Bibliothekarisches Blitzlicht Nr. 3

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  • 8/7/2019 Bibliothekarisches Blitzlicht Nr. 3

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    Trauung. So geht Stanislaw Wyspianski gleich nach der Predigt in die Bibliothek des Joachim Jungius,

    die sich praktischerweise gerade in unmittelbarer Nhe zur Kirche befindet. Als Stanislaw Wyspianski

    zur nahe gelegenen S-Bahn-Haltestelle hinber blickt, berlegt er sich, ob er nicht einfach mal spontan

    mit der S7 nach Marzahn fahren sollte, um einen Abstecher bei seiner geliebten Cindy zu machen.

    In diesem Kontext beginnt er eifrig nachzudenken, welche Beitrge zum Vereinigungsprozess und zur

    Hauptstadtdiskussion er persnlich liefern kann. Man kann sagen: Historiker betrachten Deutschland,

    Stanislaw Wyspianski betrachtet Cindy. Angesichts dieser betrchtlichen Besinnlichkeit widmet er sich

    in der Bibliothek den schwer zu entziffernden Niederschriften eines Kulturnomaden und trumt bereits

    nach wenigen Augenblicken von vergessenen Frauen an der Ruhr von Herrscherinnen und Hrigen,

    Hausfrauen und Hexen, von Heiligen und Huren, Hschen und Hynen. Er versinkt unaufhaltsam in

    diesen lieblichen Trumen, bis eine weniger liebliche Stimme ertnt: "Hallo, jenau Sie da! Hrn'se ma!

    Nchste Woche knn'se hier weiter trumen. Jetz heit et aber Aus die Maus, Schicht im Schacht, wa!"

    So endet fr ihn auch der zweite Akt in einem herben, ja geradezu retraumatisierenden Lebensgefhl.

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    Stanislaw Wyspianski, der ganz in Gedanken verloren auf der Strae steht, wird auf knallharte Weisemit der krass-konkreten Realitt des Alltagslebens konfrontiert und mehrere Male von beraus erbos-

    ten Verkehrsteilnehmern auf den Straenverkehrsfall in der praktischen Abwicklung hingewiesen, vor

    allem als er auf dem Zebrastreifen seinen frheren Arbeitskollegen Volker Kluge antrifft, der ihm allerlei

    Neuigkeiten ber das deutsche internationale Steuerrecht anvertraut. Ein wenig spter betritt ein junger

    Mann den Zebrastreifen und fragt in einem eindringlich-forschenden Tonfall: "Na, kennen Sie Herzberg?

    Mein Name ist Richard Kerler und ich frage Sie: Kennen Sie Herzberg?!". Aber niemand ahnt bei die-

    ser etwas berraschenden Frage, dass dieser Richard Kerler Management-Klassikern auf der Spur ist.

    Stanislaw Wyspianski kann nicht anders als ein Stck seiner persnlichen Lebenserfahrung mit ihm zu

    teilen. So spricht er zu ihm in einem patriarchalisch-frsorglichen Tonfall: "Jetzt hr mal, mein Junge!Shne wollen Vter. Shne wollen sich selbst behaupten wider die weibliche Umklammerung."

    Der ungeplante Aufenthalt auf dem Zebrastreifen entwickelt inzwischen gewisse Zge von Erlebnis-

    pdagogik, sptestens als mehrere Schaulustige auf einer nahe gelegenen Verkehrsinsel stranden und

    immer deutlicher den Nutzen von Gedchtnistraining fr ein Altern mit lebenswerter Zukunft erkennen.

    Durch solche revolutionren Erkenntnisse inspiriert, kramt Stanislaw Wyspianski mitten auf der Strae

    aus seiner Umhngetasche einen Notizblock hervor und beginnt einen Text zu schreiben, dessen Titel

    "Mein Weltleben" eine ausgeprgte Umfnglichkeit vermuten lsst. Unablssig schreibt er vor sich hin

    und schreibt und schreibt, whrend der hinkende Gott alias Stefan Andres ein abendlndisches Lied

    von Georg Trakl singt und in seinem Gesangsvortrag ungefragt von dem permanent umher schlurfen-den Hausierer begleitet wird. Natrlich ist auch wieder dieser schaulustige Peter Handke zur Stelle

    vor allem als Stanislaw Wyspianski whrend einer kurzen Verschnaufpause von seiner unermdlichen

    Schriftstellerei vor der zahlreich versammelten Verkehrsgemeinde sich selbst das Ja-Wort gibt.

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    Direkt nach diesem dritten und letzten Akt wechselt der Schauplatz des Geschehens. Nun spielt alles

    pltzlich in Limburg. Stanislaw Wyspianski schaut verdutzt aus der Wsche, whrend Regula Venske

    gensslich das Verschwinden des Mannes in der weiblichen Schreibmaschine beobachtet. Nachdem

    sowohl Peter Handke mit seinem Hausierer als auch Stanislaw Wyspianski gnzlich in der weiblichen

    Schreibmaschine verschwunden sind, ist es endlich so weit: Nach unzhligen Jahren systematischer

    Ungewissheit darf nun Dora Linds Geheimnis gelftet werden: In weiser Voraussicht, dass Stanislaw

    Wyspianski sich selbst das Ja-Wort geben wrde, hatte sie ihm nmlich damals ihr Nein-Wort gegeben.