Bochner-R aume · en. Um die kanonischen Funktionenr aume in unserem Beispiel genauer auszuarbeiten...

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Bochner-R¨ aume Felicitas Schmitz, Philipp N¨ agele, Johannes Daube 18. M¨ arz 2016

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Bochner-Raume

Felicitas Schmitz, Philipp Nagele, Johannes Daube

18. Marz 2016

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Inhaltsverzeichnis

0 Einfuhrung und Motivation 5

1 Das Bochner-Integral 111.1 Bochner-Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1.2 Bochner-Integrierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

1.4 Appendix zum Satz von Pettis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2 Bochnerraume 252.1 Definition und erste Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2.2 Vollstandigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

2.3 Dichte Teilmengen und Separabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

2.4 Die Satze von Vitali und Lebesgue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3 Dualraume und Reflexivitat 373.1 Bemerkungen zur schwachen Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

3.2 Charakterisierung der Dualraume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.3 Reflexivitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung 474.1 Differenzierbarkeit und vektorwertige Distributionen . . . . . . . . . . . . 48

4.2 Distributionelle Zeitableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

4.3 Gelfand-Tripel und Verallgemeinerte Zeitableitung . . . . . . . . . . . . . 57

5 Verallgemeinerte Sobolevraume 635.1 Verallgemeinerte Sobolevraume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

5.2 Stetige Einbettungen in Raume Holder-stetiger Funktionen . . . . . . . . 65

5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

5.4 Partielle Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

6 Kompaktheit 796.1 Das Ehrling-Lemma und der Satz von Arzela-Ascoli . . . . . . . . . . . . 80

6.2 Das Kompaktheitslemma von Aubin-Lions . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

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Inhaltsverzeichnis

7 Lineare Warmeleitungsgleichung 877.1 Schwache Form der linearen Warmeleitungsgleichung . . . . . . . . . . . . 877.2 Galerkin-Approximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917.3 Losbarkeit des Galerkin-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927.4 Konvergenz des Galerkin-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

8 Nichtlineare elliptische Probleme und der Schaudersche Fixpunktsatz 978.1 Zwei Varianten des Schauderschen Fixpunktsatzes . . . . . . . . . . . . . 988.2 Struktur der Nichtlinearitat und schwache Formulierung . . . . . . . . . . 988.3 Losbarkeit mittels Linearisierung und Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . 102

9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung 1059.1 Struktur der Nichtlinearitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069.2 Fortsetzung des induzierten Operators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079.3 Approximationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

9.3.1 L∞-Approximation von f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149.3.2 Abgeschnittenes, linearisiertes Problem: Existenz und Eindeutigkeit 1159.3.3 Fixpunktargument und abgeschnittenes Problem . . . . . . . . . . 116

9.4 Grenzubergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Literaturverzeichnis 123

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0 Einfuhrung und Motivation

Sei Ω ⊂ R3 ein beschranktes Gebiet. Zum Ausgangszeitpunkt t = 0 werde die Tempe-raturverteilung in Ω durch die Funktion u0 : Ω → R beschrieben. Es gebe in Ω keineWarmequelle und der Rand ∂Ω werde konstant auf eine Temperatur von 0 Grad gehalten.Dann gehorcht die Temperaturverteilung u : I×Ω→ R, die sich wahrend dem ZeitraumI = (0, T ) in Ω durch Diffusion einstellt, der sogenannten Warmeleitungsgleichung

∂tu−∆u = 0 in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω.

(0.1)

Hierbei bezeichnet ∂t die partielle Ableitung nach der Zeitvariable t und ∆ :=∑3

i=1 ∂2i

ist der ublichen Laplace-Operator. Die Warmeleitungsgleichung ist eine Evolutionsglei-chung, das heißt eine partielle Differentialgleichung, deren Losung explizit auch von derZeit t abhangt.Partielle Differentialgleichungen lassen sich nur in speziellen Fallen

”direkt“, das heißt

durch Angabe einer Funktionsvorschrift, losen. Daher beschaftigt sich die moderne Theo-rie partieller Differentialgleichungen vorrangig mit der Existenz sowie den qualitativenund quantitativen Eigenschaften sogenannter

”schwacher Losungen“. Die Existenztheo-

rie liefert oft auch Hinweise auf die Konstruktion moglicher numerischer Verfahren zurcomputerbasierten Behandlung.Die Existenztheorie selbst nutzt meist abstrakte Hilfsmittel, die wiederum auf speziellenfunktionalanalytischen Eigenschaften der zugrunde liegenden Funktionenraume aufbau-en. Um die kanonischen Funktionenraume in unserem Beispiel genauer auszuarbeitenund zu motivieren, stellen wir zunachst eine Voruberlegung an.Wir sehen der Gleichung (0.1) direkt an, dass eine potentielle Losung u unterschiedlicheDifferenzierbarkeitseigenschaften bezuglich der Zeit- und Ortsvariablen erfullen muss: Ei-ne klassische Losung musste einmal stetig differenzierbar in der Zeit und zweimal stetigdifferenzierbar im Ort sein. Wir konnten also zunachst nach Losungen in dem kanonischnormierten Funktionenraum

X =u : I × Ω→ R

∣∣ ∂tu ∈ C0(I × Ω), ∂2i u ∈ C0(I × Ω) fur i = 1, 2, 3

suchen. Andererseits konnen wir einer Funktion u : I × Ω→ R durch die Vorschrift

[u(t)](x) := u(t, x)

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0 Einfuhrung und Motivation

eine Abbildung

u : I → Y (Ω),

t 7→ u(t),

mit Werten in einem Funktionenraum Y (Ω), dessen Elemente auf Ω definierte Funktionensind, zuordnen. Wir konnten also auch nach einer Losung u ∈ C1(I, Y (Ω)) suchen, wobeieine sinnvolle Wahl von Y (Ω) noch zu klaren ist. Fur klassische Losungen u erwartenwir mit Blick auf Gleichung (0.1) u ∈ C1(I , C2(Ω)), also Y (Ω) = C2(Ω).Diese zweite Sichtweise wird sich im Folgenden als nutzlich erweisen, denn sie erlaubt unsgewissermaßen, Zeit- und Ortsvariablen zu entkoppeln, was im Hinblick auf die Strukturder Gleichung (0.1) durchaus sinnvoll erscheint.Um uns weiter an die

”richtige“ Wahl der Funktionenraume heranzutasten, nehmen

wir nun an, wir hatten bereits eine hinreichend glatte Losung u von (0.1) gefunden.Multiplizieren wir Gleichung (0.1)1 mit u und integrieren uber Ω zu einem festen, aberbeliebigen Zeitpunkt t ∈ I, so erhalten wir∫

Ω∂tu(t, x)u(t, x) dx−

∫Ω

∆u(t, x)u(t, x) dx = 0.

Der Satz von Gauß angewandt auf das Vektorfeld u(t, x)∇u(t, x) liefert dann zusammenmit der Randbedingung (0.1)2∫

Ω∂tu(t, x)u(t, x) dx+

∫Ω∇u(t, x)∇u(t, x) dx = 0.

Mit der Kettenregel ist

∂tu(t, x)u(t, x) =1

2∂t(u(t, x)2

)und somit

1

2

∫Ω∂t(u(t, x)2

)dx+

∫Ω|∇u(t, x)|2 dx = 0.

Nach formaler Vertauschung von Integration und Ableitung erhalten wir schließlich

1

2

d

dt

∫Ωu(t, x)2 dx+

∫Ω|∇u(t, x)|2 dx = 0. (0.2)

Um von u zu u zu wechseln, mussen wir eine sinnvolle Wahl von Y (Ω) treffen. Im Hinblickauf die Große ∫

Ω|∇u(t, x)|2 dx

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und die Randbedingung (0.1)2 ist der Sobolevraum

W 1,20 (Ω) =

v ∈ L2(Ω)

∣∣ ∇v ∈ L2(Ω,R3), v|∂Ω = 0

ausgestattet mit1

‖v‖W 1,2

0 (Ω):= ‖∇v‖L2(Ω,R3)

eine naheliegende Wahl fur Y (Ω). Damit ist nun (0.2) aquivalent zu

1

2

d

dt‖u(t)‖2L2(Ω) + ‖u(t)‖2

W 1,20 (Ω)

= 0.

Integration dieser Identitat bezuglich t uber (0, s) ⊂ I liefert zusammen mit der An-fangsbedingung (0.1)3 fur eine Anfangstemperaturverteilung u0 ∈ L2(Ω) dann

1

2‖u(s)‖2L2(Ω) +

∫ s

0‖u(t)‖2

W 1,20 (Ω)

dt =1

2‖u(0)‖2L2(Ω) =

1

2‖u0‖2L2(Ω).

Da die rechte Seite unabhangig von s ist, erhalten wir schließlich die sogenannte Ener-gieungleichung

1

2sups∈I‖u(s)‖2L2(Ω) +

∫ T

0‖u(t)‖2

W 1,20 (Ω)

dt ≤ ‖u0‖2L2(Ω). (0.3)

fur die zugeordnete Funktion u. Aus dieser Energiegleichung konnen wir nun eine Reihevon Schlussen ziehen. Zunachst zeigt sie, dass die Gesamtenergie

1

2‖u(s)‖2L2(Ω) +

∫ s

0‖u(t)‖2

W 1,20 (Ω)

dt

des Systems zum Zeitpunkt s ∈ I durch die Anfangsenergie

1

2‖u0‖2L2(Ω)

beschrankt wird, was physikalisch sinnvoll erscheint. Dabei beschreibt der erste Sum-mand die kinetische Energie zum Zeitpunkt s ∈ I und der zweite Summand die bis zumZeitpunkt s durch Reibung dissipierte Energie. Daruberhinaus ist der zweite Summandder linken Seite von (0.3) wohldefiniert, falls fur fast alle t ∈ I gilt

u(t) ∈W 1,20 (Ω)

1An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Große ‖∇ · ‖L2(Ω,R3) dank der Poincare-Ungleichung eine

zur W 1,2(Ω)-Norm aquivalente Norm auf W 1,20 (Ω) definiert.

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0 Einfuhrung und Motivation

und zusatzlich die Abbildung

t 7→ ‖u(t)‖W 1,2

0 (Ω)

in L2(I) liegt. Wir fassen diese beiden Forderungen in der zunachst formalen aber sug-gestiven Schreibweise

u ∈ L2(I,W 1,20 (Ω))

zusammen. Analog liefert der erste Summand formal

u ∈ L∞(I, L2(Ω)).

Ausgehend von der Existenz einer klassischen Losung u von (0.1) ergeben sich somitkanonische Funktionenraume fur eine zugehorige (schwache) Losung u: Die Funktion umuss in dem Bochnerraum

L∞(I, L2(Ω)) ∩ L2(I,W 1,20 (Ω))

liegen. Vergleichen wir unsere ursprunglichen Differenzierbarkeitsanforderungen an u mitden durch die Struktur der Gleichung induzierten Anforderungen an u, erkennen wir,dass wir die Energieungleichung fur u mit schwacheren Regularitatsforderungen recht-fertigen konnen. In (0.3) kommt keine Zeitableitung mehr vor, der Zeitableitungstermliefert allerdings formal die Information u ∈ L∞(I, L2(Ω)). Außerdem sind wir durchpartielle Integration eine Ortsableitung losgeworden und (0.3) ist bereits wohldefiniertfalls u(t, ·) = u(t) ∈W 1,2

0 (Ω) gilt und die Abbildung t 7→ ‖u(t)‖W 1,2

0 (Ω)in L2(I) liegt. Das

heißt insbesondere, dass wir fur (0.3) lediglich fordern mussen, dass u einmal schwachdifferenzierbar im Ort ist.Wir werden sehen, dass es sinnvoll ist, eine Funktion u : I × Ω → R schwache Losungder homogenen Warmeleitungsgleichung (0.1) zu Anfangsdaten u0 ∈ L2(Ω) zu nennen,falls die folgenden Punkte erfullt sind:

• Regularitat: Fur die u zugeordnete Funktion gilt u ∈ L∞(I, L2(Ω))∩L2(I,W 1,20 (Ω)).

• schwache Formulierung: Die Funktion u erfullt die Identitat∫I

(u(t), ∂tϕ(t)

)L2(Ω)

dt+

∫I

⟨u(t), ϕ(t)

⟩W 1,2

0 (Ω)dt = 0

fur alle”geeigneten“ Testfunktionen ϕ.

• Anfangsbedingung: Die Funktion u erfullt die Anfangsbedinguing u(0) = u0,wobei zu klaren sein wird, in welchem Raum die Gleichheit aufzufassen ist und obdie Auswertung von u zur Zeit 0 uberhaupt wohldefiniert ist.

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Am Beispiel der Warmeleitungsgleichung haben wir erste typische Schritte fur die Be-handlung von Evolutionsproblemen kennengelernt. Die Vorlesung beschaftigt sich vorran-gig mit den technischen Hilfsmitteln, die fur die (schwache) Existenztheorie im Kontextlinearer und nichtlinearer Evolutionsproblemen notwendig sind. Im Mittelpunkt stehendabei die Bochnerraume selbst, da sie den naturlichen funktionalanalytischen Rahmenfur Evolutionsprobleme bilden.Wie wir oben gesehen haben, beinhaltet die schwache Formulierung von Evolutionspro-blemen geeignete Integralidentitaten, die fur eine dem Problem angepasste Klasse vonTestfunktionen erfullt sein mussen. Insbesondere kann man diese Integralidentitaten alsOperatorgleichung in Dualraumen geeigneter Funktionenraume lesen. Die Realisierungvon Dualitatsprodukten in Bochnerraumen, und die damit verbundene Frage nach derReflexivitat und Separabilitat dieser Raume, bilden daher weitere Schwerpunkte des Stof-fes.Um zu rechtfertigen, in welchem Sinn eine schwache Losung eine gegebene Anfangs-bedingung erfullt, werden wir uns außerdem mit der Stetigkeit schwach differenzierba-rer Funktionen mit Werten in Banachraumen beschaftigen. Dabei wird uns der Begriffder Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen in zweierlei Hinsicht begegnen.Einerseits liefert er die Grundlage fur eine allgemeine Regel zur partiellen IntegrationBanachraum-wertiger Funktionen. In diesem Zuge wird dann die eben diskutierte Fragenach der Stetigkeit und der Wohldefiniertheit von punktweisen Auswertungen geklart.Andererseits ist die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen aber auch Aus-gangspunkt fur das Kompaktheitslemma von Aubin und Lions, was eines der wichtigstenHilfsmittel zur Behandlung nichtlinearer Evolutionsgleichungen ist.Als zusammenfassende Anwendung der oben aufgefuhrten Resultate beweisen wir Exis-tenz und Eindeutigkeit einer schwachen Losung der (linearen) Warmeleitungsgleichung(0.1). Das entsprechende Resultat fur eine nichtlineare Warmeleitungsgleichung der Form

∂tu−∆u = f(u) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω.

(0.4)

ist technisch aufwandiger. Der Existenzbeweis setzt sich aus Kombination einer Linea-risierung der Gleichung mit dem Schauderschen Fixpunktsatz fur kompakte Operatorenzusammen. Um diese Beweismethode fur nichtlineare Probleme verstandlicher zu ma-chen, werden wir sie zunachst an einer nichtlinearen elliptischen Gleichung vorstellen.Die im elliptischen Fall verwendeten Kompaktheitsargumente sind direkte Folgerungenaus dem Rellichschen Einbettungssatz. Wie wir sehen werden, wird diese Rolle im nicht-linearen instationaren Fall vom Lemma von Aubin-Lions ubernommen.

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1 Das Bochner-Integral

Wir haben in der Einfuhrung gesehen, dass Evolutionsprobleme Anlass geben, Funktio-nen zwischen einem (beschrankten) Zeitintervall I und einem Banachraum X zu betrach-ten. Aus der Lebesgue’schen Integrationstheorie wissen wir, dass eine Funktion auf I mitWerten in X = R genau dann (Lebesgue-)messbar ist, falls sie fast uberall der punktweiseGrenzwert einer Folge von Treppenfunktionen ist. Das Lebesgue-Integral von nichtnega-tiven Funktionen kann dann als Grenzwert von Integralen einer geeigneten Folge vonTreppenfunktionen definiert werden.Unser erstes Ziel besteht darin, die Lebesgue’sche Integrationstheorie auf Banachraum-wertige Funktionen zu erweitern. In diesem Zusammenhang dient die Approximierbarkeitmittels Treppenfunktionen als Ausgangspunkt fur den Begriff der Bochner-Messbarkeit,die wiederum Ausgangspunkt fur die Integrationstheorie Banachraum-wertiger Funktio-nen ist.

1.1 Bochner-Messbarkeit

Definition 1.1 (Treppenfunktion)

Eine Funktion s : I → X heißt Treppenfunktion, falls paarweise disjunkte, Lebesgue-messbare Mengen Bi ⊂ I mit endlichem Lebesgue-Maß λ(Bi) < ∞, i = 1, ..., n, undElemente xi ∈ X, i = 1, ..., n, existieren, sodass sich s schreiben lasst als

s =n∑i=1

xi χBi .

Hierbei bezeichnet χBi : I → R die charakteristische Funktion einer Menge Bi, diedefiniert ist als

χBi(t) =

1, t ∈ Bi,0, t /∈ Bi.

Die Menge der Treppenfunktionen auf I mit Werten in X bezeichnen wir mit S(I,X).

Definition 1.2 (Bochner-Messbarkeit)

Eine Funktion u : I → X heißt Bochner-messbar, falls eine Folge (sn)n∈N ⊂ S(I,X)von Treppenfunktionen existiert, sodass fur fast alle t ∈ I gilt

limn→∞

‖sn(t)− u(t)‖X = 0.

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1 Das Bochner-Integral

Die Definition der Bochner-Messbarkeit liefert sofort

Lemma 1.3 (u Bochner-messbar ⇒ ‖u(·)‖ Lebesgue-messbar)

Falls u : I → X Bochner-messbar ist, so ist die reellwertige Funktion

‖u(·)‖X : I → R,t 7→ ‖u(t)‖X ,

Lebesgue-messbar.

Beweis. Da u Bochner-messbar ist, exisitiert eine Folge (sn)n∈N ⊂ S(I,X), so dass furfast alle t ∈ I fur n→∞ gilt

sn(t)→ u(t) in X.

Die Funktionen ‖sn(·)‖X : I → R sind Treppenfunktionen mit Werten in R und somitLebesgue-messbar. Außerdem gilt fur fast alle t ∈ I

limn→∞

∣∣∣‖u(t)‖X − ‖sn(t)‖X∣∣∣ ≤ lim

n→∞‖u(t)− sn(t)‖X = 0.

Die Funktion ‖u(·)‖X ist somit als fast-uberall-Grenzwert einer Folge von Lebesgue-messbaren Funktionen selbst Lebesgue-messbar.

1.2 Bochner-Integrierbarkeit

Definition 1.4 (Bochner-Integral von Treppenfunktionen)

Sei

s =n∑i=1

xiχBi : I → X

eine Treppenfunktion im Sinne von Definition 1.1. Dann ist das Bochner-Integral vons definiert als ∫

Is(t) dt :=

n∑i=1

xi λ(Bi).

Aus der Definition einer Treppenfunktion sowie der Definition des Bochnerintegrals furTreppenfunktionen ergibt sich unmittelbar

Korollar 1.5 (Elementare Eigenschaften I)

1. Fur s ∈ S(I,X) gilt∫I s(t)dt ∈ X.

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1.2 Bochner-Integrierbarkeit

2. Das Bochner-Integral ist unabhangig von der Darstellung der Treppenfunktion, dasheißt fur

s =

n∑i=1

xiχBi =

m∑j=1

yjχCj

gilt ∫Is(t) dt =

n∑i=1

xi λ(Bi) =m∑j=1

yj λ(Cj).

3. Fur α, β ∈ R und s1, s2 ∈ S(I,X) gilt∫I(αs1 + βs2)(t) dt = α

∫Is1(t) dt+ β

∫Is2(t) dt.

4. Fur s ∈ S(I,X) gilt ∥∥∥∥∫Is(t) dt

∥∥∥∥X

≤∫I‖s(t)‖X dt

und die rechte Seite ist wohldefiniert als Lebesgue-Integral.

Beweis. Blatt 2, Aufgabe 2

Bemerkung 1.6

Wegen Korollar 1.5 induziert das Bochner-Integral eine lineare, stetige Abbildung∫I·dt : S(I,X)→ X

s 7→∫Is(t) dt.

Definition 1.7 (Bochner-integrierbar, Bochner-Integral)

Eine Funktion u : I → X heißt Bochner-integrierbar, falls eine Folge von Treppen-funktionen (sn)n∈N ⊂ S(I,X) existiert mit

(1) limn→∞

sn(t) = u(t) fur fast alle t ∈ I und (1.8)

(2) limn→∞

∫I‖sn(t)− u(t)‖X dt = 0. (1.9)

Fur eine Bochner-integrierbare Funktion u : I → X definieren wir das Bochner-Integral von u durch ∫

Iu(t) dt := lim

n→∞

∫Isn(t) dt. (1.10)

Die Menge der Bochner-integrierbaren Funktionen auf I mit Werten in X bezeichnenwir mit L1(I,X).

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1 Das Bochner-Integral

Bemerkung 1.11 (Forderungen in Definition 1.7)

1. Die Forderung (1.8) besagt insbesondere, dass eine Bochner-intergrierbare Funktionu Bochner-messbar sein muss.

2. Die Forderung (1.9) ist sinnvoll, denn nach Lemma 1.3 ist fur jedes n ∈ N diereellwertige Funktion t→ ‖sn(t)− u(t)‖X Lebesgue-messbar und damit ist∫

I‖sn(t)− u(t)‖X dt

als Lebesgue-Integral definiert.

3. Das Bochner-Integral einer Bochner-integrierbaren Funktion ist unabhangig vonder approximierenden Folge von Treppenfunktionen, denn fur zwei approximierendeFolgen (s1

n)n∈N und (s2n)n∈N gilt fur n→∞∥∥∥∥∫

Is1n(t)− s2

n(t) dt

∥∥∥∥X

≤∫I‖s1n(t)− s2

n(t)‖X dt

≤∫I‖s1n(t)− u(t)‖X dt+

∫I‖u(t)− s2

n(t)‖X dt→ 0,

und somit folgt (da beide Grenzwerte existieren)

limn→∞

∫Is1n(t) dt = lim

n→∞

∫Is2n(t) dt =

∫Iu(t) dt.

Einen ersten Zusammenhang zwischen Bochner- und Lebesgue-Integrierbarkeit liefert

Satz 1.12 (Bochner-Kriterium)

Eine Funktion u : I → X ist genau dann Bochner-integrierbar wenn u Bochner-messbarund die Funktion ‖u(·)‖X : I → R Lebesgue-integrierbar ist.

Beweis. Sei zunachst u Bochner-integrierbar. Dann ist u per Definition Bochner-messbar.Insbesondere existiert eine Folge (sn)n∈N ⊂ S(I,X), so dass fur n→∞ fur fast alle t ∈ Igilt

limn→∞

sn(t) = u(t) in X.

Nach Lemma 1.3 ist ‖u(·)‖X Lebesgue-messbar und außerdem gilt mit der Dreiecksun-gleichung ∫

I‖u(t)‖X dt ≤

∫I‖sn(t)− u(t)‖X dt+

∫I‖sn(t)‖X dt <∞,

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1.2 Bochner-Integrierbarkeit

denn fur hinreichend grosses n ∈ N konvergiert der erste Summand gegen Null und derzweite Summand ist wegen sn ∈ S(I,X) beschrankt. Also ist ‖u(·)‖X auch Lebesgue-integrierbar.Sei nun u Bochner-messbar und ‖u(·)‖X Lebesgue-integrierbar. Fur eine approximierendeFolge (sn)n∈N ⊂ S(I,X) mit

limn→∞

sn(t) = u(t) in X

fur fast alle t ∈ I, definieren wir eine weitere Folge von Treppenfunktionen durch

kn := sn χt∈I | ‖sn(t)‖X≤2‖u(t)‖X.

Dann gilt, wie man leicht nachrechnet, fur n→∞ fur fast alle t ∈ I

limn→∞

kn(t) = u(t) in X.

Außerdem gilt

‖kn(t)− u(t)‖X ≤ 3‖u(t)‖X ,

wobei ‖u(·)‖X nach Voraussetzung Lebesgue-integrierbar ist. Der Satz uber majorisierteKonvergenz von Lebesgue liefert daher

limn→∞

∫I‖kn(t)− u(t)‖X dt = 0

und somit ist u Bochner-integrierbar.

Definition 1.13

Wir definieren wie in der Lebesgue’schen Theorie

L1(I,X) := L1(I,X)/∼,

wobei die Aquivalenzrelation ∼ gegeben sei durch”

Gleichheit fast uberall“. Wir definierenaußerdem

‖u‖L1(I,X) :=

∫I‖u(t)‖X dt.

Man uberzeugt sich leicht davon, dass ‖ · ‖L1(I,X) eine Norm auf L1(I,X) liefert.

Das Bochner-Kriterium liefert zu einer Bochner-integrierbaren Funktion u eine Folgevon Treppenfunktionen, die punktweise von “unten” und in der L1(I,X)-Norm gegenu konvergiert. Die elementaren Eigenschaften des Bochner-Integrals von Treppenfunk-tionen lassen sich daher leicht mit einem Dichtheitsargument auf Bochner-integrierbareFunktionen ubertragen.

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1 Das Bochner-Integral

Lemma 1.14 (Elementare Eigenschaften II)

1. Fur u ∈ L1(I,X) gilt ∥∥∥∥∫Iu(t) dt

∥∥∥∥X

≤∫I‖u(t)‖X dt.

2. Seien X und Y Banachraume und T : X → Y ein linearer, stetiger Operator. Furu ∈ L1(I,X) sei

Tu : I → Y,

(Tu)(t) := Tu(t).

Dann gilt Tu ∈ L1(I, Y ) und

T

(∫Iu(t) dt

)=

∫ITu(t) dt.

3. Fur alle u ∈ L1(I,X) und alle F ∈ X∗ ist die reelle Funktion t 7→ 〈F, u(·)〉XLebesgue-integrierbar und es gilt⟨

F,

∫Iu(t)dt

⟩X

=

∫I〈F, u(t)〉X dt.

Hierbei bezeichnet 〈·, ·〉X die duale Paarung im Banachraum X.

Beweis. Blatt 2, Aufgabe 2

1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis

Im vorangegangenen Abschnitt haben wir das Konzept der Bochner-Messbarkeit, in derLiteratur meist auch starke Messbarkeit genannt, kennengelernt. Als unmittelbare Fol-gerung der Bochner-Messbarkeit einer Funktion u : I → X ergab sich in Lemma 1.3 dieLebesgue-Messbarkeit der Funktion ‖u(·)‖X : I → R und, unter der zusatzlichen Voraus-setzung der Bochner-Integrierbarkeit von u, die Lebesgue-Integrierbarkeit der Funktion‖u(·)‖X in Satz 1.12.Wir stellen fest, dass das Konzept der Bochner-Messbarkeit einerseits wesentlich fur diebisherigen Resultate war, wir aber andererseits noch kein wirklich

”handliches“ Kriteri-

um fur ihren Nachweis haben. Der Satz von Pettis liefert genau solch ein Kriterium imFalle der Separabilitat des Bildraums X.Die Forderung der Separabilitat von X ist dabei keine wesentliche Einschrankung fur dieAnwendung: In der Motivation mit Hilfe der Warmeleitungsgleichung war X entwederein klassischer Lebesgue- oder ein Sobolevraum. Diese Raume sind jedoch fur die Skala

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1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis

von Integrationsexponenten 1 < p <∞ stets separabel.Den Preis, den wir fur den Satz von Pettis bezahlen mussen, ist das Konzept der soge-nannten schwachen Messbarkeit. Der Definition der schwachen Messbarkeit stellen wirzunachst eine Folgerung aus dem Satz von Hahn-Banach voran.

Satz 1.15 (Folgerung aus Hahn-Banach)

Sei X ein Banachraum mit Norm ‖ · ‖X . Dann existiert wegen des Fortsetzungssatzesvon Hahn-Banach fur alle x ∈ X (mindestens) ein fx ∈ X∗ mit

‖fx‖X∗ = ‖x‖X und 〈fx, x〉X = ‖x‖2X .

Insbesondere definiert die Zuordnung x 7→ fx eine im Allgemeinen mengenwertige Abbil-dung

J : X → X∗,

J x :=f ∈ X∗

∣∣ 〈f, x〉X = ‖x‖2X = ‖f‖2X∗.

In der Literatur wird J Dualitatsabbildung (bzgl ‖ · ‖X) genannt. Setzen wir f =‖x‖−1fx so sehen wir, dass fur alle x ∈ X (mindestens) ein f ∈ X∗ existiert mit

‖f‖X∗ = 1 und 〈f, x〉X = ‖x‖X .

Der Satz von Hahn-Banach sichert die Fortsetzbarkeit linearer Funktionale. Aber erstder eben zitierte Satz liefert die Tatsache, dass der Dualraum X∗ eines Banachraums Xin gewisser Weise reichhaltig genug ist, um sich mit ihm zu beschaftigen.Der Ausgangspunkt der schwachen Messbarkeit einer Funktion u : I → X, ist die Unter-suchung der Lebesgue-Messbarkeit der durch f ∈ X∗ indizierten Funktionenschwar

t 7→ 〈f, u(t)〉X . (1.16)

Der Satz von Pettis besagt, dass die Lebesgue-Messbarkeit der Abbildungsschar in (1.16)aquivalent ist zur Bochner-Messbarkeit der Funktion u : I → X, falls der Raum Xseparabel ist.Bevor wir jedoch zu diesem Ergebnis gelangen, brauchen wir einige technische Hilfsmittel.Wir orientieren uns dabei an der Darstellung von [Wlo82], formulieren die Ergebnissejedoch fur Banachraume und nicht nur fur Hilbertraume.Im Folgenden sei wieder I ⊂ R ein beschranktes Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum.

Definition 1.17 (Schwache Messbarkeit, separabelwertig,...)

Eine Funktion u : I → X heißt

1. schwach messbar, falls die reelle Funktion 〈f, u(·)〉X : I → R fur alle f ∈ X∗Lebesgue-messbar ist,

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1 Das Bochner-Integral

2. abzahlbarwertig, falls

Im(u) :=x ∈ X

∣∣ ∃t ∈ I mit u(t) = x

abzahlbar ist und fur alle x ∈ Im(u) die Menge Bx := u−1(x) = t ∈ I |u(t) = xLebesgue-messbar ist, das heißt, dass Bx ∈ B(I) gilt, wobei B(I) die Borel’scheσ-Algebra auf I bezeichne,

3. separabelwertig, falls Im(u) separabel ist,

4. fast separabelwertig, falls eine Lebesgue-Nullmenge B0 ∈ B(I) existiert, sodassIm(u|I\B0

) separabel ist,

5. endlichwertig oder Treppenfunktion, falls paarweise disjunkte, Lebesgue-messbareMengen Bi mit endlichem Lebesgue-Maßund Funktionswerte xi 6= 0, i = 1, ..., n,existieren, so dass gilt

u(t) = xi fur alle t ∈ Bi und

u(t) = 0 fur alle t ∈ I \n⋃i=1

Bi.

Nun haben wir alle notwendigen Definitionen fur den folgenden Satz.

Satz 1.18 (Pettis)

Eine Funktion u : I → X ist genau dann Bochner-messbar, wenn u schwach messbarund fast separabelwertig ist.

Bemerkung 1.19

Insbesondere gilt: Ist X ein separabler Banachraum, so sind Bochner-Messbarkeit undschwache Messbarkeit aquivalent.

Beweis. Sei zunachst u : I → X Bochner-messbar. Nach Definition 1.2 existiert danneine Folge (sn)n∈N ⊂ S(I,X) von Treppenfunktionen mit

limn→∞

sn(t) = u(t)

fur fast alle t ∈ I. Insbesondere existiert ein B0 ∈ B(I) mit λ(B0) = 0 und

limn→∞

sn(t) = u(t) fur alle t ∈ I \B0.

Dann gilt aber fur jedes f ∈ X∗ und fur alle t ∈ I \B0

limn→∞

〈f, sn(t)〉X = 〈f, u(t)〉X .

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1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis

Da 〈f, sn(·)〉X fur alle n ∈ N als reelle Treppenfunktion Lebesgue-messbar ist, ist auch〈f, u(·)〉X als fast-uberall-Grenzwert Lebesgue-messbar. Das heißt u ist schwach messbar.Daruber hinaus ist jede Treppenfunktion sn endlichwertig und damit gilt:⋃

n∈NIm(sn) ist abzahlbar und

⋃n∈N

Im(sn)‖·‖X

ist separabel.

Außerdem ist u fast separabelwertig, da

Im(u|I\B0) =

⋃t∈I\B0

u(t) ⊂⋃n∈N

Im(sn)‖·‖X

.

Sei nun u schwach messbar und fast separabelwertig. Wir konnen ohne Beschrankungder Allgemeinheit annehmen, dass X selbst separabel ist, da wir andernfalls X durchden separablen Banachraum

span Im(u|I\B0)‖·‖X ⊂ X

ersetzen konnen. In einem ersten Schritt zeigen wir jetzt, dass ‖u(·)‖X Lebesgue-messbarist. Anschließend konstruieren wir in einem zweiten Schritt eine Folge von Treppenfunk-tionen, die u im Sinne der Bochner-Messbarkeit approximiert.Fur den ersten Schritt benotigen wir folgende technische Aussage, die in [Bre11] oder in[Yos80] bewiesen wird.

Proposition 1.20

Sei X ein separabler Banachraum. Dann gibt es eine Folge (fn)n∈N ⊂ X∗ mit ‖fn‖X∗ ≤ 1,sodass fur alle f0 ∈ X∗ mit ‖f0‖X∗ ≤ 1 eine Teilfolge (fnk)k∈N ⊂ (fn)n∈N existiert mit

limk→∞〈fnk , x〉X = 〈f0, x〉X fur alle x ∈ X.

Insbesondere ist die Einheitskugel im Dualraum eines separablen Banachraums separabelbezuglich der ∗-schwachen Topologie.

Fur beliebiges a ∈ R sei nun

A :=t ∈ I

∣∣ ‖u(t)‖X ≤ a

und

Af :=t ∈ I

∣∣ |〈f, u(t)〉X | ≤ a

fur f ∈ X∗.

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1 Das Bochner-Integral

Da u schwach messbar ist, ist Af fur jedes f ∈ X∗ eine Lebesgue-messbare Menge. Wennwir zeigen konnen, dass es eine Folge (fj)j∈N ⊂ X∗ gibt mit

A =∞⋂j=1

Afj ,

so ist A als abzahlbarer Schnitt Lebesgue-messbare Mengen selbst Lebesgue-messbar undsomit ist auch ‖u(·)‖X : I → R Lebesgue-messbar. Satz 1.15 liefert die Normformel

‖x‖X = sup‖f‖X∗≤1

〈f, x〉X

und daher gilt

A ⊂⋂

‖f‖X∗≤1

Af .

Außerdem existiert wegen Satz 1.15 fur jedes t ∈ I ein f ∈ X∗ mit ‖f‖X∗ = 1 und‖u(t)‖X = 〈f, u(t)〉X . Daher gilt⋂

‖f‖X∗≤1

Af ⊂ A und somit⋂

‖f‖X∗≤1

Af = A.

Wegen der ∗-schwachen Separabilitat der Einheitskugel inX∗ existiert eine Folge (fj)j∈N ⊂X∗ mit ‖fj‖X∗ ≤ 1 und

∞⋂j=1

Afj =⋂

‖f‖X∗≤1

Af = A.

Nun konstruieren wir die gesuchte Folge von Treppenfunktionen: Da X separabel ist,existieren zu jedem festen n ∈ N offene Kugeln

(Kj

1/n(xj,n))j∈N mit Mittelpunkten

(xj,n)j∈N ⊂ X und Radius 1n , sodass gilt

Im(u) ⊂⋃j∈N

Kj1/n(xj,n).

Da ‖u(·)‖X Lebesgue-messbar ist, ist fur jedes j ∈ N und jedes n ∈ N auch ‖u(·)−xj,n‖XLebesgue-messbar, das heißt, die Menge

Bj,n :=t ∈ I

∣∣u(t) ∈ Kj1/n(xj,n)

ist eine Lebesgue-messbare Menge und es gilt

I =⋃j∈N

Bj,n.

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1.3 Schwache Messbarkeit und Satz von Pettis

Wir definieren daher Funktionen

sn(t) :=

xi,n, falls t ∈ Bi,n := Bi,n \

⋃i−1j=1Bj,n,

0 sonst .

Dann sind die Mengen Bi,n Lebesgue-messbar, paarweise disjunkt und es gilt

I =⋃i∈N

Bi,n.

Weil fur alle t ∈ I per Konstruktion der Funktionen sn

‖u(t)− sn(t)‖X <1

n

gilt, folgt schließlich fur alle t ∈ I

limn→∞

sn(t) = u(t) in X.

Die sn sind nur abzahlbarwertig; unsere Definition der Bochner-Messbarkeit verlangtjedoch, dass die approximierende Folge aus Treppenfunktionen, also insbesondere end-lichwertigen Funktionen besteht. Die Tatsache, dass man im separablen Fall abzahl-barwertige Funktionen durch endlichwertige Treppenfunktionen approximieren kann istnaheliegend, der Beweis ist jedoch nicht ganz einfach, da er noch zwei weitere Satze ausder Maßtheorie benutzt. Wir werden den Beweis dieser Aussage spater zeigen, nehmenihre Gultigkeit jedoch fur den Moment an, um den Beweis des Satzes von Pettis zubeenden.

Zunachst geben wir einige Folgerungen aus dem Satz von Pettis

Folgerung 1.21

Sei X ein separabler Banachraum und u : I → X eine Funktion. Sei (un)n∈N : I → Xeine Folge Bochner-messbarer Funktionen und es gelte un(t) u(t) fur fast alle t ∈ I.Dann ist auch u Bochner-messbar; insbesondere ist Bochner-Messbarkeit stabil unterschwacher Konvergenz.

Beweis. Blatt 3, Aufgabe 1

Folgerung 1.22

1. Sei H ein separabler Hilbertraum und u, v : I → H schwach messbar. Dann ist dieFunktion (u(·), v(·))H : I → R Lebesgue-messbar.

2. Sei X ein separabler, reflexiver1 Banachraum und u : I → X und f : I → X∗ seienschwach messbar. Dann ist die Funktion 〈f(·), u(·)〉X : I → R Lebesgue-messbar.

Beweis. Blatt 3, Aufgabe 2

1Das heißt, die kanonische Isometrie JX : X → X∗∗ definiert durch 〈JXx, f〉X∗ := 〈f, x〉X ist surjektiv

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1 Das Bochner-Integral

1.4 Appendix zum Satz von Pettis

Bevor wir die noch ausstehende Behauptung im Beweis des Satzes von Pettis nachholen,erwahnen wir noch zwei weitere Satze, die sinngemaß aus der klassischen Maßtheoriebekannt sein sollten. Die Beweise findet der interessierte Leser in [Wlo82].

Definition 1.23 (Fast gleichmaßige Konvergenz)

Eine Folge (un)n∈N : I → X konvergiert fast gleichmaßig gegen u : I → X, falls furalle ε > 0 eine Lebesgue-messbare Menge F mit λ(F ) < ε existiert, so dass fur n → ∞gilt

un → u gleichmaßig auf I \ F.

Satz 1.24 (Egorov)

Sei X ein separabler Banachraum. Seien (un)n∈N, u : I → X schwach messbar und esgelte limn→∞ un(t) = u(t) fur fast alle t ∈ I. Dann konvergiert (un)n∈N fast gleichmaßiggegen u.

Definition 1.25 (Konvergenz nach Maß)

Eine Folge (un)n∈N : I → X schwach messbarer Funktionen konvergiert nach Maßgegen eine schwach messbare Funktion u : I → X, falls fur alle ε > 0 gilt

limn→∞

λ (t ∈ I | ‖un(t)− u(t)‖X ≥ ε) = 0.

Wie auch im klassischen Fall impliziert fast gleichmaßige Konvergenz die Konvergenznach Maß.Hat I endliches Maß, so ist die Konvergenz nach Maß außerdem metrisierbar, das heißtauf dem Raum der schwach messbaren Funktionen existiert eine Metrik, die die gleicheTopologie wie die Konvergenz nach Maß erzeugt. Diese Metrik ist gegeben durch

d(u, v) :=

∫I

min1, ‖u(t)− v(t)‖X dt. (1.26)

Es gilt dann der folgende Kompaktheitssatz.

Satz 1.27

Sei X ein separabler Banachraum. Seien (un)n∈N, u : I → X schwach messbar und es gel-te limn→∞ un = u nach Maß. Dann exisitert eine Teilfolge (unk)k∈N, die fast gleichmaßiggegen u konvergiert.

Kommen wir nun zum noch ausstehenden Beweis der Behauptung aus dem letzten Teildes Beweises vom Satz von Pettis.

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1.4 Appendix zum Satz von Pettis

Lemma 1.28

Sei X ein separabler Banachraum und u : I → X schwach messbar. Dann ist u Bochner-messbar; insbesondere existiert eine Folge (sn)n∈N ⊂ S(I,X) mit

limn→∞

sn(t) = u(t) in X fur fast alle t ∈ I.

Beweis. Im Beweis des Satzes von Pettis hatten wir bereits eine Folge abzahlbarwertiger,schwach messbarer Funktionen (sl)l∈N konstruiert, so dass fur fast alle t ∈ I gilt

liml→∞

sl(t) = u(t) in X

Aufgrund des Satzes von Egorov konvergiert (sl)l∈N fast gleichmaßig gegen u. DieseTatsache impliziert die Konvergenz von (sl)l∈N gegen u nach Maß und schließlich giltmit der in (1.26) definierten Metrik auch

liml→∞

d(sl, u) = 0.

Betrachten wir nun eine beliebige abzahlbarwertige Funktion v : I → X mit

v =

∞∑k=1

ykχBk ,

wobei fur alle k ∈ N gelte yk ∈ X und Bk ∈ B(I). Setzen wir

vn :=n∑k=1

ykχBk ,

so gilt vn ∈ S(I,X) und

vn = v auf I \∞⋃

k=n+1

Bk.

Wegen I =⋃k Bk und λ(I) <∞ existiert zu jedem ε > 0 ein n0(ε) ∈ N mit

λ

( ∞⋃k=n+1

Bk

)=

∞∑k=n+1

λ(Bk) < ε fur alle n ≥ n0(ε).

Dann sieht man aber leicht, dass (vn)n∈N ⊂ S(I,X) fast gleichmaßig gegen v konvergiert.Fur festes l ∈ N finden wir daher eine Folge (slm)m∈N ⊂ S(I,X), die fur m → ∞ fastgleichmaßig gegen sl konvergiert. Mit der gleichen Begrundung wie oben gilt dann auch

limm→∞

d(slm, sl) = 0.

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1 Das Bochner-Integral

Zu jedem k ∈ N finden wir also Zahlen lk ∈ N und mk ∈ N mit

d(slk , u) ≤ 1

2k,

d(slkmk , slk) ≤ 1

2k.

Daraus folgt

d(slkmk , u) ≤ d(slkmk , slk) + d(slk , u) ≤ 1

k

und daher

limk→∞

d(slkmk , u) = 0.

Wegen der Metrisierbarkeit der Konvergenz nach Maß gilt daher aquivalent

slkmk → u nach Maß fur k →∞.

Nach dem Kompaktheitssatz 1.27 existiert eine Teilfolge (sn)n∈N ⊂ (slkmk)k∈N ⊂ S(I,X),die fast gleichmaßig gegen den gleichen Grenzwert, also gegen u, konvergiert. Das heißtalso: Fur jedes ε > 0 exisitiert eine Menge Fε ∈ B(I) mit λ(Fε) < ε und

sn → u gleichmaßig auf I \ Fε.

Wir setzen schließlich

F :=⋂ε>0

Fε.

Dann gilt λ(F ) ≤ λ(Fε) ≤ ε fur alle ε > 0, das heißt F ist eine Lebesgue-Nullmenge,und fur alle t ∈ I \ F gilt

limn→∞

sn(t) = u(t) in X

Damit haben wir die Bochner-Messbarkeit von u gezeigt.

Bemerkung 1.29

Die Definition der Bochner-Messbarkeit ist in der Literatur nicht einheitlich: In [Yos80]wird Bochner-Messbarkeit direkt durch fast-uberall-Approximierbarkeit mittels abzahlbar-wertiger Funktionen definiert. Um mit [Ruz04] konsistent zu bleiben, halten wir uns aberan die dortigen Definitionen.

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2 Bochnerraume

Nachdem wir uns im vorherigen Abschnitt ausfuhrlich mit verschiedenen Konzepten derMessbarkeit vektorwertiger Funktionen auseinandergesetzt haben, kommen wir im aktu-ellen Kapitel zur Definition der Bochnerraume Lp(I,X). Neben der Vollstandigkeit derRaume Lp(I,X) fur die Skala 1 ≤ p ≤ ∞, interessieren wir uns auch fur deren Separabi-litat. Außerdem formulieren wir die fur die Anwendung nutzlichen Satze von Vitali, denSatz uber majorisierte Konvergenz von Lebesgue und einen Satz uber Vertauschbarkeitvon Integral und Ableitung im Setting von Bochnerraumen.So nutzlich diese Satze zweifelsohne sind, so nachvollziehbar machen ihre Beweise jedochauch folgendes Zitat von Kurt Friedrichs:

”What I don’t like about measure theory is

that you have to say ‘almost everywhere’ almost everywhere...“

2.1 Definition und erste Eigenschaften

Definition 2.1 (Lp(I,X))

Sei I ⊂ R ein Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum. Wir definieren

1. fur 1 ≤ p <∞

Lp(I,X) :=u : I → X

∣∣∣u ist Bochner-messbar und

∫I‖u(t)‖pX dt <∞

/∼

mit Norm

‖u‖Lp(I,X) :=

(∫I‖u(t)‖pX dt

)1/p

2. und fur p =∞

L∞(I,X) :=

u : I → X

∣∣∣∣∣ u ist Bochner-messbar und es existiert C > 0

mit ‖u(t)‖X ≤ C fur fast alle t ∈ I.

/∼

mit Norm

‖u‖L∞(I,X) := ess supt∈I

‖u(t)‖X

:= infC > 0

∣∣ ‖u(t)‖X ≤ C fur fast alle t ∈ I.

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2 Bochnerraume

Dabei ist in beiden Fallen die Aquivalenzrelation ∼ durch”

Gleichheit fast uberall auf I“definiert.

Bevor wir zur Vollstandigkeit von Lp(I,X) kommen, notieren wir einige einfache Folge-rungen.

Korollar 2.2

1. Die Raume Lp(I,X) sind reelle Vektorraume.

2. Gilt X → Y fur einen weiteren Banachraum (Y, ‖·‖Y ), dann gilt auch

Lp(I,X) → Lp(I, Y ).

3. Ist T : X → Y linear und stetig, so induziert T einen linearen, stetigen Operator(den wir wieder mit T bezeichnen)

T : Lp(I,X)→ Lp(I, Y ).

Beweis. Ubung

Auch die Holder-Ungleichung gilt in Bochnerraumen weiterhin. Zu beachten ist naturlichFolgendes: Sind X,Y beliebige Banachraume und u, v Funktionen mit Werten in X bzw.Y , so ist das Produkt u(t)v(t) in der Regel nicht definiert. Umgehen konnen wir diesesProblem einfach, falls Y = X∗ gilt.

Lemma 2.3 (Holder)

Seien 1 ≤ p, q ≤ ∞ mit 1p + 1

q = 1. Fur u ∈ Lp(I,X) und v ∈ Lq(I,X∗) gilt dann

〈v(·), u(·)〉X ∈ L1(I,R) und∫I|〈v(t), u(t)〉X | dt ≤ ‖v‖Lq(I,X∗) ‖u‖Lp(I,X) .

Beweis. Da u und v Bochner-messbar sind, exisitieren Folgen von Treppenfunktionen(sn)n∈N ⊂ S(I,X), (kn)n∈N ⊂ S(I,X∗), so dass fur fast alle t ∈ I gilt

limn→∞

sn(t) = u(t) in X

limn→∞

kn(t) = v(t) in X∗.

Daher konvergiert die Folge Lebesgue-messbarer Funktionen(〈kn(·), sn(·)〉X

)n∈N fast

uberall gegen 〈v(·), u(·)〉X und 〈v(·), u(·)〉X ist daher Lebesgue-messbar.Satz 1.12 liefert ‖u(·)‖X ∈ Lp(I) und ‖v(·)‖X∗ ∈ Lq(I). Mit der klassischen Holder-Ungleichung folgt schließlich∫

I|〈v(t), u(t)〉X | dt ≤

∫I‖v(t)‖X∗ ‖u(t)‖X dt ≤ ‖v‖Lq(I,X∗) ‖u‖Lp(I,X) <∞.

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2.2 Vollstandigkeit

Korollar 2.4

Sei I ⊂ R ein beschranktes Intervall und X,Y und Z Banachraume.

1. Gilt u ∈ Lp(I,X), so folgt u ∈ Lq(I,X) fur alle 1 ≤ q ≤ p.

2. Fur p ≤ r ≤ q gilt

Lp(I,X) ∩ Lq(I,X) → Lr(I,X).

3. Seien 1 ≤ p, q, r ≤ ∞ mit 1r = 1

p + 1q und sei B : X × Y → Z eine stetige, bilineare

Abbildung. Dann induziert B eine stetige, bilineare Abbildung (die wir wieder mitB bezeichnen)

B : Lp(I,X)× Lq(I, Y )→ Lr(I, Z),

(u, v) 7→ B(u, v),

mit B(u, v)(t) := B(u(t), v(t)).

Beweis. Blatt 4, Aufgabe 4

2.2 Vollstandigkeit

Wir kommen nun zu einem der zentralen Resultate dieses Abschnitts, der Vollstandigkeitvon Bochnerraumen.

Satz 2.5 (Vollstandigkeit von Bochnerraumen)

Sei I ⊂ R ein Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum. Dann sind die BochnerraumeLp(I,X), 1 ≤ p ≤ ∞, Banachraume.

Beweis. Wir unterscheiden die Falle 1 ≤ p < ∞ und p = ∞. In beiden Fallen definiert‖·‖Lp(I,X) eine Norm, sodass nur die Vollstandigkeit zu zeigen bleibt.

1. Fall: 1 ≤ p <∞.Sei (un)n∈N ⊂ Lp(I,X) eine Cauchyfolge, das heißt es gelte

limn,k→∞

‖un − uk‖Lp(I,X) = 0.

Wir finden daher eine wachsende Folge (kj)j∈N ⊂ N mit∥∥un − ukj∥∥pLp(I,X)< 4−j fur alle n ≥ kj . (2.6)

Fur die Teilfolge (vj)j∈N ⊂ (un)n∈N, vj := ukj , gilt wegen kj+1 ≥ kj und (2.6)

‖vj+1 − vj‖pLp(I,X) =

∫I‖vj+1(t)− vj(t)‖pX dt < 4−j . (2.7)

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2 Bochnerraume

Fur die Lebesgue-messbaren Mengen

Mj :=t ∈ I

∣∣ ‖vj+1(t)− vj(t)‖pX ≥ 2−j

und Ni :=⋃j≥i

Mj

folgt aus (2.7)

λ(Mj) =

∫IχMj (t) dt ≤ 2j

∫I‖vj+1(t)− vj(t)‖pX dt ≤ 2j · 4−j = 2−j .

Daraus ergibt sich

λ(Ni) ≤∑j≥i

λ(Mj) ≤∑j≥i

2−j = 21−i.

Fur N :=⋂i≥1Ni gilt wegen N1 ⊃ N2 ⊃ ... und den Eigenschaften des Lebesguemaßes

λ(N) ≤ lim supi→∞

λ(Ni) = limi→∞

21−i = 0.

Fur t ∈ I \ N existiert ein i ∈ N mit t /∈ Ni, was t /∈ Mj fur alle j ≥ i nach sich zieht.Dann gilt aber

‖vj+1(t)− vj(t)‖pX < 2−j fur alle j ≥ i.

Damit folgt fur alle t ∈ I \N

limj→∞

‖vj+1(t)− vj(t)‖pX = 0.

Das bedeutet, dass die Folge (vj(t))j∈N fur alle t ∈ I\N eine Cauchyfolge im BanachraumX ist. Daher existiert fur alle t ∈ I \N ein Element u(t) ∈ X fur das gilt

limj→∞

‖vj(t)− u(t)‖X = 0.

Setzen wir noch u(t) := 0 fur t ∈ N , so haben wir nun einen moglichen Kandidatenu : I → X fur den Grenzwert der Cauchyfolge (un)n∈N gefunden.Als Teilfolge der Bochner-messbaren Folge (un)n∈N ist die Folge (vj)j∈N ebenfalls Bochner-messbar. Die Funktion u ist somit als fast-uberall-Grenzwert der Folge (vj)j∈N Bochner-messbar. Mit dem Lemma von Fatou angewandt auf die Folge Lebesgue-messbarer Funk-tionen ‖vj(·)− vi(·)‖X gilt

‖vj − u‖pLp(I,X) ≤ lim infi→∞

‖vj − vi‖pLp(I,X)

und wegen (vj)j∈N ⊂ (un)n∈N folglich

limj→∞

‖vj − u‖Lp(I,X) = 0.

28

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2.2 Vollstandigkeit

Wegen

‖u‖Lp(I,X) ≤ ‖u− vj‖Lp(I,X) + ‖vj‖Lp(I,X) <∞

gilt u ∈ Lp(I,X). Abschließend erhalten wir wegen der fur alle j ∈ N gultigen Unglei-chung

‖un − u‖Lp(I,X) ≤ ‖un − vj‖Lp(I,X) + ‖vj − u‖Lp(I,X)

die gewunschte Konvergenz un → u in Lp(I,X).

2. Fall: p =∞.Sei (un)n∈N ⊂ L∞(I,X) eine Cauchyfolge, das heißt es gelte

limn,k→∞

ess supt∈I

‖un(t)− uk(t)‖X = 0.

Fur alle i ∈ N existiert daher ein n(i), sodass fur alle n, k ≥ n(i) gilt

ess supt∈I

‖un(t)− uk(t)‖X <1

i.

Nach Definition des essentiellen Supremums gilt also

‖un(t)− uk(t)‖X <1

i

fur alle t ∈ I \ N in,k mit einer von n, k und i abhangigen Nullmengen N i

n,k und fur allen, k ≥ n(i). Mit

N :=⋃i≥1

n,k≥n(i)

N in,k

gilt λ(N) = 0 und

‖un(t)− uk(t)‖X <1

i

fur alle t ∈ I \N und n, k ≥ n(i).Damit ist (un(t))n∈N fur alle t ∈ I \ N eine Cauchyfolge im Banachraum X. Daherexistiert fur alle t ∈ I \N ein Element u(t) ∈ X, fur das gilt

limn→∞

‖un(t)− u(t)‖X = 0.

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2 Bochnerraume

Setzen wir noch u(t) := 0 fur t ∈ N , so haben wir wieder einen moglichen Kandidatenu : I → X fur den Grenzwert der Cauchyfolge (un)n∈N gefunden. Wie im 1. Fall folgt,dass u Bochner-messbar ist und dass

‖u‖L∞(I,X) <∞

aufgrund der Dreiecksungleichung gilt. Da fur t ∈ I \N und n ≥ n(i) die Abschatzung

‖un(t)− u(t)‖X ≤ lim infk→∞

‖un(t)− uk(t)‖X <1

i

gilt, folgt sofort

limn→∞

‖un − u‖L∞(I,X) = 0.

2.3 Dichte Teilmengen und Separabilitat

Satz 2.8 (Dichtheit von Treppenfunktionen)

Fur 1 ≤ p <∞ liegt die Menge der Treppenfunktionen S(I,X) dicht in Lp(I,X).

Beweis. Fur p = 1 haben wir die Behauptung bereits in Satz 1.12 gezeigt. Der Beweisfur 1 < p <∞ verlauft vollig analog.

Korollar 2.9

Sei 1 ≤ p < ∞, I ⊂ R ein offenes, beschranktes Intervall und D ⊂ X eine dichteTeilmenge eines Banachraums X. Dann ist die Menge

M :=

n∑i=1

φi di

∣∣∣n ∈ N, φi ∈ C∞0 (I), di ∈ D fur i = 1, ..., n

⊂ Lp(I,X)

dicht in Lp(I,X).

Beweis. Zunachst zeigen wir: Jede stetige Funktion φ : I → X ist Bochner-messbar.Sei dazu K ⊂ I kompakt. (Es reicht, diesen Fall zu betrachten, denn fur I ⊂ R gibt eskompakte Mengen Kk mit I ⊂

⋃k≥1Kk.) Dann existieren zu jedem n ∈ N abgeschlossene

(und damit insbesondere Lebesgue-messbare) Mengen Kn1 , ...,K

nln

mit diam(Kni ) < 1

n furi = 1, ..., ln und

K ⊂ln⋃i=1

Kni .

30

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2.3 Dichte Teilmengen und Separabilitat

Wahlt man ti ∈ Kni fur i = 1, ..., ln, so konvergieren die Treppenfunktionen

sn(t) :=

ln∑i=1

φ(ti)χKni

gleichmaßig gegen φ und φ ist daher Bochner-messbar. Insbesondere ist somit jede Funk-tion in M Bochner-messbar.Wegen Satz 2.8 reicht es, Funktionen der Form u = xχB mit x ∈ X und Lebesgue-messbarer Menge B ⊂ I durch Funktionen aus M in Lp(I,X) zu approximieren. DurchFaltung finden wir aber eine Folge (φn)n∈N ⊂ C∞0 (I) mit

φn → χB in Lp(I).

Zu x ∈ X existiert eine Folge (dn)n∈N ⊂ D mit

dn → x in X.

Daher gilt

‖xχB − φndn‖Lp(I,X) ≤ ‖x− dn‖X ‖χB‖Lp(I,X) + ‖dn‖X ‖χB − φn‖Lp(I) → 0

fur n→∞.

Das letzte Korollar zeigt insbesondere

Korollar 2.10

Sei 1 ≤ p <∞, I ⊂ R ein offenes, beschranktes Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum.Dann gilt fur 1 ≤ p ≤ ∞

C∞0 (I,X) → Lp(I,X).

Im Fall p <∞ ist die Einbettung dicht.

Korollar 2.11 (Separabilitat von Lp(I,X))

Sei I ⊂ R ein offenes, beschranktes Intervall und (X, ‖·‖X) ein separabler Banachraum.Dann ist Lp(I,X), 1 ≤ p <∞ ebenfalls separabel.

Beweis. Es reicht, eine abzahlbare Menge anzugeben, die dicht in der in Korollar 2.9 defi-nierten Mengen M liegt. Sei dazu D ⊂ X abzahlbar und dicht in X und φ =

∑li=1 φidi ∈

M beliebig. Sei außerdem

Kn := Bn(0) ∩ t ∈ I | dist(t,R \ I) ≥ 1

n.

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2 Bochnerraume

Dann ist Kn kompakt und fur hinreichend großes n gilt

l⋃i=1

supp(φi) ⊂ Kn.

Nach dem Weierstraß’schen Approximationssatz gibt es fur alle φi, i = 1, ..., l, eine Folgevon reellen Polynomen (P ik)k∈N, die auf Kn gleichmaßig gegen φi konvergiert. Außerdemexistiert zu jedem P ik ein reelles Polynom P ik mit rationalen Koeffizienten sodass gilt

maxt∈Kn

|P ik(t)− P ik(t)| ≤1

k.

Die Menge

P = r∑

i=1

P i|Kndi

∣∣∣ r ∈ N, P i Polynom mit rationalen Koeffizienten, di ∈ D fur i = 1, ..., r

ist dann offensichtlich abzahlbar und liegt dicht in M .

2.4 Die Satze von Vitali und Lebesgue

Nachdem die Fragen nach dichten Teilmengen und der Separabilitat nun geklart sind,kommen wir zu zwei weiteren klassischen Satzen der allgemeinen Integrationstheorie.Zum einen formulieren wir den Satz von Vitali, der gleichgradige Integrierbarkeit undstarke Konvergenz miteinander verknupft und insbesondere in der Wahrscheinlichkeits-theorie (Martingalkonvergenz-Satze ...) Anwendung findet. Zum anderen folgern wir ausdem Satz von Vitali den (allgemeinen) Satz von Lebesgue uber majorisierte Konvergenz,der ein nutzliches Kriterium zur Vertauschbarkeit von (Bochner-)Integration und Grenz-wertbildung liefert.Zunachst aber wollen wir klaren, was unter p-gleichgradiger Integrierbarkeit zu verstehenist.

Definition 2.12 (p-gleichgradige Integrierbarkeit)

Sei 1 ≤ p < ∞. Eine Folge (un)n∈N ⊂ Lp(I,X) heißt p-gleichgradig integrierbar,falls gilt:

1. Fur alle ε > 0 existiert eine Lebesgue-messbare Menge K ⊂ I mit λ(K) < ∞, sodass gilt

supn∈N

∫KC

‖un(t)‖pX dt ≤ ε.

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2.4 Die Satze von Vitali und Lebesgue

2. Fur alle ε > 0 existiert ein δ > 0, so dass fur alle Teilmengen A ⊂ I mit λ(A) ≤ δgilt

supn∈N

∫A‖un(t)‖pX dt ≤ ε.

Bemerkung 2.13

Ist Λ eine endliche Indexmenge, so ist die Familie (un)n∈Λ ⊂ Lp(I,X) p-gleichgradigintegrierbar.

Der Satz von Vitali lautet nun

Satz 2.14 (Vitali)

Sei 1 ≤ p <∞ und fur (un)n∈N ⊂ Lp(I,X) gelte fur fast alle t ∈ I

limn→∞

un(t) = u(t)

Dann gilt: Die Folge (un)n∈N konvergiert stark gegen u in Lp(I,X) genau dann, wenndie Familie (un)n∈N p-gleichgradig integrierbar ist.

Beweis. Der Beweis des Satzes verlauft vollig analog zum Beweis im Lebesgue’schen Fall.Wir verweisen daher auf [Els09].

Eine sehr nutzliche Folgerung aus dem Satz von Vitali ist das folgende Kompaktheitsre-sultat.

Korollar 2.15 (Lp-Lq Kompaktheit)

Sei I ⊂ R ein beschranktes Intervall und sei 1 ≤ p < ∞. Fur die beschrankte Folge(un)n∈N ⊂ Lp(I,X) gelte

limn→∞

un(t) = u(t)

fur fast alle t ∈ I. Dann gilt fur alle q < p

limn→∞

un = u in Lq(I,X).

Beweis. Ubung

Die nachste Folgerung aus dem Satz von Vitali ist als (allgemeiner) Konvergenzsatz vonLebesgue bekannt.

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2 Bochnerraume

Satz 2.16 (allgemeiner Satz von Lebesgue)

Seien (X, ‖·‖X) und (Y, ‖·‖Y ) Banachraume und es gelte 1 < q < ∞, 1 ≤ p < ∞. Sei(hn)n∈N ⊂ Lq(I, Y ) eine Folge mit

limn→∞

hn = h in Lq(I, Y ).

Seien u, un : I → X Bochner-messbar fur alle n ∈ N und es gelte fur fast alle t ∈ I

limn→∞

un(t) = u(t).

Außerdem gelte fur alle n ∈ N und fur fast alle t ∈ I

‖un(t)‖pX ≤ ‖hn(t)‖qY .

Dann gilt auch

limn→∞

un = u in Lp(I,X).

Beweis. Wegen Satz 1.12 gilt (un)n∈N ⊂ Lp(I,X). Nach Voraussetzung gilt fur alle A ⊂ Iund fur alle n ∈ N ∫

A‖un(t)‖pX dt ≤

∫A‖hn(t)‖qY dt.

Daraus konnen wir die p-gleichgradige Integrierbarkeit von (un)n∈N ⊂ Lp(I,X) folgern,da (hn)n∈N stark in Lq(I, Y ) gegen h konvergiert. Der Satz von Vitali liefert daher diestarke Konvergenz

limn→∞

un = u in Lp(I,X).

Ohne Beweis wollen wir außerdem folgende Umkehrung des Satzes uber majorisierteKonvergenz zitieren.

Satz 2.17 (Umkehrung Lebesgue)

Sei 1 ≤ p < ∞ und (un)n∈N konvergiere stark gegen u in Lp(I,X). Dann existiert eineTeilfolge (unk)k∈N und ein h ∈ Lp(I) mit

1. limk→∞ unk(t) = u(t) fur fast alle t ∈ I,

2. supk∈N ‖unk(t)‖X ≤ h(t) fur fast alle t ∈ I.

Der Satz von Egorov liefert außerdem die fast gleichmaßige Konvergenz von (unk)k∈Ngegen u.

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2.4 Die Satze von Vitali und Lebesgue

Wir beschließen diesen Abschnitt mit zwei Satzen uber Parameterintegrale.

Satz 2.18 (Stetigkeit unter dem Integral)

Sei Λ ein metrischer Raum und sei V eine offene Umgebung des Punktes λ0 ∈ Λ. DieFunktion u : V × I → X erfulle folgende Caratheodory- und Wachstumsbedingungen:

1. u(·, t) sei stetig in λ0 fur fast alle t ∈ I.

2. u(λ, ·) sei Bochner-messbar fur alle λ ∈ V .

3. Es existiere eine Funktion h ∈ L1(I), sodass ‖u(λ, t)‖X ≤ h(t) fur alle λ ∈ V undfur fast alle t ∈ I gilt.

Dann ist die Funktion u(λ, ·) Bochner-integrierbar fur alle λ ∈ V und die Funktion

U(λ) :=

∫Iu(λ, t) dt

ist stetig in λ0.

Satz 2.19 (Vertauschbarkeit von Integral und Ableitung)

Sei J ⊂ R ein offenes Intervall. Die Funktion u : J × I → X erfulle folgende Eigenschaf-ten:

1. u(·, t) sei differenzierbar auf J fur fast alle t ∈ I.

2. u(s, ·) sei Bochner-messbar fur alle s ∈ J .

3. Es existiere eine Funktion h ∈ L1(I), sodass∥∥∂u∂s (s, t)

∥∥X≤ h(t) fur alle s ∈ J und

fur fast alle t ∈ I gilt.

4. Es existiere ein s0 ∈ J mit u(s0, ·) ∈ L1(I,X).

Dann ist die Funktion u(s, ·) Bochner-integrierbar fur alle s ∈ J und die Funktion

U(s) :=

∫Iu(s, t) dt

ist differenzierbar auf J mit

∂U

∂s(s) =

∫I

∂u

∂s(s, t) dt.

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3 Dualraume und Reflexivitat

3.1 Bemerkungen zur schwachen Kompaktheit

Das Ziel dieses Kapitels sind die Charakterisierung des Dualraums Lp(I,X)∗ sowie derNachweis der Reflexivitat von Bochnerraumen unter geeigneten Annahmen an p und denBanachraum X.Wir wollen zunachst unser Interesse an der Reflexivitat genauer begrunden und dazugrundlegende Ergebnisse aus der Funktionalanalysis wiederholen.In endlichdimensionalen Vektorraumen liefert der Satz von Heine-Borel ein Kriteriumfur die (Folgen-)Kompaktheit einer Menge M : Die Menge M ist (folgen)kompaktgenau dann, wenn sie abgeschlossen und beschrankt ist. Dass man mit dieser Charakte-risierung von Kompaktheit jedoch in unendlichdimensionalen Raumen an Grenzen stoßtzeigt das Lemma von Riesz: Die abgeschlossene Einheitskugel eines Banachraums Xist (folgen)kompakt genau dann, wenn der Raum X endlichdimensional ist. Da kompakteMengen notwendigerweise beschrankt sein mussen, kann man im unendlichdimensionalenFall nur versuchen, die Abgeschlossenheitsanforderung der Mengen abzuschwachen. Dererste Schritt besteht dabei darin, von der durch die Norm induzierten Topologie zu einerschwacheren Topologie uberzugehen. Die schwache Topologie ist (in unendlichdimen-sionalen Raumen strikt) grober als die Norm-Topologie, was die

”Chancen“ auf Kompakt-

heit erhoht. Die Folgerung aus dem Satz von Hahn-Banach zeigt, dass der Dualraum einesBanachraums reichhaltig genug ist und die schwache Topologie daher eine naheliegendeund legitime Alternative zur Norm-Topologie darstellt. Dass der Ubergang zu schwache-ren Topologien zumindest das Problem der Charakterisierung schwach-kompakter Men-gen schlussendlich lost, zeigen dann die

”harten“ Satze der Funktionalanalysis, die wir

im weiteren zitieren werden. Fur die Beweise sei auf [Bre11] verwiesen.Zunachst gilt der fundamentale

Satz 3.1 (Banach-Alaoglu-Bourbaki)

Sei X ein Banachraum. Dann ist die abgeschlossene Einheitskugel im Dularaum X∗,

BX∗ :=f ∈ X∗

∣∣ ‖f‖X∗ ≤ 1,

kompakt bezuglich der ∗-schwachen Topologie ω(X∗, X).

Obwohl dieser Satz formal das Analogon des Satzes von Heine-Borel ist, sei darauf hin-gewiesen, dass die Kompaktheit im Satz von Banach-Alaoglu-Bourbaki im Sinne von

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3 Dualraume und Reflexivitat

Uberdeckungskompaktheit zu verstehen ist, der Satz von Heine-Borel jedoch die furAnwendungen wesentlich nutzlichere Folgenkompaktheit einer Menge klart. In einemmetrischen Raum sind die Begriffe der Folgen- und Uberdeckungskompaktheit aquiva-lent. Der folgende Satz erlaubt uns daher die Folgenkompaktheit der Einheitskugel BX∗

zuruckzugewinnen.

Satz 3.2 (Metrisierbarkeit der ∗-schwachen Topologie)

Sei X ein Banachraum. Dann gilt: Die Einheitskugel BX∗ ist genau dann metrisierbarbezuglich der ∗-schwachen Topologie, wenn der Banachraum X separabel ist.

Die Frage nach der Separabilitat von Bochnerraumen Lp(I,X) haben wir bereits imvorherigen Kapitel beantwortet. Wir wollen daher schon einmal den nachsten Satz fest-halten.

Satz 3.3 (∗-schwache Folgenkompaktheit)

Sei X ein separabler Banachraum und sei 1 ≤ p < ∞. Dann ist die abgeschlosseneEinheitskugel im Dualraum Lp(I,X)∗,

B(Lp(I,X))∗ :=f ∈ (Lp(I,X))∗ | ‖f‖(Lp(I,X))∗ ≤ 1

,

∗-schwach folgenkompakt. Insbesondere gilt: Ist (fn)n∈N ⊂ (Lp(I,X))∗ beschrankt,so existiert f ∈ (Lp(I,X))∗ und eine Teilfolge (fnk)k∈N ⊂ (fn)n∈N, so dass fur k → ∞gilt

fnk∗− f in (Lp(I,X))∗.

Offensichtlich gilt aber auch, dass dieser Satz ziemlich blutleer ist, solange wir keineCharakterisierung der Dualraume (Lp(I,X))∗ haben!Daruberhinaus wollen wir naturlich eine anwendungsfreundliche Charakterisierung kom-pakter Mengen im Raum X selbst, um nicht immer klaren zu mussen, ob ein BanachraumY exisitiert mit X = Y ∗. Um diesem Ziel naher zu kommen, sei an dieser Stelle nocheinmal an den Begriff der Reflexivitat erinnert: Ein Banachraum X heißt reflexiv genaudann, wenn die kanonische Isometrie

JX : X → X∗∗

〈JXx, f〉X∗ := 〈f, x〉X

surjektiv ist. Es gilt dann der fundamentale

Satz 3.4 (Kakutani)

Sei X ein Banachraum. Dann ist X reflexiv genau dann, wenn die abgeschlossene Ein-heitskugel in X,

BX :=x ∈ X | ‖x‖X ≤ 1

,

kompakt bezuglich der schwachen Topologie ω(X,X∗) ist.

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3.2 Charakterisierung der Dualraume

Auch im Satz von Kakutani ist Uberdeckungskompaktheit gemeint, was wiederum nichtder Kompaktheitsbegriff ist, den wir uns fur Anwendungen wunschen. Dieser scheinbareWermutstropfen wird schlussendlich vom Satz von Eberlein-Smuljan beseitigt:

Satz 3.5 (Eberlein-Smuljan)

Ist X ein reflexiver Banachraum, so sind beschrankte Mengen in X schwach fol-genkompakt. Umgekehrt gilt: Enthalt in einem Banachraum X jede beschrankte Folge(xn)n∈N ⊂ X eine schwach konvergente Teilfolge (xnk)k∈N ⊂ (xn)n∈N, so ist X reflexiv.

Dieser Satz liefert die Rechtfertigung dafur, uns mit der Reflexivitat von Bochnerraumenzu befassen.

3.2 Charakterisierung der Dualraume

Ist Ω ⊂ Rn und 1 ≤ p < ∞ so wissen wir, dass wir den Dualraum von Lp(Ω) mitdem Raum Lp

′(Ω) identifizieren konnen, wobei p′ = p

p−1 den zu p dualen Exponentenbezeichnet. Genauer gilt: Die Abbildung

T : Lp′(Ω)→ (Lp(Ω))∗, g 7→ Tg,

〈Tg, f〉Lp(Ω) :=

∫Ωg(x)f(x) dx,

ist ein isometrischer Isomorphismus.Ein analoges Ergebnis wollen wir fur Bochnerraume beweisen. Die erste Idee dabei ist, dasProdukt g(x)f(x) durch die duale Paarung in zwischen X∗ und X zu ersetzen. Außerdemwissen wir bereits aus Folgerung 1.22, dass fur f ∈ Lp

′(I,X∗) und u ∈ Lp(I,X) mit

1 ≤ p <∞, die reelle Funktion

t 7→ 〈f(t), u(t)〉X

Lebesgue-messbar ist. Dank der Holder-Ungleichung gilt sogar

Korollar 3.6

Fur 1 ≤ p <∞ ist die Abbildung

T : Lp′(I,X∗)→ (Lp(I,X))∗, f 7→ Tf , (3.7)

〈Tf , v〉Lp(I,X) :=

∫I〈f(t), v(t)〉X dt

linear und stetig und es gilt

‖Tf‖(Lp(I,X))∗ ≤ ‖f‖Lp′ (I,X∗) .

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3 Dualraume und Reflexivitat

Die Tatsache, dass T eine surjektive Isometrie (und damit auch injektiv) ist, ist technischaufwendig. Ein wichtiger Schritt im Beweis ist die Existenz einer Funktion u ∈ Lp(I,X),so dass fur eine gegebene Funktion f ∈ Lp′(I,X∗) punktweise

〈f(t), u(t)〉X = ‖f(t)‖X∗gilt. Ist X reflexiv, so ist fur festes t ist die Existenz eines Elements u(t) ∈ X mit derobigen Eigenschaft eine Konsequenz des Satzes von Hahn-Banach, siehe dazu Satz 1.15.Auch im reflexiven Fall muss dieses Element allerdings nicht eindeutig sein. Zunachstbefassen wir uns daher mit der Konstruktion einer Bochner-messbaren Auswahlfunktionder a priori mengenwertigen Abbildung

t 7→u(t) ∈ BX

∣∣ 〈f(t), u(t)〉X = ‖f(t)‖X∗. (3.8)

Theorem 3.9 (Existenz einer Bochner-messbaren Auswahlfunktion)

Sei X ein endlichdimensionaler Vektorraum und f : I → X∗ Bochner-messbar. Dannexistiert eine Bochner-messbare Auswahlfunktion u : I → X der mengenwertigenAbbildung (3.8), das heißt, es existiert eine Bochner-messbare Funktion u : I → X, sodass fur alle t ∈ I

‖u(t)‖X = 1 und

〈f(t), u(t)〉X = ‖f(t)‖X∗ .gilt.

Beweis. Fur t ∈ I definieren wir

A(t) :=x ∈ X

∣∣ ‖x‖X = 1 und 〈f(t), x〉X = ‖f(t)‖X∗.

Da endlichdimensionale Raume reflexiv sind, folgt mit Hilfe der Folgerung aus dem Satzvon Hahn-Banach, dass A(t) nichtleer ist.Sei nun n = dimX und u = (u1, ..., un), so dass es reicht, fur die gesuchte Funktionu : I → X Koordinatenfunktionen u1, ..., un anzugeben. Da X endlichdimensional ist, ist

BX :=x ∈ X

∣∣ ‖x‖X = 1

kompakt. Außerdem ist fur jedes t ∈ I die Funktion

x = (x1, ..., xn) 7→ 〈f(t), x〉Xstetig. Wir erhalten daher wohldefinierte Koordinatenfunktionen u1, ..., un durch

u1(t) := minx1

∣∣ ‖x‖X = 1 und 〈f(t), x〉X = ‖f(t)‖X∗,

u2(t) := minx2

∣∣ ‖x‖X = 1 und 〈f(t), x〉X = ‖f(t)‖X∗und x1 = u1(t)

,

...

un(t) := minxn∣∣ ‖x‖X = 1 und 〈f(t), x〉X = ‖f(t)‖X∗

und xi = ui(t) fur alle i < n.

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3.2 Charakterisierung der Dualraume

Fur jedes t ∈ I haben wir nun ein u(t) ∈ X gefunden, so dass gilt:

‖u(t)‖X = 1 und 〈f(t), u(t)〉X = ‖f(t)‖X∗

Es bleibt noch die Bochner-Messbarkeit von u zu zeigen.Dazu seien H : I ×X → Rl und G : I ×X → R Lebesgue-messbar bezuglich t ∈ I undstetig bezuglich x ∈ X. Dann ist die Menge

S :=t ∈ I

∣∣∃x ∈ X mit ‖x‖X = 1, |H(t, x)| = 0, G(t, x) ≤ 0

messbar. Zum Beweis dieser Behauptung sei (xi)i∈N eine abzahlbare, dichte Teilmengeder Einheitssphare ∂BX = x ∈ X | ‖x‖X = 1. (Die Folge (xi)i∈N existiert, da Xendlich-dimensional ist.) Dann gilt

S =⋂j≥1

⋃i≥1

t ∈ I

∣∣∣ |H(t, xi)| <1

jund G(t, xi) <

1

j

,

denn zunachst gilt fur t ∈ S: Es existiert x ∈ X mit ‖x‖X = 1, |H(t, x)| = 0 undG(t, x) ≤ 0. Die Funktionen H(t, ·) und G(t, ·) sind aber stetig, sodass fur alle j ≥ 1 einxi existiert mit |H(t, xi)| < 1

j und G(t, xi) <1j .

Umgekehrt gilt fur t ∈ I, so dass fur alle j ≥ 1 ein ij ≥ 1 mit |H(t, xij )| < 1j und

G(t, xij ) <1j existiert bereits t ∈ S, denn: Fur alle ij ist xij ∈ ∂BX und da die Sphare

∂BX kompakt ist, finden wir eine konvergente Teilfoge (xik)k∈N mit xik → x ∈ ∂Bx furk →∞ und

|H(t, x)| = limk→∞

|H(t, xik)| = 0,

G(t, x) = limk→∞

G(t, xik) ≤ 0.

Damit konnen wir nun die Messbarkeit der Koordinatenfunktionen u1, ...un zeigen. Seidazu fur α ∈ R

H(t, x) := 〈f(t), x〉X − ‖f(t)‖X∗ ,Gi(t, x) := xi − α.

Dann gilt

u−11 ((−∞, α]) =

t ∈ I

∣∣∃x ∈ X mit ‖x‖X = 1, |H(t, x)| = 0, G1(t, x) ≤ 0

und wegen der Zwischenbehauptung ist u1 somit messbar1. Seien u1, ..., uk schon messbarund

H(t, x) := (H(t, x), x1 − u1(t), ..., xk − uk(t)) .1Man beachte, dass die Lebesgue-Messbarkeit der Funktion H aus der Bochner-Messbarkeit der Funk-

tion f folgt.

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3 Dualraume und Reflexivitat

Dann gilt

u−1k+1((−∞, α]) =

t ∈ I

∣∣∃x ∈ X mit ‖x‖X = 1, |H(t, x)| = 0, Gk+1(t, x) ≤ 0

und wegen der Zwischenbehauptung ist dann auch uk+1 messbar. Damit sind alle Ko-ordinatenfunktionen Lebesgue-messbar. Wir definieren nun Funktionale fi ∈ X∗, i =1, ..., n = dimX∗, durch fi(x) := xi, so dass f1, ...fn eine Basis von X∗ ist. Insbeson-dere sind dann die reellwertigen Abbildungen

t 7→ 〈fi, u(t)〉X , i = 1, ...n,

messbar und wegen der Basiseigenschaft der fi ist u somit schwach messbar. Da end-lichdimensionale Banachraume separabel sind, liefert der Satz von Pettis schließlich dieBochner-Messbarkeit von u : I → X.

Wir konnen nun zeigen

Lemma 3.10 (Isometrischer Isomorphismus im Fall dimX <∞)

Sei X ein endlichdimensionaler Vektorraum und sei 1 ≤ p <∞. Dann ist die Abbildung

T : Lp′(I,X∗)→ (Lp(I,X))∗, f 7→ Tf , (3.11)

〈Tf , v〉Lp(I,X) :=

∫I〈f(t), v(t)〉X dt

ein isometrischer Isomorphismus.

Beweis. Wir zeigen zunachst die Isometrie von T . Sei dazu f ∈ Lp′(I,X∗) und u : I → XBochner-messbar mit

‖u(t)‖X = 1 und 〈f(t), u(t)〉X = ‖f(t)‖X∗

fur alle t ∈ I. Die Existenz dieser Funktion u haben wir gerade in Theorem 3.9 ge-zeigt. Aus der Definition der Abbildung T und der Holder-Ungleichung folgt leicht dieAbschatzung

‖Tf‖(Lp(I,X))∗ ≤ ‖f‖Lp′ (I,X∗) .

Fur die umgekehrte Abschatzung betrachten wir zunachst den Fall p = 1 und p′ = ∞.Nach Definition der L∞-Norm existiert fur alle ε > 0 eine Menge A ⊂ I mit positivemMaß und

‖f(t)‖X∗ ≥ ‖f‖L∞(I,X∗) − ε

fur alle t ∈ A. Sei u := uχA. Dann gilt u ∈ L1(I,X) mit ‖u‖L1(I,X) = λ(A) und

〈Tf , u〉L1(I,X) =

∫A〈f(t), u(t)〉X dt =

∫A‖f(t)‖X∗ dt ≥ λ(A)

(‖f‖L∞(I,X∗) − ε

).

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3.2 Charakterisierung der Dualraume

Daher gilt fur alle ε > 0

λ(A)(‖f‖L∞(I,X∗) − ε

)≤ 〈Tf , u〉L1(I,X)

≤ ‖Tf‖(L1(I,X))∗ ‖u‖L1(I,X) = ‖Tf‖(L1(I,X))∗ λ(A).

Da ε > 0 beliebig war folgt

‖f‖L∞(I,X∗) ≤ ‖Tf‖(L1(I,X))∗ .

Nun betrachten wir den Fall 1 < p <∞ und p′ <∞. Wir definieren dazu

u(t) := ‖f(t)‖p′−1X∗ u(t).

Man rechnet leicht nach, dass dann gilt:

1. u : I → X ist Bochner-messbar,

2. ‖u(t)‖pX = ‖f(t)‖p′

X∗ ,

3. u ∈ Lp(I,X),

4. ‖u‖Lp(I,X) = ‖f‖p′/p

Lp′ (I,X∗),

5. 〈Tf , u〉Lp(I,X) = ‖f‖p′

Lp′ (I,X∗)und

6. ‖f‖Lp′ (I,X∗) ≤ ‖Tf‖(Lp(I,X))∗ .

Insbesondere ist T somit auch im Fall p < ∞ eine Isometrie. Da die Isometrie dieInjektivitat von T impliziert, bleibt nur noch die Surjektivitat von T zu zeigen. Sei dazu(x1, ..., xn) eine Basis von X, F ∈ (Lp(I,X))∗ und u = u1x1 + ... + unxn ∈ Lp(I,X).Definiere Hi ∈ (Lp(I))∗ durch

Hi(v) := F (vxi)

fur v ∈ Lp(I) und i = 1, ..., n. Dann gilt

F (u) =

n∑i=1

F (uixi) =

n∑i=1

Hi(ui).

Nun existiert aber fur jedes Hi ∈ (Lp(I))∗ ein fi ∈ Lp′(I) mit

Hi(v) =

∫Ifi(t)v(t) dt

43

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3 Dualraume und Reflexivitat

fur alle v ∈ Lp(I). Daher gilt

F (u) =n∑i=1

F (uixi) =n∑i=1

Hi(ui) =n∑i=1

∫Ifi(t)ui(t) dt.

Definieren wir nun f : I → X∗ durch

〈f(t), x〉X :=

n∑i=1

fi(t)ai

fur x =∑

i aixi ∈ X, so gilt f ∈ Lp′(I,X∗) und Tf = F .

Wie wir gesehen haben, beruht der Beweis von Lemma 3.10 wesentlich auf Theorem 3.9,das heißt, auf der Tatsache, dass X ein endlichdimensionaler Banachraum ist. Nun istSeparabilitat eine Eigenschaft, die in vielerlei Hinsicht der Endlichdimensionalitat amnachsten kommt: Ist X ein separabler Banachraum mit abzahlbarer, dichter TeilmengeD = xn |n ∈ N, so gilt mit Xn := spanx1, ..., xn

X =⋃n∈N

Xn, dimXn <∞ und Xn ⊂ Xn+1,

das heißt, man kann X quasi durch endlichdimensionale Raume Xn ausschopfen.Daruber hinaus gilt: Ist X ein Banachraum mit separablem Dualraum X∗, so ist X selbstseparabel. Die Gultigkeit des nachsten Theorems sollte daher intuitiv klar sein und wirverzichten an dieser Stelle auf den Beweis.

Theorem 3.12 (Isometrischer Isomorphismus bei Separabilitat)

Sei X ein Banachraum mit separablem Dualraum X∗ und sei 1 ≤ p < ∞. Dann ist dieAbbildung T in (3.11) ein isometrischer Isomorphismus.

Beweis. Ubungsaufgabe

Aufgrund der Aquivalenz

X reflexiv und separabel ⇐⇒ X∗ reflexiv und separabel

gilt

Theorem 3.13 (Isometrischer Isomorphismus)

Sei X ein Banachraum, so dass entweder X oder X∗ reflexiv und separabel ist. Dannist die Abbildung T in (3.11) ein isometrischer Isomorphismus. (Man kann sogar zeigen,dass die Aussage des Theorems schon dann gilt, wenn X reflexiv oder separabel ist.)

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3.3 Reflexivitat

3.3 Reflexivitat

Mit Hilfe von Theorem 3.12 konnen wir nun die anfangs gestellte Frage nach der Refle-xivitat von Bochnerraumen beantworten.

Theorem 3.14 (Reflexivitat von Lp(I,X))

Sei X ein reflexiver, separabler Banachraum. Dann sind die Bochnerraume Lp(I,X),1 < p <∞, reflexiv.

Beweis. Blatt 7, Aufgabe 1Zu zeigen ist, dass die kanonische Isometrie

J : Lp(I,X)→ (Lp(I,X))∗∗

〈Ju, f〉(Lp(I,X))∗ := 〈f, u〉Lp(I,X)

surjektiv ist. Da X reflexiv ist, ist die kanonische Isometrie

j : X → X∗∗

surjektiv und lasst sich zu einer surjektiven Isometrie

j : Lp(I,X)→ Lp(I,X∗∗)

(ju)(t) := j(u(t))

fortsetzen. Diese letzte Behauptung (insbesondere die Bochner-Messbarkeit der Funktio-nen j(u)) folgt aus der Identitat

‖u(t)‖X = ‖j(u(t))‖X∗∗ = ‖(ju)(t)‖X∗∗ .

Nach Theorem 3.12 wissen wir, dass

T : Lp′(I,X∗)→ (Lp(I,X))∗

ein isometrischer Isomorphismus ist. Damit sind aber auch

T−1 : (Lp(I,X))∗ → Lp′(I,X∗)

und der zu T−1 adjungierte Operator

(T−1)∗ : (Lp′(I,X∗))∗ → Lp(I,X)∗∗

isometrische Isomorphismen. Analog zu Theorem 3.12 kann man zeigen, dass auch

T ′ : L(p′)′(I, (X∗)∗)→ (Lp′(I,X∗))∗

ein isometrischer Isomorphismus ist mit L(p′)′(I,X∗∗) ∼= Lp(I,X).Nun haben wir alle Hilfsmittel beisammen um zu zeigen, dass das Diagramm

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3 Dualraume und Reflexivitat

Lp(I,X) (Lp(I,X))∗∗

Lp(I,X∗∗) (Lp′(I,X∗))∗

J

j

T ′

(T−1)∗

kommutiert. Sei dazu F ∈ (Lp(I,X))∗ und u ∈ Lp(I,X). Da T surjektiv ist, existiertf ∈ Lp′(I,X∗) mit F = Tf und es gilt

〈Ju, F 〉(Lp(I,X))∗ = 〈F, u〉Lp(I,X) = 〈Tf , u〉Lp(I,X) =

∫I〈f(t), u(t)〉X dt

=

∫I〈(ju)(t), f(t)〉X∗ dt

= 〈T ′(ju), T−1F 〉Lp′ (I,X∗)=⟨(

(T−1)∗ T ′ j)u, F

⟩(Lp(I,X))∗

.

Damit ist J = (T−1)∗T ′j als Verkettung von Isomorphismen selbst ein Isomorphismus.

Als Abschluss dieses Kapitels wollen wir noch kurz auf einen alternativen und uberra-schend geometrischen Zugang zur Reflexivitat eingehen.Ein Banachraum heißt gleichmaßig konvex, falls fur alle ε > 0 ein δ > 0 existiert,sodass fur alle x, y ∈ BX folgende Implikation gilt:

‖x− y‖X > ε ⇒∥∥∥∥x+ y

2

∥∥∥∥X

< 1− δ.

Nun gilt das folgende

Theorem 3.15 (Milman-Pettis: X gleichmaßig konvex ⇒ X reflexiv)

Jeder gleichmaßig konvexe Banachraum ist reflexiv.

Beweis. s. [Bre11].

Mit Hilfe der sogenannten Clarkson-Ungleichung (s. [Bre11]) kann man auf die gleichma-ßige Konvexitat der Lebesgueraume Lp(Ω) fur 1 < p <∞ schließen.Der folgende Satz liefert nun einen alternativen Beweis fur die Reflexivitat der Bochner-raume.

Theorem 3.16 (Gleichmaßige Konvexitat)

Sei (X, ‖·‖X) ein gleichmaßig konvexer Banachraum. Dann sind die Bochnerraume Lp(I,X),1 < p <∞, gleichmaßig konvex.

Beweis. s. [GGZ74], S. 136/137

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4 Vektorwertige Distributionen undverallgemeinerte Zeitableitung

In der Einfuhrung haben wir (formal) begrundet, warum die Bochnerraume geeigneteFunktionenraume zur Behandlung parabolischer Differentialgleichungen, wie z. B. derWarmeleitungsgleichung

∂tu−∆u = 0 in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω,

darstellen. Schaut man sich die Begrundung noch einmal an, so erkennt man, dass derelliptische Teil der Gleichung −∆u die Wahl des Raums X = W 1,2

0 (Ω) bzw. des Bochner-

raums L2(I,W 1,20 (Ω)) induziert. Mit der Identitat ∂tuu = 1

2∂t|u|2 lieferte der Term ∂tuu

nach Integration schließlich den Raum L∞(I, L2(Ω)).Wir haben aber noch nicht geklart, in welchem Sinne die Zeitableitung zu verstehen ist.Dies wollen wir nun tun. Es bieten sich dazu zunachst zwei Sichtweisen an:

• Betrachten wir u als Funktion u : I×Ω→ R, so konnen wir ∂tu einfach als partielleAbleitung nach der Zeitvariablen auffassen.

• Identifizieren wir u allerdings mit der Banachraum-wertigen Funktion u : I → X,t 7→ [u(t)], so sollten wir ∂tu ebenfalls mit der Ableitung dieser Funktion identifi-zieren.

Wir werden im Folgenden die zweiten Sichtweise bevorzugen und u : I × Ω → R mitder vektorwertigen Funktion u : I → X identifizieren. Daher mussen wir uns zunachstmit dem Begriff der Ableitung vektorwertiger Funktionen vertraut machen. Es zeigt sichdann, dass man diesen Ableitungsbegriff ausgehend vom Begriff der vektorwertigen Dis-tributionen noch weiter verallgemeinern kann. Was zunachst technisch klingt, ist beinaherem Hinsehen der gleiche Zugang, der zur Definition der

”schwachen“ Ableitung

und schließlich zur Konstruktion der klassischen Sobolevraume genutzt wird.Die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen und der daraus resultieren-de Begriff der verallgemeinerten Zeitableitung liefert uns dann verallgemeinerte Sobole-vraume. Wie im Falle elliptischer Gleichungen bilden (verallgemeinerte) Sobolevraumedie Grundlage fur die schwache Formulierung zeitabhangiger Probleme und liefern denfunktionalanalytischen Rahmen fur die entsprechende Existenztheorie.

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

4.1 Differenzierbarkeit und vektorwertige Distributionen

Definition 4.1 (starke und schwache Ableitung X-wertiger Funktionen)

Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum. Eine Funktion u : I → Xheißt

1. (stark) differenzierbar in t ∈ I, falls ein Element x ∈ X existiert mit

limh→0t+h∈I

u(t+ h)− u(t)

h= x in X,

2. schwach differenzierbar in t ∈ I, falls ein Element x ∈ X existiert, so dass

limh→0t+h∈I

⟨f,u(t+ h)− u(t)

h

⟩X

= 〈f, x〉X

fur alle f ∈ X∗ gilt. Wir definieren dann ut(t) := x und nennen ut(t) star-ke/schwache Ableitung von u in t.

Die Funktion u heißt strak/schwach differenzierbar auf I, falls u in jedem t ∈ Istark/schwach differenzierbar ist. Die Funktion ut : I → X heißt dann starke/schwacheAbleitung von u. Die Menge der stark differenzierbaren Funktionen u : I → X, derenAbleitung stetig auf I ist, bezeichnen wir mit C1(I , X).

Bemerkung 4.2

1. Man sollte sich klar machen, dass eine differenzierbare Funktion u : I → X stetsschwach differenzierbar ist und die schwache Ableitung dann mit der starken Ab-leitung ubereinstimmt.

2. Da sich in endlichdimensionalen Banachraumen starke und schwache Topologieentsprechen, ist eine Funktion mit Werten in einem endlichdimensionalen Banach-raum genau dann differenzierbar, wenn sie schwach differenzierbar ist.

3. Hohere Differenzierbarkeit definiert man induktiv: Eine Funktion u : I → X istzweimal stark/schwach differenzierbar, falls ut : I → X stark/schwach differen-zierbar ist.

Wie im reellen Fall gilt auch fur vektorwertige differenzierbare Funktionen eine entspre-chende Version des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung. Da der Beweiswie im reellen Fall funktioniert zitieren wir

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4.1 Differenzierbarkeit und vektorwertige Distributionen

Theorem 4.3 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung)

Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und (X, ‖ · ‖X) ein Banachraum. Sei u ∈ C1(I , X) undt1, t2 ∈ I mit t1 < t2 beliebig. Dann gilt

u(t2)− u(t1) =

∫ t2

t1

u(t) dt.

Sei nun I ⊂ R ein offenes Intervall. Um die Ableitung im Sinne vektorwertiger Distribu-tionen zu definieren, statten wir den Raum C∞0 (I), der auf I unendlich oft differenzier-baren, reellen Funktionen mit kompakt in I enthaltenem Trager, mit einer geeignetenTopologie aus.

Lemma 4.4 (D(I))

Sei I ⊂ R ein offenes Intervall. Fur jede kompakte Teilmenge K ⊂⊂ I und fur jedesk ∈ N definieren wir auf C∞0 (I) eine Halbnorm durch

νk,K(ϕ) := max0≤l≤kt∈K

|ϕ(l)(t)|,

wobei ϕ(l) die l-te Ableitung von ϕ bezeichnet.Die Bezeichnung D(I) steht fur den lokalkonvexen Raum, den man durch Topologisierungdes Raumes C∞0 (I) mittels der Familie

(νk,K) k∈NK⊂⊂I

von Halbnormen erhalt. Wir nennen D(I) den Raum der Testfunktionen auf I. Mankann zeigen, dass diese Topologie zu dem folgenden Konvergenzbegriff in D(I) fuhrt: EineFolge (ϕn)n∈N ⊂ D(I) konvergiert gegen ϕ ∈ D(I), falls

1. eine kompakte Menge K ⊂⊂ I und ein n0 ∈ N existieren mit supp(ϕn) ⊂ K furalle n ≥ n0 und

2. limn→∞maxt∈K |ϕ(l)n (t)− ϕ(l)(t)| = 0 fur alle l ∈ N gilt.

Definition 4.5 (vektorwertige Distribution)

Sei I ⊂ R ein offenes Intervall, D(I) der in Lemma 4.4 definierte Raum der Testfunk-tionen und (X, ‖·‖X) ein Banachraum. Eine lineare, stetige Abbildung

T : D(I)→ X

heißt vektorwertige Distribution auf I. Den Raum der X-wertigen Distributionen aufI bezeichnen wir mit D′(I,X).

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

Bemerkung 4.6

Fur eine vektorwertige Distribution T : D(I)→ X gilt per Definition die folgende Impli-kation fur jede Folge (ϕn)n∈N ⊂ D(I):

limn→∞

ϕn = ϕ in D(I)⇒ limn→∞

T (ϕn) = T (ϕ) in X.

Bemerkung 4.7

Man kann zeigen, dass genau dann T ∈ D′(I,X) gilt, wenn fur alle kompakten Teil-mengen K ⊂⊂ I ein k ∈ N und ein CK ≥ 0 existieren, sodass fur alle ϕ ∈ D(I) mitsupp(ϕ) ⊂ K gilt

‖T (ϕ)‖X ≤ CKνk,K(ϕ).

Bemerkung 4.8

Die gangige Literatur benutzt die Schreibweise

T (ϕ) =: 〈T, ϕ〉D′(I,X),D(I).

Falls die Notation aus dem Zusammenhang klar ist, verwenden wir auch

T (ϕ) = 〈T, ϕ〉D′X = 〈T, ϕ〉.

Definition 4.9 (Konvergenz in D′(I,X))

Eine Folge (Tn)n∈N ⊂ D′(I,X) konvergiert gegen T ∈ D′(I,X) im Sinne von Distri-butionen, falls fur alle ϕ ∈ D(I) gilt:

limn→∞

〈Tn, ϕ〉 = 〈T, ϕ〉 in X.

Beispiel 4.10

1. Fur festes t ∈ I definiert

δt : D(I)→ R, 〈δt, ϕ〉 := ϕ(t)

eine R-wertige Distribution.

2. Sei u ∈ L1loc(I) eine gegebene Funktion. Dann definiert

Tu : D(I)→ R, 〈Tu, ϕ〉 :=

∫Iu(t)ϕ(t) dt

eine R-wertige Distribution.

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4.2 Distributionelle Zeitableitung

4.2 Distributionelle Zeitableitung

Definition 4.11 (Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen)

Die lineare Abbildung

d

dt: D′(I,X)→ D′(I,X),⟨dT

dt, ϕ

⟩:= −〈T, ∂tϕ〉 , ϕ ∈ D(I),

heißt Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen1. Hohere Ableitungenwerden induktiv definiert.

Bemerkung 4.12

Man mache sich klar, dass die Abbildung ddt : D′(I,X)→ D′(I,X) wohldefiniert ist.

Liegt eine Folge von differenzierbaren Funktionen vor, so stellt sich die Frage nach derVertauschbarkeit von Grenzwert und Ableitung. Das folgende Korollar beantwortet dieseFrage fur den Fall von Distributionen.

Korollar 4.13 (Stetigkeit von ddt)

Die Folge (Tn)n∈N ⊂ D′(I,X) konvergiere gegen T ∈ D′(I,X) im Sinne von Distribu-tionen. Dann konvergiert auch (dTndt )n∈N ⊂ D′(I,X) gegen dT

dt ∈ D′(I,X) im Sinne von

Distributionen.

Beweis. Sei ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt⟨dTndt

, ϕ

⟩= −〈Tn, ∂tϕ〉 → −〈T, ∂tϕ〉 =

⟨dT

dt, ϕ

⟩,

wegen ∂tϕ ∈ D(I).

Die folgende Proposition zeigt, dass das Verschwinden der distributionellen Ableitung(wie im klassischen Fall) die Konstanz der betrachteten Distribution zur Folge hat.

Proposition 4.14 (dTdt = 0⇒ T = const)

Fur T ∈ D′(I,X) gelte dTdt = 0. Dann existiert ein Element x ∈ X, sodass fur alle

ϕ ∈ D(I) gilt

〈T, ϕ〉 =

(∫Iϕ(t) dt

)x.

1Fur ϕ : I → R benutzen wir die Schreibweise ∂tϕ := ϕ′ aus Ermangelung an Alternativen ;-)

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

Beweis. Sei ϕ ∈ D(I) mit∫Iϕ(t) dt = 0 beliebig. Fur I = (a, b) definieren wir

ψ(t) :=

∫ t

aϕ(s) ds.

Dann gilt ψ ∈ D(I) und ∂tψ = ϕ. Wegen dTdt = 0, gilt 〈T, ∂tψ〉 = 0. Also folgt fur alle

ϕ ∈ D(I) mit∫Iϕ(t) dt = 0 sofort 〈T, ϕ〉 = 0.

Sei nun η ∈ D(I) mit∫Iη(t) dt = 1 beliebig und sei x := 〈T, η〉 ∈ X. Fur beliebiges

ϕ ∈ D(I) definieren wir

ϕ := ϕ−(∫

Iϕ(t) dt

)η.

Dann gilt∫I ϕ(t) dt = 0 und daher 〈T, ϕ〉 = 0. Aus der Linearitat von T folgt dann

〈T, ϕ〉 =

⟨T,

(∫Iϕ(t) dt

⟩=

(∫Iϕ(t) dt

)〈T, η〉 =

(∫Iϕ(t) dt

)x.

Bis zu diesem Punkt erscheinen die bisherigen Ergebnisse eher abstrakt, haben wir dochbisher erst zwei Beispiele von Distributionen kennengelernt. Die von integrierbaren Funk-tionen erzeugten Distributionen (vgl. Beispiel 4.10. 2.) sind im Hinblick auf partielle Dif-ferentialgleichungen wohl die wichtigsten Beispiele. Wir werden daher diese Klasse, diewir im Folgenden regulare (vektorwertige) Distributionen nennen, naher beleuchten.

Definition 4.15 (regulare Distribution)

Wir nennen T ∈ D′(I,X) regulare Distribution, falls ein f ∈ L1loc(I,X) existiert, so

dass T = Tf in D′(I,X), das heisst

〈T, ϕ〉 = 〈Tf , ϕ〉 =

∫If(t)ϕ(t) dt

fur alle ϕ ∈ D(I), gilt.

Lemma 4.16

Die Abbildung

T : L1loc(I,X)→ D′(I,X), f 7→ Tf ,

〈Tf , ϕ〉 :=

∫If(t)ϕ(t) dt,

ist linear, injektiv und stetig. Wir schreiben daher

L1loc(I,X) → D′(I,X).

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4.2 Distributionelle Zeitableitung

Beweis. Die Linearitat von T ist klar. Mit K := suppϕ folgt die Stetigkeit von T ausder Abschatzung

|〈Tf , ϕ〉| =∣∣∣∣∫If(t)ϕ(t) dt

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∫

supp(ϕ)f(t)ϕ(t) dt

∣∣∣∣∣ ≤ ‖f‖L1(K,X) ν0,K(ϕ).

Die Injektivitat von T folgt aus dem Fundamentallemma der Variationsrechnung:Zu zeigen ist, dass aus ∫

If(t)ϕ(t) dt = 0

fur alle ϕ ∈ D(I), schon f = 0 fast uberall in I folgt. Da I als offenes Intervall eineabzahlbare Vereinigung kompakter Mengen ist, reicht es zu zeigen, dass fur alle kompak-ten Teilmengen K ⊂⊂ I gilt: f = 0 fast uberall in K.Mit δ := 1

2dist(K,R \ I), a := inf K − δ und b := supK + δ gilt K ⊂ [a + δ, b − δ].Definieren wir außerdem

f(t) :=

f(t), t ∈ [a, b],

0, t /∈ [a, b],

so gilt f ∈ L1(R, X).Sei ω ∈ C∞0 (−1, 1) mit

∫Rω(t) dt = 1 ein Glattungskern. Dann gilt fur

ωk(t) := k ω(kt)

ωk ∈ C∞0 (− 1k ,

1k ) und

∫Rωk(t) dt = 1. Außerdem gilt fk := f ∗ ωk → f in L1(R, X).

Fur k > 1δ und festes s ∈ K ist die Funktion t 7→ ωk(s − t) glatt und ihr Trager ist

Teilmenge von

s+ [−1

k,

1

k] ⊂ K + [−δ, δ] ⊂ [a, b] ⊂⊂ I

ist. Nach Annahme gilt also fur k > 1δ

fk(s) =(f ∗ ωk

)(s) =

∫Rf(t)ωk(s− t) dt

=

∫ b

af(t)ωk(s− t) dt =

∫If(t)ωk(s− t) dt = 0

fur alle s ∈ K. das heisst aber fk|K = 0.

Wegen fk → f in L1(R, X) folgt fk|K → f|K = f|K in L1(K,X) und somit f|K = 0.

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

Wir kommen nun zur Zeitableitung regularer Distributionen.Mittels T erzeugt u ∈ L1

loc(I,X) die regulare Distribution Tu ∈ D′(I,X). Auf diese soerhaltene Distribution konnen wir nun naturlich

d

dt: D′(I,X)→ D′(I,X)

anwenden. Die Injektivitat von T erlaubt uns die Identifikation von u und Tu und wirdefinieren fur alle ϕ ∈ D(I)⟨

du

dt, ϕ

⟩:=

⟨dTudt

, ϕ

⟩= −〈Tu, ∂tϕ〉 = −〈u, ∂tϕ〉 .

Falls nun die Distribution dudt im Bild von L1

loc(I,X) unter T liegt, das heisst falls einElement v ∈ L1

loc(I,X) existiert mit

du

dt=dTudt

= Tv,

so erhalten wir fur alle ϕ ∈ D(I) die Identitat

〈v, ϕ〉 = 〈Tv, ϕ〉 =

⟨dTudt

, ϕ

⟩= −〈u, ∂tϕ〉,

die aquivalent ist zur Forderung∫Iv(t)ϕ(t) dt = −

∫Iu(t) ∂tϕ(t) dt.

fur alle ϕ ∈ D(I). Wir identifizieren dann v mit dudt . Diese Voruberlegung rechtfertigt nun

Definition 4.17 (distributionelle Zeitableitung von L1loc-Funktionen)

Eine Funktion u ∈ L1loc(I,X) besitzt eine (regulare) Zeitableitung im Sinne vektorwertiger

Distributionen (mit Werten in X), falls ein Element v ∈ L1loc(I,X) existiert mit

dTudt

= Tv in D′(I,X),

das heisst falls fur alle ϕ ∈ D(I) gilt:

−∫Iu(t) ∂tϕ(t) dt =

∫Iv(t)ϕ(t) dt

Wir schreiben dann v = dudt und nennen v die distributionelle Zeitableitung von u

oder die Zeitableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen von u.

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4.2 Distributionelle Zeitableitung

Bemerkung 4.18 (Eindeutigkeit der Ableitung)

Wegen Lemma 4.16 ist die Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen eindeutigbestimmt.

Lemma 4.19

1. Fur u ∈ C1(I,X) gilt

du

dt=dTudt

= Tut = ut,

das heisst: differenzierbare Funktionen besitzen eine Ableitung im Sinne vektorwer-tiger Distributionen und diese stimmt mit der klassischen Ableitung uberein.

2. Besitzt u ∈ L1loc(I,X) eine distributionelle Zeitableitung du

dt ∈ L1loc(I,X), so gilt fur

alle η ∈ C∞(I) die Produktregel

d(uη)

dt=du

dtη + u∂tη.

Beweis. Blatt 8, Aufgabe 1

1. Wir wissen schon von Ubungsblatt 6, Aufgabe 4, dass fur u der Hauptsatz derDifferential- und Integralrechnung in der Form

u(s) = u(s0) +

∫ s

s0

ut(t) dt

fur alle s, s0 ∈ I gilt, wobei ut hier die starke Ableitung von u bezeichnet. Ist nunη ∈ C1(I), so gilt uη ∈ C1(I,X) und (uη)t = ut η + u ∂tη im klassischen Sinn. DerHauptsatz angewandt auf uη ergibt daher∫ s

s0

u(t) ∂tη(t) dt = (uη)(s)− (uη)(s0)−∫ s

s0

ut(t) η(t) dt.

Fur η = ϕ ∈ D(I) folgt somit∫Iu(t) ∂tϕ(t) dt = −

∫Iut(t)ϕ(t)dt

und daher ⟨du

dt, ϕ

⟩=

⟨dTudt

, ϕ

⟩= −〈u, ∂tϕ〉 = 〈ut, ϕ〉 = 〈(Tu)t , ϕ〉 .

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

2. Seien η ∈ C∞(I) und ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt⟨dTηudt

, ϕ

⟩= −〈ηu, ∂tϕ〉 = −〈Tηu, ∂tϕ〉

= −∫Iηu ∂tϕdt = −

∫Iu∂t(ϕη) dt+

∫Iuϕ∂tη dt

=

⟨du

dt, ϕη

⟩+ 〈u, ϕ∂tη〉

=

∫I

du

dtηϕdt+

∫Iuϕ∂tη dt

=

⟨du

dtη, ϕ

⟩+ 〈u∂tη, ϕ〉 .

Also gilt

dTηudt

=du

dtη + u∂tη.

Besitzt u ∈ L1loc(I,X) eine distributionelle Ableitung im Sinne von Definition 4.17, so

gilt

dTudt

= T dudt

in D′(I,X)

oder aquivalent: Fur alle ϕ ∈ D(I) gilt⟨dTudt

, ϕ

⟩=⟨T dudt, ϕ⟩,

wobei diese Gleichheit als Identitat im Banachraum X zu verstehen ist.Vor allem fur Anwendungen ist es jedoch entscheidend, die allgemeinere Situation zubetrachten, in der dTu

dt eine Distribution mit Werten in einem großeren Raum definiert.Seien X,Y Banachraume, die stetig und injektiv in einen dritten Banachraum Z einge-bettet werden konnen, das heisst, es gelte X,Y → Z. (Ohne Beweis sei darauf ver-wiesen, dass diese Situation vorliegt, falls ein topologischer Vektorraum V existiert,in den sowohl X als auch Y stetig und injektiv eingebettet werden konnen.) Danngilt in naturlicher Weise auch D′(I,X) → D′(I, Z) und D′(I, Y ) → D′(I, Z), wobeidie Einbettungen injektiv sind. Die distributionelle Ableitung von T ∈ D′(I,X) kannvermoge dieser injektiven Einbettung mit einer Z-wertigen Distribution identifiziert wer-den. (Auch diese scheinbar offensichtliche Aussage verwenden wir ohne Beweis.) Wir

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4.3 Gelfand-Tripel und Verallgemeinerte Zeitableitung

konnen daher sagen, T ∈ D′(I,X) hat eine distributionelle Ableitung in D′(I, Y ), fallsein S ∈ D′(I, Y ) → D′(I, Z) existiert, so dass fur alle ϕ ∈ D(I)⟨

dT

dt, ϕ

⟩= 〈S, ϕ〉

gilt, wobei diese Gleichheit als Identitat in Z aufzufassen ist.Die gleichen Identifikationen lassen sich fur den Fall regularer Distributionen rechtferti-gen. Wir sagen, u ∈ L1

loc(I,X) hat eine distributionelle Zeitableitung in L1loc(I, Y ), falls

ein v ∈ L1loc(I, Y ) existiert mit dTu

dt = Tv. Diese Identitat wird in D′(I, Z) aufgefasst undist aquivalent zu

−∫Iu(t) ∂tϕ(t) dt =

∫Iv(t)ϕ(t) dt

fur alle ϕ ∈ D(I). Die letzte Gleichheit ist als Identitat in Z zu verstehen, denn vermogeder Einbettungen X → Z und Y → Z sind die Integrale als Z-wertige Bochnerintegralewohldefiniert.Wir bemerken außerdem noch, dass man im Falle X → Y einfach Z = Y wahlen kannund alle der oben genannten Identifikationen in Y stattfinden.

4.3 Gelfand-Tripel und Verallgemeinerte Zeitableitung

Lasst man zwei unterschiedliche Wertebereiche fur Funktion und distributionelle Ablei-tung zu, gewinnt man einiges an fur Anwendungen notwendiger Flexibilitat. Eine beson-ders reichhaltige und gleichzeitig fur parabolische Probleme charakteristische Strukturvon Einbettungen zwischen Banachraumen sind sogenannten Gelfand- oder Evolu-tionstripel. Wir werden zunachst Gelfand-Tripel definieren und im Anschluss daransehen, dass diese Struktur auf einen Spezialfall der distributionellen Zeitableitung fuhrt.

Definition 4.20 (Gelfand-Tripel)

Seien (V, ‖·‖V ) ein Banachraum und (H, (·, ·)H) ein Hilbertraum. Die EinbettungV → H sei stetig und dicht, das heisst einerseits gelte fur alle v ∈ V die Ungleichung

‖v‖H ≤ C ‖v‖V ,

mit einer von v unabhangigen Konstante C, und zusatzlich gelte

V‖·‖H = H.

Der Riesz’sche Darstellungssatz liefert H ∼= H∗, wobei der (Riesz-)Isomorphismus defi-niert ist durch

R : H → H∗,

〈Rf, u〉H := (f, u)H .

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

Die Einschrankung von Funktionalen definiert eine stetige, lineare und injektive Abbil-dung

E : H ∼=H∗ → V ∗,

f 7→ f|V .

Fur u, v ∈ V → HE→ V ∗ gilt sogar

〈Eu, v〉V = (u, v)H = (v, u)H = 〈Ev, u〉V .

Insgesamt gilt dann

Vdicht→ H

R∼= H∗E→ V ∗. (4.21)

Ein Tripel (V,H, V ∗) zusammen mit den Einbettungen (4.21) heißt Gelfand-Tripel. IstV zusatzlich noch reflexiv, so ist auch die Einbettung H∗ → V ∗ dicht.

Beweis der Behauptungen aus Definition 4.20. Blatt 8, Aufgabe 3Die Linearitat von E ist evident. Die Stetigkeit von E folgt aus der folgenden Abschatzungfur f ∈ H∗:

‖Ef‖V ∗ = sup‖u‖V =1

|〈Ef, u〉V |

= sup‖u‖V =1

|(f, u)H |

≤ sup‖u‖V =1

(‖f‖H ‖u‖H)

≤ C sup‖u‖V =1

(‖f‖H ‖u‖V )

≤ C ‖f‖H ,

wobei wir die Cauchy-Schwarz-Ungleichung in H und die Stetigkeit der Einbettung V →H verwendet haben. Um die Injektivitat von E zu zeigen sei f ∈ H mit Ef = 0 in V ∗,das heisst es gelte

〈Ef, v〉V = 0

fur alle v ∈ V . Nach Definition von E gilt dann (f, v)H = 0 fur alle v ∈ V . Wegen derDichtheit der Einbettung V → H existiert eine Folge (vn)n∈N ⊂ V mit vn → f in H furn→∞. Dann gilt aber

0 = (f, vn)H → (f, f)H = ‖f‖2H

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4.3 Gelfand-Tripel und Verallgemeinerte Zeitableitung

und daher f = 0 in H. Da E linear ist, folgt daraus sofort die Injektivitat von E.Nun bleibt noch die Dichtheit von E(H) in V ∗ zu zeigen. Wegen der Linearitat von Eist E(H) ein linearer Teilraum von V ∗ und daher insbesondere konvex. Wurde

E(H)‖·‖V ∗ ( V ∗,

gelten, so existierte wegen der geometrischen Form des Satzes von Hahn-Banach einF ∈ (V ∗)∗, F 6= 0 mit

〈F,Ef〉V ∗ = 0

fur alle f ∈ H. Da V reflexiv ist, existiert ein v ∈ V mit F = JV v, wobei

JV : V → V ∗∗,

〈JV v, g〉V ∗ := 〈g, v〉V ,

die kanonische Isometrie bezeichnet. Dann gilt aber fur alle f ∈ H

0 = 〈F,Ef〉V ∗ = 〈JV v,Ef〉V ∗ = 〈Ef, v〉V = (f, v)H .

Da die Einbettung V → H dicht ist, existiert eine Folge (fn)n∈N ⊂ V mit fn → v in Hfur n→∞. Dann gilt aber

0 = (fn, v)H → (v, v)H = ‖v‖2H ,

also v = 0 und damit F = JV v = 0. Das ist aber ein Widerspruch zu F 6= 0 und somitmuss E(H) dicht in V ∗ liegen.

Wir kommen nun zum Begriff der verallgemeinerten Zeitableitung.

Definition 4.22 (verallgemeinerte Zeitableitung)

Sei (V,H, V ∗) ein Gelfand-Tripel. Eine Funktion u ∈ Lp(I, V ) mit 1 < p <∞ besitzt eineverallgemeinerte Zeitableitung in (Lp(I, V ))∗ ∼= Lp

′(I, V ∗), falls dtu ∈ Lp

′(I, V ∗)

existiert, sodass ∫I〈dtu(t), v〉V ϕ(t) dt = −

∫I(u(t), v)H∂tϕ(t) dt

fur alle v ∈ V und alle ϕ ∈ D(I) gilt.

Dieser Ableitungsbegriff unterscheidet sich auf den ersten Blick von der distributionellenAbleitung, die wir weiter oben definiert hatten. Tatsachlich ist die Zeitableitung im Sinnevektorwertiger Distributionen das allgemeinere Objekt (auch wenn die Namensgebungin dieser Hinsicht irrefuhrend sein mag). Unter gewissen Annahmen an die zugrundelie-genden Raume stimmen die Begriffe aber uberein, wie das folgende Lemma zeigt:

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4 Vektorwertige Distributionen und verallgemeinerte Zeitableitung

Lemma 4.23 (Kompabilitat der Ableitungsbegriffe)

Sei (V,H, V ∗) ein Gelfand-Tripel und sei 1 < p <∞. Besitzt u ∈ Lp(I, V ) eine verallge-meinerte Zeitableitung dtu im Sinne von Definition 4.22, so besitzt u eine ZeitableitungdTudt ∈ D

′(I, V ∗) im Sinne V ∗-wertiger Distributionen und es gilt

dTudt

= Tdtu.

Besitzt u ∈ Lp(I, V ) eine Zeitableitung im Sinne V ∗-wertiger Distributionen dTudt in

Lp′(I, V ∗), das heisst falls du

dt ∈ Lp′(I, V ∗) mit dTu

dt = T dudt

existiert, so besitzt u eine

verallgemeinerte Zeitableitung dtu im Sinne von Definition 4.22 und es gilt

dtu = T dudt∈ Lp′(I, V ∗).

Beweis. Sei zunachst dtu die verallgemeinerte Zeitableitung von u im Sinne von Defini-tion 4.22. Insbesondere gilt dann fur alle v ∈ V und alle ϕ ∈ D(I) die Identitat∫

I〈dtu(t), v〉V ϕ(t) dt = −

∫I(u(t), v)H∂tϕ(t) dt. (4.24)

Betrachte die konstanten Funktionen

f1 : I → V ∗,

t 7→∫Idtu(t)ϕ(t) dt;

f2 : I → V → V ∗,

t 7→∫Iu(t)∂tϕ(t) dt;

v : I → V,

t 7→ v.

Mit der Darstellung der Dualitat in Bochnerraumen folgt aus (4.24) fur alle v ∈ V

〈f1, v〉 =

∫I〈dtu(t), v〉V ϕ(t) dt

= −∫I(u(t), v)H∂tϕ(t) dt

= −∫I〈u(t), v〉V ∂tϕ(t) dt

= 〈f2, v〉,

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4.3 Gelfand-Tripel und Verallgemeinerte Zeitableitung

wobei wir im dritten Schritt verwendet haben, dass u(t) ∈ V gilt fur fast alle t ∈ Iund dass (V,H, V ∗) ein Gelfand-Tripel ist. Mit dem Satz von Hahn-Banach folgt dannf1 = f2 in V ∗. Insbesondere gilt∫

Idtu(t)ϕ(t) dt = −

∫Iu(t)∂tϕ(t) dt,

woraus dTudt = Tdtu folgt, da ϕ ∈ D(I) beliebig war.

Sei nun umgekehrt dudt ∈ L

p′(I, V ∗) mit dTudt = T du

dt, das heisst fur alle ϕ ∈ D(I) gelte

−∫Iu(t)∂tϕ(t) dt = 〈dTu

dt, ϕ〉 = 〈T du

dt, ϕ〉 =

∫I

du

dt(t)ϕ(t) dt.

Fur alle ϕ ∈ D(I) ergibt sich dann aber

−∫Iu(t)∂tϕ(t) dt ∈ V und∫I

du

dt(t)ϕ(t) dt ∈ V ∗.

Fur beliebiges v ∈ V gilt daher∫I

⟨du

dt(t), v

⟩V

ϕ(t) dt =

∫I

⟨du

dt(t)ϕ(t), v

⟩V

dt

=

⟨∫I

du

dt(t)ϕ(t) dt, v

⟩V

= −⟨∫

Iu(t)∂tϕ(t) dt, v

⟩V

= −∫I〈u(t)∂tϕ(t), v〉V dt

= −∫I〈u(t), v〉V ∂tϕ(t) dt

= −∫I(u(t), v)H∂tϕ(t) dt.

Also gilt dudt = dtu und dtu = dTu

dt = T dudt∈ Lp′(I, V ∗).

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Nachdem wir im vorigen Kapitel einen adaquaten schwachen Zeitableitungsbegriff furBanachraum-wertige Funktionen untersucht haben, definieren wir nun, in Analogie zurKonstruktion von Sobolevraumen im Kontext elliptischer Gleichungen, sogenannte ver-allgemeinerte Sobolevraume.Wir untersuchen die verallgemeinerten Sobolevraume zunachst auf ihre Vollstandigkeit,Separabilitat und Reflexivitat, um dann in einem zweiten Schritt stetige Einbettungenvon verallgemeinerten Sobolevraumen in Raume stetiger Banachraum-wertiger Funk-tionen zu beweisen. Schließlich beweisen wir eine partielle Integrationsformel fur ver-allgemeinerte Sobolev-Funktionen mit Werten in einem Gelfand-Tripel. Dieses Resultatgehort zu den Grundbausteinen der sogenannten Theorie (pseudo-)monotoner Operato-ren zur Losung parabolischer Gleichung.

5.1 Verallgemeinerte Sobolevraume

Definition 5.1 (verallgemeinerter Sobolevraum)

Sei I ⊂ R ein Intervall, (X, ‖·‖X) ein Banachraum und 1 ≤ p ≤ ∞. Dann heißt

W 1,p(I,X) :=

u ∈ Lp(I,X)

∣∣∣ dudt∈ Lp(I,X)

verallgemeinerter Sobolevraum. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, kannes sinnvoll sein, Falle zu betrachten, in denen die Zeitableitung im Sinne vektorwerti-ger Distributionen du

dt ihre Werte in einem großeren Banachraum Y ⊃ X annimmt. Indiesem Fall definieren wir fur 1 ≤ p, q ≤ ∞

W 1,p,q(I,X, Y ) :=

u ∈ Lp(I,X)

∣∣∣ dudt∈ Lq(I, Y )

und nennen auch W 1,p,q(I,X, Y ) verallgemeinerten Sobolevraum.

Aus der Vollstandigkeit von Bochnerraumen und der Stetigkeit von ddt folgt direkt

Theorem 5.2 (Vollstandigkeit)

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Verallgemeinerte Sobolevraume sind Banachraume mit den Normen

‖u‖W 1,p(I,X) := ‖u‖Lp(I,X) +

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lp(I,X)

,

‖u‖W 1,p,q(I,X,Y ) := ‖u‖Lp(I,X) +

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lq(I,Y )

.

Beweis. UA

Proposition 5.3 (Separabilitat, Reflexivitat)

1. Fur 1 ≤ p, q < ∞ und separable Banachraume X und Y sind auch die RaumeW 1,p(I,X) und W 1,p,q(I,X, Y ) separabel.

2. Fur 1 < p, q < ∞ und reflexive Banachraume X und Y sind auch die RaumeW 1,p(I,X) und W 1,p,q(I,X, Y ) reflexiv.

Beweis. Wir betrachten nur die Raume W 1,p(I,X), denn fur die Raume W 1,p,q(I,X, Y )verlauft der Beweis mit offensichtlichen Modifikationen vollig analog.

P : W 1,p(I,X)→ P(W 1,p(I,X)

)⊂ E := Lp(I,X)× Lp(I,X),

u 7→ Pu :=

(u,du

dt

).

Versehen wir den Raum E mit der Norm

‖(u, v)‖E := ‖u‖Lp(I,X) + ‖v‖Lp(I,X) ,

so vermittelt P einen isometrischen Isomorphismus zwischen W 1,p(I,X) und dem ab-geschlossenen Teilraum P

(W 1,p(I,X)

)⊂ E. Die Separabilitat und Reflexivitat der

Bochnerraume ubertragt sich daher sofort auf die verallgemeinerten Sobolevraume, daSeparabilitat stabil unter Isometrien und Reflexivitat stabil unter Isomorphismen ist.

Bemerkung 5.4

Aufgrund ihrer Separabilitat und Reflexivitat erben die verallgemeinerten Sobolevraumedie (schwachen) Kompaktheitseigenschaften der entsprechenden Bochnerraume. DieseTatsache ist von grundlegender Bedeutung fur die Konstruktion von Approximationsver-fahren im Kontext parabolischer Gleichungen und deren Konvergenz.

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5.2 Stetige Einbettungen in Raume Holder-stetiger Funktionen

5.2 Stetige Einbettungen in Raume Holder-stetiger Funktionen

Fur reelle Sobolevfunktionen u ∈ W 1,p(I) gilt aufgrund ihrer Absolutstetigkeit und derHolder-Ungleichung fur 1 ≤ p ≤ ∞ die Einbettung

W 1,p(I) → C0,1− 1

p (I),

wobei C0,1− 1

p (I) den Raum der (1− 1/p)-Holder-stetigen Funktionen bezeichnet. Insbe-sondere kann jede Funktion u ∈W 1,p(I) mit einer stetigen Funktion identifiziert werden.In diesem Sinne ist fur u ∈W 1,p(I) die Auswertung t 7→ u(t) fur alle t ∈ I wohldefiniert.Ein analoges Resultat gilt fur Funktionen in verallgemeinerten Sobolevraumen. Naturlichmuss man dabei die klassischen Holderraume durch Raume Banachraum-wertiger Holder-stetiger Funktionen ersetzen.

Definition 5.5 (Holderraume)

Sei I ⊂ R ein Intervall, (X, ‖·‖X) ein Banachraum und α ∈ (0, 1]. Dann heißt

C0,α(I,X) :=u ∈ C0

b (I,X)∣∣ ∃C > 0 :

∥∥u(t)− u(t′)∥∥X≤ C|t− t′|α, t, t′ ∈ I

mit

‖u‖C0,α(I,X) := ‖u‖C0b (I,X) + sup

t6=t′∈I

‖u(t)− u(t′)‖X|t− t′|α

der Raum der α-Holder-stetigen (X-wertigen) Funktionen.

Der Raum C0b (I,X) in der Definition bezeichnet den Raum der stetigen, beschrankten

Funktionen u : I → X. Mit

‖u‖C0b (I,X) := sup

t∈I‖u(t)‖X

ist C0b (I,X) ein Banachraum. Daraus folgt leicht, dass auch die Raume C0,α(I,X) fur

0 < α ≤ 1 Banachraume sind.Der erste Schritt im Beweis der Einbettung

W 1,p(I,X) → C0,1− 1

p (I,X)

fur 1 < p <∞ besteht in

Lemma 5.6 (Hauptsatz)

Sei u ∈W 1,p(I,X), 1 ≤ p ≤ ∞. Dann ist u stetig und fur alle s, s′ ∈ I gilt

u(s) = u(s′) +

∫ s

s′

du

dt(t) dt.

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Beweis. Wie im entsprechenden Beweis fur den reellen Fall definieren wir eine Funktion

g : I → X,

g(s) :=

∫ s

s′

du

dt(t) dt.

Man beachte, dass g wegen dudt ∈ Lp(I,X) → L1

loc(I,X) wohldefiniert ist. Wir zeigennun, dass die so definierte Funktion g stetig ist. Sei dazu (sn)n∈N ⊂ I eine Folge mitsn → s ∈ I fur n→∞. Wegen

∥∥∥∥χ(s′,sn)du

dt

∥∥∥∥X

= χ(s′,sn)

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥X

≤ χI∥∥∥∥dudt

∥∥∥∥X

∈ L1(I,X)

und

χ(s′,sn)

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥X

→ χ(s′,s)

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥X

fast uberall in I

folgt aus dem Satz uber majorisierte Konvergenz von Lebesgue bereits

g(sn)→ g(s) in X

und damit die Stetigkeit von g. Wegen

‖g‖L1(I,X) ≤ C∥∥∥∥dudt

∥∥∥∥L1(I,X)

definiert g eine regulare X-wertige Distribution Tg ∈ D′(I,X). Im nachsten Schritt zeigenwir nun, dass im Sinne X-wertiger Distributionen die Identitat

dTgdt

=du

dt

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5.2 Stetige Einbettungen in Raume Holder-stetiger Funktionen

gilt. Fur ϕ ∈ D(I) gilt namlich⟨dTgdt

, ϕ

⟩= −〈g, ∂tϕ〉 = −

∫Ig(s)∂tϕ(s) ds

= −∫I

(∫ s

s′

du

dt(t) dt

)∂tϕ(s) ds

= −∫I

∫Iχ(s′,sup I)(s)χ(s′,s)(t)

du

dt(t)∂tϕ(s) dtds

−∫I

∫Iχ(inf I,s′)(s)

(−χ(s,s′)(t)

) dudt

(t)∂tϕ(s) dtds

∗= −

∫I

∫Iχ(s′,sup I)(t)χ(t,sup I)(s)

du

dt(t)∂tϕ(s) dsdt

+

∫I

∫Iχ(inf I,s′)(t)χ(inf I,t)(s)

du

dt(t)∂tϕ(s) dsdt

= −∫ sup I

s′

du

dt(t)

(∫ sup I

t∂tϕ(s) ds

)dt

+

∫ s′

inf I

du

dt(t)

(∫ t

inf I∂tϕ(s) ds

)dt

∗∗=

∫ sup I

s′

du

dt(t)ϕ(t) dt+

∫ s′

inf I

du

dt(t)ϕ(t) dt

=

⟨du

dt, ϕ

⟩.

Bei ∗ haben wir die Identitaten

χ(s′,sup I)(s)χ(s′,s)(t) = χ(s′,sup I)(t)χ(t,sup I)(s),

χ(inf I,s′)(s)χ(s,s′)(t) = χ(inf I,s′)(t)χ(inf I,t)(s).

und in ∗∗ haben wir den Hauptsatz und die Tatsache, dass ϕ einen kompakten Tragerin I hat, ausgenutzt. Also gilt

dTgdt = du

dt und wegen der Linearitat der distributionellen

Zeitableitung ddt daher

d

dt(Tg − Tu) =

d

dt(g − u) = 0.

Wegen Proposition 4.14 existiert ein x ∈ X mit u = x + g. Da g stetig ist, ist u fastuberall gleich einer stetigen Funktion. Mithin folgt wegen u(s′) = x+g(s′) = x schließlich

u(s) = x+ g(s) = u(s′) +

∫ s

s′

du

dt(t) dt.

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Wir konnen nun den oben angekundigten Einbettungssatz beweisen.

Theorem 5.7 (Einbettung in Holder-stetige Funktionen)

Sei I ⊂ R ein beschranktes Intervall und (X, ‖·‖X) ein Banachraum und. Dann gilt

W 1,p(I,X) → C0,1− 1

p (I , X), 1 ≤ p ≤ ∞.

Bemerkung 5.8

Sinngemaß gilt der Satz auch fur unbeschrankte Intervalle.Der Satz besagt, dass jede Funktion im verallgemeinerten Sobolevraum W 1,p(I,X) fastuberall gleich einer Holderstetigen Funktion ist und daher mit dieser Funktion identifiziertwerden kann.

Beweis. Sei u ∈W 1,p(I,X). Wegen∥∥dudt (·)

∥∥X∈ Lp(I) ⊂ L1(I) definiert

ν(A) :=

∫A

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt

nach dem Satz von Radon-Nikodym ein zum Lebesgue-Maß absolut-stetiges Maß. Insbe-sondere existiert fur jedes ε > 0 ein δ > 0, sodass fur eine Menge A mit λ(A) ≤ δ bereitsν(A) ≤ ε gilt. Dann gilt aber fur |s1 − s2| ≤ δ wegen

u(s) = u(s′) +

∫ s

s′

du

dt(t) dt

die Abschatzung

‖u(s1)− u(s2)‖X ≤∫ s2

s1

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt ≤ ε,

das heisst u ist stetig. Weiter gilt fur alle s ∈ I

‖u(s)‖X ≤∥∥u(s′)

∥∥X

+

∫ s

s′

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt ≤∥∥u(s′)

∥∥X

+

∫I

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt

und somit

‖u‖C0(I,X) = sups∈I‖u(s)‖X ≤

∥∥u(s′)∥∥X

+

∫I

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt.

Integration uber s′ liefert zusammen mit der Holder-Ungleichung die Abschatzung

‖u‖C0(I,X) =1

|I|

∫I‖u‖C0(I,X) ds′

≤ 1

|I|

(∫I

∥∥u(s′)∥∥X

ds′ +

∫I

(∫I

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt

)ds′)

≤ 1

|I|

(|I|1−

1p ‖u‖Lp(I,X) + |I|2−

1p

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lp(I,X)

)≤ C ‖u‖W 1,p(I,X) (5.9)

68

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5.2 Stetige Einbettungen in Raume Holder-stetiger Funktionen

Die Konstante C hangt dabei nur von p und I, nicht aber von u ab.Jetzt unterscheiden wir die Falle p = 1, 1 < p <∞ und p =∞.Fur den Fall p = 1 gilt

C0,1− 1

p (I,X) = C0,0(I,X) := C0(I,X)

und somit ist mit (5.9)

‖u‖C0(I,X) ≤ C ‖u‖W 1,1(I,X) ,

das heisst insbesondere gilt

W 1,1(I,X) → C0(I,X).

Im Fall 1 < p <∞ erhalten wir wieder mit der Holder-Ungleichung

‖u(s1)− u(s2)‖X ≤∫ s2

s1

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt ≤∥∥χ(s1,s2)

∥∥Lp′ (I)

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lp(I,X)

= |s1 − s2|1−1p

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lp(I,X)

.

Da dabei s1, s2 ∈ I beliebig sind, folgt

sups1 6=s2∈I

‖u(s1)− u(s2)‖X|s1 − s2|1−

1p

≤∥∥∥∥dudt

∥∥∥∥Lp(I,X)

≤ ‖u‖W 1,p(I,X) . (5.10)

Zusammen liefern (5.9) und (5.10)

‖u‖C

0,1− 1p (I,X)

= ‖u‖C0(I,X) + sups1 6=s2∈I

‖u(s1)− u(s2)‖X|s1 − s2|1−

1p

≤ C ‖u‖W 1,p(I,X) ,

das heisst insbesondere, dass auch fur den Fall 1 < p <∞ die stetige Einbettung

W 1,p(I,X) → C0,1− 1

p (I , X).

gilt. Als Letztes betrachten wir noch den Fall p =∞. Mit der Holder-Ungleichung erhal-ten wir fur beliebige s1, s2 ∈ I

‖u(s1)− u(s2)‖X ≤∫ s2

s1

∥∥∥∥dudt (t)

∥∥∥∥X

dt ≤ |s1 − s2|∥∥∥∥dudt

∥∥∥∥L∞(I,X)

(5.11)

≤ |s1 − s2| ‖u‖W 1,∞(I,X) ,

das heisst u ist Lipschitz-stetig. Zusammen ergeben (5.9) und (5.11)

‖u‖C0,1(I,X) = ‖u‖C0(I,X) + sups1 6=s2∈I

‖u(s1)− u(s2)‖X|s1 − s2|

≤ C ‖u‖W 1,∞(I,X) ,

was insbesondere die stetige Einbettung

W 1,∞(I,X) → C0,1(I , X)

beweist.

69

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen

Lemma 5.12 (Dichtheit)

Sei I ⊂ R ein offenes, beschranktes Intervall und 1 ≤ p <∞. Sei weiter X ein Banach-raum und D ⊂ X eine dichte Teilmenge. Dann gilt

C :=

n∑i=1

ϕi di

∣∣∣n ∈ N, ϕi ∈ C∞(I), di ∈ D

→W 1,p(I,X),

wobei die Einbettung dicht ist.

Beweis. Satz 5.7 liefert die stetige Einbettung

W 1,p(I,X) → C(I , X)

Nach Korollar 2.9 existiert fur dudt ∈ L

p(I,X) eine Folge

(vn)n∈N ∈

n∑i=1

ηidi

∣∣∣ ηi ∈ C∞0 (I), di ∈ D

,

mit der Eigenschaft

limn→∞

vn =du

dtin Lp(I,X).

Da D dicht in X liegt, existiert fur u(0) ∈ X eine Folge (dn)n∈N ⊂ D mit

limn→∞

dn = u(0) in X.

Wir definieren daher mit Hilfe des Hauptsatzes eine Folge von Funktionen

un : I → X,

un(t) := dn +

∫ t

0vn(s) ds.

Fur die so definierte Folge gilt dann

(un)n∈N ⊂

n∑i=1

ϕidi

∣∣∣ϕi ∈ C∞(I), di ∈ D

⊂ C∞(I , X)

und nach Satz 5.6 folgt fur n→∞

dundt

= (un)t = vn →du

dtin Lp(I,X).

70

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5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen

Mit

Fn(t) :=

∫ t

0vn(s) ds und F (t) :=

∫ t

0

du

dt(s) ds

erhalten wir also fur n→∞

Fn → F in C0b (I , X)

und damit

limn→∞

un = limn→∞

(dn + Fn

)= u(0) + F = u in C0

b (I , X).

Wegen C0b (I , X) → Lp(I,X) gilt die letzte Konvergenz auch in Lp(I,X). Fur ein Element

u ∈W 1,p(I,X) haben wir also (un)n∈N ⊂ C mit der Eigenschaft

limn→∞

un = u in W 1,p(I,X)

gefunden und damit die Behauptung des Satzes bewiesen.

Fur die explizite Konstruktion glatter Approximationsfolgen werden wir weiter untenwie im Fall klassischer Sobolevraume mittels Faltung mit einem sogenannten

”mollifier“

argumentieren. Da die Faltung den Trager der Ausgangsfunktion”ausschmiert“, muss

man sie zunachst passend fortsetzen. Den einfachsten Zugang stellt hierbei die trivialeFortsetzung der Funktion durch Null dar. Da dabei allerdings Sprunge entstehen konnen,die dazu fuhren, dass die so fortgesetzte Funktion nicht mehr schwach differenzierbarist, ist diese Art der Fortsetzung von Funktionen im Kontext von (verallgemeinerten)Sobolevraumen nicht geeignet. Die Fortsetzung einer Funktion durch Spiegelung hingegenerhalt die schwache Differenzierbarkeit, wie das nachste Theorem zeigt.Wir nehmen im Folgenden immer an, dass X und Y Banachraume mit der EigenschaftX ⊂ Y sind. Der Satz gilt allerdings sinngemaß auch dann, wenn X und Y jeweils stetigin einen dritten Banachraum Z eingebettet sind.

Theorem 5.13 (Fortsetzung durch Spiegelung)

Sei I = (0, T ) und u ∈ L1(I,X). Wir definieren

u : 3I := (−T, 2T )→ X, t 7→

u(−t), t ∈ (−T, 0),

u(t), t ∈ [0, T ],

u(2T − t), t ∈ (T, 2T ).

Dann gilt:

1. Es ist u ∈ L1(3I,X).

71

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

2. Fur u ∈ Lp(I,X) mit 1 ≤ p ≤ ∞ gilt auch u ∈ Lp(3I,X).

3. Fur dudt ∈ L

p(I, Y ) mit 1 ≤ p ≤ ∞ gilt auch dudt ∈ L

p(3I, Y ), wobei

du

dt(t) =

−dudt (−t), t ∈ (−T, 0),

dudt (t), t ∈ [0, T ],

−dudt (2T − t), t ∈ (T, 2T ).

Beweis. Blatt 10, Aufgabe 2.Bochner-Messbarkeit sowie Lp-Integrierbarkeit der Fortsetzung u sind klar, sodass nurdie 3. Aussage zu zeigen bleibt.Aufgrund der Einbettung X ⊂ Y gilt u ∈ L1(I,X) → L1(I, Y ) und du

dt ∈ L1(I, Y ), das

heisst insgesamt gilt u ∈ W 1,1(I, Y ). Wegen Lemma 5.12 existiert eine Folge (un)n∈N ⊂C∞(I , Y ) mit limn→∞ un = u in W 1,1(I, Y ) und wegen W 1,1(I, Y ) → C0(I, Y ) gilt auchlimn→∞ un = u in C0(I, Y ).Sei nun ϕ ∈ D(3I) beliebig. Dann gilt wegen des Hauptsatzes∫ 0

−Tun(−t)∂tϕ(t) dt = un(0)ϕ(0) +

∫ 0

−T(un)t(−t)ϕ(t) dt

und analog ∫ T

0un(t)∂tϕ(t) dt = un(T )ϕ(T )− un(0)ϕ(0)−

∫ T

0(un)t(t)ϕ(t) dt,∫ 2T

Tun(2T − t)∂tϕ(t) dt = −un(T )ϕ(T ) +

∫ 2T

T(un)t(2T − t)ϕ(t) dt.

Addition der drei Gleichungen und der anschließende Grenzubergang n → ∞ lieferndann die Behauptung.

Kombiniert man die Spiegelung aus dem vorangegangenen Theorem noch mit einerzusatzlichen Lokalisierung in der Zeit mit Hilfe einer Abschneidefunktion, so erhalt maneinen linearen, stetigen Fortsetzungsoperator

E : W 1,p(I, Y )→W 1,p(R, Y )

mit Eu|I = u. Fur unsere Belange ist Theorem 5.13 allerdings ausreichend. Wir vereinba-ren trotzdem noch die folgende Schreibweise: Ist v : I ⊂ R→ X eine Banachraum-wertigeFunktion, so bezeichne K(v) : R→ X ihre triviale Fortsetzung durch Null auf ganz R.Wir kommen nun zu einem zentralen Dichtheitsresultat, das wie im klassischen Fall imWesentlichen die Faltung benutzt, um eine konkrete Funktion mittels glatter Funktionenzu approximieren.

72

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5.3 Fortsetzbarkeit und dichte Teilmengen

Theorem 5.14 (Dichtheit glatter Funktionen)

Sei I = (0, T ) und w ∈ C∞0 ((−1, 1)) mit∫Rw(s) ds = 1. Fur

wε(t) :=1

εw

(t

ε

),

gilt dann wε ∈ C∞0 ((−1, 1)), suppwε ⊂ (−ε, ε) und∫Rwε(s) ds = 1. Fur u ∈ L1(I,X)

und ε > 0 definieren wir

uε := (K(u) ∗ wε)∣∣I ,wobei u wie in Theorem 5.13 die Fortsetzung von u auf 3I mittels Spiegelung bezeichne.Dann gilt:

1. Fur u ∈ Lp(I,X), 1 ≤ p < ∞, gilt (uε)ε>0 ⊂ C∞(I,X) und limε→0 uε = u inLp(I,X).

2. Fur u ∈ Lp(I,X), 1 ≤ p ≤ ∞, mit dudt ∈ Lq(I, Y ), 1 ≤ q < ∞, gilt (uε)ε>0 ⊂

C∞(I , X),

(uε)t =duεdt

=

(K

(du

dt

)∗ wε

)∣∣I in D′(I, Y )

und limε→0(uε)t = dudt in Lq(I, Y ).

Beweis. Die Glattheit der Folge (uε)ε>0 sowie die Tatsache, dass (uε)ε>0 stark gegenu in Lp(I,X) konvergiert, folgen wie im klassischen Fall aus Standardresultaten uberParameterintegrale und den Eigenschaften der Faltung, sodass wir uns auf die 2. Aussagekonzentrieren.Auch hier sind die Glattheits- und Konvergenzaussagen Konsequenzen der Eigenschaftender Faltung, sodass nur die entscheidende Identitat

(uε)t =duεdt

=

(K

(du

dt

)∗ wε

)∣∣I in D′(I, Y )

zu zeigen bleibt. Wir mussen also zeigen, dass die”Ableitung der Faltung“ der

”gefalteten

Ableitung“ entspricht.Da uε glatt ist, besitzt uε eine Ableitung im Sinne vektorwertiger Distributionen, die mitder klassischen Ableitung ubereinstimmt, sodass nur

(uε)t =

(K

(du

dt

)∗ wε

)∣∣I in D′(I, Y )

73

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

zu zeigen bleibt. Sei dazu ϕ ∈ D(I) beliebig. Dann gilt mit dem Satz von Fubini∫ T

0uε(t)∂tϕ(t) dt =

∫ T

0

∫ 2T

−Tu(s)wε(t− s)∂tϕ(t) dsdt

=

∫ 2T

−Tu(s)

(∫ T

0wε(s− t)∂tϕ(t) dt

)ds

=

∫ 2T

−Tu(s) (∂tϕ ∗ wε) (s) ds,

wobei wir wε(·) := wε(−·) setzen. Wegen (ϕ ∗ wε)ε>0 ⊂ C∞(R), ∂tϕ ∗ wε = ∂t(ϕ ∗ wε)und supp(ϕ ∗ wε) ⊂ suppϕ+ supp wε ⊂⊂ (−T, 2T ) folgt∫ T

0uε(t)∂tϕ(t) dt =

∫ 2T

−Tu(s)∂t(ϕ ∗ wε)(s) ds

= −∫ 2T

−T

du

dt(s)(ϕ ∗ wε)(s) ds

= −∫ 2T

−T

∫ T

0

du

dt(s)wε(t− s)ϕ(t) dtds

= −∫ T

0ϕ(t)

(∫RK

(du

dt

)(s)wε(t− s) ds

)dt

= −∫ T

0

(K

(du

dt

)∗ wε

)(t)ϕ(t) dt,

was zu zeigen war.

5.4 Partielle Integration

Das Dichtheitsresultat aus Theorem 5.14 dient im Folgenden als Grundlage fur den Be-weis einer Formel zur partiellen Integration fur Funktionen im verallgemeinerten Sobo-levraum W 1,p,p′(I, V, V ∗), wobei (V,H, V ∗) ein gegebenes Gelfand-Tripel ist. Der Beweisdieser Formel liefert außerdem die Einbettung W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , H), die die schonbekannte Aussage W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I, V ∗) verbessert.Die partielle Integrationsformel sowie die eben erwahnte Einbettung sind außerdem vonfundamentaler Bedeutung fur die Existenztheorie (nicht)linearer Evolutionsgleichungenmittels der Theorie monotoner Operatoren, wie sie in [Ruz04] dargestellt ist. Daruberhinaus ist sie die naturliche Verallgemeinerung der klassischen Regel∫ b

au′(t)v(t) dt = uv

∣∣∣ba−∫ b

au(t)v′(t)dt

auf das Setting Banachraum-wertiger Funktionen.

74

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5.4 Partielle Integration

Theorem 5.15 (partielle Integration und Einbettung)

Sei I = (0, T ), 1 < p < ∞ und (V,H, V ∗) ein Gelfand-Tripel. Dann gelten die stetigenEinbettungen

C∞(I , V ) →W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , H),

wobei die Einbettung C∞(I , V ) →W 1,p,p′(I, V, V ∗) dicht ist.Fur alle u, v ∈W 1,p,p′(I, V, V ∗) und s, s′ ∈ I gilt die partielle Integrationsformel∫ s

s′〈dtv(t), u(t)〉V dt = (v(s), u(s))H −

(v(s′), u(s′)

)H−∫ s

s′〈dtu(t), v(t)〉V dt.

Fur u = v folgt ∫ s

s′〈dtu(t), u(t)〉V dt =

1

2‖u(s)‖2H −

1

2

∥∥u(s′)∥∥2

H.

Beweis. Die Dichtheit der Einbettung C∞(I , V ) → W 1,p,p′(I, V, V ∗) folgt mit Theorem5.14. Bevor wir die stetige Einbettung

W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , H)

beweisen, sei noch einmal daran erinnert, dass wir aus den Einbettungssatzen in RaumeHolder-stetiger Funktionen (s. Theorem 5.7) bereits wissen, dass

W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , V ∗)

gilt. Der entscheidende Punkt besteht also in der Tatsache, dass Funktionen im verallge-meinerten Sobolevraum W 1,p,p′(I, V, V ∗) sogar stetig als Funktionen mit Werten in demkleineren Raum H → V ∗ sind.Wir approximieren zunachst eine beliebige Funktion u ∈ W 1,p,p′(I, V, V ∗) durch eineFolge (un)n∈N ⊂ C∞(I , V ) und zeigen, dass (un)n∈N dann auch eine Cauchyfolge imBanachraum C(I , H) ist. Aus der starken Konvergenz

limn→∞

un = u in Lp(I, V )

folgt fur fast alle t ∈ I

limn→∞

un(t) = u(t) in V → H

(zunachst nur fur eine Teilfolge, aber wir konnen ohne Einschrankung annehmen, dassdies auch fur die ganze Folge gilt). Wegen der Eindeutigkeit starker Grenzwerte mussdann u aber identisch mit dem Grenzwert der Cauchyfolge (un)n∈N ⊂ C(I , H) sein undwir konnen u schließlich mit diesem Grenzwert identifizieren.

75

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Da un − uk glatt ist, gilt fur beliebige s, s′ ∈ I auf Grund des Satzes 4.20 uber Gelfand-Tripel und der Holder-Ungleichung

1

2‖(un − uk)(s)‖2H −

1

2

∥∥(un − uk)(s′)∥∥2

H=

∫ s

s′((un − uk)t(t), (un − uk)(t))H dt

=

∫ s

s′〈(un − uk)t(t), (un − uk)(t)〉V dt

≤ ‖(un − uk)t‖Lp′ (I,V ∗) ‖un − uk‖Lp(I,V ) .

Daher folgt

‖(un − uk)(s)‖2H ≤∥∥(un − uk)(s′)

∥∥2

H+ 2 ‖un − uk‖2W 1,p,p′ (I,V,V ∗)

und mit der elementaren Ungleichung√a2 + b2 ≤ a+ b, a, b ≥ 0,

‖(un − uk)(s)‖H ≤∥∥(un − uk)(s′)

∥∥H

+√

2 ‖un − uk‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗) .

Unter Beachtung der Einbettungen V → H und Lp(I, V ) → L1(I,H) zeigt Integrationbezuglich s′ schließlich

‖(un − uk)(s)‖H ≤1

|I|‖un − uk‖L1(I,H) +

√2 ‖un − uk‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗)

≤ c ‖un − uk‖Lp(I,V ) + c ‖un − uk‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗)

≤ C ‖un − uk‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗) ,

wobei die Konstante C von |I|, p und p′, nicht aber von n und k abhangt. Da s ∈ Ibeliebig war, folgt

‖un − uk‖C(I,H) = sups∈I‖(un − uk)(s)‖H ≤ C ‖un − uk‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗) .

Nach Voraussetzung gilt limn→∞ un = u in W 1,p,p′(I, V, V ∗). Somit liefert die letzteAbschatzung die Tatsache, dass (un)n∈N eine Cauchyfolge im Banachraum C(I , H) ist.Dank unserer Voruberlegung folgt daher einerseits

limn→∞

un = u in Lp(I, V ) und in C(I , H).

Andererseits liefert der Grenzubergang n→∞ in der Ungleichung

‖un‖C(I,H) ≤ C ‖un‖W 1,p,p′ (I,V,V ∗)

schlussendlich die stetige Einbettung

W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , H).

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5.4 Partielle Integration

Die partielle Integrationsformel folgt nun ebenfalls mittels Approximation. Zu u, v ∈W 1,p,p′(I, V, V ∗) wahlen wir Approximationsfolgen (un)n∈N, (vn)n∈N ⊂ C∞(I , V ), diestark in W 1,p,p′(I, V, V ∗), und wegen W 1,p,p′(I, V, V ∗) → C(I , H), insbesondere auchgleichmaßig auf I in H gegen u bzw. v, konvergieren. Da un und vn glatt sind gilt dannfur beliebige s, s′ ∈ I

(vn(s), un(s))H −(vn(s′), un(s′)

)H

=

∫ s

s′((vn)t(t), un(t))H dt+

∫ s

s′((un)t(t), vn(t))H dt

=

∫ s

s′〈(vn)t(t), un(t)〉V dt+

∫ s

s′〈(un)t(t), vn(t)〉V dt (5.16)

=⟨(vn)t, unχ(s′,s)

⟩Lp(I,V )

+⟨(un)t, vnχ(s′,s)

⟩Lp(I,V )

.

Wegen der Konvergenzen

(vn)t → dtv in Lp′(I, V ∗),

(un)t → dtu in Lp′(I, V ∗),

vn → v in Lp(I, V ),

un → u in Lp(I, V ),

vn → v in C(I , H) und

un → u in C(I , H)

liefert der Grenzubergang n→∞ in (5.16) die partielle Integrationsformel. Eine analogeArgumentation zeigt schließlich

1

2‖u(s)‖2H −

1

2

∥∥u(s′)∥∥2

H=

∫ s

s′〈dtu(t), u(t)〉V dt

fur beliebiges u ∈W 1,p,p′(I, V, V ∗) und beliebige s, s′ ∈ I.

Bemerkung 5.17

Der Beweis zeigt, dass die Struktur eines zugrunde liegenden Gelfand-Tripels (V,H, V ∗)von entscheidender Bedeutung im Beweis ist. Insbesondere die Tatsache, dass fur u, v ∈V die Identitat

〈u, v〉V = (u, v)H = (v, u)H = 〈v, u〉V

gilt, erlaubt es uns, von V ∗ nach H zu gelangen und damit die Einbettung zu verbessern.Fur den Beweis ist ebenso entscheidend, dass C∞(I , V ) dicht in W 1,p,p′(I, V, V ∗) liegt,da sich dann die Integrationsformeln leicht durch Approximation beweisen lassen.

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5 Verallgemeinerte Sobolevraume

Abhangig von der Struktur des vorliegenden Problems und vor allem der auftretendenFunktionenraume kann die Konstruktion dichter Teilmengen schwierig sein.Hier kann aber die Beobachtung nutzlich sein, dass der Beweis von Theorem 5.15 auchdann noch funktioniert, wenn die Approximationsfolge (un)n∈N ⊂ C∞(I , V ) derart kon-struiert werden kann, dass (un)n∈N stark gegen u in Lp(I, V )) aber (un)t nur schwachgegen dtu in (Lp(I, V ))∗ ∼= Lp

′(I, V ∗) konvergiert.

Die partielle Integrationsformel lasst sich noch weiter verallgemeinern, wenn man dieSkalar- und Dualitatsprodukte aus Theorem 5.15 durch allgemeinere stetige Bilinearfor-men ersetzt. Der Beweis der folgenden Proposition beruht wieder im Wesentlichen auf derDichtheit glatter Funktionen in den entsprechenden verallgemeinerten Sobolevraumen.Daher verzichten wir an dieser Stelle auf die Details des Beweises.

Proposition 5.18 (partielle Integration fur stetige Bilinearformen)

Seien X,Y und Z Banachraume. Seien 1 ≤ p, q <∞ und 1 ≤ r ≤ ∞, so dass 1p + 1

q = 1r

gilt. Sei außerdem B : X × Y → Z eine stetige Bilinearform. Dann gilt:

1. B induziert eine stetige Bilinearform

B : W 1,p(I,X)×W 1,q(I, Y )→W 1,r(I, Z),

B(u, v)(t) := B(u(t), v(t)).

Dabei gilt fur die distributionelle Zeitableitung der Verkettung die Identitat

d

dtB(u(·), v(·)) = B

(du

dt(·), v(·)

)+B

(u(·), dv

dt(·)).

2. Fur alle u, v ∈W 1,p(I,X)×W 1,q(I, Y ) und s, s′ ∈ I gilt die partielle Integrations-formel∫ s

s′B

(u(t),

dv

dt(t)

)dt = B(u(s), v(s))−B(u(s′), v(s′))−

∫ s

s′B

(du

dt(t), v(t)

)dt.

Beweis. Blatt 11, Aufgabe 1

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6 Kompaktheit

Kompaktheitsmethoden sind von zentraler Bedeutung in der Existenztheorie nichtlinea-rer partieller Differentialgleichungen. Die Begrundung dafur beruht auf einer einfachenBeobachtung, die allerdings weitreichende Konsequenzen fur die Approximation nichtli-nearer Probleme hat: Ist f ∈ X∗ ein lineares Funktional und (un)n∈N ⊂ X eine Folge, sokonvergiert 〈f, un〉 gegen 〈f, u〉, falls (un)n∈N mindestens schwach gegen u ∈ X konver-giert. Ist allerdings F : X → R nur stetig und nicht unbedingt linear, so benotigt manstarke Konvergenz der Folge (un)n∈N ⊂ X, um auf die Konvergenz von (F (un))n∈N zuschließen.Als einfaches Beispiel reicht es, die Folge un(x) := sin(nx) zu betrachten, die schwachgegen 0 in L2 konvergiert, aber nicht stark in L2 konvergiert. Fur F (u) := u2 heißt dasdann, dass (F (un))n∈N nicht konvergiert.Die Existenz schwach konvergenter Teilfolgen bzw. die schwache Folgenkompaktheit ha-ben wir im Kapitel uber Reflexivitat eingehend untersucht. Im vorliegenden Kapitel gehtes nun um die Charakterisierung relativ kompakter Teilmengen von Bochnerraumen.Das zentrale Resultat ist hierbei der Satz von Aubin-Lions, der einen der Eckpfeiler inder Existenztheorie nichtlinearer Evolutionsgleichungen darstellt.Bevor wir zu den ersten vorbereitenden Hilfsmitteln kommen, stellen wir noch eine wei-tere Voruberlegung an, die die zentrale Schwierigkeit im Zusammenhang mit Kompakt-heitsfragen in Bochnerraumen genauer beleuchtet.Sei dazu X ein Banachraum und u ∈ X fest. Weiter sei (αn)n∈N ⊂ Lp(I) eine Folge,die schwach aber nicht stark gegen α ∈ Lp(I) konvergiert. Wir nehmen außerdem an,dass X kompakt in einen Banachraum Y einbettet. Die Folge αnu : I → X liegt dann inLp(I,X) und man konnte vermuten, dass die Einbettung Lp(I,X)→ Lp(I, Y ) kompaktist, das heisst, dass eine Teilfolge der in Lp(I,X) beschrankten Folge (αnu)n∈N stark inLp(I, Y ) konvergiert. Wie man allerdings leicht sieht, gilt

‖αnu− αu‖Lp(I,Y ) = ‖u‖Y ‖αn − α‖Lp(I) ≤ c ‖u‖X ‖αn − α‖Lp(I) ,

sodass (αnu)n∈N nur dann stark gegen αu in Lp(I, Y ) konvergiert, wenn αn stark gegenα in Lp(I) konvergiert.Man sieht an diesem Beispiel, dass Kompaktheit im Zielraum (bzw.

”Kompaktheit im

Ort“) alleine nicht ausreicht, um Kompaktheit der Einbettung Lp(I,X) → Lp(I, Y )zu implizieren. Vielmehr braucht man zusatzlich auch Kompaktheit in der Zeit, wie dasBeispiel gerade gezeigt hat. Der Satz von Aubin-Lions kombiniert geschickt Kompaktheitim Zielraum mit einem Argument, welches letztlich auf dem Satz von Arzela-Ascoli

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6 Kompaktheit

beruht, um Kompaktheit in der Zeit zu erzwingen.

6.1 Das Ehrling-Lemma und der Satz von Arzela-Ascoli

Das erste Hilfsmittel fur das Lemma von Aubin-Lions ist ein Interpolationsresultat, wel-ches auch als Ehrling-Lemma bekannt ist.

Lemma 6.1 (Ehrling)

Seien B0, B und B1 Banachraume. Die Einbettung B0 → B sei kompakt und die Ein-bettung B → B1 sei injektiv, das heisst es gelte

B0 →→ Binj.→ B1.

Dann existiert fur alle ε > 0 eine Konstante C(ε), sodass fur alle u ∈ B0 die Abschatzung

‖u‖B ≤ ε ‖u‖B0+ C(ε) ‖u‖B1

. (6.2)

gilt.

Beweis. Ware (6.2) falsch, so wurde ein ε0 > 0 und eine Folge (un)n∈N ⊂ B0 existierenmit

‖un‖B > ε0 ‖un‖B0+ n ‖un‖B1

.

Setzen wir un := un ‖un‖−1B0

, so gilt fur die Folge (un)n∈N ⊂ B0 die Abschatzung

‖un‖B > ε0 ‖un‖B0+ n ‖un‖B1

= ε0 + n ‖un‖B1. (6.3)

Wegen B0 → B ist fur alle n

‖un‖B =‖un‖B‖un‖B0

≤ c‖un‖B0

‖un‖B0

= c

und insbesondere folgt aus (6.3)

‖un‖B1<c

n−→ 0,

also un → 0 in B1 fur n→∞.Die Kompaktheit der Einbettung B0 → B und die Beschranktheit der Folge (un)n∈N ⊂B0 liefern andererseits die Existenz einer Teilfolge mit (unk)k∈N → u in B fur ein u ∈ Bund k →∞. Die stetige Einbettung B → B1 impliziert dann limk→∞ unk = u in B1 unddie Injektivitat der Einbettung B → B1 liefert schließlich u = 0.Wir haben also limk→∞ unk = 0 in B und somit gilt fur hinreichend großes nk ∈ N mit(6.3)

ε0

2≥ ‖unk‖B > ε0 + nk ‖unk‖B1

≥ ε0.

Dieser Widerspruch liefert nun die Gultigkeit der Abschatzung (6.2).

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6.1 Das Ehrling-Lemma und der Satz von Arzela-Ascoli

Bemerkung 6.4

Die geforderte Injektivitat der Einbettung B → B1 ist notwendig, wie das folgende Ge-genbeispiel zeigt:Sei I = [−2, 2] und J = [−1, 1]. Der Satz von Arzela-Ascoli garantiert dann die Kom-paktheit der Einbettung C1(I) → C0(I). Die Einbettung C0(I) → L2(J) ist zwar stetig,aber nicht injektiv. Wurde das Ehrling-Lemma fur diese Konstellation dennoch gelten,so fanden wir fur alle ε > 0 eine Konstante C(ε), sodass fur alle u ∈ C1(I) gilt

‖u‖C0(I) ≤ ε ‖u‖C1(I) + C(ε) ‖u‖L2(J) .

Fur alle u ∈ C1(I) mit suppu ∩ J = ∅ und alle ε > 0 wurde dann aber

‖u‖C0(I) ≤ ε ‖u‖C1(I)

gelten, was fur u 6= 0 zum Widerspruch fuhrt.

Bemerkung 6.5

In der Literatur wird die Injektivitat der Einbettung B → B1 nur selten explizit ge-fordert. Das kann zwar daran liegen, dass in den entsprechenden Quellen Einbettungenohnehin als injektiv vorausgesetzt werden, dennoch sollte man sich vergewissern, dassdiese zunachst unscheinbare Bedingung wirklich erfullt ist.

Wie bereits erwahnt geht im Beweis des Satzes von Aubin-Lions der Satz von Arzela-Ascoli ein. Wir zitieren daher ohne Beweis eine allgemeine Version des Satzes von Arzela-Ascoli.

Theorem 6.6 (Arzela-Ascoli)

Sei X ein Banachraum, K ein kompakter metrischer Raum und M ⊂ C0(K,X). Dannist M genau dann relativ kompakt, das heisst M ist kompakt, wenn gilt:

1. M ist gleichgradig stetig: das heisst fur alle t ∈ K und alle ε > 0 existierteine Umgebung U von t, sodass fur alle s ∈ U und alle u ∈ M die Abschatzung‖u(s)− u(t)‖X ≤ ε gilt.

2. Die Menge M(t) := u(t) |u ∈M ist relativ kompakt in X fur jedes t ∈ K.

Ist X endlich dimensional, so ist M genau dann relativ kompakt, wenn M gleichgradigstetig und beschrankt ist.

Die im Satz von Arzela-Ascoli geforderte gleichgradige Stetigkeit einer Familie M er-zwingt man am einfachsten, indem man gleichmaßige Kontrolle uber die Zeita-bleitungen voraussetzt. In der Tat gilt ja Dank des Hauptsatzes die Identitat

u(s)− u(s′) =

∫ s

s′

du

dt(t) dt.

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6 Kompaktheit

Sind nun die Zeitableitungen(dudt

)u∈M gleichmaßig in Lp(I,X) beschrankt, folgt

∥∥u(s)− u(s′)∥∥X≤ |s− s′|

1p′ supu∈M

∥∥∥∥dudt∥∥∥∥Lp(I,X)

≤ c |s− s′|1p′

und M ist somit gleichgradig stetig.

6.2 Das Kompaktheitslemma von Aubin-Lions

Der Satz von Arzela-Ascoli liefert den noch fehlenden Baustein fur den Satz von Aubin-Lions. Der Beweis folgt der Darstellung von [BF13], die sich wiederum an der Methodevon Simon orientiert, der in [Sim87] eine ganze Reihe von Kompaktheitssatzen a laAubin-Lions bewiesen hat. Die Tatsache, dass [Sim87] zu den meist zitierten Arbeitengehort, unterstreicht noch einmal die Relevanz von Kompaktheitssatzen fur die Theorieaber auch fur die theoretische Numerik im Kontext nichtlinearer Evolutionsgleichungen.

Theorem 6.7 (Aubin-Lions, Simon)

Seien B0, B und B1 Banachraume, die die Voraussetzungen des Ehrling-Lemmas 6.1erfullen. Sei außerdem 1 ≤ p <∞ und 1 ≤ r ≤ ∞. Dann ist die Einbettung

W 1,p,r(I,B0, B1) → Lp(I,B)

kompakt.

Beweis. Der Beweis besteht aus drei Schritten. Im ersten Schritt wird die Behauptungmit Hilfe des Ehrling-Lemmas auf Kompaktheit in Lp(I,B1) reduziert. Diese Kompakt-heit wird im zweiten Schritt mit Hilfe des Satzes von Arzela-Ascoli bewiesen. Der dritteSchritt besteht aus einem Diagonalfolgenargument.Zu zeigen ist: Jede beschrankte Folge

(un)n∈N ⊂W 1,p,r(I,B0, B1)

enthalt eine in Lp(I,B) starkt konvergente Teilfolge, bzw. (was aquivalent dazu ist) eineLp(I,B)-Cauchyfolge. Wir konnen dazu ohne Beschrankung der Allgemeinheit r = 1annehmen.

Schritt 1: Reduktion per Ehrling-LemmaWegen des Ehrling-Lemmas existiert fur alle ε > 0 eine Konstante C(ε), sodass fur alleun(t), uk(t) ∈ B0 gilt

‖un(t)− uk(t)‖B ≤ ε ‖un(t)− uk(t)‖B0+ C(ε) ‖un(t)− uk(t)‖B1

.

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6.2 Das Kompaktheitslemma von Aubin-Lions

Nehmen wir die p-te Potenz dieser Ungleichung und integrieren bzgl. t uber I, so folgtmit einer von p abhangigen Konstante c

‖un − uk‖pLp(I,B) ≤ c ε ‖un − uk‖pLp(I,B0) + cC(ε) ‖un − uk‖pLp(I,B1) .

Ist nun (un) ⊂W 1,p,r(I,B0, B1) durch eine Konstante K beschrankt, so gilt

‖un − uk‖pLp(I,B) ≤ c ε(2K)p + cC(ε) ‖un − uk‖pLp(I,B1) .

Es reicht also, eine Lp(I,B1)-Cauchyfolge zu extrahieren, denn diese Cauchyfolge ist au-tomatisch auch eine Lp(I,B)-Cauchyfolge, da ε > 0 beliebig war.

Schritt 2: Arzela-Ascoli ArgumentSei ohne Einschrankung I = [0, T ]. Sei weiter κ ∈ C∞(I ,R) eine feste Abschneidefunktionmit κ(T ) = 0. Es gilt

un = κun + (1− κ)un =: vn + wn.

Wir zeigen, dass die Folge (vn)n∈N eine Lp(I,B1)-Cauchyfolge enthalt. Die Argumenta-tion fur wn verlauft analog.Setzen wir vn(t) := 0 fur alle t > T , so folgt (vn)n∈N ⊂ Lp(R+, B0) und fur h > 0 gilt

vn(t) =1

h

∫ t+h

tvn(s) ds+

1

h

∫ t+h

tvn(t)− vn(s) ds =: an,h(t) + bn,h(t).

Wir zeigen nun, dass die Folge (an,h)n∈N ⊂ C0(R+, B0) fur festes h > 0 die Vorausset-zungen des Satzes von Arzela-Ascoli erfullt.Zunachst zeigen wir dafur, dass an,h(t) |n ∈ N fur alle t ∈ R+ relativ kompakt inB1 liegt. Wegen (vn)n∈N ⊂ Lp(R+, B0) ist die Folge (an,h)n∈N B0-wertig. Aufgrund derBeschranktheit von (un)n∈N ⊂W 1,p,r(I,B0, B1) gilt fur jedes t ∈ R+

‖an,h(t)‖B0≤ 1

hh

1p′ ‖vn‖Lp(I,B0) ≤ h

1p′−1 ‖κ‖C0(I) ‖un‖Lp(I,B0) ≤ h

1p′−1

K ‖κ‖C0(I) .

Fur festes h > 0 liegt die Menge an,h(t) |n ∈ N somit in einer beschrankten Teilmengevon B0 und wegen B0 →→ B → B1 in einer relativ kompakten Teilmenge von B1.Die gleichgradige Stetigkeit der Menge an,h |n ∈ N folgt aus dem Hauptsatz derDifferential- und Integralrechnung. Dieser liefert

dan,hdt

(t) =1

h(vn(t+ h)− vn(t)) =

1

h

∫ t+h

t

dvndt

(s) ds.

Daraus folgt wegen der Beschranktheit von (un)n∈N ⊂W 1,p,r(I,B0, B1)∥∥∥∥dan,hdt(t)

∥∥∥∥B1

≤ 1

h

∫ t+h

t

∥∥∥∥dvndt (s)

∥∥∥∥B1

ds ≤ 1

h

∥∥∥∥dvndt∥∥∥∥L1(I,B1)

≤ 1

hc

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6 Kompaktheit

und somit

supn∈N

∥∥∥∥dan,hdt

∥∥∥∥Lp(I,B1)

≤ 1

hc,

was fur festes h > 0 die gleichgradige Stetigkeit liefert.Nach Arzela-Ascoli enthalt (an,h)n∈N somit eine C0(I , B1)-Cauchyfolge. Wegen der Ein-bettung C0(I , B1) → Lp(I,B1) und dem Satz von Lebesgue uber majorisierte Konver-genz ist diese Cauchyfolge auch eine Lp(I,B1)-Cauchyfolge.Nun zeigen wir, dass

‖bn,h‖Lp(I,B1) ≤ ch1p

gilt. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung liefert

‖bn,h(t)‖B1≤ 1

h

∫ t+h

t‖vn(t)− vn(s)‖B1

ds ≤ 1

h

∫ t+h

t

∫ s

t

∥∥∥∥dvndt (τ)

∥∥∥∥B1

dτds.

Wir konnen weiter abschatzen:∫ T

0‖bn,h(t)‖pB1

dt(1)

≤∫ T

0

1

h

∫ t+h

t

(∫ s

t

∥∥∥∥dvndt (τ)

∥∥∥∥B1

)pdsdt

(2)

≤∥∥∥∥dvndt

∥∥∥∥p−1

L1(I,B1)

∫ T

0

1

h

∫ t+h

t

∫ s

t

∥∥∥∥dvndt (τ)

∥∥∥∥B1

dτdsdt

(3)=

∥∥∥∥dvndt∥∥∥∥p−1

L1(I,B1)

∫ T

0

1

h

∫ t+h

t

∥∥∥∥dvndt (τ)

∥∥∥∥B1

(t+ h− τ) dτdt

(4)

≤∥∥∥∥dvndt

∥∥∥∥p−1

L1(I,B1)

∫ T

0

∫ t+h

t

∥∥∥∥dvndt (τ)

∥∥∥∥B1

dτdt

(5)

≤ h

∥∥∥∥dvndt∥∥∥∥pL1(I,B1)

≤ ch.

Dabei verwenden wir in (1) die obige Abschatzung fur ‖bn,h(t)‖B1und die Jensensche

Ungleichung. In (2) verwenden wir die aus der Holder-Ungleichung folgende Abschatzung(∫ηf dτ

)p=

(∫η1/p′ · η1/pf dτ

)p≤ ‖η‖p−1

L1

∫|η| · |f |p dτ

mit η :=∥∥dvndt (τ)

∥∥B1

und f := 1. In (3) verwenden wir

χ(t,t+h)(s) · χ(t,s)(τ) = χ(t,t+h)(τ) · χ(τ,t+h)(s)

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6.2 Das Kompaktheitslemma von Aubin-Lions

und Fubini. Fur (4) verwenden wir, dass t+ h− τ ≤ h ist. Abschließend verwenden wirin (5), dass wir wegen vn(τ) = 0 fur alle τ ≥ T ohne Einschrankung τ ≤ T annehmenkonnen und deshalb

χ(0,T )(t) · χ(t,t+h)(τ) ≤ χ(0,T )(τ) · χ(τ−h,τ)(t)

erhalten.Damit folgt dann die behauptete Abschatzung

‖bn,h‖Lp(I,B1) ≤ ch1p . (6.8)

Schritt 3: DiagonalfolgenargumentMit einem Diagonalfolgenargument wahlen wir nun eine Cauchy-Teilfolge von (vn)n∈Naus.Wir setzen hk := 1

k . Fur k = 1 erhalten wir aus den Abschatzungen fur (an,h)n∈N,h>0,dass (an,h1)n∈N eine in Lp(I,B1) konvergente Teilfolge (aϕ1(n),h1

)n∈N enthalt. Auf dieselbeWeise erhalten wir fur k = 2 eine konvergente Teilfolge (aϕ2ϕ1(n),h2

)n∈N ⊂ (aϕ1(n),h2)n∈N.

Rekursiv erhalten wir so fur jedes k ≥ 1 eine konvergente Teilfolge (aϕk...ϕ1(n),hk)n∈N.Wir konstruieren jetzt eine Cauchy-Teilfolge von (vn)n∈N. Sei dazu ε > 0. Wegen (6.8)existiert ein k0 ≥ 1 sodass fur alle n ∈ N und fur alle k ≥ k0 gilt

‖bn,hk‖Lp(I,B1) ≤ ε.

Wir setzen ψ(k) := ϕk ... ϕ1(k) und vψ(k) := aψ(k),hk0+ bψ(k),hk0

. Nach Konstruktionist

(aψ(k),hk0)k≥k0 ⊂ (aϕk0

...ϕ1(n),hk0)n∈N,

wobei (aϕk0...ϕ1(n),hk0

)n∈N als konvergente Folge eine Lp(I,B1)-Cauchyfolge ist. Deshalb

existiert ein k1 ≥ k0, sodass fur alle k, k′ ≥ k1 gilt∥∥∥aψ(k),hk0− aψ(k′),hk0

∥∥∥Lp(I,B1)

≤ ε.

Fur alle k, k′ ≥ k1 gilt dann∥∥vψ(k) − vψ(k′)

∥∥Lp(I,B1)

≤∥∥∥aψ(k),hk0

− aψ(k′),hk0

∥∥∥Lp(I,B1)

+∥∥∥bψ(k),hk0

∥∥∥Lp(I,B1)

+∥∥∥bψ(k′),hk0

∥∥∥Lp(I,B1)

≤ 3ε.

Korollar 6.9 (Kompakte Einbettung nach C(I , B))

Es gelten die Voraussetzungen von 6.7. Dann gilt fur r > 1

W 1,∞,r(I,B0, B1) →→ C0(I , B).

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7 Lineare Warmeleitungsgleichung

Ziel dieses Kapitels ist der Existenzbeweis fur die lineare Warmeleitungsgleichung

∂tu−∆u = f in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω,

mit Hilfe eines Galerkin-Verfahrens, das fur eine große Klasse instationarer Problemeverwendet werden kann. Darauf aufbauend wollen wir aber auch ein analoges Existenz-resultat fur eine nichtlineare Warmeleitungsgleichung der Form

∂tu−∆u = f(u) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω.

(7.1)

beweisen. Hier ist f : I × R → R eine stetige Funktion, die nichtlinear von der (unbe-kannten) Funktion u : I × Ω → R abhangt und gewisse strukturelle Voraussetzungenhinsichtlich ihres Wachstums erfullt.Der Existenzsatz fur die nichtlineare Warmeleitungsgleichung wird mit Hilfe des Schau-derschen Fixpunktsatzes gefuhrt, auf den wir weiter unten genauer eingehen werden. Dieim Schauderschen Fixpunktsatz notwendige Kompaktheit ist eine Folge des Satzes vonAubin-Lions. Diese Art der Kombination von Linearisierungs-, Fixpunkt- und Kompakt-heitsmethoden kann ebenfalls auf viele nichtlineare Evolutionsprobleme angewandt undverallgemeinert werden.Die Existenzsatze und insbesondere die dabei verwendeten Methoden konkretisieren undverdeutlichen die Relevanz der bisher vorgestellten abstrakten Resultate fur Anwendun-gen auf (nichtlineare) partielle Differentialgleichungen.

7.1 Schwache Form der linearen Warmeleitungsgleichung

Um die lineare Warmeleitungsgleichung

∂tu−∆u = f in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω

(7.2)

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7 Lineare Warmeleitungsgleichung

kompakt in der Form einer Operatordifferentialgleichung zu formulieren, fuhren wirzunachst die Notation

V := W 1,20 (Ω) und H := L2(Ω)

fur die aus der Motivation bekannten kanonischen Funktionenraume ein. Das Tripel(V,H, V ∗) ist dann ein Gelfand-Tripel im Sinne von Definition 4.20. Wir hatten unsaußerdem schon uberlegt, dass eine klassische Losung von (7.2) zu gegebenen Datenu0 ∈ H und f ∈ L2(I,H) in naturlicher Weise im Bochnerraum L2(I, V ) ∩ L∞(I,H)liegt.In einem ersten Schritt zu einer schwachen Formulierung von (7.8) definieren nun denvom elliptischen Term −∆u induzierten linearen Operator

A : V → V ∗, (7.3)

〈Au, v〉V :=

∫Ω∇u · ∇v dx.

Dann gilt

〈Au, u〉V =

∫Ω|∇u|2 dx = ‖u‖2V ,

wobei im letzten Schritt insbesondere eingeht, dass die Grosse

‖u‖V := ‖∇u‖L2(Ω)

dank der Poincare-Ungleichung eine aquivalente Norm auf dem Sobolevraum V = W 1,20 (Ω)

definiert. Der oben definierte Operator A : V → V ∗ lasst sich durch die Vorschrift(Au)(t) := A(u(t))

zunachst formal zu einem linearen Operator

A : L2(I, V )→(L2(I, V )

)∗ ∼= L2(I, V ∗),

fortsetzen. Der Isomorphismus L2(I, V )∗ ∼= L2(I, V ∗) ist im Sinne von Theorem 3.12aufzufassen. Fur den von A in dieser Weise induzierten Operator, den wir im Folgendenwieder mit A bezeichnen, gilt dann

Lemma 7.4

Der Operator

A : V → V ∗, (7.5)

〈Au, v〉V :=

∫Ω∇u · ∇v dx (7.6)

ist linear und es gilt

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7.1 Schwache Form der linearen Warmeleitungsgleichung

1. 〈Au, u〉V = ‖u‖2V , was insbesondere die Koerzivitat von A : V → V ∗ liefert.

2. ‖Au‖V ∗ = sup‖v‖V ≤1〈Au, v〉V = ‖u‖V . Damit ist A : V → V ∗ wohldefiniert undstetig.

Der induzierte Operator

A : L2(I, V )→ L2(I, V ∗),(Au)(t) := A(u(t))

ist wohldefiniert und linear und es gilt

1. 〈Au, u〉L2(I,V ) =∫I〈Au(t), u(t)〉V dt = ‖u‖2L2(I,V ).

2. ‖Au‖L2(I,V ∗) = sup‖v‖L2(I,V )≤1〈Au, v〉L2(I,V ) = ‖u‖L2(I,V ).

Insbesondere ubertragen sich die Stetigkeit und die Koerzivitat des Operators A : V → V ∗

auf den induzierten Operator A : L2(I, V )→ L2(I, V ∗).

Beweis. Zu zeigen ist lediglich die Wohldefiniertheit des induzierten Operators und dabeinur die Bochner-Messbarkeit der Abbildung

Au : I → V ∗,

t 7→(Au)(t) = A(u(t)).

Fur u ∈ L2(I, V ) existiert eine Folge von Treppenfunktionen (sn)n∈N : I → V , so dassfur fast alle t ∈ I gilt

limn→∞

sn(t) = u(t) in V.

Dann sind aber die Funktionen (Asn)n∈N : I → V ∗ Treppenfunktionen und es gilt wegender Stetigkeit und Linearitat von A : V → V ∗ fur n→∞

‖Asn(t)−Au(t)‖V ∗ ≤ ‖sn(t)− u(t)‖V → 0

fur fast alle t ∈ I. Daher ist Au : I → V ∗, t 7→ Au(t) Bochner-messbar.Die restlichen Aussagen folgen direkt mit Hilfe der Holder-Ungleichung.

Bereits in der Motivation hatten wir uns klar gemacht, dass schwache Losungen durcheine geeignete Integralidentitat definiert sind. Wir haben nun alle technischen Hilfsmittelzusammen, um diese Indetitat anzugeben.

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7 Lineare Warmeleitungsgleichung

Definition 7.7 (schwache Losung)

Eine Funktion u ∈ L2(I, V ) ∩ L∞(I,H) heißt schwache Losung der linearen Warme-leitungsgleichung (7.2), falls sowohl die schwache Formulierung

−∫I(u(t), ηt(t))H dt+

∫I〈Au(t), η(t)〉V dt =

∫I(f(t), η(t))H dt (7.8)

fur alle Testfunktionen η ∈ C∞(I, V ) der Form η = ϕw mit ϕ ∈ C∞0 (I) und w ∈ V , alsauch die Anfangsbedingung

u(0) = u0 in H,

erfullt sind.

Bemerkung 7.9

Die schwache Formulierung (7.8) lasst sich wegen der Gelfand-Tripel-Struktur der Raume(V,H, V ∗) auch schreiben als

−∫I〈u(t), ηt(t)〉V dt+

∫I〈Au(t), η(t)〉V dt =

∫I〈f(t), η(t)〉V dt, fur alle η ∈ C∞0 (I, V ).

(7.10)

Man beachte, dass wir hier eine grossere Klasse von Testfunktionen als in Definition7.8 zulassen. Dieser Schritt lasst sich mit Hilfe von Korollar 2.9 sowie Korollar 2.10rechtfertigen. Mit Hilfe der Definition der verallgemeinerten Zeitableitung, kann man7.10 noch kompakter in der Form

dtu(t) +Au(t) = f(t) in V ∗, t ∈ I, (7.11)

schreiben. Diese Schreibweise rechtfertigt mithin die Sprechweise Operatordifferenti-algleichung. Gilt nun (7.10) fur alle η ∈ C∞0 (I, V ), so folgt mit Hilfe der Dichtheit derEinbettung

C∞0 (I, V ) → L2(I, V )

(s. Korollar 2.10) und der Struktur der Gleichung, dass fur die verallgemeinerte Zeita-bleitung von u

dtu ∈ (L2(I, V ))∗ ∼= L2(I, V ∗)

gilt. Die Einbettung

W 1,2,2(I, V, V ∗) → C0(I , H)

(s. Theorem 5.15) zeigt dann, dass die punktweise Auswertung einer schwachen Losungu zum Zeitpunkt t = 0 wohldefiniert ist und somit die Forderung u(0) = u0 in H inDefinition 7.7 sinnvoll ist.

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7.2 Galerkin-Approximation

7.2 Galerkin-Approximation

Um die Existenz einer schwachen Losung im Sinne von Definition 7.7 zu beweisen, kon-struieren wir eine sogenannte Galerkin-Approximation. Die schwache Losung erhaltenwir dann, indem wir in der Galerkin-Approximation zum Grenzwert n → ∞ im Ap-proximationsparameter ubergehen. Im Unterschied zur nichtlinearen Warmeleitungsglei-chung genugt uns fur diesen Grenzubergang die schwache Konvergenz der Folge derGalerkin-Losungen. Diese schwache Konvergenz ist wiederum eine direkte Konsequenzaus gleichmaßigen a-priori-Abschatzungen und der Reflexivitat der dabei auftretendenBochnerraume.Da V separabel ist, enthalt V eine dichte, abzahlbare Teilmenge

G =

(wk)∣∣ k ∈ N

⊂ V.

Aus der Dichtheit der Einbettung

V = W 1,20 (Ω) → L2(Ω) = H

folgt auch die Dichtheit der Einbettung spanG → H, das heisst es gilt

spanG‖·‖H = H,

Setzen wir außerdem Vn := spanwk | k ≤ n, so folgt⋃n≥1

Vn‖·‖V

= V,

das heisst wir konnen V durch endlichdimensionale Unterraume approximieren. Wirsuchen nun approximative Losungen (un)n∈N der Form

un(t) =n∑k=1

cnk(t)wk,

die das Galerkin-System

〈unt (t), wk〉V + 〈Aun(t), wk〉V = 〈fn(t), wk〉V , k = 1, ..., n, (7.12)

un(0) = un0

losen. Hierbei ist (fn)n∈N ⊂ C∞(I,H) eine Folge mit limn→∞ fn = f in L2(I,H); dieExistenz der Folge (fn) wird durch Korollar 2.10 gesichert. Die Folge (un0 )n∈N,

un0 =

n∑k=1

cn0,k wk ∈ Vn

konvergiert stark gegen u0 in H, was aus der Dichtheit von spanG in H folgt.

91

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7 Lineare Warmeleitungsgleichung

7.3 Losbarkeit des Galerkin-Systems

Um die Losbarkeit des Galerkin-Systems (7.12) zu zeigen, zeigen wir, dass sich (7.12)als System gewohnlicher Differentialgleichungen formulieren lasst. Zunachst giltformal

〈unt (t), wl〉V = (unt (t), wl)H =n∑k=1

cnk(t)(wk, wl)H .

Da die (wk)k∈N (ohne Einschrankung) linear unabhangig sind, ist die Gram’sche MatrixM := (wk, wl)1≤k,l≤n invertierbar. Definieren wir außerdem

fn : I × Rn → Rn,

fn(t, c) := M−1(〈fn(t)−A

( n∑k=1

ckwk), wl〉l=1,...,n

)und schreiben cn(t) :=

(cnk(t)

)k=1,...,n

und cn0 :=(cn0,k)k=1,...,n

, so ist (7.12) aquivalent zudem System gewohnlicher Differentialgleichungen

cn(t) = fn(t, cn(t)) (7.13)

cn(0) = cn0

Wegen des Satzes von Picard-Lindelof (s. Blatt 11, Aufgabe 2) besitzt (7.13) zumin-dest fur kurze Zeiten eine Losung. Das Existenz-Intervall hangt im Allgemeinen vonden Daten und n ∈ N ab. Wenn wir gleichmaßige a-priori-Abschatzungen in n herleitenkonnen, konnen wir den Satz von Picard-Lindelof iterieren und erhalten schließlich dieExistenz von Galerkin-Losungen auf dem gesamten Zeitintervall I.Dazu multiplizieren wir die l-te Gleichung von (7.13) mit cnl (t), wobei cn(t) eine Kurz-zeitlosung von (7.13) ist, summieren uber l, integrieren anschließend uber t und erhalten1∫ s

0(unt (t), un(t))H dt+

∫ s

0〈Aun(t), un(t)〉V dt =

∫ s

0〈fn(t), un(t)〉V dt.

Wegen (unt (t), un(t))H = 12ddt(u

n(t), un(t))H ist das aquivalent zu

1

2‖un(s)‖2H +

∫ s

0‖un(t)‖2V dt =

1

2‖un(0)‖2H +

∫ s

0〈fn(t), un(t)〉V dt

≤ 1

2‖un0‖

2H + c

∫ s

0‖fn(t)‖H ‖u

n(t)‖V dt

≤ 1

2‖un0‖

2H + c(ε) ‖fn‖2L2((0,s),H) + ε ‖un‖2L2((0,s),V ) ,

1Man beachte insbesondere, dass der Satz von Picard-Lindelof klassich differnzierbare Losungen liefert.

92

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7.4 Konvergenz des Galerkin-Verfahrens

wobei wir im letzten Schritt die Young-Ungleichung mit ε verwendet haben. Fur hin-reichend kleines ε konnen wir den Term ε ‖un‖2L2((0,s),V ) in der linken Seite absorbieren.Beachten wir außerdem, dass die Approximationen un0 von u0 und fn von f so konstruiertsind, dass gilt

‖un0‖H ≤ ‖u0‖H und ‖fn‖L2((0,s),H) ≤ ‖f‖L2((0,s),H) ,

so erhalten wir aus der obigen Abschatzung schließlich

‖un‖2C([0,s],H) + ‖un‖2L2((0,s),V ) ≤ C(u0, f).

Insbesondere konnen wir den Satz von Picard-Lindelof iterieren und erhalten somit Ap-proximationslosungen, die auf ganz I definiert sind. Eine Wiederholung der obigen Rech-nung liefert dann

‖un‖2C(I,H) + ‖un‖2L2(I,V ) ≤ C(u0, f). (7.14)

7.4 Konvergenz des Galerkin-Verfahrens

Aus den a-priori-Abschatzungen (7.14) und der Reflexivitat der Raume H und L2(I, V )ergibt sich die Existenz einer Teilfolge, die wir wieder mit (un)n bezeichnen und fur diegilt

un u in L2(I, V ),

un∗ u in L∞(I,H).

Nach Konstruktion gilt außerdem

un(0) = un0 → u0 in H.

Sei nun w ∈⋃n≥1 Vn beliebig. Dann existiert n0 ∈ N, so dass w ∈ Vn fur alle n ≥ n0

gilt. Fur alle n ≥ n0 folgt dann aber

〈unt (t), w〉V + 〈Aun(t), w〉V = 〈fn(t), w〉V .

Multiplikation dieser Gleichung mit ϕ ∈ C1(I), ϕ(T ) = 0, und anschließende partielleIntegration in der Zeit liefern

−∫I(un(t), w)H∂tϕ(t) dt+

∫I〈Aun(t), w〉V ϕ(t) dt

=

∫I〈fn(t), w〉V ϕ(t) dt+ (un0 , w)Hϕ(0).

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7 Lineare Warmeleitungsgleichung

Der Grenzubergang n→∞ liefert mit der Stetigkeit von A

−∫I(u(t), w)H∂tϕ(t) dt+

∫I〈Au(t), w〉V ϕ(t) dt

=

∫I〈f(t), w〉V ϕ(t) dt+ (u0, w)Hϕ(0). (7.15)

Da⋃n≥1 Vn dicht in V liegt, gilt (7.15) fur alle w ∈ V und alle ϕ ∈ C1(I) mit ϕ(T ) = 0.

Wahlen wir in (7.15) w ∈ V und ϕ ∈ C∞0 beliebig, so gilt

−∫I(u(t), w)H∂tϕ(t) dt =

∫I〈f(t)−Au(t), w〉V ϕ(t) dt.

Mit der Holder-Ungleichung und der Dichtheit der Menge ϕw |ϕ ∈ C∞0 (I), w ∈ V inL2(I, V ) folgt

dtu = f(t)−Au(t) ∈ (L2(I, V ))∗ ∼= L2(I, V ∗).

Insgesamt ist also

u ∈W 1,2,2(I, V, V ∗) → C(I , H).

Dann gilt fur w ∈ V und ϕ ∈ C1(I) mit ϕ(T ) = 0 einerseits mit partieller Integration∫I(u(t), w)H∂tϕ(t) dt+ 〈f(t)−Au(t), w〉V ϕ(t) dt

=

∫I(u(t), w)H∂tϕ(t) + 〈dtu(t), w〉V ϕ(t) dt

= −(u(0), w)Hϕ(0)

und andererseits gilt aber (7.15). Zusammen ergibt das

(u(0), w)Hϕ(0) = (u0, w)Hϕ(0),

fur alle w ∈ V und ϕ ∈ C1(I) mit ϕ(T ) = 0. Fur ϕ mit ϕ(0) 6= 0 folgt mit der Dichtheitder Einbettung V → H schließlich

u(0) = u0 in H.

Insgesamt hat der schwache Grenzwert u die folgenden Eigenschaften:

1. u liegt in L2(I, V ) ∩ L∞(I,H),

2. Fur alle Testfunktionen w ∈ V und ϕ ∈ C∞0 (I) erfullt u die schwache Formulierung

−∫I(u(t), w)H∂tϕ(t) dt+

∫I〈Au(t), w〉V ϕ(t) dt =

∫I〈f(t), w〉V ϕ(t) dt,

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7.4 Konvergenz des Galerkin-Verfahrens

3. Die verallgemeinerte Zeitableitung dtu liegt in L2(I, V ∗).

4. Fur den Anfangswert gilt u(0) = u0 in H.

Damit ist u ∈ W 1,2,2(I, V, V ∗) → C(I , H) aber eine schwache Losung der linearenWarmeleitungsgleichung im Sinne von Definition 7.7.

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8 Nichtlineare elliptische Probleme und derSchaudersche Fixpunktsatz

Bevor wir zum Existenzsatz fur die nichtlineare Warmeleitungsgleichung (7.1) kommen,wollen wir ein Existenzresultat fur ein nichtlineares elliptisches Modellproblem der Form

−div (A∇u) = f(u) in Ω,

u = 0 auf ∂Ω,(8.1)

unter bestimmten Voraussetzungen an A und f beweisen.Die Struktur dieses Beweises lasst sich dann auf den Existenzbeweis fur die nichtlinea-re Warmeleitungsgleichung ubertragen, ist aber im elliptischen Fall technisch wenigeraufwandig. Der Existenzbeweis fur (8.1) besteht aus den folgenden Schritten:

• Linearisierung: Nachdem wir passende Wachstumsbedingungen an f formulierthaben, wahlen wir eine Funktion v, deren genaue Eigenschaften wiederum von derStruktur von f abhangen, und betrachten zunachst das (in u) lineare Probleme

−div (A∇u) = f(v) in Ω,

u = 0 auf ∂Ω.(8.2)

• Lax-Milgram: Die Funktion wird so gewahlt sein, dass (8.2) mit Hilfe des Lemmasvon Lax-Milgram eindeutig losbar ist.

• Nichtlinearer Losungsoperator: Die Zuordnung v 7→ u, die die Linearisierungauf die eindeutige schwache Losung von (8.2) abbildet, definiert einen nichtlinearenOperator

T : X → X,

wobei X ein dem Problem angepasster Banachraum ist. A-priori Abschatzungenfur u liefern uns eine Kugel BR(0) ⊂ X, so dass gilt

T : BR(0)→ BR(0).

• Kompaktheit und Schauderscher Fixpunktsatz: Wir zeigen, dass der obendefinierte Operator T kompakt ist. Der Schaudersche Fixpunktsatz liefert dann

u ∈ BR(0) ⊂ X mit Tu = u.

Dieser Fixpunkt wird die schwache Losung des nichtlinearen Problems (8.1) sein.

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8 Nichtlineare elliptische Probleme und der Schaudersche Fixpunktsatz

8.1 Zwei Varianten des Schauderschen Fixpunktsatzes

Bevor wir die einzelnen Punkte abarbeiten, geben wir zwei Varianten des SchauderschenFixpunktsatzes an.

Theorem 8.3 (Schauderscher Fixpunktsatz I)

Sei T : M ⊆ X → M stetig, wobei X ein Banachraum und M eine nichtleere, konvexe,kompakte Teilmenge ist. Dann hat T einen Fixpunkt.

Beweis. Siehe [Ruz04].

Mitunter ist es einfacher die Kompaktheit eines Operators zu zeigen, als die Kompaktheiteiner Teilmenge eines unendlichdimensionalen Banachraums zu begrunden. Die folgendealternative Variante des Schauderschen Fixpunktsatzes ist daher im Hinblick auf Anwen-dungen oft nutzlicher.Zunachst sei daran erinnert, dass ein Operator zwischen Banachraumen X,Y kompaktheisst, falls T stetig ist und beschrankte Mengen in X auf relativkompakte Mengen inY abbildet, wenn also die folgende Implikation gilt:

B ⊂ X beschrankt ⇒ T (B) ⊂ Y kompakt.

Die zweite Variante des Schauderschen Fixpunktsatzes lautet dann:

Theorem 8.4 (Schauderscher Fixpunktsatz II)

Ist M eine nichtleere, konvexe, abgeschlossene und beschrankte Teilmenge eines Banach-raums X und ist T : M ⊂ X →M kompakt, so hat T einen Fixpunkt.

Beweis. Siehe [Ruz04].

8.2 Struktur der Nichtlinearitat und schwache Formulierung

Die Voraussetzungen an die Daten A und f lauten:

• Die Funktion f : R→ R sei stetig und erfulle die Wachstumsbedingungen1

|f(x)| ≤ c (1 + |x|δ), δ ∈ [0, 1). (8.5)

• Die Matrix-wertige Funktion A ∈ L∞(Ω,Rn×n) sei α-elliptisch, das heisst es exis-tiere eine Konstante α > 0, so dass fur alle λ ∈ Rn gilt

n∑i,j=1

Aijλiλj ≥ α |λ|2.

1Die Wachstumsbedingung ist nicht optimal.

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8.2 Struktur der Nichtlinearitat und schwache Formulierung

Die Frage nach der passenden Linearisierung im ersten Schritt, hangt mit der Wachs-tumsbedingung an f zusammen. Da wir im zweiten Schritt das Lemma von Lax-Milgramanwenden wollen, muss die Linearisierung v moglichst so gewahlt werden, dass f(v) einFunktional auf dem naheliegenden Hilbertraum (W 1,2

0 (Ω), ‖∇·‖L2(Ω)) definiert. Nun gilt:

Lemma 8.6

Erfullt die stetige Funktion f : R → R die Wachstumsbedingung (8.5) so induziert sieeinen kompakten Operator

F : W 1,20 (Ω)→

(W 1,2

0 (Ω))∗,

〈Fv, ϕ〉W 1,2

0 (Ω):=

∫Ωf(v)ϕdx.

Beweis. Fur festes v ∈ W 1,20 (Ω) ist die Funktion f(v) : Ω → R Lebesgue-messbar, wie

man leicht mittels Approximation von v durch Treppenfunktionen sieht. Falls f(v) inL2(Ω) liegt, so folgt fur alle ϕ ∈W 1,2

0 (Ω) die Abschatzung

〈Fv, ϕ〉W 1,2

0 (Ω)≤ ‖f(v)‖L2(Ω) ‖ϕ‖L2(Ω) ≤ c ‖f(v)‖L2(Ω) ‖ϕ‖W 1,2

0 (Ω)

mit der Holderschen Ungleichung sowie der Poincare-Ungleichung. Aber dann folgt

‖Fv‖(W 1,2

0 (Ω))∗ = sup‖ϕ‖

W1,20 (Ω)

≤1|〈Fv, ϕ〉

W 1,20 (Ω)

| ≤ c ‖f(v)‖L2(Ω). (8.7)

Somit ist F wohldefiniert falls f(v) ∈ L2(Ω) gilt. Mit Hilfe der Wachstumsbedingung anf und der Minkowski- und Holder-Ungleichung sehen wird aber

‖f(v)‖L2(Ω) =(∫

Ω|f(v)|2 dx

)1/2≤(∫

Ω(1 + |v|δ)2 dx

)1/2

≤ c(∫

Ω1dx

)1/2+ c

(∫Ω

1 |v|2δ dx)1/2

≤ c(Ω) + c(Ω, δ) ‖v‖δL2(Ω)

≤ c+ c ‖v‖δW 1,2

0 (Ω).

Wir kommen nun zur Kompaktheit von F . Sei dazu (vn)n∈N ⊂ W 1,20 (Ω) eine Folge mit

limn→∞ vn = v in W 1,20 (Ω). Dann konvergiert eine Teilfolge (vnk)k∈N fast uberall in Ω

gegen v. Da f stetig ist gilt fur k →∞

f(vnk)→ f(v) fast uberall in Ω.

Andererseits folgt aus der Wachstumsbedingung (8.5) zusammen mit dem verallgemei-nerten Satz von Lebesgue dann

limk→∞

f(vnk) = f(v) in L2(Ω).

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8 Nichtlineare elliptische Probleme und der Schaudersche Fixpunktsatz

Da diese Argumentation fur jede konvergente Teilfolge von (vn)n∈N gilt, muss schon

limn→∞

f(vn) = f(v) in L2(Ω)

gelten. Aus der Abschatzung (8.7) ergibt sich dann sofort die Stetigkeit von F . Bleibtzu zeigen, dass F in W 1,2

0 (Ω) beschrankte Mengen auf relativ kompakte Mengen in

(W 1,20 (Ω))∗ abbildet. Sei dazu (vn)n∈N ⊂ W 1,2

0 (Ω) eine beschrankte Folge2. Nach demSatz von Rellich gilt die kompakte Einbettung

W 1,20 (Ω) →→ L2(Ω).

Daher existiert eine Teilfolge (vnk)k∈N ⊂ (vn)n∈N und v ∈ L2(Ω), so dass gilt

limk→∞

vnk = v in L2(Ω). (8.8)

Wie im Beweis der Stetigkeit von F folgt dann aber andererseits limk→∞ f(vnk) = f(v)in L2(Ω) und damit auch

limk→∞

Fvnk = Fv in(W 1,2

0 (Ω))∗. (8.9)

Damit ist F kompakt.

Bemerkung 8.10

Der Beweis zeigt, dass F auch wohldefiniert und stetig auf L2(Ω) ware.

Wir definieren als nachstes eine von A induzierte stetige Bilinearform

Lemma 8.11

Sei A ∈ L∞(Ω,Rn×n) eine α-elliptische Matrix-wertige Funktion. Dann definiert

a : W 1,20 (Ω)×W 1,2

0 (Ω)→ R,

a(u, ϕ) :=

∫ΩA∇u · ∇ϕdx =

n∑i,j=1

∫ΩAij ∂iu ∂jϕdx,

eine stetige, bilineare, α-koerzive Abbildung.

Beweis. Die Bilinearitat von a(·, ·) ist klar und die Stetigkeit von a(·, ·) folgt sofort ausder Holder-Ungleichung unter Verwendung der Tatsache, dass A ∈ L∞(Ω,Rn×n) gilt.Die α-Koerzivitat von a(·, ·) ist eine Konsequenz der α-Elliptizitat von A, denn fur alleu ∈W 1,2

0 (Ω) gilt:

a(u, u) =n∑

i,j=1

∫ΩAij ∂iu ∂ju dx ≥ α

∫Ω‖∇u‖2 dx = α ‖u‖2

W 1,20 (Ω)

2Wir konnen an dieser Stelle mit Folgenkompaktheit argumentieren, weil in Banachraumen Folgen- undUberdeckungskompaktheit aquivalent sind.

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8.2 Struktur der Nichtlinearitat und schwache Formulierung

Daraus folgt sofort

lim‖u‖

W1,20 (Ω)

→∞

a(u, u)

‖u‖W 1,2

0 (Ω)

=∞.

Definition 8.12 (Schwache Form des linearisierten Problems)

Die schwache Formulierung des mittels v ∈W 1,20 (Ω) linearisierten Problems (8.2) lautet

nun: Finde u ∈W 1,20 (Ω), so dass fur alle Testfunktionen ϕ ∈W 1,2

0 (Ω) die Identitat

a(u, ϕ) = 〈Fv, ϕ〉W 1,2

0 (Ω)(8.13)

erfullt ist.

Bemerkung 8.14 (Aquivalente Operatorgleichung)

Analog zur Formulierung der linearen Warmeleitungsgleichung als Operatordifferential-gleichung, siehe (7.11), konnen wir die Identitat (8.13) aquivalent als Operatorglei-chung in

(W 1,2

0 (Ω))∗

schreiben. Wir definieren dazu den von der Bilinearform a(·, ·)(unter leichtem Notationsmissbrauch) induzierten Operator

A : W 1,20 (Ω)→

(W 1,2

0 (Ω))∗,

〈Au,ϕ〉W 1,2

0 (Ω):= a(u, ϕ) =

∫ΩA∇u · ∇ϕdx.

Es ergibt sich direkt aus den Eigenschaften der Bilinearform a(·, ·), dass der OperatorA : W 1,2

0 (Ω) →(W 1,2

0 (Ω))∗

linear, stetig, α-koerziv und stark monoton ist. Dabei

bedeutet die starke Monotonie von A, dass fur alle u, ϕ ∈W 1,20 (Ω) die Abschatzung

〈Au−Aϕ, u− ϕ〉W 1,2

0 (Ω)≥ α ‖u− ϕ‖2

W 1,20 (Ω)

gilt und α-Koerzivitat bedeutet, dass fur alle u ∈W 1,20 (Ω)

〈Au, u〉W 1,2

0 (Ω)≥ α ‖u‖2

W 1,20 (Ω)

gilt. Dann ist u ∈W 1,20 (Ω) eine schwache Losung von (8.2), falls die aquivalente Opera-

torgleichung

Au = Fv in(W 1,2

0 (Ω))∗

(8.15)

erfullt ist.

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8 Nichtlineare elliptische Probleme und der Schaudersche Fixpunktsatz

Bemerkung 8.16

Die Theorie monotoner Operatoren, siehe [Ruz04] und [GGZ74], beschaftigt sichmit der Losbarkeit von Operatorgleichungen fur (nichtlineare) monotone Operatoren A :X → X∗ auf einem Banachraum X. Der in dieser Theorie zentrale Existenzsatz vonBrowder-Minty kann als nichtlineare Version des Lemmas von Lax-Milgram inter-pretiert werden. Er findet seine Hauptanwendung in der Theorie schwacher Losungenelliptischer und parabolischer Differentialgleichungen, fur die der entsprechende (im All-gemeinen nichtlineare) elliptische Differentialoperator einen monotonen Operator auf ei-nem geeigneten Banachraum induziert.

8.3 Losbarkeit mittels Linearisierung und Kompaktheit

Das Lemma von Lax-Milgram liefert nun sofort die Existenz und Eindeutigkeit einerLosung des linearisierten Problems im Sinne von (8.13). Die Eindeutigkeit folgt dabeidirekt aus der α-Koerzivitat von a(·, ·), denn sind u1, u2 ∈ W 1,2

0 (Ω) schwache Losungen

zum gleichen Linearisierungsparameter v ∈ W 1,20 (Ω), so folgt zunachst aus der Bilinea-

ritat von a(·, ·)

a(u1 − u2, ϕ) = 〈Fv − Fv, ϕ〉W 1,2

0 (Ω)= 0

fur alle ϕ ∈W 1,20 (Ω). Mit ϕ := u1−u2 folgt dann die Eindeutigkeit aus der Abschatzung

α ‖u1 − u2‖2W 1,20 (Ω)

≤ a(u1 − u2, u1 − u2) = 0,

so dass wir den zweiten Schritt unseres Existenzbeweises erledigt haben.Fur den dritten Schritt definieren wir zunachst X := W 1,2

0 (Ω) und den nichtlinearenOperator

T : X → X,

Tv =: u,

wobei u ∈ W 1,20 (Ω) die nach Schritt zwei eindeutige Losung des mittels v ∈ W 1,2

0 (Ω)linearisierten Problems (8.2) bezeichnet. Der nachste Schritt besteht im Nachweis derExistenz einer abgeschlossenen Kugel BR(0) ⊂W 1,2

0 (Ω), so dass gilt

T : BR(0)→ BR(0).

Die α-Koerzivitat der Bilinearform a(·, ·) impliziert

α ‖u‖2W 1,2

0 (Ω)≤ a(u, u) = 〈Fv, u〉

W 1,20 (Ω)

≤ c‖Fv‖(W 1,2

0 (Ω))∗‖u‖W 1,20 (Ω)

.

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8.3 Losbarkeit mittels Linearisierung und Kompaktheit

Mit (8.7) und (8.8) folgt daraus

‖Tv‖W 1,2

0 (Ω)= ‖u‖

W 1,20 (Ω)

≤ c/α+ c/α ‖v‖δW 1,2

0 (Ω).

Es gilt also T : BR(0)→ BR(0), falls wir R > 0 so gross wahlen, dass gilt

c/α+ c/αRδ ≤ R (8.17)

Nach Voraussetzung ist aber δ ∈ [0, 1) und somit existiert ein R0 so dass (8.17) furalle Radien R ≥ R0 erfullt ist. Um nun im vierten Schritt mit der zweiten Variantedes Schauderschen Fixpunktsatzes, siehe Theorem 8.4, auf die Existenz eines Fixpunktesschließen zu konnen, mussen wir die Kompaktheit von T nachweisen. Wir werden jedochgleich sehen, dass T die Kompaktheitseigenschaften des in Lemma 8.6 definierten Ope-rators F erbt. Sei dazu (vn)n∈N ⊂ W 1,2

0 (Ω) eine Folge mit limn→∞ vn = v in W 1,20 (Ω).

Wir mussen zeigen, dass fur n→∞ dann auch

un = Tvn → u = Tv in W 1,20 (Ω) (8.18)

folgt. Mit Hilfe der Operatorschreibweise (8.15) gilt zunachst fur alle n ∈ N

Aun = A(Tvn) = Fvn in(W 1,2

0 (Ω))∗.

Dank der Stetigkeit von F , siehe Lemma 8.6, sowie der Stetigkeit des von der Bilinearforma(·, ·) induzierten Operators A, konnen wir jedoch in dieser Identitat zum Grenzwertn→∞ ubergehen und erhalten

Au = Fv in(W 1,2

0 (Ω))∗.

Nach Definition des Operators T lesen wir aus dieser Gleichung die Gultigkeit von (8.18)ab, das heisst insbesondere ist T stetig. Sei nun (vn)n∈N ⊂ W 1,2

0 (Ω) beschrankt. DaF beschrankte Mengen auf relativ kompakte Mengen abbildet, existiert eine Teilfolge(vnk)k∈N ⊂ (vn)n∈N und v ∈W 1,2

0 (Ω), so dass gilt

limk→∞

Fvnk = Fv in(W 1,2

0 (Ω))∗.

Mit der gleichen Argumentation wie oben konnen wir in der fur alle k ∈ N geltendenIdentitat

Aunk = Fvnk in(W 1,2

0 (Ω))∗

zum Grenzwert k →∞ ubergehen und erhalten daher analog wie davor

limk→∞

Tvnk = Tv in W 1,20 (Ω).

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8 Nichtlineare elliptische Probleme und der Schaudersche Fixpunktsatz

Mithin ist T kompakt und hat aufgrund von Theorem 8.4 einen Fixpunkt u ∈ BR(0) ⊂W 1,2

0 (Ω). Aber dann gilt per Definition

Au = A(Tu) = Fu in(W 1,2

0 (Ω))∗,

was wir fur alle Testfunktionen ϕ ∈W 1,20 (Ω) aquivalent schreiben konnen als

〈Au,ϕ〉W 1,2

0 (Ω)= a(u, ϕ) = 〈Fu, ϕ〉

W 1,20 (Ω)

.

Insgesamt ist u ∈ W 1,20 (Ω) somit eine schwache Losung des nichtlinearen elliptischen

Problems (8.1).

104

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

In diesem Kapitel wollen wir das Existenzresultat fur die lineare Warmeleitungsgleichungaus Kapitel 7 auf eine nichtlineare Warmeleitungsgleichung der Form

∂tu−∆u = f(u) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω

(9.1)

ubertragen.Im Unterschied zur linearen Warmeleitungsgleichung (7.2), enthalt (9.1) einen nichtlinea-ren Term niederer Ordnung. Beim Versuch den Existenzsatz, den wir mittels Galerkin-Approximation gefuhrt haben, auf den nichtlinearen Fall zu ubertragen, entsteht dieSchwierigkeit, im Galerkin-System zum Grenzwert uberzugehen. Der Grund dafur be-steht in der Tatsache, dass die schwache Konvergenz der Galerkinlosungen im Allge-meinen nicht ausreicht, um den Grenzwert der Folge (f(un))n∈N zu identifizieren. DieLosung dieses Problems besteht nun darin, mit Hilfe einer zusatzlichen Abschatzungder Zeitableitungen der Galerkinlosungen, das Kompaktheitslemma von Aubin-Lions insSpiel zu bringen, um schließlich starke Konvergenz der Approximationslosungen zu er-halten. Dieser Zugang wird in [Ruz04] ausfuhrlich im Kontext der instationaren Varianteder Theorie monotoner Operatoren behandelt.Wir wollen hier einen alternativen Zugang wahlen, der auf einer Kombination von Ab-schneiden und Linearisierung der Nichtlinearitat mit dem Schauderschen Fixpunktsatzberuht. Im Detail bedeutet das, dass wir zunachst f durch eine beschrankte Folge (fk)k∈Napproximieren und fur festes k ∈ N die Funktion fk mittels ξ ∈ Lq(I,B), wobei q und Bnoch zu bestimmen sein werden, linearisieren. Das in u lineare Problem

∂tu−∆u = fk(ξ) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω

(9.2)

besitzt nach dem Existenzresultat fur die lineare Warmeleitungsgleichung eine eindeutigeschwache Losung u = uk. Fur festes k ∈ N definiert die Abbildung

ξ 7→ uk

105

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

einen nichtlinearen Operator Tk zwischen Teilmengen von geeigneten Bochnerraumen.Ein Fixpunkt von Tk ist dann eine schwache Losung des Problems

∂tuk −∆uk = fk(uk) in I × Ω,

uk = 0 in I × ∂Ω,

uk(0) = u0 in Ω.

(9.3)

Fur k → ∞ konvergiert die Folge (uk)k∈N schließlich gegen eine schwache Losung von(9.1).

9.1 Struktur der Nichtlinearitat

Wie auch im vorangegangenen Kapitel, bestimmt die Struktur der Nichtlinearitat we-sentlich die Wahl der Funktionenraume und insbesondere der Menge M , auf die derLosungsoperator Tk wirkt, siehe auch Theorem 8.4.Um ein optimales Kompaktheitsresultat fur unseren Existenzsatz zu erhalten, stellen wirnun einige Forderungen an f und verknupfen diese anschließend mit einigen Folgerungenaus dem Lemma von Aubin-Lions.

• Wachstum: Die stetige Funktion f : R→ R erfulle die Wachstumsbedingung

|f(x)| ≤ c (1 + |x|r−1) (9.4)

fur ein r ∈ [1,∞).

• Koerzivitat: Es gelte

supx∈R

f(x)x ≤ 0. (9.5)

Bemerkung 9.6

Es ist auch moglich zeitabhangige Nichtlinearitaten f zuzulassen, die eine sogenannteCaratheodory-Bedingung erfullen. Die Koerzivitatsbedingung (9.5) ist entscheidendfur spatere a priori Abschatzungen, kann aber auch noch verallgemeinert werden.

Wie bei der elliptischen Gleichung (8.1), induziert die Funktion f wieder einen Operator,der unter zusatzlichen Annahmen uber r, den raumW 1,2

0 (Ω) in seinen Dualraum abbildet.

Proposition 9.7 (F stationar)

1. Der nichtlineare Operator

F : Lr(Ω)→ Lr′(Ω) ∼=

(Lr(Ω)

)∗,

〈F u, v〉Lr(Ω) :=

∫Ωf(u) v dx

ist stetig und beschrankt.

106

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9.2 Fortsetzung des induzierten Operators

2. Fur r ≤ 6 ist der nichtlineare Operator

F : W 1,20 (Ω)→

(W 1,2

0 (Ω))∗,

〈F u, v〉W 1,2

0 (Ω):=

∫Ωf(u) v dx

stetig und beschrankt.

3. Fur r < 6 ist F kompakt.

Beweis. Der Beweis verlauft vollig analog zum Beweis von Lemma 8.6, wenn man dendort verwendeten Rellichschen Einbettungssatz an den entsprechenden Stellen durchden allgmeinen Sobolevschen Einbettungssatz ersetzt: Ist Ω ⊂ Rd, d ≥ 1, ein be-schranktes Gebiet mit Lipschitz-Rand, und ist 1 ≤ p < d so gilt fur alle 1 ≤ q ≤ p∗ :=dpd−p die stetige Einbettung

W 1,p(Ω) → Lq(Ω) (9.8)

Fur alle 1 ≤ q < p∗ ist die Einbettung (9.8) kompakt.

Bemerkung 9.9

Der optimale Einbettungsexponent p∗ = dpd−p wird manchmal auch als Sobolev-Exponent

bezeichnet. In unserem Fall ist 2∗ = 3·23−2 = 6.

9.2 Fortsetzung des induzierten Operators

Den in der vorangegangenen Proposition definierten Operator wollen wir zu einem kom-pakten Operator auf einem der Wachstumsbedingung (9.4) angepassten Bochnerraumfortsetzen. Es sei an dieser stelle noch einmal daran erinnert, dass die kompakte Einbet-tung

W 1,20 (Ω) →→ Lr(Ω), 1 ≤ r < 6

nicht die Kompaktheit der stetigen Einbettung

Lq(I,W 1,20 (Ω)) → Lq(I, Lr(Ω)), 1 < q <∞, 1 ≤ r < 6,

nach sich zieht. Wir konnen diese Problem losen, indem wir F auf einem Teilraum vonLq(I,W 1,2

0 (Ω)), q passend, definieren und das Lemma von Aubin-Lions verwenden. Ge-nauer gesagt wollen wir zur Warmeleitungsgleichung passende Raume X,Y und Expo-nenten p, q finden und F dann fortsetzen zu

F : W 1,p,q(I,X, Y )→ Lr′(I, Lr

′(Ω)) ⊂

(W 1,p,q(I,X, Y )

)∗.

107

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

Die Kompaktheit von F wird eine Folgerung der vom Lemma von Aubin-Lions impli-zierten kompakten Einbettung

W 1,p,q(I,X, Y ) →→ Lr(I, Lr(Ω))

sein. Man sieht an dieser Stelle auch, dass das Kompaktheitslemma von Aubin-Lionsim parabolischen Fall die Rolle des Rellichschen Einbettungssatzes aus der elliptischenTheorie ubernimmt.Bevor wir zu den Details kommen, sei noch einmal an die kanonischen Raume fur die li-neare Warmeleitungsgleichung erinnert. Eine schwache Losung zu Daten f ∈ L2(I, L2(Ω))und u0 ∈ L2(Ω) ist eine Funktion u ∈ L2(I,W 1,2

0 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)), die die schwacheFormulierung

−∫I(u(t), ηt(t))L2(Ω) dt+

∫I〈Au(t), η(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt =

∫I(f(t), η(t))L2(Ω) dt (9.10)

fur alle ϕ ∈ C∞0 (I) und w ∈W 1,20 (Ω) sowie die Anfangsbedingung

u(0) = u0 in L2(Ω),

erfullt. Wir hatten im Existenzbeweis gezeigt, dass fur eine schwache Losung automatisch

dtu ∈(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗ ∼= L2(I,W 1,2

0 (Ω)∗)

gilt, und dass die Raume(W 1,2

0 (Ω), L2(Ω),W 1,20 (Ω)∗

)in naturlicher Weise ein Gelfand-

Tripel bilden. Eine naheliegende Wahl fur W 1,p,q(I,X, Y ) ware daher der Raum

W := W 1,2,2(I,W 1,20 (Ω),W 1,2

0 (Ω)∗) =u ∈ L2(I,W 1,2

0 (Ω))∣∣ dtu ∈ (L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗

.

Da die Einbettung W 1,20 (Ω) → L2(Ω) nicht nur stetig und dicht, sondern auch kompakt

ist, liefert das Lemma von Aubin-Lions die kompakte Einbettung

W →→ L2(I, L2(Ω)) ∼= L2(I × Ω),

was zunachst nicht zum (r − 1)-Wachstum unserer Nichtlinearitat f zu passen scheint.Um diese scheinbare Diskrepanz zu uberwinden und ein moglichst optimales Kompakt-heitsresultat zu erhalten, brauchen wir das weiter unten folgende Interpolationsresultat,mit dessen Hilfe wir das Aubin-Lions-Lemma verfeinern konnen.

Lemma 9.11

Fur alle 1 ≤ r < 2∗ = 6 ist die Einbettung

W →→ L2(I, Lr(Ω))

kompakt.

108

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9.2 Fortsetzung des induzierten Operators

Beweis. Die Behauptung folgt direkt aus dem Lemma von Aubin-Lions und der Tatsache,dass fur alle 1 ≤ r < 2∗ wegen

W 1,20 (Ω) →→ Lr(Ω) →

(W 1,2

0 (Ω))∗

die Voraussetzungen des Ehrling-Lemmas erfullt sind.

Unser Ziel ist es allerdings, eine kompakte Einbettung in den Raum Lr(I, Lr(Ω)) ∼=Lr(I × Ω) zubeweisen. Das heisst wir mussen die Integrabilitat in der Zeit tendenziellweiter erhohen. Dabei hilft uns das folgende

Lemma 9.12

Sei 1 ≤ p < d, q > 2, und Ω ⊂ Rd, d ≥ 2, ein beschranktes Gebiet mit Lipschitz-Rand.Dann gilt

Lp(I, Lq(Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)) → Lα(I, Lβ(Ω)) (9.13)

fur alle p < α <∞ und 2 < β < q mit

α ≤ pβ(q − 2)

q(β − 2)(9.14)

Beweis. Fur fast alle t ∈ I gilt

‖u(t)‖Lβ(Ω) ≤ ‖u(t)‖λLq(Ω)‖u(t)‖1−λL2(Ω)

fur 1β = λ

q + 1−λ2 , 0 < λ < 1, was man leicht mit Hilfe der Holderschen Ungleichung sieht.

Integrieren wir die α-te Potenz dieser Ungleichung bezuglich t uber I so folgt∫I‖u(t)‖αLβ(Ω) dt ≤ ‖u‖α(1−λ)

L∞(I,L2(Ω))

∫I‖u(t)‖αλLq(Ω) dt.

Die Forderung αλ ≤ p liefert schließlich die Bedingung (9.14).

Fur eine schwache Losung der linearen Warmeleitungsgleichung gilt

u ∈ L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)).

Zusammen mit dem Sobolevschen Einbettungssatz

W 1,20 (Ω) → Lr(Ω) fur alle r ≤ 2∗ = 6

liefert das obige Lemma die Einbettung

L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)) → Lα(I, Lβ(Ω))

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

fur alle 2 < α <∞ und 2 < β < 2∗ = 6 mit

α ≤ 2β(2∗ − 2)

2∗(β − 2).

Fordern wir α = β, so folgt fur alle 1 ≤ α ≤ 2 3+23 = 10

3

L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)) → Lα(I, Lα(Ω)) ∼= Lα(I × Ω).

Fur schwache Losungen gilt aber auch

u ∈W → C(I , L2(Ω)),

wobei wir fur die Einbettung Theorem 5.15 benutzt haben. Insbesondere folgt dann aberfur alle 1 ≤ α ≤ 10/3 und alle u ∈W 1,2,2(I,W 1,2

0 (Ω),W 1,20 (Ω)∗) die Abschatzung

‖u‖Lα(I×Ω) ≤ c ‖u‖W.

Folgerung 9.15 (Optimale kompakte Einbettung)

Fur alle 1 ≤ α < 10/3 gilt

W →→ Lα(I, Lα(Ω)).

Beweis. Wir wissen bereits, dass fur alle 1 ≤ r < 6

W →→ L2(I, Lr(Ω)) (9.16)

gilt. Ist daher (un)n∈N ⊂W eine beschrankte Folge, so existiert eine Teilfolge (unk)k∈N ⊂(un)n∈N und u ∈ L2(I, Lr(Ω)) derart, dass fur alle 1 ≤ r < 6 und k →∞ gilt

unk → u in L2(I, Lr(Ω)).

Wie in Lemma 9.12 folgt dann aber∫I‖unk(t)− u(t)‖αLα(Ω) dt ≤ ‖unk − u‖

4/3L∞(I,L2(Ω))

∫I‖unk(t)− u(t)‖2Lr(Ω) dt

≤ c ‖unk − u‖4/3W

∫I‖unk(t)− u(t)‖2Lr(Ω) dt

≤ C

∫I‖unk(t)− u(t)‖2Lr(Ω) dt

k→∞→ 0

und daher

limk→∞

unk = u in Lα(I, Lα(Ω)) ∼= Lα(I × Ω).

110

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9.2 Fortsetzung des induzierten Operators

Vor dem Hintergrund der letzten Resultate legen wir nun den Wachstumsparameter derNichtlinearitat f , siehe (9.4), fest auf

1 ≤ r < 10/3.

Wir werden gleich sehen, dass wir mit Hilfe dieser Forderung den oben definierten Opera-tor F , zu einem kompakten Operator auf geeigneten Bochnerraumen fortsetzen konnen.Hierbei ist insbesondere zu beobachten, dass das maximal zulassige Wachstum im Hin-blick auf Kompaktheit im Vergleich zum stationaren Fall, den wir in Proposition 9.7behandelt hatten, schwacher ausfallt!

Proposition 9.17 (Induzierter Operator)

Die stetige Funktion f : R→ R erfulle fur 1 ≤ r ≤ 10/3 die Wachstumsbedingung

|f(x)| ≤ c (1 + |x|r−1).

Dann gilt:

1. Die Funktion f induziert einen beschrankten Operator

F : L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω))→

(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

〈Fu, v〉L2(I,W 1,2

0 (Ω)):=

∫I

∫Ωf(u)v dxdt =

∫I〈F u(t), v(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt,

wobei F in Proposition 9.7 definiert ist.

2. Fur 1 ≤ r < 10/3 ist

F : W→W∗

kompakt.

3. Fur 1 ≤ r < 10/3 ist

F : Lr(I × Ω)→ Lr′(I × Ω)

beschrankt.

Beweis. Wir setzen r0 = 10/3. Dann gilt fur alle u ∈ L2(I,W 1,20 (Ω))∩L∞(I, L2(Ω)) und

alle v ∈ L2(I,W 1,20 (Ω))

〈Fu, v〉L2(I,W 1,2

0 (Ω))≤ c

∫I

∫Ωc (1 + |u|)r0−1|v|dxdt

≤ c

∫I

(1 + ‖u(t)‖r0−1

L6(r0−1)

5 (Ω)

)‖∇v(t)‖L2(Ω) dt

≤ c(

1 +

∫I‖u(t)‖2(r0−1)

L6(r0−1)

5 (Ω)dt)1/2(∫

I‖∇v(t)‖2L2(Ω) dt

)1/2

≤ c(

1 + ‖u‖L2(r0−1)(I,L

6(r0−1)5 (Ω))

)1/2‖v‖

L2(I,W 1,20 (Ω))

.

111

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

Hierbei haben wir die optimale EinbettungW 1,20 (Ω) → L6(Ω), sowie die Holder-Ungleichung

mit den Exponenten

s =dp

d− p=

3 · 23− 2

= 6 und s′ =dp

d(p− 1) + p=

6

5

benutzt. Die Beschranktheit von F folgt nun aus der Tatsache, dass mit p = 2, q = 6und r0 = 10/3, die Parameter

α = 2 (r0 − 1) und β =6(r0 − 1)

5

die Bedingung (9.14) aus Lemma 9.12 erfullen, wie man leicht durch advanced Bruch-rechnung bestatigt ;-). Damit haben wir die erste Behauptung bewiesen.Unter Beachtung der stetigen Einbettungen

W → C(I , L2(Ω)) und(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗→W∗

folgt die Wohldefiniertheit von F : W→W∗ aus der ersten Behauptung.Sei nun (un)n∈N eine Folge in W mit limn→∞ un = u in W. Wegen Folgerung 9.15,konvergiert (un)n∈N dann auch stark gegen u in Lr(I × Ω) fur alle 1 ≤ r < 10/3. EineTeilfolge (unk)k∈N ⊂ (un)n∈N konvergiert dann aber auch fast uberall in I×Ω gegen u. Dadie stetige Funktion f die Wachstumsbedingung (9.4) erfullt, liefert der verallgemeinerteSatz von Lebesgue fur k →∞

f(unk)→ f(u) in Lr′(I × Ω).

Mit dem Konvergenzprinzip erhalten wir dann aber auch

limn→∞

f(un) = f(u) in Lr′(I × Ω).

Die Stetigkeit von F sehen wir mithin aus den folgenden Abschatzung ein. Es gilt wegenW → Lr(I × Ω)

〈Fun − Fu, v〉W =

∫I〈F un − F u, v〉W 1,2

0 (Ω)dt

≤ ‖f(un)− f(u)‖Lr′ (I×Ω)‖v‖Lr(I×Ω)

≤ c ‖f(un)− f(u)‖Lr′ (I×Ω)‖v‖W

und damit

‖Fun − Fu‖W∗ ≤ c ‖f(un)− f(u)‖Lr′ (I×Ω)n→∞→ 0. (9.18)

Die Kompaktheit von F zeigt man analog mittels der Kompaktheit der Einbettung

W →→ Lr(I × Ω), 1 ≤ r < 10/3.

Damit folgt die zweite Behauptung. Die dritte Behauptung folgt schließlich ebenfalls ausder Abschatzung (9.18). Damit ist die Proposition bewiesen.

112

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9.3 Approximationssysteme

Wir haben nun endlich alle notwendigen technischen Hilfsmittel zusammen, um das Exis-tenzresultat fur die nichtlineare Warmeleitungsgleichung (9.1 formulieren zu konnen.

Theorem 9.19 (Nichtlineare Warmeleitungsgleichung: Existenz)

Sei Ω ⊂ R3 ein beschranktes Gebiet mit Lipschitz-Rand und sei I = (0, T ), T < ∞, einendliches Zeitintervall. Die stetige Funktion f : R→ R erfulle fur ein 1 ≤ r < 10/3 dieWachstumsbedingung

|f(x)| ≤ c (1 + |x|r−1).

Dann existiert fur alle u0 ∈ L2(Ω) eine Losung

u ∈W = W 1,2,2(I,W 1,20 (Ω),W 1,2

0 (Ω)∗)

der nichtlinearen Warmeleitungsgleichung (9.1). Das heißt fur alle Testfunktionen ϕ ∈C∞0 (I) und v ∈W 1,2

0 (Ω) gilt

−∫I(u(t), v)L2(Ω)∂tϕ(t) dt+

∫I〈Au(t), v〉

W 1,20 (Ω)

ϕ(t) dt =

∫I〈F u(t), v〉

W 1,20 (Ω)

ϕ(t) dt

(9.20)

und die Identitat u(0) = u0 ist in L2(Ω) erfullt.

Bemerkung 9.21

Die schwache Formulierung der nichtlinearen Warmeleitungsgleichung in (9.20), ist aqui-valent zu nichtlinearen Operatordifferentialgleichung

dtu+Au = Fu in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗

9.3 Approximationssysteme

Wie angekundigt, wollen wir den Existenzsatz in mehrere Schritte aufteilen und ei-ne Kombination von Linearisierungs- und Kompaktheitsnethoden verwenden. Der ersteSchritt besteht hierbei in einer geeigneten Linearisierung des Problems. Eine nahelie-gende Idee ware, Gleichung (9.1) zunachst um eine feste Funktion ξ ∈ Lr(I × Ω) zulinearisieren und dann die schwache Form des linearen Problems

∂tu−∆u = f(ξ) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω

zu losen, das heisst, analog zu unserem elliptischen Beispiel vorzugehen. Rechnet manfur diesen Zugang die Details durch, bekommt man spatestens beim Versuch, die Voraus-setzungen fur den Schauderschen Fixpunktsatz zu prufen, Schwierigkeiten, gleichmaßige

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

Abschatzungen fur die zur Linearisierung gehorende schwache Losung zu erhalten. Ins-besondere findet man keine Kugel BR(0) ⊂ Lr(I × Ω), so dass der LosungsoperatorT : ξ 7→ u, zu einer Selbstabbildung

T : BR(0)→ BR(0)

wird. Der Grund fur diese Schwierigkeit ist in der im Vergleich zum elliptischen Beispielkomplexeren Struktur der Nichtlinearitat begrundet.Zur Losung des eben skizzierten Problems wahlen wir eine einfache Methode um gleichmaßi-ge Abschatzungen zu erzwingen: Wir schneiden die Nichtlinearitat f geeignet ab. DerPreis, den wir dafur bezahlen mussen, ist eine weitere Approximationsstufe auf dem Wegzum endgultigen Existenzresultat in Theorem 9.19.

9.3.1 L∞-Approximation von f

Das eben erwahnte Abschneiden der Nichtlinearitat funktioniert folgnedermaßen: Furk ∈ N setzen wir

fk(x) :=

f(x), falls |f(x)| < k,

k f(x)|f(x)| , falls |f(x)| ≥ k.

(9.22)

Die Eigenschaften von fk fassen wir in dem folgenden Lemma, dessen Beweis sich direktaus den Eigenschaften von f ergibt, zusammen.

Lemma 9.23 (Eigenschaften von fk)

Fur alle k ∈ N und alle ξ ∈ Lr(Ω) gilt fk(ξ) ∈ L∞(Ω) →W 1,20 (Ω)∗ und

|fk(ξ)| ≤ |f(ξ)| ≤ c (1 + |ξ|r−1).

Die Abbildung

Fk : Lr(Ω)→ Lr′(Ω),

〈Fk ξ, v〉Lr(Ω) :=

∫Ωfk(ξ)udx,

ist stetig und beschrankt und induziert eine stetige und beschrankte Abbildung

Fk : Lr(I × Ω)→ Lr′(I × Ω),

〈Fk ξ, v〉Lr(I×Ω) :=

∫I〈Fk ξ(t), v(t)〉Lr(Ω)dt.

Wegen L2(I,W 1,20 (Ω))∩L∞(I, L2(Ω)) → Lr(I, Lr(Ω)) ∼= Lr(I×Ω) ist fur alle k ∈ N die

Abbildung

Fk : Lr(I × Ω)→(L2(I,W 1,2

0 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)))∗. (9.24)

stetig und beschrankt.

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9.3 Approximationssysteme

9.3.2 Abgeschnittenes, linearisiertes Problem: Existenz und Eindeutigkeit

Mit Hilfe der L∞-Approximation (fk)k∈N von f konnen wir in unserem ursprunglichenProblem zunachst f durch fk ersetzen. Linearisieren wir zusatzlich in fk mittels ξ ∈Lr(I × Ω), so erhalten wir in der ersten Approximationsstufe das in u lineare Problem

∂tu−∆u = fk(ξ) in I × Ω,

u = 0 in I × ∂Ω,

u(0) = u0 in Ω.

(9.25)

Lemma 9.26 (Abgeschnittenes, linearisiertes Problem: Existenz und Eindeutigkeit)

Fur alle k ∈ N und alle ξ ∈ Lr(I ×Ω) existiert eine eindeutige schwache Losung von(9.25). Das heisst, es existiert eine eindeutige Funktion u ∈ W, so dass die zu (9.25)gehorende schwache Formulierung

−∫I(u(t), ηt(t))L2(Ω) dt+

∫I〈Au(t), η(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt =

∫I〈Fk ξ(t), η(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt (9.27)

fur alle Testfunktionen η ∈ C∞0 (I,W 1,20 (Ω)) erfullt ist, und

u(0) = u0 in L2(Ω)

gilt. Außerdem gilt fur alle s ∈ I

1

2‖u(s)‖2L2(Ω) −

1

2‖u0‖2L2(Ω) =

∫ s

0〈Fk ξ(t), u(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt−∫ s

0〈Au(t), u(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt

(9.28)

und es existiert eine Konstante c(k) mit

maxt∈I‖u(t)‖L2(Ω) + ‖u‖

L2(I,W 1,20 (Ω))

≤ c(k) (9.29)

Beweis. Wegen fk(ξ) ∈ L2(I, L2(Ω)) folgt die Existenz von u ∈W mit den behauptetenEigenschaften direkt aus dem Existenzsatz fur die lineare Warmeleitungsgleichung, denwir mittels Galerkin-Approximation bewiesen hatten. Testen wir die zu (9.27) aquivalenteOperatordifferentialgleichung

dtu+Au = Fk ξ in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗

mit der Losung u ∈ W selbst, so folgt die Identitat (9.28) aus der partiellen Integrati-onsformel. Die Abschatzung (9.29) wiederum ergibt sich aus (9.28) unter Benutzung derTatsache, dass

|fk(ξ)| ≤ k fast uberall in I × Ω

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

gilt und der Young-Ungleichung mit ε.Wir zeigen noch die Eindeutigkeit der schwachen Losung u. Seien dazu (ui0, ξi)i=1,2 ∈L2(Ω)×Lr(I ×Ω) gegebene Daten und u1, u2 ∈W zugehorige Losungen. Ziehen wir dieentsprechenden schwachen Formulierungen voneinander ab und testen die Differenz mitu1 − u2 so liefert die partielle Integrationsformel fur alle Zeiten s ∈ I die Identitat

1

2‖u1(s)− u2(s)‖2L2(Ω) +

∫ s

0〈Au1(t)−Au2(t), u1(t)− u2(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt

=1

2‖u1

0 − u20‖2L2(Ω) +

∫ s

0〈Fk ξ1 − Fk ξ2(t), u1(t)− u2(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt.

Da A linear ist gilt aber∫ s

0〈Au1(t)−Au2(t), u1(t)− u2(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt

=

∫ s

0〈A(u1(t)− u2(t)), u1(t)− u2(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt

= ‖u1 − u2‖L2(0,s;W 1,20 (Ω))

Weegen der Einbettung W → Lr(I × Ω) und (9.29) ist∣∣∣ ∫ s

0〈Fk ξ1 − Fk ξ2(t), u1(t)− u2(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt∣∣∣ ≤ c(k)‖Fk ξ1 − Fk ξ2‖Lr′ (I×Ω).

Da s ∈ I beliebig war, folgt aus diesen Abschatzungen schließlich fur jedes k ∈ N

maxs∈I‖u1(s)− u2(s)‖L2(Ω) + ‖u1 − u2‖L2(I,W 1,2

0 (Ω))

≤ c(k)(‖u1

0 − u20‖2L2(Ω) + ‖Fk ξ1 − Fk ξ2‖Lr′ (I×Ω)

).

Zusammen mit der Stetigkeit von Fk ergibt diese Abschatzung die Eindeutigkeit derschwachen Losung.

Bemerkung 9.30

Die Eindeutigkeit der schwachen Losung in Lemma 9.26 kann man alternativ auch direktaus der Linearitat des Problems einsehen.

9.3.3 Fixpunktargument und abgeschnittenes Problem

Aus Lemma 9.26 folgt, dass der Losungsoperator des abgeschnittenen, linearisierten Pro-blems (9.25),

Tk : Lr(I × Ω)→ Lr(I × Ω),

ξ 7→ Tk ξ = u,

116

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9.3 Approximationssysteme

wobei u ∈ W → Lr(I × Ω) die eindeutige schwache Losung von (9.25) bezeichnet,wohldefiniert ist. Mithin liefert die a-priori Abschatzung (9.29) eine Konstante c(k) > 0,so dass Tk die abgeschlossene, beschrankte, konvexe Menge

Bk :=ξ ∈ Lr(I × Ω)

∣∣ ‖ξ‖Lr(I×Ω) ≤ c(k)

(9.31)

in sich selbst abbildet. Um nun mit Hilfe des Schauderschen Fixpunktsatzes auf dieExistenz eines Fixpunktes der Abbildung Tk schließen zu konnen, benotigen wir

Proposition 9.32 (Kompaktheit von Tk)

Fur jedes feste k ∈ N ist der Losungsoperator Tk kompakt.

Beweis. Wir zeigen zunachst die Kompaktheit von Tk. Sei dazu (ξn)n∈N ⊂ Bk eine Folgevon Linearisierungen mit zugehorigen schwachen Losungen un = Tk ξn, das heisst fur allen ∈ N gilt fur festes k ∈ N

dtun +Aun = Fk ξn in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

un(0) = u0 in L2(Ω),

Wir mussen zeigen, dass eine Teilfolge von (un)n∈N stark in Lr(I ×Ω) konvergiert. Dazustellen wir zunachst fest, dass die a-priori Abschatzung (9.29)

maxt∈I‖un(t)‖L2(Ω) + ‖un‖L2(I,W 1,2

0 (Ω))≤ c(k) (9.33)

unabhangig von n gilt. Daraus schließen wir außerdem, dass gleichmaßig in n ∈ N gilt:

‖dtun‖(L2(I,W 1,20 (Ω)))∗ = ‖Fk ξn −Aun‖(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗ ≤ 2 c(k).

Damit ist (un)n∈N beschrankt in W. Folgerung 9.15 liefert dann aber die Existenz einerin Lr(I × Ω) stark konvergenten Teilfolge von (un)n∈N. Der Operator Tk bildet alsobeschrankte Mengen auf relativ kompakte Mengen ab.Um die Stetigkeit von Tk nachzuweisen sei (ξn)n∈N ⊂ Bk eine Folge mit

limn→∞

ξn = ξ in Lr(I × Ω).

Analog zum Kompaktheitsteil des Beweises konnen wir wieder folgern, dass die Folge(un)n∈N die folgenden gleichmaßigen Abschatzungen erfullt:

maxt∈I‖un(t)‖L2(Ω) + ‖un‖L2(I,W 1,2

0 (Ω))≤ c(k) (9.34)

‖dtun‖(L2(I,W 1,20 (Ω)))∗ ≤ c(k). (9.35)

Nach Ubergang zu einer Teilfolge (unl)l∈N ⊂ (un)n∈N konnen wir in der Identitat

dtunl +Aunl = Fk ξnl in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

unl(0) = u0 in L2(Ω),

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

zum Grenzwert l→∞ ubergehen, um fur festes k ∈ N die Gleichheit

dtu+Au = Fk ξ in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

u∗ = u0 in L2(Ω),

zu erhalten, wobei u ∈ W den schwachen Grenzwert der Folge (unl)l∈N und u∗ denschwachen Grenzwert der Folge (unl(0))l∈N im L2(Ω) bezeichnet. Man beachte, dass wirhierzu sowohl die Stetigkeit von Fk als auch die schwache Stetigkeit der linearen Opera-toren A und dt ausnutzen. Analog zum Beweis der Konvergenz des Galerkinverfahrensim Kapitel uber die lineare Warmeleitungsgleichung, konnen wir wieder mit Hilfe derpartiellen Integrationsformel die Gultigkeit der Identitat

u∗ = u(0) = u0

rechfertigen. Die Kombination von (9.34) mit dem Lemma von Aubin-Lions, liefert unsdann

liml→∞

unl = liml→∞

Tk ξnl = u = Tk ξ in Lr(I × Ω).

Das ubliche Teilfolgenargument zeigt schließlich

limn→∞

un = limn→∞

Tk ξn = u = Tk ξ in Lr(I × Ω).

Da Tk : Bk → Bk kompakt ist, liefert der Schaudersche Fixpunktsatz nun die Existenzeiner Funktion uk ∈ Bk mit Tkuk = uk. Insbesondere ist uk eine schwache Losung desProblems

∂tuk −∆uk = fk(uk) in I × Ω,

uk = 0 in I × ∂Ω,

uk(0) = u0 in Ω,

(9.36)

was wir aquivalent auch durch die Operatordifferentialgleichung

dtuk +Auk = Fk uk in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

uk(0) = u0 in L2(Ω),(9.37)

ausdrucken konnen. Diese Tatsache, sowie die Eigenschaften von uk halten wir in derfolgenden Proposition fest.

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9.3 Approximationssysteme

Proposition 9.38 (Abgeschnittenes Problem: Existenz)

Fur alle k ∈ N existiert eine schwache Losung von (9.36). Das heisst, dass fur allek ∈ N eine Funktion uk ∈W existiert, so dass

−∫I(uk(t), ηt(t))L2(Ω) dt+

∫I〈Auk(t), η(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt =

∫I〈Fk uk(t), η(t)〉

W 1,20 (Ω)

dt

(9.39)

fur alle Testfunktionen η ∈ C∞0 (I,W 1,20 (Ω)) erfullt ist, und

u(0) = u0 in L2(Ω)

gilt. Außerdem gilt fur alle k ∈ N und alle s ∈ I

1

2‖uk(s)‖2L2(Ω) −

1

2‖u0‖2L2(Ω)

=

∫ s

0〈Fk uk(t), uk(t)〉W 1,2

0 (Ω)dt−

∫ s

0〈Auk(t), uk(t)〉W 1,2

0 (Ω)dt

(9.40)

und es existiert eine Konstante c mit

maxt∈I‖uk(t)‖L2(Ω) + ‖uk‖L2(I,W 1,2

0 (Ω))≤ c (9.41)

Bemerkung 9.42

Man beachte, dass wir in Proposition 9.38 ohne zusatzliche Annahmen uber die Nicht-linearitat f nur noch die Existenz einer schwachen Losung garantieren konnen. DerSchaudersche Fixpunktsatz sagt nichts uber die Eindeutigkeit des Fixpunktes aus. Ist dervon fk induzierte Operator Fk aber etwa monoton, so kann man zeigen, dass die schwa-che Losung des nichtlinearen Problems (9.36) eindeutig ist.

Beweis. Fur festes k ∈ N folgt die Existenz einer Funktion uk ∈W, die (9.37) erfullt, ausder zweiten Variante des Schauderschen Fixpunktsatzes und der Definition des OperatorsTk. Wegen uk ∈W → Lr(I × Ω) ist der Term∫

I〈Fk uk(t), uk(t)〉W 1,2

0 (Ω)dt

wohldefiniert und wir erhalten (9.40) indem wir (9.37) mit uk selbst testen und diepartielle Integrationsformel verwenden. Aus (9.40) ergibt sich dann auch leicht die vonk ∈ N unabhangige Abschatzung (9.41). Dazu definieren wir zunachst Mengen

Qk := I × Ω ∩|f(uk)| < k

,

Qck := I × Ω ∩|f(uk)| ≥ k

.

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

Aus der Definition der abgeschnittenen Funktion fk, sowie der Koerzivitatsbedingung anf folgt dann∫

I〈Fk uk(t), uk(t)〉W 1,2

0 (Ω)dt =

∫I

∫Ωfk(uk)uk dxdt

=

∫Qk

fk(uk)uk dxdt+

∫Qck

fk(uk)uk dxdt

(9.22)=

∫Qk

f(uk)uk dxdt+

∫Qck

kf(uk)uk|f(uk)|

dxdt(9.5)

≤ 0,

so dass (9.40) schließlich (9.41) impliziert.

9.4 Grenzubergang

Die wesentliche Schwierigkeit beim Grenzubergang k →∞ in (9.37) ist die Identifikationdes Grenzwerts limk→∞ Fkuk in Lr

′(I, Lr

′(Ω)).

Es gilt nun aber zunachst einerseits die gleichmaßige Abschatzung

maxt∈I‖uk(t)‖L2(Ω) + ‖uk‖L2(I,W 1,2

0 (Ω))≤ c. (9.43)

Andererseits folgt daraus, der trivialen Abschatzung |fk(uk)| ≤ |f(uk)| und der Be-schranktheit des induzierten Operators

F : L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω))→

(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗

mit Hilfe der Operatordifferentialgleichung (9.37) auch, dass gilt

‖dtuk‖(L2(I,W 1,20 (Ω)))∗ = ‖Fk uk −Auk‖(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗ ≤ 2 c.

Mithin ist (uk)k∈N beschrankt in W. Folgerung 9.15 liefert daher eine Teilfolge (ukl)l∈N ⊂(uk)k∈N, so dass gilt

liml→∞

ukl = u in Lr(I, Lr(Ω)),

wobei u den schwachen Grenzwert der in L2(I,W 1,20 (Ω)) ∩ L∞(I, L2(Ω)) beschrankten

Folge (uk)k∈N bezeichnet. Wir werden nun zeigen, dass aus den oben abgleiteten Kon-vergenzen, die starke Konvergenz

liml→∞

Fklukl = Fu in Lr′(I, Lr

′(Ω)).

Es gilt

‖Fu− Fklukl‖Lr′ (I,Lr′ (Ω)) ≤ ‖Fu− Fukl‖Lr′ (I,Lr′ (Ω)) + ‖Fukl − Fklukl‖Lr′ (I,Lr′ (Ω)),

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9.4 Grenzubergang

und wegen der Stetigkeit von F verschwindet der erste Summand fur l → ∞. Fur denzweiten Summand berechnen wir

‖Fukl − Fklukl‖r′

Lr′ (I,Lr′ (Ω))=

∫I

∫Ω|fkl(ukl)− f(ukl)|

r′ dxdt

=

∫Qkl

|fkl(ukl)− f(ukl)|r′ dxdt+

∫Qckl

|fkl(ukl)− f(ukl)|r′ dxdt

=

∫Qckl

|fkl(ukl)− f(ukl)|r′ dxdt,

wobei wir die Definition der Menge Qkl benutzt haben. Desweiteren gilt dann aber wegender Wachstumsbedingung (9.4) die Abschatzung∫

Qckl

|fkl(ukl)− f(ukl)|r′ dxdt ≤ c

∫Qckl

|f(ukl)|r′ dxdt

≤ c

∫Qckl

(1 + |ukl |

r−1)r′

dxdt

≤ c

∫Qckl

1 dxdt+ c

∫Qckl

|ukl |r dxdt.

Aus der Chebychev-Ungleichung folgt

|Qckl | ≤‖f(ukl)‖Lr′ (I,Lr′ (Ω))

kr′l

≤ c

kr′l

l→∞−→ 0,

und daher

c

∫Qckl

1 dxdt = c |Qckl |l→∞−→ 0.

Wegen lim l→∞ukl = u in Lr(I, Lr(Ω)) verschwindet auch das ubrige Integral, denn

c

∫Qckl

|ukl |r dxdt ≤ c

∫Qckl

|ukl − u|r dxdt+ c

∫Qckl

|u|r dxdtl→∞−→ 0.

Der Grenzubergang l→∞ in der Identitat

dtukl +Aukl = Fkl ukl in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

ukl(0) = u0 in L2(Ω),(9.44)

liefert zunachst

dtu+Au = Fu in(L2(I,W 1,2

0 (Ω)))∗,

u∗ = u0 in L2(Ω).(9.45)

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9 Nichtlineare Warmeleitungsgleichung

Mit Hilfe der partiellen Integrationsformel konnen wir jedoch wieder die Gultigkeit derIdentitat

u∗ = u(0) = u0 in L2(Ω)

rechtfertigen, so dass u schließlich eine schwache Losung von (9.1) im Sinne von Theorem9.19 ist.

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Literaturverzeichnis

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