Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die...

52
Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien Wien Heft 4 Winter 2013/2014

Transcript of Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die...

Page 1: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien Wien

Heft 4Winter 2013/2014

Page 2: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Besprechungen 4 Inhalt

1 «Ein Land voller Stimmen» Thomas Geldner

6 LiteratInnen in der Bibliothek, BibliothekarInnen in der Literatur Werkauszüge

6 ein ende ist nicht abzusehen Rudolf Kraus

7 Seeherz, Bergangst Claudia Bitter

10 Die Bücherei in der Pilgramgasse Beppo Beyerl, Rudi Hieblinger

Belletristik

11 Ulrike Edschmid Das Verschwinden des Philip S. 11 Andrea Camilleri Ein Samstag unter Freunden 12 Barbara Aschenwald Omka 12 Ferdinand Bordewijk Bint. Roman eines Senders 12 Francisco Azevedo Der Hochzeitsreis 13 Alessandro Baricco Emmaus 13 Jorge Louis Borges Die unendliche Bibliothek 14 Amélie Nothomb So etwas wie ein Leben 14 Helmut Darer Wer mit Hunden schläft 14 Gabriella Engelmann Inselsommer 15 Johannes Gelich Wir sind die Lebenden 15 Joel Haahtela Die Verschwundenen von Helsinki 16 Fawwaz Haddad Gottes blutiger Himmel 16 Ronaldo Wrobel Hannahs Briefe 16 Peter Henisch Mortimer & Miss Molly 17 Moacyr Scliar Kafkas Leoparden 17 Hasan Ali Ider Djihad für Lila 18 Hiromi Kawakami Bis nächstes Jahr im Frühling 18 Erwin Koch Von dieser Liebe darf keiner wissen 19 Kevin Kuhn Hikikomori 19 Andrej Longo Das Sonnenblumenfeld 20 Carolina De Robertis Perla 20 Anna Rottensteiner Lithops. Lebende Steine 21 Luiz Ruffato Es waren viele Pferde 21 Ulrike Ulrich Hinter den Augen: eine Untersuchung 22 David Vann Dreck 22 Jan Kossdorff Kauft Leute

Belletristik – Krimi und Thriller

23 Michael Scott, Colette Freedman Die 13 Heiligtümer 23 Belinda Bauer Der Beschützer 23 Tove Alsterdal Tödliche Hoffnung 24 Yrsa Sigurðardóttir Todesschiff 24 Ursula Poznanski Blinde Vögel 25 Jacqueline Gillespie Schade um die Lebenden 25 Lisa Lercher Mord im besten Alter 26 Wolfgang Popp Ich müsste lügen 26 Thomas Raab Der Metzger kommt ins Paradies

Kinderbuch – Bilderbuch und Sachbilderbuch

27 Willy Puchner ABC der fabelhaften Prinzessinnen 27 Harriet Grundmann, Tobias Krejtschi Die Sache mit Nummer 8 27 Piet Grobler, Dianne Hofmeyr Bojabi, der Zauberbaum 28 Maria Theresia Rössler, Brunella Baldi Prinzessin Leonie und der linkshändige König 28 Anne-Kathrin Behl Tobi und die Alten 29 Thomas Müller Apfelsaft holen 29 Judith Drews, Andrea Peter, Regina Voss, Cally Stronk (Atelier Flora) Stell die Welt auf den Kopf 30 Birgit Unterholzner, Robert Göschl Lilo im Park 30 Birgitta Sif Oliver 31 Tor Freeman Olivia und das große Geheimnis 31 Maurice Sendak Wurstl-Wutz

Kinderbuch – Erzählendes

32 Saskia Hula, Ina Hattenhauer Die coolste Schule der Welt 32 Philip Ardagh Familie Grunz hat Ärger 33 Michael De Cock, Judith Vanistendael Rosie und Moussa 33 Hilde E. Gerard Heinrich Ooooh und die Schwarzen Sieben 33 Corina Bomann Und morgen am Meer 34 Heinz Janisch Kommt ein Boot ... 34 Kathleen Lane Nana im Angesicht des süßen Verbrechens 35 Michael Roher, Elisabeth Steinkellner Wer fürchtet sich vorm lila Lachs? 35 Dave Shelton Bär im Boot 36 Christine Nöstlinger Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollte

Kinderbuch – Sachbuch

37 Jan von Holleben, Antje Helms Kriegen das eigentlich alle? Die besten Antworten zum Erwachsenwerden 37 Meike Blatzheim, Beatrice Wallis Jetzt tu ich was: von der Lust, die Welt zu verändern 38 Anke M. Leitzgen, Thekla Ehling, Judith Drews Meine Gartenwerkstatt 38 Angela Wenzel Kunst machen. 13 Techniken, die du kennen sollst 39 Thomas Feibel Facebook und andere Netzwerke 39 Wolfgang Korn, Klaus Ensikat Die Geheimnisse von Troja

Jugendbuch

40 Ally Kennen Bullet Boys 40 Janet Clark Sei lieb und büße 40 Ursula Dubosarsky Der kürzeste Tag des Jahres 41 Huntley Fitzpatrick Mein Sommer nebenan 41 Jaromir Konecny Dönerröschen

Sachbücher

42 Myriam Veit Heilkosmetik aus der Natur. Pflegende Salben, Öle und Essenzen selber machen 42 Rita Newman, Thomas Trenkler Ich fiel in eine Welt. Gespräche über die Kunst und das Leben 43 Katajun Amirpur Den Islam neu denken: der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte 43 David McCleery Romantik 44 Sabine Henze-Döhring Verdis Opern. Ein musikalischer Werkführer 44 Rolf Bauerdick Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk 45 Otto Dov Kulka Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft 45 Marc Lindemann Kann Töten erlaubt sein? Ein Soldat auf der Suche nach Antworten 46 Robert M. Edsel, Bret Witter Monuments Men. Die Jagd nach Hitlers Raubkunst 46 Horst Dieter Schlosser Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus 47 Alfons Schuhbeck Die Schuhbeck-Diät. Iss dich schlank mit viel Energie und wenig Kalorien 47 Gudula Walterskirchen «Der Franzi war ein wenig unartig»: Hofdamen der Habsburger erzählen 48 David Blatner Extremwelten. Unser unfassbares Universum von unendlich klein bis unendlich 48 Saul Frampton Wenn ich mit meiner Katze spiele – woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt? Montaigne und die Fragen des Lebens

Page 3: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Liebe Leserinnen und Leser,

Was macht ein Buch eigentlich zu einem Buch? Lexika ordnen einem Buch folgende Eigenschaften zu: Es besteht aus einem Einband, der einige mehr oder weniger bedruckte (in Einzel-fällen auch gänzlich leere) miteinander verbundene Blätter um- schließt und ist im Regelfall der Öffentlichkeit zugänglich. Bibliotheken und Büchereien wählen aus den auf dem internationalen Buchmarkt erhältlichen Büchern nach Belie- ben jene aus, die sie ihren Leserinnen und Lesern anbieten wollen. Für das uneingeschränkte Verleihrecht erhalten Autor- innen und Autoren gedruckter Bücher eine so genannte Bib- liothekstantieme, die im Urheberrecht geregelt ist. Vor genau 25 Jahren kamen elektronische Bücher auf den Markt, so genannte E-Books, auf die die oben angeführte Defi- nition nicht zutrifft. Dies hat zur Konsequenz, dass E-Books rechtlich nicht als Bücher gelten, somit nicht von der Biblio-thekstantieme erfasst werden und daher Bibliotheken kein Recht haben, diese nach eigenem Gutdünken und ohne Ein- schränkungen ihren Leserinnen und Lesern anzubieten. Auch die Büchereien Wien können für ihre seit 2010 be- stehende virtuelle Bücherei nicht unter allen am Markt ver- fügbaren E-Books auswählen, sondern sind auf das Angebot eines einzigen Anbieters angewiesen, der mit den Verlagen Lizenzverhandlungen führt und damit die Bedingungen des Verleihs, aber auch der Entschädigung der Autorinnen und Autoren vorgibt. Die Büchereien Wien haben mittlerweile zwar ein mehr als respektables Angebot an elektronischen Büchern, Tatsache ist aber, dass es viele Titel gibt, die wir gerne verleihen würden, aber nicht dürfen. Bibliotheksverbände auf der ganzen Welt setzen sich seit einiger Zeit dafür ein, dass E-Books urheberrechtlich physi-schen Büchern gleichgestellt werden, damit Bibliotheken und Büchereien auch im Bereich der E-Books frei entscheiden können, welches Angebot sie ihren Leserinnen und Lesern bieten möchten. Entsprechende Wünsche sind unlängst vom Büchereiver-band Österreich bei allen österreichischen Parteien deponiert worden und ich hoffe sehr auf eine zeitgemäße Adaptierung des Urheberrechts schon in der nächsten Legislaturperiode.

Ich wünsche Ihnen eine bereichernde und anregende Lektüre

Markus Feigl Bibliothekarischer Leiter der Büchereien Wien

Page 4: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

1 Besprechungen

Für die indische Literatur war die letzte Buchmesse ein Segen, zahlreiche Autoren wurden mit einem Schlag bekannt und sind seither Fixstarter in mitteleuropäischen Buchhandlun-gen und Bibliotheken. Einen ähnlichen Boom kann man der brasilianischen Literatur nur wünschen, denn hierzulande werden bisher nur relativ wenige Autoren von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen bzw. gelesen. Auch der erste Buchmesse-Auftritt Brasiliens 1994 zeigte wenig nachhaltige Effekte, denn viele neuübersetzte Autoren waren bald darauf wieder vergessen und ihre Bücher vergriffen. Damals erwähnte der bekannte brasilianische Schriftsteller João Ubaldo Ribeiro, dass er vom europäischen Publikum oftmals mit folgen-den Fragen bedacht wurde:

Gibt es wirklich Literatur in einem Land, das irgendwo liegt, wohl auch bewohnbar ist und von dem man weiß, es gibt dort riesige Wälder, gute Fußballspieler, verfolgte Indios, Mulattinnen mit üppigen Hinterteilen, Gewalt in der Stadt, Elend, tropische Krankheiten, Kokospalmen und Diktatoren, die in ordensgeschmückten Uniformen stecken? Und wenn es die Literatur gibt, ist sie dann wirklich notwendig? Sollten diese pittoresken Eingeborenen sich nicht lieber darauf kon- zentrieren, ganz konkret die Situation ihres Landes zu verbessern, statt Romane und Gedichte zu schreiben? 1

Brasilien war in diesem Jahr nach 1994 bereits zum zweiten Mal das Gastland der Buchmesse in Frankfurt. Das hatte davor nur ein Land geschafft, nämlich Indien, das 1986 und 2006 als Ehrengast nach Frankfurt eingeladen wurde. Kein Wunder, denn nicht zuletzt aufgrund ihres gigan- tischen Wirtschaftswachstums gelten beide Länder neben China als angehende Weltmächte und als Global Player mit hohem Zukunftspotential.

Books on Brazil © Frankfurter Buchmesse/Alexander Heimann

«Ein Land voller Stimmen»Zum Gastland-Auftritt Brasiliens bei der Frankfurter Buchmesse 2013

Page 5: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/20142 Besprechungen

Die Antworten auf diese Fragen ist uns Ribeiro leider schuldig geblieben, allerdings gibt er zu, dass es nicht immer leicht war, sein Temperament im Zaum zu halten ... Diesmal soll alles anders werden, die Brasilianer sind ausgezogen, um auch im kollekti-ven Bewusstsein der lesenden Welt ihren Platz einzunehmen. Und sie kommen unter ganz anderen Vorzeichen als noch 1994, denn nach dem gewaltigen Aufschwung der letzten Jahre fährt Brasilien 2013 als führende Wirtschaftsmacht Lateinamerikas zur weltgrößten Bücherschau nach Frankfurt. Und sie haben einiges an guter Literatur mit im Gepäck. Vor- rangiges Ziel sei es, Portugiesisch als Weltsprache in der Literatur zu stärken, sagte Renato Lessa, Präsident der Stiftung Brasilianische Nationalbibliothek und Organisator des Gast- land-Auftritts.2 Darüber hinaus werden mithilfe eines mehrere Millionen Euro starken Re- gierungsfonds in den kommenden Jahren 270 Bücher in andere Sprachen übersetzt, 71 da- von sind rechtzeitig zur Buchmesse auf Deutsch erschienen. Mit 192 Millionen Einwohnern ist Brasilien nicht nur das bevölkerungsreichste Land Süd- amerikas, sondern auch einer der größten Buchmärkte weltweit. 50 % aller Bücher Latein-amerikas werden in Brasilien produziert und auch der E-Book-Markt soll zu den größten der Welt gehören. Jährlich finden in Brasilien rund 15 Buchmessen statt, von denen die größte – Bienal do Livro – abwechselnd in Rio de Janeiro und São Paulo stattfindet. Die letzte Messe zog 750.000 Besucher an, fast dreimal so viel wie die Frankfurter Buchmesse 2012. Dieses Jahr ist Brasilien mit fast 100 Verlagen, etwa 70 Autorinnen und Autoren und einer Vielzahl von Politikern, Journalisten und Buchmenschen aller Art in Frankfurt vertreten. Einige der Autoren – Luis Ruffato, Beatriz Bracher, Carola Saavedra und Luis Krausz – sind nach der Buchmesse übrigens gleich nach Wien weitergereist, um im Rahmen der Brasi- lianischen Literaturwoche in der Wiener Hauptbücherei zu lesen. Paulo Coelho, einer der weltweit bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Auto- ren Brasiliens ist allerdings nicht zur Buchmesse gekommen; er begründete seinen Boykott damit, dass viele der jungen und aufregenden brasilianischen Autoren nicht Teil der offizi- ellen Delegation waren. «Von den 70 Eingeladenen kenne ich nur 20, von den anderen 50 ha- be ich noch nie etwas gehört. Das sind dann vermutlich Freunde von Freunden von Freunden», so der Autor, der den Literaturverantwortlichen des Landes Vetternwirtschaft vorwirft.3

Wer sich in Österreich mit Brasilien beschäftigt, wird früher oder später auf Stefan Zweig stoßen. Schon der Titel seines 1941 erschienenen Essays – Brasilien. Ein Land der Zukunft – wirkt aus heutiger Sicht fast prophetisch. Rechtzeitig zur Buchmesse ist im Insel Verlag eine schöne Neuausgabe erschienen, die trotz des zeitlichen Abstands in vielen Bereichen bis heute gültig und auf jeden Fall lesenswert ist. Selbstverständlich widmet sich Stefan Zweig in seinem Essay auch der brasilianischen Literatur. Diese habe sich sehr lange an der europäischen orientiert und deren Einflüsse übernommen, besonders im Roman und in der Novelle. Selbst die Entdeckung des «edlen Wilden» im O Guarani von José de Alencar (1829–1877), einem Vertreter des romanti- schen «Indianismo», sei eigentlich nur ein Rückimport ausländischer Vorbilder wie James Fenimore Coopers Lederstrumpf gewesen. Lediglich die äußere Thematik und «ihr his- torisches Kolorit ist brasilianisch, nicht aber die seelische Einstellung, die künstlerische Atmosphäre.»4

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es laut Zweig in Brasilien zwei Autoren, die Weltliteratur schreiben: Joaquim Machado de Assis und Euclides da Cunha. Beide gelten bis heute als wichtige Klassiker des Landes. Stefan Zweig vergleicht Machado de Assis (1839−1908) sogar mit dem großen Charles Dickens und bezeichnet Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England. Dom Casmurro, 1899 erschienen und 2013 neu übersetzt, ist eines der populärsten Bücher von Machado de Assis. Erzählt wird eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund dramatischer gesellschaftlicher Umbrüche, die den Einzug der Moderne in Brasilien ankündigen: Nur heimlich dürfen Bento und Capitu sich treffen, denn der junge Mann soll Priester werden. Als es Bento endlich gelingt, der kirchlichen Laufbahn zu entkommen und Capitu zu heiraten, scheint das Glück zunächst perfekt.

Revista de Antropofagía 1928

Euclides da CunhaKrieg im Sertão

Frankfurt/Main: Suhrkamp 2013. 783 S.

Stefan ZweigBrasilien.

Ein Land der ZukunftBerlin: Insel 2013.

312 S.

Page 6: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

3 Besprechungen

Doch dann fällt Bento auf, dass sein Sohn seinem besten Freund Escobar zum Verwechseln ähnlich sieht ... Wenn Machado de Assis oftmals als bedeutendster brasilianischer Klassiker bezeich- net wird, dann ist wahrscheinlich Krieg im Sertão von Euclides da Cunha (1866–1909) das berühmteste Buch. Jorge Amado nannte dieses Werk das «am wenigsten gelesene, aber meistdiskutierte Buch Brasiliens». Der monumentale Abenteuerroman, 1902 erschienen und 2013 bei Suhrkamp neu aufgelegt, ist eine Auseinandersetzung mit dem «Canudos Feldzug» im Hinterland von Bahia 1896 bis 1897. Der Wanderprediger António Conselheiro hatte sich mit seinen Anhängern, den Ärmsten der Armen, in der wüstenartigen Sertão-Gegend niedergelassen und eine Siedlung namens Canudos gegründet. Alkohol, Prostituti-on und Privatbesitz lehnen diese Strenggläubigen ab, allerdings auch die säkularen Staats- reformen, worauf die Regierung Truppen schickt. Es beginnt ein langer und grausamer Ver- nichtungsfeldzug, der in eine schrecklichen Katastrophe mit zahlreichen Opfern mündet. Euclides da Cunha war als Journalist an vorderster Front mit dabei, sein Roman ist eine An- klage gegen ein menschenfeindliches Gesellschaftssystem. Die nächste Generation von Schriftstellern ist der brasilianischen Avantgarde, dem «Mo- dernismo», zuzuordnen. Nun ist endgültig Schluss mit Kulturimporten, ein neues Selbst- bewusstsein ist angesagt. In diversen Manifesten und in der 1928 von Oswaldo de Andrade initiierten Revista de Antropofagía («Menschenfresser-Zeitschrift») wird eine «modernisti-sche Revolution» gefordert sowie Eigenständigkeit und Abkehr von allen dominierenden europäischen Modellen. Gerhard Drekonja-Kornat hat die damalige Devise anschaulich auf den Punkt gebracht: «Fressen statt gefressen werden! Europäisches ist einzunehmen, zu verdauen und schließlich, bis auf das Brauchbare, auszuscheiden, auszuscheißen. Nur so sei Autonomie zu gewinnen und die Peripherie zu erlösen.»5

Mário de Andrade Macunaíma

Berlin: Suhrkamp 2013. 219 S.

Jorge AmadoZwei Geschichten von der See

Frankfurt/Main: S. Fischer 2013. 397 S.

Jorge Amado Die Werkstatt der Wunder

Frankfurt/Main: S. Fischer 2012. 431 S.

Die vielen Gesichter Brasiliens © Frankfurter Buchmesse/Alexander Heimann

Page 7: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/20144 Besprechungen

Moacyr Scliar Kafkas Leoparden

Düsseldorf: Lilienfeld 2013. 134 S.

→ Rezension auf Seite 17

Clarice LispectorNahe dem wilden Herzen

Frankfurt/Main: Schöffling 2013. 272 S.

João Ubaldo Ribeiro Brasilien, Brasilien

Frankfurt/Main: Suhrkamp 2013. 734 S.

Das Hauptwerk des brasilianischen Modernismo wurde von Mario de Andrade (1893–1945) mit Macunaima. Held ohne jeden Charakter (1928, Neuauflage bei Suhrkamp 2013) vor- gelegt. Macunaima ist ein moderner Schelmenroman und sein Protagonist die vielleicht schillerndste Figur der brasilianischen Literaturgeschichte. Der Antiheld vom Stamm der Tapanhumas wird tief im brasilianischen Urwald geboren, wo er ein faules und sorgloses Leben lebt. Doch als sein Amulett verloren geht, muss er seine vertraute Umgebung verlas-sen und sich in die Millionenstadt São Paulo aufmachen, wo er die aberwitzigen Sitten der modernen Welt am eigenen Leib zu spüren bekommt. Dort gibt es nämlich einen men-schenfressenden Riesen, der den kostbaren Stein gefunden und durch dessen Zauberkraft zu einem reichen Industriemagnaten geworden ist. Nach vielen abenteuerlichen Episo- den in dieser Welt der Maschinen, die trotzdem von vielen mythischen und indianischen Gestalten bevölkert ist, gelingt es Macunaima schließlich, den profitgierigen Riesen durch Ertränken im Suppentopf zu besiegen. Mit dieser magischen und gleichzeitig zutiefst komischen Literatur hat Mario de Andrade dem einfachen brasilianischen Menschen ein Denkmal gesetzt und damit den Weg bereitet für nachkommende Autoren, die einen noch deutlicher politischen und gesellschaftskriti-schen Ansatz verfolgen. Jorge Amado (1912–2001) zählt bis heute zu den international be- kanntesten Schriftstellern des Landes. Als Kommunist war er zeitweilig inhaftiert und musste jahrelang im Exil in Argentinien und Frankreich leben. Amados Bücher erzählen ebenfalls vom Leben der einfachen Menschen, die allerdings trotz enormer Alltagsprobleme sehr viel Vitalität und Lebenslust versprühen. Die Schauplätze der Handlungen sind häufig in der Halbwelt angesiedelt, in Bordellen oder beim Karneval. Anlässlich der Buchmesse wurden zuletzt zwei wichtige Werke von Amado bei S. Fischer neu aufgelegt: Zwei Geschichten von der See und Die Werkstatt der Wunder. Trotz politischer Turbulenzen, Militärdiktaturen und Krisen aller Art, die es den Künst-lern und Schriftstellern nicht leicht machten, hat Brasilien in der Mitte des 20. Jahrhun- derts eine starke Romanliteratur hervorgebracht. Autoren wie Graciliano Ramos (Karges Leben), João Guimaraes Rosãs (Grande Sertão) und Clarice Lispector haben spannende Bücher geschrieben, die heute allesamt als Klassiker gelten. Besonders letztere gilt als starke emanzipatorische Stimme: Nahe dem wilden Herzen, das Romandebüt der damals Dreiundzwanzigjährigen, war 1943 eine literarische Sensation. Zum ersten Mal wagte es eine brasilianische Schriftstellerin, die konventionellen Gesellschaftsmuster zu hinter- fragen und eine Protagonistin zu schaffen, die unbeirrbar gegen innere und äußere Wider-stände ihren eigenen Weg geht. Clarice Lispector, die selbst ukrainisch-jüdischer Abstammung war und erst als kleines Kind nach Brasilien emigrierte, wurde auch zur Wegbereiterin einer speziell jüdisch-brasi- lianischen Literatur, die sich in Brasilien etablieren konnte. Bei den Autoren handelt es sich vorwiegend um die Nachkommen von deutschsprachigen Juden, die vor den National-sozialisten flüchten mussten und in Brasilien gelandet sind. Bekannte Namen sind Moacyr Scliar, Luis Krausz, Ronaldo Wrobel oder Bernardo Kucinski. Mit ihrer schmerzlichen Erinnerungskultur und einer ganz besonderen Fabulierkunst haben sie alle die brasiliani-sche Literatur enorm bereichert. Ein wunderbares Beispiel jüdisch-brasilianischer Literatur ist der vom Umfang her kleine Roman Kafkas Leoparden von Moacyr Scliar (1937–2011). Dabei geht es um einen jüdischen Jungen aus Bessarabien, der am Vorabend der Russischen Revolution zu einer konspirativen Reise nach Prag aufbricht und dort auf Franz Kafka trifft. Dieses literarische Kabinettstück ist eine Neuentdeckung für die deutschsprachige Leserschaft, denn auch dieses Buch wurde anlässlich der Buchmesse erstmals ins Deutsche übersetzt. Einer der Ehrengäste in Frankfurt war auch dieses Mal wieder João Ubaldo Ribeiro, der schon 1988 mit Brasilien, Brasilien (Neuauflage 2013 bei Suhrkamp) ein Meisterwerk vor- gelegt hat. In dieser atemberaubenden Liebesgeschichte wird ein gewaltiges Panorama aus- gebreitet, das sich über mehrere Jahrhunderte brasilianischer Geschichte spannt. Ein Buch, das durchaus das Zeug zu einem modernen Nationalepos hat, denn in dieser Geschichte ist

Page 8: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Paulo LinsDie Stadt Gottes

München: blumenbar 2004. 494 S.

5 Besprechungen

Luiz RuffatoEs waren viele Pferde

Aus dem brasilian. Portug. Berlin: Assoziation A 2012.

158 S. → Rezension auf Seite 21

Chico Buarque Vergossene Milch

Frankfurt/Main: S. Fischer 2013. 207 S.

nahezu alles drin: Indianer, europäische Entdecker, schwarze Sklaven, reiche weiße Groß- grundbesitzer, Kirchenheilige und die mächtigen Götter Afrikas. Und mittendrin eine junge Frau, die für die Abschaffung der Sklaverei kämpft. Sie alle sind die Stimmen Brasiliens. In den neunziger Jahren folgten Autoren wie Bernardo Carvalho (Neun Nächte und zuletzt Dreihundert Brücken) oder Paolo Lins, dessen autobiographisches Buch Die Stadt Gottes großes Aufsehen erregte. Die Geschichte einer Familie aus der Favela wurde als City of God erfolgreich verfilmt und machte das Thema auf der ganzen Welt bekannt. Der jüngste Roman von Paulo Lins ist gleichfalls im Armenviertel von Rio de Janeiro angesiedelt: Seit der Samba Samba ist erzählt von Schwarzen in einer weiß dominierten Gesellschaft Ende der 1920er Jahre, von Musik, Karneval, Samba und Leidenschaft. Überraschend war auch für viele Brasilianer, dass der prominenteste Liedermacher des Landes – Chico Buarque – plötzlich als Romancier in Erscheinung tritt. Das neue Buch des «brasilianischen Bob Dylans» heißt Vergossene Milch und berichtet von einem Hundertjäh- rigen, der sein bisheriges Leben Revue passieren lässt und dabei die Geschichte eines ganzen Landes erzählt, von der Kolonialzeit mitsamt Sklaverei (die in Brasilien übrigens erst 1888 abgeschafft wurde!) bis zum modernen Großstadtmoloch Rio de Janeiro. Ebenfalls Ehrengast in Frankfurt und später auch in der Wiener Hauptbücherei ist Luiz Ruffato. Sein Roman von 2001 – Es waren viele Pferde – wurde rechtzeitig zur Buchmesse in zweiter Auflage herausgebracht. In 69 Szenen entwirft dieser erste Roman des Autors ein kaleidoskopisches Abbild der Megacity São Paulo mit all ihrem Glamour und Elend. Dabei gelingt es Luiz Ruffato, den Klang, die Farben und die Gerüche einer 22-Millionen-Metro- pole poetisch zu erfassen und ein atmosphärisch dichtes Porträt des Alltagswahnsinns zu entwerfen. Ein Blick auf die neuesten Texte aus Brasilien zeigt ganz deutlich: die Literatur des Landes ist sehr urban geworden, statt Mythenschöpfung und Wiederverzauberung der modernen Welt steht heute großstädtische Rationalität im Vordergrund.6

Trotz dieser Menge an spannenden Büchern ist es den brasilianischen Schriftstellern in den letzten Jahrzehnten immer schwerer gefallen, Aufmerksamkeit und Interesse bei den Lesern zu wecken. Tatsächlich können die wenigsten AutorInnen mit dem Schreiben von Büchern ihren Lebensunterhalt bestreiten. Möglicherweise ist das omnipräsente Fernsehen an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt, denn den Brasilianern wird eine besondere Liebe für TV-Serien – den mittlerweile global verbreiteten Telenovelas – nachgesagt. Wird es nach der großen Romantradition des 20. Jahrhunderts eine Zukunft für die brasilianische Literatur geben? Man darf zuversichtlich sein, meint dazu die Lateinamerikaexpertin Michi Strausfeld, überall spürt man kreative Unruhe und es gibt wieder eine Vielzahl neuer Stimmen.7 Bleibt nur zu hoffen, dass die Frankfurter Buchmesse und die vielen Neuerscheinungen auch ein wenig dazu beitragen können, dass diese Stimmen gehört und gelesen werden. Thomas Geldner

1 Ribeiro, João Ubaldo: Wir sind anders. In: DIE ZEIT, 7. 10. 1994, Nr. 41. http://www.zeit.de/1994/41/wir-sind-anders/seite-1 2 http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/brasilianische-literaturoffensive-1.18108943 3 http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/news/172486/index.html4 Zweig, Stefan: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Berlin: Insel 2013, S. 1755 Drekonja-Kornat, Gerhard: Rios heißeste Seiten. In: Die Presse, Spectrum, 5. 10. 20136 Jessen, Jens: Gewalt der Moderne. In: DIE ZEIT, 2. 10. 2013, Nr. 41. http://www.zeit.de/2013/41/LM-Brasilien/seite-2 7 Strausfeld, Michi: «In so einem Augenblick ist alles möglich ...» Ein Spaziergang durch die Literatur Brasiliens. In: Die Horen 251 (2013), S. 7 f.

Page 9: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/20146 Besprechungen

mein gedicht

meine poesiesoll ein gebüsch seinzum versteckendicht am bach

wenn die soldaten kommenund ihre panzer prosaischdurch die straßen rattern

werde ichpapierschiffchenmit meinen gedichtenin die welthinausschicken

graz, 22. 02. 2012

fatalismus

wir geben allen dingeneinen namen

allen tierenallem was wächstdirmir

selbst die apokalypseheißt so

bozen, 20. 9. 2008

ein ende ist nicht abzusehenRudolf Kraus

Auszug aus: Rudolf Kraus

ein ende ist nicht abzu- sehen. sprachminiaturen Wien: Verlagshaus Hernals

2013. 90 S.

ein ende ist nicht abzusehenRudolf Kraus

sprachminiaturen

ein

en

de

ist

nic

ht

abzu

seh

enRu

dolf

Krau

s

fatalismus

wir geben allen dingeneinen namenallen tieren

allem was wächstdirmir

selbst die apokalypseheißt so

9 7 8 3 9 0 2 7 4 4 8 0 7

ein ende ist nicht abzusehen_V09_R6.indd 1 2/26/2013 3:48:38 PM

Nur wenige AutorInnen können vom Erlös ihrer Bücher leben, der Großteil der schreibenden Zunft übt zumindest nebenbei einen ein regelmäßiges Einkommen garantierenden Brotberuf aus. Umberto Eco sieht Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zwar mehr als «Feuerwehrtruppe» 1 denn als schöngeistige Intel- lektuelle, dennoch empfinden viele Schriftsteller die Bücherei- arbeit als logische Ergänzung zu ihrer eigentlichen Berufung. Einer der bekanntesten (ehemaligen) Mitarbeiter der Büchereien Wien ist der mittlerweile überaus erfolgreiche und mehrfach preisgekrönte Autor Robert Schindel. Literarisch verewigt wurde seine Zeit als Büchereileiter in Von der Paniglgasse zur Pinagl- gasse, (Mit-)Autor dieses Titels ist der bereits verstorbene lang-jährige Bibliothekar Rudi Hieblinger. Außerdem stellen wir Auszüge aus Neuerscheinungen von Claudia Bitter und Rudolf Kraus, zwei MitarbeiterInnen der Büchereien Wien, vor.

1 Eco, Umberto: Die Bibliothek. München: Hanser 1987, S.17

LiteratInnen in der Bibliothek, BibliothekarInnen in der Literatur

Page 10: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

7 Besprechungen

Die Berge machen mir Angst, haben mir immer schon Angst gemacht, als kleines Kind habe ich angefangen, mich vor den Bergen zu fürchten, habe Böses von den Bergen be- fürchtet, Böses, das über die Berge, oder über einen Berg ins Tal hereinbricht, über unser Dorf, über mich selbst hereinbricht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die Berge oder einen Berg jemals gemocht habe, verwundert bin ich noch heute, wenn ich jemanden sagen höre: Ich liebe die Berge. Die Berge und meine abstehenden Ohren waren es, was ich als Kind gar nicht gemocht habe, gehasst habe sogar. Meine Fliegerohren waren mir ein Gräuel und ich kann sie bis heute nicht leiden. Als Kind habe ich nachts versucht die Ohren mit den Händen fest an den Kopf zu pressen, damit sie nicht mehr so abstehen, es hat nichts geholfen, auch meine Versuche die Ohren mit einem Halstuch fest an den Kopf zu binden, waren vergeblich, am Morgen waren rote Streifen auf der Stirn zu sehen, und ich hatte Angst, darauf angesprochen zu werden. Die Ohren waren nicht nur abstehend, sondern konnten sich auch grellrot färben, wenn ich Angst hatte oder aufgeregt war, als wären sie von hinten beleuchtet, als Kind schämte ich mich dafür, dass sich auch mein Gesicht mit einer tiefen Röte überzog und ich meinen Herzschlag im ganzen Körper spürte, ich war überzeugt davon, dass dieses Pochen nach außen hin sichtbar war. Nachts im Bett hörte ich oft von den Bergen herunter oder aus den Bergen herauskom-mend Geräusche und fing an zu zittern. Niemand bemerkte mein Zittern, niemand wusste von meinem Zittern. Und niemals hätte ich mich getraut, meine Angst vor den Bergen zuzugeben, mich jemandem anzuvertrauen, ich schämte mich für meine Bergangst, genau- so wie für meine abstehenden Ohren. Ja, ich bin in einem wunderbaren Tal aufgewachsen, ich durfte in einem wunderbaren Tal aufwachsen, ich wurde sogar beneidet um das Leben in diesem Tal. Niemand beneidete mich um die Bergangst, um die vielen Bergängste. Wenn sie nur nicht so nahe gewesen wären, oft habe ich an die Phrase denken müssen: die Berge versetzen können, und ich betete zum lieben Gott, dass ich doch diese Kraft bekäme, dann würde ich die Berge ganz einfach etwas in die Ferne rücken, so, dass man sie noch gut sehen kann, wenn es nach mir ginge, würde ich die Berge gleich ans Ende der Welt versetzen, aber ich wusste, das darf man dem lieben Gott nicht antun, weil er ja alles erschaffen hat und man sich an der Schöpfung erfreuen soll und dafür danken soll. Wenn ich nur die Berge etwas von mir wegschieben könnte, dann würde ich dem lieben Gott sogar dafür danken, denn dass man solche Angst vor den Bergen hat, konnte der liebe Gott doch gar nicht ge- wollt haben, oder? Meine Gebete um die Kraft zum Bergeversetzen wurden nicht erhört und so gab ich es auf, darum zu bitten, und hörte gleich ganz zu beten auf, da war ich ungefähr zwölf Jahre alt, nur in der Sonntagsmesse bewegte ich die Lippen zu den Gebeten, es durfte niemand wissen, dass ich mit dem lieben Gott nichts mehr zu tun haben wollte. Die Berge blieben, wo sie waren, ich wusste nun auch, dass niemand auf der Welt und niemand im Himmel sie versetzen kann. In meiner Kind heit waren sie unglaublich hoch. Und ich selbst so winzig, so klein und unwichtig kam ich mir vor ihnen vor, und un endlich hilflos. Ich hatte nie das Gefühl es sei mein Tal, mein Dorf, meine Berge rundherum. Alle spra- chen sie immer von meinen Bergen, unserem Tal, voller Stolz und Angeberei, als hätten sie selbst die Berge erschaffen. Ich hatte bei gar nichts das Gefühl, es sei Meines. Nicht ein- mal die Spielsachen, die ganz alleine mir gehörten und die ich nicht mit den Geschwistern teilen musste, empfand ich als Meines. Auch nicht mein Bett, in dem niemand außer mir was verloren hatte. Ich dachte, eigentlich gehört alles den Bergen und sie können sich, wann immer sie wollen, alles holen, sie schicken Berggeister, die Spielsachen rauben, die das ganze Haus abtragen, das ganze Dorf, das ganze Tal können die Berge sich holen und vernichten, am meisten fürchtete ich mich davor, dass die Berge eines Tages das ganze Dorf verschütten, dass sie das Tal unter sich begraben, mitten unter den Bergmassen würde ich

Seeherz, BergangstClaudia Bitter

Auszug aus: Claudia Bitter

Die Welt auf meiner Haut Wien: Klever 2013.

100 S.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die Berge oder einen Berg jemals gemocht habe, verwundert bin ich noch heute, wenn ich jemanden sagen höre: Ich liebe die Berge. Die Berge und meine abstehendenOhren waren es, was ich als Kind gar nicht gemocht habe, gehasst habe sogar.“

www.klever-verlag.com /K

LEV

ER

/Li

tera

tur

Clau

dia

Bitt

er

DI

E W

ELT

AUF

MEI

NER

HAU

T

Die Welt auf meiner Haut

/ K L E V ER / L i t e r a t u r

Claudia Bitter

Page 11: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/20148 Besprechungen

dann tot sein, dann hätte der Berg mich geholt, uns alle, die Berggeräusche, die mich nachts zittern ließen, erinnerten mich an diese Möglichkeit. Ein einziger Ort meiner Kindheit war mir lieb. Der See, etwas oberhalb des Dorfes lag der kleine Bergsee, das Wasser eiskalt und glasklar, dort verbrachte ich viele stille Nachmit-tage, auf die Wasseroberfläche schauend, den Blick bloß nicht in die Höhe, Richtung Berge hebend. In die Tiefe schauen war mir viel lieber als in die Höhe. Es wurden auch über den See grausige Sagen und Geschichten erzählt, aber die beunruhigten mich nicht. Ich fühlte mich sicher, am See auf der kleinen Holzbank sitzend, umgeben von seiner Wasserstille, die Geräusche aus dem Dorf drangen nicht hierher, und sogar die Berge ließen mich hier in Ruhe. Wann immer es mir möglich war, lief ich hinauf zum See, um bei ihm zu sein, der so verlassen und hilflos, wie ich selbst, vor mir lag. Das Wetter spielte dabei keine Rolle, nur bei strömendem Regen entschied ich mich gegen einen Seebesuch, dann setzte ich mich ans Fenster und schaute durch die Regentropfen wand Richtung See, ich konnte ihn auch so sehen. Der See hat ein Herz, dachte ich immer, und der Berg hat keines. Und wenn ich da auf der kleinen Bank am See saß, schaukelte mein Oberkörper leicht hin und her, ich hat- te das Gefühl über dieses Seeherz zu wachen, ich hatte die Aufgabe übernommen, es zu bewachen, und nur ich alleine konnte diese Aufgabe erfüllen. Als könnte jemand kommen, ins Wasser steigen und aus der Mitte des Sees das Herz heraustauchen, es vom Grund lösen und an die frische Luft bringen, wo es nicht überleben könnte, es muss auf dem Grund in der Mitte des Sees liegen. Wenn die ganze Familie zur Berghütte hinaufstieg, bettelte ich darum zu Hause bleiben zu dürfen, niemand verstand, dass ich die Bergwanderungen nicht liebte. Niemand wusste, wie ich mich fühlte, wenn ich von der Hütte ins Tal hinunterschaute, die winzigen Dörfer ausnehmen konnte und mir erst recht ein Schreck in die Glieder fuhr, wie weit unten das Tal doch lag und wie hoch oben ich in den Bergen war, die mir nicht weniger bedrohlich erschie-nen, wie vom Dorf aus, wie in den Nächten von meinem Bett aus. Ich könnte samt dem ein- brechenden Berg ins Tal hinunterstürzen. Dass man mich auslachte, weil ich nicht mit auf den Berg wollte, nahm ich in Kauf, und wenn jemand mich fragte: Hast wohl Angst vor den Bergen? dann schüttelte ich nur den gesenkten Kopf und versuchte nicht mehr hinzuhören, was da noch gesagt wurde: Die tun dir doch nix, Dummkopf. Oder: Du weißt ja nicht, was dir da entgeht! Die Berge legten das ganze Dorf, das ganze Tal in Schatten, in eine dunkle Haut, kühl und düster. Dass es nicht überall so ist, dass es Gegenden gibt, wo sich rund um das Dorf statt den Bergen eine große weite Fläche, eine Leere auftut, versetzte mich immer wieder in Erstaunen und tut es heute noch, als Kind erschien mir dieses Andere, diese von der Sonne durchtränkten Dörfer, diese weiten hellen Gegenden so seltsam und fremd, so unwirklich, dass ich manchmal, wenn ich wieder zu Hause war, meinte, dass ich davon nur geträumt ha- be, und dass eigentlich doch alle Dörfer im Schatten lägen und von Bergen umgeben seien. Im Tal liebten oder hassten die Menschen einander, in jedem Dorf gab es Freunde und Feinde, Verwandte und Nachbarn. Und zwischen den Dörfern gab es Freundschaft, Feind-schaft, Verwandtschaft und Nachbarschaft. Wie es zu all dem gekommen war, konnte ich nicht verstehen, niemand konnte es mir begreiflich machen, ich fragte mich, ob es sich über- all auf der Welt so verhält, dass niemand gleichgültig ist. Und manchmal sehnte ich mich nach einem Ort, an dem alle Menschen sich gleichgültig wären, ich stellte mir vor, dass ich da gut hinpassen und mich wohl fühlen würde, es gäbe an diesem Ort auch keine Berge und Täler. Als ich klein war, träumte ich immer davon, aus dem Tal wegzuziehen, das Dorf und das Land zu verlassen und in eine große Stadt zu ziehen, in ein riesiges Haus mit großen Fens-tern, in einer breiten Straße, in der Straßenbahnen fahren. Auch den Eltern und Geschwis-tern gegenüber betonte ich meinen Wunsch, fortzuziehen. Oft erwiderte man mir darauf: Du weißt ja gar nicht, wie schön du es hier hast. Oder: Du wirst schon noch draufkommen. Oder einfach nur Kopfschütteln und Grinsen. Ich bin auf nichts draufgekommen. Alles blieb wie es war, wie ich es seit der Kindheit gekannt und nicht gemocht hatte. Immer noch sitze

Page 12: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

9 Besprechungen

ich in diesem von Bergen umgebenen Tal fest, bis heute bin ich in dem Haus geblieben, sitze in der Stube mit dem alten Sofa, auf dem ich geboren ist, die Hebamme war zu meiner Geburt zu spät gekommen, mitten im tiefsten Winter, aber sie war auch bei einem der Brü- der im Hochsommer zu spät gekommen, meine Mutter hatte genug Übung im Kinderkriegen. Ich kenne das Tal in und auswendig, ich kenne die Dörfer im Tal, bin so oft im Tal unter-wegs gewesen, habe es durchschritten, durchweint und durchlacht. Nur die Berge kenne ich nicht und will ich gar nicht kennen lernen, zu gut kenne ich meine Bergangst. Gelacht habe ich schon als Kind nicht viel, vorwurfsvoll hielt man mir das immer wieder vor, was man mir denn getan habe, was mir denn über die Leber gelaufen sei, diesen Spruch fürchtete ich beson- ders, weil ich mir dann immer vorstellte, wie mir eine ganze Herde Kühe über die Leber rennt und in meinem Körper wütet. Da verging mir das Lachen erst recht. Welchen Grund hatte ich denn zu lachen, jeden Morgen vor Freude darüber, dass die Berge wieder nicht über mich hereingebrochen waren, die Berggeister mich noch einmal verschont hatten? Im Tal sei man sicher, hieß es immer. Der Blitzschlag sei nur auf den Bergen gefährlich. Ich glaubte den Erwachsenen nicht. Ich glaubte ihrem Lachen, ihrem Lächeln nicht, ihrer Sicher- heit und ihrer Freude nicht. Nicht einmal meinen Brüdern glaubte ich, die übermütig und freudig zur Hütte hinaufmarschierten und mir stolz von den Wander ungen erzählten, ich vertraute niemandem. Ich war in dieses Tal hinein geboren, auf dem Sofa in der Stube im Haus im Dorf ins Tal hinein geboren, auf Lebenszeit hier, für immer und ewig. Einzig und allein dem Herz des Sees vertraute ich, aber da ich es noch nie gesehen hatte, überfielen mich manchmal Zweifel, ob dieses Herz überhaupt existiert. Als Kind weinte ich nur heimlich, schämte mich meiner Tränen, wie meiner Ohren und meiner Bergangst. Groß geworden verlernte ich das Weinen und das sich Schämen. Ich sitze den ganzen Tag auf der kleinen Holzbank am See, meine Schultern hängen hinunter, die Hände liegen auf den Oberschenkeln, mein Oberkörper schaukelt leicht, ich starre auf den See, in seine Mitte, direkt auf den Seegrund. Nur manchmal hebe ich lang- sam die Hände, halte sie ganz nah vor das Gesicht und betrachte sie, vertiefe mich in das Muster der rauen Haut, verfolge Risse und Adern, als würde ich eine fremde Landkarte studieren. Ich spüre nicht, dass dieser Körper, der da sitzt, zu mir gehört, mir gehört, ich hebe den Blick nicht nach oben, um die Berge zu sehen, ich drehe mich nicht um, um ins Tal zu schauen, einen Blick auf das Dorf zu werfen. Ich spüre das Herz des Sees schlagen. Ich bin eine gute Bewacherin.

Page 13: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201410 Besprechungen

[...] Sein Nachfolger als Büchereileiter wurde der große Schindel, Robert Schindel, der später «Gebürtig» schrieb. Er war Meister des Delegierens und verfügte sich nur anlässlich «wichtiger» Büchereibesucher bzw. Büchereibesucherinnen vom Bürokammerl in den Ausleiheraum bzw. hinter die Ausleihetheke. Die Büchereifiliale in der Pilgramgasse 17 war eine sogenannte Thekenbücherei, wo das Büchereipersonal noch in der Lage war, absolute Herrschaft zu zelebrieren, da das Lesergut keinen Zugang zu den Bücherregalen hatte. Heutzutage ist bestenfalls noch die Hegemonie des Büchereipersonals über das Lesergut möglich, wenn auch nicht mehr über Gebühr üblich. Robert Schindel verwaltete und gestaltete in seinem sieben Quadratmeter großen Büro, und wenn der Gestaltungsfluss stockte, ließ er sich von seinen in der Regel jüngeren Bücherei-Unterläufeln ein Fläschchen Weinbrand vom Kunz vis-à-vis besorgen. So entstanden unsterbliche Verse. In Anerken-nung ihrer Dienste wurden diese Unterläufel nach Dienstschluss zu einem Wirten ums Eck verzaht, wo sie von Robert Schindel mit Brechts Ballade vom armen B.B. stundenlang traktiert wurden. Diese Ballade konnte der gute Schindel nämlich auswendig. Und wenn sie, die Unterläufel, diese neun Vierzeiler nicht eh schon vorher gekannt hätten, sie wären auf immer und ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt worden. Robert Schindel verließ ein paar Jahre später die Büchereien, heuerte beim ORF an, schrieb den später auch verfilmten Roman »Gebürtig« und reüssierte zu einer noch viel imponierenderen Persönlichkeit, die er als Büchereileiter der Filiale Pilgramgasse eh schon gewesen war.

Die Bücherei in der Pilgramgasse Beppo Beyerl, Rudi Hieblinger

Auszug aus: Beppo Beyerl, Rudi Hieblinger

Von der Paniglgasse zur Pinagl-gasse. Eine Abschweifung vom

Bobo- ins Prolo-Wien Wien: Löcker 2010.

191 S.

Page 14: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

11 Belletristik

Ein Samstag unter FreundenAndrea Camilleri

Andrea Camilleri, 1925 in Sizilien geboren, ist ein unglaublich produktiver Autor; neben seinen Montalbano-Krimis schreibt er Romane, Dreh- bücher und Essays. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, seine Krimis verfilmt und als Hör- bücher bearbeitet. Ein Samstag unter Freunden erschien im italie- nischen Original bereits 2009. Es handelt sich um einen recht untypischen Camilleri: Das siziliani-sche Flair, der leise Humor und die liebenswerten Charaktere, die sonst seine Werke bevölkern, sucht man hier vergeblich. Stattdessen werden wir mit insgesamt sieben Personen konfrontiert, die zu Beginn mit Szenen aus ihrem Kleinkindleben eingeführt werden, ohne dass Namen genannt wer- den. Diese kurzen Episoden stellen Erinnerungs-

stücke der ProtagonistInnen dar und sind für sie ebenso verstörend und verwirrend wie für die LeserInnen. Die handelnden Personen wurden alle noch vor Schuleintritt Opfer von traumati-schen Erfahrungen, die sich auf unterschiedliche Art auf ihre Entwicklung auswirkten. Aber vor al- lem stellten sie eine unsichtbare Verbindung zwischen ihnen her, es entstanden Freundschaf-ten, die bis ins Erwachsenenleben hielten. Schließ- lich treffen alle wieder zusammen, es werden Er- innerungen ausgetauscht, Geheimnisse gelüftet, Wunden aufgerissen. Sehr subtil versteht es der Erzähler, mit wenigen Worten eine bedrohliche Stimmung zu erzeugen, unterschwellige Aggressi-onen anzudeuten, die Atmosphäre immer mehr zu verdichten. Dass der Abend schließlich in einer Katastrophe endet, ist nur folgerichtig. Das ab- schließende Kapitel, das an den Anfang zurück-führt, nimmt die Kindheitsepisoden wieder auf und schreibt die Geschichten fort. Jetzt erfahren wir die Namen der handelnden Personen und

Das Verschwinden des Philip S.Ulrike Edschmid

Es sind wilde und bewegte Jahre im Berlin der späten Sechziger Jahre. Die Gesellschaft ist im Umbruch, Studentenproteste und Straßenkämpfe sind an der Tagesordnung, Revolution liegt in der Luft. Mittendrin im Geschehen ist Philip S., ein junger Schweizer Fotograf aus reichem Haus, der nach Berlin gekommen ist, um an der neugegründeten Deutschen Film- und Fernsehakade-mie zu studieren. Der vorliegende Roman basiert auf wahren Begebenheiten, denn Philip S. hat es wirklich gege-ben. Sein voller Name lautet Werner Philip Sauber und er ist der Bruder des berühmten Rennfah-rers und nunmehrigen Formel Eins-Rennstallbesitzers Peter Sauber. Allerdings unterscheidet sich die Biographie des Philip S. beträchtlich von der seines Bruders: anstatt in die mondäne Ge-schäftswelt der Familie einzusteigen, geht Philip S. nach Berlin und wird Teil der linken Szene. Doch sein politisches Engagement führt geradewegs in den Untergrund. Philip S. schließt sich der Bewegung 2. Juni an und stirbt nur wenige Jahre später bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Köln. Mehr als vierzig Jahre später lässt seine damalige Lebensgefährtin Ulrike Edschmid die Ereig-nisse von damals Revue passieren und dokumentiert damit die zunehmende Radikalisierung eines jungen und idealistischen Menschen. Am Anfang steht viel Engagement: gemeinsam gründet das Paar den Kinderladen, einen der ersten alternativen Kindergärten der Stadt. Dem Zeitgeist ent-sprechend übersiedeln sie in eine Kommune, wo gemeinsam mit Holger Meins und etlichen ande-ren späteren Untergrundkämpfern eine revolutionäre Zeitung herausgegeben wird. Doch die Stim- mung ist aufgeheizt und hochexplosiv, immer öfter kommt es zu Konflikten mit der Polizei und die Gewaltbereitschaft und Brutalität auf beiden Seiten steigt von Tag zu Tag. Eindringlich und atmosphärisch dicht erzählt die Autorin vom unaufhaltsamen Verlust eines geliebten Menschen, der alles hinter sich lässt und sich ganz bewusst für den bewaffneten Kampf entscheidet. Die damit einhergehende Entfremdung wird mit einer knappen und präzisen Spra-che dargestellt, schnörkellos, ohne Sentimentalitäten und Beschönigungen, dafür kraftvoll und sehr poetisch. Thomas Geldner

Besprechungen–Belletristik

Ulrike EdschmidDas Verschwinden des Philip S.

Berlin: Suhrkamp 2013. 156 S.

Andrea Camilleri Ein Samstag unter Freunden

Aus dem Ital. Reinbek/Hamburg: Kindler 2013.

192 S.

Ulrike

Suhrkamp

Verschwinden

Roman

Edschmid Das

des Philip S.

………..

…………. .………..….

………….…………………….

Page 15: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201412 Besprechungen

die Klasse, die seinen Vorgänger von der Schule vertrieben hat. Mit eiserner Faust sorgt er in sei- nen Stunden für Disziplin, aufmerksam beobach-tet vom Direktor. Als ein Schüler droht, sich wegen einer schlechten Note umzubringen, werden Bint und seine Philosophie auf die Probe gestellt. Ferdinand Bordewijk (1884–1965), dessen Werk bislang sehr spärlich ins Deutsche übersetzt wur- de, ist einer der bekanntesten Vertreter der Moder- ne in den Niederlanden. Nach Charakter erscheint nun der Roman Bint (1934) im C.H. Beck-Verlag. In dem kurzen Buch erzählt Bordewijk die Geschich-te von Lehrern und Schülern, die durch das System Schule bzw. das System «Bint» aneinander gefes- selt sind. Diese Knechtschaft ist gleichsam ein Schwebezustand zwischen Masse und Individuum, zwischen Gemeinschaft, Autoritätssehnsucht und Unterdrückung. Bints Plan, durch bedingungslose Unterwerfung das Individuum, den freien Willen freizulegen, schildert der Autor in kurzen Sätzen und einer präzisen, martialischen Sprache, der es jedoch nicht an Bilderreichtum mangelt. Die Klas- se ist ein Panoptikum des Tierreichs, Geier, Ratte und Wolf tummeln sich hinter den Bänken. Die «Hölle», animalisch, aber stets von De Bree diszi- pliniert, erfährt Bints System und dessen drohen- des Scheitern am Menschlichen in seiner ganzen Ambivalenz. Bint ist ein grandioser Roman, der die Lesenden auf eine beklemmende Reise mitnimmt und dem man nur ein möglichst großes Publikum wünschen kann. Bernhard Pöckl

Der Hochzeitsreis Francisco Azevedo

Der Drehbuch- und Theaterautor Francisco Azevedo legt mit Der Hochzeitsreis (2008 in Brasi- lien erschienen) seinen ersten Roman vor. Ein alter Mann, Antonio, ist mit den Vorberei-tungen zu einem Festessen für seine Familie beschäftigt. Er erinnert sich: an seine Eltern, die Portugal verlassen und nach Brasilien ausgewan-dert sind und in der Fazenda Fuß gefasst haben, in der er nun steht und das Essen zubereitet. Er verkocht gerade den letzten Rest des inzwischen hundertjährigen Reises, den die Hochzeitsgäste seinen Eltern bei deren Vermählung streuten. Es ist der Reis, den Tante Palma nach der Ver- mählung ihres Bruders Korn für Korn wieder auf- sammelte und dem Brautpaar als Hochzeitsge-schenk verehrte. Dieser Reis und die Person der Tante Palma spielen eine zentrale Rolle in Anto- nios Leben. Die Handlung umspannt einen Zeit- raum von 100 Jahren: Ausgangspunkt ist die Hochzeit der Eltern 1908 und sie endet 2008 mit dem Festessen; die Geschichte der Familie wird in Form von Antonios Erinnerungen aufgerollt.

verstehen die Entwicklung, die die Einzelnen genommen haben. Andrea Camilleri spielt in diesem Roman ganz bewusst mit seinem Publikum. Er führt uns vor Augen, wie verletzlich Kinder sind, wie schwer sich traumatische Erlebnisse verarbeiten lassen und wie fatal sich Verdrängungen auf das restliche Leben auswirken können. Die sieben Personen werden glaubhaft dargestellt, ihre Lebensgeschich- ten folgen einer unabwendbaren Logik. Die Spra- che ist dem Inhalt angemessen, die Sätze sind schnörkellos und eindringlich knapp. Monika Nebosis

OmkaBarbara Aschenwald

Omka ist der Debütroman der Tiroler Autorin Barbara Aschenwald die 2010 für einen Erzähl-band den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stif- tung erhalten hat. Der Roman passt in keine Schublade, er ist ro- mantische Liebesgeschichte, Märchen, tiefgrün- dige Parabel, Psychogramm und «Seelenschauer-roman». Omka ist ein Anagramm sowohl für Koma als auch für Amok. Der Roman erzählt die Geschichte der 36jährigen Omka, die bewusstlos an einem See aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht wird. Sie leidet an einer Amnesie und verbringt viele Wochen im Hospital, wo sie Josef kennenlernt. Josef verliebt sich in Omka und nimmt sie nach ihrer Entlassung aus dem Spital bei sich auf. Es entsteht eine Liebesbeziehung und langsam beginnt Omka sich zu erinnern. Nach vier Fehlgeburten bringt sie einen gesunden Sohn zur Welt, aber wo nun Glück zu vermuten wäre, ent- stehen Zweifel und Ängste. Ihre heftigen Träume vermischen sich mit der Realität und die Geschich- te wird zunehmend unheimlich und bedrohlich. Omka vollzieht eine befremdliche Wandlung, am Ende überschlagen sich die Ereignisse. Eindringlich, sehr poetisch, beklemmend – ein gelungenes, sprachlich reifes Debüt. Rudolf Kraus

Bint. Roman eines SendersFerdinand Bordewijk

De Bree ist Lehrer an der Schule des titelgebenden Direktors Bint. Dieser hat gemeinsam mit einem eingeschworenen Lehrerkollegium rigoros Zucht und Ordnung an der Schule durchgesetzt. Auch De  Bree, der ja eigentlich nur für ein Jahr als Ver- tretungslehrer engagiert ist, kann sich der Fas- zination des Systems nicht entziehen – auch weil er die sogenannte «Hölle» unterrichten soll,

Barbara AschenwaldOmka

Hamburg: Hoffmann u. Campe 2013. 220 S.

Ferdinand Bordewijk Bint. Roman eines Senders

Aus dem Niederländ. München: C. H. Beck 2012.

127 S.

Francisco Azevedo Der Hochzeitsreis

Aus dem brasilian. Portug.München: dtv 2013.

365 S.

Page 16: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

13 Belletristik

Die unendliche Bibliothek. Erzählungen, Essays, GedichteJorge Louis Borges

Der argentinische Autor Borges dürfte dem Durchschnittsleser als Vorbild des blinden Bib- liothekars Jorge von Burgos in Umberto Ecos Der Name der Rose möglicherweise bekannt sein, sein Werk gilt aber gemeinhin als ein wenig sperrig und enigmatisch. Der im Alter von 50 Jah- ren vollständig erblindete Borges war nicht nur Direktor der argentinischen Nationalbibliothek, sondern auch ein äußerst produktiver Schrift- steller, Publizist und eine der zentralen intellek- tuellen Figuren Lateinamerikas im letzten Jahrhundert. Borges hatte aufgrund seiner Erblindung die Angewohnheit, sich vorlesen zu lassen. Einer dieser Vorleser war Alberto Manguel, ebenso multilingual und bibliophil wie Borges und nach- maliger Verfasser von Eine Geschichte des Lesen und Die Bibliothek bei Nacht. Manguel gab nun vor zehn Jahren erstmals die Borges-Anthologie heraus, die 2013 erneut aufgelegt wurde. Versehen mit einem ausführlichen Nach- wort Manguels, das der Leserschaft die Person Borges und seinen Charakter nahebringt, ent- hält dieser Band einen Querschnitt von Borges umfangreichem Schaffen, das – wie im Untertitel erwähnt – hauptsächlich Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten und Essays umfasst. Borges gilt als Vertreter der Phantastik und als Vorreiter der Postmoderne, was anhand der in diesem Band versammelten Texte leicht verifizier-bar ist. Permanent verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion, wird aus tatsächlichen oder fiktiven Werken zitiert, der Leser mit ein- bezogen, Ironie spielt eine große Rolle und der- gleichen mehr Aspekte eines modernen Erzäh- lens finden sich. All dies wird durchmischt mit Borges immenser Kenntnis der Mythologie und Sagas sowie der Literatur verschiedener Völker. Die bekanntesten und wirkungsgeschichtlich wichtigsten Texte des Autors finden sich in die- sem Band: Die Bibliothek von Babel (diente Eco als Inspiration und Vorbild zu seiner Version der Bibliothek in seinem Romanerstling), Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (ebenfalls von Eco aufgegrif-fen), Süden, Das Aleph etc. Daneben sind auch weniger bekannte Gedichte zu finden, die einen sehr persönlichen Zugang zu Borges Schaffen ermöglichen. Wer also einen repräsentativen Querschnitt des Schaffens dieses Autors haben möchte, der greife zu diesem Band, der alles enthält, was Borges aus- macht. Markus Kóth

Mit sympathischer Fabulierkunst vermag Azevedo seine LeserInnen in diese Welt zu ent- führen. Teilweise etwas geschwätzig und senti-mental, wie es nur ein alter Mann am Ende seines Lebens sein kann, aber auch mit viel Humor – manche Anekdoten sind tragikomisch, manche einfach nur lustig. Mag sein, dass Azevedo nicht an die Großen der lateinamerikanischen Literatur heranreicht, aber charmantes Lesefutter, das die Seele wärmt, ist es allemal. Gabriela Müller

EmmausAlessandro Baricco

Im deutschen Sprachraum erlangte Alessandro Baricco unter anderem durch seine Romane Novecento und Seide, beide auch erfolgreich ver- filmt, größere Bekanntheit; mit Emmaus liegt nun das neueste Werk des populären italienischen Autors vor. Im Zentrum der Erzählung stehen vier junge Burschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die im Italien der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts leben. Gefangen in den katholischen Traditionen und Werten und einem von Eintönigkeit geprägten Alltag, lernen sie Andre kennen – ein junges hüb- sches Mädchen, das so ganz anders ist als die Mäd- chen ihrer näheren Umgebung. Andre zieht Luca, Bobby, Santo und den Ich-Erzähler mit ihrer un- konventionellen Art und ihrem freizügigen Um- gang mit Sexualität in ihren Bann. Langsam werden Moralvorstellungen und Überzeugungen in Frage gestellt und christlich-soziale Aktivitäten wie Besuchsdienste im Krankenhaus oder die musi- kalische Begleitung der Sonntagsmessen vernach-lässigt. Das Leben jedes einzelnen der vier Freun- de gerät aus den Fugen, so sehr, dass auch der Tod wiederkehrender Gast bei ihnen ist. Andre dient als Auslöser für Krisen, Zweifel und Un- sicherheiten. Und sie kommt damit zur passen- den Zeit. Es bleiben offene Fragen und ein neuer, weniger argloser Blick auf den Glauben und die Welt. Andre hat ihr Leben verändert. Für immer. Es ist kein leicht zu lesender Text, den Alessandro Baricco hier vorlegt. Das titelgebende Emmaus-Motiv aus dem Lukasevangelium erschließt sich den LeserInnen nicht automatisch. Gedanklich bleibt man mit der Erzählung auch lange nach ihrem Ende verhaftet. Atmosphärisch sehr dicht, gekonnt formuliert – eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Glaube und Schuld. Irmgard Müller

Alessandro Baricco Emmaus

Aus dem Ital. München: Hanser 2013.

141 S.

Jorge Louis BorgesDie unendliche Bibliothek

Aus dem argentin. Span. Frankfurt/Main: S. Fischer 2013.

400 S.

Page 17: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201414 Besprechungen

net Darers Debüt sogar als «Austrian Old School»; man hat es schon in vielen Ausformungen gelesen, doch trotzdem schafft es Darer, die Leserschaft mit seiner Wortgewalt in den Bann zu ziehen und keine Minute zu langweilen. Katharina Marie Bergmayr

InselsommerGabriella Engelmann

Die 1966 geborene Autorin Gabriella Engelmann ist gelernte Buchhändlerin. Nach Stationen im Verlagswesen schreibt sie heute Jugendbücher und Romane, die sich um Beziehungen und die Liebe drehen. Inselsommer ist der zweite Teil einer Serie, die auf der Insel Sylt spielt. Im ersten Band, Insel- zauber, lernen einander Lissy und Nele kennen, die auch im vorliegenden Buch eine wichtige Rolle spielen. Die lebensfrohe Mittvierzigerin Paula steckt in einem unerwarteten Dilemma. Eigentlich ist ihr Leben perfekt: sie besitzt eine gut gehende Galerie, ist verheiratet mit einem liebevollen und erfolg- reichen Mann und kann sich auf ihre beiden Freun- dinnen Doro und Helene rückhaltlos verlassen. Wäre da nicht diese Leere in ihrem Inneren, die sie immer öfter wehmütig und grüblerisch werden lässt. Als sie für ihren Mitarbeiter Vincent plötz- lich mehr als nur kollegiale Gefühle zu empfinden meint, beginnt sie ihr Leben in Hamburg neu zu überdenken. Paula folgt der liebevollen Einladung von Künstlerin Nele nach Sylt und hofft, bei einem

Wer mit Hunden schläftHelmut Darer

Den Namen Helmut Darer wird man sich merken müssen: der 1975 in Mürzzuschlag geborene Elek- troinstallateur begann mit 30 Jahren zu schreiben und legte mit Wer mit Hunden schläft seinen Debüt- roman vor, der bereits mit dem Wortspiele-Publi-kumspreis ausgezeichnet wurde und unter den drei FinalistInnen des Alpha-Literaturpreises ist. Es handelt sich um ein klassisches Stück Anti- Heimat-Literatur in der Tradition eines Franz Innerhofers oder Josef Winklers: Herr Norbert, inzwischen suspendierter Straßenbahnfahrer bei den Wiener Linien, erzählt seinem Hund Kreisky und seinem Therapeuten von seiner Kindheit auf dem Leitenbauerhof, auf dem seine Mutter Magd war und in Folge einer misslungenen Abtreibung verstarb. Der Leitenbauer, ein saufender und der «g’sunden Watsch’n» nicht abgeneigter Patriarch, hatte mit Norberts Mutter ein Verhältnis. Eines Nachts erwachte der kleine Bub, als der Hofherr zu seiner Mutter ins Bett stieg und schlug ihn da- raufhin nieder. Das brachte das Fass zum Überlau-fen: Norberts Mutter war gezwungen, den ohne- hin «unnützen Bankert» in ein Kinderheim nach Wien zu schicken. Darer schildert den bigotten Bauernhof-Hor- ror in kurzen, prägnanten Sätzen – die häufig eingestreuten Sprichwörter von Norberts Mutter erinnern an den Erzählstil eines Wolf Haas. Ge- wiss: neu ist Darers Stoff nicht – Die Welt bezeich-

Amélie NothombSo etwas wie ein Leben

Aus dem Franz. Zürich: Diogenes 2013.

142 S.

Helmut Darer Wer mit Hunden schläft

Wien: Picus 2013. 222 S.

Gabriella Engelmann Inselsommer

München: Knaur 2013. 427 S.

So etwas wie ein LebenAmélie Nothomb

Der vorliegende Briefroman, der immer wieder von dem «erzählenden Ich» – der Autorin selbst – unterbrochen, zusammengefasst und kommentiert wird, beginnt im Dezember 2008 mit dem Brief eines vermeintlich in Bagdad stationierten jungen Soldaten namens Melvin Mapple. Mapple hat sich die Schriftstellerin Amélie Nothomb als «seine Kriegerpatin» erwählt, denn er möchte fern der bedrückenden Kriegsrealität einfach nur «für sie existieren». Der daraus resultierende intime Brief- wechsel beleuchtet die immer größer werdenden inneren Nöte eines jungen Mannes, der aus schierer Todesangst bzw. aufgrund seines Überlebenswillen zu essen beginnt und nicht mehr da- mit aufhören kann, denn «von allen Drogen ist das Essen die schädlichste und die mit dem größ- ten Suchtpotential». Sein Übergewicht von mehr als 130 Kilo, von ihm liebevoll als Scheherezade personifiziert, verleiht dem Schrecken des Krieges (s)einen ganz individuellen Ausdruck und soll nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten als «Body Art» beredt auf die Absurdität des Alltags aufmerksam machen bzw. verdeutlichen, wie unwahrscheinlich eine «Rückkehr zu einem Anschein von Normalität» oder einfach nur zu «so etwas wie ein Leben» wäre. Doch plötzlich bricht der Kontakt zum Soldaten ab, das von einer namhaften Galerie erwartete «Kunstprojekt Fett» hängt in der Schwebe ... Ist der junge Soldat verletzt oder gar gefallen? Amélie macht sich besorgt auf die Suche, doch mit dem, was sie letztendlich herausfindet, hätte sie niemals gerechnet ... Alles in allem, ein flott zu lesender Roman, der viele philosophisch anmutende Fragen aufwirft und der dank seiner Fülle an literarischen Querverweisen den/die geneigte/n LeserIn noch lange zu beschäftigen vermag. Martina Lammel

Page 18: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

15 Belletristik

tur, Film und Musik, auch die Hauptfigur verdankt ihrem russischen Vorbild, dem trägen Adeligen Oblomow aus Gontscharows gleichnamigem Ro- man, mehr als nur die Vorliebe für den Schlaf. Dieses Spiel mit Zitaten und Verweisen trägt sehr zum Charme des Buches bei. Auch der Rhythmus des Textes passt sich dieser Vorgehensweise an, Lakoters Überlegungen werden stets durch Er- eignisschilderungen und Dialoge unterbrochen, die seine Rückzugsbemühungen unterlaufen. Wir sind die Lebenden ist ein manchmal kluger, manchmal tragischer, auf jeden Fall aber unter-haltsamer Roman, der seinen Reiz vor allem aus den Bezügen und den permanenten Gegensät- zen im Text bezieht. Bernhard Pöckl

Die Verschwundenen von HelsinkiJoel Haahtela

Als der Ich-Erzähler, ein Psychiater und Schrift-steller, an einem regnerischen Tag eine Passantin auf einen Kaffee einlädt, ahnt er noch nicht, dass dieses Treffen der Beginn einer Reise sein wird. Magda ist auf der Suche nach ihrem verschwunde-nen Exmann Paul, der ihr als letzte Nachricht nur eine kurze Postkarte aus Helsinki mit der Adresse eines kleinen Hotels hinterlassen hat. Auch wenn er Magda schon nach kurzer Zeit aus den Augen verliert, ist der Protagonist fasziniert von der Ge- schichte und beginnt auf eigene Faust zu ermit-teln. Bald erkennt der Held, dass das Schicksal von Paul auf irgendeine Weise mit dem Leben der verstorbenen finnischen Schriftstellerin Raija Siekkinen verknüpft ist, gleichzeitig ist die Suche für den Protagonisten auch eine Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit. Die Verschwundenen von Helsinki ist der dritte auf Deutsch erschienene Roman von Joel Haahtela und erinnert in Grundzügen an klassische Detek- tionsgeschichten – es werden Bruchstücke und Hinweise präsentiert, der Protagonist versucht eine Rekonstruktion des Geschehenen und des Lebens von Siekkinen und Paul Roux. Gleichzeitig ist diese Suche auch die späte Aufarbeitung einer Liebe und ein Ausflug in die schmerzhafte Vergan- genheit des Helden. Geschickt vermischt Haahtela Realität und Fiktion und spinnt seine Geschich- te um das Leben und Sterben der realen Raija Siekkinen. Mit seiner poetischen Sprache gelingt es dem Autor, die Momente der Leere und der Traurigkeit die sein Protagonist im Zuge der Er- innerungen erlebt, spürbar zu machen. Trotzdem ist der Roman weit entfernt von schwerer Kost, keineswegs schwerfällig und bis zum Ende span- nend – wohl auch dank der vielen Krimielemente. Die Verschwundenen von Helsinki ist ein kom- paktes, sprachlich gelungenes Buch. Für Lesende, die Lust auf einen spannenden, aber auch melan-

kurzen Aufenthalt auf der Insel wieder mit sich ins Reine zu kommen. Doch der kleine Abstecher dauert weit länger als Paula vorerst gedacht hat und auch in Liebesdingen muss sie einige Umwege in Kauf nehmen, um endlich ihr Glück zu finden. Inselsommer ist ein ideales Buch für den Kurz- urlaub am Strand: Lesefutter für Frauen auf der Suche nach romantischen Verstrickungen in idylli-scher Umgebung. Die Autorin geizt weder mit Sylter Lokalkolorit noch mit Klischees. Hier geht alles gut aus – Pärchen finden zueinander, Wohn- probleme werden umgehend gelöst und selbst für Paulas unfreiwillige Kinderlosigkeit findet sich eine Lösung. Einzig Paulas Gefühlschaos, vermeid- bare Missverständnisse und ein wenig Sozialkritik am Ausverkauf der Insel sind kleine Störfaktoren in Engelmanns Wohlfühlroman. Bettina Raab

Wir sind die LebendenJohannes Gelich

Nepomuk Lakoter ist mit dem Zustand der Gesell- schaft und der Welt nicht einverstanden. Da passt es ihm ganz gut in den Kram, dass er sich beim Kauf von Notfallrationen – immerhin sind der Tsunami und das Reaktorunglück in Fukushima gerade über die Welt hereingestürzt – sein Bein bricht. Nun kann er sein Kanapee nur mehr mit Mühe verlassen und mit lustvoller Hingabe seiner Resignation frönen. Unterstützt wird er dabei von seiner geduldigen Haushaltshilfe Amalia und den Mieteinnahmen aus seinem vernachlässigten Zinshaus in Baden. Erst als Amalia zurück nach Rumänien möchte, ihre Nichte Ana als Vertretung engagiert und die Mieter des Zinshauses aufbe-gehren, gerät das Leben des Eigenbrötlers ins Schleudern. Wir sind die Lebenden ist Johannes Gelichs drit- ter Roman und wie in Chlor (2006) steht auch hier der Rückzug aus der Welt und der Gesellschaft im Mittelpunkt. Rückzugsorte und -mittel sind hier das erwähnte Kanapee, Meditation, Marihua-na und Schlaf. Die Absurditäten der Welt, die Illu- sionen von Glück, Sinn und Leistung deckt der scharfsinnige Lakoter zwar immer wieder auf, bleibt aber selbst Gefangener seiner Ängste. Auch das von Melville entlehnte «I would prefer not to» («Ich möchte lieber nicht») illustriert, wie sehr sich Gelichs Held in die Verweigerung zu flüchten versucht. Sein Scheitern daran ist Triebfeder für das Buch und beschert den Lesenden sowohl die tragischsten als auch die komischsten Momente der Lektüre. Aufgelockert wird der Text durch die Einblicke in Lakoters herrlich absurde Briefwech-sel mit den Reklamationsabteilungen verschiede-ner Lebensmittelketten. Der Text ist – wie der Autor in der Danksagung freimütig anmerkt – voll von Bezügen auf Litera-

Johannes Gelich Wir sind die Lebenden

Innsbruck: Haymon 2013. 240 S.

Joel Haahtela Die Verschwundenen von Helsinki

Aus dem Finn. München: Berlin Verlag 2013.

125 S.

Page 19: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201416 Besprechungen

Hannahs BriefeRonaldo Wrobel

Der brasilianische Schriftsteller, Journalist und Rechtsanwalt Ronaldo Wrobel legt nach mehreren Kurzgeschichtebänden mit Hannahs Briefe seinen ersten Roman vor. Darin setzt er sich mit der Ge- schichte seiner eigenen Großeltern auseinander, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Osteuropa nach Brasilien eingewandert sind. Max Kuntner, ein jüdischer Schuhmacher aus Galizien, möchte nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro im Jahre 1935 eigentlich nur in Ruhe seiner Arbeit nachgehen und interessiert sich wenig für die repressive Politik des Vargas-Regimes. Als er eines Tages von Beamten abgeholt und von der Geheimpolizei dazu aufgefordert wird, die in jiddi-scher Sprache verfassten Briefe zahlreicher Exil- genossen ins Portugiesische zu übersetzen, ändert sich sein Leben dramatisch. Er stößt auf die Kor- respondenz einer gewissen Hannah, in deren poetischen Schreibstil er sich verliebt. Als sie eines Tages in seiner Werkstatt steht, um ihre reparier-ten Schuhe abzuholen, beschließt Max, diese Frau kennenzulernen. Er beginnt ihr nachzuspionieren, wodurch er in eine Geschichte voller Lügen, Pros- titution und Spionage hineingezogen wird, denn Hannah ist nicht die, die sie vorgibt zu sein. Vor der Kulisse Rio de Janeiros gewährt Ronaldo Wrobel Einblick in das Leben der jüdischen Ein- wanderInnen, die in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aus Europa nach Brasilien strömten und die Kultur Brasiliens entscheidend prägten. So spielt der facettenreiche Roman hauptsächlich im jüdischen Viertel um die Praça Onze. Was als Liebesgeschichte beginnt, entwi-ckelt sich rasch zu einem vielschichtigen Spiona-geroman, der die politischen Hintergründe der damaligen Zeit widerspiegelt und durch mehrere geschickte Wendungen eine spannende Lektüre garantiert – auch wenn die Sprache des Autors teilweise etwas zu bildhaft geraten und die Grund- idee der Geschichte nicht gerade neu ist. Carina Brandstetter

Mortimer & Miss MollyPeter Henisch

«Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt.» — Gleichsam als Blitzlicht auf mögliche Ereignisse fungiert dieser erste Satz in Peter Henischs neuestem Roman, weist voraus auf die drehbuchhaften Sequenzen die sich aus diesem, in eine Rahmenhandlung eingebetteten, Teil der Geschichte ergeben wer- den: Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges lan- det ein amerikanischer Soldat mit seinem Fall-

cholischen Roman abseits der üblichen Krimi- pfade haben, sind Haahtelas «Verschwundene» durchaus eine Empfehlung.

Bernhard Pöckl

Gottes blutiger HimmelFawwaz Haddad

Der 1947 in Damaskus, Syrien, geborene studierte Jurist Fawwaz Haddad veröffentlichte bereits neun Romane, von denen zwei für den arabischen Booker Preis nominiert waren; darunter auch sein jüngstes Werk, Gottes blutiger Himmel. Haddad schildert eindrücklich, aber ohne jedes Pathos den Versuch eines ehemals linksradikalen Intellektuellen und Atheisten aus Damaskus, sei- nen Sohn davon abzuhalten, sich als Selbstmord - attentäter der al-Qaida im Irak in die Luft zu spren- gen. Der Roman spielt im Sommer 2006, also drei Jahre nachdem Truppen der Vereinigten Staaten mit der Begründung, der Irak würde unter der da- maligen Führung des Diktators Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen produzieren, in den Irak einmarschierten. Doch mit dem Sturz Hus- seins im April 2003 war kein Ende der Gewalt in Sicht – der Irak wurde zum «Sammelpunkt eines Terrors, wie ihn die Welt in dieser Gnadenlosigkeit und Allgegenwart bis dahin nicht gekannt hatte.» 1

Der Protagonist lässt sich mit Hilfe des syrischen Geheimdienstes und der Amerikaner in die soge- nannte «Grüne Zone» Bagdads einschleusen, wo er beginnt, nach seinem Sohn Samer zu suchen. Doch keiner seiner Versuche bringt ihn auch nur in die Nähe seines Sohnes. Fawwaz Haddad führt die Stupidität und den Wahnsinn des Kriegs im Allgemeinen und die Grauen des Irakkrieges im Besonderen drastisch vor Augen. Der Autor betreibt keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern fragt nach den Gründen für Gräueltaten wie die Folterungen im Abu- Ghraib-Gefängnis. Doch dieser Folterskandal, der insbesondere in der westlichen Welt Aufsehen erregte, ist tatsächlich nur der Gipfel eines Eis- bergs, wenn man Haddads Schilderungen Glau- ben schenkt. Und das wird man wohl müssen – so unglaublich der Fanatismus im Namen welcher Religion auch immer und seine Konsequenzen auch sein mögen. Katharina Marie Bergmayr

1 Günther Orth im Nachwort zu Gottes blutiger Himmel, S. 350

Fawwaz Haddad Gottes blutiger Himmel

Aus dem Arab. Berlin: Aufbau 2013.

352 S.

Ronaldo WrobelHannahs Briefe

Aus dem brasilian. Portug. Berlin: Aufbau 2013.

328 S.

Peter HenischMortimer & Miss Molly

Wien: Deuticke 2013. 224 S.

Page 20: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

17 Belletristik

illusorischer Raum, für beide in Erinnerungen konserviert. Dass der Realität durchaus auf die Sprünge geholfen werden kann, zeigt Henisch mit einem recht pragmatischen Ende, das dem Zauber des Buches und dem Lesevergnügen jedoch kei- nen Abbruch tut. Wie schon zu Anfang steht auch am Ende ein konjunktivischer Satz, der zeigt, dass die meisten Geschichten niemals zu Ende er- zählt sind. Ein wunderbarer Roman und die ideale Lektü- re für den nächsten Italienurlaub. Martina Riegler

Djihad für Lila Hasan Ali Ider

Die Geschichte erzählt von zwei jungen Männern mit «Migrationshintergrund» in Wien. Der Kurde Kamil wird eines Abends auf einem Fest in Wien von drei Neonazis brutal zusammengeschlagen. Die umstehenden Passanten scheint das aber nicht aus der Reserve zu locken: niemand hilft oder geht dazwischen, sie sehen lediglich zu, wie er fast tot- geprügelt wird. Daraufhin versteckt sich Kamil in seiner Wohnung und versucht, mit diesem Trau- ma fertig zu werden. Malik ist ebenfalls türkisch-kurdischer Abstam-mung. Der Sohn eines Gastarbeiters ist leiden-

schirm im Renaissancegarten des fiktiven tos- kanischen Städtchens San Vito, unweit des Hauses, in dem Miss Molly, die englischen Gou- vernante einer reichen italienischen Familie, lebt. Sie versteckt den Soldaten vor den deut- schen Besatzern und es entspinnt sich eine Liebesgeschichte. Erzählt wird diese von einem alten Amerikaner, der 30 Jahre später seinen Urlaub in San Vito verbringt und dessen Geschich-ten ein junges Paar namens Julia und Marco begeistert lauscht. Aufeinandergetroffen sind die Wiener Studentin Julia und der angehende ita- lienische Arzt Marco, der eigentlich lieber Filme drehen würde, ein paar Wochen zuvor in Siena. Sie beschließen, den Rest ihrer Ferienzeit ge- meinsam zu verbringen und landen eher zufällig in der kleinen toskanischen Stadt. Die Erzäh- lungen des alten Amerikaners inspirieren die beiden zu einem Drehbuch rund um die Geschich-te von Mortimer und Miss Molly. Sie kehren über Jahre hinweg immer wieder nach San Vito zurück, um an ihrem Drehbuch zu feilen und ihre Liebe zu zelebrieren, die außerhalb dieser Um- gebung auf wackeligen Beinen steht. Als Marco den Wahrheitsgehalt der Liebesgeschichte von Mortimer und Miss Molly erkennt, zerbricht ihre Liebe endgültig. Die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Illusion wird zum Stolperstein für eine erfüllte und sich erfüllende Liebe, und die beiden Liebesgeschichten bedingen und spiegeln sich ein letztes Mal. San Vito bleibt ein

Kafkas Leoparden Moacyr Scliar

Im Zuge des Gastland-Auftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse 2013 ist es wieder einmal zu einigen bemerkenswerten Übersetzungen gekommen. Eine dieser Neuentdeckungen ist Kafkas Leoparden, ein vom Umfang her kleines Buch des großen brasilianisch-jüdischen Schrift- stellers Moacyr Scliar (1937–2011). Die Berliner Zeitung bezeichnete den Roman gar als das «herz-erwärmendste, schrägste und melancholisch-verrückteste Buch dieses Herbstes». Nun denn ...Die Geschichte beginnt in Bessarabien, am Vorabend der Russischen Revolution. Ein jüdischer Junge namens Benjamin Kantarovitch, genannt Ratinho («das Mäuschen»), verlässt bei Nacht und Nebel sein Dorf und begibt sich auf eine gefährliche und beschwerliche Reise nach Prag. Der junge Kommunist ist in geheimer Mission unterwegs, er soll von einer unbekannten Kontaktper-son eine wichtige Botschaft betreffend revolutionäre Aktionen erhalten. Doch die Sache geht gründlich schief. Schon im Zug verliert Ratinho seine Tasche mit den Kontaktdaten und muss fortan, ganz auf sich allein gestellt, improvisieren. In Prag angekommen, gerät er durch sein kind-lich-dilettantisches Vorgehen in wahrhaft kafkaeske Situationen – und trifft letztendlich auf Franz Kafka persönlich, der ihm tatsächlich einen geheimnisvollen Text über Leoparden im Tempel übergibt. Doch das ist erst der Beginn einer beispiellos skurrilen Verwechslungsgeschichte, die mehrere Jahrzehnte andauern und bis ins ferne Brasilien reichen wird ... Kafkas Leoparden-Text ist übrigens authentisch. Generationen von Literaturwissenschaftlern haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was dieser Aphorismus zu bedeuten hat. Die Palette reicht von politisch bis prophetisch, klären muss es wohl jeder für sich selbst. Moacyr Scliar hat seine eigene Version dazu gefunden und ein literarisches Kabinettstück hingelegt, wie man es nicht alle Tage zu lesen bekommt. Eine wunderbare Hommage an die Literatur, an jugendlichen Idealismus und nicht zuletzt an Franz Kafka. Unbedingt lesen! Thomas Geldner

Moacyr ScliarKafkas Leoparden

Aus dem brasilian. Portug. Düsseldorf: Lilienfeld 2013.

134 S.

Hasan Ali Ider Djihad für Lila

Wien: Proverbis 2013. 229 S.

Page 21: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201418 Besprechungen

die beiden eine ereignislose, nahezu langweilige Ehe führen, zögert Noyuri – denn auf die Frage, ob sie ihren Mann noch liebt, kann sie keine Ant- wort geben. Noyuri reflektiert ihr bisheriges Leben und ihre Beziehung zu ihrem Ehemann. Sie tut das nüchtern und rational, still und zurückhaltend. Ihr emotionsloses Verhalten und ihre Untätigkeit machen die junge Frau in manchen Situationen nicht unbedingt sympathisch. Es sind vor allem die Nebenfiguren, die der Erzählung Farbe und Spannung verleihen. Die leicht überdrehte Schul- freundin, der ebenfalls fremdgehende Onkel, der junge Eiji, der seinerseits ein bisschen in Noyuri verliebt ist ... Noyuri selbst bleibt neben all diesen Figuren blass und eintönig. Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling .... das Ende der Geschich- te bleibt offen. Wieder ist es Hiromi Kawakami gelungen, ein leises, unaufgeregtes, aber wunderbares Buch über die Liebe und ihre Vergänglichkeit zu schreiben. Einzig das Gefühl, dass sie über die Liebe schreibt, will sich bei der Leserin/dem Leser auch nach mehr als zweihundert Seiten partout nicht einstellen. Irmgard Müller

Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre GeschichtenErwin Koch

Der Schweizer Autor und Journalist Erwin Koch schreibt regelmäßig für große Printmedien wie die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Stern, nun hat er zehn seiner Reportagen, erschienen zwi- schen 2002 und 2012, in einem Band versammelt. Der Untertitel Wahre Geschichten verweist auf die Form der Reportage. Eindringlich verdichtet Koch in seinen durch-schnittlich 20 Seiten langen Texten ein ganzes Leben, ein Leben, das von Schmerz, Trauer, Ver- lust und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Da ist etwa die an Leukämie erkrankte 14 Jährige, deren Weg von der Diagnose bis zum unausweichlichen Ende nachgezeichnet wird, der Mann, der sich erst traut, seine Homosexualität auszuleben, als die Kinder aus dem Haus sind, oder die Mutter, die ihr Kind tötet, als dieses beginnt seinem leiblichen Vater ähnlicher zu sehen als dem vermeintlichen. Kochs Texte erzeugen eine starke Anteilnahme; man sieht sich als Leserin fast gezwungen, nach jedem Text das Buch zur Seite zu legen, durchzu- atmen, dem Gelesenen Raum zu geben. Jede Ge- schichte beschreibt ein besonderes und tragisches Schicksal und wirft prinzipielle Fragen auf: der Umgang mit Todkranken, ab wann und ob es sich nicht mehr lohnt am Leben zu bleiben, Anpassung versus persönliches Glück oder zu welchem Preis eine Lüge aufrecht erhalten werden muss. Koch wahrt stets Distanz zu seinen Protagonisten, den-

schaftlicher Boxer und arbeitet als Obst- und Ge- müseverkäufer am Naschmarkt. Auf einer Party lernt er Lila kennen und verliebt sich unsterblich in die fesche Wienerin. Doch die Beziehung steht unter keinem guten Stern, zu groß sind die ge- sellschaftlichen und kulturellen Unterschiede, mit denen sich die beiden auseinandersetzen müssen. Unterdessen herrscht in Wien eine gespannte und vergiftete Atmosphäre: es ist Wahlkampf und die «Nationalistische Partei» mit ihrem strahlen-den Vorsitzenden, dessen reales Vorbild unschwer als H. C. Strache zu erkennen ist, betreibt eine rassistische Hetzkampagne gegen alle Muslime. Nach und nach reift in Kamil und Malik der Ent- schluss, das alles nicht mehr hinzunehmen und sich für sämtliche Anfeindungen und Gewalttätig-keiten zu rächen ... Mit Djihad für Lila hat der 1977 in Vorarlberg geborene Autor mit türkisch-kurdischen Wurzeln ein bemerkenswertes Debut vorgelegt. Die Ge- schichte ist rasant erzählt, mit knappen Sätzen und einer teilweise blumigen Sprache steht sie ganz im Stil der orientalischen Erzähltradition. Vieles, was das Leben der sogenannten «Auslän-der» im heutigen Wien ausmacht, wird auf den Punkt gebracht: Integrationsprobleme, unter-schiedliche Mentalitäten und nicht zuletzt der mehr oder weniger latente Alltagsrassismus der eingesessenen Bevölkerung. Darüber hinaus verhilft uns diese aus der Per- spektive von Menschen mit Migrationshinter-grund erzählte Geschichte zu neuen spannenden Sichtweisen auf die Stadt Wien und die jüngere österreichische Geschichte. Ein sozialkritischer, philosophischer und gleichzeitig sehr berühren- der Roman, der eindringlich veranschaulicht, was sich im Inneren von Menschen abspielt, die als Fremde im eigenen Land leben müssen. Thomas Geldner

Bis nächstes Jahr im Frühling Hiromi Kawakami

Hiromi Kawakami, 1958 in Tokio geboren, ist eine der bekanntesten und populärsten zeitgenössi-schen Autorinnen Japans. Auch im europäischen Raum zählen ihre Romane, wie etwa Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß (2008) und Herr Nakano und die Frauen (2009) zu den erfolgreichsten Neu- erscheinungen der letzten Jahre. Nun liegt ihr neu- estes Werk in deutscher Übersetzung vor und wie schon in ihren früheren Romanen macht die Auto- rin die Liebe zum zentralen Thema ihrer Erzählung. Die Geschichte ist schnell erzählt. Noyuri er- fährt durch einen anonymen telefonischen Hin- weis, dass ihr Ehemann Takuya seit einiger Zeit eine Affäre mit einer Kollegin aus seiner Firma hat. Da Takuya sich in seine Geliebte verliebt hat, bittet er seine Frau um die Scheidung. Obwohl

Hiromi Kawakami Bis nächstes Jahr im Frühling

Aus dem Japan. München: Hanser 2013.

221 S.

Erwin Koch Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten Zürich: Nagel & Kimche 2013.

191 S.

Page 22: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

19 Belletristik

dings ist Fellone nicht gewöhnt, nicht zu bekom-men, was er haben will – schon gar nicht, wenn sein Konkurrent ein armer Junge aus der Nachbar-schaft ist. Zufällig hört er von dem Rendezvous im Sonnenblumenfeld und macht sich mit seinen Schlägerfreunden auf den Weg, um ein für alle Mal klare Verhältnisse zu schaffen. Zur gleichen Zeit überfallen verarmte Opfer der jüngsten Wirtschaftskrise die Lottoannahmestelle in einer nahe gelegenen Stadt. Auf der Flucht kommen auch sie beim Sonnenblumenfeld vorbei, wo es letztendlich zum großen Showdown kommt und die Schicksale der Protagonisten miteinander verwoben werden ... Dieser Roman hat einfach alles, was ein gutes Buch ausmacht: eine leidenschaftliche Liebes- geschichte, sozialkritische Krimielemente und philosophische Tiefe. Die Geschichte ist eine Variation des Romeo und Julia-Motivs, trans- poniert ins heutige Italien, das aber ziemlich ar- chaische Züge trägt und insgesamt zeitlos an- mutet. Bemerkenswert ist auch die kunstgerechte und liebevolle Zeichnung der einzelnen Charak- tere, die allesamt aus einem Film von Fellini stam- men könnten, sowie die sinnliche und humor- volle Darstellung der süditalienischen Mentalität. Ein bezauberndes Buch voller Anmut und Poesie – und spannend bis zur letzten Seite. Thomas Geldner

noch ist die Darstellung der verschiedenen Schick- sale von großer Empathie geprägt. Nicht jeder Text weist dieselbe Dichte und Prägnanz auf, aber alle Erzählungen bestechen durch genaue und feinfühlige Beobachtung. Am Ende bleibt ein wenig Wehmut, all diesen Figuren nur so kurz begegnet zu sein. Martina Riegler

Das SonnenblumenfeldAndrej Longo

Gnadenlos brennt die Sonne auf ein kleines süd- italienisches Dorf, wo sich alle auf das große Fest des Heiligen San Vito Liberatore vorbereiten. Doch die Hitze kann den jungen Liebenden nichts anhaben: die bildhübsche Catarina ist mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Sonnenblumenfeld, wo sie sich mit Lorenzo treffen möchte. Heimlich, denn ihr Vater hat strikt verboten, dass sie mit dem Enkel eines armen Schusters weiterhin verkehrt. Zumal es auch noch Rancio Fellone gibt, den Sohn des reichsten und mächtigsten Mannes im Dorf, der noch dazu der Chef von Catarinas Vater ist. Der junge Mann ist hinter Catarina her, doch sie gibt ihm einen Korb nach dem anderen. Aller-

Hikikomori Kevin Kuhn

Kevin Kuhn, 1981 geboren, studierte unter anderem Kreatives Schreiben und Kulturjournalis- mus in Hildesheim, wo er seit 2010 auch als Lehrbeauftragter tätig ist. In den Mittelpunkt seines Debütromans stellt Kuhn eine neue, moderne Form der «Rückzugskultur». In Japan kennt man das Phänomen der «Hikikomori», jener jungen Männer, die sich aufgrund des massiven gesell-schaftlichen (Leistungs-) Drucks freiwillig für längere Zeit in ihre Zimmer und Wohnungen zurück-ziehen, schon seit längerem. Weshalb nun Till Tegetmeyer, der 18-jährige Protagonist des Romans, den Rückzug antritt, lässt der Autor mehr oder weniger offen. Die Nichtzulassung zum Abitur könnte als ein mögliches Er-klärungsmuster dienen. Ebenso lässt er offen, ob der Junge letztendlich wieder ins reale Leben zurück findet. Tills Eltern reagieren vorerst mit Verständnis und Geduld auf das Handeln ihres Sohnes. Je länger und konsequenter sich der Junge jedoch zurückzieht, desto hilfloser stehen sie der Situation gegenüber. Till entgleitet das reale Leben, er taucht in eine Onlinewelt bestehend aus sozialen Netzwerken und Strategiespielen ein. Er entdeckt «Minecraft», ein Computerspiel, in dem sich der Spieler seine nach eigenen Regeln funktionierende Welt schaffen kann. Und das tut Till. In der von ihm kreierten «Welt 0» tummeln sich virtuelle Weggefährten, viele von ihnen haben wie Till den Boden der Realität längst verlassen. Die Kommunikation mit seinem persönlichen Um- feld wird auf das Notwendigste reduziert, einzig die Briefe und E-Mails an Kim, seine Ex-Freundin, lassen einen tieferen Einblick in Tills Seelen- und Gedankenwelt zu: «Ich habe Freunde gefunden, obwohl ich keinem Menschen mehr begegnet bin. Was sagt uns das, was sagt das über uns?» Man findet keineswegs mühelos in diese Erzählung hinein. Stil und Sprache sind distanziert und reduziert, erst langsam gewinnen die einzelnen Charaktere an Plastizität. Schritt für Schritt schlit-tert die Leserin/der Leser in den immer wiederkehrenden Kreislauf aus Rückzug, Annäherung, Hoffnung und erneutem Rückzug hinein. Früher oder später fühlt man die im Zimmer beschriebe-ne Hitze, die Kälte, den Geruch, die Leere, die Dunkelheit. Die mit klarer, geradliniger Sprache gezeichneten Bilder der Isolation bleiben auch nach Ende der Erzählung noch längere Zeit im Kopf. Irmgard Müller

Kevin KuhnHikikomori

Berlin: Berlin Verlag 2012. 223 S.

Andrej LongoDas Sonnenblumenfeld

Aus dem Ital. Berlin: Insel 2012.

192 S.

Page 23: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201420 Besprechungen

nale und geschichtliche Interesse weit hinaus. Eine zentrale Frage ist, wie viel Identität die Fami- lie vorgeben kann und inwieweit jeder Mensch seine Identität in sich trägt. Es geht um Schuld und Scham, um Liebe, um die Freiheit, Entscheidun-gen zu treffen und um deren Konsequenzen. Perla ist emotional ergreifend, historisch in- formativ und literarisch auf hohem Niveau – und nichtsdestotrotz ein gut lesbarer Roman. Josef Mitschan

Lithops. Lebende SteineAnna Rottensteiner

Dora und Franz leben zurückgezogen auf einer kleinen Insel vor dem finnischen Festland. In ihrer Freizeit sammelt Dora Steine, aus denen sie in einer kleinen Bucht unweit ihres Hauses Skulpturen her- stellt. Bald wird klar, dass diese Skulpturen Perso- nen aus der Vergangenheit darstellen und nicht zu- letzt der Bewältigung von Traumata dienen. Rückblickend erzählt Franz die Geschichte die- ses Paares. Der Ich-Erzähler ist ein Südtiroler Bauernbub, der bei seiner alleinerziehenden Mut- ter aufwächst. Nachdem die Mutter einen italie- nischen Lehrer bei sich einquartiert hat um finan- ziell über die Runden zu kommen, wird sie von den übrigen Dorfbewohnern geschnitten. Es ist die Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg, als die sogenannte «Option» die Südtiroler Gesell-schaft spaltete. Man muss entscheiden, ob man in Südtirol verbleiben oder ins «Deutsche Reich» auswandern will. Die Mutter von Franz entschied sich fürs Bleiben. Eines Tages kommt Dora, die Tochter des Lehrers, auf Besuch, um den Sommer gemeinsam mit ihrem Vater auf dem Hof zu ver- bringen. Dora ist ein lebenslustiges und tempera-mentvolles junges Mädchen aus Rom und schwärmt auf eine kindlich-naive Art für Mussolini. Wäh- rend des Sommers kommen sich Franz und Dora näher und erleben eine erste zarte Liebesbezie-hung, werden allerdings durch die Kriegsereignis-se bald wieder getrennt. Jahre später begegnen sich die beiden wieder: Franz wurde mittlerweile zur Wehrmacht eingezogen und muss Mussolini ausspionieren, dessen Stern im Sinken begriffen ist. Dabei trifft er unvermutet wieder auf Dora ... Mit diesem kleinen, aber feinen Roman hat Anna Rottensteiner ein durchaus gelungenes Debüt vorgelegt. Der schmale Band ist prall gefüllt mit Handlung, die sich auch für eine breitere epische Darstellung eignen würde. Das Buch ist sehr geschickt konstruiert, mittels Parallelhand-lungen und Rückblenden wird sprachlich anspre-chend eine berührende und stellenweise sehr poetische Geschichte erzählt. Daneben erfährt man auch einiges über die Geschichte Südtirols und Italiens am Ende des Zweiten Weltkriegs. Thomas Geldner

PerlaCarolina De Robertis

Eine junge Psychologiestudentin hat das elterliche Haus in einem Vorort von Buenos Aires für sich al- lein, während die Eltern im Strandurlaub sind. Da bekommt sie unheimlichen Besuch: ein nackter Toter liegt eines Morgens auf dem Wohnzimmer-teppich, verströmt einen fauligen Geruch, ist aber offensichtlich bei Bewusstsein. So beginnt nicht ein Zombie-Roman für Genre-Leser, sondern das zweite Buch der amerikanischen Autorin Carolina de Robertis. Ihre Familie stammt aus Uruguay und in Perla erlebt die Titelheldin in wenigen Tagen, welch traumatische Folgen das brutale Vorgehen der Militärs in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts für viele Familien hat. Schon bald ist klar, dass der Tote am Teppich ein «Verschwundener» ist. Und Perlas Vater ist ein Marineoffizier der argentinischen Armee, der womöglich an der «Operation Condor» beteiligt war. Dieses Codewort steht für die Ermordung von rund 30.000 Menschen – sie wurden nackt und betäubt aus Flugzeugen ins offene Meer geworfen. Als ob es nicht schlimm genug wäre, mit der Schuld des Vaters konfrontiert zu werden, kommen Perla Zweifel, ob sie wirklich die Tochter des Mörders sein kann. Ist sie nicht vielmehr eines jener Kinder, die in den Folterkammern der Militärs zur Welt kamen, den Müttern weggenommen und an ver- diente Offiziersehepaare gegeben wurden? Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit die Autorin es zustande bringt, alle Aspekte des grauen- haften Erbes der Militärdiktaturen Südamerikas in ein familiäres Kammerspiel einzuweben. Die im Klappentext ausgewiesenen Anklänge an Isabel Allende und Gabriel Garcia Márquez sind nicht zu hoch gegriffen. Carolina de Robertis schreibt sprachgewaltig, mit einer Liebesgeschichte als zen- traler Handlungsebene, wir nähern uns den Figu- ren durch deren beständigen Stream of Conscious-ness und spärliche, aber präzise gesetzte Dialoge – und der Tote am Teppich ist ein Stilmittel des magischen Realismus wie es im Lehrbuch steht. Das Buch hat mehrere Bedeutungsebenen, verschiedene Erzählperspektiven und Handlungs-stränge auf unterschiedlichen Zeitebenen. Die Autorin deutet früh an, wie die Geschichte enden muss und baut mit gut gesetzter Dosierung von Informationen eine im besten Sinne des Wortes unheimliche Spannung auf – und am Ende gibt es immer noch Überraschungen. Perla scheint besonders für LeserInnen geschrie- ben zu sein, die sich für Lateinamerikas jüngere Geschichte interessieren. Die Stadt Buenos Aires, die Strände Uruguays und das Wasser der Mün- dung des Rio de la Plata, das sie verbindet, bekom- men eine bedeutungsvolle Rolle in diesem Buch. Dennoch geht der Lesegenuss über dieses regio-

Carolina De Robertis Perla

Aus dem Amerikan. Frankfurt/Main:

Fischer Krüger 2013. 332 S.

Anna RottensteinerLithops.

Lebende Steine Innsbruck: Edition Laurin 2013.

121 S.

Page 24: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

21 Belletristik

Das alles wird mit einer bemerkenswerten Spra- che geschildert, die in ihrer Beschaffenheit wie eine stilistische Entsprechung der MRT-Untersu-chung wirkt: so wie das Gerät den Körper raster- artig abtastet und Bilder liefert, so wird das Leben der Erzählerin in Sprachbilder gepackt, die sich jeweils über eine Doppelseite erstrecken. Die meis- ten Sätze sind extrem kurz, manche auch abge-hackt, sodass deren weiterer Verlauf gedacht werden muss. Dadurch entsteht ein Bewusstseins-strom im Stakkato-Rhythmus, der neben den Erinnerungen und Reflexionen auch das Ausgelie-fertsein in einer Extremsituation auf fast schmerz-liche Art und Weise vermittelt. Diese Sätze funktionieren wie lautmalende Wörter, nur dass hier Gefühle und Emotionen «gemalt» werden: «Weil ich hier festliege. Weil dieses Hämmern nicht aufhört. Die Zeit nicht vorankommt. Weil ich sie nicht kleinkriege. Einteilen kann. Weil sie mich zählt. Während ich schwimme. In ihrem unübersichtlichen Vergehen. Sie sich an mir. Und ich wieder Opfer. Zeitbombenopfer. Ich will noch nicht gehen. Ich bin noch nicht fertig. Ich habe ja nicht einmal.» (S. 71) Eine beachtliche literarische Leistung und ein außergewöhnlicher Text, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind. Thomas Geldner

Hinter den Augen: eine UntersuchungUlrike Ulrich

Eine junge Frau muss sich einer Magnetresonanz-tomographie unterziehen, da der Verdacht auf eine Tumorerkrankung besteht. Sie wird in eine Röhre geschoben und darf sich nicht bewegen, damit die Untersuchung möglichst exakte Ergeb- nisse liefert. Während dieser Zeit rasen die Gedanken durch den Kopf der namenlosen Ich-Erzählerin: was passiert, wenn sie nun wirklich krank ist, wie wird ihr Leben weitergehen, wie wird ihr Freund rea- gieren? Doch nicht nur Angst und Hoffnung, dass sich alles als Irrtum herausstellt und dass ihre Symptome am Ende doch harmlose Ursachen haben, bestimmen das Denken der Frau, sondern ihr ganzes Leben läuft wie ein Film vor ihrem in- neren Auge ab. Da sind Erinnerungen an die Kindheit und an den asthmakranken Vater, an den Selbst- mord eines Schulfreundes und an die beste Freun- din Alma, die sie mit dem Projektleiter aus dem Germanistik-Institut betrogen hat. Natürlich werden auch die wesentlichen Fragen des Lebens angeschnitten, Betrachtungen über Leben und Tod, über Schuld und Verzeihen und nicht zuletzt über Gott und Religion.

Luiz RuffatoEs waren viele Pferde

Aus dem brasilian. Portug. Berlin: Assoziation A 2012.

158 S.

Ulrike UlrichHinter den Augen:

eine Untersuchung Wien: Luftschacht 2013.

125 S.

Es waren viele Pferde Luiz Ruffato

Es waren viele Pferde ist der erste Roman des Brasilianers Luiz Ruffato und schildert in insgesamt 69 verschieden langen Kapiteln das Leben in São Paulo. Dabei bekommen die Lesenden kurze Einblicke in Lebenssituationen unterschiedlicher Bewohner der Metropole – der Manager, der zögert, seinem Sohn von seinen nicht ganz sauberen Geschäften zu erzählen, der Notfallmedi- ziner, der im OP eine Überraschung erlebt, der Chauffeur, der über seinen Chef pikante Details zu erzählen weiß, die Taglöhner, die auf Arbeitssuche in die Stadt ziehen und der Sohn, der Geld für ein Muttertagsgeschenk stehlen muss. Mit diesem Roman gelingt Ruffato ein vielstimmiges Panorama der brasilianischen Gesellschaft, die vor allem durch die enormen Unterschiede zwischen Arm und Reich geprägt ist. Schonungs-los zeigt das Buch das Leid, die Angst, den Überlebenswillen und die – oftmals enttäuschte – Hoffnung seiner Protagonisten und die Schieflagen der Gesellschaft. Analog zum permanenten Perspektivenwechsel variiert der Autor auch Stil und Inhalt der einzelnen Kapitel – vom Bewusst-seinsstrom einer busfahrenden Großmutter bis hin zu Briefen und geradezu protokollarischen Auf- zählungen reicht Ruffatos Repertoire. Selbst Wetterbericht und Horoskope werden mit den rest- lichen Kapiteln verflochten und runden den Roman ab. Trotz des vermeintlichen stilistischen und inhaltlichen Chaos fesselt das Buch nicht zuletzt ob seiner literarischen Qualität schon nach wenigen Seiten und zeigt ein Brasilien abseits von Fußball, Strand und Samba. Ruffato, der ursprünglich als Journalist tätig war, zählt mittlerweile zu den renommiertesten bra- silianischen Gegenwartsautoren. Der Roman erschien bereits 2001 und wurde nun erstmals auf Deutsch veröffentlicht – es ist zu hoffen, dass weitere Übersetzungen folgen. Zusammenfassend ist Es waren viele Pferde ein faszinierendes, ausgesprochen lohnenswertes Buch und auch im Hinblick auf die aktuellen Proteste in Brasilien und die nächstjährige Fußballweltmeisterschaft zu empfehlen. Bernhard Pöckl

Page 25: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201422 Besprechungen

Kauft LeuteJan Kossdorff

In seinem neuesten Roman Kauft Leute nimmt sich Jan Kossdorf des Themas Menschenhandel an; trotz der skurrilen Überzeichnung, die er der Problematik angedeihen lässt, macht das Buch ausgesprochen betroffen. Der Wiener Journalist und Werbetexter hat bereits in seinen beiden er- folgreichen Vorgängerromanen radikale Gesell- schaftskritik geübt und verstört seine Leserschaft nun mit der durchaus realistisch anmutenden Schilderung eines HÜMANIA-Markts. Die erst kürzlich von ihrer Spielsucht geheilte Werbefachfrau Caro Novara bewirbt sich bei einem neu eröffneten, von allen mit höchster Spannung erwarteten Einkaufs-Center im Süden Wiens, das Menschen aus Fleisch und Blut feil- bietet. Sie bekommt die Stelle einer Texterin und gerät durch persönliche Bekanntschaft mit einigen der angepriesenen «Objekte» in schwere Gewis-senskonflikte. Wie weit reicht ihre Loyalität? Wird sie sich gegen das unmoralische Treiben ihres Arbeitgebers auflehnen? Der Roman macht Angst: die Verortung der Handlung in einer real existierenden Shopping City und die authentische Schilderung der Ver- marktung des neuen HÜMANIA-Angebots ver- führen den Leser vielleicht sogar zu Gedanken wie: «Würde ich auch ... ? » . Klingt die Vorstellung von käuflich erwerbbaren «Wunscherfüllern» anfangs noch recht verlockend, wird mit Fort-schreiten der Lektüre doch deutlich, dass sich HÜMANIA nicht von den grausamen Sklaven- märkten (gar nicht so lang) vergangener Zeiten unterscheidet. Dank jugendlich flapsiger Sprache und viel di- rekter Rede liest sich das Buch trotz der schwer ver- daulichen Thematik zügig und ist durchaus unter- haltsam. Gängige Textformen (SMS, Beiträge in Internetforen u.a.) werden mit herkömmlicher Romanform verwoben, unterschiedliche Schrift- arten gliedern den Text auch optisch. Alles in allem ein formal gut gelungener und betroffen machen-der Roman über ein Thema von bedrückender Ak- tualität, der vor allem einem jüngeren Publikum empfohlen werden kann. Sissy Schiener

DreckDavid Vann

Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass David Vanns Roman Dreck kein gutes Ende nehmen wird. Der 22jährige Protagonist Galen sitzt auf einem Feigenbaum, in Siddhartha vertieft, als seine Mutter mit Tee in den Garten tritt. Die Mutter versucht, ein Gespräch mit ihrem Sohn zu beginnen, doch dieser weigert sich, will nicht gestört werden von seiner ihn stets umsorgenden Mutter, weder jetzt noch irgendwann sonst. Die Stimmung ist wie das Wetter: aufgeheizt und spannungsgeladen. Auch zu seiner Tante und seiner Cousine hat Galen ein denkbar schlechtes Verhältnis. Umgeben von Frauen, die jede auf ihre Art brutale Macht über Galen ausüben, ist er auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung, die er durch die Lektüre von Hermann Hesse, Castaneda und Richard Bachs Die Möwe Jonathan erreichen will. Insbesondere Galens Mutter versucht den Schein zu wahren, so etwas wie Normalität in ihrer aller Leben zu bringen. Aber ein Ausflug in eine Waldhütte bringt die aggressive Stimmung end- gültig zum Kippen: Wieder zu Hause angekom-men, eskaliert ein Streit zwischen Mutter und Sohn und endet in einem sich bereits seit Beginn des Romans abzeichnenden grausamen Finale. Nur wenigen Autoren gelingt es so gut wie dem 1966 in Alaska geborenen David Vann von der ersten Seite an eine solch bedrohliche Spannung aufzubauen. Der knappe lapidare Erzählstil erin- nert streckenweise an Agota Kristofs Das große Heft und macht den schier unglaublichen Inhalt nur noch eindrücklicher. Vann meint in einem Interview mit der Welt, er «offeriere eine kleine Hölle». Das tut er tatsächlich. Und zwar erschre-ckend gut. Katharina Marie Bergmayr

David VannDreck

Aus dem Amerikan. Berlin: Suhrkamp 2013.

296 S.

Jan KossdorffKauft Leute

Wien: Milena 2013. 251 S.

Roman

Suhrkamp

Page 26: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

23 Krimi und Thriller

mörder die kranke Frau des Dorfpolizisten als nächstes Opfer ... Belinda Bauers Buch ist kein reißerischer Thriller, sondern ein stiller, wiewohl beklemmen-der Roman, der die Schicksale der Dorfbewoh- ner und deren vielschichtiges Beziehungsnetz ausführlich schildert und tief in die Seelen der Personen blicken lässt. Bauer lässt sich Zeit, bis ihre Geschichte so richtig in Fahrt kommt. Ein feiner Kriminalroman in bester englischer Krimitradition! Bettina Raab

Tödliche HoffnungTove Alsterdal

Ally Cornwall, Bühnenbildnerin an einem New Yorker Theater, erhält eines Tages einen besorgnis- erregenden Anruf ihres Mannes Patrick, eines Journalisten, der sich zu diesem Zeitpunkt für bri- sante Recherchen in Paris aufhält. Das Telefonat bricht plötzlich ab, Ally bleibt voller Sorge und Furcht zurück. Als sie schließlich Patricks Notizen mit der Post zugeschickt bekommt, macht sie sich kurzentschlossen auf den Weg nach Paris, um

Der BeschützerBelinda Bauer

Die 1962 geborene Britin Belinda Bauer hat mit Der Beschützer ihren zweiten Kriminalroman verfasst. Ihr Erstlingswerk Das Grab im Moor er- schien 2010 und wurde sogleich mit dem CWA Gold Dagger-Preis für den besten Spannungs- roman des Jahres ausgezeichnet. Der gutmütige Dorfpolizist Jonas Holly hat es nicht leicht in seinem Leben. Zuerst erkrankt seine geliebte Ehefrau Lucy an Multipler Sklerose und dann passiert auch noch ein hinterhältiger Mord an einer gelähmten alten Dame in der kleinen Gemeinde Shipcott. Als die Mordkommission un- ter der Leitung des missmutigen und unverträg- lichen Marvel die Leitung der Ermittlung an sich reißt, versinkt Holly zunächst in untätigem Selbst- mitleid. An ihn adressierte anonyme Briefe («Und sowas nennt sich Polizist!», «Mach deinen Job, Heulsuse», ...), wecken ihn allerdings aus seiner Lethargie und katapultieren den bedächtigen Jonas Holly schon bald mitten ins Geschehen. Denn dem Mord an der alten Dame folgen weitere und schließlich wählt der heimtückische Serien-

Michael Scott, Colette FreedmanDie 13 Heiligtümer

Aus dem Engl. München: Penhaligon 2013.

399 S.

Belinda Bauer Der Beschützer Aus dem Engl.

München: Manhattan 2012.382 S.

Tove AlsterdalTödliche HoffnungAus dem Schwed. Köln: Lübbe 2013.

378 S.

Besprechungen–BelletristikKrimi und Thriller

Die 13 HeiligtümerMichael Scott, Colette Freedman

13 Kinder werden während des Zweiten Weltkrieges in ein abgelegenes Dorf in Wales evakuiert und erhalten dort von einem einäugigen Vagabunden 13 mystische und einzigartige Artefakte; diese 13 Heiligtümer schützen seit Jahrtausenden die Menschheit vor den Dämonen der Astral-welt. 70 Jahre später wird ein Wächter nach dem Anderen grausam zu Tode gefoltert. Als die jun-ge Sarah Miller einer alten Dame bei einem Überfall zu Hilfe kommt, wird sie scheinbar zufällig in den Kampf zwischen Gut und Böse hineingezogen. Die sterbende alte Frau übergibt Sarah ihr Artefakt, das Schwert von Dyrnwyn, um es dem vermeintlich nächsten Wächter zu überbringen. Doch inzwischen erwacht die Macht, die den heiligen Artefakten selbst innewohnt ... Zu Beginn erscheint das vorliegende Werk ein wenig verworren und unübersichtlich, denn die diversen Charaktere werden sehr schnell und beinah gleichzeitig eingeführt, doch sobald sich die einzelnen Erzählstränge auf mitunter verschiedenen Raum- und Zeitebenen herauskristallisie-ren, nimmt die Geschichte rasant Fahrt auf und lässt den/die LeserIn das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Das Autoren-Duo greift in seinem Fantasy-Thriller gekonnt auf historische Persön-lichkeiten und bekannte mystische Legenden (z.B. die Geschichten um König Artus oder die Thron-übernahme Elisabeths I von England) zurück und vermengt die reale Welt mit einer dämonischen und geisterhaften «Astralwelt». Endlich mal wieder ein Fantasy-Schmöker für erwachsene Lese-rInnen ohne Vampire, der fantastische Elemente, mystische Legenden und potentiell reale krimi-nelle Machenschaften in sich vereint. Für hartgesottene Thriller-Liebhaber durchaus empfehlens-wert, bei der Darstellung der Folter- und Mordmethoden werden brutale und grausame Details nicht ausgespart! Martina Lammel

Page 27: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201424 Besprechungen

Blinde VögelUrsula Poznanski

Ein Mann wird erschossen aufgefunden, eine junge Frau liegt stranguliert daneben; ein Mann wird erschlagen und eine weitere junge Frau wird vom Zug erfasst. Die Kriminalpolizei nimmt die Ermittlungen auf und findet bald heraus, dass alle Opfer Mitglieder einer Lyrik-Gruppe bei Facebook waren. Also wird ein Fake-Profil an- gelegt und undercover in den virtuellen Welten des sozialen Netzwerks ermittelt – doch um welchen Preis?! Der Thriller liest sich anfangs ein wenig holp- rig, gilt es doch einerseits zwischen den ver- schiedenen Erzählperspektiven (Täter, Opfer, Ermittler) hin und her zu springen, als auch die diversen Postings der verdächtigen Facebook-Community in das Geschehen mit einzubeziehen. Darüber hinaus ermittelt das sympathische Kriminalpolizei-Duo Beatrice Kaspary und Florin Wenninger hier bereits zum zweiten Mal, was sich durch wiederholte Referenzen und Anspie-lungen auf den ersten Fall (Fünf ) bemerkbar macht. Doch sobald man sich eingelesen hat, kann man das Buch kaum mehr aus der Hand

ihren Mann zu suchen. Die Spur führt zu Menschen- händlern, die durch ihre kriminellen Umtriebe zu enormem Reichtum gelangt sind und in den höch- sten Kreisen der Gesellschaft verkehren. In paral-lelen Handlungssträngen wird auf das Schicksal zweier weiterer Frauen eingegangen: Mary Kwara überlebte als illegale Einwanderin die gefährliche Überfahrt nach Tarifa (Spanien), die schwedische Touristin Terese Wallner findet am Strand von Tarifa einen toten Afrikaner. Wie hängen all diese Geschichten zusammen? Tödliche Hoffnung, der Debütkrimi von Tove Alsterdal, ist ein sorgfältig recherchierter Krimi, der sich nicht nur durch glaubwürdige Charaktere auszeichnet, sondern auch reale Fälle von Men- schenschmuggel einfließen lässt. Ein spannender und fesselnder Krimi, der – ganz in der Tradition der beliebten Skandinavienkrimis – auch nicht mit Gesellschafts- und Sozialkritik spart.

Martina Bednar

Todesschiff. Ein Island-KrimiYrsa Sigurðardóttir

Nachdem Yrsa Sigurðardóttir zuletzt mit Geisterfjord ziemlich erfolgreich im Horrorgenre unter-wegs war, ist die isländische Autorin nun wieder in vertraute Krimigefilde zurückgekehrt. Auch die Ermittlerin aus den fünf Vorgängerbänden ist wieder am Start: einmal mehr bekommt es die Anwältin Dóra Guðmundsdóttir mit einem rätselhaften Fall zu tun und wird auch diesmal von ihrer exzentrischen Sekretärin Bella unterstützt. Doch auch diese Geschichte ist ziemlich unheimlich: im Hafen von Reykjavik wird ein «Geister-schiff» angetrieben, das mit voller Wucht gegen die Hafenmauer kracht. Von der Besatzung der Luxusyacht fehlt jede Spur, nichts deutet auf den Verbleib der Passagiere, unter denen sich auch eine vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern befunden haben soll, hin. Dóra erhält von den verzweifelten Eltern des Familienvaters den Auftrag, herauszufinden, was auf dem Schiff gesche-hen ist und ob nicht doch noch eine Chance besteht, Überlebende zu finden. Parallel dazu wird in einem zweiten, zeitlich früher angesetzten Handlungsstrang erzählt, was sich auf der Yacht tatsächlich zugetragen hat. Das Schiff sollte von Portugal nach Island überstellt werden, da der Besitzer Insolvenz anmelden musste und die Yacht in den Besitz der Bank über-gegangen war. Schon bald passieren sonderbare Dinge an Bord: zunächst fallen sämtliche Funk-geräte aus, dann bedroht ein im Meer treibender Container die Yacht und am Ende wird eine Frau-enleiche in der Kühltruhe gefunden. Als dann auch noch der Steuermann ermordet im Whirlpool gefunden wird, droht die Situation zu eskalieren. Geschickt versteht es die Autorin, die beiden Handlungsstränge langsam und genüsslich voran- zutreiben. Während Dóra an Land ermittelt und des Rätsels Lösung schrittweise immer näher kommt, wird die klaustrophobische Situation an Bord zunehmend unerträglich und steigert sich von leisem Unbehagen zu blankem Grauen. Für die Leserschaft bedeutet das Spannung bis an die Grenze des Erträglichen. Insgesamt ist dieser Island-Krimi ein packender Pageturner, den man nur ungern aus der Hand legen will. Nicht nur deshalb kann es aber auch zu schlaflosen Nächten kommen ... Thomas Geldner

Ursula PoznanskiBlinde Vögel

Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2013. 475 S.

Yrsa SigurðardóttirTodesschiff. Ein Island-Krimi

Aus dem Isländ. Frankfurt/Main: Fischer

Taschenbuch 2012. 409 S.

Page 28: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

25 Krimi und Thriller

hen werden, immerhin können die Lesenden am Dorfklatsch und dem brisanten Liebesleben der Beteiligten teilhaben. Schade um die Lebenden ist ein gemächlicher Kriminalroman, der trotz Schwächen in Bezug auf den Spannungsbogen Vergnügen bereitet und Lesenden, die das Genre mögen, gefallen wird. Bernhard Pöckl

Mord im besten Alter Lercher, Lisa

Im Haus «Waldesruh» soll Maja nach einem Unfall genesen und wieder zu Kräften kommen. Der Neffe ihres ehemaligen Lebensgefährten überzeugt die ältere Dame, ihren jetzigen Wohnsitz aufzugeben. Doch schon bald kommen ihr Zweifel an der Ent-scheidung und in der Seniorenresidenz scheint nicht alles mit rechten Dingen zuzugehen. Die Todesfälle häufen sich, und die rekonvaleszente Maja beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Haben der Direktor und das Personal wirklich nur das Wohl der Bewohner im Sinn oder geht es auch um finanzielle Interessen? Ist der undurchsichtige Moser wirklich nur ein Patient oder hat er etwas zu verbergen? Mit Mord im besten Alter bewegt sich die be-kannte Autorin Lisa Lercher thematisch fernab von ausgetretenen Krimipfaden und wählt eine Seniorenresidenz als Schauplatz der Verbrechen. Frei von Klischees beschreibt Lercher das «Biotop Waldesruh» und greift drängende Themen wie selbstbestimmtes Altern in Würde auf. Trotzdem ist der Roman in erster Linie ein spannender Kri-mi, der viel Einblick in das Denken und Handeln seiner Protagonisten bietet und privaten Proble-men, Lebensgeschichten und amourösen Aben-teuern gebührenden Platz einräumt. Die wieder-holten Wechsel in Tonfall und Perspektive sorgen für zusätzliche Dynamik, hintergründiger Humor für heitere Momente. Das Finale mag manchen Lesenden als zu reißerisch erscheinen, trotzdem gelingt der Autorin ein klug platzierter Aha- Moment und ein gelungener, sehr humorvoller Abschluss. Mord im besten Alter ist ein unterhaltsamer und spannender Krimi, der sich besonders durch sei-nen Schauplatz hervortut. Lesenden, die am Ab-gründigen Gefallen finden, wird auch das Ende durchaus zusagen. Bernhard Pöckl

legen ... Die zitierten, perfekt ausgewählten Lyrik-Passagen von Heine, Rilke & Co vermitteln eine düstere und stimmungsvolle Atmosphäre. Und ganz nebenbei wirft der Roman etliche bri- sante Fragen von großer Aktualität auf: Wie gehen soziale Netzwerke mit Datenschutz um? Was bleibt im Internet wirklich anonym? Welche Richtlinien gilt es beispielsweise in Chats und Foren zu beachten? Wie kann man sich gegen Cyber-Mobbing schützen? Die Cyber-Kriminalität ist nicht nur ein reales Phänomen, sondern hat mittlerweile auch Einzug in die einschlägige Lite- ratur gehalten. Ein wirklich spannender Thriller mit überra-schendem, wenn auch ein wenig konstruiertem Ende. Martina Lammel

Schade um die Lebenden. Ein Schneeberg-Krimi Jacqueline Gillespie

Eigentlich will Dr. Patrick Sandor nur in Frieden seinen Urlaub genießen. Zu diesem Zweck hat er sich aus der hektischen Großstadt in sein kleines Ferienhaus ins gebirgige Neiselbach zurückgezo-gen, doch die wohlverdiente Ruhe ist ihm einfach nicht vergönnt. Als Charlotte von Schwarz, eine reiche und angesehene Witwe, auf ihrem eige-nen Geburtstagsfest ermordet wird, übernimmt Sandor gemeinsam mit seinem Adlatus, Krimi-nalinspektor Müller, die Ermittlungen. Doch auch eine scharfsinnige ältere Dame ist interessiert an dem Fall und macht sich Gedanken, die über den Dorfklatsch hinausgehen. Parallel wird munter ermittelt und schon bald tun sich auch im schönen Gebirgsort Abgründe auf, amouröse Verstrickun-gen, finanzielle Abhängigkeiten und lange geheg-ter Groll kommen ans Tageslicht. Schade um die Lebenden ist Jacqueline Gillespies dritter Roman und ein Regionalkrimi im besten Sinne des Wortes. Angesiedelt im fiktiven Neisel-bach am Schneeberg – nur zufällig lebt die Autorin laut Klappentext in Miesenbach – hat das Buch jede Menge Lokalkolorit zu bieten. Abgesehen von der Einbindung der Naturkulisse ist vor allem die Sprache des Romans erwähnenswert. Abwech-selnd wird aus der Perspektive von Sandor und der detektivisch tätigen Dame erzählt, letztere fun-giert dabei als Ich-Erzählerin, und bildet damit ein Gegengewicht zu den Kapiteln, die die offiziellen Nachforschungen beschreiben. Diese Freizeiter-mittlerin redet naturgemäß wie ihr der Schnabel gewachsen ist, weswegen das angeschlossene Glossar den Dialektunkundigen gute Dienste leis-tet. Insgesamt zieht sich ein heiterer, ironischer Grundton durch den unterhaltsamen Text. Dass die Lösung des Falles zwischenzeitlich beinahe zweitrangig wird, kann der Autorin leicht verzie-

Jacqueline GillespieSchade um die Lebenden.

Ein Schneeberg-Krimi Innsbruck: Haymon 2013.

192 S.

Lisa Lercher Mord im besten Alter

Innsbruck: Haymon 2013. 220 S.

Page 29: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201426 Besprechungen

Der Metzger kommt ins Paradies Thomas Raab

Thomas Raab legt hier seinen sechsten Krimi mit Willibald Adrian Metzger vor, für den er kürzlich mit dem Leo-Perutz-Preis der Stadt Wien ausge-zeichnet wurde. Für den Metzger beginnt es diesmal gar nicht gut. Anlässlich seines 50. Geburtstages haben seine Freunde ihm und seiner Danjela einen Ur-laub an der italienischen Adria geschenkt; im Ge-gensatz zu Danjela ist der Metzger über dieses Geschenk alles andere als begeistert, was beinahe zu einer ausgewachsenen Beziehungskrise führt. Am Urlaubsort beginnt die Sache aber spannend zu werden, denn es tut sich so einiges am Haus-strand der Österreicher. Ein Toter im Kiddy-Club des Hotels und ein verschwundener Schoßhund, der schließlich von spielenden Kindern tot ausge-buddelt wird, machen den Urlaub für den Metzger spannend. Wieder zuhause ist der Metzger erst-mals überglücklich, dann wird allerdings seine Werkstatt, die für ihn auch als Refugium der Erho-lung und Stille dient, brutal verwüstet. Nun sieht er sich gezwungen zu handeln. Die Ermittlungen führen ihn zuerst zu großen Kunstauktionen bis ihm klar wird, dass der manipulierte Handel mit Kunst ein weitaus größeres Verbrechen überde-cken soll. Die Kriminalgeschichte selbst beginnt etwas schleppend, steigert sich aber im letzten Drittel. Wie schon in den früheren Metzger-Romanen werden aktuelle, gesellschaftspolitisch relevante Fragen und Themen aufgegriffen: Migration, Asylpolitik, Ausbeutung der Dritten Welt und Organhandel. Thomas Raab ist ähnlich wie Wolf Haas und Heinrich Steinfest ein Sprachakrobat; man braucht etwas Zeit, um sich in seine verschachtelten Satz-kreationen einzulesen. Originell sind auch die handelnden Personen, die Skurrilität der Charak-tere geht allerdings nicht auf Kosten ihrer Glaub-würdigkeit. Die Aktionen in die sie geraten, wirken aber oft nahezu slapstickartig. Alles in allem über- steigt bei der Lektüre der Spaßfaktor den Span-nungsfaktor dann doch um einiges. Da es ein Sieg auf hohem Niveau ist, müssen aber auch Freunde des klassischen Krimis nicht um ihr Lesevergnügen fürchten. Maria Hammerschmid

Ich müsste lügen Wolfgang Popp

Kommissarin Eva Rauch ermittelt im Fall eines vermissten jungen Mannes, der zuletzt mit dem Bestsellerautor Herbert Will zusammengelebt hat. Die Polizei vermutet ein Verbrechen im Homose-xuellen-Milieu, doch der Autor bestreitet vehe-ment, dass ihre Beziehung über ein reines Arbeits- verhältnis hinausging. Will spricht von einer «My Fair Lady-Beziehung»: intellektueller, reicher Schriftsteller hält sich ungebildeten und armen «Proleten» (O-Ton) allein zu Studienzwecken für sein neues Buch. Naturgemäß zweifelt die Kom- missarin an dieser Version. Im Zuge der Ermittlun-gen vertieft sie sich in das Werk dieses Autors und gerät dabei zunehmend selbst in die Fänge eines wahrhaft diabolischen Typen ... Anfangs sieht alles nach einem ganz «norma-len» Thriller aus, doch im Laufe der Geschichte treten die Krimi-Elemente immer mehr in den Hin- tergrund. Es geht letztendlich vor allem um zwi- schenmenschliche Beziehungen und um die Macht, die Menschen über andere Menschen haben kön- nen – und nicht zuletzt um die Kraft des geschrie-benen Wortes und der Literatur. Geschickt verwendet Wolfgang Popp Elemente des Kriminal- und Spannungsromans, um seine Ge- schichte voranzutreiben (dass es sich dabei um einen Verkaufsschmäh handelt, wollen wir einmal dahin gestellt lassen). Am Beginn geht es eher holp- rig dahin, doch nach einiger Zeit entwickelt sich ei- ne enorme Spannung, die bis zum dramatischen Finale mit einer überraschenden Auflösung anhält. Störend sind allerdings die vielen Klischees: es muss einfach nicht mehr sein, dass das Rendez- vous der Kommissarin im entscheidenden Mo- ment unterbrochen wird, weil wieder einmal etwas passiert ist und das Mobiltelefon klingelt. Oder dass der Liebhaber von Eva Rauch im Koma liegt, nur weil Kommissarinnen halt einsame Kämpfe-rinnen bleiben müssen. Trotzdem ist Ich müsste lügen ein gelungenes De- büt; dafür sorgen die intelligente Konstruktion und interessante Fragen zum Wesen der Literatur und des Schreibens. Thomas Geldner

Thomas RaabDer Metzger kommt ins Paradies

München: Droemer 2013. 320 S.

Wolfgang PoppIch müsste lügen Wien: Folio 2013.

238 S.

Page 30: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

27 Kinderbuch

Schlafwolf fällt der Autorin Harriet Grundmann eine originelle Wende ein. Nichts ist so wie es scheint! Unterstützt wird der spannende Plot durch liebevolle, großflächige Illustrationen, die mit ihren lustigen Details bestimmt auch die kleinsten LeserInnen zu begeistern weiß. Sehr schönes un-terhaltsames Bilderbuch zum Thema Schlafen und Träumen. Daniela Raunig

Bojabi, der Zauberbaum. Eine afrikanische FabelPiet Grobler, Dianne Hofmeyr

Dianne Hofmeyr und Piet Grobler stammen beide aus Südafrika. Gemeinsam haben sie ein wunder-bares Bilderbuch nach einer afrikanischen Fabel gestaltet. Die Geschichte ist schnell erzählt: die Tiere fin- den nichts zu essen, sie hungern und haben Durst. Da entdecken sie einen Baum mit wunderbaren, saftigen Früchten, der von einer riesigen Schlange bewacht wird. Die Python will die Früchte nur teilen, wenn ihr jemand den Namen des Baumes sagen kann. Nun wird ein Tier nach dem anderen

Die Sache mit Nummer 8Harriet Grundmann, Tobias Krejtschi

Kann Lina mal wieder nicht einschlafen, zählt sie ihre Schlafschafe, die wie dicke weiße Wolken über ihr Bett im Halbdunkel schweben: «Eins (Schaf ), zwei (Schaf ), drei (Schaf ) ... » – und natür-lich auch fünf (Schaf ) – wobei halt! Hier handelt es sich ja nicht um ein Schlafschaf, sondern viel-mehr um einen «Schlafwolf»! Dass der aber ein ganz guter und sanfter ist, davon konnten sich kleine Leserinnen und Leser bereits im Vorgänger-buch Das fünfte Schaf überzeugen. Der Schlafwolf frisst nämlich kein Fleisch, ist lieb zu den Schafen und hat für Lina auch schon sehr viele Albtraum-Monster verjagt. Doch diesmal scheint er sehr bekümmert, seine Tränen landen wie Wassertrop-fen auf Linas Hand. Bald wird klar, der Wolf wird von anderen, gefährlichen Wölfen bedroht; Schaf Nummer 8 ist nämlich spurlos verschwunden, nachdem es einst der Wolf vor anderen, gefähr- licheren Wölfen rettete. Die Schlafherde ist be- unruhigt, hat der Schlafwolf etwa Nr. 8 verschlun-gen?! Ist er etwa doch kein Guter? Auch in dieser Nachfolgegeschichte rund um Lina und ihren

Besprechungen–KinderbuchBilderbuch und Sachbilderbuch

ABC der fabelhaften PrinzessinnenWilly Puchner

Prinz Willem hat’s nicht leicht: Wie soll er sich für eine der 26 Prinzessinnen, die seine Vogelfami-lie für ihn anreisen lässt, entscheiden? Es sind Vogelprinzessinnen – eine für jeden Buchstaben des Alphabets. Sie stehen da in ihren langen, wunderschönen Kleidern, mit Vogelkopf und Krön-chen, wenigen schmückenden Attributen und den Geschenken für Prinz Willem. Von der Kopf- über die Schnabelform bis zu den Kleidern ist jede Prinzessin so individuell und phantasievoll, dass sie einander rein gar nicht ähneln bis auf die eher matronenhaften Figuren. Die Stoffe der Kleider faszinieren mit ihren changierenden Effekten, kleinteiligen Mustern und fließenden Far-ben in unterschiedlichen Maltechniken. Jedes Bild ist eine kompositorische Einheit mit fein aus-geklügelter Farbgestaltung, die Komposition zieht sich in die Textseiten hinein, indem kleine Bil-der Text- und Bildseite miteinander verbinden. Und auch inhaltlich sind die Prinzessinnen ganz außergewöhnlich: Sie kommen aus Aachen, Bern, Caracas oder Dschibuti, sind emanzipiert, fröhlich, gesellig, aber auch jähzornig; spielen Ham-merklavier, mögen Ikonen und Milchreis und bringen nutzlose Nashornballons oder zwanzig Zei-chenstifte als Geschenk. Prinz Willems Wahl wird nicht verraten und die Frage an die Leser/innen weitergereicht, für wen sie sich entscheiden würden. Was Willy Puchner hier an Buchstabenwörtern kombiniert, geht über die üblichen Sammlungen von ABC-Büchern hinaus. Die witzigen und phantasievollen Steckbriefe wären eine Bereicherung für alle Stadt-Land-Spiele, spielen mit dem Sprachklang und regen dazu an, unbekannte Wörter zu entschlüsseln. Auch für Erwachsene: Wer kennt Xylograph und Xenopus? Ein Buch, das auf vielen Ebenen genossen und mit Kindern auf vielfältige Weise entdeckt werden kann. Veronika Freytag

Willy PuchnerABC der fabelhaften Prinzessinnen

Zürich: NordSüd 2013. 60 S. Ab 7 Jahren

Harriet Grundmann, Tobias Krejtschi

Die Sache mit Nummer 8Wuppertal: Peter Hammer 2013. 32 S.

Ab 5 Jahren

Piet Grobler, Dianne HofmeyrBojabi, der Zauberbaum. Eine afrikanische Fabel

Stuttgart: Freies Geistesleben 2013. 30 S. Ab 5 Jahren

Page 31: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201428 Besprechungen

Prinzessin Leonie und der linkshändige KönigMaria Theresia Rössler, Brunella Baldi

In Prinzessin Leonie und der linkshändige König greift Maria Theresia Rössler das Thema Links- händigkeit auf und verpackt es in eine märchenhafte Geschichte. In dem Königreich, in dem Prinzessin Leonie lebt, herrscht Linksverbot. Eines Tages steht Leonie irrtümlich mit dem linken Fuß zuerst auf und nichts Bedrohliches oder Schreckliches geschieht. Leonies Geburtstags-wunsch an ihren Vater, den König, ist es, für einen Tag das Linksverbot aufzuheben. Alle Unter- tanen sollen das obligatorisch am rechten Arm angebrachte Armband auf die linke Seite geben. Der König gewährt seiner Tochter diesen Wunsch. Es kommt zu einem riesigen Durcheinander und alle stellen fest, dass für manche links, für manche rechts besser ist und dass dies jede und jeder frei entscheiden sollte. Die Armbänder landen auf dem Holunderbaum, denn «ohne Band gibt es keine falsche Hand». Selbst der König merkt, dass er eigentlich mit der linken Hand viel geschickter ist. Wie schon in früheren Bilderbüchern – beispielsweise in Simon Daumenlutscherkind (2003) oder in Tausche Theo (2006) behandelt die Autorin ein Thema aus dem kindlichen Alltagsleben. Typisch für die Autorin ist der pädagogische Impetus, der zwischen den Zeilen spürbar ist. Den-noch wird das Thema Linkshändigkeit, zu dem es im deutschsprachigen Raum wenige Bilder- bücher gibt, auf liebevolle und phantasievolle Art und Weise vermittelt. Die Figuren sind gut aus-gearbeitet, Leonie ist sehr neugierig und stellt viele Fragen. Besonders charmant ist die Figur des Kochs Ernesto, der als unterdrückter Linkshänder «zwei falsche Hände» hat. In den ausdrucks- starken, künstlerisch ansruchsvollen Illustrationen wird die Geschichte szenisch dargestellt. Die Bilder nehmen sehr viel Raum ein, der Text nimmt sich daneben eher klein aus. Die perspek- tivische Darstellung vermittelt räumliche Tiefe und Bewegung. Gabriela Müller

Tobi und die AltenAnne-Kathrin Behl

Tobi ist als einziger seines Freundeskreises in den Sommerferien zu Hause geblieben. Und es ist furchtbar langweilig so alleine. Als er beschließt, auf die Straße zu gehen, um jemanden zum Spie-len zu finden, begegnen ihm nur alte Leute – «alle mindestens eine Million Mal so alt» wie er. Da hüpft sein Ball zu Herrn Geißmann und schon erzählt der Alte aus seinem Leben als Pilot. Hinzu kommt Frau Hornhilde, die sich mit Entzücken an ihre Karriere als Sängerin erinnert, gefolgt von Herrn Graubart, der von einem aufregenden Le-ben als Detektiv, der «die größten Diebe und Ver-brecher ausspioniert und hinter Gitter gebracht» hat, berichtet. Nach diesen Erzählungen weiß Tobi plötzlich ganz genau, was er einmal werden möchte: alt! Die Illustrationen sind typisch für Anne-Kathrin Behl und mögen auf den ersten Blick sperrig und grob wirken. Alle Beteiligten sind Tiere, was die Darstellung des Alters deutlich erschwert – Bril-len, auffällige Falten, Krücken und Rollatoren sind also die einzigen Indikatoren für die gealterten Stadtbewohner. Je mehr Tobi sich auf die «Alten» einlässt, desto mehr andere junge Tiere tauchen auch in den Bildern auf. Bei genauerem Betrach-ten entdeckt man interessante Details und witzige Ausschnitte. Besonderes Lesevergnügen bereitet

zum klugen Löwen, der alles weiß, geschickt, doch am Rückweg vergessen die Tiere wieder, wie der Baum heißt, verdrehen die Buchstaben und blei-ben weiterhin hungrig. Erst die langsame Schild-kröte schafft es: Sie macht sich ein kleines Merk-sprüchlein, das sie den ganzen Rückweg unbeirrt vor sich hin sagt, und kann schließlich der Schlan-ge den Namen des Baumes nennen. Das Bilderbuch besticht aus verschiedenen Gründen. Einerseits sind die Illustrationen ein wahrer Genuss: Feine, durchscheinende, klar konturierte Aquarelle, die mit einer Unzahl von witzigen Details viel Gelegenheit zum Betrachten und darüber Reden bieten. Andererseits wird die Handlung sehr humorvoll erzählt, die einzelnen Tiere wunderbar charakterisiert und mit recht menschlichen Eigenschaften versehen (der Löwe zum Beispiel ist ziemlich grantig, weil er ständig geweckt und immer wieder dasselbe gefragt wird). Außerdem ist – wie so oft – nicht ausschlaggebend, wer der Größte, Stärkste, Klügste ist. Vor allem aber besticht die Geschichte durch den Wortwitz und die Sprachspielereien, die Lust machen, selbst wieder einmal «Stille Post» oder Ähnliches zu spielen. Und nicht zuletzt geht es ja um das Merken und Gedächtnistraining. Und das ist ein Thema, das ja nicht nur für Kinder interessant ist und im vorliegenden Buch auf ausgesucht charmante Art und Weise behandelt wird. Monika Nebosis

Maria Theresia Rössler, Brunella Baldi

Prinzessin Leonie und der linkshändige König

Wien: Jungbrunnen 2013. 15 Bl. Ab 4 Jahren

Anne-Kathrin BehlTobi und die Alten

Zürich: Atlantis 2013. 32 S. Ab 5 Jahren

Page 32: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

29 Kinderbuch

er auch nach dem Essen noch beladen. Also: «Ich ... allein ... in den Keller?», fragt sich Pitzi ängstlich – um sich gleich darauf im Spiegel im hell erleuchteten Vorraum als Held zu sehen. Der Kochlöffel kommt aber zur Sicherheit doch mit, so ganz unbewaffnet sollte auch der kühnste Held nicht ins Abenteuer ziehen. Das Treppenhaus ist schon weniger hell erleuchtet und die Kellerstiege erscheint dann als dunkler Schlund. Im Keller selbst stößt Pitzi dann auf ein großes Gespenst, ein unheimliches Geräusch und ein schreckliches Monster. Doch für jeden neuen Schrecken hat er eine Lösung parat und so steht er dann tatsäch- lich vor dem Regal mit den Apfelsaftflaschen. Für den Rückweg gilt dann die Devise: rennen, so schnell es geht. Der am Kellerboden liegengeblie-bene Kochlöffel geht hoffentlich noch länger niemandem ab ... Mit wenigen Worten und mit einfachen Bil- dern illustriert, wird hier eine sehr stimmige klei-ne Bilderbuch-Alltags-Geschichte zum Thema Angst erzählt, die viel Identifikationspotential bie- tet und gleichzeitig auch Mut macht. Aufgrund der großen Schrift eignet sich sich das Buch auch für ErstleserInnen zum Selberlesen. Lisa Kollmer

der knifflige Fall, an den sich der Detektiv erinnert – dieser wird in einer Bildergeschichte dargestellt, und so kann also auch ein Teil vom Kind «vorgele-sen» werden. Das Bilderbuch eignet sich für Kinder ab 5 Jahren und wird vom Verlag als «Generationengeschich-te, die Brücken baut» beworben. Das Buch eignet sich als hervorragende Gesprächsgrundlage über das Alter und altern und bietet auch einen illustra-torischen Augenschmaus. Magdalena M. M. Zelger

Apfelsaft holenThomas Müller

Kaum ein Raum ist in der Kinderliteratur so ein-deutig angstbesetzt wie der Keller. Und sehr zum Leidwesen von Pitzi ist genau dort der Apfel-saft gelagert. Eigentlich spielt er gerade ganz ge-mütlich in der Küche und wartet darauf, dass das Essen fertig ist. Da bemerkt Mama, dass kein Apfelsaft mehr da ist – wer wird wohl in den Keller gehen, um die neue Flasche zu holen? Plötzlich scheinen alle Familienmitglieder sehr beschäftigt: Papa muss Salat machen, Billi deckt den Tisch und Lilli reibt Käse. Da bleibt wohl nur Pitzi übrig, denn alle sind der Meinung, seinen Kipper könne

Thomas MüllerApfelsaft holen

Hamburg: Aladin 2013. 14 Bl. Ab 4 Jahren

Judith Drews, Andrea Peter, Regina Voss, Cally Stronk

(Atelier Flora) Stell die Welt auf den Kopf

Weinheim: Beltz & Gelberg 2013. 136 S. Ab 3 Jahren

Stell die Welt auf den KopfJudith Drews, Andrea Peter, Regina Voss, Cally Stronk (Atelier Flora)

Atelier Flora ist ein Berliner Künstlerinnen-Kollektiv, das letztes Jahr mit dem innovativen und künstlerisch sehr ansprechend gestalteten Farbenbuch Alles Farbe im Kinderbuchsektor auf sich aufmerksam gemacht hat. Jetzt folgt ihr zweites Gemeinschaftsprojekt Stell die Welt auf den Kopf. Wie schon beim Vorgängerband handelt es sich dabei um ein handliches Quadrat-Format, das zwischen den Buchdeckeln eine unglaubliche Fülle an Dingen zum Anschauen, Entdecken und Re-/Interpretieren bietet. Ganzseitige Fotos und Illustrationen stellen Alltagsszenen dar, die spielerisch verfremdet oder aus ungewohnten Perspektiven aufgenommen bzw. dargestellt sind. Manche Bilder reihen sich lose assoziativ aneinander, manche stehen für sich alleine. Jedes regt zum Nachdenken, oft auch zum Quer- und Umdenken an und bietet so Redeanlass und Ge-sprächsstoff. Besonders die Fotos bestechen durch das äußerst kreative Gespür für das Besonde-re im Gewöhnlichen, das neu zu Entdeckende im Altbekannten, die charmant schräge Perspekti-ve, die andere Sichtweisen ermöglicht. Zwischen die Bildteile eingestreut gibt es gereimte Textstellen, die ebenfalls von Verdrehungen im Alltag berichten – Ton und Inhalt changieren dabei zwischen humorvollem Nonsense und phi-losophischer Poesie. «Trägst du Handschuh an den Füßen, stinkt’s nach Käse beim Begrüßen» wird wohl bei den meisten Kindern für pure Heiterkeit sorgen, während längere Passagen wie «Wenn der Bettler reich wäre und die Königin hätte kein Geld ...» durchaus Ausgangspunkt für tiefere Gespräche über die Welt, die Gesellschaft, Konventionen und Ideale sein können. In diesem Sinne eignet sich das Bilderbuch bereits ab dem frühen Kindergartenalter zum An-schauen, Entdecken, Beschreiben und Drüber-Reden. Als Ausgangspunkt für ausführlichere Ge-spräche und für erstes Philosophieren kann es jedoch durchaus auch im Volksschulalter einge-setzt werden. Stell die Welt auf den Kopf ist ein sehr gelungenes Kunstprojekt in Buchform, dem so viele klei-ne und große BetrachterInnen und LeserInnen wie möglich zu wünschen sind. Andrea Hirn

Page 33: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201430 Besprechungen

Olivia, ein Mädchen, das ebenfalls alleine Tennis spielt und ebenfalls – anders ist. Was liegt daher näher, als gemeinsam anders zu sein? In ihrem Bilderbuchdebüt hat die Isländerin Birgitta Sif sowohl den Text als auch die Illustra- tionen gestaltet. Der Text ist eher kurz gefasst und wenig erzählend. Die Bilder ergänzen diesen jedoch sehr gut und vermitteln deutlich Olivers Anderssein. Auch seine Gefühlslage ist damit leicht nachvollziehbar, denn einerseits lebt Oliver in seiner Welt und scheint damit glücklich zu sein, andererseits sieht man ihn in für Kinder typi-schen Spielsituationen, in denen die realen Freun-de durch Stofftiere ersetzt werden. Die Szene unter dem Esstisch beim Familientreffen macht das besonders deutlich. Oliver spielt am Rücken liegend mit seinem Teddybären wie mit einem Baby, mitten unter allen anderen, aber dennoch isoliert. Die Figuren erinnern im Stil an die Illus- trationen von David Roberts (Eddie Dickens-Tri- logie, Rocco Randale). Die Menschen haben dünne Beinchen und Ärmchen, die Köpfe wirken eher groß und haben auffallend runde, weiße Augäpfel.

OliverBirgitta Sif

Oliver lebt in seiner eigenen Welt. Seine Freunde sind Stofftiere und Handpuppen, die ihm in jeder Situation beistehen, ganz gleich ob beim Fami- lientreffen, in der Sandkiste oder im Schwimm-bad. Das allein wäre noch nichts Besonderes, doch Oliver unterhält sich ausschließlich mit seinen Stofftieren und nie mit anderen Kindern. Während diese etwa im Schwimmbad miteinander spielen, zieht er alleine seine Längen und seine Stofftiere sitzen inzwischen am Beckenrand und sehen zu. Auch beim Familientreffen sind alle miteinander beschäftigt, nur Oliver spielt unter dem Esstisch mit sich und seinen Tieren. Für Oliver scheint das alles in Ordnung zu sein, bis er eines Abends sei-nen «Freunden» am Klavier etwas vorspielt. Als am Ende keiner klatscht, bekommt er plötzlich selbst das Gefühl, anders zu sein. Als er wenig spä- ter mit sich selbst Tennis spielt, trifft Oliver auf

Birgitta Sif Oliver

Hamburg: Aladin 2013. 32 S. Ab 4 Jahren

Birgit Unterholzner, Robert GöschlLilo im Park

Wien: Luftschacht 2013. 24 S. Ab 5 Jahren

Lilo im ParkBirgit Unterholzner, Robert Göschl

Mit Lilo im Park legen der österreichische Illustrator und Autor Robert Göschl und die Südtiroler Autorin Birgit Unterholzner ihr erstes gemeinsames Bilderbuch vor. Die kleine Lilo hat eine berufstätige Mutter und einen Vater, der sie nur jedes zweite Wochenen-de besucht, deshalb hat sie sehr viel Zeit. Und die verbringt sie am liebsten im Park hinter dem Wohnhaus, denn dort trifft sie jeden Tag jemanden, der ebenfalls sehr viel Zeit hat: die alte Frau. Sie ist verwirrt und gehört in ein Heim, sagt ihr Sohn. Unsinn, sagt die alte Frau. Sie füttert viel lieber mit Lilo Tauben und Krähen ... denn dabei kann man ganz wunderbar miteinander reden. Über die Schönheiten der Natur und über die Veränderungen im Alter, über die Träume eines Kin- des und das Warten auf den Tod, der nicht weh tut sondern einfach nur sehr still ist. Und manch-mal kann man auch gemeinsam schweigen und einander an der Hand halten. Mit poetischer Sprache und leisen Tönen entfaltet Birgit Unterholzner langsam und mit viel Ge- spür für das Zwischen-/Menschliche ihre Geschichte. Lilo, das Kind, und die alte Frau bilden dabei Anfang und Ende des Bogens, der über das Thema leben – alt werden – sterben gespannt ist. In ihren auf den ersten Blick alltäglichen kleinen Gesprächen steckt viel von den ganz großen Fragen, die uns alle und besonders auch Kinder dieses Alters beschäftigen. Unterholzner geht diesen Fragen auf behutsame, unaufgeregte Weise nach, deutet an, lässt offen, denn allgemein gültige Antworten gibt es hierzu keine. Sie bietet Möglichkeiten an, mit Kindern gemeinsam zu denken und zu reden und schafft einen Raum, in dem über ein immer noch weitgehend tabuisier-tes Thema altersgerecht philosophiert werden kann. Göschls – dem erzählten Zeitraum entsprechend in herbstbunten Farben gehaltenen – Illustra-tionen fügen dem poetischen, zarten Ton der Erzählung eine erfrischend unkonventionelle Note hinzu. Seine Figuren sind Individuen mit Ecken und Kanten und stechen aus dem lieblichen, ver-niedlichenden Einheitsstil so vieler Bilderbücher heraus. Parallel zur erzählten Handlung spiegeln seine Grafiken vor allem auch die liebenswert skurrilen Bilder aus der kindlichen Vorstellungswelt Lilos wider, wo sich an der Schnittstelle von erwachsenem Erfahrungs- und kindlichem Erwar-tungshorizont ganz wunderbar schräge Bilder ergeben, die trotz des ernsten Themas schmunzeln und lächeln machen. Lilos Welt ist ein leises, poetisches Bilderbuch, das seinen ernsten Gegenstand unverkrampft angeht und sich hervorragend zum ersten Philosophieren über die Themen generationenüber-greifende Freundschaft sowie Sterben/Tod mit Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter eignet. Andrea Hirn

Page 34: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

31 Kinderbuch

Wurstl-WutzMaurice Sendak

Ausgangspunkt für das englische Original Bumble- Ardy war ein Kurzfilm aus der Sesamstraße: es ist 2011 erschienen und seit 1981 (Outside Over There/als Papa fort war) das erste eigene Kinderbuch des im letzten Jahr verstorbenen berühmten Kinder-buchillustrators und –autors, der vor allem durch Wo die wilden Kerle wohnen (1967) bekannt gewor- den ist. Wurstl-Wutz ist die Geschichte eines Schweines, das seinen Geburtstag nie feiern konnte. Seine Eltern haben ihn zunächst vergessen, dann wur-den sie zum Schlachthof gebracht. Das Waisen-schwein wurde von seiner Tante adoptiert und sein neunter Geburtstag wird nun endlich gefeiert. Seine Tante überrascht ihn mit Geschenk und Kuchen. In seiner Euphorie kommt er auf die Idee, eine wilde heimliche Geburtstagsparty in Abwe-senheit seiner Tante zu machen und mit Freunden richtig «die Sau raus zu lassen», was natürlich in einem entsetzlichen Chaos mündet und die von der Arbeit heimgekehrte Tante sehr verärgert. Am Schluss gibt es aber die große Versöhnung zwi-schen Tante und Neffen und «achtzig Küsse. Neun mal neun». Wurstl-Wutz ist in Reimen verfasst, was bei Übersetzungen bekanntlich nicht ganz unproble-matisch ist, bei diesem Werk hat die Übersetzerin aber gute Arbeit geleistet. Die Illustrationen tragen eindeutig die Hand-schrift von Maurice Sendak. Die Schweine sind sehr realistisch dargestellt, in den Illustrationen selbst finden sich viele Zusatzinformationen wie Geburtstagseinladungen, Sprechblasen, Zettel. Besonders gelungen ist die bildliche Umsetzung der wilden Party, die wie ein ausgelassenes Fa-schingsfest wirkt: die Gäste tragen krasse Kostü-me, es wird geschlemmt und getanzt und es geht insgesamt sehr «schweinisch» zu. Gabriela Müller

Die Farben wirken insgesamt eher gedämpft, auch aufgrund des schwarzen Striches, mit dem viele Konturen und Akzente gezeichnet sind. Das Bilderbuch erzählt die Geschichte eines Kin- des, das anders ist, ausgesprochen liebevoll und vor allem ohne Wertung. Barbara Eichinger

Olivia und das große GeheimnisTor Freeman

Hasenmädchen Molly hat ein großes Geheimnis und erzählt es seiner Freundin Olivia, aber die- se muss versprechen, es nicht weiterzuerzählen. Olivia ist deswegen sehr aufgeregt. Als sie ihre Freundin Jessy trifft und kurz danach den Affen Max kann sie das Geheimnis grade noch für sich behalten, doch die junge Katzendame platzt bei-nahe vor Mitteilungsbedürfnis. Bei ihrem Freund Schildkröte Jan kann sie schließlich nicht mehr anders: Sie erzählt das Geheimnis. Jan gibt es seinem Freund beim Schwimmen weiter, der sich wiederum gar nicht lange mit Gewissensbissen plagt und es kurzerhand den ersten beiden wei-tererzählt, die er trifft. Auf diese Weise dauert es nicht lange, bis das Geheimnis die Runde macht und schlussendlich wieder dem kleinen Hasen-mädchen Molly ins Ohr geflüstert wird. Diese ist natürlich alles andere als erfreut und stellt Olivia erbost zur Rede. Die Geschichte schildert eine (nicht nur) vielen Kindern vertraute Situation: Geheimnisse für sich zu behalten ist gar nicht so einfach. Gut dargestellt sind im Buch vor allem die Gefühlsmomente, wie die Spannung, das Platzen vor Neugierde und das Bedürfnis, das Geheimnis weiterzuerzählen. Ge-wissensbisse scheinen nur die ersten in der Reihe zu haben, denn je öfter das Geheimnis erzählt wor-den ist, desto bereitwilliger wird es preisgegeben. Für die Betrachter des Bilderbuches bleibt das Geheimnis allerdings bis zur letzten Seite gut ge-hütet. Erst ganz zum Schluss, auf der letzten Seite, die bereits in das Nachsatzpapier übergeht, löst sich auch für uns das Rätsel: Das Hasenmädchen Molly ist verliebt in den Affenjungen (der übrigens das Geheimnis fast als erster von Olivia erfahren hätte). Das Bilderbuch der britischen Illustratorin ist schnell gelesen sowie bunt und ansprechend il- lustriert. Die Bilder sprechen für sich, sodass es Kinder – auch wenn sie noch nicht selbst lesen – durchaus alleine durchblättern können. Im Vor-dergrund stehen die Figuren, die einander eifrig und aufgeregt zuflüstern. Das zentrale Thema wird gut vermittelt, zudem besitzt das Buch Witz aber auch gewissen Ernst. Barbara Eichinger

Tor Freeman Olivia und das große Geheimnis

Zürich: Orell Füssli 2013. 32 S. Ab 4 Jahren

Maurice SendakWurstl-Wutz

Hamburg: Aladin 2013. Wien: Jungbrunnen 2013. 32 S.

Ab 4 Jahren

Page 35: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201432 Besprechungen

in die nächste. Aber: am (vorläufigen) Ende ist der Großteil der Protagonisten glücklicher als zu Beginn und der übellaunige Herr von Guuth sitzt wohlverdient hinter Gittern. Ein weiteres Grunz-Abenteuer ist bereits für Februar 2014 angekündigt ... Der Stil ist für junge SelberleserInnen sicher- lich ein nicht unbeträchtliches Hindernis – die Sätze sind lang und verschachtelt, die Wortwahl ist anspruchsvoll und der Handlungsverlauf neigt immer wieder zu Exkursen, bevor er zum Hauptstrang zurückkehrt. Besser aufgehoben ist das Buch bei der Alterszielgruppe, trotz gut lesbarem Schriftbild, wenn es vorgelesen wird. Schefflers Illustrationen gestalten den Text wunderbar aus, vom Titelbild bis zur letzten Seite. Um dem Buch noch mehr «Grunz»-Stimmung zu verleihen, finden sich außerdem Fingertapser, Häferlabdrücke und zahlreiche Flecken aller Art über die Seiten verteilt. Lisa Kollmer

Familie Grunz hat ÄrgerPhilip Ardagh

Ein neuer Ardagh – und noch dazu von Axel Scheffler illustriert und Harry Rowohlt übersetzt – was soll da noch schiefgehen? Meet Familie Grunz: im selbst zusammengezimmerten Wohnwagen (gezogen von den Eseln Klipp und Klapp) ziehen sie durchs Land. Mit von der Partie ist – neben einer mit Sägespähnen ausgestopften Katze namens Ingwerkeks, einem toten Igel namens Pieks und etlichem Kram und Zeugs – auch Sohne- mann, ein Kind, das Herr Grunz vor ein paar Jahren für Frau Grunz von einer Wäscheleine gestohlen hat, da sie sich unbedingt eines wünsch-te. Die Grunzens pflegen sehr rauhe Umgangs- formen, gegessen wird, was sie zermatscht am Straßenrand aufsammeln (Dachs-Eintopf ) oder sonstige wüste Speiseexperimente. Da ist es vorprogrammiert, dass diese «Familie», wo immer sie hinkommt, Ärger anzieht. Die Charaktere sind, typisch für Ardagh, alle-samt überzogen und übersteigert, die Handlung stolpert von einer unvorhersehbaren Wendung

Saskia Hula, Ina HattenhauerDie coolste Schule der Welt

St. Pölten: Residenz 2013. 48 S.Ab 7 Jahren

Philip Ardagh Familie Grunz hat Ärger

Aus dem Engl. Weinheim: Beltz & Gelberg 2013.

236 S. Ab 8 Jahren

Die coolste Schule der WeltSaskia Hula, Ina Hattenhauer

Im Vorgängerbuch gründete Oskar Die beste Bande der Welt. In diesem Buch kommt Oskar in die Schule, leider nicht mit seinen Freunden Jojo, Supermario und Rastamän – die gehen in schein- bar viel coolere Schulen: Rastamän kann lernen, wann und wo und überhaupt nur wenn er will; wenn er keine Lust dazu hat, kann er sich einfach in ein Baumhaus zurückziehen. In Jojos Schule gibt es einen elektronischen Tischtennistisch, eine Theaterbühne und einen Hamster namens James Bond. Und in Supermarios Schule wird den ganzen Tag englisch geredet mit echten Eng-ländern und im Sommer gibt es ein Fest und ein Rennen mit ferngesteuerten Autos. Kein Wunder, dass Oskar von seiner «normalen» Schule weg möchte, aber das scheitert u.a. am Veto seiner Mutter. Also machen Oskar und seine Freunde aus der konventionellen Schule das Beste aus den gegebenen Umständen. Es werden Baumhäuser für Tiere und Spielzeug gebaut, ein Baumhaus-Fest wird geplant, dessen Erlös in einen elektronischen Tischtennistisch investiert werden soll. Die Schule wird immer bunter und aufregender und schließlich kehrt sogar Rastamän reumütig in seine alte Schule zurück. Saskia Hula und Ina Hattenhauer liefern eine kongeniale Fortsetzung von Die coolste Bande der Welt rund um den erfinderischen Oskar, der es versteht aus jeder Not eine Tugend zu machen. Auch für schwierige Situationen gibt es unkomplizierte, wenn auch mitunter unkonventionelle Lösungen. Am Ende sind alle zufriedener als sie es jemals erhofft hätten. Das eigene Leben selbst gestalten und bestimmen statt zu jammern, ist die zentrale Botschaft der Bücher. Ina Hatten- hauers comicartige und detailreiche Zeichnungen und Malereien untermalen die positive, fröhli-che Stimmung. Die Illustrationen nehmen viel Raum ein, der kurze und bündige Text ist einfach zu lesen. Gut geeignet zum Vorlesen sowie als Lektüre für LeseanfängerInnen. Martina Adelsberger

Besprechungen–KinderbuchErzählendes

Page 36: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

33 Kinderbuch

Heinrich Ooooh und die Schwarzen SiebenHilde E. Gerard

Heinrich und seine Zwillingsschwester Hannelore helfen ihren Eltern bei der Führung des familien-eigenen Hotels. Doch das Hotel ist kein gewöhnli-ches Hotel: es hat sich auf Geister, Gespenster und Skelette als Hotelgäste spezialisiert. So staunt Heinrich nicht schlecht, als plötzlich sieben Neu-ankömmlinge vor ihm stehen, die eindeutig an-ders aussehen, als die anderen Gäste. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um Menschen handelt und kaum haben diese das Hotel bezogen, verschwin-den auf mysteriöse Weise die anderen Gäste ... Hilde E. Gerard ist Belgierin und in ihrer Heimat keine Unbekannte mehr. Sie hat bereits einige Bücher veröffentlicht, unter anderem auch drei Bände mit dem Zwillingspärchen Heinrich und Hannelore Ooooh und es besteht die berech-tigte Hoffnung, dass der Thienemann Verlag auch diese Titel in deutscher Übersetzung publiziert. Der erste Band der Reihe Heinrich Ooooh und die Schwarze Sieben bietet seinen kleinen LeserInnen eine überaus amüsante Geschichte, bei der der Gruselfaktor nicht zu kurz kommt. Das Buch ist leicht lesbar und das Schriftbild wird durch die Illustrationen von Eric Bouwens aufgelockert, so dass es auch von ungeübten LeserInnen gerne konsumiert werden wird. Als Bonus gibt es noch zwei Gulaschrezepte – die Spezialität des Grusel-hotels der Familie Ooooh – und es wird den klei-nen LeserInnen sicher Spaß machen, die Rezepte gemeinsam mit den Eltern nach zu kochen. Elisabeth Ghanim

Und morgen am MeerCorina Bomann

Berlin, im Sommer 1989. Der 18jährige Claudius lebt im Westen, die 17jährige Milena im Osten der Stadt. Als Claudius mit Freunden einen Aus-flug nach Ostberlin unternimmt, treffen die beiden zufällig aufeinander und verlieben sich. Nach ei- nigen Treffen und Briefen jedoch ist plötzlich die Stasi involviert. Milena wird mitten in den Ferien in die Schule vorgeladen, wo sie ein Gespräch mit- bekommt, das ihr Leben auf den Kopf stellt. Die 17jährige ist in dem Glauben aufgewachsen, ihre Mutter sei verunglückt, als sie noch ein Kleinkind war. Doch nun hört sie, dass die Familie einen Fluchtversuch unternommen hat, nur die Mutter hat den Weg in den Westen geschafft. Voll Wut und Enttäuschung über ihren Vater, der ihr all die Jahre die Wahrheit verschwiegen hat, reißt sie mit Claudius von zu Hause aus. Und morgen am Meer wird zum Leitsatz der beiden, denn sie wollen

Rosie und MoussaMichael De Cock, Judith Vanistendael

Rosie zieht mit ihrer Mutter ans andere Ende der Stadt. Als die beiden mit den wenigen Umzugs- kisten aus dem Taxi steigen und vor dem neuen Wohnhaus stehen, ist Rosie sehr traurig. Das neue Wohnhaus erscheint groß und fremd und Rosie ist überzeugt, hier niemals neue Freunde zu finden. Als sie aber die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf geht, kommt plötzlich ein Junge auf sie zu und begrüßt sie fröhlich. Es ist Moussa mit seiner Kat-ze, der gleich in der Wohnung oberhalb wohnt. Moussa ist es auch, der ein paar Tage später an der Tür klingelt und Rosie aufs Dach hinaufführt. Leise gehen die beiden hinauf, damit sie niemand hört, denn vor allem Herr Tak, der unfreundliche Hausmeister, hat es strengstens verboten. Doch die Aussicht von oben auf die Stadt ist großartig. Rosie ist fasziniert, bis – wie kann es anders sein – der griesgrämige Hausmeister kommt und die Tür aufs Dach und damit den Kindern den Rückweg versperrt. Nun sitzen sie fest und niemand weiß, wo sie sind. Die Erzählung weist einige gute Spannungsmo-mente auf und ist insbesondere für ErstleserInnen sehr empfehlenswert. Der Handlungsort ist fast ausschließlich das große Wohnhaus und auch die Anzahl der Protagonisten ist recht überschaubar. Die beiden Hauptpersonen, Rosie und Moussa, sind zudem sehr glaubhaft dargestellt und durch-gehend nachvollziehbar in ihren Handlungen. Sie dienen gut als Identifikationsfiguren für Mäd-chen und Buben. Rosie, die ohne Vater bei der Mut- ter aufwächst, fühlt sich nach dem Umzug noch sehr unsicher. Der offene und freundliche Moussa muss die abgelegte Kleidung seines Bruders tra-gen, womit seine ärmlichen Familienverhältnisse angedeutet werden. Es sind zwei Kinder, die sehr verschieden sind, aber gemeinsam ein Abenteuer bestehen und Freundschaft schließen. Die Bilder von Judith Vanistendael sind schwarz- weiß-Illustrationen und verleihen dem Büchlein durch den flotten Strich eine pfiffige Note. Sie ver- anschaulichen gut den Handlungsort und rücken vor allem das Stiegenhaus, in dem die verschiede-nen Personen immer wieder auf und ab marschie-ren ins Zentrum, was der Erzählung einen besonde- ren Schwung und eine gewissen Dynamik verleiht. Barbara Eichinger

Michael De Cock, Judith Vanistendael

Rosie und MoussaAus dem Niederl.

Weinheim: Beltz & Gelberg 2013. 88 S. Ab 7 Jahren

Hilde E. GerardHeinrich Ooooh und die

Schwarzen SiebenAus dem Niederländ.

Stuttgart: Thienemann 2013. 171 S. Ab 9 Jahren

Corina BomannUnd morgen am Meer

Berlin: Ueberreuter 2013. 350 S.Ab 13 Jahren

Page 37: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201434 Besprechungen

weiß, Milena ist jene, die in diesem repressiven System groß geworden ist. Daten und Fakten zu den damaligen Gescheh-nissen findet man in der Erzählung keine, auch keine Zeittafel oder ähnliches im Anhang. Corina Bormann, die selbst in der DDR aufgewachsen ist, gibt in ihrem Jugendroman einen rein literari-schen Eindruck vom Alltag in der DDR. Die Auto-rin hat schon einige historische Romane, auch für Erwachsene, verfasst. In diesem gelungenen Jugendroman wendet sie sich nun erstmals der Zeitgeschichte zu und erzählt sie einer Generati-on, die erst nach dem Mauerfall geboren wurde. Barbara Eichinger

über die inzwischen offene Grenze zwischen Un-garn und Österreich bis ans Meer fahren. Mit dem Moped ihres Bruders machen sie sich auf den Weg und landen schließlich nach einigen Umwe-gen in der deutschen Botschaft in Prag. Noch in der Botschaft trifft Milena ihre Mutter wieder, die aus Hamburg angereist ist, um das Sorgerecht zu übernehmen und Milena damit eine Grundlage für die Ausreise zu ermöglichen. Die weiteren Geschehnisse bis hin zum Fall der Berliner Mauer liest man am Ende als Rückblick aus Milenas Sicht erzählt. Der Jugendroman, der durchaus auch als Road-movie zu bezeichnen ist, verquickt zeitgeschicht- liche Ereignisse mit einer fiktiven (Liebes-)Ge-schichte. Der kapitelweise Perspektivenwechsel – ein- mal erzählt Milena, dann wieder Claudius – schafft dabei nicht nur eine leichtere Identifikation mit den beiden Protagonisten, sondern bringt auch un- terschiedliche Sichtweisen auf die Geschehnisse ein. Der Westdeutsche Claudius ist der Außenste-hende, der wenig über die Situation in der DDR

Kommt ein Boot ... :ein Gedicht in 11 Bildern und vielen SprachenHeinz Janisch

Neun poetische Zeilen bilden den Ausgangspunkt dieses Literaturprojekts im Rahmen eines book- olino-Festivals des Literaturhauses Graz. Auf der ersten Seite ist ein Gedicht des vielfach ausge-zeichneten österreichischen Kinderbuchautors Heinz Janisch auf Deutsch gedruckt, auf den fol-genden 10 Seiten in je einer weiteren Sprache. Die Schlüsselwörter Boot, Hand, Haus, Luft und Meer werden in jeweils 10 Sprachen in die Illustrationen integriert, sodass neben Deutsch insge-samt 20 verschiedene Sprachen – mit mehreren unterschiedlichen Schriftsystemen – vertreten sind. Auf der vorletzten Seite ist Platz für eine eigene Zeichnung bzw. eine Sprache, die im Buch eventuell nicht vertreten ist, d.h. die LeserInnen werden eingeladen, sich mit dem Gedicht, mit Sprache, mit der bildlichen Umsetzung von Worten/Geschichten zu befassen. Auf der allerletzten Seite gibt es für Bastelfreudige noch eine Anleitung zum Bootfalten. Jede Seite ist von einem/einer anderen namhaften IllustratorIn gestaltet (H. Bansch, M. Blaze-jovsky, R. Habinger, V. Hochleitner, W. Puchner, M. Roher, D. Schwab, A. Stolarski, L. Varvasovszky, S. Vogel, L. Wolfsgruber), was eine wunderbare Bandbreite künstlerisch-kreativen Schaffens vermittelt. Das Büchlein funktioniert dadurch auf zwei Ebenen: auf der Sprachebene können Kinder unter-schiedlicher Umgangssprachen sich wiederfinden bzw. mit anderen Sprachen in Berührung kommen und ein erstes Gefühl für die jeweiligen Besonderheiten, unterschiedliche oder ähnliche Schriftbilder bekommen. Auf der Bildebene wird deutlich, wie vielschichtig ein Text sein kann, wie unterschiedlich er aufgefasst und interpretiert werden kann, wieviel Raum für Fantasie und Ausschmückung bleibt. Das Buch spiegelt damit auf unmittelbare und gleichzeitig kindgerecht verspielte Weise die Vielfältigkeit unserer Sprachen und die Diversität unserer Gesellschaft wider. Es eignet sich dabei für unterschiedliche Einsätze und verschiedene Altersgruppen: zum Vorle- sen und Gemeinsam-Anschauen bzw. -Darüberreden ab dem Kindergartenalter sowie für die Schu-le im Bereich Lyrik, Sprache oder Kunst. Hier kann es je nach didaktischem Ansatz als All-Ager auf jeden Fall für die Primar- und erste Sekundarstufe, eventuell sogar für die Oberstufe eingesetzt werden. Kommt ein Boot ... ist das wunderschöne, sehr gelungene Ergebnis eines originellen Projekts zu einer wichtigen Facette unserer modernen Gesellschaft und sollte in keiner Schulbibliothek fehlen und auch in möglichst vielen Kinderzimmern Platz finden. Andrea Hirn

Heinz JanischKommt ein Boot... :

ein Gedicht in 11 Bildern und vielen Sprachen

St. Pölten: Residenz 2012. 24 S.Ab 4 Jahren

Kathleen LaneNana im Angesicht des

süßen VerbrechensAus dem Engl.

Esslingen: Esslinger 2012. 116 S.Ab 8 Jahren

Page 38: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

35 Kinderbuch

umgehen die Verbote ihrer Mutter auf geniale Art. Der Text ist durch zahlreiche schwarz-weiße Illustrationen aufgelockert, die fast comicartig das Geschehen veranschaulichen. Sowohl der Text als auch die Bilder richten sich sehr direkt an die lesenden Kinder. Die Autorin streut Tipps ein, die für das weitere Leben nützlich sein könnten. Zum Beispiel bemerkt sie, dass Schutzumschläge von Büchern auch ausgetauscht oder verändert werden können, falls man ein Buch mit gefährli- chem Inhalt lesen will. Deshalb ist auch der Schutz-umschlag des vorliegenden Buches beidseitig bedruckt, also ein Wende-Cover (innen der Um-schlag von Die Kunst des Nickerchens, was unsere Bücherei-BenutzerInnen leider nicht bemerken werden ...). Sehr liebevoll sind auch auch die Vor-satzblätter gestaltet, mit Stellenangeboten für die absurdesten Berufe. Die aus den USA stammende Autorin legt mit Nana ihr erstes Kinderbuch vor. Die aus England kommende Illustratorin ist in ihrer Heimat für ihre skurrilen Zeichnungen bekannt. Es bleibt zu hoffen, dass dieses kongeniale Team noch öfter zusammenarbeitet!

Monika Nebosis

Nana im Angesicht des süßen Verbrechens Kathleen Lane, Sarah Horne

Eine Großmutter wie diese Nana kann sich jedes Kind nur wünschen! Sie hat zwar auf ihrem Tisch ein Buch mit dem Titel Die Kunst des Nickerchens liegen, doch das dient nur zur Tarnung: Nana ist gänzlich uninteressiert an Nickerchen, sie nimmt viel lieber spannende Jobangebote an und arbei- tet als Baggerfahrerin, im Zirkus oder als Tief-seetaucherin. Jetzt hat sie eine Anzeige entdeckt, in der eine Detektivin gesucht wird. Selbstver-ständlich nimmt sie die Herausforderung an und löst den Fall der verschwundenen Süßigkeiten. Unterstützt wird sie dabei von ihren Enkelkindern Mathilda und Jeremy, die ihrer stets besorgten Mutter zuliebe so tun, als wären sie die artigsten Kinder der Welt und immer wieder Wege finden, ihrer Aufsicht zu entkommen. Das Buch sprüht nur so vor schrägen Einfällen und Wendungen. Die alte Dame ist ziemlich ver-schroben und macht ständig Dinge, die man von ihr (oder überhaupt von alten Damen) nicht erwar-ten würde. Die beiden vordergründig so braven Kinder haben es faustdick hinter den Ohren und

Wer fürchtet sich vorm lila Lachs? Michael Roher, Elisabeth Steinkellner

Wer denkt, dass man nach dem Grimm-Jahr alle Märchenbücher gesehen und auf Jahre hinaus keinen Bedarf an neuen hat, darf sich von Wer fürchtet sich vorm lila Lachs? gern eines Besseren belehren lassen. So herzhaft wie bei diesen freien Adaptionen lacht man über das sonst eher betont moralisch-ernste Genre wohl selten. Mit unglaublichem Gespür für Situationskomik und hintersinnigen Witz machen die beiden jungen ÖsterreicherInnen Michael Roher und Elisabeth Steinkellner aus Alt Neu. Dabei bilden Versatzstücke aus allseits bekannten Märchen die Folie bzw. den Ausgangspunkt für aktuelle und subversive Adaptionen. Bereits die Eingangsillustration legt den Ton der Märchen fest: «Ruckedigu, Ruth steckt im Schuh!» lautet die Bildunterschrift zu der zart mit Tusche gestrichelten Szene, in der ein pum- meliges Mädchen/die Prinzessin sich am Sessel festhält, während Prinz und weitere Märchen- gestalten gemeinschaftlich und unter sichtbaren Anstrengungen versuchen, ihr den anprobierten Glas-Schuh wieder vom Fuß zu ziehen. Aus Rapunzel wird ein pubertierender Bursche, der sei- nen meterlangen Bart zum Fenster raushängen lässt, um Hänsel, seine erste Liebe, raufklettern zu lassen, Rotkäppchen und der Wolf sind – sehr zum Leidwesen ihrer Eltern – beste Freunde und was es mit den «sieben Greislein» auf sich hat, ist nicht nur wahnwitzig lustig, sondern auch be-rührend und von sozialer Aktualität. In diesem Sinne finden sich hier nicht einfach alte Märchen in neuem Gewand, sondern etwas ganz Eigenes, das auch nicht vor kindgerechter Sozialkritik zurückschreckt, aber ganz ohne Grimmsche Ernsthaftigkeit daherkommt. Steinkellner und Roher haben ein wunderbar skurriles Märchen-Universum mit liebenswerter Schräglage, bei dem von Herzen gelacht, über das aber auch nachgedacht werden kann, kreiert. Rohers Schwarz-Weiß-Illustrationen geben den frech-modernen Ton der Erzählungen auf der Bildebene kongenial wieder und festigen seinen Ruf als Ausnahmekünstler im Bilderbuchsektor einmal mehr. Wärmste Empfehlung – nicht nur für Märchenfans! Andrea Hirn

Michael Roher, Elisabeth Steinkellner

Wer fürchtet sich vorm lila Lachs? Wien: Luftschacht 2013. 104 S.

Ab 8 Jahren

Dave Shelton Bär im Boot

Aus dem Engl. Hamburg: Carlsen 2013. 301 S.

Ab 10 Jahren

Page 39: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201436 Besprechungen

Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollteChristine Nöstlinger

Cornelius Haberkorn, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, könnte zufrieden sein mit seinem Leben. Seine Eltern sind zwar geschieden und er lebt bei seinem Vater, aber sie scheinen sich nach wie vor gut zu verstehen. Dazu sind sie auch noch ziemlich wohlhabend, aber eines will Corne-lius, genannt Stummel, ganz bestimmt nicht sein: ein reicher Schnösel. Deshalb muss sein Vater seinen Luxuswagen auch außer Sichtweite parken, wenn er den Sohn von der Schule abholt. Über-haupt ist dieser Vater ein sympathischer, unkom-plizierter Mensch, der es versteht, auf seine Mit-menschen einzugehen und der zu seinem einzigen Sohn eine liebevolle Beziehung pflegt. Es könnte also alles in bester Ordnung sein, wenn der Vater sich nicht verliebt hätte. Dass es ausgerechnet die Mutter dieser unmöglichen Anna Lachs ist, erfährt er von einer Schulkollegin. Anna Lachs ist neu in seiner Klasse und natürlich muss er auch noch neben ihr sitzen. Sie redet den ganzen Tag so gut wie nichts, ignoriert die Lehrer und wenn Stum-mel auch nur versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, wird er wütend angezischt. Bei einem gemeinsamen Thermenwochenende soll sich die Patchworkfamilie näher kennen lernen. Die Kinder setzen alles daran, dass aus Herrn Haber-korn und Frau Lachs kein Paar wird. Das bringt sie sogar dazu, dass sie gemeinsam einen Plan aus-hecken: Anna soll – vorübergehend – verschwin-den um ihrer Mutter einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Aber die Sache läuft aus dem Ruder, denn Anna verschwindet tatsächlich und ist un-auffindbar. Zum guten Ende hat Cornelius in Anna eine Freundin gewonnen, für die Erwachsenen löst sich die Krise weit weniger positiv, wie der Titel schon ahnen lässt. Mit gewohnter Empathie für ihre jugendlichen Helden hat Christine Nöstlinger ein überaus hu-morvolles Buch über das Verhältnis zwischen El- tern und Kindern, das in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten einem ziemlichen Wandel unterwor-fen war, geschrieben. Und die anfangs und zum Schluss zitierte Großmutter hat wohl einiges mit der Autorin gemeinsam. Viktoria Zwicker

Bär im BootDave Shelton

Ein namenloser Bub und ein sprechender, ein wenig beschränkter Bär fahren gemeinsam in ei- nem kleinen Boot über das Meer, der Bär rudert, der Junge fährt mit. Was zunächst als kurze Über-fahrt geplant war, entpuppt sich als endlose Reise ohne Ziel. Zweimal stellt er dem Bären die Fra- gen nach dem Wohin und Warum um dann beim dritten Mal eine wütende Reaktion des bislang so phlegmatischen Bären zu provozieren. Am An- fang tut sich wenig, die beiden fahren über einen endlosen blauen Ozean, darüber spannt sich ein ebensolcher Himmel und es gibt für den Buben nichts zu tun, als ein seltsames Comic wieder und wieder zu lesen – es ist in Text und Bild im Buch wiedergegeben. Außenwelt gibt es keine und an ein Entkommen ist nicht zu denken. Die beiden spielen «Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist blau» und jedes Mal ist der Bär überrascht und amüsiert. Nachmittags wird mittels eines kleinen Gaskochers Tee zubereitet. Ab der Mitte des Buchs gewinnt die Handlung an Tempo. Ein überaus hässliches Seeungeheuer wird mit Hilfe eines ver-dorbenen Sandwiches erledigt und ein verlassenes Segelschiff geentert. Leider geht es unter, denn der explodierende Gaskocher hat ein Loch in die Bordwand gesprengt. Zuletzt stranden die beiden auf einer Insel. Aber dort können sie nicht blei- ben, denn sie ist nichts als ein Felsen mitten im Meer, jenseits von allem, was belebt und vertraut erscheint. Mit nichts als einem leeren Koffer und einer Ukulele als Paddel rudern die zwei dem Sonnenuntergang entgegen. Nur haben sich die Rollen umgekehrt, Bär samt Koffer dienen als Floß, der Bub rudert voller Zuversicht. Wohin auch immer ... Ein abgegriffenes Notizbuch, eingeschlagen in eine Seekarte, darauf eingezeichnet das Boot mit-ten im Nichts, das ist der originelle Einband dieses ungewöhnlichen Kinderbuches. Es wurde vom Autor selbst illustriert; den Text begleitende Bilder wechseln sich mit doppelseitigen Illustrationen ab, ein klein wenig erinnern sie an Pu den Bären. Von der Kritik wurde das erste auf Deutsch er-schienene Werk David Sheltons als philosophi-sches Kinderbuch bezeichnet. Das Leben als müh-same Reise ohne Ziel für lebensfrohe Zehnjährige? Wie auch immer – wer die ersten, etwas zähen Seiten überwindet, wird mit durchaus spannender Lektüre und feinem Witz belohnt. Viktoria Zwicker

Christine NöstlingerAls mein Vater die Mutter

der Anna Lachs heiraten wollteHamburg: Oetinger 2013. 175 S.

Ab 9 Jahren

Page 40: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

37 Kinderbuch

In Interviews und persönlich formulierten Tex- ten erfahren interessierte LeserInnen, warum bei-spielsweise Clemens ein diakonisches Jahr im Aus-land (also ein Jahr in kirchlichem Kontext) machen wollte, Michaela von der «Schule der Vielfalt» (ein Aufklärungskonzept, bei dem Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender als sogenannte «Le-bensstilexperten» in Schulen von ihrem Leben und ihren Erfahrungen erzählen) fasziniert ist, oder wieso Elena von [U25] dafür verantwortlich ist, dass sich zumindest an einem Tag in Deutschland kein Jugendlicher das Leben genommen hat.

Jetzt tu ich was: von der Lust, die Welt zu verändernHrsg. v. Meike Blatzheim, Beatrice Wallis

Das vorliegende Werk handelt davon, wie wir schlim-me Zustände verbessern und etwas Gutes bewirken können: rund 30 Menschen im Alter von 8 bis 74 Jahren erzählen, warum sie sich für Dinge, die ihnen am Herzen liegen, engagieren und wie sie die Welt ein kleines bisschen besser machen wollen.

Jan von Holleben, Antje Helms Kriegen das eigentlich alle?Die besten Antworten zum

Erwachsenwerden Stuttgart, Wien: Gabriel 2013. 156 S.

Ab 12 Jahren

Meike Blatzheim, Beatrice Wallis Jetzt tu ich was:

von der Lust, die Welt zu verändern Weinheim: Beltz & Gelberg 2013. 201 S.

Ab 12 Jahren

Besprechungen–KinderbuchSachbuch

Kriegen das eigentlich alle? Die besten Antworten zum Erwachsenwerden Antje Helms, Jan von Holleben

Das Aufklärungsbuch Kriegen das eigentlich alle? verspricht im Untertitel «die besten Antworten zum Erwachsenwerden» und tatsächlich handelt es sich um ein qualitätsvolles und originelles Werk, das aus der Masse durchschnittlicher, oft biologielastiger Titel erfreulich hervorsticht. Idee, Konzept und Bilder stammen vom Fotografen Jan von Holleben, die Texte von der Kulturwissen-schaftlerin und Journalistin Antje Helms, unterstützt und sexualpädagogisch begleitet wurde das Buchprojekt vom Berliner Familienplanungszentrum BALANCE. Für die äußerst gelungenen Farb-fotos standen SchülerInnen der Waldschule Berlin Modell. Das Buch ist in fünf große Kapitel gegliedert (Vom Wachsen und Verändern; Vom Mädchensein und Jungesein; Vom Verknalltsein und von der Liebe; Vom Küssen und vom Sex; Vom Schwanger-werden und vom Kinderkriegen) und beantwortet häufig gestellt Fragen, die Mädchen und Jungen ab der (Vor-)Pubertät interessieren. Das Besondere am Konzept dieses Buches ist, dass die natur-wissenschaftliche Seite angenehm kurz und prägnant gehalten wird, der Fokus liegt vielmehr auf den emotionalen, zwischenmenschlichen und kulturellen Aspekten. Neben den für Aufklärungs-bücher typischen Fragen werden auch ethische Probleme (was tun, wenn die Freundin schwan-ger ist, man(n) aber noch nicht bereit ist fürs Vatersein; darf man/frau Pornos anschauen; kann man auch ohne Sex leben; kann man mehrere Menschen gleichzeitig lieben etc.) behandelt. Und hier liegt auch die ganz große Stärke des Buches: der Ton ist immer respektvoll und findet eine perfekte Balance zwischen sachlich, locker und humorvoll – ohne dabei jemals in peinlich-be-mühten Jugendjargon zu fallen. Die AutorInnen sind ganz nah an den Lebenssituationen der Jugendlichen dran und vermitteln dabei stets, dass das Wichtigste die Sensibilisierung sowohl für die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Abneigungen als auch die des/der Anderen ist. Die Perspektive ist immer offen für unterschied-liche Lebens- und Liebesentwürfe, es gibt kein Moralisieren, kein Werten, immer nur die Empfeh-lung, sich selbst und den/die Andere/n zu respektieren. Das Besondere an den ganzseitigen Farbfotos ist nicht nur, dass sie im Klassenverband von einander vertrauten Jugendlichen aufgenommen wurden, sondern auch, dass sie ganz ohne klassische Biologie-Illustrationen auskommen. Alles, was an Organischem oder Hormonellem dargestellt werden soll, wird mittels Früchten, Gemüsen, Blumen und Alltagsgegenständen künstlerisch nachempfunden und das gelingt überraschend gut. So befinden sich Hollebens Bil-der an der Schnittstelle von Informations- und Kunstcharakter und laden ein, den Blickwinkel doch mal ein bisschen zu verändern. Kriegen das eigentlich alle ist sicher kein Buch, dessen Lektüre Biologie-Bestnoten garantiert, aber es ist ganz bestimmt das Aufklärungsbuch mit den tatsächlich «besten Antworten zum Er-wachsenwerden». Andrea Hirn

Page 41: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Herbst 201338 Besprechungen

Kunst machen. 13 Techniken, die du kennen sollstAngela Wenzel

Unendlich viele Mittel und Techniken führen zum Kunstwerk; im Lauf der Zeit haben Künstler und Künstlerinnen immer wieder neue Arbeitsweisen entwickelt. Griffen etwa Steinzeitmenschen zu verkohltem Holz, um Tiere in ihre Höhlen zu malen, schuf Henri Matisse zehntausende Jahre später mit Papier und Schere bunte Motive. Diese und viele weitere Kunsttechniken wie etwa Freskenmalereien oder Jackson Pollocks «Tröpfelbilder» stellt das in der beliebten Kunst für Kids-Reihe von Prestel vor. Anhand von Werkbeispielen werden Fragen kindgerecht ge-klärt: Wie unterscheidet sich eine Radierung von einem Holzschnitt? Was ist eine «Installa- tion»? Und wie entstehen Mosaike? Egal um welche Methode es sich handelt, inspirierend ist die Lektüre für kleine Leser und Leserinnen allemal. Zeitleisten am Anfang jeden Kapitels helfen dabei, die Techniken kunsthistorisch einzuordnen. Die meist großflächigen Abbil- dungen werden mit einfachen Worten allgemein-verständlich und nachvollziehbar beschrieben. Informationskästchen mit Angaben zu Material,

Jedem Bericht bzw. Interview ist eine Kurzbio-graphie der betreffenden Person und ein Link zur Homepage der jeweiligen Organisation, Stiftung oder Verein angefügt. Neben internationalen In-stitutionen wie z.B. Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen oder Greenpeace, werden auch zahlreiche kleinere regionale (leider ausschließ-lich deutsche) Initiativen vorgestellt, sodass hei-mische LeserInnen erst mühsam recherchieren müssen, ob es etwas Derartiges auch in Österreich gibt. Ein internationales Linkverzeichnis oder zumindest eine Auflistung namhafter Organisati-onen im deutschsprachigen Raum wäre auf jeden Fall wünschenswert gewesen. Ansonsten ist das vorliegende Werk bestens dafür geeignet, Mög-lichkeiten, etwas (Gutes) zu tun, aufzuzeigen und eine großartige Ideenbörse für Jugendliche, die sich sozial engagieren möchten. Martina Lammel

Meine GartenwerkstattAnke M. Leitzgen, Thekla Ehling, Judith Drews

«Garten? Yeah! Wühlen, gießen, ernten.» Welches Kind kann da schon nein sagen. Kind muss aber nicht über einen eigenen Garten verfügen, um viele der Ideen und Anregungen des vorlie-genden Buchs umsetzen zu können. Balkon, Fensterbrett sowie Wald und Wiese in der freien Natur bieten Fläche und Material zum Experimentieren mit hundertprozentig biologischen Zu-taten. Und beim Schmökern lernen die Leserinnen und Leser wichtige Baum-, Vogel- und Pflan-zenarten kennen. Sie erfahren darüber hinaus, wie man ein Insektenhotel baut und vermietet, wie man ein Wasserrad zimmert, wie Limonade gemacht werden kann, welche Blumen im Som-mer blühen, welche Vögel den Garten bevölkern, wie man im Blumentopf backen kann, wie man ein Gewächshaus schneidet, was man im Schnee verstecken kann und vieles mehr. Das Buch ist nach Jahreszeiten unterteilt und diese Kapitel gliedern sich wiederum jeweils in die Abschnitte «Garten & Balkon», «Pflanzen & Tiere» sowie «Küche & Werkstatt». Einführend werden die Werkzeuge für Gärtner in sehr ansprechenden Illustrationen und einfachen Texten vorgestellt: Rankhilfe, Ziehhacke, Handsäge, Grabegabel und Pikierstab, um nur einige zu nen-nen. Danach geht es los mit einer Pflanzencollage und einem Plan für die richtige Anzucht. Auch wenn die Ergebnisse dem Anschein nach das Resultat eines zufälligen, kreativen Prozes- ses sind, wird in diesem Buch wenig dem Zufall überlassen. Allerdings verstehen sich viele Tipps als Anregungen und den eigenen Ausführungen und Ideen soll nichts im Wege stehen. Die Gestaltung des Buches ist sehr modern, keine Spur von Gartenzwergidylle. Die Autorinnen wollen vermitteln, dass Gärtnern cool sein kann und sprechen die experimentierfreudige Seite der Kinder an. Die Illustrationen sind eine Mischung aus Fotos und Computer-Zeichnungen. Für Erwachsene, die den Nachwuchs gerne zu Außenaktivitäten überreden möchten, ist das Buch ein Geschenk. Beim Ausprobieren werden sicherlich nicht nur die jüngsten Leserinnen und Leser auf ihre Kosten kommen. Meine Gartenwerkstatt ist ein Feuerwerk an Ideen für das Beschäftigen und Eintauchen in die Natur, selbst wenn sie sich auf das Fensterbrett beschränkt. Martina Adelsberger

Anke M. Leitzgen, Thekla Ehling, Judith Drews

Meine Gartenwerkstatt Hildesheim: Gerstenberg 2013. 143 S.

Ab 9 Jahren

Angela WenzelKunst machen. 13 Techniken,

die du kennen sollstMünchen, London, New York:

Prestel 2012. 45 S. Ab 8 Jahren

Page 42: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

39 Sachbuch

und unterhaltsam vermittelt er eine Vorstellung davon, was für eine Art Helden Achilles, Hektor und Odysseus waren. Darüber hinaus informiert Wolfgang Korn über die nicht minder spannende Geschichte der Ausgrabung um Troja und räumt mit dem My- thos um den als «Troja-Entdecker» gefeierten Heinrich Schliemann auf. Er würdigt vielmehr Archäologen wie Manfred Korfmann, die der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind, aber mehr für die Ausgrabungen geleistet haben. Klaus Ensikat trägt mit seinen unverwechsel- baren, detailreichen Illustrationen wesentlich zur Veranschaulichung des doch ziemlich kom- plexen Themas bei und macht das Buch zu einem kleinen Kunstwerk, das nicht nur für Kin- der reizvoll ist. Bedauerlich ist in den Augen der Rezensentin, dass dieses Buch einem Gut- teil der Zielgruppe zu kompliziert und vor al- lem zu umfangreich sein dürfte; wobei das viel- leicht weniger dem Autor als der Zielgruppe an- zulasten ist. Gerlinde Böhm

Werkzeug und Beispielen für VertreterInnen die-ser Kunsttechnik verhelfen zu einem schnellen Überblick. Interessiert man sich für ein Werk- beispiel besonders, helfen die Angaben zu weiter-führender Literatur und einschlägigen Museen. Quizfragen regen zum Nachdenken an und bie- ten die Möglichkeit, das Gelesene zu überprüfen. Letztendlich motivieren kleine Tipps wie etwa Aquarelle aus Pflanzenfarben oder das Basteln von Fantasiewesen aus alten Bilderbüchern zum Kunst-Selbermachen. Ein Buch für alle kleinen Künstler und Künstle-rinnen und solche, die es vielleicht noch werden wollen. Daniela Raunig

Die Geheimnisse von TrojaWolfgang Korn, Klaus Ensikat

Bis in die heutige Zeit hat der Mythos um Troja nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Der Journalist und Sachbuchautor Wolfgang Korn, der gemeinsam mit dem Doyen der deut-schen Illustrationskunst, Klaus Ensikat, schon den «Deutschen Jugendliteraturpreis» für Das Rätsel der Varusschlacht erhalten hat, setzt sich im vorliegenden Titel mit Homers Epen und der Ge-schichte um das Trojanische Pferd auseinander. Das «ultimative Troja-Troia-Truva-Hisarlik-Blog» führt die LeserInnen direkt an den Schau-platz des Geschehens. Hier lässt Wolfgang Korn die Protagonisten der homerischen Epen vor unseren Augen lebendig werden: anschaulich

Thomas FeibelFacebook und andere Netzwerke

Hamburg: Carlsen 2013. 32 S.

Wolfgang Korn, Klaus EnsikatDie Geheimnisse von Troja

Köln: Boje 2013. 176 S.Ab 12 Jahren

Facebook und andere NetzwerkeThomas Feibel

Der Journalist Thomas Feibel ist anerkannter Experte für die Thematik Kinder und neue Medien. Er schreibt für namhafte Zeitschriften und arbeitet bei der von der EU ins Leben gerufenen kriti-schen Internetplattform www.klicksafe.de mit. Das vorliegende Büchlein – es ist aufgrund des kleinen Formats und geringen Umfangs eher als Heft zu bezeichnen – setzt sich auf leicht verständliche Weise mit sozialen Netzwerken ausein-ander. Zunächst werden Begriffe geklärt (was genau ist eigentlich ein Soziales Netzwerk?) und danach Beispiele genannt. Schließlich folgt eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit ein-zelnen Aspekten: sehr eindringlich wird vor Gefahren gewarnt, die sich im Zusammenhang mit der Nutzung ergeben könnten, Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre werden dringend an-geraten und Vorsicht beim Posten und Chatten empfohlen. Es gibt praktische Anleitungen zur Nutzung, so wird etwa gezeigt, wie man sich bei Facebook registrieren kann, wie man «Freunde» findet oder auch einen Kontakt wieder entfernt. Für komple-xere Aufgaben, wie zum Beispiel das komplette Löschen des Facebook-Accounts, wird auf die Internetseite www.klicksafe.de verwiesen. Thomas Feibel wendet sich mit seinen schon am Cover erwähnten «Tipps und Infos» an Schüler, Eltern und Lehrer. Der Rezensentin erscheint es auch darüber hinaus wichtig für alle, die sich einen kleinen Überblick über ein Thema verschaffen wollen, das längst in unseren Alltag Einzug gehalten hat. Monika Nebosis

Page 43: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201440 Besprechungen

hin von den angesagtesten Mädchen der Schule in deren Clique aufgenommen. Doch im Basketball-team wird sie ausgegrenzt und schließlich auch im Internet gemobbt. Bald stellt sich die Frage, wer wir- klich zu Sina steht, wer ihre wahren Freundinnen sind und wer womöglich ein falsches Spiel spielt. Die Geschichte wird aus drei Blickwinkeln er-zählt. Erst langsam werden die Zusammenhänge klar und die Personen greifbar. Der Spannungs- bogen wird konsequent durchgehalten, die unter-schiedlichen Perspektiven erlauben wechselnde Erzähltempi. Die Charaktere werden stringent geschildert, die jugendlichen ProtagonistInnen durchleben nachvollziehbare Gefühle und Ent-wicklungen. Der familiäre Hintergrund Sinas – die Mutter ist manisch-depressiv und überlässt die Aufsicht des kleinen Bruders immer öfter der Tochter – wird glaubwürdig geschildert. Das große Thema des Buches ist Mobbing in ver- schiedenen Ausprägungen, sowohl im schulischen Bereich als auch in den Weiten des Cyberspace. Anschaulich wird gezeigt, wie leicht man Opfer oder Täter werden kann, aber auch, wie schwierig es ist, sich Gruppenzwängen zu widersetzen. Zahlreiche Kommentare und Rezensionen von Jugendlichen im Internet zeigen, dass der Thriller den Nerv der Zeit trifft und ein Thema aufgreift, das bewegt. Empfohlen – auch als Referatsbuch. Monika Nebosis

Der kürzeste Tag des Jahres Ursula Dubosarsky

Der kürzeste Tag des Jahres: das ist auf der Süd-halbkugel der 21. Juni und für Samuel und seinen Großvater Elias ein besonderer Tag. Es ist beider Geburtstag und nicht allein diese Tatsache schafft eine ganz spezielle Beziehung zwischen Groß- vater und Enkel. An einem 21. Juni, seinem zwölf-ten Geburtstag, verschwindet Samuel spurlos, so der Einstieg in die Geschichte einer ungewöhnli-chen Familie. Sie besteht aus Elkanah, einem ober-flächlichen, egoistischen, aber charmanten Mann, seiner zweiten Frau Hannah, Elias’ einziger Toch-ter, dem gemeinsamen Sohn Samuel und Theodora, der jüngsten Tochter aus Elkanahs erster Ehe. Sie ist nur wenig älter als Samuel und die beiden sind einander sehr verbunden. Es ist eine Familie voller Geheimnisse; Unbewältigtes und Verdrängtes lösen einen Strudel dramatischer Ereignisse aus. Da ist zum einen eine Malariainfektion, die Samuel aufgrund einer unüberlegten Urlaubsreise seiner Eltern seit dem Kleinkindalter in sich trägt. Und da

Bullet BoysAlly Kennen

Als Levi durch ein Loch im Zaun schlüpft, folgt Alex ihm nur widerwillig, denn auf der anderen Seite befindet sich ein militärisches Sperrgebiet. Levi findet ein verstecktes Waffenlager und als er seinem Freund Max davon erzählt, nimmt das Un- heil seinen Lauf: drei Jugendliche geraten in eine Situation, die sie in keinster Weise im Griff haben und deren Gefahren sie nicht abschätzen können. Alex, der Sohn eines Wildhüters, ist die morali-sche Leitfigur der Geschichte, er lebt zusammen mit seinem Vater in einem abgelegenen Haus und hat längst damit begonnen, Verantwortung zu übernehmen. Levi ist ein typischer Jugendlicher, der vor allem an Mädchen interessiert ist. Max ist ein zwiespältiger Charakter: zerfressen von Selbstmitleid und der Gier nach Aufmerksam-keit, bringt er sich und andere in Gefahr; doch er ist auch derjenige der den größten Reifungsprozess durchläuft. Das zentrale Thema dieses Buchs sind Waffen und die Risiken, die damit zwangsläufig verbunden sind. Ally Kennen hat diesen Thriller in Dartmoor angesiedelt und beschreibt sehr eindringlich die ländliche, von Testosteron und Pulverdampf ge-schwängerte Atmosphäre. Während der erste Teil des Romans den Charak-terstudien gewidmet ist, erhöht sich danach das Erzähltempo und die Spannung steigert sich suk-zessive zu einem atemberaubenden Finale. Gerlinde Böhm

Sei lieb und büßeJanet Clark

Die deutsche Autorin Janet Clark legt mit Sei lieb und büße ihren vierten Thriller für Jugendliche vor. Wie schon beim im letzten Jahr bei Loewe erschie-nenen Buch Schweig still, süßer Mund ist das Cover mit zarten Blümchen im schwarzen (Trauer-)Rah-men gestaltet und gibt einen versteckten Hinweis auf den Inhalt: Es ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint ... Die Jugendliche Sina musste von Berlin in ein Provinznest übersiedeln und versucht dort krampf-haft, Fuß zu fassen und Anschluss zu finden. Sie ver- liebt sich in ihren Basketballtrainer, der aber kurz nach dem ersten Kuss einen Unfall hat und ins Koma fällt. Zu ihrer großen Freude wird sie darauf-

Ally Kennen Bullet Boys

München: dtv 2013. 331 S. Ab 13 Jahren

Janet Clark Sei lieb und büße

Bindlach: Loewe 2013. 336 S. Ab 13 Jahren

Ursula DubosarskyDer kürzeste Tag des Jahres

Aus dem Engl. Wien: Ueberreuter 2013. 154 S.

Ab 13 Jahren

Besprechungen–Jugendbuch

Page 44: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Idylle ist natürlich ein Gegenpol notwendig, hier verkörpert durch Samanthas kühle Mutter und ihren neuen Freund und Wahlkampfmanager. Aber selbst diese beiden, nicht gerade als Sympathieträ-ger eingeführten Figuren werden durchaus empa-thisch geschildert, indem psychologische Erklärun- gen für deren Verhalten geliefert werden. Der Ro-man ist flott geschrieben, die erwähnte Katastrophe kommt unerwartet gegen Ende des Buches und sorgt für eine ordentliche Portion Spannung. Eine Empfehlung für VielleserInnen, die einen richtig guten Schmöker suchen. Georgia Latzke

DönerröschenJaromir Konecny

Nach einer Kindheit im bürgerlichen Villenvorort übersiedelt der sechzehnjährige Jonas mit seinen Eltern nach Neuperlach, einer von Münchens weni-ger schicken Wohngegenden mit hohem Migranten- anteil. Während Jonas’ zickige Mutter ihren sozia-len Abstieg beklagt, freut sich Jonas über seinen neuen Kumpel namens Schnauze. Der macht seinem Spitznamen alle Ehre und wechselt mühe- los zwischen bayrisch gefärbtem Ghettodeutsch («Geh’ma PEP, Alta» ist die Entsprechung zum Wienerischen «Gemma Lugner, Oida»), breitem Fränkisch und Hochdeutsch. Er findet Lösungen für alle Probleme und versichert dem ob seines Erfindungsreichtums perplexen Jonas: «Ich war Hauptschule!» In Neuperlach trifft Jonas auch Sibel wieder, seine Freundin aus Kindertagen. Sibel ist inzwischen ein selbstbewusster, resoluter Teenager und Jonas verliebt sich ein zweites Mal in sie. Aber ob das auch Sibels aus der Türkei stammenden Familie recht ist? Tatsächlich ist ihre Familie sehr liberal, brenzlig wird es erst, als die Oma aus Anato-lien anrückt: da holen die weiblichen Mitglieder von Sibels Familie die langen Röcke und Kopftücher aus dem Kasten und der Vater lässt den Whiskey verschwinden. Jonas aber übersteht alle Bewäh-rungsproben und zu guter Letzt gibt es ein großes deutsch-türkisches Fest, bei dem sich erweist, dass auch konservative anatolische Großmütter Humor haben und mehr mitbekommen, als die anderen meinen. Der aus Tschechien stammende und in Deutsch-land lebende Konecny nimmt sein Publikum mit viel Humor und Slapstick für sich ein. Tiefgründige und problemorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema Migration sind seine Sache nicht. Hier darf laut gelacht werden, nicht zuletzt deshalb, weil er Jugendsprache und -milieu gut trifft. Besonders witzig und treffend ist die Szene, in der er ein Fuß-ballmatch zwischen deutschen und türkischen Ju- gendlichen beschreibt: am Ende stellt sich aller-dings heraus, dass die «Türken» samt und sonders Deutsche sind und die «Deutschen» Polen ... Viktoria Zwicker

ist die harmlose Bekanntschaft Hannahs mit ei-nem jungen Mann, die von Elkanah als Liebesbe-ziehung interpretiert wird. Darüber wird ebenso wenig gesprochen, wie über die Lebensgeschichte von Elias, einem Holocaustüberlebenden. Erzählt wird aus der Perspektive Samuels und die Autorin ist nie klüger als ihr junger Protagonist, was Spielraum für Interpretationen zulässt. Die Namen der Hauptpersonen sind anspielungsreich: Samuel, Prophet aus dem Alten Testament ist Sohn der Hannah und Schüler des Hohepriesters Eli. Elkanah und Theodora bedeuten «Geschenk Got-tes». Eben jene Theodora, Samuels hochbegabte Halbschwester, hat eine Leidenschaft, für die sie Samuel sehr bewundert: sie ist eine besessene Tagebuchschreiberin. Nach seiner Rettung in letz-ter Sekunde beginnt auch Samuel zu schreiben ... Nach dem Erfolgsroman Nicht jetzt, niemals ist Der kürzeste Tag des Jahres das zweite ins Deutsche übersetzte Buch der australischen Autorin: eine Familiengeschichte von subtilem Reiz für Erwach-sene und Jugendliche ab 13 Jahren, die auch zwi-schen den Zeilen zu lesen vermögen. Viktoria Zwicker

Mein Sommer nebenanHuntley Fitzpatrick

Im Zentrum dieses Jugendromans stehen zwei sehr unterschiedliche Familien. Samantha wächst in einer kleinen Küstenstadt in Connecticut auf. Ihre Mutter macht Karriere bei der republikanischen Partei, ihre ältere Schwester ist vor allem mit ihrem Freund beschäftigt, der Vater hat die Familie schon früh verlassen. Eines Tages zieht eine Familie mit acht Kindern ins Nach-barhaus. Samanthas ordnungsliebende und per-fektionistische Mutter verbietet ihren Töchtern sofort den Kontakt zu den neuen Nachbarn, die in ihren Augen viel zu laut und chaotisch sind. Es kommt wie es kommen muss, Samantha verliebt sich in einen der Nachbarsöhne, Jase Garrett. Natürlich muss diese Liebe geheim bleiben, was anfangs auch gelingt. Doch Samantha weiß, dass es so nicht weitergehen kann, und als es schließlich zu einer Katastrophe kommt, sind die beiden Fami- lien plötzlich enger miteinander verbunden, als es ihnen lieb ist. Der vorliegende Titel ist das erste Buch der US-amerikanischen Autorin, deren Geburtsort Vorbild für das idyllische Städtchen im Roman ist. Auch weitere autobiographische Elemente mögen Ein-gang in die Geschichte gefunden haben, denn die Schilderungen vom Alltagsleben der Familie Gar-rett gelingen ihr besonders lebendig und warm- herzig. Jase muss überhaupt der Traum jedes Mäd-chens sein – attraktiv, sanft und souverän erobert er Samanthas Herz im Sturm, wobei die Autorin die Grenze zum Kitsch nie überschreitet. Bei so viel

Huntley Fitzpatrick Mein Sommer nebenan

Aus dem Amerikan. München: cbj 2013. 509 S.

Ab 13 Jahren

Jaromir KonecnyDönerröschen

München: cbt 2013. 221 S. Ab 13 Jahren

41 Jugendbuch

Page 45: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201442 Besprechungen

und Regisseur Karl Markovics, wie er zum Lesen und zur Literatur gekommen ist, dafür in seiner Mutter eine verständnisvolle Unterstützerin fand, sich von seinem Vater dadurch jedoch noch mehr entfremdete. Man wird viel Persönliches, Über-raschendes, Berührendes und Unterhaltsames in den von Thomas Trenkler geführten Gesprächen finden. Es sind zeitlose, unaufgeregte Portraits, die Einblick in die Lebens-, Gedanken- und Arbeits- welten bekannter Persönlichkeiten des öffent- lichen Lebens geben. Nebenbei bieten die unter-schiedlichen Tätigkeitsfelder der interviewten Menschen einen facettenreichen Einblick in den österreichischen Kunst- und Kulturbetrieb. Zu Wort kommen unter anderem Peter Turrini, Sabine Haag, Matthias Hartmann, Andrea Eckert, Julian Schutting und Johanna Rachinger. Gerhard Haderer erstaunt mit der Aussage eine «subversive Sau» zu sein, Doyen Michael Heltau will nach

Ich fiel in eine Welt. Gespräche über die Kunst und das LebenRita Newman, Thomas Trenkler

Thomas Trenkler, österreichischer Kulturjourna- list, führte für die Zeitschriften Parnass und Morgen sowie für die Tageszeitung Der Standard zahlreiche Interviews mit Persönlichkeiten aus der Kunst- und Kulturszene. Eine Auswahl dieser Interviews, ergänzt mit Fotografien von Rita Newman, liegt nun in Form der neusten Publika- tion des Brandstätter Verlags vor. «Ich fiel in eine Welt, ... die nur aus gedruckten Buchstaben besteht. Man musste lesen. Und über dieses Lesen-Müssen ist es passiert. Ich bin einfach hineingefallen.» So beschreibt Schauspieler

Heilkosmetik aus der Natur. Pflegende Salben, Öle und Essenzen selber machen Myriam Veit

Heutzutage gibt es jede Menge auf biologischer Basis produzierte Kosmetik – warum also soll- te man Kosmetik selbst herstellen wollen? Zunächst, weil die Bezeichnung «bio» oder «Natur- kosmetik» nicht immer hält, was sie verspricht, und manchmal nur teilweise natürliche Rohstoffe enthalten sind. Menschen mit empfindlicher Haut, Allergien und Neurodermitis brauchen aber garantiert natürliche Pflege, am besten aus Frischpflanzen der Region. Außerdem gibt es einen Unterschied zwischen Natur- und Heilkosmetik. Bei der Heilkosmetik geht es nicht nur um pfle-gende oder dekorative Kosmetik, sondern um medizinisch wirksame Pflege; je unmittelbarer die Pflanzen verarbeitet werden, desto eher entfalten sie ihre heilende Kraft. Eine große Rolle spielt dabei die persönliche Verbundenheit mit den Pflanzenwesen und den Verarbeitungsprozessen, die dann auch auf emotionaler Ebene und auf die feinstofflichen Energien wirken, meint die Autorin. Auch wenn dies manchen Menschen (zu) esoterisch erscheinen mag, teilt sich doch die Freude am Umgang mit Pflanzen und die Befriedigung, daraus etwas Individuelles, den eigenen Bedürfnissen Entsprechendes herzustellen, mit jeder Zeile mit und steckt an. Die Kräuterfachfrau Myriam Veit betreibt selbst eine Naturkosmetik-Manufaktur, in ihrem Buch gibt sie eine sehr gründ-liche Unterweisung in die Herstellungsgrundlagen ausgehend von den Bedürfnissen der ver-schiedenen Hautbilder. Sie beschreibt die wichtigsten Basis-Zutaten; eigene Kapitel behandeln Pflanzenportraits und konkrete Einsatzmöglichkeiten der einzelnen Pflanzen, ätherische Öle und sogar die Herstellung feinstofflicher Essenzen aus Pflanzen, Edelsteinen, Metallen und Salz. Die Grundlagen der Herstellung der verschiedenen Auszüge, Salben, Balsame und Cremes werden sehr genau erklärt, auch mit Hilfe von Fotos der Abläufe, Basis-Rezepturen und Details zur Hand-habung, die einem die konkrete Umsetzung tatsächlich nahe bringen. Eine Sammlung heilkos- metischer Rezepte für Körper und Gesicht enthält einfache Rezepturen und solche, die etwas mehr Vorbereitung brauchen, etwa Körper- und Badeöle, Balsame, Gesichtsmasken, Haar- und Mund-pflege. Ein Glossar, weiterführende Literatur und Bezugsquellen ergänzen dieses sehr sorgfäl- tig gemachte Buch, das auch optisch mit vielen Fotos, Detailzeichnungen, klarer Typografie und Farbgestaltung besticht. Ein sehr schönes Buch mit einer Fülle von Anregungen, in die Welt der Pflanzen einzutauchen und ihre Angebote anzunehmen. Veronika Freytag

Myriam Veit Heilkosmetik aus der Natur.

Pflegende Salben, Öle und Essenzen selber machen

Stuttgart: Kosmos 2013. 198 S.

Rita Newman, Thomas Trenkler Ich fiel in eine Welt.

Gespräche über die Kunst und das Leben

Wien: Brandstätter 2013. 158 S.

Besprechungen–Sachbuch

Page 46: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

43 Sachbuch

Freitagsgebet leitete und – laut Amirpur – inner-halb der islamischen Welt Vieles bewegt. Es ist ein informatives, interessantes und an- regendes Lesevergnügen mit vielen weiterfüh- renden Literaturangaben, um die vorgestellten Autorinnen und Autoren genauer studieren zu können. Rainer Grill

Romantik David McCleery

Der Begriff «Romantik» weckt in uns verschie- dene Gefühle und Vorstellungen. Aber bei diesem Buch geht es nicht um die Romantik in dem um- fassenden Sinn, den der schnoddrige Titel ver- spricht; es geht vielmehr um die Musik des 19. Jahr- hunderts bzw. die Komponisten dieser Epoche und deren Werke. Eingeleitet wurde die Romantik von der Fran- zösischen Revolution und der Befreiung des Individuums aus den Fesseln adeliger und kirch- licher Abhängigkeiten. Damit einher geht die Emanzipation des Künstlers vom besseren Hand- werker zum bewunderten Schöpfer individuel- ler Kunstwerke. Merkmale der Romantik – nicht nur in der Musik – sind neben einer tiefen Na- turverbundenheit die Wertschätzung der Volks- tradition und vor allem die Beschäftigung mit den Leidenschaften und tiefen menschlichen Gefühlen des einzelnen Individuums. In der Musik ließen die Komponisten der Romantik zudem die traditionellen, starren Strukturen der Klassik hinter sich und suchten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Am Beginn der musi- kalischen Revolution stand Ludwig van Beet- hoven mit zahlreichen Neuerungen (Leitmotiv, Programmmusik) und der emotionalen Tiefe seiner Musik. In stark verkürzter Form werden dann die großen Komponisten der Romantik und ihre wichtigsten Werke vorgestellt. Nach den Frühromantikern Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann behandelt ein Kapitel die Opernmusik im 19. Jahrhundert. Italien (mit Rossini, Bellini, Donizetti und vor allem Verdi) sowie Deutsch- land (mit Carl Maria von Weber und vor allem Richard Wagner) waren hier führend. Eigene Kapitel widmen sich der Nationalmusik in Russ- land, Böhmen, Frankreich und Skandinavien sowie den großen österreichischen Sympho- nikern Anton Bruckner und Gustav Mahler. Das Ende der Romantik markieren die Kompo- nisten Richard Strauss, Giacomo Puccini, Sergei Rachmaninow und Edward Elgar. Eine aus- führliche Zeittafel umfasst neben der Musik auch die Bereiche Architektur und bildende Kunst sowie Literatur und Geschichte. Verzeichnisse der wichtigsten Komponisten der Romantik

seinem Tod «nicht ums Burgtheater getragen werden», Julian Schutting erzählt über die sinn- lichen Momente des Durchstreichens beim Schreiben und Günther Paal erobert die Bühne «ideell». Alltägliches reiht sich an Biografisches und manchmal erfährt man Augenblicke des (gedanklichen) Innehaltens. Rita Newman und Thomas Trenkler haben bereits sehr oft erfolgreich zusammengearbei- tet. Das spiegelt sich auch in den persönlich und detailreich gestalteten Fotostrecken der österreichischen Fotografin wider. Eine Publi- kation die zum Blättern und Verweilen einlädt. Irmgard Müller

Den Islam neu denken: der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte Katajun Amirpur

Naturgemäß – würden manche sagen (Kelek) – ist der Islam frauenfeindlich, gewalttätig und demo- kratiefeindlich; daher gebe es auch keine Möglich-keit, den Islam zu reformieren, zu ändern. Natur- gemäß – würden manche sagen (Dawkins, Sam Harris) – gelte dies eigentlich für alle Religionen, insbesondere die abrahamitischen. Selbstverständ- lich gibt es im Islam «einige vorherrschende […] Positionen zu Toleranz, Recht, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit», die « – das kann nicht übersehen werden – mit den Prinzipien des demo- kratischen Rechtsstaates nicht vereinbar» sind (beides S. 14). Da sie eben nicht diese monolithischen Gebäu- de sind (und niemals waren), gab es stets Ansätze und Anstöße, Religionen von innen heraus zu än- dern, auch im Islam. Katajun Amipur, Professorin für Islamische Stu-dien an der Universität Hamburg und Journalistin, stellt in diesem Buch einige moderne Herange-hensweisen anhand von verschiedenen Persön- lichkeiten vor; die vorgestellten Denker sind «der Auffassung, dass jede Reform ihren Ausgang am Koran nehmen muss» (S. 12), weil sie sonst keinen Aussicht auf Erfolg habe. Aber warum schreibt Amirpur dann gleich im Untertitel vom Dschihad? Ist sie eine Wölfin im Schafspelz? Nein, lautet die klare Antwort, denn Amirpur bedient sich dieses Begriffes nicht «im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung», sondern als das «individu-elle Bemühen darum, ein gottgefälliges Leben zu führen» (S. 15). Ansätze für einen Reformislam zur Versöhnung von Islam und Moderne sind bereits im 19. Jahr- hundert zu finden, im Buch werden sie anhand ver- schiedener ProtagonistInnen vorgestellt. Beson-ders beeindruckend ist für mich die Afroamerika-nerin Amina Wadud, die vom Buddhismus zum Islam übergetreten ist, als erste Frau weltweit das

Katajun AmirpurDen Islam neu denken:

der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte München: C. H. Beck 2013.

255 S.

David McCleeryRomantik

Darmstadt: Lambert Schneider 2013. 160 S.

Page 47: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201444 Besprechungen

sowie musikalischer Begriffe runden das Werk ab. Eine sinnvolle Ergänzung ist die beigefügte CD mit zahlreichen Hörbeispielen. Trotz mancher Ungenauigkeiten im Detail ein informatives Übersichtswerk. Anita Pravits

Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten VolkRolf Bauerdick

Rolf Bauerdick ist Reporter und Fotograf, seit mehr als zwanzig Jahren führen ihn seine Repor- tagereisen zu den Zigeunern Europas, vor allem zu den osteuropäischen Roma. Das Wort «Zigeu-ner» gilt gemeinhin als rassistisch, der Autor legt allerdings ausführlich dar, dass der Begriff auf- grund des Selbstverständnisses vieler Zigeuner nicht abwertend sei und das politisch korrekte «Sinti und Roma» gar nicht den vielen ziganen Ethnien und ihrer tatsächlichen Verbreitung ent- spräche. Ein Dilemma, das sich in viele andere Bereiche hinein fortsetzt: wie kann man über Roma

und andere zigane Ethnien sprechen und allen As- pekten gerecht werden? Die jahrhundertelange soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung und deren Konsequenzen sehen, gleichzeitig aber auch Prob- leme wie Gewalttätigkeit und Kriminalität nicht ignorieren? Bauerdick plädiert dafür, Zigeuner nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter zu sehen, weil Würde mit Verantwortung zu tun habe und ein Herunterspielen krimineller Taten nichts zur Problemlösung beitrage. Bauerdick beleuchtet viele Aspekte ziganen Lebens: die Lebensbedingungen in den Herkunfts- ländern, Zwangsprostitution und Betteln in West- europa, Ausbeutung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaften, innerzigane Ausbeutung und mafiöse Tätigkeiten. Das Buch ist keine Kul- turgeschichte, sondern berichtet von auf eigenen Erfahrungen beruhenden Geschichten, Begegnun-gen, Gesprächen; der Autor schreibt mit viel Em- pathie, seine Geschichten gehen unter die Haut. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa hat sich die Arbeits- und Bildungssi-tuation der ziganen Bevölkerung noch weiter ver- schlechtert. Bauerdick tritt vielfach in Opposition zu Wissenschaftlern und politischen Repräsentan-

Verdis Opern. Ein musikalischer WerkführerSabine Henze-Döhring

Verdis Opern – jeder kennt sie, aber kennt man sie wirklich? Gewiss, das Trinklied des Alfredo aus der Traviata («Brindisi»), die Arie des Herzogs aus dem Rigoletto («Ach wie so trügerisch»), der Triumphmarsch aus der Aida oder der Gefangenenchor aus dem Nabucco sind Allgemeingut geworden. Aber, was weiß man sonst über den wie Richard Wagner vor genau 200 Jahren ge- borenen Meister und dessen Werke? Der Verlag C. H. Beck hat nun in seiner kompakten und infor- mativen Taschenbuch-Reihe «Wissen» einen eigenen Band über die Opern Giuseppe Verdis als «musikalischen Werkführer» herausgegeben. Einleitend wird die Position Verdis im System der italienischen Oper dargestellt sowie einige der gängigen Mythen über Giuseppe Verdi korrigiert. So hat sich Verdi – im Gegensatz etwa zu Richard Wagner – nie wirklich für Politik interessiert, obwohl er für seine angeblichen Verdienste im Einigungsprozess Italiens zum Nationalhelden stilisiert wurde. Er stammte zwar aus einfachen Verhältnissen, dennoch gehört auch die Mär vom «armen Bauern von Roncole», die er selbst ger-ne verbreitete, ins Reich der Märchen. Verdi, der erstmals mit seinem Verleger eine prozentuale Beteiligung an allen Verwertungseinnahmen vereinbarte, war schließlich ein reicher Mann, der sich ein ansehnliches Landgut leisten konnte und nur mehr Champagner und erstklassigen Bor-deaux trank. Keinesfalls war er aber ein Gegenspieler des zweiten Giganten der Oper im 19. Jahr-hundert, Richard Wagner. Beide haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die althergebrach- te Gesangsoper zum modernen Musikdrama weiterentwickelt. Detailliert beschrieben werden sodann die wichtigsten Werke Verdis, beginnend mit Nabucco, Ernani und Macbeth. Den Zenit seines Erfolges erreichte er mit der Trilogia populare Rigoletto, Il trovatore und La traviata. Nicht immer folgte das Publikum seinem Trend zu Stoffen mit extremer Leidenschaft und ungewöhnlicher musikalischer Gestaltung, wie bei Simon Bocanegra. Es folgen Un ballo in maschere und La forza del destino sowie Don Carlos und Aida. Den Abschluss bilden die grandiosen Alterswerke Otello und Falstaff. Alle Opern sind in ihren biografischen Zusammen-hang gestellt und umfassen neben Inhaltsangabe eine Analyse der musikdramatischen Struktur. Vervollständigt wird das kleine Buch noch durch ein Werkverzeichnis und ausgewählte biografi-sche Hinweise. Anita Pravits

Sabine Henze-Döhring Verdis Opern.

Ein musikalischer WerkführerMünchen: C. H. Beck 2013.

128 S.

Rolf BauerdickZigeuner.

Begegnungen mit einem ungeliebten Volk

München: DVA 2013. 349 S.

Page 48: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

45 Belletristik

ten. Gesellschaftliche Verantwortung fordert er sowohl von letzteren, als auch von Zigeunern ein. Bei aller Kritik an durch Roma selbst verursachten Missständen, ist jedoch offensichtlich, dass seine Sympathien bei der vielfach diskriminierten Min- derheit liegen. Bauerdicks Buch erntete in den Medien sowohl Lob als auch Kritik: die Abgrenzung gegenüber dem Rassismus sei nicht deutlich genug und die rechten Umtriebe würden zu wenig scharf an- geprangert. Der Autor stellt sich jedenfalls ins Kreuzfeuer einer gesellschaftlich aufgeladenen Debatte – und das ist mutig, interessant und ein Anreiz, neu über das «ungeliebte Volk» nach- zudenken. Veronika Freytag

Kann Töten erlaubt sein? Ein Soldat auf der Suche nach AntwortenMarc Lindemann

Die Frage, ob töten erlaubt sein könne, sind wir zu verneinen nahezu gezwungen. Dabei denken wir nicht nur an das fünfte der Zehn Gebote («Du sollst nicht morden»), vielmehr glauben wir uns

so zivilisiert, dass wir Streit und Missgunst auch ohne Tötung des anderen beilegen können. Von dieser bürgerlich-zivilen Ethik nimmt allerdings die in Lindemanns Buch behandelte Kriegsfüh-rung Abstand: hier geht es um technisch hochver-sierte, komplizierte und das hergebrachte Kriegs- recht in Frage stellende militärische Eingriffe – vornehmlich Einsätze unbemannter Drohnen ge- gen vermeintliche oder tatsächliche Terroristen. Die Information, über die der Autor verfügt, stammt aus erster Hand, Lindemann war in Afgha- nistan als Nachrichtenoffizier eingesetzt. Worüber wird aber im Buch verhandelt? Im herkömmlichen Krieg werden sämtlich verfügbare Taugliche einge- zogen und zur Feindbekämpfung ins Feld geschickt, gekämpft wird sprichwörtlich bis zum letzten Mann und um jeden Zentimeter. Doch befleißigen sich Strategen der jeweils aktuellen Technik, wes- wegen der Soldat aus «Fleisch und Blut», der «Uniformierte» zunehmend aus dem Blick gerät. Eine Tendenz übrigens, die mit der Technik des Pfeilbogens begonnen hat und sich fortentwickel-te bis zu Gewehr, U-Boot, Rakete und Bombe. Lindemann konzentriert sich allerdings auf den Drohnenkampf gegen Terroristen, auf «gezielte Tötungen» also. Mittels Drohnen sollen lediglich die Täter eliminiert werden, doch wer zitiert diese

Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft Otto Dov Kulka

Otto Dov Kulka ist gemeinsam mit seiner Mutter zuerst nach Theresienstadt und dann als Zehjäh- riger 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Dort überlebte er die zweimalige Liquidierung des so genannten «Familienlagers» von Auschwitz-Birkenau und den Todesmarsch im Jänner 1945. Später beschäftigte er sich als Historiker ausschließlich wissenschaftlich mit dem Holocaust. Über seinen persönlichen Bezug dazu hat er lange geschwiegen, biografische Elemente in seine Forschungen nie einfließen lassen. Die nun vorgelegten Texte basieren auf zwischen 1991 und 2001 entstandenen Tonbandaufzeichnungen. Darin geht der Autor fragmentarisch ins Gedächt-nis aufsteigenden Bildern und Erinnerungen nach; er betrachtet die staunende Weltsicht des Kindes, die sich einprägenden Eindrücke, die ihn sein ganzes Leben lang an das Erlebte binden. Gleichzeitig reflektiert er diese kindliche Sicht, indem er sie in einen größeren Zusammenhang einbindet und dafür eine literarische, metaphorische Sprache findet, die sich manchmal der kon-kreten Bedeutungszuweisung entzieht. Die metaphorischen Begrifflichkeiten wie «Metropole des Todes», «Kindheitslandschaften in Auschwitz» sind Teil eines Narrativs, das Kulka seine priva-te Mythologie nennt. Darin wird deutlich, dass selbst jemand, der in Auschwitz gewesen ist, an die Grenzen seiner Vorstellungskraft gerät, und dass Erinnerungen einen ausschnitthaften, erzäh-lenden Charakter haben. Das herauszustreichen ist die große Kunst dieses Buches und ermög-licht es einem, an diese unvorstellbare Vorstellungswelt Anschluss zu finden. Die prägendste Er- fahrung für Kulka war «das unabänderliche Gesetz des Todes», die unverrückbare Gewissheit, dort nicht lebend herauszukommen. Auch wenn er nicht die Stufen zur Gaskammer hinunter ge-schritten ist, verfolgt die Imagination dessen Kulka lebenslang. Ergänzt werden die Tonbandauf-zeichnungen durch Tagebucheinträge, Fotos, Illustrationen und einen Aufsatz über die Geschichte des «Familienlagers». In diesem schmalen Buch werden nur wenige Details aus Auschwitz berich-tet, durch die sehr persönliche und doch reflektierte Betrachtungsweise wirken sie intensiv nach. Weniger ein historischer Bericht als eine literarische Reflexion und darum für LeserInnen mit einem entsprechenden Interesse. Veronika Freytag

Otto Dov Kulka Landschaften der Metropole

des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der

Vorstellungskraft München: DVA 2013.

188 S.

Marc LindemannKann Töten erlaubt sein? Ein Soldat auf der Suche

nach AntwortenBerlin: Econ 2013.

250 S.

Page 49: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201446 Besprechungen

der Linguist ein Bild des Schreckens, der intellek-tuellen Unzulänglichkeit, einer auch vom Stand-punkt der Logik mehr als fragwürdigen Ideologie, eines absurden Totenkults (der Autor verweist mehrmals auf die dem Nazismus inhärente Nekro-philie) und einer verlogenen Propaganda, dessen Wurzeln in die Weimarer Republik und teilweise bis in die Zeit des Kaiserreiches zurückreichen. Der nationalsozialistische Sprachgebrauch ist demnach nicht als eine Sprache sui generis zu verstehen, sondern durchaus auch als Produkt ei- ner Entwicklung zu sehen. Mit Übernahme der Macht 1933 ändert sich dies und geht mehr und mehr in Richtung Euphemismus, Zynismus und schließlich unverhohlener Lüge, betrachtet man die Durchhalteparolen zu Kriegsende. Der Autor räumt der allgemeinen Semiotik des National- sozialismus großen Raum ein, indem er oft und präzise auf die nichtsprachlichen Aspekte des Nationalsozialismus hinweist: Inszenierungen von Reichstagen und sonstigen Parteiveranstaltun- gen, Bildsprache in Form von Plakaten, Fahnen, Gestik usw. spielen eine ebenso bedeutende Rolle wie die eigentliche Diktion der «Bewegung» (ein Beispiel für einen Euphemismus für NSDAP). Da- rin liegt auch die Stärke von Schlossers Text, der sich nicht an Germanisten und Linguisten wendet – sprachwissenschaftliche Analysen fehlen bis auf einfache Beispiele fast völlig, termini technici werden scheinbar bewusst spärlich verwendet

Täter zuvor vor Gericht? Wer spricht Gericht? Wer verbürgt, dass der Täter nicht ein Außenstehen- der ist? Letztlich: welcher Sieg ist damit errungen? Diese Fragen stellt der Autor und er konsta- tiert, dass der Feldzug der Drohnen einem Kampf gegen die Hydra gleicht, dass diesbezüglich das Völkerrecht eine «stumpfe Waffe» ist. Den Stand der Waffentechnik mag man bejubeln oder be- jammern, Tatsache ist, dass sie verwendet wird; Lindemann gibt sich diesbezüglich keiner Illusion hin, das letzte – hoffentlich vernünftige – Wort hat nach ihm die «Rückbesinnung auf die Real- politik, mit all ihren Schattenseiten, die so ungern ausgesprochen werden». – Ein aktuelles, lesens-wertes Buch. Andreas Agreiter

Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus Horst Dieter Schlosser

Schlosser, emeritierter Professor für Germanistik an der Goethe Universität Frankfurt am Main, unternimmt den Versuch die sprachlichen Eigen-heiten des NS-Regimes zu untersuchen und diese – wie der Untertitel weiter ausführt – in einen histo-rischen Kontext zu setzen. In 17 Kapiteln entwirft

Monuments Men. Die Jagd nach Hitlers RaubkunstRobert M. Edsel, Bret Witter

Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich der amerikanische Historiker Robert M. Edsel mit einem Kapitel des Zweiten Weltkrieges, das in der Forschung bisher wenig Beachtung gefunden hat, jedoch für das kulturelle Erbe Europas eine entscheidende Rolle spielte – den «Monuments Men». In den ersten Kriegsjahren, in denen die Nationalsozialisten im sogenannten Blitzkrieg weite Teile Westeuropas überrannten, kam es in den besetzten Gebieten Frankreichs, Belgiens und der Niederlande zu gewaltigen Raubzügen. Die Führungsriege der Nationalsozialisten, allen voran Adolf Hitler und Hermann Göring, versuchten, die wichtigsten Kunstschätze für sich persönlich beziehungsweise für das geplante Führermuseum in Linz zu sichern. In den USA und Großbritannien blieben diese Machenschaften nicht unbemerkt und führten zur Gründung der «Monuments Men», einer Spezialeinheit zur Auffindung geraubter Kunstschätze und Sicherung (kunsthistorisch) bedeutender Gebäude. Im Juni 1944 setzten nach der Landung der Alliierten in der Normandie auch etwa 15 britische und amerikanische Monuments Men nach Frankreich über und versuchten unter teilweise lebensgefährlichen Bedingungen verschwundene Kunstwerke aufzuspüren; Hilfe erhielten sie dabei von einigen Mitarbeitern französischer Museen, die während der Besatzungszeit ihr Leben riskiert hatten, um wesentliche Informationen zusam-menzutragen. Robert M. Edsel ist es in seinem über 500 Seiten umfassenden Sachbuch nicht nur gelungen einen strukturierten Überblick der Geschehnisse zu geben, sondern auch die Charaktere der einzelnen Monuments Men nachzuzeichnen, deren private Briefe die Lektüre bereichern. Durch die in den fak- tenreichen Text eingestreuten fiktiven Dialoge und die Zuspitzung der chronologisch erzählten Ereignisse auf den Showdown im Salzbergwerk von Altaussee liest sich das Werk stellenweise wie ein Thriller. Diesem Umstand ist wohl auch die Tatsache geschuldet, dass Hollywood bereits an einer Verfilmung von und mit George Clooney arbeitet. Carina Brandstetter

Robert M. Edsel, Bret Witter Monuments Men.

Die Jagd nach Hitlers RaubkunstSt. Pölten: Residenz 2013.

541 S.

Horst Dieter Schlosser Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des

Nationalsozialismus Köln: Böhlau 2013.

423 S.

Page 50: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

47 Belletristik

Energiequalität, dem eine kleine aber profunde Kochschule nach Schuhbeck (Lagerung, Vor- und Zubereitung) folgt. Danach kommt der umfang-reiche Rezeptteil, der neben einfach zu kochenden Speisen auch detaillierte Angaben zum Kalorien-gehalt sowie clevere Kombinationsmöglichkeiten anbietet. Abgerundet wird dieses wirklich emp-fehlenswerte Kochbuch mit einem übersichtlichen Sach- und Rezeptregister. Bettina Raab

«Der Franzi war ein wenig unartig»: Hofdamen der Habsburger erzählen Gudula Walterskirchen

Das Interesse an den Adels- und Herrscherhäusern der Welt ist nach wie vor ungebrochen. Auch der Buchmarkt scheint noch immer nicht gesättigt von einer unüberblickbaren Anzahl von mehr oder we- niger fachkundig recherchierten Biographien der bedeutendsten Königsfamilien; das im österreichi- schen Residenzverlag erschienene Büchlein über die Habsburger sticht aus der Masse der Produktio- nen positiv hervor. Die Historikerin und Journalistin Gudula Walterskirchen hat tief in den Familienarchiven ge- graben und höchst interessante neue Zeitdokumen- te und daraus resultierende Erkenntnisse ans Licht gebracht. Vor allem die adeligen Hofdamen und Erzieherinnen, dem Kaiserhaus oft freund-schaftlich zugetan, schrieben in Tagebüchern und Briefen allzu Menschliches und Privates aus dem Leben der ihnen anvertrauten Menschen. Persön-liche Meinungen und Stimmungsbilder bei Hof werden lebendig und der Leser kann einen Blick hinter die Fassade der offiziellen Geschichtsschrei-bung machen. Persönliche Vorlieben, Sympathien oder Eigenschaften werden offenbar, politische Entscheidungen können nach neuen Gesichts-punkten beurteilt werden. Persönliche Eindrücke und Aussagen rücken das offizielle Geschichtsbild ein wenig zu Recht oder zumindest in ein anderes, oft helleres Licht, sofern die Leserschaft über ein wenig historisches Hintergrundwissen verfügt. Eine Fülle von Anhängen in Form von lexikali-schen Begriffserklärungen, Zeittafeln, Stamm- bäumen und Literatur- bzw. Quellenverzeichnis-sen sowie einige ansprechende S/W-Abbildungen bieten zusätzliche Informationen und Anregun-gen für weiter vertiefende Lektüre. Alles in allem gelingt der Autorin ein auch für historisch wenig versierte Laien spannend geschriebenes, kurzwei-liges Werk, das nach Ende der letzten Seite Lust auf mehr macht. Sissy Schiener

und dem Laien immer auch erklärt – und damit dem Titel zuwider läuft, sondern dem Untertitel gemäß eine andere Geschichte dieser Zeit hin- sichtlich einer Sprache im weiteren Sinne zu er-zählen trachtet. Sprache unterm Hakenkreuz ist somit keine Lektüre für Fachleute, obwohl der Titel dies sug- gerieren mag, sondern wendet sich an den inte- ressierten Laien, der einen fundierten und breit- gefächerten Einblick in die Sprachregelung und Symbolik des «Dritten Reiches» (auch dieser Be-griff wird umfassend erklärt) erlangt. Markus Kóth

Die Schuhbeck-Diät. Iss dich schlank mit viel Energie und wenig Kalorien Alfons Schuhbeck

Gemeinsam mit den beiden renommierten Ernährungsexperten Michael Adolph und Marc Martignoni hat der Münchner Szenegastronom und Fernsehkoch Alfons Schuhbeck sein neues Buch Die Schuhbeck-Diät herausgebracht. Mit dieser Schlankheitskur soll es Abnehmwilligen leicht gelingen, sechs Kilo in sechs Monaten abzunehmen – und zwar ohne den gefürchteten Jojo-Effekt. Das Konzept hinter seiner Diät ist die sogenannte «Energiequalität» von Nahrungs-mitteln: Schuhbeck bewertet ein Lebensmittel demnach nicht nur nach dem Kaloriengehalt und Geschmack, sondern auch nach seiner Energie-qualität (Vitalstoffe, Vitamine, Mineralstoffe, un- gesättigte Omega-3-Fettsäuren, ... ). Befolgt man außerdem noch seine vier Grundregeln: « ...Er- nährungsgewohnheiten umstellen, sich satt essen, sich mehr bewegen und einen langen Atem haben», so steht laut dem Koch der Fußballmann-schaft des FC Bayern München einem Abnehm- erfolg nichts mehr im Wege. Der Grundtenor des Buches geht dahin, kalorien- arme, aber dennoch schmackhafte Gerichte zu- zubereiten. Durch den Einsatz frischer Lebensmit-tel von bester Qualität wird aus der Diät eine ge-nussvolle Zeit ohne freudlose Magenfüller. Neben den erstklassigen Grundprodukten legt Schuhbeck großen Wert auf den gezielten Einsatz von Gewür- zen zur Anregung des Stoffwechsels und zur Unter- stützung der Fettverbrennung; nicht ganz uneigen-nützig, schließlich betreibt er in seinem Imperium einen gutgehenden und wohlsortierten Online-handel mit Feinkost und Gewürzen. Die Aussicht auf Erfolg sieht der Autor vor allem in einer sanf-ten, doch nachhaltigen Stoffwechselumstellung. Durchaus humorvoll gelingt dem Fernsehkoch die Motivation der Leser, oder um es mit Schuhbeck zu sagen: «Ran an den Speck, pack mas!» Das Buch ist gegliedert in einen sehr informa-tiven Teil mit Basisinformationen zum Thema Ernährung und einem theoretischen Kapitel zur

Alfons Schuhbeck Die Schuhbeck-Diät.

Iss dich schlank mit viel Energie und wenig Kalorien

München: Zabert Sandmann 2013. 168 S.

Gudula Walterskirchen «Der Franzi war ein wenig

unartig»: Hofdamen der Habs- burger erzählen

St.Pölten: Residenz 2013. 253 S.

Page 51: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Winter 2013/201448 Besprechungen

Extremwelten. Unser unfassbares Universum von unendlich klein bis unendlichDavid Blatner

In David Blatners aktuellem Buch geht es um das Unfassbare im wahrsten Sinne des Wortes, um das, was den Sinnen des Menschen (bestimmten Tierarten hingegen sehr wohl) nicht mehr zugäng-lich ist. Anhand der sechs Spektren Größe, Licht, Schall, Wärme, Zahlen und Zeit wird durchde-kliniert, was einfach zu groß, zu klein, zu laut, zu leise etc. ist. Das Buch ist wunderschön gemacht, die graphi- schen Darstellungen sind wirklich anschaulich – etwa wenn es um die Illustrierung der vor den Maß- angaben stehenden Vorsilben (mega, femto, nano etc.) geht, neben dem Text sind immer wieder ge- scheite und unterhaltsame Zitate zu finden, die die Lektüre auflockern, aber nicht stören. Beschei-den hingegen fällt mit insgesamt neun Titeln das Literaturverzeichnis aus, davon sind noch vier in englischer Sprache. Hier vermisst man die Sorg-falt, die der Verlag für die optische Gestaltung des Buches aufgewandt hat, schmerzlich. Man könnte mit der Neuen Zürcher Zeitung von immenser Informationsdichte sprechen, die das Buch bereitstellt, man könnte aber auch einwen-den, dass die vielen geballten Informationen auf Dauer ein wenig ermüden; denn obwohl sich der Autor um einfache und unterhaltende Sprache bemüht, sind einige seiner Beispiele nicht einfach zu verstehen und fordern den LeserInnen einiges an Konzentration ab. Das Enumerative des Buches erinnert den Rezensenten an eine Art «Best of» oder das Guiness-Buch der Rekorde. Für die einen mögen die Vergleiche des Autors tatsächlich das Unvorstellbare veranschaulichen, für die anderen bleibt ein Lichtjahr trotz oder vielleicht sogar ge- rade wegen der mitunter etwas weit hergeholten Größenvergleiche ein Mysterium: wenn die Er- de ein Punkt am Ende des Satzes ist, dann ist der nächste Stern 1 500 Kilometer entfernt; für den Rezensenten liegt das Problem hier im Extrapolie-ren, nicht in der Vorstellung der 1 500 Kilometer. Rainer Grill

Wenn ich mit meiner Katze spiele – woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt? Montaigne und die Fragen des LebensSaul Frampton

Es gibt Gedanken, die zwar alt an Jahren, aber dennoch aktuell sind. Der Buchmarkt reagiert darauf und legt «Klassiker» und verloren Geglaubtes neu auf; in diesem Sinn bemüht sich der Brite Saul Frampton um die Aktualität eines Geistes, der wohl nie in Vergessenheit geraten ist – Michel de Montaigne. Im Alter von 38 Jahren beschließt Michel de Montaigne sein öffentliches Amt als Richter zurückzulegen, um sich der Muße und der Schriftstellerei zu widmen. Montaigne wurde in eine unruhige Zeit hineingeboren, Religions-kriege verwüsteten Europa, die Korruption grassierte. Auch diese Umstände wurden in seinen Essais thematisiert, in denen er seinen Humanismus dokumentiert. Ein friedliches und würdevolles menschliches Dasein ist erst dann möglich, wenn Autoritäten und Dogmen suspendiert werden; die letzte Instanz ist somit das denkende Subjekt, das stets skeptisch seine Meinungen und Ansichten zu revidieren hat. Saul Frampton liefert mit seinem Buch über den großen Franzosen nicht nur eine gelun- gene Biographie, es ist auch eine Einführung in Montaignes Denken vor kulturhistorischem Hintergrund. Montaignes Überlegungen sind – weil lebensweltlich aus eigenen Erfahrungen geschöpft – nach wie vor aktuell, Frampton bie- tet eine fundierte Hinführung zu diesem Geist, die sich weder anbiedert noch glorifiziert. Andreas Agreiter

David Blatner Extremwelten. Unser

unfassbares Universum von unendlich klein bis unendlich

Aus dem Engl. München: Berlin Verlag 2013.

191 S.

Saul Frampton Wenn ich mit meiner Katze

spiele – woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt?

Montaigne und die Fragen des Lebens

München: Knaus 2013. 319 S.

Page 52: Besprechungen Berichte und Rezensionen aus den Büchereien … · Dom Casmurro als eine Figur, die für Brasilien eine ähnliche Bedeutung hat wie David Copperfield für England.

Impressum

Medieninhaber und VerlegerVerein der Freunde der Büchereien Wien, unterstützt von der Magistratsabteilung 13 und dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur. Für den Inhalt verantwortlich: Markus Feigl

Redaktion Monika Reitprecht

Adresse der RedaktionUrban Loritz-Platz 2a, 1070 WienT +43-1-4000-845 [email protected]

Grafische GestaltungMartha StuttereggerDesignassistenzLaurenz Feinig

Büchereien Wien – Standorte

Zirkusgasse: 1020, Zirkusgasse 3, T 01-4000-02165 oder 0676-8118 63804, [email protected]

Engerthstraße: 1020, Engerthstraße 197/5, T 01-4000-02 161 oder 0676-8118 63840, [email protected]

Erdbergstraße: 1030, Erdbergstraße 5–7, T 01-4000-03 161 oder 0676-8118 63812, [email protected]

Fasanviertel: 1030, Fasangasse 35–37, T 01-4000-03168 oder 0676-8118 63805, [email protected]

Rabenhof: 1030, Rabengasse 6, T 01-4000-03 165 oder 0676-8118 63807, [email protected]

Wieden: 1040, Favoritenstraße 8, Eingang Paulanergasse 1, T 01-4000-04 161 oder 0676-8118 63806, [email protected]

Margareten: 1050, Pannaschgasse 6, T 01-4000-05 161 oder 0676-8118 63808, [email protected]

Mariahilf: 1060, Gumpendorfer Straße 59–61, T 01-4000-06161 oder 0676-8118 63810, [email protected]

Hauptbücherei am Gürtel: 1070, Urban-Loritz-Platz 2a, T 01-4000-84500, [email protected]

Alsergrund: 1090, Simon-Denk-Gasse 4–6, T 01-4000-09161 oder 0676-8118 63813, [email protected]

Per-Albin-Hansson-Siedlung: 1100, Ada-Christen-Gasse 2, T 01-4000-10168 oder 0676-8118 63815, [email protected]

Hasengasse: 1100, Hasengasse 38, T 01-4000-10 165 bzw. 10 166 oder 0676-8118 63814, [email protected]

Laxenburger Straße: 1100, Laxenburger Straße 90a, T 01-4000-10 161 oder 0676-8118 63816, [email protected]

Im Bildungszentrum Simmering: 1110, Gottschalkgasse 10, T 01-4000-11 165/66 oder 0676-8118 63818, [email protected]

Am Leberberg: 1110, Rosa-Jochmann-Ring 5, T 01-4000-11 162 oder 0676-8118 63819, [email protected]

Am Schöpfwerk: 1120, Am Schöpfwerk 29, T 01-4000-12 164 oder 0676-8118 63821, [email protected]

Philadelphiabrücke: 1120, Meidlinger Hauptstr. 73, Einkaufszentrum Arcade Meidling, T 01-4000-121 60, [email protected]

Hietzing: 1130, Hofwiesengasse 48, T 01-4000-13161 oder 0676-8118 63826, [email protected]

Penzing: 1140, Hütteldorfer Straße 130d, T 01-4000-14 161, [email protected]

Breitnerhof: 1140, Linzer Straße 309, T 01-4000-14165 oder 0676-8118 63827, [email protected]

Schwendermarkt: 1150, Schwendergasse 39–43, T 01-4000-15161 oder 0676-8118 63832, [email protected]

Meiselmarkt: 1150, Hütteldorfer Straße 81a, T 01-4000-15165 oder 0676-8118 63831, [email protected]

Sandleiten: 1160, Rosa-Luxemburg-Gasse 4, T 01-4000-16161 oder 0676-8118 63835, [email protected]

Ottakring: 1160, Schuhmeierplatz 17, T 01-4000-16165 oder 0676-8118 63836, [email protected]

Hernals: 1170, Hormayrgasse 2, T 01-4000-17 162 oder 0676-8118 63839, [email protected]

Währing: 1180, Weimarer Straße 8, T 01-4000-18 161 oder 0676-8118 63841, [email protected]

Billrothstraße: 1190, Billrothstraße 32, T 01-4000-19 162 oder 0676-8118 63853, [email protected]

Heiligenstadt: 1190, Heiligenstädter Straße 155, T 01-4000-19165 oder 0676-8118 63843, [email protected]

Pappenheimgasse: 1200, Pappenheimgasse 10–16, T 01-4000-20161 oder 0676-8118 63847, [email protected]

Leystraße: 1200, Leystraße 53, T 01-4000-20165 oder 0676-8118 63845, [email protected]

Schlingerhof: 1210, Brünner Straße 36, T 01-4000-21161 oder 0676-8118 63848, [email protected]

Großjedlersdorf: 1210, Brünner Straße 138, T 01-4000-21163 oder 0676-8118 63852, [email protected]

Großfeldsiedlung: 1210, Kürschnergasse 9, T 01-4000-21165 oder 0676-8118 63850, [email protected]

Donaustadt: 1220, Bernoullistraße 1, T 01-4000-22 161 oder 0676-8118 63849, [email protected]

Stadlau: 1220, Erzherzog-Karl-Straße 169, T 01-285 65 51 oder 0676-8118 63846, [email protected]

Kaisermühlen: 1220, Schüttaustraße 39, T 01-4000-22164 oder 0676-8118 63803, [email protected]

Aspern: 1220, Siegesplatz 7, T 01-4000-22168 oder 0676-8118 63851, [email protected]

Alterlaa: 1230, Anton-Baumgartner-Straße 44 (Wohnpark Top 48), T 01-4000-23165 oder 0676-8118 63856, [email protected]

Liesing: 1230, Breitenfurter Straße 358, T 01-4000-23 161 oder 0676-8118 63854, [email protected]

Verein der Freunde der Büchereien Wien

Bildnachweis S. 1 und 3 © Frankfurter Buchmesse / Alexander HeimannUmschlagabbildung © Thomas Guignard

www.buechereien.wien.atwww.kirango.atwww.virtuellebuecherei.wien.at

www.facebook.com/buechereien.wien

www.twitter.com/buechereiwien