheitlich vorgenommen wurde. Dass es sich bei beiden Phänomenen um nonverbale Kommunikationsmittel handelt, die einen Teil der spontanen Rede ausmachen, wird jedoch nicht bestritten. Man kann deshalb sicher-lich feststellen, dass die Gesten als ein Typ paralinguistischer Mittel zu betrachten sind, welche in der Kommunikation als nonverbales Kommunikationsmittel in verschiedenen Funktionen und Bedeutungen zum Einsatz kommen.

Im Weiteren sollen zunächst die verschiedenen Definitionen von Geste erläutert werden, um danach ausführlicher die in der Russistik verbreiteten Vorschläge zur Klas-sifikation der verschiedenen Gesten darzulegen und zu beurteilen.

II.1.2. GestenSucht man in der Literatur nach einer Definition für Gestik oder Geste, stößt man auf unzählige Vorschläge. Wie schon weiter oben erwähnt, beschäftigt sich ein Großteil der russischen Arbeiten zu Gesten v.a. mit deren Klassifikation und Funktion innerhalb des Kommunikationsprozesses. Eine wichtige Rolle bei der Klassifikation von Gesten spielt zunächst immer die Definition dieser nonverbalen Kommunikationsmittel. Die ver-schiedenen Definitionen, die sich in der russischen Forschung finden lassen, ähneln sich in ihren Grundzügen natürlich alle, auch wenn einige kleinere Unterschiede festzuma-chen sind.17

17 Auf die Darstellung solcher Arbeiten, die unter Gesten nur Bedeutung tragende bzw. symboli-sche Bewegungen der Hände verstehen, wird hier verzichtet, da sie einen viel zu engen Gestenbegriff repräsentieren, der viele andere symbolische Körperbewegungen für die Untersu-chung ausschließt.

Im Folgenden soll eine Auswahl verschiedener Definitionen vorgestellt

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Einführung und theoretische Grundlagen 21

werden, die als Repräsentanten für den unterschiedlich weit bzw. eng gefassten Gestenbegriff stehen. Danach werden einzelne Klassifikationsmuster für Gesten erläu-tert, die in der russischen Forschung zur nonverbalen Kommunikation wichtig erschei-nen.

II.1.2.1. DefinitionWie schon festgestellt wurde, gehören Gesten und auch die Mimik zum Kommunikati-onsprozess, in dem sie eine enge Wechselbeziehung mit sprachlichen Mitteln eingehen. Gesten treten gehäuft dann auf, wenn kommuniziert wird. Sie sind Bewegungen des Körpers. Da Gesten demnach visuelle Mittel der Kommunikation darstellen, sind sie zunächst der mündlichen Rede vorbehalten, weil zu ihrer Wahrnehmung die direkte Gegenüberstellung der Kommunikationsteilnehmer erforderlich ist, d.h. Sprechzeit-punkt und Sprechort fallen zusammen. Gesten haben aber auch etwas mit Handlungen zu tun. Man kann eine Geste betrachten als ein „early stage of an act“18, die „allows others to respond to the act that it indicates before the fact.“19

„the relation between the gesture and subsequent behavior (...) as indicated to another human organism by that gesture, (...) a relation between certain phases of the social act. A gesture is meaningful, in other words, because it makes an ac-tionprojection.“

„Gestures, thus, have meaning.“ Unter Bedeutung versteht man hier

Somit wird die Geste zum signifikanten Symbol, wenn sie dieselbe Wirkung auf den Sprecher wie auf den Hörer hat.

Man kann zwei verschiedene Ansätze zur Definition von Gesten festmachen. Zum einen ein semiotisch geprägter Ansatz, der Gesten als Zeicheneinheiten bzw. als System von Zeichen sieht, das symbolische Bedeutung hat und konventionell verwendet wird.20 Zum anderen eher pragmatisch orientierte Definitionen, welche die Gesten in ihrer Funktion im Kommunikationsprozess beschreiben.21

Demnach lässt sich eine Geste zunächst definieren als eine Körperbewegung, die bewusst oder unbewusst ausgeführt wird, um Gedanken oder Emotionen auszudrücken. Dabei kann sie die Rede begleiten, ergänzen oder ersetzen. Diese Definition der Geste

Kostomarov, wobei auch sie den kommunikativen As-pekt in den Vordergrund stellen:

- ono ili neproizvol’no vyvodit vovne vnutrennee duševnoe sostojani

18 George H. Mead zitiert nach Jürgen Streeck: The dipreferred other. In: (On) Searle on Conversa-tion, hrsg. v. John R. Searle et al., Amsterdam, Philadelphia 1992, S. 129-136.

19 ebd. S. 132.20 Siehe hierzu Pšenko (1989, 29), Valjagin und Solov´eva (1989, 77f.), Krejdlin (1998, 174f.).21 79, 48), Akišina

et al. (1982, 159), Rathmayr (1986, 333ff.).

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soznatel’no peredajut informaciju drug drugu“ ( 1981, 36).22

Gesten können bewusst oder unbewusst auftreten. Sie begleiten, ergänzen oder ersetzen den verbalen Teil der Rede. Um kommunikativ einsetzbar zu sein, ist ein voraussetzen-des Merkmal ihre in der Sprachgemeinschaft vereinbarte Kodierung.

Zusammenfassend lässt sich eine Geste demnach definieren als kodierte kom-munikative Körperbewegung mit Zeichencharakter, die als illokutionärer Akt eine kommunikative Funktion erfüllt, eine bestimmte Mitteilung überträgt und verbale Äu-ßerungen performativ ergänzen oder ersetzen kann.

Geht man von dieser Begriffsbestimmung der Geste aus, muss man die verschie-denen Klassifizierungsvorschläge genau untersuchen, um die Abgrenzung von anderen Körperbewegungen beibehalten zu können. Dies soll im folgenden Abschnitt gesche-hen.

II.1.2.2. KlassifikationSemiotisch betrachtet werden Gesten unter der Fragestellung, welche Modalitäten Ges-ten in Relation zu ihrer Bedeutung besitzen. Es wird unterschieden zwischen Gesten, welche ihre Bedeutung direkt indizieren, solchen Gesten, welche ihre Bedeutung be-schreiben oder indirekt erklären und Gesten, bei denen das Verhältnis zwischen der Bewegungsform und der ausgedrückten Bedeutung rein konventionell ist. Funktional werden Gesten dagegen nach der Art und Weise ihrer Anwendung in Relation zum sie begleitenden Diskurs klassifiziert. Bei einer funktionalen Klassifikation wird die Rolle der Geste in der Kommunikation betrachtet. Hier lässt sich unterscheiden zwischen Gesten, die nicht zu trennen sind von einem bestimmten Kommunikationsakt, Gesten, die nicht zu einem bestimmten Kommunikationsakt gehören, sondern über eine eigene funktionale Autonomie verfügen, und schließlich Gesten, die den psychologischen oder mentalen Zustand des Gestikulierenden zeigen. Diese Richtungen der Klassifikation spiegeln sich auch in den hier dargestellten Versuchen wider. Pragmatisch gesehen werden Gesten nach Art ihrer Herkunft oder ihrer Verwendbarkeit im Kommunikati-onsprozess klassifiziert.

Im Folgenden werden diese drei Klassifizierungsansätze vorgestellt, welche sich in der russistischen Gestenforschung etabliert haben.23

Semiotische bzw. semantische Klassifizierung Sowohl Nikolaeva als auch Kapanadze/Krasil´nikova (1973) unterscheiden nach ihrer lexikalischen Bedeutung im Prinzip drei Gruppen von Gesten (Nikolaeva 1969, 56):

22 „Gesten nennt man alle Körperbewegungen, wobei man darunter kommunikatives, Bedeutung tragendes Verhalten versteht - entweder es führt unfreiwillig den inneren Seelenzustand eines Menschen nach außen, oder die Kommunizierenden vermitteln sich mit dessen Hilfe gegenseitig bewusst eine Information.“ [Übers. d. A.]

23 Weitere Klassifizierungsvorschläge finden sich bei Müller (1998). Ich verzichte auf die Darstel-lung der Klassifizierung von Pronnikov und Ladanov (1998), da diese zu konfus und unstruktu-riert ist.

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1) symbolische Gesten, die kodifiziert sind, hierzu gehören v.a. Gesten der Begrü-ßung oder Verabschiedung, der Ablehnung oder Zustimmung und Gesten, die Appellfunktion24

2) ikonische Gesten, d.h. sie stellen etwas dar, indem sie einige Momente der Rede herausnehmen und beschreiben, z.B. das Rühren in einer Teigschüssel, ausge-drückt durch das kreisförmige Bewegen des Unterarms mit zur Faust geballter Hand;

besitzen;

3) deiktische Gesten, d.h. sie weisen auf etwas hin.

Kapanadze und Krasil´nikova unterscheiden zusätzlich zwischen so genannten Zei-chengesten (znakovye žesty) und Gesten, die keine Zeichen darstellen, den neznakovye žesty25

Die neznakovye žesty werden klassifiziert in rhythmische und emotionale Gesten beschreiben Kapanadze und Krasil´nikova folgendermaßen: Die rhythmische Geste

(Kapanadze/Krasil´nikova 1973, 456). Die Zeichengesten unterteilen sie in die gleichen Gruppen wie Nikolaeva.

kivaet 26

Der Rhythmus der Geste unterstreicht die Aussage der Rede. Dadurch werden bestimm-te Teile der Rede hervorgehoben und verstärkt. Die Aufmerksamkeit richtet sich stärkerauf sie als auf andere Redeabschnitte. Rhythmische Bewegungen können Nuancen ver-mitteln, die ohne sie nicht klar erkennbar wären. Emotionale Gesten geben die Emotio-

(diktum)“ (Kapanadze/Krasil´nikova 1973, 466).

(Kapanadze/Krasil´nikova 1973, 465)

27 Verstärkt wird ihre Rol-le durch Mimik und Intonation. Wie wichtig diese emotionalen Bewegungen sind, be-zeugt die große Anzahl von Redewendungen, die solche Gesten wiedergeben. Davon an einer anderen Stelle mehr. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass dieser Typ von Gesten für die weitere Untersuchung eine nicht zu übersehende Rolle spielen wird.28

Eine andere Art von semantischer Klassifizierung unternimmt Krejdlin in einer ersten Arbeit über russische emblematische Gesten.29

24 Das sind Gesten, die Herbei- oder Wegrufen symbolisieren, Fragen oder Bitten ausdrücken.

Er unterscheidet hier zweierlei

25 Die neznakovye žesty unterteilen sich in rhythmische und emotionale Gesten.26 „verdoppelt teilweise die Intonation, macht aus ihr ein im wörtlichen Sinne anschauliches Wort –

sondert nach der Intonation bestimmte sprachliche Syntagmen aus, kennzeichnet ihre Grenzen, weist auf Beschleunigung oder Verlangsamung des Redetempos hin, unterstreicht die logische Betonung (das Zentrum der Intensität).“ [Übers. d. A.]

27 „indem sie die Beziehung des Sprechers (den Modus) zum Inhalt der Äußerung (diktum) ausdrü-cken.“ [Übers. d. A.]

28 siehe auch Smirnova (1977)29 Unter Emblemen versteht er Gesten und deren Aufeinanderfolge, die nicht nur Handlungen aus-

drücken, sondern auch die verbalen Elemente in der Kommunikation verändern, wobei sie den Textinhalt bewahren (Krejdlin 1999a, 173).

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24 Einführung und theoretische Grundlagen

Gesten: kommunikative und symptomatische (Krejdlin 1998, 175ff.)30

Klassifizierung nach der Funktion

. Die kommuni-kativen Gesten tragen eine Information, welche der Gestikulierende absichtlich dem Adressaten vermittelt. Sie sind rein dialogisch. Einige von ihnen gehören zu den primä-ren Sprechakten, einige sind Antworten und Replikreaktionen. Zu den kommunikativen Gesten gehören deiktische Gesten und so genannte Etikett-Gesten. Erstere beinhalten in ihrer Semantik ein Zeigen auf die Teilnehmer einer kommunikativen Situation oder auf einen Ort, der relevant ist für die gegebene Situation (Krejdlin 1998, 177). Die Gesten der Etikette werden in konkreten, streng bestimmten Situationen in der Eigenschaft ei-nes Elements ausgeführt. Sie vermitteln eine Information über die Struktur eines Kol-lektivs, zu dem der Gestikulierende gehört oder eine Information über den Typ einer sich entwickelnden Situation. Etikett-Gesten sind paralinguistische Korrelate eines kon-kreten Sprechaktes. In der Beschreibung eines Sprechaktes der Etikette ist oft eine In-formation über die außersprachlichen Möglichkeiten ihrer Realisierung enthalten. Zu den Etikett-Gesten gehören Gesten der Höflichkeit, Begrüßungs- und Verabschiedungs-gesten und Gesten der Tischetikette. Darüber hinaus gibt es auch sozial markierte Situa-tionen, die die Erfüllung bestimmter Etikett-Gesten erfordern, wie bei der Armee oder bei Diplomaten. Etikett-Posen und Etikett-Gesten duplizieren nicht nur den Inhalt einer bestehenden Situation und der darüber hinaus gesprochenen Worten, sie können zusätz-liche Gedanken der Bewunderung, Höflichkeit, Subordination (Unterwürfigkeit, Domi-nanz) oder Intimität ausdrücken. Symptomatische Gesten geben den emotionalen Zu-stand des Sprechers wieder (Krejdlin 1998, 181). Krejdlin siedelt sie zwischen gesti-schen Bewegungen und kommunikativen Gesten an. Mit den gestischen Bewegungen verbindet sie, dass physiologische Reaktionen Basis jeglicher Emotionen sind. Die Ver-bindung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem bleibt bei symptomatischen Ges-ten jedoch konventionell. Die Emotion ist das Bezeichnende der symptomatischen Ges-te und nicht ihre physiologische Erscheinung. Eingang finden diese Gesten in das Gestensystem der Sprache dadurch, dass der Gestikulierende sie absichtlich zur Be-schreibung einer bestimmten Emotion produziert. Der Gestikulierende kann die Emoti-on weit weniger stark bzw. überhaupt nicht oder im Gegenteil viel stärker empfinden als es die Geste ausdrückt. Deshalb kann man bei den symptomatischen Gesten davon aus-gehen, dass sie in zwei unterschiedlichen Typen auftreten: als rein symptomatische Ges-ten (im Ausgangsgebrauch) und als kommunikative Gesten im übertragenen Gebrauch.

Wie bereits erläutert, kann man die Gesten nach ihrer Bedeutung bzw. nach ihrem Inhalt und nach ihrer Funktion in Bezug auf die lautliche Sprache in verschiedene Gruppen einteilen. Nikolaeva beschreibt für die symbolischen Gesten, welche kulturell festgelegt sind und einen speziellen Gestenfonds bilden, der vollständig kodifiziert ist und erst erlernt werden muss, folgende Funktionen (Nikolaeva 1969, 50)31

30 Zu kommunikativen Gesten siehe auch Smirnova (1977, 347f.).

: Gesten, welche a) die Rede ersetzen (einen Vogel zeigen) oder b) begleiten (Hände schütteln bei Begrü-ßung oder Verabschiedung), c) expressiv verstärken (Drohung durch Faust, Beschimp-

31 siehe auch Smirnova (1977)

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Einführung und theoretische Grundlagen 25

fung durch Stinkefinger) oder d) durch beschreibende Elemente ergänzen (beschrieben wird z.B. eine zweckbestimmte Handlung, z.B. das Gießen von Pflanzen).

Krejdlin nimmt in einer zweiten Arbeit (2000, 26) auch eine funktionale Klassi-fizierung von Gesten vor. Daraus ergibt sich dann, dass nur ein Teil der Gesten kom-munikative oder symptomatische Gesten sind. Zu den funktionalen Klassen der Gesten gehören

a) emblematische Gesten oder Embleme, die eine eigenständige lexikalische Be-deutung besitzen und geeignet sind eine Bedeutung unabhängig vom verbalen Kontext zu vermitteln32;

b) illustrative Gesten oder Illustratoren, die ein sprachliches Fragment der Kommu-nikation hervorheben. Sie können ihre Bedeutungen nicht unabhängig vom ver-balen Kontext übermitteln und werden niemals ohne diesen verwendet bzw. ver-standen. Sie treten immer gemeinsam mit der Rede auf und dienen zur Illustrati-on des Ausgesprochenen. Illustratoren unterstreichen Wörter oder Ereignisse, stellen den Rhythmus der aktuellen Rede oder der stimmlichen Besonderheiten dar und übersetzen diejenigen Objektformen, über die im Text geredet wird, bildlich, heben das Wichtige vom Nebensächlichen ab.

c) regulative Gesten oder Regulatoren, die durch die Bewegung den kommunikati-ven Prozess regeln. Sie legen die Kommunikation fest, unterstützen und beenden sie. Regulatoren können sowohl zusammen mit der Rede als auch ohne sie auf-treten.

Pragmatische KlassifizierungRathmayr betrachtet Gesten als illokutionäre Akte und kommt dadurch zu einer rein pragmatischen Klassifizierung von Gesten. Betrachtet man die Gesten als illokutionäre Akte33, können diese nach der Theorie der Sprechakte von Searle unterteilt werden in fünf verschiedene Gruppen (Rathmayr 1986, 68):

I. gestische Assertive, d.h. Gesten, die Behauptungen, Feststellungen oder Versi-cherungen darstellen. Sie beziehen sich zumeist auf Zustände der menschlichen Psyche oder auf zwischenmenschliche Beziehungen. Dazu gehören:

a. Antwortrepliken b. Hinzeigegesten

c. ikonische Gesten II. gestische Direktive, d.h. Gesten, die zu einer bestimmten Handlung veranlassen

oder auffordern, wie z.B. an die Tür klopfen, das Aussprechen von Verboten

32 Im Russischen sind Embleme zu einem Großteil nonverbale Analogien von Wörtern. 33 Als illokutionäre Akte bezeichnet Searle nach Austin vollständige Sprechakte, d.h. Sprechakte,

die behaupten, fragen, befehlen, versprechen usw. Dabei ist es für einen illokutionären Akt cha-rakteristisch, dass gleichzeitig Wörter geäußert werden, auf ein Objekt verwiesen oder präzisiert wird. „Illokutionäre Akte sind dadurch charakterisiert, dass sie vermittels der Äußerung von Lau-ten oder der Verwendung von Zeichen vollzogen werden.“(Searle 1983, 68.)

Siehe dazu John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophisches Essay. Frankfurt a. M. 1983.

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26 Einführung und theoretische Grundlagen

oder Drohungen. Dazu gehören: a. imperativistische Gesten und b. bittende Gesten

III. gestische Kommissive, d.h. Gesten, die ein bestimmtes Verhalten bestärkend festlegen.

IV. gestische Expressive, d.h. Gesten, die „den in der Aufrichtigkeitsbedingung34

angegebenen psychischen Zustand zum Ausdruck“ bringen (Searle 1983, 340). Diese Gesten sind Begleiter der Rede, die Dank oder Bitte, Beileid, Bedauern, Begrüßung, Zustimmung oder Ablehnung, Sich-Ergeben, Resignieren, Begeiste-rung vermitteln.

V. gestische Deklarationen, d.h. Gesten, die den erfolgreichen Vollzug einer Hand-lung ausdrücken, wie z. B. Rituale.

Diese Klassifizierung hebt den kommunikativen Charakter der Gesten hervor, indem die Auswirkungen des Aktes mit in die Untersuchung einbezogen werden. Scherer verwendet ähnliche Begriffe, wie sie bei Rathmayr zu finden sind. Er stellt die deiktischen Gesten als „gestische Deikteme“ als eigene Gruppe heraus, die bei Searle u.a. zu den Assertiven gehören. Ikonische Gesten bezeichnet er als Illustratoren. Gesti-sche Direktive bezeichnet Scherer als gestische Impresseme im Gegensatz zu den Expressemen. Eine weitere Gruppe stellen bei ihm die gestischen Reguleme dar, die den Dialog regulieren. Sie tauchen bei Rathmayr nicht auf (Scherer 1984, 131).

Auch Krejdlin (2000)35 nimmt in einer dritten Arbeit eine pragmatische Klassifi-zierung von Gesten vor. Er bezieht sich dabei jedoch nicht auf die Sprechakttheorie von Searle, sondern unterscheidet mehr nach dem kommunikativen Sprachgebrauch36 zwi-schen 1. althergebrachten oder entlehnten Gesten; 2. Gesten einer Sprache und dialekta-le (territoriale, berufliche, soziale und konfessionelle) Varianten bzw. gestische Dialek-te; 3. Männer- und Frauengesten, Kindergesten; 4. Gesten mit Adaptoren und ohne Adaptoren37; 5. pragmatisch erlernte und nicht erlernte Gesten38 und 6. Gesten, die eine standardisierte sprachliche Nomination haben und Gesten, die dies nicht haben.39

34 Nach Searle eine Bedingung für ein Versprechen. Der Sprecher hat die Absicht, das Versproche-ne zu tun. (SEARLE 1983, 93)

35 Das mir vorliegende Manuskript wurde nicht veröffentlicht. Sein Inhalt ist Teil des 2002 erschie-nenen Neverbal´naja semiotika.

36 Siehe hierzu auch Kuliš (1983, 33f.) 37 Ekman und Friesen (1969, 84ff.) haben diesen Begriff eingeführt. Adaptoren werden ihrer Mei-

nung nach zuerst gelernt „as a part of adaptive efforts to satisfy self or bodily needs, or to per-form bodily actions, or to manage emotions, or to develop or maintain prototypic interpersonal cantacts, or to learn instrumental activities“ (1969, 84). Sie unterscheiden dabei self adaptors, al-ter-adaptors und object adaptors. Für Krejdlin sind Adaptoren immer verbunden mit einem durch sie bei der Bewegung ausgelösten Geräusch, das durch das Berühren des Gesteninstruments mit einem anderen Körperteil oder Objekt zustande kommt. Eine Geste mit einem Adaptor ist z.B. pochlopat´ po ple u ‘auf die Schulter klopfen’ oder das Applaudieren, ei-ne Geste ohne Adaptor stellt z.B. machnut´ rukoj ‘winken’ dar.

38 Pragmatisch angeeignete Gesten sind Gesten, die für die Menschen eines Kulturkreises fest und gewohnt sind und häufig benutzt werden; pragmatisch nicht angeeignete Gesten werden im Kommunikationsprozess bei weitem nicht so oft benutzt und als Gesten weniger zuverlässig er-kannt (Kreijdlin Aftoreferat 2000, 28).

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Autor Art der Klassifizierung GestenartNikolaeva a) Semantisch

b) Nach der Funktion

1) symbolische Gesten2) ikonische Gesten3) deiktische Gestenzu 1) a) Rede ersetzend

b) Rede begleitendc) Rede verstärkendd) Rede ergänzend

KapanadzeKrasil´nikova

a) Znakovye žesty

b) Neznakovye žesty

1) deiktische Gesten2) ikonographische Gesten3) symbolische Gesten

1) rhythmische Gesten2) emotionale Gesten

Smirnova a) Nach der Funktion

b) Semantisch

1) Rede ersetzend2) Rede begleitend bzw. nicht begleitend

1) kommunikative Gesten2) modale Gesten3) emotionale Gesten

Rathmayr Nach Illokution 1) Assertive: Antwortrepliken, Hinzeigegesten, ikonische Gesten2) Direktive: imperativistische, bittende Ges-ten3) Kommissive: ein Verhalten bestärkende Gesten4) Expressive: Gesten drücken psychischen Zustand aus5) Deklarationen: Rituale

Krejdlin 1) Semantisch

2) Nach der Funktion

3) Pragmatisch

1) kommunikative Gestena) deiktische Gestenb) Etikettgesten: Gesten der Höflichkeit, Be-grüßungs- und Verabschiedungsgesten, Gesten der Tischetikette2) symptomatische Gesten

1) Embleme2) Illustratoren3) Regulatoren

1) entlehnte Gesten2) Gesten einer Sprache und dialektale Gesten3) geschlechts-, altersspezifische Gesten4) Gesten mit und ohne Adaptoren5) erlernte und nicht erlernte Gesten6) Gesten mit oder ohne standardisierter sprachlicher Nomination

Tabelle 1: Klassifizierungen von Gesten

39 In seinem 2002 erschienenen Buch Neverbal´naja semiotika verwendet Krejdlin statt sprachlich standardisiert die Charakterisierung stilistisch markierte und stilistisch unmarkierte Gesten (2002a, 98).