Blumenberg, Selbsterhaltung & Beharrung

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ADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER UTERATUR ABHANDLUNGEN DER GEISTES- UND SOZIALWISSE SCHAFTLICHEN KLASSE JAHRGANG 1969 · NR. 11 Selbsterhaltung und Beharrung Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität von HANSBLUMENBERG VERLAG DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR IN MAINZ IN KOMMISSION BEI FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN

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Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung (Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1970)

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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER UTERATUR

ABHANDLUNGEN DER

GEISTES- UND SOZIALWISSE SCHAFTLICHEN KLASSE

JAHRGANG 1969 · NR. 11

Selbsterhaltung und Beharrung Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität

von

HANSBLUMENBERG

VERLAG DER

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR IN MAINZ

IN KOMMISSION BEI FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN

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Vorgelegt in der Plenarsitzung am 11. Oktober 1969,

zum Druck genehmigt a.m selben Tage, ausgegeben a.m 18. Mär-z 1970

© 1970 by Akademie der Wissenschaften und der Literatw·, Mainz

DRUOK:L.O.�TTIOH,DARMSTADT

Printed in Germany

Es gibt Begriffe, die für eine geschichtliche Formation dieselbe Bedeu­tung haben wie Leitfossilien für eine geologische. Für die frühe Neuzeit ist von solcher Signifikanz der Begriff der Selbsterhaltung. Schon W. DILTHEY hat auf seine zentrale Stellung im natü1·lichen System des J 7. Jahrhundorts in der Abhandlung über Autonomie und konstruktiven Rationalismus aus dem Jahre 1893 nachdrücklich hingewiesen 1, hat sich aber durch die These der Herkunft aus der Stoa.-Rezepbion den Blick für die mögliche Authentizität verbaut. Deutlicher hat D. HENRICH in einer kurzen Be­merkung2 auf den Zusammenhang mit der Auflösung der scholastischen Tradition und dem Abbau des 'l'eleologieprinzips aufmerksam gemacht: Det· Selbstet·haltungstrieb ist die ext1·eme Gegeninstanz Z'U aller anthropologi· sehen Teleologie. Denn er ist der einzige s1wjektive Bewegungsimp�il.s, der kraft seine?· Definition auf kein Ziel aus ist. In der Psychologi� ist er der Vorgänger von Newtons· Beharrungskraft ( vis inertiae), jener Kraft, welche die Physik endgültig von der a1·istotelischen Teleologie de�· · ,natü?"lichen Orter·' bef1·eit lwt. Die Versuche einer Begrftmdung der Ethik, die auf llobbu folgten, sind alle auf ihn bezogen . . . Obwohl in dieser These der biologisch· psychologische ,Selbsterhaltungstrieb' als ,Vorgänger' des Beharrungs­prinzips beha.uptet wird - also die organische Metaphorik der stoisohon Tradition noch gültig bleibt -, \vird die Unvereinbarkeit mit DILTHE'YS Deszendenzbehauptung daran erkennbar, daß der Neustoizismus in reichem Maße Teleologismen heranführt und konserviert, die HENRICllS These nach doch gerade im Begriff der Selbsterhaltung eliminiert worden sein sollen. R. SP AEMANN hat dann eingehender den Begriff der Selbst­erhaltung als lnve�·sion der Teleologie da:rzustellen gesucht3. Diese Inver-

' Weltamchauung 1m.d Analyse des ll:fen.sclten seit Renaissance und Reformat'icm. (Ges. Sehr. II, 283-292).

�Der Begriff de1· sittlichen Einrieht und K-ants Lehre '!:om Faktu:r"' der Vermmjt. In: Die Gegenwart der (b-iechen irnneueren Denken. Tübingen 1960, 91.

9 Reflexio?� 'Lm4 Spontane.i.tät. St1J.dien iiber li'enelon. Stuttgart 1963, 53 :ff. Bei FE:NELON, auf dosson Interpretation S:PAEMANNS begriffsgeschich�Lioher Rekurs an­gelegt ist, findet sich zum Ausdrucksfeld der "Erhaltung" (zu dom neben "conser­vare" vot· allem "perseverare" als Intransitivurn gehört) auch die scholastische "inclinatio", die vor allem "inclinatio ad quietem" der Bewegungstheorie gewesen war, wieder: L'inclinatüm pOUI" etre het+1"eu.--e, n'est dorw qu'une 8uite de l 'indination qu'on a pour corl.9ervet• son &l·e et aa vie.

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sion erweist sich aber als bloße Reduktion der aus der aristotelisch­scholastischen Metaphysik stammenden Unterscheidung von Mtus primus und adus secundtus. Nach dieser Reduktion ist alle Tätigkeit nicht mehr sekundäre Steigerung eines vorgegebenen Daseins zu seiner möglichen Pe1fektion, sondern als Tätigkeit immer ausschließlich auf dieses Da.�ein als solches bezogen m1d in dessen Erhaltung aufgehend. Erhaltung ist nicht mehr das Minimum an Voraussetzm1gen für alles Weitere, realitas

nicht die bloße Bedingung von perjectio, sondern sie ist der Inbegriff mög­licher Zwecke jenes Weiteren, aller Verwirklichungen und Handlungen also. So läuft diese Reduktion auf die Formol SPINOZAS zu, nach der realitas un.d perfedio ein und dasselbe sind.

CAMPANELLA, auf deo S!'AEl\!ANN verweist, hat das noch in die traditio­nelle Ethik hinein formuliert: Oonservatio igitut· summ um bomtm est rerum o1nnium. AufErhaltung wird das ,höchste Gut' reduziert- aber was ist das für eine Erhaltuug? CaMPANELLAS Theorie der Gottesliebe gibt darauf Antwort: diese mit der Selbstliebe zur Identität verschmelzEmde Liebe gilt demjenigen, qui dat nobis esse et conservat et perpetuare potest. Dabei wird deutlich, daß bei aller ZentrierUJ.1g des lebendigen Interesses auf die Erhaltung des Selbst die Leisttmg dieser Erhaltung von außen kommt und passiv empfangen wird, daß conservatio also noch ganz dem mittelalterlichen Kontingenz-Kontext zugehört. Von hier führt kein Weg der bloßen Entfaltung oder Anreicherung zu SPINOZA, denn bei diesem ist Gottesliebe nicht die Bedingung der Erhaltung, sondern Manifestation der Selbsterhaltung als des Inbegriffs dessen, was das Seiende aus sich selbst als seinen 1nodus schon immer hat und nicht oinma.l zu leisten braucht.

Die Begriffsgeschichte von ,Selbsterhaltung' ist weder aus der stoischen Rezeption noch aus der Reduktion aristotelisch-scholastischer Teleologie und Actus-Lehre zureichend darzustellen. Gerade wenn man, wie D. HEJ).'l!.ICR, den begriffsgeschichtlichen Prozeß auf die vis inertiae zulaufen sieht, muß man auf die nur noch metaphorische Rolle achten, die der Kraftbegriff hier hat. Schon NEWTONS erstes Bewegungsgesetz bezieht den Begriff der Kräfte rein negativ auf das perseverare i n statu suo und positiv ausschließlich auf das statum su1mL mutare. Das allein ist SPINOZAS meta­physische Position, physikalisch ausgedrückt. Es ist nicht nur ein neues rationales Prinzip unter anderen, es ist das Prinzip der neuen Rationa.Iität selbst.

Gelegentlich verhelfen zweitrangige Texte, gerade weil sie präparativ verfahren, dazu, einen Sachverhalt schärfer wahr.Gunehmen. Auf einen solchen, noch dazu späten Text möchte ich hinweisen, ehe ich das be-

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Selbsted1altung Wld Beharrung

griffsgeschichtliche Problem des Verhältnisses von antiker Rezeption und scholastischer Destruktion wieder aufnehme.

I.

Der Artikel Oonservation im vierten Band der französischen Enzyklo­pädie, erschienen im Jahre 1754, ist von FoRMEY geschrieben. Dieser in

Berliu geborene Franzose gehört zu den organisierenden, Wissenschaft erstmals verwaltenden Geistern des 18. Jahrhunderts. Der führende Kopf der LErBNIZ-WOLFF-Schule hatte unabhängig von DmEROT den Plan eines Universallexikons gefaßt, dann aber seine Vorarbeiten dem fran­zösischen Unternehmen zur Verfügung gestellt und sich wiederum mit dem Plan zu dessen deutscher Übersetzung begnügt. So taucht der stän­dige Sekretär der Preußischen Akademie, der Verfasser der sechsbändigen "Belle Wolffienne", den RouSSEAU in den Fußnoten zum "]�mile" ver­spotten �ird, als l\1:itautor der französischen Enzyklopädie auf. Die Machart des Artikels Oonservation ist charakteristisch für den unent­schiedenen Eklektiker, der z u LEIBNIZ und vVoLFF noch eine Dosis HuME hinzutat, der aber doch seine Tcndonz im versuchten Gleichgewicht der Autoritäten nicht zu verhehlen vermochte.

Der .AJ:t,ikel geht in der Argumentation von sehr konventionellen meta­physiseben Positionen aus und läßt nur in der A.kzentuierung erkennen, daß seine Funktion nicht mehr der Provenienz seiner Argumentation ento;pricht. Der Ausdruck conservation ist transitiv, :nicht reflexiv ge­braucht. Erhaltung ist das primäre Bedürfnis der Geschöpfe, das sie sich gleichsam nicht selbst erfüllen können, hinsichtlich dessen sie auf eine Handlung Gottes angewiesen sind: On voit bien que toute creature a besoin d'etre conservee. Dieser elementare Sachverhalt hat zwei Auslegungsmög­licbkeiten. Die eine ist die für den Verfa-sser durch DESCARTES repräsen­tierte Lehre von der creation continuee. Die Welt ist nicht nur aus dem Nichts entstanden, sondern sie muß ffu· jeden Augenblick ihres Besteheus in ihrem Bestand gegen den Rückfall in das Nichts verteidigt werden. Diese ständige schöpferische Aktivität wird verglichen mit der mensch­lichen Imagination, deren Bilder nur so lange Bestand und Präsenz haben, wie die Einbildungskraft tätig ist und sie im Dasein erhält. Der Vergleich schließt den beliebten Gedanken des Kunstwerks als dauernder Mani­festation der Einbildungskraft in Analogie zur Weltschöpfung aus. Was im ersten Augenblick seiner Existenz bedingt ist durch den schöpferischen .Akt, bleibt es aus Mangel an innerer Notwendigkeit für jeden weiteren Augenblick seines Bestehens. Die Indifferenz alles Wirklichen zu seiner

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Existenz erfordert den ihm äußerlichen Grund für seine Dauer, so wie im Modell der aristotelischen Bewegungstheorie der bewegte Körper die be­gleitende Kausalität der vis motrix für jeden Moment des Bewegungsab­laufes notwendig macht. Daß an dieser Stelle die scholastische Position der creatio continua durch DESCARTES repräsentiert wird, erscheint uns vielleicht befremdlich, kennzeichnet aber vorzüglich die Abblendung des ganzen mittelalterlichen Hintergrundes der neuzeitlichen Ideengeschichte für das 18 . Jahrhundert. Die Art, wie FüRMEY mit seinen Materialien ver­fährt, erinnert an die methodische Notwendigkeit, die Wahl seiner Autoritäten wirkungsgeschichtlich zu bewerten. Dabei wird DESCARTES weitgehend zum Repräsentanten spätmittelalterlicher Positionen für die Neuzeit, was vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Cartesianis­mus und Newtonianismus in Frankreich zutagetritt. Auch um SPINOZA zu verstehen, ist dieser Hinweis auf die Wirkung DESCARTES' mit einem derart mittelalterlichen Element aufschlußreich.

In der dritten Meditation setzt DESCARTES zu seinem Gottesbeweis derart an, daß er in der Selbstanalyse des menschlichen Bewußtseins den Begriff eines Wesens findet, das sein Dasein nicht sich selbst zuzuschreiben vermag. \Venn sich dieser Gedankengang aber auf den bloßen einmalig­zeitlichen Ursprung bezöge, ließe sich ein Bewußtsein konstruieren, das sich mangels Erinnerung an seinen Anfang für schon immer existierend hält und dem die Frage nach seinem Urheber unbekannt bleiben könnte.

Dieser dem Bewußtseinsstand rein deskriptiv abgewonnene Einwand veranlaßt DESCARTES, auf die Idee der creatio continua zurückzugreifen, und zwar durch eine atomistische Theorie der Zeit, nach der jeder Augen­blick eines Seienden kontingent gegenüber dem vorhergehenden und dem folgenden istl. Für die Reflexion ergibt sich daraus, daß ich eben noch existiert habe, keineswegs, daß ich jetzt existieren muß. Dafür muß viel­mehr eine Ursache beigebracht werden, die mich für diesen Augenblick gleichsam erneut erschafft - und nichts anderes bedeutet die Aussage : mich im Dasein erhält. Diese Überlegung erweist sich nur als die Konse·· quenz der präsentischen Punktualität des cartesischen cogito ergo sum. Ausdrücklich wird gesagt, daß creatio und conservatio sich nur als ver­schiedene Aspekte derselben Sache erweisen : aus der Natur der Zeit folgt, daß die Dauer eines Gegenstandes derselben Ursächlichkeit (vis, actio) bedarf wie sein Anfang in der Zeit . Konsequent kann Selbsterhaltung nur

1 Meditationes III 3 1 (ed. ADAM-TANNERY VII 53) : quoniam enim omne tempus vitae in partes innumeras dividi potest, quarum singulae a reliquis nullo modo depen­dent, ex eo quod paulo ante jue1·im non sequitU1· me nunc debere esse, nisi aliqua causa me quasi rursus creet ad hoe momentum, hoc est me eonservet.

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einem Wesen zugeschrieben werden, das auch für sich selbst ursächlich wäre, einem Gott also. Das meditierende Bewußtsein findet in sich nichts von einer Kraft, die ihm die Gewißheit, jetzt zu existieren, als Gewißheit, auch zukünftig zu existieren, verbürgen könnte : nichts von einer vis per se existendi1•

DESCARTES diente diese Erwägung nur zur Absicherung seines Gottes­beweises und damit der Gegebenheit der physischen Außenwelt. Aber zu­gleich ist doch bei ihm vorgezeichnet, worauf es für die Begriffsgeschichte von "Selbsterhaltung" künftig ankommen würde : nämlich sie als unab­hängig von der Bedingung der Selbsterzeugung ( causa sui) zu begreifen. Anders ausgedrückt : DESCARTES zeichnet vor, welche Art von Wider­spruch gegen die von ihm noch angenommenen scholastischen Voraus­setzungen der passiven Welterhaltung möglich ist. Man kann deutlich sehen, daß sich SPINOZA innerhalb dieser Vorzeichnung hält und sie in einer bestimmten Richtung spezifiziert.

FoRMEY, der Prediger der französischen reformierten Gemeinde in Berlin, nimmt an der ihm von DESCARTES dargebotenen Theorie der creatio continua ein ganz anderes Interesse. Ihre Pointe erscheint ihm als theologisch, als systematischer Ausdruck für das Maximum der Herrschaft Gottes über seine Geschöpfe und für das Minimum der Mächtigkeit dieser Geschöpfe über sich selbst : Nous ne sommes rien de nous-rneme. Dieu est taut. Wie weit sich diese theologische Pointe von der genuin christlichen entfernt hat, läßt sich dahin formulieren, daß die Metaphysik der conser­vatio den eschatologischen Grundgedanken geradezu umkehrt : nicht eine am Ende aller Geschichte stehende Gewalttat Gottes gegenüber der Welt zerstört deren Existenz oder wandelt sie, sondern die Welt ist in jedem Augenblick der Vernichtung verfallen, sofern sie nicht durch einen expli­ziten Gegenakt des göttlichen Willens davor bewahrt wird. Vernichtung ist ihre immanente Tendenz, Erhaltung die transzendente Gegenwirkung. Nous avons besoin a chaque moment, non d'une simple permission qu'il nous donne d'exister, rnais d'une operation efficace, reelle, et continuelle qui nous preserve de l' aneantissernent.

FoRMEY verschweigt jedoch nicht die bestürzenden Konsequenzen dieser metaphysischen Position für das Selbstverständnis des Menschen. Mit geschickter Unverfänglichkeit bedient er sich einiger Zitate aus den

1 aaO III 32 : . . . si quae talis vis in me esset, ejus p1·ocul dubio eonscius essem . . . Da das Oogito nichts anderes als "Bewußtsein" ist, muß ihm jede seiner aktiven Mög­lichkeiten "bewußt" sein; deshalb geht der ganze Gedankengang vom Begriff der Zeit - ohne Rücksicht auf die Existenz physischer Körper - aus, weil Zeit als rein "innere" Gegebenheit des Bewußtseins genommen wird.

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Artikeln Pyrrhon, Pauliciens und 1Yf anicheens des Dictionnaire PIERRE BAYLES, um die Unmöglichkeit der menschlichen Freiheit und Selbst­verantwortlichkeit unter den Voraussetzungen der Kontingenz-Metaphy­sik zu zeigen. Wenn jeder Akt des Geschöpfes seiner Möglichkeit nach zugleich Akt des Schöpfers sein muß - die concursus-Theorie erweist sich nur als eine Spezifikation der creatio continua-These -, dann wird Theo­dizee unmöglich. Dieses Argument ist wiederum aufschlußreich, weil es nicht das anthropologische, sondern das theologisch-metaphysische Interesse akzentuiert. Ironischerweise erscheint der Artikel FoRMEYs ein Jahr vor dem Beginn der Krise aller Theodizee-Versuche durch das Erd­beben von Lissabon und den literarischen Gebrauch, den VoLTAIRE von diesem Ereignis machte.

Dieses Interesse an der Möglichkeit der Theodizee scheint auf die alter­native Position hinzudrängen, die hier unter dem Namen von PIERRE PoiRET (1646-17 19) steht. Man darf sich auch in diesem Falle nicht daran stoßen, daß der Enzyklopädist das, was er sachlich vorzubringen hat, mit einem historisch verhältnismäßig beliebigen, auf jeden Fall nicht die Authentizität des Gedankens vertretenden Namen verbindet. Immerhin war, bei allem Mangel an philosophischer Originalität, dieser vielgelesene Verbreiter zeitgenössischer Damenmystik (ANTOINETTE BouRIGNON, JEANNE MARIE GuYoN) einer der einflußreichsten Gegner des Cartesianis­mus. In seiner vielfach übersetzten siebenbändigen Economie divine (1 687) war in eigentümlicher Weise rationale Ökonomie dem göttlichen Willen supponiert. Das greift FoRMEY auf: Gott habe den Geschöpfen die Fähigkeit zur Fortführung ihrer Existenz aus sich selbst bereits in der Schöpfung mitgegeben. Ihre Bedingtheit besteht dann nur noch darin, daß Gott sie in ihrem Dasein gewähren läßt, daß er den eschatologischen Akt des Widerrufs ihrer Existenz nicht vollzieht. Die conservation der Welt ist der Aufschub des der Schöpfung symmetrisch zugeordneten Aktes der Vernichtung.

Auch diese Position hat ihre theologische Pointe; sie besteht darin, daß sie der Wahrung der Prämisse der unendlichen Macht noch besser genügt als eine ständig ausgeübte Herrschaft in Gestalt der conservatio. Denn wenn das metaphysische Argument der Kontingenz einmal eingeführt ist,

mit dem von der wesentlichen Struktur des Endlichen auf seine Unfähig­keit geschlossen wird, sich selbst im Dasein zu erhalten, so schränkt dieser Schluß die schöpferische Macht zugleich ein, indem ihr das Vermögen ab­gesprochen ·wird, aus sich selbst im Dasein bestehende, also sich selbst erhaltende Wesen überhaupt hervorzubringen. Diese Einschränkung der Omnipotenz wäre aber nur dann zulässig, wenn der Begriff eines sich

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selbst erhaltenden geschaffenen \Vesens einen Widerspruch enthielte. Hier macht FoRMEY den Zusammenhang mit der ihm vor allem angelege­nen Theodizee-Problematik deutlich. Das Postulat der Vollkommenheit der Schöpfung erfordert, daß den Geschöpfen eine force permanente mit­gegeben ist, die den ersten Augenblick der Heraushebung aus dem Nichts stabilisiert, so daß es der Ausdrücklichkeit des Widerrufs bedarf, um der Welt ein Ende zu setzen.

Das Uhrwerkgleichnis, das in den verschiedensten Gestalten und zu den verschiedensten Zwecken die Geistesgeschichte der Neuzeit begleitet, ist auch hier zur Hand : Le monde est une horloge, qui etant une fois montee continue aussi longtems que Dieu s'est propose de la laisser aller. Trotz der Uhrwerkmetapher - und ohne daß der Widerspruch dem Autor bewußt zu werden scheint- wird die Konsistenz dieser Position mit der menschlichen Freiheit als ihr entscheidender Vorteil ausgegeben: La liberte de l'homme n' est nulle part aussi bien etablie que dans cette opinion. Die Möglichkeit der Theodizee ist auch nach dieser Seite gewahrt : verantwortlich ist Gott allein für den ersten Augenblick der Schöpfung, für ihre genuine Qualität, der Mensch für ihre weitere Geschichte. Es sieht so aus, als würde damit auf den Anfang der Tradition der christlichen Theodizee in AuGUSTINS "De libero arbitrio" zurückgelenkt, wo die menschliche Freiheit gleich­sam als das geringere Übel erschien in Relation zu den gnostischen Konse­quenzen eines doppelten absoluten \Veltprinzips.

Unverkennbar hat sich aber der Akzent verlagert; er liegt in FoRMEYs Artikel auf der Ablösung der göttlichen \Veltverantwortung durch die menschliche im Sinne der Würde der ihm dadurch zugefallenen Selbst­verantwortlichkeit. Der Mensch ist zwar immer noch der Schuldige an den Übeln der Welt, aber er ist doch vor allem nach und wegen der Einmalig­keit des göttlichen Schöpfungsaktes seinerseits ein schöpferisches Wesen : Il est createur de ses actions. Diese Verklammerung von Theodizee und Anthropologie, von Apologie Gottes hinsichtlich der moralischen Übel und Apotheose des Menschen hinsichtlich seiner Stellung gegenüber der Welt, ist FoRMEYs deutliche Intention. Dem <<Dieu est tout>> in der Dar­stellung der cartesischen Position steht hier als Konsequenz symmetrisch gegenüber das <<L'homme fait tout>>. ·war am Anfang der Geschichte des Verhältnisses von Theodizee und menschlicher Freiheit das Interesse AuGUSTINs ausschließlich auf die Rechtfertigung der physischen Übel in der Welt mit Hilfe der moralischen Übel des Menschen und damit auf die Entlastung Gottes gerichtet, so ist jetzt die Verantwortung für das Böse gleichsam nur der unvermeidliche Preis dafür, daß der Mensch sich auch das in der Welt durch seine Handlungen bewirkte Gute zurechnen darf.

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Daß der Enzyklopädist diese Konsequenz gesehen, aber nicht ohne Bedenken gebilligt hat, geht aus dem Absatz hervor, den er ihren Schwie­rigkeiten widmet. Wie PomETs Auffassung in dem Artikel gerade dar­gestellt wurde, erhebt sie zwar die schöpferische Macht im Ursprung der 'Welt über alles Maß hinaus, macht aber zugleich. die göttliche Providenz als die den Weltverlauf begleitende und den um sein Wohl besorgten Menschen vor allem in Anspruch nehmende Rolova.nz der Gottheit nun fast gänzlich bedeutungslos. Sie fungiert nur noch im Gewiihrenlassen, im Aufschub der Zerstörung tmd damit in der Freigabe der immanenten Ge­schichte der Welt. Tout ce qu'il a a faire, c'est de ne pas les detr·uire. Der Gott dieser "Ökonomie" befindet sich in der vollkommenen Ruhe des Tages nach der Schöpfung, aus der er nur heraustritt, wenn er sich den Menschen durch ein außerordentliches Wunder bemerklich machen will. Dieser Gedanke befremdet inmitten der "Enzyklopädie" als dem vorzüg­lichsten Instrument der Aufklärung, zu deren heftigsten Ärgernissen eben das Wunder gehörte. Aber hier hat seine Et·wähnung die ganz bestimmte argumentative Fmlktion, daß die Möglichkeit des Y'l unders zu erhalten zugleich bedeutet, die Fortdauer der Existenz der Welt nicht als Wunder gelten zu lassen. Die Möglichkeit des Außerordentlichen erfordert den Fonds des Ordentlichen. Im Vorbehalt des Wunders steckt ein Zuge­ständis, das so lange gemacht werden muß, als der Abgrund der Nichtig­keit zv.'ischen Schöpfung und Weltende nur a.ls überbrückt erscheinen soll. Die Erbaulichkeit der extremen Gedanken von fernem Anfang und fernem Ende der Welt und von gelegentlichem Eingreifen zum privaten Anla.ß mag dem Autor wie dem Leser des Artikels als geringer Preis dafür erschienen sein, der sohreckliehen Verunsicherung jedes Weltaugenblicks durch die Vorstellung der c1·eation coniinuee ein handfestes, aber nicht all­zu gewagtes Konzept der Selbsterhaltung der Welt als J\fitgift der All­macht entgegengesetzt zu haben. Das Risiko der "Enzyklopädie" bestand doch gerade darin, daß sie ein möglichst großes Publikum auf sich und um sich zu vereinigen angelegt war, aber zugleich von der Heterogeneität die­ses Publikums und dem 'Maße des ihm schon Zurnutbaren oder noch Zu­träglichen kaum eine durchgängige Vorstellung verrät.

Dem Artikel FoaMEYS ist ein Zusatz der Herausgeber angefügt, der das Resultat der metaphysischen Anstrengungen, die in dem .Artikel antithe­tisch entfaltet sind, ebenso resigniert ·wie ironisch bilanziert. Am Ende der zm•ückgelegten Umwege befinde man sich, so wird festgestellt, wieder an demselben Punkt, von dem man ausgegangen sei und wo man sogleich hätte stehenbleiben und sich begnügen sollen. Diese Ironie bezieht sich wohl vor a.llem auf die Dal'stellungsmethode FoRMEYs, der nach dem

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Selbsterhaltung und Beharrung ll

Muster der Tropen der Skeptiker arbeitet, indem er die beiden antino­mischci1 Konzeptionen bei aller Unterst1·eichung des ihm Behaglicheren. ebenso unversöhnt wie unentschieden einander gegenübersteQen läßt. Die Unerträglichkeit des Geda.nkens, der Mensch werde im Das�in erhalten '7erliert in dieser Darstellungsweise an dem Gewicht, das sie im Rahme� der "Enzyklopädie" haben müßte, deren Interesse in hohem Maße den Anstrengungen des Menschen gilt, sicl� selbst im Dasein zu erhalten. Dafür ist repräsentativ ein Artikel wie der von den Herausgebern gezeichnete Culture des terres, i n dem a,usdJ:ücklich die Idee der Selbsterhaltung als das Deduktionsprinzip der natürlichen Ordnung des menschlichen Welt­verhaltens an den Anfang gestellt ist: L'idk de conservation est dans

chaque individu immediatement attachee a celle de son e.'Vistence ... Ein durch vorangestellten Asterisk als von DIDEROT stammend ae­

kennzeichneter Zusatzartikel behandelt das Stichwort C onserva/ion unter dem Aspekt del' Moral. Dabei ist verwunderlich, wie wenig auf die aus diesem P1·inzip schon erarbeiteten Deduktionen seit HOBBES und SPINOZA zurückgegriffen wird. Das Gesetz der Erhaltung sei eines der fundamentalen Naturgesetze, weil seine Aufhebung oder Übertretung die Nichtigkeit aller anderen Gesetze zur Folge haben müßte. Das Gesetz der Erhaltung steht damit :�.u den anderen Naturgesetzen in demselben Verhältnis wie die Existenz eines Gegenstandes zu seinen übrigen QuaUtäten; diese sind nur unter der Voraussetzung jenet• möglich: . . . elle est par mpport aux autres lois, ce q�te l' existenoe est pa1· rapport aux

aut1·es qualites. Ins Moralische transponiert, bedeutet das Natm·gesetz, daß jeder seine Existenz so lange wie möglich zu erhalten habe - ftiJ: sich selbst, für seine Freunde, für seine Verwandten, für die Gesellschaft, für das Menschengeschlecht. Diese Erweiterung durch ein "Für" läßt auf eine teleologische Interpretation der Pflicht v.uT Selbsterhaltung schließen, wie sie zuvor nicht ausgesprochen worden ist. Bei einigen der genannten Be­ziehungen, die der Mensch dm·ch Verletzung des Gesetrues der Selbst­erhaltung mit Füßen treten würde, spielt ein Rechtsgedanke hinein: so­weit uns solche verpflichtenden Relationen nicht von der Natur mitgegeben si�1d, haben wir sie frei gewählt und auf uns genommen, und es hängt mcht mehr von uns ab, sie ohne Zustimmung der Betroffenen aufzulösen, ohne Unrecht zu tun. Dieser Gedanke steht diesseits der unbefriedigenden teleologischen Auslegtmg des Naturgesetzes, obwohl der vertragsartig aufgefaßten Gegenseitigkeit das Moment der nackten Rationalität im Sinne des Unterwerfungsvertrages von HOBBES fehlt. ·woher dennoch die Verbindlichkeit, auch unausdrücklioho Verträge z u halten, genommen wird, ven-ät sich vielleicht am ehesten in dem Rückgriff auf das traditio-

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nelle Ideal des <<honnete homme>> am Ende des Artikels. Jedenfalls ist, sich zu erhalten, nicht nur eine eigene Möglichkeit aller Wesen, sondern für die, die ihrer eigenen Selbsterhaltung zu widersprechen vermögen, so­gar ein Gebot. Daraus ergibt sich als oberster Grundsatz aller Handlungen, daß sie einstimmig auf Selbsterhaltung bezogen sein müssen - und auf die Erhaltung der anderen, wie wiederum hinzugefügt ist : Fais ensorte que toutes tes actions tendent a la conservation de toi-meme, et a la conservation des autres ; c' est le cri de la nature: mai8 sois par-dessus taut honnete homme.

n.

Trotz seiner- freilich tendenziösen- Unentschiedenheit und trotz der Einspannung des Begriffs der Erhaltung in den theologischen Rahmen läßt FoRMEYS Enzyklopädie-Artikel unverkennbar die Doppeldeutigkeit von conservation als exogene und endogene "Tätigkeit" heraustreten. Vor allem aber wird deutlich, daß Erhaltung im endogenen Sinne als Gegen­konzeption zu Erhaltung im exogenen Sinne intendiert ist. Schon das Festhalten am Ausdruck con8ervatio ist charakteristisch für antithetische Begriffsbildung. Sowohl SPINOZA als NEWTON haben den, für sich be­trachtet, passenderen Ausdruck per8everare, der noch in der allgemeinsten Formulierung des Beharrungsprinzips : Die Wirkung jeder Ursache ver­harrt brauchbar geblieben ist. NEWTON verwendet den Ausdruck in seiner 3. Definition, um die der Materie zugeschriebene potentia re8istendi zu bestimmen ( perseverat in statu suo) , und in der Erläuterung zur 4. Defi­nition der vis impre8sa: Perseverat enim corpu8 in statu omni novo per solam vim inertiae. Und SPINOZA verbindet den Ausdruck perseverare mit dem Begriff des conatus, dessen Schwierigkeit der des Kraftbegriffes nicht nachstand. Gegenüber dem Ausdruck perseverare gab der der conservatio die Möglichkeit, den Stellenwert einer Gegenposition zu einem wesent­lichen Element der Tradition präzise zu markieren. Die These, die hier vertreten werden soll und die durch den Enzyklopädie-Artikel wie an einem Präparat verdeutlicht werden konnte, stellt den Begriff der con­servatio sui gegen die Tradition der transitiven conservatio mit dem Extremwert der creatio continua, im Grunde gegen die gesamte Konzep­tion der Kontingenz in der Scholastik. Damit aber wird DrLTHEYs Haupt­these von der stoischen Abkunft des Begriffs der Selbsterhaltung infrage gestellt, nämlich eingeschränkt auf bestimmte Rückgriffe in das Arsenal antiker Formulierungen und orientierender Metaphern organischen Typs. Solcher Rückgriff auf antikes Material bestimmt weithin die Ausdrucks­schicht, in der sich die Alternative zum scholastischen System der Kon-

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tingenz artikuliert. Wir dürfen dieses geschichtliche Phänomen nicht ver­wechseln mit dem, was man "Einfluß" nennt und was im Gebrauch als historische Kategorie eine bestimmte Gegebenheit ihrem Gehalt und nicht nur ihrer Ausdrucksform nach erklären soll. Nirgendwo im antiken Den­ken aber hatte es eine Stelle für den Begriff der Selbsterhaltung in der Definition gegeben, die erst durch den Problemüberhang des scholastischen Systems veranlaßt werden konnte.

Das Mittelalter hinterließ eine Frage, die die Antike überhaupt nicht gekannt hatte; es hatte diese Frage gestellt, authentisch hervorgebracht, weil es auf sie eine Antwort zu besitzen glaubte - die Antwort schuf das Bedürfnis nach der Frage. Die Antwort war die übersahwengliche Be­hauptung einer ständigen, innigsten, radikalsten Abhängigkeit der Welt von Gott, der nicht nur ihr einmaliger Schöpfer, nicht nur ihr Regent und Verwalter, sondern "Erhalter" im striktesten Sinne sein mußte. Beim konsequenten Ausbau dieser Antwort entstanden die dem Mittelalter höchst spezifischen Begriffe der creatio continua und des concursus divinus. Das Mittelalter zwingt sich gegen den Gesamtbestand seiner Rezeption antiker Metaphysik, das nihil gleichsam als den metaphysischen Normal­zustand zu denken und die creatio ex nihilo als das gegen diese Normalität ständig durchzusetzende Wunder. Die Rückkehr aus dem Abgrund der Kontingenz konnte nicht Wiederherstellung der antiken Unangefochten­heit sein; auf die seither radikalisierte Frage mußte auch die neue Ant­wort im Sinne der Versicherung ihrer Rationalität radikaler sein. Das in der Rezeption der Stoa verfügbare Material genügte diesem Bedürfnis nicht.

Aus der stoischen Tradition, im Verlauf ihrer Wiederaufnahme durch VIVES, TELESIO, GroRDANO BRUNO und JusTus LrPsrus, kommen zweifel­los zwei Elemente : einmal die organische Interpretation von Selbster­haltung als eines Verhaltensintegrals von Lebewesen einschließlich des Welttieres Kosmos und in diesem Zusammenhang das Bedürfnis, von "Kräften" zu sprechen, ja die Natur, wie 0AMPANELLA es tut, mit den vires se conservandi gleichzusetzen, so wie man sagen kann, Leben sei der Inbegriff derjenigen Funktionen, die den Tod verhindern. Zum anderen die Verbindung der Selbsterhaltung mit der Theorie der Affekte, als deren Radikal die conservatio sui, als deren ethische Umsetzung die constantia gesehen wird.1 An DrLTHEYs Nachweisen stoischen Materials bei SPINOZA,

1 Wer irgendwo in der Antike die Grundlagen der Naturwissenschaft in nuce schon vorweisen will, wird nicht darum herumkönnen, auch oder vor allem eine Vorform von Erhaltungsprinzip zu finden, denn auf diesem beruht, wie KANT for­muliert, die "Möglichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft". Ein einprägsames

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durch TELESIO und die niederländische Philologenschule ihm zugeführt, kann kein Zweifel angebracht werden; aber diese Formulierungshilfen enthielten nicht die geringste Nötigung dazu, den Grundgedanken strenger zu fassen und weiterer Rationalisierung zu unerwerfen.

Dafür war freilich schon bei HOBBES partiell, nämlich bezüglich des Staatsbegriffes, ein Specimen gegeben : die Überschreitung des status naturalis im Unterwerfungsvertrag ist nicht mehr vergleichbar einem Ver­halten aus triebhafter Selbsterhaltung, sondern ist die Konsequenz aus der formalen Bestimmung der Vernunft durch Widerspruchsfreiheit, des vernünftigen Verhaltens als eines solchen, das mit der Bedingung dafür, sich überhaupt verhalten zu können, als der Erhaltung des bloßen Da­seins nicht in Unstimmigkeit geraten darf. Um dies demonstrieren zu können, muß der Naturzustand als ein schon vom Rechtsbegriff - näm­lich: vom Recht aller auf alles - geprägter beschrieben werden. Erhaltung ist hier der Grundbegriff, der einer Theorie Konsistenz verschafft, nicht die Supposition eines Triebes, der differente Verhaltensweisen aus einer primären Energie abzuleiten gestattet. Selbsterhaltung ist nicht die organische Einheit des menschlichen Daseins, die sich die Vernunft als Subsistenzmittel instrumentalisiert, sondern sie ist rationale Norm eines Prozesses. So kann der vernünftige Begriff eines Rechtes nicht derart sein, daß durch ihn die Möglichkeit von Rechten überhaupt aufgehoben wird. Ein Rechtssystem muß als ein aus sich bestandsfähiges konstruierbar sein, und eben das inhibiert der status naturalis .

Nach unserer historischen Kenntnis des stoischen Materials mag diese Verbindung von Selbsterhaltungs-und Widerspruchsprinzip eine schwache Ansatzstelle bei ZEN ON haben; in der vor allem durch CICERO angeregten und dominierten Stoa-Rezeption des 16 . Jahrhunderts gab es dafür noch kein Sensorium. Weder VrvEs und TELESIO noch GIORDANO BRUNO waren über die organische Grundvorstellung von Selbsterhaltung hinaus zu einer formalen Konzeption gelangt. \iV enn aber der Ausdruck "Selbst­erhaltung" vor allem das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen als Ten­denz der ständigen Integration und Reintegration bezeichnet, die noch unverstandene Attraktionskraft der größeren Massen gegenüber den kleineren damit einem organischen Schema einordnend (wie bei GroR-

Beispiel gibt hier P. NATORPS Versuch, im Begriff des Guten bei PLATO ein Äqui­valent für die Idee de1· Erhaltung zu finden und dadurch vor allem den Kosmosbegriff des "Phaidon" zu verstehen : Die Weltordnung sagt Erhaltung der Welt in ihrem Grundbestand . . . . jedes im besondern muß so geordnet sein, d. h. sich selbst erhalten, wie es gejo1·de1·t ist zur Selbsterhaltung des Ganzen durch eine systematische Ordnung dieses

Ganzen. (Platos Ideenlehre, Leipzig 1 903, 148) .

( 346 )

Selbsterhaltung und Beharrung 15

DANO BRuNol, so liegt darin kein Ansatz zur Konstruktion des Universums durch die Vernunjt2.

Selbst FRANCIS BACON, in dem man am ehesten so etwas wie den Über­gang zwischen GroRDANO BRUNO und HoBBES sehen könnte; gelingt· die rationale Konstruktion nicht. Trotz seiner Polemik gegen die aristoteli­sche Finalität bleibt seine Bewegungstheorie bestimmt durch teleologische Voraussetzungen. Zwar gibt er die "natürliche Bewegung" zum locus naturalis auf, weil Örter im Raum nur etwas Gedachtes seien und reale Wirkungen ihnen daher nicht zugesprochen werden dürften; aber die Bewegung zum natürlichen Ort wird ersetzt durch das Prinzip der Selbst­erhaltung der größeren Massen durch Vereinigung der von ihnen getrenn­ten Teilmassen mit jenen3. Die transitive scholastische conservatio wirkt darin nach, daß Erhaltung primär die des Ganzen, erst sekundär und gleichsam hilfsweise die der Teile ist. Dieser rnotus congregationis maioris ist nicht die "Wirkung" der größeren Masse, sondern das Streben der kleineren Massen zur größeren "im Interesse" ihrer Selbsterhaltung4. Der consensus rnundi ist das Prinzip der Erklärung der Bewegung, also ein vorzüglich stoischer Terminus, den BACON als Wahrheitskriterium aus­drücklich ablehnt, aber hier als Metapher des physischen Sachverhalts rettet. Der Zusammenhalt des Körpers ist auch als Machtverhältnis einiger seiner Teile über andere vorgestellt, die dieser Ordnungsgewalt folgende Unterwerfungsbewegung als rnotus politicus5• Das metaphorische Poten­tial der stoischen Selbsterhaltung geht an BACONs spezifischer Affinität zur organischen wie zur politisch-juridischen Sprachorientierung erst vollends auf.

Hier stellt sich unausweichlich die Frage, was die Stoa dem Strom der Tradition eigentlich an authentischen Materialien überlassen hatte. Prä­misse der stoischen Konzeption von Selbsterhaltung ist, daß diese eine Tätigkeit, ein Prozeß ist. Anstelle der statischen Konstanz der aristoteli­schen Wesensformen ist eine dynamische Struktur getreten. Zusammen­halt und Festigkeit des physischen Körpers beruhen auf einem ihn um-

1 Hierzu v. Vf., Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 1 966, 56lff. 2 DILTHEY, aaO 283. 3 Novum Organum II 48; WW I 346 : Per hunc motum terra stat male sua, moventi­

bus se extremis suis in medium ; non ad centrum imaginativum, sed ad unionem. 4 aaO 340 : . . . in novem illis motibus, de quibus diximus, corpora tantum naturae

suae conservationem appete1·e videntur . . . 5 aaO 344: . . . pe1· quem partes in corpore aliquo pmedominantes et imperantes

reliquas paTtes fraenant, domant, subigunt, ordinant, et cogunt eas adunari, separari, consistere, moveTi, collocaTi, non ex deside1·iis suis, sed prout in oTdine sit . . .

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1 6 HANS BLUMENBERG

spannenden Kreislauf des Pneuma: nicht nur Organismen, sondern auch Stein und Holz werden durch dieses in ihnen kreisende Feinstelement wie durch eine Fessel zusammengehalten, die von der Thfitte des Körpers aus sich um seine Oberfläche herum legt und wieder zur Mitte zurückkehrt. Jedes einzelne Naturding bildet in dieser Hinsicht den Kosmos nach1 . Der kosmische Tonos ist eine Art Anstrengung des Kosmos gegen das ihn umgebende Leere (ken6n) , in diesem nicht gleichsam aufzugehen und zu zerfließen. Diese wichtige Änderung der aristotelischen Kosmologie, die jenseits der letzten Sphäre keinen leeren Raum zugelassen hatte, wirft das Problem der Selbsterhaltung des Kosmos im ganzen überhaupt erst auf, wohl auch in bezug auf den in der Physik EPIKURs angenommenen Zerfall der Welten. Selbsterhaltung also als durchgängiges Merkmal aller physi­

schen Entitäten muß schon deshalb eine Tätigkeit sein, weil die Stoiker die platonische Prämisse aus dem "Sophistes" (247 DE) teilen, daß alle Bestimmungen des Seienden entweder als Tätigkeiten oder als Erleidun­gen aufzufassen seien.

Die Materie aber ist nicht mehr im Sinne dieser Disjunktion das nur noch Erleidende, nachdem der Dualismus von Vernunft und Notwendig­

keit, von Nus und Hyle aufgegeben und der Logos als etwas von der Hyle Unabtrennbares behauptet worden ist2• Das hat zur Folge, daß der am Organischen abgelesene Elementartrieb der Selbsterhaltung in das Sub­strat der Materie zurückgenommen werden muß. Das wäre ein möglicher Ansatz für SPINOZAs Identifizierung von realitas und perfectio gewesen. Aber es ist nicht als rationale Bestimmung, sondern in der Lehre vom generellen Affekt der Selbsterhaltung als der allgemeinsten Bestimmung des Menschen, der Lebewesen und der Materie im neunten Buch von TELESIOS De natura rerum rezipiert worden.

Die stoische Kosmologie behält in einem wesentlichen Stück die aristotelische Konzeption bei, nämlich in der physischen Auszeichnung des Weltmittelpunktes. Offenbar unter dem Druck der epikureischen Thesen wird eine Zentrierung aller Weltprozesse zu dieser Mitte hin ange­nommen und Selbsterhaltung ausgelegt als ständige "Innenwendung" des Kosmos, wie sie sich phänomenal in der Fallbewegung als der ersten natürlichen Bewegung manifestiert3• Das Ganze erhält sich, indem es sich seine Teile ständig "aneignet"; sein Bestand ist nicht mehr von Ewigkeit wie bei ARISTOTELES, sondern eine immanente und sich verbrauchende "Leistung" dieses Ganzen selbst, verkörpert durch das alles durchwaltende

1 Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. v . .ARNIM, II 458; I 497. 2 aaO II 307. 3 aaO II 550.

( 348 )

Selbsterhaltung und Beharrung 17

Element des Feuers, das sowohl die Weltgestalt konstituiert als auch in seiner entarteten Form sie wieder aufzehrt. Das aristotelische Modell der kosmischen Bewegung durch den unbewegten Beweger ist formal erhal­ten, aber im Diagramm zur Immanenz umgekehrt : die Mitte ist das Unbewegte, sie bewegt alles andere dadurch, daß sie als punktuelles Ziel aller Bewegungen keinem Bewegten Raum läßt, sondern nur ein imaginä­rer Durchgang des Ganzen zu sich selbst bleibt. Was es heißt, den Kosmos als Lebewesen, als das große Tier darzustellen, wird durch dieses Kreis­laufmodell (das im Grunde das Äquivalent für die Phänomene der Gravi­tation zu sein hat) veranschaulicht. Die Weltmitte als der von dem un­endlichen leeren Raum, dem bloßen Nichts, am weitesten entfernte Punkt

ist zugleich der Bezugspunkt der Selbsterhaltung, der äußersten Verdich­tung und Sicherheit. Das Ganze besteht dadurch, daß es diesen Bezug zu seiner Mitte ständig dynamisch vollziehtl.

Die Frage ist, wie sich diese Kosmologie zur stoischen Ethik verhält. Diese Frage führt deshalb an den Kern der frühneuzeitlichen Begriffs­geschichte von Selbsterhaltung, weil es hier so aussieht, als seien Ethik und Politik, insofern sie das Prinzip der Selbsterhaltung aufnehmen, ihrerseits paradigmatisch geworden für das physikalische Inertialprinzip. Nun haben wir gleich bei dem Schulgründer ZENON die ganz abstrakte ethische Grundformel des "in Übereinstimmung leben". Von der späteren Entwicklung der stoischen Ethik her sieht diese Formel wie eine Verkür­zung aus, und zwar wie eine Verkürzung um den für die Tradition so wesentlichen Naturbegriff. Denn "in Übereinstimmung leben" heißt als­bald nur noch "in Übereinstimmung mit der Natur leben" . Das ist aber keineswegs selbstverständlich die genuine Interpretation der Formel ZENONs, die auch dann den ganz formalen Sinn der Übereinstimmung mit sich selbst haben kann, wenn man ihr mit WILAJ\WWITZ jeden indivi­dualistischen Sinn vom Typus des Schillerwortes (im Munde der Gräfin Terzky) abspricht : Recht hat jeder eigene Charakter, der übereinstimmt mit sich selbst2• Die ältere, abstraktere Formel ist durchaus ein Prinzip der Selbsterhaltung als der möglichen Konstanz des Willens hinsichtlich dessen, was seine eigene Voraussetzung ist : daß das hier als eine bestimmte "Natur" oder als Einfügung in die Natur ausgelegt werden konnte, daß Übereinstimmung ihren Ansatz, auf den sie sich fortgehend zurückbe­zieht, aus einer im frühen Kindesalter sichtbar werdenden authentischen Mitgift nehmen sollte, muß das formale Moment nicht verfälschen.

1 aaO II 554, 549. 2 U. v. WILAMOWITz-MoELLENDORFF, Der Glaube der 2Darmstadt 1 955,

II 291 .

Abh. Geistes- u. sozialw. Kl. Nr. 11 ( 349 ) 25

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1 8 HANS BLUMENBERG

Gleichwohl hat in diesem Falle die beabsichtigte Harmonisierung mit dem peripatetischen "naturgemäßen Leben" eine nicht wieder zu lösende Affinität für die Tradition festgelegt.

SENEOAs semper idem velle atque idem nolle1 mag das eigentümlich positivierende Zwischenglied gewesen sein zu dem, was in DESOARTES' morale par provision wiederkehrt und mit dem Gleichnis des verirrten Wanderers im Walde veranschaulicht wird, der sich nur dadurch helfen

kann, daß er in der einmal eingeschlagenen Richtung geradeaus geht, weil er so in den sicheren Genuß des Sachverhalts kommen kann, daß alle Wälder endlich sind2. Aber diese formale Bestimmung der von einem fak­tischen Ansatz ausgehenden resolution ist bei DESOARTES nur der Not­behelf einer vorläufigen Moral, deren endgültige Überbietung gerade darin bestehen sollte, daß ein durch abgeschlossene Physik zur Evidenz ge­brachtes "sachgemäßes Verhalten" die höchste und sicherste Rendite an Selbsterhaltung und Selbsterfüllung garantiert. Der stoische Naturbegriff dagegen hatte der Forderung der Übereinstimmung einen teleologischen Ansatz geboten, wie die Lehre von der prote oikeiosis des Kindes erkennen läßt. Die ursprüngliche Triebanlage (prote horme) gibt die ethische Norm eines Verhaltens, das der inneren Beständigkeit fähig ist, also sich selbst zu erhalten vermag. Was ZEN ON gemeint haben mag und was sich an der Benutzung eines rein logischen Ausdrucks für das Gegenteil seines Ideals, nämlich des rnachomenos zen, erkennen läßt, ist jedenfalls in der Tradition und Rezeption der Stoa vom Übergewicht ihres Naturbegriffs und seiner vermeintlich immer realisierbaren Inhaltlichkeit erdrückt oder verdeckt worden. Die sekundäre, schon interpretierte Formel hat den primären Befund überlagert : was nur aus dem Ansatz in der unverstellten Natür-

1 SENECA, Ep. Mor. 20, 5 ( = ep. 109, 16) . Der 20. Luciliusbrief läßt durchaus er­kennen, was eine formale Auffassung des "in Übereinstimmung leben" (homologu­menös zen) von aller Ethik des "naturgemäßen Lebens" unterscheidet, also ZENON von CHRYSIPP und allen späteren Formeln. Dennoch fehlt SENECAS Ethik der una regula, des unus omnium actionum color, des ut ipse ubique pa1' sibi idemque sit (20, 2) ein entscheidendes rationales Moment zur Überschreitung der Positivität. Wenn er sich den Einwand seines Adressaten vorstellt, das entschlossen Durchzu­haltende müsse doch auch recht sein, erwidert er, diese exceptiuncula sei gar nicht nötig, weil doch nur das Rechte immer gefallen könne : non potest enim cuiquam idem semper placere nisi Tectum. Hier steht SENECA dicht davor - aber auch nur dies -, das Homologiegebot derart umzukehren, daß die Möglichkeit j enes sempe1' idem velle für den einzelnen und für alle zum Kriterium für die Prüfung des je Gewollten wird oder, wie in HoBBES' Fall, die Möglichkeit der Beanspruchung des natürlichen Rechtes zum Kriterium für die Notwendigkeit des zivilen.

2 DESCARTES, Discou1's de la methode III 3.

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Selbsterhaltung und Beharrung 1 9

lichkeit heraus seine immanente Konsequenz finden soll, wird durch das erweiterte Ideal in eine Art ständige Parallelisierung zur Natur gedrängt . und damit auf ein immer erneutes heteronomes Befragen festgelegt. Der Rückgang auf die Selbsterhaltung als das Radikal der gesamten Affekten­lehre sucht das Prinzip der Übereinstimmung mit der Natur auf ein öko­nomisches Minimum zu reduzieren, das zugleich für die ständige Aus­einandersetzung mit dem Epikureismus den Vorteil der Vermeidung des Prinzips der Lust bot. Aber gerade dieses ökonomische Minimum kommt aus der Bestimmtheit seiner Herkunft, nämlich der Beschreibung von Verhaltensweisen und Handlungen, nicht heraus.

Betrachtet man das Problem der stoischen Rezeption nach der Wirk­samkeit der Quelle und der Einprägsamkeit der Formeln, so ist CICERO unser wichtigster Anhalt für das, was die Anfänge der Neuzeit bestimmt haben kann. Dabei ist bedeutsam, daß die Hochschätzung CICEROs aufs engste mit der Kritik der Scholastik und ihrer Bindung an ARISTOTELES zusammenhängt. Selbsterhaltung, das wird bei CICERO deutlich, ist im Schulsystem der hellenistischen Philosophien vor allem ein negativer Komparativ zu allen eudämonistischen und hedonistischen Ansätzen der Ethik, also gleichsam der Versuch, durch Ökonomie des Prinzips der physischen Selbstanzeige des Notwendigen der Entfaltung des Katalogs der virtutes Raum und Vorrang zu verschaffen. Die constitutio prima naturae ist von vornherein ein anthropologisch zugerichtetes Radikal, bezeichnenderweise mit einem voluntaristischen Überschußelement : Omnis natura vult esse conservatrix sui, ut et salva sit et in genere conservetur suo.1 Dieses stoische Prinzip der Selbsterhaltung als eines Willens umfaßt nicht nur das Individuum, sondern die Gattung und schließt damit an die aristotelische Konstanzbehauptung der Wesensformen an. Aber gerade an dieser generativen Komponente zeigt sich, daß der Ausdruck für das Wollen hier nicht zufällig steht, weil Selbsterhaltung als Tätigkeit, als durch ein Ziel bestimmter Prozeß verstanden wird. Folgerichtig geht die Erörterung des bei CICERO sprechenden Stoikers CATO sogleich vom Willen zu den Mitteln, von der natura zur ars voran, zur vivendi ars als dem Inbegriff jener der Natur zu leistenden Hilfsdienste, der nach dem Dualismus von Geist und Körper in zwei Spezifikationen zerfällt, wobei mit der Kunst der leiblichen Selbsterhaltung nicht lange gefackelt, son­dern zu den Künsten der geistigen Erhaltung übergegangen wird, die sich nun als der traditionelle Katalog der Tugenden erweisen. Die Natur liefert zu dem, was seinerseits nicht mehr natürlich ist, zumindest das Deduk-

1 CICERO, De finibus bonoTum et maloTum IV 7, 16.

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20 HANS BLUJ\fl\'EBERG

tionsprinzip : alles Künstliche, alles im Willen Bestimmbare ist auf das Ziel bezogen, welches die Natur am meisten verfolgtl.

Auch wenn CICERO die Standpunkte der stoischen und der epikurei­schen Schule durch das System seines Lehrers ANTIOCHOS VON AsKALON zu korrigieren und zu überbieten sucht, verweist er auf das am noch jugendlichen Lebewesen sich darstellende Grundgebot der Natur, den primus appetitus der Selbsterhaltung. Aber auch dies ist wieder so formu­

liert, daß nicht der Affekt der Selbstliebe Manifestation eines gesamt­kosmischen Erhaltungsprinzips auf der Ebene der Lebewesen wäre, son­dern jener Affekt ist der elementare Sachverhalt, aus dem Akte der Selbsterhaltung innerviert werden : Omne animal se ipsum diligit ac, simul et ortum est, id agit, ut se conservet, quod hic ei primus ad omnem vitam t-uendam appetitus a natura datur, se ut conservet atq�w ita sit afjectum, ut optime secundum naturam afjectum esse possit2• Der Selbsterhaltungstrieb kann zwar Ausdruck der in der Natur waltenden Vernunft, aber nicht seinerseits Vernunft sein, weil er am reinsten dort auftritt, wo er sich noch nicht selbst versteht und durchschaut .

Hier wird der Unterschied zu HOBBES am deutlichsten : Selbsterhaltung als Trieb läuft auf den Zustand der sich ständig selbst gefährdenden Nutzung aller natürlichen Rechte hinaus, Selbsterhaltung als Vernunft begibt sich dieser Rechte insgesamt, um sie nach Maß des gesetzgebenden Willens zurückzuerhalten. An ZENONs abstrakte Fassung des stoischen

Prinzips der Einstimmigkeit erinnert bei CICERO am ehesten die dem M. PoRCIUS CATO in den Mund gelegte, auf das anirnal bezogene Formel des ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum, dem aber so­gleich die Rede vom Instrumentarium, nämlich den conservantia eius status, hinzugefügt wird3.

Im Grunde hat auch die Stoa, obwohl sie das Problem ausdrücklicher stellt ,; und auf beständige Formeln brachte, die aristotelische Position der eidetischen Konstanz nicht verlassen, sondern nur mit Hilfe der Meta­phorik vom Weltorganismus auf das Ganze des Kosmos erweitert : mundus eundem habitum ac modum servat4• Was die Idee der Erhaltung mit dem stoischen Weltlogos verbindet, ist die Voraussetzung der bestimmten gleichsam kanonischen Gestalt.

1 De finibus IV 8, 19 . 2 De finibus V 9, 24. 3 De finibus III 5, 1 6. 4 SENECA, Ep. Mor. 79, 8.

( 352 )

Selbsterhaltung und Beharrung 21

III.

Das Mittelalter hat das Problem der Erhaltung von einem ganz an­deren Aspekt her aufgenommen als von dem der Zuverlässigkeit der Welt, des gegen den leeren Raum oder gegen das hyletische Chaos sich behaup­tenden Kosmos. Jetzt geht es um die bohrende Insistenz auf der schlecht­hinnigen Abhängigkeit der Welt von iln·em Urheber, um die Generalisie­rung der punktuellen creatio ex nihilo zur ständigen Bedürftigkeit der Welt hinsichtlich ihres Erhaltenwerdens . Daß dieser Gedanke nicht in den Kontext des biblischen Schöpfungsbegriffes gehört, der sich als Vorspann zur Geschichte, nicht als kosmologische Metaphysik konstituiert, ist der Feststellung nicht bedürftig. Das Mittelalter fand im Begriff der Kontin­genz erst die radikale Auslegung des Schöpfungsgedankens, jenem Begriff, der zu den wenigen genuinen Prägungen spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik gehört, obwohl er aus der Latinisierung der aristotelischen Logik hervorgegangen war. Kontingenz bestimmt die Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen be­stimmten, nur durch göttlichen Willen in ihrer Existenz gehaltenen Welt, die an der Idee eines unbedingten und notwendigen Seienden gemessen wird. Aus der logischen Modalitätentheorie hatte die aristotelische Meta­physik zwar den fundamentalen Gegensatz von Möglichkeit und Wirk­lichkeit, nicht aber den von Möglichkeit und Notwendigkeit aufgenom­men ; der Bewegergott des Aristotelismus ist als reine Wirklichkeit ( actus purus) zureichend bestimmt, Notwendigkeit kommt ihm nur in einer regressiven Betrachtung als dem Prinzip der Weltprozesse zu, er ist kein ens necessariunt, und Rchon gar nicht causa sui.

Wenn man bedenkt, daß es die Hochscholastik als systematisch mög­lich betrachtete, die theologische Schöpfungslehre von der aristotelischen Theorie der Bewegung her zu interpretieren und den Zusammenhang zwischen Schöpfer und Schöpfung nach dem Prinzip des omne quod movetur ab alio movetur aufzufassen, so wird die Abhängigkeit des Kon­tingenzbegriffs von diesem Axiom sogleich greifbar. Der aristotelisch­scholastische Satz, dessen physikalischer Gehalt auf die Behauptung der begleitenden Bewegungskausalität hinausläuft, läßt sich als Grundsatz der Fremderhaltung der Welt formulieren : jeder Augenblick einer Be­wegung erfordert eine besondere bewegende Kausalität. Man muß be­achten, in welcher systematischen Reihenfolge das Bewegungsprinzip den Bedürfnissen der Scholastik dient. Vor allem ermöglicht es einen den Beweisbedürfnissen der Scholastik augepaßten Gottesbegriff: beweisen läßt sich unter der Voraussetzung des Bewegungsprinzips der begleiten-

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22 HANS BLUMENBERG

den K�:msalität nach dem Vorbild des zwölften Buches der aristotelischen Metaphysik der unbewegte Beweger. Aber die ganze Schwierigkeit besteht

darin, den durch diese Funktion bestimmten Gottesbegriff zusätzlich mit dem Attribut der Weltschöpfung auszustatten.

Jenes primum movens immobile des ARISTOTELES implizierte eine bereits immer bestehende Welt, zumindest aber eine vorgegebene Materie . Die aristotelische causa efficiens induziert ein Weltsubstrat ad esse hoc, nicht aber ad esse simpliciter1• Daß dies so ist, liegt nun aber nach der offen­kundigen Unterstellung des THOMAS VON AQUINO nicht an der wirkenden Ursache, sondern an der Annahme des vorgegebenen materiellen Sub­strats. Denkt man dieses Substrat auf Null reduziert, so wird eo ipso die bewegende zur schöpferischen Ursache, die causa efficiens begründet die \Velt nicht nur in ihrem actus, sondern auch in ihrer potentia. Die Schöp­fung wäre dann ein Akt des unbewegten Bewegers , bei dem das zu Be­wegende noch nicht vorhanden ist, sondern im Akt des Bewegens als dessen notwendige Voraussetzung mit hervorgebracht werden muß. Hier geht es nicht darum, die Fehlerhaftigkeit dieses Gedankenganges selbst

unter den Voraussetzungen des aristotelisch-scholastischen Systems auf­zuweisen : movere heißt eben im aristotelischen Sinne allerhöchstens facere aliquid ex materia, nicht aber producere res in esse im Sinne des radikalen ex nihilo2• Die am Ende der gedanklichen Operation abgegebene Erklä­rung : Oreatio non est motus kann da wenig ändern, wenn der gesamte

Argumentationsprozeß darauf beruht, daß Schöpfung eine Art Grenzwert von Bewegungsursächlichkeit sei. Hier kommt es darauf an, daß dieser Bewegungsbegriff, der ein unaufhebbares Prädikat der Wirklichkeit der Welt darstellt, der Hebel für die Durchführung des Kontingenzgedankens­und damit für die These der unmöglichen Selbsterhaltung eines Seienden in irgendeinem Augenblick seines Daseins - ist.

Die Scholastik geht im Gebrauch des Ausdrucks "Bewegung" eindeutig über ARISTOTELES hinaus, der ihn nur für die drei Kategorien der Quanti­tät, Qualität und des Ortes zugelassen hatte, also die erste Kategorie der Substanz ausgeschlossen wissen wollte. Damit hatte er die Entstehung eines Seienden als solchen und hinsichtlich seiner wesentlichen Bestimmt­heit anhand des Schemas der "Bewegung" für nicht erfaßbar gehalten. Eben diese Grenze zu überschreiten, mußte das Problem der conservatio aufwerfen und es in die Konzeption von movens und motum hineinzwingen. Damit wurden aber auch die bescheidenen Beweisansprüche, die ARISTO­TELES an seinen Grundsatz von der Bewegung durch anderes gestellt

1 THOMAS VON AQUINO, Summa contm Gentiles II 6. 2 Summa contra Gentiles II 1 6 arg. 3-4.

( 354 )

Selbsterhaltung und Beharrung

hatte !, erheblich gesteigert. ARISTOTELES hatte sich noch nicht auf die­

selbe "Evidenz" der Sprache verlassen können, die aus der medialepassi­

ven Doppeldeutigkeit des griechischen kineisthai für die Scholastiker die

passive Eindeutigkeit des lateinischen moveri werden ließ, so daß diese

sich auf eine vermeintlich im Begriff fundierte Analyse beschränken

konnten, um darzutun, daß jedes moveri ein movere erfordert2. Wenn

"Bewegung" im weiteren Sinne von "Veränderung" (motio) schließlich

noch dies heißen darf, daß aus nichts etwas wird bzw. anstelle von nichts

etwas, so ist der Anschluß an das Theologumenon der Schöpfung als her­

gestellt unterstellbar. Nun gab es vom Naturbegriff des ARISTOTELES her

einen gewichtigen Grund, die Exogeneität der "Bewegung" vorsichtig zu

fassen, denn physis war für ihn deren Prinzip ( arche) ; und den Ausdruck

principium der lateinischen Übersetzungen haben die Scholastiker durch­

aus im genuinen Sinne verstanden, daß "Bewegung" ein consequens jener

Natur sein könne. Nur sollte der erste Beweger dann eben nicht diese

Natur, sondern der Urheber dieser Natur (generans) sein. Hier drohte

erkennbar dem Grundkonzept und seinen funktionalen Diensten erheb­

liche Gefahr. Denn jede natürliche (im Gegensatz zur gewaltsamen) Be­

wegung hat ihr Prinzip in der Natur (forma) , so bei den "schweren" und

"leichten" Körpern der aristotelischen Physik : Licet enim formae simpli­

ces non sint moventes, sunt tamen principia motuum ; ad eas enim conse­

quuntur motus naturales, sicut omnes aliae naturales proprietates3. Das

steht im Zusammenhang einer Erörterung der Frage, ob der Himmel kraft

seiner Natur bewegt werden könnte ; THOMAS verneint dies, weil jede

natürliche Bewegung die Ruhe als Ziel haben müsse und es unmöglich sei,

daß Bewegung um ihrer selbst willen und als gleichsam Letztes von der

Natur hervorgebracht würde4• Die Umläufe der Himmelskörper als kon­

tinuierliche und "ziellose" Bewegungen widersetzen sich der Subsumtion

unter den Begriff der "Natur" als Bewegungsprinzip : Non igitur motus

coelestis principiurn est sola natura. Damit wird die Einführung intellek­

tueller Sphärenbeweger gerechtfertigt, schließlich das ganze System der

im unbewegten Beweger kulminierenden kosmischen Motoren. In diesem

Zusammenhang wird die ganze Schwierigkeit erkennbar, mit den Mitteln

des Systems jemals die Erhaltung des Bewegungszustandes zu begreifen.

Denn alle "Bewegung" ist gleichsam instrumental, Mittel zu einem Zweck,

Weg zu einem Ziel- und was durch erreichte oder erreichbare Ruhelage

nicht gerechtfertigt werden kann, ist zumindest aus der "Natur" heraus

1 Physik VII 1 ; VIII 4. 2 THOMAS AQ., Sa. theol. I q. 2 a. 3. 3 Summa c. Gentiles III 23 arg. 4. 4 Aao, arg. 5: Impossibile est igitur quod natura intendat motum propter seipsum.

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24 HANS BLUMENBERG

nicht zu erklären. Während die Himmelskörper indifferent gegen jedes ubi sind, werden alle natürlichen Bewegungen nach endlicher Distanz durch Erreichen des locus naturalis aufgehoben.

Aber auch für diese natürlichen Bewegungen der gravia und levia ent­steht die Frage, ob sie sola natura bewegt werden. Hatte A VERROES diese Frage damit beantwortet, die elementare Bestimmung zum locus naturalis sei der "Beweger", so ist für THOMAS Beweger das generans, also der hier bezeichnenderweise unter dem sonst trinitarisch vorbehaltenen Ausdruck auftretende Schöpfer : moventur per se a generante, quod facit ea esse gravia et levia . . . 1 Das also, was im Aristotelismus für das organische Generations­verhältnis gelten darf und hier aus diesem in die Kosmologie usurpiert wird, ist eine deutlich von ARISTOTELES abweichende Christianisierung, die die natürlichen Bewegungen in den Schöpfungskontext zurückholen soll. Und dabei kommt schließlich das ganze Erhaltungsproblem mit zum Vorschein, indem Gott, insofern er die Naturen der Dinge als Prinzipien ihrer "Bewegung" setzt, auch deren Verhalten bestimmt, zu dem er ihnen virtus sowohl gibt2 als auch erhält ( sicut continue tenens virtutem in esse) . Die Idee der natürlichen Bewegung nimmt die Funktion des Bewegers auf das generans zurück, welches dem von seiner Natur Bewegten nur das innere Prinzip mitgibt, aus dem die Konsequenz der "Bewegung" folgt. Aber diese Zurücknahme überspringt THOMAS wiederum mit Leichtigkeit, um sowohl die Kausalität der Schöpfung als auch die der Erhaltung aus der gefährlichen Nähe der organischen Generationsmetaphorik wieder zu­rückzuholen. Gott ist causa virtutis collatae, non solum quantum ad fieri sicut generans, sed etiam quantum ad esse, ut sie possit dici Deus causa actionis inquant'um causat et conservat virtutem naturalem in esse. Das un­behagliche generans wird - als sei dies nur eine geringfügige Modifikation, ein logisches Äquivalent - hinübergespielt in das causat et conservat. Aber damit ist der Zusammenhang natura - virtus - actio naturae als Konse­quenz überdeterminiert und die immanente Kausalität in eine transzen­dente verformt. Zwar sollte ARISTOTELES der Bezugspunkt der Selbst­abstoßung und Gegenformierung der neuzeitlichen Wissenschaft werden; aber genauer muß festgestellt werden, daß in entscheidenden Punkten ganz einfach eine Art Pseudoaristotelismus der Scholastik den Bezugs­punkt der Gegnerschaft abgibt.

Das der aristotelischen Physik entnommene Axiom der begleitenden Kausalität erst machte ein systematisch unentbehrliches Element aus

1 In VII Phys. VIII 8. 2 De potentia q. 3a . 7 : Et hoc modo Deus agit omnes actiones naturae, quia dedit

rebus naturalibus virtutes per quas agere possunt . . .

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Selbsterhaltung und Beharrung 25

einer theologischen Überschwenglichkeit, die schon patristischen Autoren nicht fremd gewesen war1. In der Allegorese der Schöpfungsgeschichte durch AuGUSTIN war der Gedanke der ständigen Gottbedürftigkeit .der Natur ein frommes Überschußmoment gewesen : wenn er den Ruhetag Gottes nach dem Sechstagewerk auszulegen hat, läßt er dadurch gesagt sein, daß fernerhin neue Gattungen von Kreaturen nicht mehr geschaffen wurden, daß aber keineswegs die administratio des schon Geschaffenen durch den Ausdruck "Ruhe" negiert werden solle2. Die Rede von der gubernatio der geschaffenen Dinge, ohne die alles sofort zerfallen würde, bezieht sich auf den Bestand einer geformten und geordneten Welt, nicht aber auf die Umkehrbarkeit der creatio ex nihilo schlechthin. Insofern ist der Ausdruck conservatio, der hier nicht gebraucht wird, mit seiner Ten­denz auf creatio continua ungleich radikaler. Im Grunde wurde von AUGUSTIN nur die demiurgische Analogie abgewehrt : der Baumeister kann sich, wenn er sein Werk vollendet hat, von diesem zurückziehen, ohne dessen Bestand zu gefährden, und er kann es um so mehr, je besser er als Baumeister gearbeitet hat . Diese in der Neuzeit so gern für den Weltuhrmacher gebrauchte Analogie ist hier nicht mit dem göttlichen Ruhetag verbunden. Die con,tinuatio operis ist zwar als Konsequenz des Schöpfungswillens, nicht jedoch als ständige Wiederholung des Schöp­fungsaktes begriffen, auch wenn es von der omnipotens atque omnitenens virtus hier heißt, sie sei Ursache für das Bestehen eines jeden Geschöpfes ( causa subsistendi est omni creaturae) . Gestalt und Wesen der Dinge ( species, natura) würden zerfallen, wenn ihnen Gott seine verwaltende und regierende Macht entzöge; aber nicht das Nichts, sondern das Chaos einer sich selbst überlassenen blinden Natur wäre die Folge. In diesem Sinne ist das Fazit zu verstehen, das noch nicht dem Gedanken der "ständigen Schöpfung" äquivalent ist : ita mundus vel ictu oculi stare poterit, si ei deus regimen sui subtraxerit. Auf die spätere Verbindung dieses Gedankens mit der aristotelischen Physik und ihrem Bewegungs­begriff deutet nur die paradoxe Formulierung von der "unbewegten Be­wegung" hin, als die der den Dingen gewährte Bestand zu begreifen sei3. Gott konnte zwar aufhören zu schaffen, aber er kann nicht einen Augen-

1 Zur Unterscheidung von "begleitender Kausalität" und "übertragener Kausali­tät" vgl. v. Vf., Die kopernikanische Wende. Frankfurt 1965, 2 l f.

2 De Genesi ad litteram IV 22-23. 3 aaO IV 23 : satis apparet recte intuentibus, hunc ipsum incomparabilem et in­

etfabilem, et si possit intelligi, stabilem motum suum, rebus eam ( sc. sapientiam) praebere suaviter disponendis ; quo utique subtracto, si ab hac operatione cessaverit, eas continuo peritu1·as.

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26 HANS BLU:MENBERG

blick davon ablassen zu wirken ; genau diese Unterscheidung wird durch die Lehre von der creatio continua aufgehoben. Aber zugleich mit der Auf­hebung dieser Unterscheidung verlangt die biblische Rede vom Ruhen Gottes nach dem Schöpfungswerk eine neue Auslegung, oder sie ist zu­mindest mit der augustinischen Exegese nicht mehr zu decken. Im 14 . Jahrhundert, wenn man im Zusammenhang der aufkommenden Lehre von der übertragenen Kausalität (impetus) Veranlassung haben wird, auf den göttlichen Ruhetag zurückzukommen, steht bereits die faszinierende Metapher vom Weltuhrwerk zur Verfügung. Der Anblick der mechani­schen Uhr überzeugte nicht nur von der Möglichkeit des immanenten Antriebs, der doch des Aufziehens der Gewichte oder des Spannens der Feder bedürftig blieb, sondern vor allem von der möglichen Regelmäßig­keit des sich selbst überlassenen Werkes, das die zur Konstitution (nicht nur zur Messung) der Zeit erforderliche Unveränderlichkeit der Himmels­bewegungen nun auch ohne die Annahme bewegender Intelligenzen durch Analogie zu verbürgen schien. Die kosmische Begründung der absoluten Homogeneität der Zeit war im zwölften Buch der Metaphysik des ARISTO­TELES das entscheidende Argument für die Übersteigung der Sphäre der bewegenden Intelligenzen zum unbewegten Beweger hin gewesen. Genau bei der Kommentierung dieses aristotelischen Textes hebt J OHANNES BuRIDAN die Unentbehrlichkeit der ständigen göttlichen Bewegerschaft auf: . . . ipse cessavit a movendo, et per impetum illis sphaeris impressum semper postea duramerunt illi motus .

Es gibt für die Scholastik einen anderen Zusammenhang von Schöpfung und Erhaltung, und zwar über das göttliche Attribut der Allgegenwärtig­keit. THOMAS VON AQUINO hat sich dieser Argumentation offenbar aus Ungenügen an der traditionellen politischen Metaphorik von Verwaltung, Lenkung und Regierung bedient. Dabei ist bezeichnend, daß THOMAS metaphorisch nach dem höchsten Gleichnis der philosophischen Tradition greift, daß er die Erhaltung der Dinge in ihrem Dasein vergleicht mit der Erhellung der Luft durch die Sonne, die das Bild für die von ARISTOTELES geforderte Gleichzeitigkeit des Bewegten und des Bewegers ist : Hunc autem efjectum causat deus in rebus, non solum quando prima esse incipiunt, sed quamdiu in esse conservantur, sicut lumen causatur in aere a sole, quamdiu aer illuminatus manet. Quamdiu igitur res habet esse, tamdiu oportet quod deus adsit ei secundum modum q�w esse habet1. Das Bild von der durch die Sonnenstrahlen erhellten Atmosphäre betont das Moment der Gegenwärtigkeit, einer gesetzmäßig anmutenden Natürlichkeit und Zu-

1 Summa theol. I q. 8 a. l .

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Selbsterhaltung und Beharrung 27

verlässigkeit von der Art des Sonnenauf- und -unterganges und läßt auf diese Weise den mit dem Schöpfungsbegriff verbundenen Voluntarismus zurücktreten. Bei aller sonst bemerkbaren Abneigung des Aquinaten ge­gen die Lichtmetaphorik ist doch hier das Sonnengleichnis für ihn fast unvermeidlich. Selbst ÜCKHAM wird es aufnehmen, aber gerade mit der bestimmenden Demonstrationsabsicht einer Diskontinuität zwischen Gott und Welt, die sich gegen allzu massive Folgerungen aus dem Grund­satz movens et motum debent esse simul richtet, nämlich gegen den Schluß ergo est in omnibus rebus, der die conservatio auf die spinozistische Identität zutreibt. Gerade dafür, daß movens und motum sichnicht berühren müssen, steht bei ÜCKHAM der Sonnenvergleich : sol immediate causat lumen in aliquo corpore hic inferius, et tamen non est praesens isti corpori.1 Für eine voluntaristische Metaphysik ist es wichtig, den göttlichen Erhaltungs­VIrilleu nicht als Funktion der Allgegenwart in die Nähe der Natürlichkeit zu rücken, conservatio nicht als praesentia auszulegen.

Das angemessene Bild des willentlich und willkürlich erzeugten Lichtes ist nicht der Strahl der Sonne, sondern der des Blitzes. Er wird in der Metaphorik der Aufklärung als Ausdruck überwundener Bedrohlichkeit eine bedeutende Rolle spielen. LEIBNIZ, der im Anhang der "Theodizee" ausdrücklich die Lehre von der Erhaltung als einer fortgesetzten Schöp­fung aufnimmt und dabei auf das Sonnengleichnis zurückgreift2, hat für die Abhängigkeit der Monaden das Bild der Blitze ( nascuntur per con­tinuas divinitatis fulgurationes ) . An diesen Metapherngebrauch erinnert ABRAHAM GoTTHILF KÄSTNER 1770 in seiner Abhandlung "Über die Lehre von der Schöpfung aus Nichts und derselben praktische Wichtig­keit" : Stellte man sich vor, als ob Gott in abwechselnden Augenblicken wollte und nicht wollte, daß ein Geschöpf sein sollte, so würde es einen Augenblick um den andern entstehen und vergehen : und wenn man sich der nur ange­führten Vergleichung hierbei in den angezeigten Schranken bediente, so wäre ein Bild von diesen Abwechselungen, Licht, das einen Augenblick um den andem durch die Atmosphäre glänzte und verschwände . Eine solche Erschei-

1 I. Sent. q. 37 B. 2 Causa dei asserta per justitiam eius ( 1710) , § 9 (Philos. Sehr., ed. GERRARDT,

VI 440 ) : Actualia dependent a Deo tum in existendo tum in agendo, nec tantum ab Intellectu ejus, sed etiam a Voluntate. Et quidem in existendo . . . a Deo conservantur ; neque male docetur, conservationem divinam esse continuatam creationem, ut radius continue a sole prodit, etsi creaturae neque ex Dei essentia neque necessa1·io p1·omanent. -Diese letzte Einschränkung fängt die Gefährlichkeit des Sonnengleichnisses in seinen naturalisierenden Konnotationen ab, ohne darin freilich der Blitzmetapher V ergleichbares zu erreichen.

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nung würde man wohl Blitze nennen1. Das Problem, das in diesem meta­phorischen Umschlag zum Ausdruck kommt, liegt in der Unmöglichkeit, den voluntaristischen Erhaltungsbegriff anders als gleichsam atomistisch, in Zeitpartikeln sich realisierend, vorzustellen. Die radikale Interpretation der creatio continua hebt gerade das Moment der Kontinuität auf und setzt an deren Stelle eine, wenn auch noch so verdichtete, Folge von Einzelakten, die nur den Schein der substantiellen Solidität hervorrufen, so wie ein ablaufender Film die Diskontinuität seines Bildsubstrates ver­schwinden läßt.

KÄSTNER hat methodisch glänzend beobachtet, daß 1V[etaphern hier nicht bloßer Redeschmuck sind. Das ist ihm an der Art aufgegangen, wie der Artikel "Leibniz" im neunten Band der französischen Enzyklopädie von 1765 die Blitzmetapher von LEIBNIZ wiedergibt . Gott sei als Einheit oder einfache Substanz der Ursprung aller geschaffenen Monaden, die so­zusagen durch beständige Blitze ( par des fulgurations continuelles) aus ihm ausgeströmt seien ( qui en sont bnanees) . Mit Recht sagt KÄSTNER,

der Autor könne angesichts dieser Interferenz seiner Metaphern LEIBNIZ

nicht verstanden haben ; weder gehört das neuplatonische Ausfließen zum voluntaristischen Blitzen, noch darf das Präsens der ständigen Erhaltung durch die Vergangenheitsform der Entstehung wiedergegeben werden 2•

Ist das Verständnis einmal verloren, so hypertrophiert das Mißver­ständnis. Als BAILLY 1 769 in einer von der Berliner Akademie ausgezeich­neten Preisschrift zum Gedächtnis von LEIBNIZ auf den Enzyklopädie­Artikel zurückgreift, spinnt er den Gedanken fort mit Hilfe einer Kennt­nis, die LEIBNIZ selbst noch nicht gehabt haben konnte, nämlich der von der "elektrischen Materie" der Blitze, und läßt die Monaden aus dem Schoße Gottes wie aus einer sich öffnenden Wolke als Blitze heraus­brechen3. Über diese Endstufe einer autonom sich fortspinnenden meta-

1 Gesarmnelte poetische und prosaische We�·ke. Berlin 1841, III 8-10. Daß LEIBNIZ das Sonnengleichnis verwendet, begründet KÄSTNER so : Leibnitz hatte bekanntlich die Scolastiker gelesen, wie Virgil den Ennius. Die an der Differenz von Strahlungs­und Blitzmetaphorik sich verratende metaphysische Unschlüssigkeit von LEIBNIZ ist von KÄSTNER nicht weiter beachtet worden.

2 Der Enzyklopädist begründet an der gemeinten Stelle seines Artikels (IX 375B) ausdrücklich den Gebrauch von "fulguration" mit der genuin platonischen Pro­venienz des Gedankens von LEIBNIZ : Nous nous somrnes servis de ce mot fulguration, parce que nous n'en cannaissans point d'autre qui lui reponde. Au reste, cette idee de Leibnitz est taute platonicienne, et pour la subtilite et pour la sublirnite.

3 Eloge de Leibniz, Berlin 1 768, p. 24: Dieu, principe de toutes les monades, emanees de son sein pa1· une espece de fulguration, semblable a l'eclaiT, qui, s'echappant du nuage entrouvert, repand su1· la te1·n les particules electTiques, et en penetre tous les corps.

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phorischen Interferenz macht KÄSTNER sich lustig ; der Gedenkredner mache den Schöpfer zu einer Gewitte1·wolke, und setzt mit seinem Blitze, der alle Körper durchdringt, uns alle in Gefahr, vom Wetter erschlagen zu werden. Bedenkt man, daß es in dieser Metapherngeschichte ursprünglich um das Problem der Erhaltung geht, so ist dieser paradoxe Spott zugleich ein Symptom dafür, daß die Problematik der conservatio ebenso sich aufge­löst hatte, wie die Bedrohlichkeit des Gewitters gerade eben mit dem Blitz­ableiter harmlos zu werden schien.

IV.

Nicht nur der theologisch geprägte und dienstbare, sondern auch der orthodoxe Aristotelismus der Artistenfakultät und der averroistischen Observanz geht über ARrsTOTELES hinaus in der Erörterung des Problems der conservatio. ARISTOTELES wird dabei mit dem verhältnismäßig gering­fügigen Ertrag der Physik II 3 ( 195b 16-25) zitiert. Dort ist aber nur von der begleitenden Kausalität, also von der strengen Gleichzeitigkeit der wirkenden und konkreten Ursachen mit den von ihnen bewirkten Pro­zessen für die Dauer dieser Prozesse, die Rede. Beispiel ist der Arzt, der im strengen Sinne der Verwirklichung seiner Fähigkeit nur so lange Arzt ist, wie er an einem bestimmten Patienten eine bestimmte Behandlung durch­führt. Arzt und Baumeister werden als Relationsbegriffe aufgefaßt, deren Gehalt nur in der aktualisierten Relation zu dem Objekt ihrer Fertigkeiten erfüllt sein kann. Wenn der Baumeister aufhört, ein Gebäude zu errichten, so fällt er auf seine bloße Potentialität zurück ; die Frage nach der Fort­dauer des Gebäudes, die nun eigentlich das Mittelalter im Hinblick auf die Welt interessieren wird, spielt in dieser kausaltheoretischen Erörterung überhaupt keine Rolle.

Auf diesen Text bezieht sich die Quaestio II 1 3 in einem Physikkom­mentar, der lange dem SIGER VON BRABANT zugeschrieben wurde, dessen benannte Urheberschaft aber für unseren Zusammenhang angesichts der Dignität des Textes unerheblich ist . 1 Hier wird nicht nach Analogie des aristotelischen Textes gefragt, ob die erste Ursache als reine Wirklichkeit "Ursache" bleiben könnte, wenn das von ihr einmalig Verursachte auch ohne ihre fernere Einwirkung bestehen könnte. Das Problem wird ganz von der Bedürftigkeit der Wirkung hinsichtlich ihres eigenen Fortbestan­des her gesehen, und die Umkehrung der aristotelischen Begründung für

1. Questions Sur la Physique d'Aristote, ed. PHILIPPE DELHAYE, Louvain 1941 (Les Phrlosophes Belges XV), p. 101-103 : Utrum causata a prima indigeant eo ad con­servationem sui esse.

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nung würde man wohl Blitze nennen1. Das Problem, das in diesem meta­phorischen Umschlag zum Ausdruck kommt, liegt in der Unmöglichkeit, den voluntaristischen Erhaltungsbegriff anders als gleichsam atomistisch, in Zeitpartikeln sich realisierend, vorzustellen. Die radikale Interpretation der creatio continua hebt gerade das Moment der Kontinuität auf und setzt an deren Stelle eine, wenn auch noch so verdichtete, Folge von Einzelakten, die nur den Schein der substantiellen Solidität hervorrufen, so wie ein ablaufender Film die Diskontinuität seines Bildsubstrates ver­schwinden läßt.

KÄSTNER hat methodisch glänzend beobachtet, daß Metaphern hier nicht bloßer Redeschmuck sind. Das ist ihm an der Art aufgegangen, wie der Artikel "Leibniz" im neunten Band der französischen Enzyklopädie von 1765 die Blitzmetapher von LEIBNIZ wiedergibt . Gott sei als Einheit oder einfache Substanz der Ursprung aller geschaffenen Monaden, die so­zusagen durch beständige Blitze ( par des fulgurations continuelles) aus ihm ausgeströmt seien ( qui en sont emanees) . Mit Recht sagt KÄSTNER,

der Autor könne angesichts dieser Interferenz seiner Metaphern LEIBNIZ

nicht verstanden haben ; weder gehört das neuplatonische Ausfließen zum voluntaristischen Blitzen, noch darf das Präsens der ständigen Erhaltung durch die Vergangenheitsform der Entstehung wiedergegeben werden2•

Ist das Verständnis einmal verloren, so hypertrophiert das Mißver­ständnis. Als BAILLY 1 769 in einer von der Berliner Akademie ausgezeich­neten Preisschrift zum Gedächtnis von LEIBNIZ auf den Enzyklopädie­Artikel zurückgreift, spinnt er den Gedanken fort mit Hilfe einer Kennt­nis, die LEIBNIZ selbst noch nicht gehabt haben konnte, nämlich der von der "elektrischen Materie" der Blitze, und läßt die Monaden aus dem Schoße Gottes wie aus einer sich öffnenden Wolke als Blitze heraus­brechen3. Über diese Endstufe einer autonom sich fortspinnenden meta-

1 Gesammelte poetische und p1·osaische Werke. Berlin 1841 , III 8-10. Daß LEIBNIZ das Sonnengleichnis verwendet, begründet KÄSTJ\TER so : Leibnitz hatte bekanntlich die Scolastiker gelesen, wie Virgil den Ennius. Die an der Differenz von Strahlungs­und Blitzmetaphorik sich verratende n'letaphysische Unschlüssigkeit von LEIBNIZ ist von KÄSTNER nicht weiter beachtet worden.

2 Der Enzyklopädist begründet an der gemeinten Stelle seines Artikels (IX 375 B) ausdrücklich den Gebrauch von "fulguration" mit der genuin platonischen Pro­venienz des Gedankens von LEIBNIZ : N ous nous sommes servis de ce mot fulguration, parce que nous n'en connoissons point d'autre qui lui reponde. Au reste, cette idee de Leibnitz est taute platonicienne, et pour la subtilite et pour la sublirnite.

3 Eloge de Leibniz, Berlin 1768, p. 24: Dieu, principe de toutes les monades, bnanees de son sein pa1· une espece de fulgumtion, sernblable a l'eclair, qui, s'echappant du nuage entTDuvert, repand sur la terre les pm·ticules electriques, et en penetre tous les corps.

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phorischen Interferenz macht KÄSTNER sich lustig ; der Gedenkredner mache den Schöpfer zu einer Gewitterwolke, und setzt mit seinem Blitze, der alle Körper durchdringt, uns alle in Gefahr, vom Wetter erschlagen zu werden. Bedenkt man, daß es in dieser Metapherngeschichte ursprünglich um das Problem der Erhaltung geht, so ist dieser paradoxe Spott zugleich ein Symptom dafür, daß die Problematik der conservatio ebenso sich aufge­löst hatte, wie die Bedrohlichkeit des Gewitters gerade eben mit dem Blitz­ableiter harmlos zu werden schien.

IV.

Nicht nur der theologisch geprägte und dienstbare, sondern auch der orthodoxe Aristotelismus der Artistenfakultät und der averroistischen Observanz geht über A:arsTOTELES hinaus in der Erörterung des Problems der conservatio. ARISTOTELES wird dabei mit dem verhältnismäßig gering­fügigen Ertrag der Physik II 3 ( 195 b 1 6-25) zitiert. Dort ist aber nur von der begleitenden Kausalität, also von der strengen Gleichzeitigkeit der wirkenden und konkreten Ursachen mit den von ihnen bewirkten Pro­zessen für die Dauer dieser Prozesse, die Rede. Beispiel ist der Arzt, der im strengen Sinne der Verwirklichung seiner Fähigkeit nur so lange Arzt ist, wie er an einem bestimmten Patienten eine bestimmte Behandlung durch­führt. Arzt und Baumeister werden als Relationsbegriffe aufgefaßt, deren Gehalt nur in der aktualisierten Relation zu dem Objekt ihrer Fertigkeiten erfüllt sein kann. Wenn der Baumeister aufhört, ein Gebäude zu errichten, so fällt er auf seine bloße Potentialität zurück ; die Frage nach der Fort­dauer des Gebäudes, die nun eigentlich das Mittelalter im Hinblick auf die Welt interessieren wird, spielt in dieser kausaltheoretischen Erörterung überhaupt keine Rolle.

Auf diesen Text bezieht sich die Quaestio II 1 3 in einem Physikkom­mentar, der lange dem SIGER VON BRABANT zugeschrieben wurde, dessen benannte Urheberschaft aber für unseren Zusammenhang angesichts der Dignität des Textes unerheblich ist . 1 Hier wird nicht nach Analogie des aristotelischen Textes gefragt, ob die erste Ursache als reine Wirklichkeit "Ursache" bleiben könnte, wenn das von ihr einmalig Verursachte auch ohne ihre fernere Einwirkung bestehen könnte. Das Problem wird ganz von der Bedürftigkeit der Wirkung hinsichtlich ihres eigenen Fortbestan­des her gesehen, und die Umkehrung der aristotelischen Begründung für

1 Questions sur la Physique d'A1·istote, ed. PHILIPPE DELHAYE, Louvain 1941 (Les Philosophes Belges XV), p. 1 01-103 : Ut1·urn causata a prirno indigeant eo ad con­servationem sui esse.

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30 HANS BLUMENBERG

das Gleichzeitigkeitspostulat der begleitenden Kausalität nicht gescheut: efjectus in actu non est sine causa in actu. Der Baumeister, wenn er die Relation zu seinem Objekt realisiert, ist causa in actu, wenn er gerade nichts zu tun hat, ist er causa in potentia. Umgekehrt aber erfordert der Bestand eines bewirkten Gegenstandes die fortdauernde 'Wirksamkeit zwar nicht aller seiner Ursachen, aber doch der zureichenden und ersten. Der argumentative Witz liegt in der Symmetriebehauptung, die mit einem . . . et e converso leicht in den Text einfließt, und zwar nicht ohne Sprachzauberei : bei unserem Kommentator ist die Relation behauptet vom domificator und der dmnificatio. Für diese freilich ist das Problem kaum gestellt : ARISTOTELES sprach von dem Baumeister und seinem Bau­werk, der Scholastiker spricht von dem Baumeister und dem Bauvorgang, die freilich vor jeglicher lVIechanisierung nicht ohne einander gedacht werden können, ita quod simul sunt et 1wn sunt. Von diesem Argument wird der Analogieschluß nicht getragen : Quare sirniliter erit de efficiente dante esse, quod ipsum, conservat.

Interessant im Hinblick auf die Erörterungen der nominalistischen Physik des 14 . Jahrhunderts ist der Einwand des Kommentators, daß eine dauernde Wirksamkeit der ersten Ursache gegenüber dem von ihr Bewirkten diesem ständig neue Wirklichkeitsmomente hinzufügen müßte, so daß es bis ins Unendliche bereichert würde, was für den Aristoteliker absurd sein muß. Gegenüber diesem Einwand deckt sich der auch hier organisch-metaphorische Hintergrund auf, an dem sich das Problem der Erhaltung orientiert. Alles, was ist, ist verderblich, schwindet dahin, ver­fällt, erleidet ; alles, was sich bewegt, zeigt gerade daran, daß es ständig Möglichkeit in Wirklichkeit überführt, seine Hinfälligkeit und Bedürftig­keit . Wenn diese Grundvorstellung zutrifft, bedeutet die Wirksamkeit der ersten Ursache gegenüber der von ihr bewirkten Welt und dem in ihr Ent­haltenen nicht eine ständige Hinzufügung, sondern nur die ständige Restitution eines Verlustes. Hiervon scheint auch die Welt der Gestirne, deren Bewegung der Aristoteliker doch als ewig anzunehmen hat, nicht ausgenommen ; die Regelmäßigkeit der Sphärenbewegungen wird offen­kundig darauf zurückgeführt, daß die erste Ursache hier immer genau das hinzufügt, was verlorengegangen istl. Auch dasjenige, was dadurch defi­niert ist, daß es nicht nicht sein kann, kann doch diese derart bestimm­bare reine Wirklichkeit von einem anderen Bewirkenden haben. Das ist

1 aaü 103 : Quae autem conservantur in esse mediante motu, eis additur aliquid, quia conservantu1' in esse per innovationem, sed quia nullum talium est aeternum sed omnia subdita motui sunt corruptibilia, ideo non fit eis additio in infinitum.

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Selbsterhaltung und Beharrung 3 1

ganz offenkundig i m Hinblick auf die Himmelssphären und das Verhältnis zum unbewegten ersten Beweger gesagt. Hier wird wieder in erstaunlicher Weise mit einem fast magischen Begriffsrealismus gearbeitet : alles, was nicht das Erste ist, ist schon kraft dieser Definition unfähig, si�h selbst als das zu bestimmen, was es ist, nämlich als ein Nachrangiges in einer Reihe . Was seine Wirklichkeit nicht aus sich selbst hat, steht zu dieser in einem Verhältnis der Indifferenz, das sich gleichsam ständig in Ablösbarkeit von dieser Wirklichkeit äußert : ornnia enirn alia a Primo, curn sint in potentia ad suurn esse, necessario indigent aliquo alio quo conservantur in esse.

Wie löst sich aber gegenüber dieser Konzeption nun der unangenehme Einwand, daß im organischen Zeugungsprozeß der Sohn schließlich auch ohne die ständige Wirksamkeit des Vaters fortzubestehen vermag ? Genügt nicht dieses, die organische Orientierung von einer anderen Seite an­zapfende, Beispiel schon, um zu belegen, daß wenigstens einige wirkende Ursachen das Dasein und die Erhaltung im Dasein zu verleihen vermögen apud absentiarn ? Diese Folgerung wird rundweg als unwahr zurückgewie­sen. Wenn ein wirklicher Gegenstand auch bei Abwesenheit seiner Ur­sache fortzubestehen vermag, so war diese Ursache nur vermeintlich zu­reichend für die Entstehung dieses Gegenstandes. Die Möglichkeit der Entfernung, der Ungleichzeitigkeit der Existenz beweist, daß nach einer höheren und zureichenden Ursache gefragt werden muß. Für das Beispiel des Verhältnisses von Vater und Sohn bedeutet dies, daß der Vater nur akzidentell der Urheber des Sohnes ist: pater est causa per se generationis eius, non autem, per se substantiae. Der Kunstgriff der Argumentation ist wieder deutlich : wo eine Ursache sich als zur Erhaltung des von ihr Be­wirkten nicht erforderlich erweist, wo begleitende Kausalität phänomenal nicht nachgewiesen werden kann, muß die sufficientia causalitatis infrage gestellt werden. Auf diese Weise kommt in die Prämissen der Argumen­tation schon das hinein, was dann als gefolgerte These wieder herauszu­holen ist. Wenn der Baumeister sein Werk für sich bestehen lassen kann so ist er zwar selbst von diesem Augenblick an nicht mehr Baumeister i� aktuell erfüllten Sinne, aber zugleich und darüber hinaus demonstriert er auch noch, daß er gar nicht die hinreichende Ursache für sein Werk ge­wesen ist. Kein Gedanke von der Art der späteren Hochschätzung des Uhrmachers, der sich gerade dadurch auszeichnet, daß sein Werk ohne ihn und seine Eingriffe weiter besteht, sondern die umgekehrte Prämisse : si aliquod sit agens sine quo efjectus potest manere postquarn factus est, non est sufficiens agens illius efjectus. Da aber letztlich die erste Ursache das möglicherweise Unzureichende aller anderen Ursachen zu kompensieren hat, muß wenigstens sie die Bedingungen einer zureichenden Ursache er-

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füllen, nämlich die, daß ohne sie die Gesamtheit aller Wirkungen nicht bestehen könnte.

Dieser Text mag in scholastischen Zusammenhängen wenig originell sein ; in der Bloßstellung der Schwächen seiner Argumentationsweise und

ihres Hintergrundes ist er ebenso aufschlußreich wie hinsichtlich der ver­meintlich orthodoxen Verwendung des aristotelischen Bezugstextes in der "Physik" .

Das scholastische Dilemma im Zusammenhang mit der Begriffsge­schichte der conservatio läßt sich bestimmen als Divergenz der systemati­schen Interessen beim Gottesbeweis einerseits, beim Gottesbegriff anderer­seits. Der einer christlichen Theologie zuzureichende Gottesbegriff kann das Attribut des Schöpfers nicht als Grenzwert der Qualität des unbeweg­ten Bewegers behandeln ; der steigenden rationalen Ansprüchen gegen­über zu leistende Gottesbeweis funktioniert in der Vorzeichnung des ARISTOTELES nur, wenn dem actus primus der \Velt ihr actus secundus gleichsam nur noch hinzuzufügen ist, wenn also die Bewegung als be­stimmende Kategorie aller physischen Wirklichkeit die zeitlich unbe­

grenzbare Existenz der Welt schon voraussetzt. THOMAS VON AQUINO hat an der Argumentation des zwölften Buches

der aristotelischen Metaphysik eine ganz entscheidende Einsparung vor­genommen, nämlich den Schluß von der absoluten Homogeneität der Zeit auf die reine Wirklichkeit des unbewegten Bewegers. Diese Einsparung geht zu Lasten dessen, was bewiesen werden soll, also des Gottesbegriffs. In seinem philosophischen Hauptwerk hat THOMAS deutlich erkennen lassen, daß auch für ihn der aristotelische Beweis des ersten unbewegten Bewegers auf der Voraussetzung der Ewigkeit der Welt und das heißt doch: auf dem Ausschluß des Schöpfungsgedankens - beruht. Diese kri­tische Stelle in der "Summa contra Gentiles" I 13 hat seit jeher nicht nur die Kommentatoren, sondern auch die Editoren in Verlegenheit gesetzt, so daß noch die nach dem Autograph edierte Leonina von 1 888 das ex suppositione aeternitatis ändert in ein ex suppositione novitatis1. Der Beweis

1 Merkwürdigerweise hat für die hier herangezogene Stelle von Sa. c. Gent. I 13 das Autograph eine Lücke, auf die mich P. ENGELHARDT mit Bezug auf Philoso­phische Rundschau 3, 1 955, 206 hingewiesen hat, wo ich mich ausführlicher mit dem Text beschäftigte. Die Änderung der Leonina von 1888 entspreche der Editio Piana und den von SYLVESTER FERRARIENSIS so bezeichneten codices correcti. Daß die Änderung in der älteren Tradition nicht nachweisbar ist und damit interpretatori­sche Tendenz hat (was entweder bedeutet, daß die ursprfu<gliche Fassung nicht ge­billigt, oder, daß sie nicht verstanden worden ist), geht aus der gewissenhaften Note der Leonina-Editoren von 1 9 1 8 hervor : qui haberent non invenimus. Zu vergleichen ist auch die subjektivierende Interpretation der Stelle in der Ausgabe von Vrv:Es,

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Selbsterhaltung und Beharrung 33

aus dem Gedanken der begleitenden Kausalität gelangt nur zum Ziel, wenn er zugleich implizite darauf verzichtet, das Bewiesene als Schöpfer zu deklarieren. Dadurch aber wird, genau betrachtet, die conservatio zur einzigen und schlechthin essentiellen Funktion des derart bewiesenen Gottes, zugleich aber ihre Radikalität dahin gemindert, daß ein "Rest" von physischer Substanz durch sie überhaupt nicht betroffen ist. THOMAS

läßt zwar nur die Einsicht erkennen, die via efficacissima des Gottesbe­weises werde verfehlt, sofern man einen Anfang der Welt zu unterstellen habe ; tatsächlich aber gelangt der Beweis um diesen Preis nur noch zu einer relativ ersten Kausalität, deren absoluter Rang unerreichbar bleibt. An diesem Beweisinteresse liegt es aber auch, daß der Begriff der conser­vatio nicht zu seiner Radikalität der creatio continua gelangen kann, bevor nicht der scholastische Gottesbeweis durch die Kritik des DuNs ScoTus in eine Krise zugunsten der Steigerung des Gottesbegriffs geraten ist. Die unmittelbare Abhängigkeit der Welt von Gott kann nicht demonstriert werden, solange die Vernunft sich noch abverlangt und zutraut, die Exi­stenz dieses Gottes zu beweisen.

Dieser Exkurs soll verständlich machen, weshalb bei WILHELM VON ÜCKHAM in der Auseinandersetzung mit der Gottesbeweiskritik des DuNs ScoTus schließlich offen die Position bezogen wird, daß der Beweis sich überhaupt nicht auf die Hervorbringung der Welt beziehen könne (weil diese einen regressus in infiniturn nicht ausschließen lasse) , sondern sich auf die conservatio der vom Menschen vorgefundenen, aber wegen der Indifferenz zu ihrem Dasein kontingenten vVelt stützen müsse1. Diese conservatio ist nicht mehr aus dem Axiom der begleitenden Kausalität ab­leitbar, weil ÜCKHAM sich bereits so weit von der aristotelischen Theorie der Bewegung gelöst hat, daß er die Bewegung eines Körpers für möglich hält, die nicht auf die gleichzeitige Ursächlichkeit eines anderen Körpers oder des Mediums zurückzuführen ist2• Diese Beweisabstützung durch die conservatio wird nun theologisch tragfähig gemacht durch die begriffs­kritische Preisgabe der Unterscheidung von creatio und conservatio, wie sie eben nur durch die Ablösung der conservatio von der aristotelischen

Paris 1874, wo die Wirksamkeit des Beweises auf die Reichweite seiner Adressaten bezogen wird: Ponendo igitur novitatem mundi ad pmbandum Deum esse, non attingis negantes illam novitatem. Via ergo efficacissima ad probandum Deum esse est ex suppositione aeternitatis mundi. Sie enim omnes eodem argumento convincere potes.

1 PR. BöHl\'ER, Zu Ockhams Beweis der Existenz Gottes. In : Franziskanische Studien 32, 1 950, 50ff.

2 E. A. MüüDY, Galileo and Avempace. In: Journal of the History of Ideas 12, 1951 , 399.

Abh. Geistes- u. sozialw. K!. Nr. 11 ( 365 ) 26

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Physik sinnvoll sein konnte. Nur in den negativen Konnotationen unter­scheiden sich die beiden Begriffe, insofern Schöpfung die Negation impli­ziert, daß die Welt unmittelbar vor dem schöpferischen Akt existiert hat, die Erhaltung, daß sie in ihrer Existenz unterbrochen wird.1 Die Identi­tät des Begriffes hat ihr reales Fundament, so scheint es, in der Wider­spruchslosigkeit im Denken Gottes, nicht in der Unvernichtbarkeit der Kreatur : Producere sive creare respectu dei et conservare non differunt quia nihil potest ab eo produci quin ab eo conservetur2•

Neben der Begriffsökonomie, die ÜCRHAM daran hindert, zwischen Schöpfung und Erhaltung eine Differenz zuzulassen, spielt in der volun­taristischen Konzeption des Gottesbegriffes eine noch größere Rolle die

Symmetrie zwischen creatio und annihilatio. Die dem göttlichen Willen und der göttlichen Macht vorbehaltene Reduktion auf das purum nihil impliziert Ausdrücklichkeit des Aktes, ist also nicht das bloße Ausbleiben der conservatio, sondern der willentliche Widerspruch zur Schöpfung, den kein Geschöpf durch destruktiven Willen je erreichen kann, weil in jeder geschöpfliehen Handlung notwendig die Existenz der Materie, auf die sie sich bezieht, vorausgesetzt ist3. Die Kontingenz der Schöpfung ist über die Bedürftigkeit nach Erhaltung hinaus verschärft zur Möglichkeit der V er­nichtung, insofern Gott seine Allmacht nicht dadurch beschränkt, daß er sie ausübt. Das gilt im extremen Fall der hier gängig gewordenen Er­wägungen, vom Typus der freien Variation, sogar für die Unsterblichkeit

der menschlichen Seele4• Schließlich wird der Ausdruck conservare in einem expliziten, vom Be­

griff der Schöpfung abgelösten, Sinne im theologischen Zusammenhang gebraucht, wenn es sich um die für Christologie und Sakramentenlehre wichtige Frage handelt, ob Gott ein Akzidenz von seiner Trägersubstanz trennen und beide für sich erhalten könne, was der ursprünglichen Logik der Bildung beider Begriffe streng zuwiderläuft. Die hochscholastische Betrachtungsweise der ·weit hatte sozusagen ihre Normalität in der Kontingenz als dem Mangel des Rechts der Geschöpfe auf ihr Dasein, dem � als dem einmal Gesetzten � der erhaltende Gott seine Treue be­wahrte. Anstelle dieser Thematisierung der Normalität tritt immer stärker die Betreibung der Grenzfragen, für die eben die Erwägung der annihila-

1 II. Sent. q. 4/5 X : si dicas, quod conseTvare et creare difjeTunt : dico quod quanturn ad nornen positivurn non difjeTunt : sed quanturn ad negationes connotatas : quia creaTe cannatat negationern irnrnediate praecedentern esse, conseTvare cannatat negationern 1:nte1Yuptionis esse. 2 II. Sent. q. 10 H. 3 II. Sent. q. 7 J.

• I. Sent. q. 17 a. 1 L: . . . istarn anirnarn contingenteT cTeavit. eTgo ipsarn potest

annihilm·e.

( 366 )

Selbsterhaltung und Beharrung 35

tio schlechthin paradigmatisch ist ; man braucht nur an die Bedeutung für die Verunsicherung jeder Erkenntnistheorie zu denken. Je mehr das philo­sophische Denken in der Dienstbarkeit der Auslegung biblisch-theologi­scher Vorgegebenheiten sich dem Thema der außerordentlichen Taten und Eingriffe Gottes in den Weltlauf zuwendet, um diese mit dem Katalog der metaphysischen Attribute des Absoluten zu harmonisieren, um so deut­licher wird zugleich das innersystematische Bedürfnis nach Bestimmung der Normalität als dessen, was durchbrachen werden kann, und zwar im Sinne der nicht mehr getragenen, sondern sich tragenden, aber gerade darin jede Notwendigkeit verfehlenden Wirklichkeit. Diesen Prozeß der systematischen Polarisierung von Normalität und Exzeptionalität, von potentia ordinata und potentia absoluta, muß man als den Vorspann des Ausbrechens der Rationalität aus dem spätmittelalterlichen System sehen, jenes Ausbrechens in die Autonomie und Selbsterhaltung, die DrLTHEY

als ein Stück antiker Renaissance beschreiben sollte. Die mittelalterliche Zuspitzung des Kontingenzgedankens, nach welcher

die Wirklichkeit der Welt nicht genügt, sie für den Menschen zuverlässig und beständig zu machen, hat auch den Kanon für dessen Überwindung festgelegt. Wenn es in der weltlichen Seinsmodalität lag, ohne die gött­liche Erhaltung nicht beständig, ohne den ausdrücklichen göttlichen Willen nicht gesetzmäßig sein zu können, so gab es nur eine Alternative, aus dieser Verunsicherung herauszutreten : die Welt selbst mußte das ens necessarium werden. Der Übergang zum Pantheismus ist mit den Anfän­gen einer Naturphilosophie verbunden, die Selbsterhaltung als den Sinn des Weltorganismus zu sehen beginnt und die der Natur ihre erhabene Notwendigkeit dadurch verschafft, daß sie sie zum Äquivalent der Schöpfungsmacht, zur Negation der These, Gott könne alles schaffen, nur nicht einen Gott, erhebt. Hatte ÜCKHAM die Behauptung aufgestellt, die Allmacht könne nicht alles bewirken, was einen Widerspruch einschließt, weil sie eben einen Gott nicht hervorbringen könne\ so wird das platoni-

1 I. Sent. q. 17 a. 8 G : . . . ornnipotens non potest efficere ornne illud quod non includit contmdictionern, quia non potest efficere deurn. � Das Problem entsteht im 14. Jahr­hundert freilich noch aus der gnadentheologischen Grenzfrage nach der augrnentatio caTitatis, ob diese zur caTitas infinita (etwa im Falle Christi) führen könnte. Eine göttliche Person entsteht (procedit) durch genemtio, nicht durch creatio. Insofern ist der traditionelle Satz dahin zu retten, daß er sagt : ornnipotens potest efficere ornne factibile quod non includit contmdictionern . . . So wie die Willentlichkeit der ersten Ursache die Voraussetzung für die Kontingenz der Welt ist (von dieser auf jene rational zu schließen, hält schon ÜCKHAll'l: nicht mehr für möglich, sondern nur noch, von jener als geglaubter Größe diese abzuleiten), ist die Naturalisierung der Ursache die Bedingung für die Behebung der Kontingenz : si enirn esset (sc. deus) causa

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sehe Wort von der Welt als dem sichtbaren Gott im 16 . Jahrhundert von VIVES, TELEBIO und GroRDANO BRUNO gerade in einer neuen Hinsicht ernstgenommen, nämlich als Bestreitung der Kontingenz, als Behauptung der realisierten Totalität des Möglichen gegen den selektiven Voluntaris­mus. Im substantialistischen Monismus SPINOZAS vollendet sich diese

Tendenz .

V.

Hier ist noch einmal auf DESCARTES zurückzukommen, um die Position abschließend zu charakterisieren, auf die sich SPINOZAS Negation der conservatio bezieht. DESCARTES entdeckt das Problem von der Atomistik der je gegenwärtigen Augenblicke her, in denen sich die Evidenz des cogito ergo surn ergibt, in Differenz zur phänomenalen Dauer der physischen Gegenstände ebenso wie zu der des Bewußtseins. Das bedeutet, daß zwar die creatio continua festgehalten wird, daß aber Interesse und Konzeption in dieser Vorstellung nicht vom Gedanken der Schöpfung ausgehen, als dessen Konsequenz und schließlich identische Exekution sich dem spät­mittelalterlichen Denken die conservatio dargestellt hatte.

Für DE SCARTES ist Schöpfung die Konstitution der Wirklichkeit in jedern Augenblick und nur akzessorisch die Antwort auf die Frage nach dem ersten Augenblick, dem Anfang, dessen konstitutive Kontingenz sich in nichts unterscheidet von der Erfahrung, die das Bewußtsein von der Kontingenz seiner Gegenwart im cogito macht. Der Ausdruck conservatio ist also nicht insofern mit dem der creatio identisch, als er dessen meta­

physische Explikation darstellt, sondern vielmehr in der Weise, daß die Rede von der Schöpfung logisch nur erschließbar wird als der Grenzfall der ständig erfahrbaren atomistischen Kontingenz der Zeit und ihres Er-

naturalis, cum sit infinitus, producm·et totum etfectum suum et totaliter. (II. Sent. q. 4/5 K.) Natürliche Ursache wird Gott aber auch regressiv dadurch, daß die Welt zum ens infinitum wird, daß sie keinen Spielraum für die Bestreitung ihrer den Schöpfungsgrund erschöpfenden Totalität läßt. Vielleicht ist das Wesentliche, was die platonische Tradition der Ausbildung des frühneuzeitlichen Weltgedankens ver­mitteln konnte, der Rückgriff über das Herrschermodell des unbewegten und un­bemühten Bewegergottes auf den Demiurgen des Timaios, der das ihm nur Mög­liche und äußerst Gemäße seiner Kunstfertigkeit und Vollkommenheit an die Welt und an der Welt verausgabt. Der Gott der neuen Naturphilosophie ist ein Gott, der sich ganz ausgibt ; die Vorform des Pantheismus nachspinozaischer Prägung ist deshalb eine sich im Inbegriff ihrer Prozesse selbst erhaltende Welt. Die stoische Selbsterhaltung kommt über den Kreationismus in diesen Weltüberschwang hinein : der vollendete Ausgleich aller Prozesse ist von Anfang an gesichert, die herakli­teische Welt ist zugleich die parmenideische (auf P ARMENIDES bezieht sich BRUNO ausdrücklich).

( 368 )

Selbsterhaltung und Beharrung 37

fordernisses ständiger Verursach ung : Ternpus praesens a proxirne praece­denti non pendet, ideoque non rninor causa requiritur ad rern conserva'(l,darn, quarn ad ipsarn prirnunt producendarn1. Der Schluß von der für die kon­tinuierliche Dauer in der Zeit geforderten Ursache auf die Identität der primären Ursache ist nicht einmal schlüssig, aber auch nebensächlich geworden2. Erhaltung erfordert eine innere Kraft, und unser Bewußtsein verrät uns nichts davon, daß wir sie besäßen. Die Rede von einer er­haltenden Kraft ist an dieser Stelle deshalb befremdlich, weil zugleich vorausgesetzt werden muß, daß die uns und die Welt erhaltende Ursache eine solche sei, die sich selbst nur durch eine Kraft erhalten kann. \Venn der cartesische Gottesbeweis nicht bei der Kontingenz als einer Bestim­mung der \Velt ansetzen kann, da er doch für den Übergang der Erkennt­nisgewißheit auf die physische Welt allererst die Voraussetzung schaffen soll, wird Kontingenz zu einer formalen Bestimmung der Zeit als der Gegebenheitsweise des Selbstbewußtseins, das zwar für seine Gegenwart absolute Gewißheit gewinnt, sich aber für Vergangenheit und Zukunft den Ungewißheiten von rnernoria und imaginatio ausgesetzt sieht. Die für die physischen Gegenstände in der Scholastik behauptete und umstrittene distinctio realis von Wesen und Dasein erweist sich für die innere Erfah­rung als ein auf die Indifferenz der Zeitpartikel gegeneinander bezogener deskriptiver Befund : die aus dem Zeitbewußtsein erhobene Gewißheit der Unfähigkeit zur Selbsterhaltung. Diese Argumentation erweist sich immer wieder als die Basis des cartesischen Gottesbegriffes. Wenn der Mensch die Kraft der Selbsterhaltung hätte, müßte er um so mehr sich selbst all die Eigenschaften ( perfectiones) geben können, von deren Mangel sein Be­wußtsein zeugt. Aber gerade das kann er nicht. Schluß daraus : Ergo non haheo virn rneipsurn conservandi3• Daraus wiederum wird geschlossen : Ergo ab alio conservor. Aber dieser Schluß dient nur dem Übergang zu der Bestimmung des Gottesbegriffes mit Hilfe derjenigen Eigenschaften, die der Mensch sich nicht selbst zu geben vermag, obwohl er ihr Fehlen als Mangel empfindet : Ergo est etiarn in illo, a quo conservor, earurndern per­fectionurn perceptio. Gott besitzt diese im Bewußtsein vermißten Eigen­schaften formaliter vel erninenter.

1 Secundae Responsiones, Axioma II ; ed. ADAM-TANNERY VII 165. 2 Principia philosophiae I 2 1 : . . . ex hoc quod iam simus non sequitur nos in tempore

proxime sequenti etiam futuros, nisi aliqua causa, nempe eadem illa, quae nos primum produxit, Continuo veluti reproducat, hoc est conservet. - Zu beachten ist die Änderung des Arguments gegenüber den Meditationen III 3 1 , wo der Schluß von dem ver­gangeneu auf den gegenwärtigen Augenblick als unzulässig angegeben war.

3 Secundae Responsiones, prop. III ((]JJuvres VII 168f. ) .

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Ganz analog hatte DESCARTES schon im "Discours" aus der im Bewußt­sein vorgefundenen Idee eines vollkommenen Wesens die Unfähigkeit des endlichen Bewußtseins abzuleiten versucht, diese Idee gleichsam aus eigener Kraft zu bilden, und daraus auf eine adäquate Kausalität für diese Idee geschlossen. Dabei war für die physische Welt, deren Existenz zunächst nur hypothetisch angenommen werden konnte, die analoge Ab­hängigkeit von der göttlichen Macht behauptet worden, so daß diese Gegen­stände auch nicht einen Augenblick ohne Gott existieren könnten1. In die­sem Zusammenhang gibt es auch bei DESCARTES ein Sonnengleichnis.

Er spricht von einem in Bonn verwahrten Stein, der angeblich Sonnen­licht zu speichern vermag. Daraus dürfe nicht geschlossen werden, daß irgendeine Sache ohne den Einfluß Gottes erhalten werden könne, viel­mehr sei es umgekehrt multo certius . . . , nullam rem sine Dei concursu passe existere, quam null um lumen Solis sine Sole2• Und in diesem Zusammenhang unterscheidet DESCARTES zwischen einer positiva actio Gottes, die nur gut und erhaltend sein kann, und dem Entzug der Erhaltung als einem bloßen Aussetzen des Beistandes, das nicht "Handlung" im engeren Sinne ist und damit den Kriterien der Rechtfertigung nicht unterliegt : dico fieri non passe, ut Deus quicquam aliter destruat quam cessando a suo concursu, quia alioqui per positivam actionem veniret in non ens.

Die noch nicht voll ausgebildete, weil nur auf die äußere Erfahrung in ihrer noch hypothetischen Geltung bezogene und nicht auf das Defizienz­bewußtsein gestützte, Explikation des Erhaltungstheorems wird im "Discours" noch einmal herangezogen, und zwar in Gestalt des als bei den Theologen allgemein anerkannt bezeichneten Satzes, daß die Tätigkeit, mit der Gott die Welt gegenwärtig erhält, völlig derjenigen gleiche, durch die er sie geschaffen hat3. Der Gedanke soll an dieser Stelle eine Abstüt­zung des kosmogonischen Entwurfs leisten, nämlich die Äquivalenz der einmaligen Schöpfung einer von Anfang an fertigen Welt mit der allmäh­lichen und fortgesetzten Entwicklung aus einem chaotischen Urzustand als eine gerade in jenem Satz der Theologen enthaltene Konsequenz an­bieten. Dadurch wird die cartesische Vorsichtsbehauptung, es sei weitaus wahrscheinlicher, Gott habe die \Velt von Anfang an so gemacht, wie sie sein sollte, zumindest aufgewogen, der Absicht nach zurückgenommen.

1 Discours de la Methode IV 4. 2 Oorrespondance, August 1 641 (CEuvns III 429). Hier findet sich auch die kon­

ventionelle, d . h. vom Ausgangspunkt des Bewußtseins absehende, Argumentation: Nec Deus ostenderet potentiam suam esse immensam, si 1·es tales efficeret, ut postea sine ipso esse possent; sed contra, illam in hoc testaretur esse finitam, quod res semel creatae non amplius ab eo penderent. 3 Discours V 3.

( 370 )

Selbsterhaltung und Beharrung 39

Die Internalisierung der creatio continua ist also im "Discours" noch nicht erkennbar, obwohl schon deutlich wird, an welcher systematischen Stelle dieser Gedanke benötigt wird und woher er genommen werden konnte. Über die Internalisierung und die Verbindung mit der diskreten Zeit als der Dimension innerer Erfahrung entsteht ein neues Konzept der Kontin­genz und der creatio continua, das dann in den "Principia" eine auf die natura durationis rerum generalisierbare Fassung finden sollte. Hierfür ist uns SPINOZAS Kenntnisnahme vor 1 663 ebenso bekannt wie die vor 1 692

entstandenen "Animadversiones" von LEIBNIZ. Was SPINOZA für diese Begriffsgeschichte geleistet hat, liegt vor allem in

dem hohen Abstraktionsgrad, den er dem Prinzip der Selbsterhaltung jen­seits seiner organisch-metaphorischen Tradition und seiner ethischen wie politischen Anwendbarkeit gegeben hat. Dieses abstrakte Universalprin­zip läßt sich primär als ein Satz über die Beweislast verstehen. Er regelt, wofür Begründung gefordert werden kann. Was der Befragung bedarf, ist nicht der Bestand, sondern die Veränderung jedes beliebigen Gegenstan­des oder Zustandes . Die Wirklichkeit braucht nicht "rein" im Sinne des aristotelisch-scholastischen actus purus zu sein, um von ihr Unveränder­lichkeit prädizieren zu können. Unter diesem Begriff des unveränderten Zustandes rücken freilich die traditionellen contradictoria Ruhe und Be­wegung zusammen. In dieser Hinsicht hatte HoBBES vorgearbeitet : nicht die Ruhe ist das Gegenteil der Bewegung, sondern die der Bewegung ent­gegengesetzte Bewegung1. Bewegung ist nicht mehr zu begreifen als auf die Ruhe am natürlichen Ort gerichtete endliche, nämlich sich selbst er­schöpfende Erstreckung : quietem nullius rei causam esse2• Für SPINOZA ist der Fortbestand eines gegebenen Zustandes, sein perseverare, das schlechthin Vorgegebene, auf das neue Faktoren einwirken müssen, um es zu verändern. In seiner abstrakten Generalisierung hat der Satz von der Selbsterhaltung nichts mehr von einer Verhaltensform, von einem orga­nischen Trieb, von einem psychischen Streben an sich. Er hat jede tele­ologische Implikation verloren, auch wenn die aus dieser Prämisse ver­meintlich ableitbaren Folgerungen der Ethik und Politik ihr nachträglich teleologischen Schein verleihen.

SPINOZAS Satz, der conatus einer Sache, sich in ihrem Dasein zu erhalten (in suo Esse perseverare) , sei nichts anderes als das Wesen dieser Sache selbst, ihre actualis essentia3 - dieser selbe Satz, von dem DrLTHEY be-

1 De corpore IX 7 : . . . proba1·i potest quicquid movetur, eadem via et velooitate semper processurum . . .

2 De corpore IX 9 : . . . neque omnino per eam quicquam agi, ut quae neque motus neqne mutationis ullius causa sit. 3 Ethica III prop. 7.

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40 HANS BLUMENBERG

hauptet, SPINOZA habe ihn aus der stoischen Tradition geschöpft 1 -, ist doch gerade trotz des Ausdrucks conatus die Leugnung eines besonderen An­triebs von der Art einer inclinatio, indem er feststellt, es sei nichts anderes

als die sich überlassene Sache selbst, was sich im Zustand der Beharrung oder als Beharrung eines Zustandes darstell6,, Auf stoische Tradition ver­weist allerdings die Stelle, die diese Erörterung im streng gegliederten Aufbau der Ethik SPINOZAs findet, nämlich im dritten Teil, der vom Ur­sprung und der Natur der Affekte handelt. Diese traditionelle Lokalisation

aber ist irreführend. Um das wahrzunehmen, muß man freilich sehen, daß der Satz von der

Selbsterhaltung als der primären Wirklichkeit der Dinge bei SPINOZA aus früheren Sätzen abgeleitet ist, vor allem aus der Propositio 4 : Nulla res, nisi a causa externa, potest destrui. Es gibt den inneren, dem Altern und der Ermüdung analogen Zerfallsfaktor als immanente Fatalität der Dinge

nicht mehr, von dem die Stoiker ergriffen waren, wenn sie ihr pyr techni­k6n zum pyr atechnon entarten ließen. VoLTAIRE wird diese Auffassung mit Anspielung auf MoNTESQUIEUs Untersuchung des Niedergangs der Römer als exotischen Gegentypus zum neuzeitlichen Denken in seiner Brah­manen-Anekdote exemplifizieren, wenn er den indischen Weisen über die modisch gewordenen belles dissertations zum Thema Untergang und Ver­fall der Staaten spotten läßt : Vous prenez bien de la peine . . . ; cet empire est tombe parce qu'il existait. Il faut bien que taut tombe . . . 2 Genau dies ist die Inversion der von SPINOZA festgestellten Beweislast. Die Hinfälligkeit zum Nichts ist der vom Menschen als universale Orientierung angenom­mene extreme Sonderfall des schmalen Reiches organischer Wesen, deren Kräfte sich erschöpfen, denen Lebenszeit zugemessen zu sein scheint. Der physische \V"eltzustand hat nach SPINOZA kein Verhältnis zur Zeit : conatus, quo res existit, nullum tempus definitum involvit3. Man sieht, daß perseverare nun der sachlich adäquatere Ausdruck geworden ist, anderer­seits die Formel suum esse conservare als Transitivum einfach benötigt wird, um im Zusammenhang einer Ethik von diesem allgemeinen \V"elt­prinzip wieder auf das Handeln gleichsam herunterzukommen und Glück und Tugend dadurch definieren zu können4.

Es ist auch der kritisch gezielte Ausdruck, die der Tradition von con­servatio begegnende, ihr Problem aufnehmende und zu Ende bringende Formel. Denn ganz unabhängig davon, ob hier stoische Tradition das rational Geleistete oder zur Rationalität Gebrachte einigermaßen erklären

1 DrLTHEY, WW II 286. 2 Dictionnaire philosophique, Art. Etats, ed. NAVES, 187. 3 Ethica III prop. 8. 4 aaO IV 1 8 Schol.

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Selbsterhaltung und Beharrung 41

kann, bleibt der Kern einer historisch scharf angelegten und genauen

Distanzierung unverkennbar, die den Gedanken ausschlägt, conservatio

sei die für alles Seiende notwendige causa externa. Die ganze von DrLTHEY

vorgeschlagene stoische Genealogie erbringt nichts, wenn man nicht sieht,

was sie schon in den Anfängen der Rezeption von TELESIO bis CAMP ANELLA

eigentlich aktuell und plausibel gemacht hat, nämlich die Ersetzung des

transitiven Erhaltungsgedankens durch den reflexiven und intransitiven.

Dieser Zusammenhang bleibt bei DrLTHEY abgeblendet, aber er allein

macht verständlich, daß die Erneuerung des stoischen \Veltorganismus

nur eine vorläufige Behelfslösung sein konnte, deren Rationalität für die

neue Funktion nicht ausreichte, der von DESCARTES in Überschärfung

angebotenen creatio continua und dem in ihr sich vollstreckenden Kontin­

genzprinzip entgegenzutreten. SPINOZAS Rationalität vermeidet in diesem Punkte die Überforderung

der LEIBNiz-Frage nach dem zureichenden Grund cur potius aliquid quam nihil, obwohl die metaphysische Analogie der conservatio sui zur causa sui unverkennbar bleibt. Aber SPINOZA fordert nicht, den zureichenden Grund dafür zu suchen, daß etwas ist und nicht eher nichts, sondern nur dafür und dann nach einem zureichenden Grund zu suchen, wenn das, was ist, aufhört zu sein, was es ist. Selbsterhaltung besagt jetzt ein solches Ausschließungsprinzip von Fragen hinsichtlich des zureichen­den Grundes und die entsprechende Zulassung derjenigen Fragen, die sich auf die Veränderung von Zuständen beziehen. Hier liegt der Zusammen­hang mit dem, was NEWTONs Beharrungsprinzip leisten sollte : einge­schränkt auf die Mechanik dient es nur dazu, bestimmten Fragen, näm­lich solchen nach der Größe von Kräften, ihren Sinn zu geben. Obwohl das erste NEWTONsehe Gesetz durch das ihm vorausgehende Corollarium über den absoluten Raum und die absolute Zeit erst definierbar geworden ist, hat es doch für sich genommen keinen physikalischen Inhalt, sondern bekommt diesen erst durch das zweite Gesetz über Veränderungen von Bewegungen und über die diesen korrespondierenden Kräfte.

Für den Zusammenhang des Beharrungssatzes von NEWTON mit dem metaphysisch-abstrakten Erhaltungsprinzip als Antithese zur creatio continua möchte ich zwei illustrative Belege geben. In der "Physik" des JoHANNES CLERrcus (JEAN LECLERC) von 1710 findet sich ein eigentüm­liches, vielleicht unverstandenes Ineinandergreifen der Tradition und des Neuen. Zunächst wird dem Begriff der Bewegung als der simplicissima modificatio corporis1 ein allgemeinerer Zustandsbegriff übergeordnet und

1 Physica V 5 n. l ; Opera philosophica, Lipsiae 1 7 10, IV 198.

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42 HANS BLUMENBERG

für diesen unter der Bedingung des Ausschlusses äußerer Ursachen Kon­stanz behauptet.l In diesen Zusammenhang Vlrill sich nun eine Erörterung über die Positivität der Bewegung gar nicht fügen, die am kontradiktori­schen Gegensatz von Ruhe und Bewegung festhält und die Frage aufwirft, ob die Ruhe etwas Positives oder nur die privatio motus sei2• Hier wird ein noch ganz scholastisches Gedankenexperiment geboten, in welchem vor­gestellt wird (Fingamus Deum . . .) , daß Gott einer Kugel Bewegung ver­leihen will. Um einen bewegten Körper zur Ruhe zu bringen, brauche Gott nur aufzuhören zu wollen, daß er sich bewegt sine ulla posüiva volitione ; umgekehrt aber, um einen ruhenden Körper in Bewegung zu setzen, genüge es nicht, daß Gott aufhört zu wollen, daß er ruht, sondern er muß die Bewegung dieses Körpers und einen bestimmten Grad dieser Bewegung wollen. Ruhe ist also das bloße Aussetzen des göttlichen Aktes, Bewegung jedoch setzt die positive Bestimmtheit eines solchen voraus. Die Folgerung lautet : Itaq�w quies nihil est, motus vero aliquid. Und daraus wiederum folgt, daß noch der kleinste bewegte Körper den größten ruhenden in Bewegung zu versetzen vermag. Entscheidend ist, daß ÜLERICUS sein Gedankenexperiment nicht auf die Beschleunigung, son­dern auf die Bewegung bezieht und damit nur für die ruhenden Körper auf den Grundgedanken der transitiven conservatio verzichten kann.

Die "Anfangsgründe der Naturlehre" von J. ÜHR. ERXLEBEN (die uns deshalb so teuer sind, weil LICHTENBERG das Werk seines Göttinger Vor­gängers in der dritten Auflage ( 1 784) zuerst mit einer Vorrede und dann

bis zur sechsten Auflage ( 1794) zunehmend mit eigenen Abschnitten an­gereichert hat, die im übrigen aber ohnehin eins der wichtigen Lehrbücher des 18 . Jahrhunderts waren) verraten die noch immer - Vlrie für das ganze Jahrhundert - bestehenden sprachlichen Schwierigkeiten, sich für die Formulierung des Beharrungsprinzips von dem Sprachfeld der inneren Triebe, Kräfte und Neigungen freizumachen. Vor allem zeigt sich, daß der Göttinger Professor der Philosophie (seit 1771 ) den Zusammenhang zum Prinzip des zureichenden Grundes von LEIBNIZ herzustellen bestrebt ist. Die ständige, über zwei Jahrhunderte hinweggehende Anstrengung, den

1 aaO V 5 n. 13 (Opp. IV 202) : Quodvis corpus indivisum in eodem semper statu manet, in qua est, nisi causa externa mutationem aliquam ei adjerat . . . Daraus wird die Naturalität der Kreisbewegung bestritten: Omne corpus motum ex seipso tendit, ut secundum lineam rectam, non vero curvam pergat move1·i. (aaO prop. 2) . Sprachlich verrät sich in dem "ex seipso tendit" die Größe der Schwierigkeit, der rationalen Ökonomie des Sachverhalts gerecht zu werden.

2 aaO V 5 n. 14 (Opp. IV 204-207 ) : Quaeritur de quiete, quae est motui opposita, utrum sit aliquid positivum an vero privatio dumtaxat motus . . .

( 374 )

Selbsterhaltung und Beharrung 43

Ausdruck "Kraft" aus der Physik zu eliminieren\ drückt sich bei ERXLEBEN in einer Art umgehender Umständlichkeit aus, die keinesfalls mit NEWTON von einer vis inertiae sprechen Vlrill : . . . es hat also das An­sehen, als ob in dem Körper etwas steckte, das ihn beständig in seinem gegen­wärtigen Zustande zu erhalten sucht ; als ob sich der Körper vermöge dieses Etwas der Ruhe widersetzte, zu der Zeit, da er in Bewegung ist; und der Be­wegung, wann er in Ruhe ist2. Dies aber dürfe auf gar keinen Fall eine Kraft genannt werden, denn ein Ding brauche keine eigene Kraft, um das zu bleiben, was es einmahl ist. Und weiter : Läßt sich wohl eine Kraft ge­denken, die niemahls von sich selbst wirkt, sondern nur widersteht? die gar keine Größe für sich hat, sondern nur groß oder klein ist, je nachdem das ist, dem sie sich widersetzt? Von hier aus ist für ERXLEBEN die Beziehung zum Prinzip des zureichenden Grundes greifbar, und "Trägheit" nichts ande­res als ein bestimmter Aspekt dieses Prinzips : So ist also die Trägheit in der That nichts anders, als der Satz des zureichenden Grundes auf die Ver­änderungen des Zustandes der Körper angewandt : Wenn Körper zur Be­wegung und zur Ruhe fähig seyn sollen, so müssen sie träge seyn.

Von dieser Stelle her, an der die Wirkungen von NEWTON und LEIBNIZ

unverhofft zu konvergieren scheinen, ist ein nochmaliger Blick auf LEIBNIZ und seine schon erwähnte Blitzmetaphorik für die creatio con­tinua in der "Theodizee" vonnöten. Wie problematisch die Metaphorik der fulgumtions sich im Kontext der Philosophie von LEIBNIZ ausnimmt, wird deutlich, wenn Vlrir auf die Radikalität seiner frühen Kritik an dem 2 1 . Kapitel des ersten Buches der "Principia" von DESCARTES zurück­blicken und sehen, wieviel konsequenter als der in der "Enzyklopädie" zum Kronzeugen dieser Kritik erhobene PomET LEIBNIZ seine Gegen­position aufbaut. In seinen kurrenten Anmerkungen zum cartesischen Text gibt LEIBNIZ eine genaue Umkehrung der dort entwickelten Argu­mentation. Dabei muß auf eine zusätzliche Bedingung hinsichtlich der formalen Kausalität geachtet werden, die DESCARTES einführt. Wenn aus dem Wesen der Dauer der Dinge auf die Existenz Gottes geschlossen werden soll, genügt noch nicht, daß die einzelnen Momente dieser Dauer untereinander in keinem Bedingungszusammenhang stehen, so daß aus

1 MAUPERTUIS, Essai de Oosmologie II : (force) un mot qui ne se1·t qu'a cacher notre ignorance.

2 Anfangsgründe der Naturlehre. 6. Aufl. Göttingen 1794, § 55f. (p. 49f. ) . Hierher gehört auch KANTS "Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe" von 1758 mit der Feststellung, daß diese Trägheitskraft ohne Not erdacht sei und durch das Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, ohne eine besondere Art der Natw·kraft erdenken zu dörfen, dargestellt werden könne, obwohl zur Ableitung der Bewegungs­gesetze diese angenommene Kraft ungemein geschickt dienlich sei.

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44 HANS BLUMENBERG

der gegenwärtigen nicht auf die zukünftige Existenz desselben Gegen­standes geschlossen werden kann, nisi aliqua causa. Diese erhaltende Ur­sache unterliegt der weiteren Bedingung, daß sie mit der ursprünglich pro­duzierenden Ursache ihrer Wesensform nach identisch sein muß, so daß jeder Akt der conservatio formal mit einem solchen der reproductio gleich­artig wird. Gerade deshalb nämlich ist Selbsterhaltung ausgeschlossen,

weil sie prinzipiell dieselbe formale Kausalität erfordert wie die ursprüng­liche Hervorbringung. Zu dieser aber ist kein Seiendes fähig, das - so muß der Gedankengang konsequent zuende geführt werden - nicht schon causa sui ist. Diese Vorzeichnung für die Lösung SPINOZAS enthält bereits das cartesische Argument der "Principia". Selbsterhaltung ist also für DESCARTES ein theologisches Attribut, eine Charakteristik des göttlichen Verhältnisses zum Dasein, und Selbsterhaltung kann folglich nur bedeu­ten, selbst Gott zu sein.

Wenn nun LEIBNIZ statt einer ratio durationis vielmehr eine ratio mutationis fordert, so darf man dies nicht einfach seinem ganz anderen, dem Prinzip der Kontinuität unterliegenden Zeitbegriff zuschreiben. LEIBNIZ war ein Meister in der Kunst einer kritischen Argumentation, die sich weitgehend auf den Boden der Voraussetzungen des Kritisierten stellt. Er betrachtet die Dauer eines Gegenstandes als eine Folge von Zuständen,

in der jeder für den folgenden die Bedingung der formalen Kausalität er­füllt, also genau das, was von DESCARTES im Hinblick auf das Problem des

Anfanges bestritten wurde. Nach diesem ganz scholastisch formulierbaren Prinzip : Efjectus integer aequivalet causae plenae leitet LEIBNIZ sein energetisches Konstanzprinzip ab1. Betrachtet man einen Gegenstand als geschlossenes System, auf das keine Krafteinwirkungen erfolgen, so stellt jeder Zustand dieses Gegenstandes die Wirkung des ihm vorhergehenden

1 Dynamica II sect. 1 (Mathematische Schriften, ed. GERHARDT, 2. Abt. Bd. II 437) . Die 1689 in Rom entstandene Dynamik ist sowohl das Resultat der ersten na.chrichtlichen Kenntnis von NEWTONs Principia als auch der Kritik an DESOAR­TES' Erhaltungsprinzip der Bewegungssumme, bei dessen Zurückweisung LEIBNIZ das Element der conservatio divina ausdrücklich betont, das bei den Cartesianern noch mehr als bei DESOARTES selbst hier hereinspielt : . . . circa legem naturalem, secundum quam volunt ( sc. Cartesii) a deo eandem sempe1· quantitatem motus conser­vari . . . (Math. Sehr. aaO 1 17 ) LEIBNIZ verändert nur geringfügig, indem er das Sub-jekt der Erhaltung fortläßt : . . . rationi consentaneum sit, eandem motricis potentiae summam in natura conserva1·i . . . ( 1686) LEIBNIZ sieht den entscheidenden Grund für den Übergang von der quantitas motus zur vis motrix als Substrat des Konstanz­satzes in der Relativität der Bewegung: Ratio autem ultima est, quod ipse motus per se non est aliquid absolutum et reale. - LEIBNIZ drückt die Konsequenz in seinem energetischen Erhaltungssatz als Rückgang vom actus auf die potentia so aus: Eadem semper potentia est in Universo. (aaO 440)

( 376 )

Selbsterhaltung und Beharrung 45

Zustandes dar ; eine zusätzliche äußere Ursache ist erforderlich, um eine Veränderung zu bewirken, und nur für dieses Außenverhältnis wird von Ursächlichkeit im strengen Sinne gesprochen. Auch alles endlich Seiende besteht also aus sich selbst, unbeschadet dessen, daß es diese Existenz nicht aus sich selbst begründet hat. Bezeichnend für das genaue Eingehen von LEIBNIZ auf die cartesische Argumentation ist nun, daß er für diese Existenzform der Selbsterhaltung ebenfalls auf das menschliche Selbst­bewußtsein rekurriert, das hier wie bei DESCARTES repräsentativ für alles \iVirkliche steht : Ex eo quod jam sumus, sequitur, nos mox adhuc futuros esse, nisi existat ratio mutationis1.

VI .

Wenn die Begriffsgeschichte von conservatio in den zentralen Strang des Prozesses der Ausbildung neuzeitlicher Rationalität gehört, wird sich dies an den Oppositionen zum Prinzip der Selbsterhaltung verifizieren lassen. Der Widerspruch gegen das, was sich die Neuzeit als Errungen­schaft ihres \iVirklichkeitsbewußtseins zugerechnet hat, wird sich in ein Verhältnis zum Prinzip der Selbsterhaltung setzen und aus diesem Ver­hältnis formulieren müssen.

Am ehesten ablesbar wird dies an der Art, wie die theologische Escha­tologie in ihren Aussagen und Argumenten dem neuen Prinzip Rechnung tragen muß. Schicksal der Welt kann nicht mehr Beschleunigung eines ohnehin natürlichen und immanenten Prozesses auf den Untergang hin sein. Die organische Auffassung des Weltganzen ist hinfällig geworden, nachdem sich die organische Realität als winzige Provinz des physikalisch interpretim·baren Universums herausgestellt hat. Mag auch für die For­derung nach dem zureichenden Grunde der Existenz dieser Welt das Argument der bloßen Selbsterhaltung - nämlich daß für ihren weiteren Bestand ihr tatsächliches Vorhandensein der einzige Grund ist - ein schwaches Resultat sein, so ist es doch zugleich der allein noch zureichende Grund. Der Gott, der den Untergang dieser Welt zum Inhalt seiner Offenbarung gemacht hat, gerät in eine Rolle, die seiner Anstößigkeit gegenüber dem antiken Kosmos vergleichbar wird. Zu erinnern ist an die apokryphe Szene, in der Paulus vor dem Kaiser Nero die Ausbrennung dieser Welt verkündet und der Kaiser darüber in so hellen Zorn gerät, daß er nun umgekehrt die Verbrennung der Christen und die Hinrichtung des

1 Animadversiones in partem generalem Principim·un1 Cartesianorum (Philoso­phische Schriften, ed. GERHARDT, IV 360).

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46 HANS BLUMENBERG

Paulus befiehlt, obwohl ihm doch da gut stoische Ekpyrosis des Kosmos begegnet, freilich ohne den Trost der Wiederkehr des Gleichen aus der erneuerten produktiven Kraft des Feuers1. Der mittelalterliche Kontin­genzbegriff hatte die Positionen von Gott und Welt vertauscht: die creatio continua als Inbegriff der Erhaltung war der einzige Grund für das Nicht-nicht-sein der Welt. Die vis per se existendi ist ausschließlich zum

göttlichen Attribut geworden2, das dem Bestand der Welt nur momentan einen Rückhalt gibt. Der neuzeitliche Theologe dagegen betreibt Escha­tologie unter der Voraussetzung, daß gegen die aus sich fortbestehende Welt ein Zugriff der Zerstörung erfolgt, daß das, was aus sich fraglos da ist, vorgreifend für jeden künftigen Augenblick infrage gestellt wird. Das verändert die Sprache der Eschatologie, ihre Radikalität, ihre Extensität

und Intensität. Ich demonstriere das an einem viel gelesenen Buch der Mitte des acht­

zehnten Jahrhunderts, an JOHANN FRIEDRICH WEITENKAMPFS "Lehr­gebäude vom Untergang der Erde" von 1 7543. Der Weltuntergang wird minimalisiert. Wer würde nicht auf den Zweifel gerathen müssen, daß Gott unmöglich die höchste Weisheit besitzen könne, wenn er eine so erstaunend große Welt nur auf eine so kurze Zeit, auf etliche tausend Jahre hervorbrin­gen, und hernach dieses Meisterstück seiner Allmacht gänzlich vernichten solte ?4 Die Größe des Weltalls ist zum Argument gegen die Totalität der eschatologischen Ereignisse geworden, deren Offenbarung sich doch auf den Menschen als nur noch partielles Faktum in diesem Universum be­zieht. Der Widerruf dieses gewaltigen Aufwandes geriete zum Selbst­widerspruch der schöpferischen Instanz. Seine Güte würde auch verdun­kelt werden, wenn er die ntaterialische Welt in ihr voriges Nichts versetzen walte, denn wer könnte aus dieser That die unendliche Neigung Gottes schließen, seinen Geschöpfen so viele Vollkmnmenheiten zu geben als es möglich ist. Durch die Schöpfung und Erhaltung wird Gott gütig, aber nicht durch die Vernichtung.

Wenn aber die Existenzwürdigkeit des Weltalls sich dem Gedanken des totalen Untergangs widersetzt, wie kann dann eine Eschatologie in bezug

1 Passio S. Pauli c. 7 (ed. LIPSIUs-BoNNET, Acta Apost. Apocr. I 30) : Haec audiens Ne1·o et ira succensus, quia mundi figuram per ignem Paulus dixerat reso­luendam, iussit omnes Christi milites igne crema1·i . . . Zur christlichen Verwahrung gegen den Vorwurf der kosmischen Untergangsfreudigkeit vgl. v. Vf. , Das dritte Höhlengleichnis. Turin 1961 (Studi e Ricerche di Storia della Filosofia XXXIX), l 6 f.

2 So noch DESCARTES, Meditationes III 33. a 2. Aufl. Braunschweig 1762 (nach der hier zitiert wird) . WEITENKAlVIPF, Magister

der Philosophie in Helmstedt, starb 1758. • II § 42, l lO.

( 378 )

Selbsterhaltung und Beharrung 47

auf den Menschen noch begründet werden ? WEITENKAMPF bedient sich hier eines dem Jahrhundert der Theodizee vertrauten Arguments, freilich nur mit Einschränkungen : des Anstoßes an der Ungeheuerlichkeit der Höllenstrafe. An der Gerechtigkeit wie an der Ewigkeit dieser Strafe wird freilich festgehalten, ebenso an der Prämisse, daß die Überzahl der Men­schen unweigerlich zur massa damnata gehört. Gerade aus diesem Festhal­ten heraus gelingt WEITENKAMPF aber die Integration der Eschatologie in die Theodizee : dem Fortbestand und Anwachsen der Menschheit müsse einmal ein Ende bereitet werden, damit es mit der Verdammnis nicht ins Uferlose fortgehe. Die Zahl der verdammte Seelen würde so erstaunend groß seyn, daß sie alle menschliche Vernunft übersteiget, und daß sie Gott zu einem grausamen Schöpfer nothwendig machen müsse . . . Hilf ewiger Gott I wie groß würde die Anzahl der verdammten Geschöpfe werden, und wie wäre es möglich, daß Gott unendlich gütig wäre, wenn die Erde ewig stünde? I Die Kreuzung der Argumentationen - zugunsten des Fortbestandes der Welt im ganzen einerseits, gegen den Fortbestand der Menschheit andererseits -mag erstaunlich genug klingen ; aber sie dient dem Autor dazu, den Gott, den er aus Gerechtigkeit Verdammnis verhängen läßt, wenigstens nicht aus Willkür sein Werk insgesamt wieder zerstören lassen zu müssen. Das Mitleid mit den Ungeborenen einer überwiegend verdammungswürdigen Menschheit hält die Erwartung des Endes der Geschichte als Hoffnung fest, ohne die Bilanz der Theodizee mit der Vernichtung einer Welt zu belasten, die offenbar ganz unabhängig von ihrem Bezug auf die Existenz des Menschen gedacht werden kann. Nun bedenke ein jeder ob man wol Ursache zu glauben habe, daß Gott diesen Sammelplatz aller Sünden und Laster noch lange in eben demselben Zustande lassen oder ob ihn nicht seine unendliche Liebe beständig antreiben werde, ihm sogleich ein Ende zu machen, als es nur die göttliche Weisheit gebiethet? . . . Da nun aber die Welt schon so lange gestanden und die Menge der Verlohrenen so erstaunend angewachsen ist ; da ferner keine Hoffnung vorhanden ist, daß sich das menschliche Ge­schlecht jemals ändern werde ; ja da der Untergang des Erdbodens ein solches Mittel ist, diesem Uebel vorzubauen, so haben wir auch weit mehr Ursache, den jüngsten Tag eher zu hoffen als ihn noch sehr lange hinaus zu setzen2.

1 I § 1 6, 60f. 2 IV § 105, 299 f. - Daß unter seinen Voraussetzungen das Schöpfungsziel der

Glückseligkeit der Geschöpfe schon preisgegeben und als Argument nicht mehr brauchbar ist, bemerkt der Autor nicht : Jedermann würde daraus schließen, daß Gott die Welt nimmermehr zur Glückseeligkeit seine1· Kreaturen geschafjen haben könne, wenn die Zahl der Verdammten so erschrecklich anwachsen, und du1·ch die ganze Ewigkeit nicht aujhö1·en solte vermehret zu werden. (I § 6, 13 ) .

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48 HANS BLUMENBERG

Das Ökonomieprinzip seiner Eschatologie erlaubt es WEITENKAMPF, der fraglos gewordenen Implikation der Erhaltung Genüge zu tun: es geschieht nur, was nötig ist, um die Erde unwohnlich für die Fortpflan­zung der Menschheit zu machen. Auf das Ganze des Universums gesehen, sind die eschatologischen Ereignisse von geringfügiger Oberfiächenwir­kung. Der Hintergrund der kopernikanischen Konsequenzen ist unver­kennbar : was für die Geschichte des Menschen von letaler Relevanz ist, ist kosmisch bedeutungslos. Dieser aber ist ein schlechter und unansehn­licher Weltkörper, wenn man ihn mit den andern Werken der Natur verglei­chet, die in dem unermeßlichen Raum der Himmel stralen. Was wäre das für ein Schluß, wenn die Erde künftig untergehen wird, so müssen auch die andern Weltgebäuden zerstöhret werden? Was solte den Allmächtigen be­wegen, um einen solchen kleinen Planeten, den schon in unserm Weltgebäude verschiedene andere an Pracht übertreffen, ja der vielleicht unter so vielen tausend andern weit künstlicheren Welten in Gottes Augen wenig bedeutet, den ganzen Himmel zu zerstöhren 1?

Selbst der alte Gedanke, die eschatologischen Untergangsereignisse dadurch aus dem innertheologischen Widerspruch herauszuheben, daß sie als bloßes Vorspiel einer anderen Schöpfung des neuen Himmels und der neuen Erde verstanden werden, ein Gedanke, der im Zusammenhang der creatio continua gar keines Aufhebens wert gewesen wäre, verstößt nach WEITENKAMPF gegen jede Ökonomie der kürzesten Wege, wäre unter die

puren "Ausschweifungen" zu rechnen. Er schaffet auch in der That keine neue Welt, sondern er verneuert nur die alte2. Hier kann a fortiori erschlossen werden, wie weit der Gedanke einer Erhaltung durch creatio continua WEITENKAMPF entfremdet war, wenn er nicht einmal für die Eschatologie eine Maßnahme vom Typus der Schöpfung konzedieren konnte. Was an Veränderung nötig ist, um den Erfordernissen der biblischen Texte Ge­nüge zu tun, muß dem Übergewicht des Erhaltungsprinzips mühsam und mit dem Zugeständnis des geringsten Eingriffes abgerungen werden. Der Fortbestand der physischen Welt gehört zu den Voraussetzungen des Glücks der unsterblichen Geister (also der wenigen, die der Verdammnis entgehen können) . Daher ist die materialische Welt wiederum ein Mittel diese unendliche Neigung Gottes zur Glückseeligkeit seiner Geschöpfe zu be­friedigen. Diese unendliche Neigung währet ewig, daher muß auch das Mittel ewig währen . . . . . Walte Gott also die körperliche Welt vernichten, so würde er den Geistern eine Art des Vergnügens rauben, und also ihnen ein großes Theil ihrer Glückseeligkeit benehmen. Dadurch würde ihr beglückter

1 I § 1 1 , 22. 2 II § 46, 120.

( 380 )

Selbsterhaltung und Beharrung 49

Zustand nicht so vollkommen, und auch die Neigung Gottes nicht so befriedi­get. Daher wird er auch gewiß nicht die körperliche Welt vernichtenl. Die fortbestehende Welt bedarf keiner Aufhilfe und keines energetischen Zu­schusses, um als das Mittel der Glückseligkeit der Seligen ewig da zu sein. Daß der Himmel sich wegen seines hohen Alters schon tiefer gesenkt habe und die großen Weltkörper durch Kraftverlust näher aneinander gerückt seien, bis endlich der ganze Himmel wie ein altes Haus gar einfallen, oder wie ein alter Wagen . . . auf die Erde zu liegen kommen werde, solche Hin­fälligkeit eines kraftlosen Alters der Welt ist ein Spiel der Einbildungskraft . . . Es bleibet immer ein gleiches Maaß von Kräften in der Welt, und man würde sich sehr betrügen, wofern man glauben walte, daß die Kräfte der Welt ver­alten, verschwinden, und von Jahren zu Jahren abnehmen2.

So ist mit der Integrierung des Prinzips der Selbsterhaltung in das neu­zeitliche Weltbewußtsein noch die Selbstverständlichkeit einer Escha­tologie als Hoffnung betreibenden Theologie dadurch bestimmt, daß die Episodizität der Welt anstößig geworden ist, weil die Durchbrechung dieser Selbsterhaltung des Ganzen die nicht zu rechtfertigende "Allmacht" erfordert. Es ist die Vergeblichkeit der Heilsveranstaltung für die Mehr­heit der Menschheit, was überhaupt noch den eschatologischen Gedanken als eine Art Restpostulat der Theodizee trägt, zugleich mit dem Menschen aber diesen Vorgang zu einer innerweltlichen Punktualität absinken läßt.

VII.

Die Negation der Selbsterhaltung hat ihre romantische Gestalt gefun­den. In der Idee der Selbstzerstörung bricht sie mit dem bloßen Und-so­weiter, als das die Theorie des Fortschritts in der Aufklärung die Ge­schichte des Menschen sowohl zu begreifen als auch zu entwerfen gesucht hatte . Der Alltag einer so gesehenen Geschichte endet mit dem Fest aller Feste, dem wunderbaren Untergang, wie es FRIEDRIOII ScHLEGEL in den Fragmenten von 1 800 notierte : Die Bestimmung des Menschen ist sich selbst zu zerstören. Aber dazu muß er freilich erst würdig werden ; noch ist ers nicht3• Der Versuch, die Welt in die organische Gesamtvorstellung zu­rückzuzwingen, die am Anfang der Geschichte des Begriffs der Selbster­haltung zurückgelassen worden war, führt zu einer eigentümlichen Über­setzung der Selbsterhaltung in die Selbsterzeugung, wie es bei dem roman­tischen Physiker JoHANN WILHELM RITTER (dem WALTER BENJAMIN die

1 I § 28, 85f. 2 II § 40, l05f. 3 Philosophische Fmgmente, Nr. 585, 589, 592 (Kritische Ausgabe XVIII l74f. ) .

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50 HANS BLUMJ;:�TBERG

"bedeutendste persönliche Prosa der deutschen RomanLik" zugeschrieben hat) angedeutet ist: Alles, was ist, erhält sich organisch. Jeder Stein ent­steht in jedem Augenblick ?te1t, erzeugt sich ins Unendliche fort. Nur sterben

die Elter-n des Kindes sogkich immer wieder, und so sieht man das Indivi­duum nicht zunehmen. Kann man die Vernichtung aufheben, so schließt sich das Neue an da� fortbestehende .Alte an, und nun hat wirkliche Fortpflanzung, Mehrung, statt1• Selbsterhaltung ist also nur der Schein eines organischen Wachstums, das freilich die Verluste im vermeintlieb Anorganischen nur auszugleichen vermag. Als rationales Prinzip ist Selbsterhaltung auch und gerade in dieser Konzeption negiert. Die Negation wird als Überschreitm1g einer zu ärmlichen Weltauffassung verstanden.

Diese andere Möglichkeit der Negation von Selbsterhaltung aL':l Über­bietung nimmt schon den Ausdruck "Selbsterhaltung" als Metapher für die bloße Ökonomie der Resignation am Bestehenden. Nrn1'ZSOHlll wird auf dem Gedanken von der höchst törichten Okonomie der Selbsterhaltw1g insistieren - weil dieser In.stinkt eben das Wesen unsere1· .Art und Herde ist2• Aber schon HoBBES hatte in der Bestimmung des Willens die Unklarheit gelassen, da.ß einerseits die bloße Selbsterhaltung, andet·erseits die Steigerung von Macht Inbegriff seiner Ziele ist3. Für NIE'l'ZSCHE repräsen­tiert der biologische Trieb der Selbsterhaltung das universale Prinzip ge­rade in seiner Fragwürdigkeit. Dieser Trieb ist bereits als das Substrat höchster Sublimierungen gesehen, wenn NIETZSCHE von ihm sagt, or breche vm� Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geist� hervor und habe dann ein glli:nzendes Gefolge von Gründen um sieh und will mit alter Gewalt vergessen machen, daß er im Gn.tnde Trieb, Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit i..st. Der Selbsterhaltungstrieb sei einer Inkonsequenz SPINOZAS zu ver­danken, der die Ökonomie der Methode, die Vorsicht vor überflüBsigen

teleologischen Pt·inzipien hier außer .Acht gelassen habe'. NIETZSCKE konnte nicht sehen, daß für SPINOZA gegen die scholaatisch-cartesische creatio continua gerade dies der Inbegriff von methodischer Ökonomie sein mußte, während er selbst da.rin einen Überschuß wahrnimmt, weil er glaubt, ein noch umfassenderes Prinzi.p gefunden zu haben. F1·eilich ist

1 Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Heidelberg 1810, Nr. 64: (I 39f.). - Die Charaktel'istil< W. BEN­JAllllNS zur VoJ'l'ede der Fl'agmente: Angelus Novus, Frankfm·t 1966, 176. Ferner: Brief an G. SOROLEM, 5. Mä.r� 1924 (Brfw. I 343): Da.gegen ist Novnlis ein VolkB·

redner.

• Die j1·öhliohe Wissenschaft I l. (Werke, :M:usarion-Ausg. XII 33, 35).

• Vgl. K. H. ILTINO, Hobbes und die pmktißche Philosophie der Neuzeit. In: Philo­sophisches Jahrbuch 72, 1964, 100.

• Jenaeüs von Gut und Böse I 13 (WW XV 20f.).

( 382 )

SeihsterbalLung und Beharrung 51

dies, wie für die Romantiker, wiederum nur ein Prinzip des Lebendigen,

angesichts dessen für NrETZSCHE alle Physik verbla.ßt. Wenn das Leben Wille zur Macht ist, dann ist Selbsterhaltung nur eine der indit·ekten und häufigsten Folgen davon, also ein sekundä.res und abgeschwächtes Derivat. Eine neue energetische Metaphorik des Lebens bereitet sich vor, die in

der libidinösen "Lebensenergie" von StGMUND F.&EUD ihre Umsetzung in den psychischen Modellapparat finden sollte. Bei NIETZSCHE heißt es: Jedes Thiet·, somit. auch la bete philosophe, strebt instinktiv nach einem Opti1nurn von gun.stigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht . . . 1 Als Hintergrundmetaphorik scheint die Vorstellung eines unter hohem Druck stehenden Gases den Gedankengang der Überbietung der Selbst­erhaltung zu bestimmen.. Wichtig ist aber, daß für NIETZSCHE solche Ab­fuhr von Kraft offenkundig nichts mit Glücksgewinn zu tun hat oder haben darf: . . . es ist nicht sein Weg zum "Glück'', von dem ich rede, sondern sein Weg zut· Macht, zur That, zum mächtigsten Th�tn, t�nd in den meisten Fällen thaisächlich sein Weg zum Ungluck. Nicht mehr die Welt ist das "Thier", von dem die Rede ist, sondern der Philosoph.

Der traditionelle Disput um die Alternative des Vonangs von Selbst­erhaltungs- und Lustprinzip wird durch NIETZSCHES Kritik für ein Jahr­hundert entschieden : Vor Allem will etwas Lebendiges seine [( raftauslassen ­

Leben selbst ist Wille z�tr Macht . . . Am Beginn der Neuzeit hatte das physikalische Schema der Erhaltung als impersonales conservari, als perseveratio sowohl das transitive theologische Modell der scholastischen wnservatio als auch das organische der conservatio sui verdrängt, freilich mit dem schier unverwindlichen metaphorischen Rest der vis inertiae. Das Resultat dieses Prozesses war seinerseits der Fl uchtpunkt neuer Oppositionen geworden. Aber aus deren Aspekt wird nur deutlicher, in welchem Maße intransitive Erhaltungsaussagen der Rationalität der Neu­zeit zugrundeliegen.

' z�ur Ge11e.a.logie d.e1· Moral III 7 (WW XV 383).

( 383 )

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