Brieler Was denken die sich eigentlich dabei - dvr.de · Rechtswissenschaft, der Rechtssoziologie...

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1 Was denken die sich eigentlich dabei? Rechtsauffassung von Mehrfachtätern Paul Brieler Vortrag DVR Presseseminar ‚Recht und Regelbefolgung’ am 14. November 2011 Sehr geehrte Damen und Herren, als ich - in meiner Funktion als Verkehrspsychologe - um einen Beitrag für dieses DVR-Presseseminar angesprochen wurde, schien es mir ein Leichtes zum gestellten Thema zu referieren. Jedoch brachte die notwendige Orientierung in mir fremden Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, der Rechtssoziologie oder der Kriminologie zur Rechtsauffassung von Autofahrern, die konsequent die Verkehrsregeln missachten, inhaltlich wenig Nützliches. Die Rechtsauffassung fand ich definiert als ’die Auffassung, die das Recht und seine Auslegung betrifft’, was – zumindest auf der Ebene des Individuums - die Rechtskenntnis, das Rechtsbewusstsein, das Rechtsgefühl sowie das Rechtsethos einschließt: die Rechtskenntnis als die mentale Realisation des Inhalts bestimmter Rechtsnormen, das Rechtsbewusstsein als das Vorherrschen kognitiver Elemente (rational) in der psychologischen Erscheinungsform des Rechts, das Rechtsgefühl

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Was denken die sich eigentlich dabei? Rechtsauffassung von Mehrfachtätern

Paul Brieler

Vortrag DVR Presseseminar ‚Recht und Regelbefolgung’ am 14.

November 2011

Sehr geehrte Damen und Herren,

als ich - in meiner Funktion als Verkehrspsychologe - um einen Beitrag

für dieses DVR-Presseseminar angesprochen wurde, schien es mir ein

Leichtes zum gestellten Thema zu referieren. Jedoch brachte die

notwendige Orientierung in mir fremden Disziplinen wie der

Rechtswissenschaft, der Rechtssoziologie oder der Kriminologie zur

Rechtsauffassung von Autofahrern, die konsequent die Verkehrsregeln

missachten, inhaltlich wenig Nützliches.

Die Rechtsauffassung fand ich definiert als ’die Auffassung, die das

Recht und seine Auslegung betrifft’, was – zumindest auf der Ebene des

Individuums - die Rechtskenntnis, das Rechtsbewusstsein, das

Rechtsgefühl sowie das Rechtsethos einschließt: die Rechtskenntnis als

die mentale Realisation des Inhalts bestimmter Rechtsnormen, das

Rechtsbewusstsein als das Vorherrschen kognitiver Elemente (rational)

in der psychologischen Erscheinungsform des Rechts, das Rechtsgefühl

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als das Vorherrschen emotionaler Elemente (irrational) in der

psychologischen Erscheinungsform des Rechts, sowie das

Rechtsethos als Akzeptanz der Richtigkeit von Rechtsnormen bei Fehlen

von Rechtskenntnis und Rechtsbewusstsein.

Der Titel führt danach bereits in die Irre, beschränkt dieser doch die

Rechtsauffassung auf die kognitiven Elemente Wissen und Bewusstsein.

Berücksichtigt werden müssten die Emotionen, die immer mit

menschlichem Verhalten einhergehen und dieses wesentlich

mitbestimmen – darauf gründet z.B. die Automobilgestaltung und –

werbung, sowie die moralische Urteilsfähigkeit.

Den Beitrag, den ich zu leisten imstande bin, betrifft die massiv

auffälligen Autofahrer und, in geringerem Maße, auch die

Autofahrerinnen. (Folie Punktesystem) Hintergrund ist eine

verkehrspsychologische Tätigkeit im Rahmen

- der Moderation besonderer Aufbauseminare für Fahrer im Rahmen

des Punktesystems (§ 4 StVG, 8 bis 17 Punkte, darunter eine Fahrt

unter Alkohol- oder Drogeneinfluss)

- einer verkehrspsychologischen Beratung zum Punkteabbau

(Punktestand im VZR 14 bis 17 Punkte),

- der Beratung und verkehrstherapeutischen Intervention zur

Vorbereitung auf eine medizinisch-psychologische Begutachtung

der Fahreignung (MPU) nach Entziehung der Fahrerlaubnis nach

Erreichen von 18 Punkten im Verkehrszentralregister (VZR) u.a.

Wie ist es um das Verhalten im Straßenverkehr in Deutschland bestellt?

Eine Internetumfrage in einem ‚Forum Straßenverkehr – der Verkehrstalk

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im Web’ ergab zu der Frage ‚Wie haltet ihr euch an die Verkehrsregeln’

folgendes Ergebnis (Folie):

Knapp 3 % behaupteten, dass sie nie einen Strafzettel bekommen

könnten, da sie sich immer zu 100% an die Regeln halten. Knapp 29 %

halten sich zu 100% an die Regeln, allerdings könne es selten einmal

vorkommen, dass sie ein Schild übersehen. 50 % gaben an, häufiger

gegen Regeln zu verstoßen, solange es keine Punkte gebe (20 zu

schnell, durchgezogene Linie, o.ä.). Gut 14 % verstoßen häufiger gegen

Regeln, solange sie ihren Führerschein behalten können (40 zu schnell,

Handy am Steuer, o.ä.). Und mehr als 4 % machen ihre eigenen Regeln

und fahren wie es ihnen passt, mit der Konsequenz: ‚Wenn ich Pech

habe muss ich halt laufen’.

Viele der O-Töne aus dem Talk übrigens decken sich mit den

Äußerungen unserer Kunden.

Die Entwicklung der Eintragungen im Verkehrszentralregister in

Flensburg entsprechen der Internetumfrage: 2004 waren 7,578 Millionen

Personen im VZR erfasst, dies bedeutet zum Vorjahr einen Anstieg um 6,33%.

Dieser Anstieg fand vor allem im unteren Punktebereich (1-7 Punkte) statt, der

mittlere Punktebereich (8-13 Punkte) vergrößerte sich um 1,6 %, während es im

oberen Punktebereich (ab 14 Punkte) einen Rückgang um 0,2 % gegeben hatte.

2006 setzte sich der Rückgang in den Punktebereichen 8-13 und ab 14 Punkte

weiter fort, allerdings nahm der Anteil der Frauen weiterhin leicht zu. Die 8

Millionengrenze wurde um weitere 200.000 Neuzugänge im VZR ‚stabilisiert’. 2008

gab es insgesamt einen weiteren Anstieg um 2,5% im Vergleich zum Vorjahr. Dieser

Anstieg betraf den unteren Punktebereich (1-7 Punkte), hingegen waren die

Häufigkeiten in den höheren Punkteklassen (8-13 Punkte und ab 14 Punkte) weiter

rückläufig. Der obere Punktebereich ab 14 Punkte weist auch in 2008 wie in 2007

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lediglich 73.000 Personen auf. Insgesamt waren 2008 bereits 8,865 Millionen

Personen im VZR erfasst.

Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach Anzahl der Punkte und Geschlecht am 01.01.2011** :

% Insgesamt * Männer %

Männer insgesamt

Frauen %

Frauen insgesamt

Personen 100 8,995 Mill. 78,0 7,015 Mill. 22,0 1,976 Mill.

Ohne Punkte 19,6 1,763 Mill. 21,3 1,493 Mill. 13,5 267 Tsd.

1 - 7 Punkte 74,0 6,659 Mill. 71,4 5,005 Mill. 83,6 1,653 Mill.

à 1 Punkt 26,5 2,385 Mill. 24,4 1,710 Mill. 34,1 675 Tsd.

à 2 –3 Punkte 29,6 2,664 Mill. 28,2 1,975 Mill. 34,8 688 Tsd.

à 4 –7 Punkte 17,9 1,610 Mill. 18,8 1,320 Mill. 14,7 290 Tsd.

8 - 13 Punkte 5,1 459 Tsd. 5,8 407 Tsd. 2,5 50 Tsd.

≥ 14 Punkte 0,8 67 Tsd. 0,9 63 Tsd. 0,1 4 Tsd.

à 14-17 Punkte 0,6 53 Tsd. 0,7 50 Tsd. 0,1 3 Tsd.

à über 17 Punkte 0,2 14 Tsd. 0,2 13 Tsd. 0,0 1 Tsd.

Quelle: Jahrespressebericht 2009 des KBA vom 01.04.11

* einschließlich ohne Geschlechtsangabe, sowie zzgl. 2,657 Mio. Personen in der einjährigen Überliegefrist

** Prozentuale Verteilung gemäß Stichprobe zum VZR-Bestand vom 1.1.2010

2010 setzt sich die Zunahme fort (Folie) auf fast 9 Millionen. Insgesamt

zeigt sich die klare Tendenz: je höher die Punktehäufung desto geringer

die Anzahl betroffener Personen im VZR. Auch wenn es nach wie vor

jährlich einen leichten Anstieg der Anzahl der ‚Punktesünder’ gibt (von

2009 zu 2010 + 0,34%), findet dieser Anstieg im unteren Punktebereich

(1 - 7 Punkte) statt, wo mittlerweile 6,7 Millionen Autofahrer registriert

sind. Im mittleren Punktebereich, auf der ersten behördlichen

Eingriffsschwelle von 8 – 13 Punkten, sind knapp eine halbe Millionen

Personen vermerkt. Erfreulicherweise ist im höchsten Punktebereich (14

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und mehr) im Vergleich zum Vorjahr in 2010 ein Rückgang von -10.000

Personen zu verzeichnen, wobei hier 67.000 Personen eingetragen sind.

Die Männer sind überrepräsentiert, augenfällig im mittleren und

besonders deutlich im oberen Punktebereich.

Die im Verhältnis auffallend geringe Zahl der Mehrfachpunktetäter von

14 Punkten und mehr führt zwangsläufig zu der Annahme, dass nur

Kraftfahrer, die durchgängig gegen Verkehrsvorschriften verstoßen,

überhaupt auf mehrere Eintragungen kommen können. Dies ist umso

bedeutsamer, da bereits Personen mit einer Eintragung im Verkehrs-

zentralregister eine 70 % höhere Wahrscheinlichkeit haben, einen Unfall

zu verursachen. Die Gruppe der mit 14 und mehr Punkten Belasteten ist

viermal häufiger in Unfälle verwickelt als die Kraftfahrer ohne Eintrag.

Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach ausgewählten Regelverstößen (kumulierter Wert) und Geschlecht (2010):

% Insge-samt

Männer %

Männer insgesamt

Frauen %

Frauen insgesamt

Alkoholfahrten

15,2

1,364 Mill.

17,3

1,217 Mill.

7,4

146 Tsd.

Geschwindigkeits-

übertretungen

57,4

5,164 Mill.

57,8

4,053 Mill.

56,2

1,110 Mill.

Vorfahrtsmissach-

tung

10,1

909 Tsd.

9,1

638 Tsd.

13,7

271 Tsd.

Quelle: Jahrespressebericht 2010 des KBA vom 01.04.2011

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Analysiert man Personen im Verkehrszentralregister (VZR) nach

ausgewählten Regelverstößen (kumulierter Wert) und Geschlecht (2010)

(Folie), so zeigt sich mit weit mehr als der Hälfte aller Eintragungen (57,4

%) das Vorsatzdelikt Geschwindigkeitsübertretungen (mit 21 km/h und

mehr). 15,2 % aller Eintragungen resultieren aus Alkoholfahrten, gefolgt

von 10,2 % Missachtungen der Vorfahrt, ebenfalls ein Vorsatzdelikt.

Bezogen auf die geschlechtsspezifische Verteilung haben

verhältnismäßig mehr Frauen Probleme mit der Vorfahrt, die Männer

dagegen mit dem Alkohol.

Bei zumindest 83 % der Eintragungen im VZR kann eigentlich nicht von

mangelnder Kenntnis der Verkehrsregeln ausgegangen werden – es

handelt sich um die alltäglichen Basics eines motorisierten

Verkehrsteilnehmers! Nach unseren Erfahrungen ist gerade bei den

Mehrfachtätern eine sehr genaue Kenntnis des Verkehrsrechts

vorhanden, insoweit es sich um die punkteträchtigen

Geschwindigkeitsübertretungen, Handynutzung, Überholverbote,

Vorfahrtsregelungen, Lichtzeichenanlagen, Gurtnutzung, Änderungen

am Fahrzeug etc. geht.

Geht es um den Erhalt oder den Wiedererwerb der Fahrerlaubnis

betonen die verkehrsauffälligen Kraftfahrer besonders, dass sie sich

künftig konsequent an die Regeln zu halten gedenken. Auf Nachfrage

zeigt sich eigentlich immer, dass die Regelkenntnis in der Breite sehr

gering ist: eine beliebte Fangfrage nach der Mindestgeschwindigkeit in

geschlossenen Ortschaften wird gerne mit 50 Km/h beantwortet,

manchmal sogar mit 60 Km/h – ein Beispiel, wie mit der Zeit das

Rechtsgefühl die Rechtskenntnis zu bestimmen vermag! Weniger

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ausgeprägt ist das Wissen um das Verhalten in verkehrsberuhigten

Bereichen, in Tempo 30 – Zonen, in Fahrradstraßen, den

Mindestabstand, etc. Auch der § 1 StVO, wonach die Teilnahme am

Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht erfordert,

und sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, dass kein

anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen

unvermeidbar, behindert oder belästigt wird, ist selten erinnerlich. Diese

Grundregeln sind zudem unbestimmt formuliert, und damit der persönlich

z.T. sehr weit gefassten Interpretation unterworfen.

Hier sehe ich eine breite Gemeinsamkeit aller Autofahrer: Grundsätzlich

halten diese ihr verkehrsbezogenes Wissen für hoch. Laut einer Forsa-

Umfrage im Jahr 2010 gaben 72 % der befragten Autofahrer an, beim

Thema Verkehrsregeln topfit zu sein. Im Test dagegen wurde jede 3.

Verkehrssituation falsch eingeschätzt.

Eine Auffrischung wird nicht unbedingt als notwendig angesehen – die

entsprechenden Informationen in der ADAC-Motorwelt oder der

Tagespresse werden, weil augenscheinlich wenig relevant für die

gewohnten Fahrten, ignoriert. Oder sie werden zwar gelesen, aber: ‚Wer

kann sich all die Änderungen merken, die die sich in Berlin wieder haben

einfallen lassen?‘

Trotzdem halten sich zumindest unsere Kunden für sehr gute Autofahrer

- was auch immer diese darunter verstehen.

Erstmalig wurde auch das Alter der im VZR eingetragenen Personen

statistisch erfasst, hierbei fällt auf, dass 57,5% aller im VZR erfassten

Personen unter 44 Jahre alt sind, die verbleibenden 42,5% verteilen sich

auf die Altersgruppen ab 45 Jahre und höher. Ein ‚punkteträchtiges’

Verkehrsverhalten ist offenbar eher bei jüngeren Fahrern vorzufinden.

Bei den ganz jungen Fahrern erhöht das Anfängerrisiko in Kombination

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mit dem Jugendlichkeitsrisiko die Wahrscheinlichkeit eines die

Verkehrssicherheit gefährdenden Verhaltens signifikant. Bei den 18- bis

25-Jährigen mit einem Eintrag im VZR verdoppelt sich bereits die

Unfallwahrscheinlichkeit im Vergleich zu den gleichaltrigen unbelasteten

Fahrern. Bei 2-3 Einträgen erhöht sich das Unfallrisiko auf das 4-fache

im Vergleich zu den Gleichaltrigen ohne Eintrag.

Fahranfänger müssen bereits bei einer schwerwiegenden Eintragung an

einem Aufbauseminar in der Fahrschule teilnehmen, in 2010 waren es

immerhin xx bei xx Ersterteilungen der Fahrerlaubnis. Die Zahlen

verweisen darauf, dass auch frisch in der Fahrschule gelerntes und

geprüftes Regelwissen nicht verhaltenswirksam ist – Wissen bedeutet

nicht Tun!

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(Folie) 83%, hier die hellen Autos, aller geschätzten 53 Millionen

Fahrerlaubnisinhaber sind ohne Eintrag im Verkehrszentralregister, 17

%, hier die dunklen Autos, aller Fahrerlaubnisinhaber haben Einträge im

VZR. Nur 0,74% (hier das kleine Auto) hiervon haben „14 und mehr“

Punkte - das sind, bezogen auf alle Fahrerlaubnisinhaber, nur 0,13%

aller Fahrerlaubnisinhaber.

Das Übertreten verkehrsregelnder Bestimmungen scheint aus der Mitte

der Gesellschaft zu kommen, ist ein weit verbreitetes Phänomen,

vergleichbar vielleicht mit dem Umgang mit dem Finanzamt, der sog.

‚Steuergestaltung‘, wo nach Umfragen bis einem Viertel der

Steuerpflichtigen angeben, schon einmal Einkommen verheimlicht oder

steuerliche Abzüge überhöht angegeben zu haben. Sehr häufig hören

wir Aussagen wie: Alle fahren doch so! Man habe sich an den fließenden

Verkehr angepasst, dadurch sogar Gutes getan, indem man eben kein

Verkehrshindernis gewesen sei. „Wenn alle immer alles nach Vorschrift

machen, geht doch gar nichts mehr …“ Dieser Haltung entsprechen die

Bezeichnungen ‚Punktesünder’ oder ‚Verkehrssünderkartei‘ – mit

Erstaunen bis Empörung, dass nicht rechtzeitig Absolution erteilt worden

sei … Punkteverlosung in Flensburg

Eine Darstellung aus dem Bereich der Unfallpsychologie „macht jedoch

die Relevanz einer kritischen Betrachtung gerade von

verkehrsrechtlichen Verstößen deutlich (Folie). So kommt auf ein

auffälliges Ereignis (in der Pyramidenspitze als ‚tödlicher Unfall‘

bezeichnet) eine geradezu riesige Anzahl von sicherheitswidrigen

Verhaltensweisen. Zum Glück ereignen sich im Straßenverkehr nur

relativ wenige Unfälle mit Todesfolge. Aber auch Ereignissen mit weniger

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dramatischem Ausgang liegt eine große Anzahl von

Fehlverhaltensweisen zugrunde. Bezeichnet man (zugegeben etwas

gewagt) das Geblitzt werden in einer Radarfalle aus Sicht der

Betroffenen als ‚leichten Unfall‘, wird deutlich, wie viele

Geschwindigkeitsüberschreitungen sich hinter einem erkannten Delikt

verbergen.“ (Kiegeland 2011, 221) Abgesehen davon, dass hier ein leitender Fahreignungsgutachter in einem Fachbuch

wie selbstverständlich den Begriff der ‚Radarfalle‘ verwendet, müsste für den Bereich

des Straßenverkehrs die Pyramide erweitert werden: 100.000-mal

Ordnungswidrigkeiten (Geldbußen mit Punkten), 1.000.000-mal

Ordnungswidrigkeiten (Geldbußen ohne Punkte) und 10.000.000-mal Regel

missachtendes Verhalten.

Abb. 1: Zusammenhang zwischen Unfällen, kritischen Ereignissen und Fehlverhalten von Bamberg & Mohr (nach

Kiegeland 2011).

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Wir versuchen, die Entwicklung eines solchen Fehl-Verhaltens

lerntheoretisch zu erklären (Folie):

- Lernen am Modell, durch Beobachtung und Nachahmung (Folie):

Der Mülheimer Verkehrspsychologe Dr. Kalwitzki hat einmal

dargelegt, wie wir von Kindesbeinen an uns an den motorisierten

Individualverkehr gewöhnt haben bzw. gewöhnt wurden. Und bei

Vater und Mutter im Auto sitzend erleben, wie sich ein

Erwachsener hinter dem Steuer verhält: der Vater vielleicht in

legerer Sitzposition, eine Hand am Steuer, und, wie oben

ausgeführt, regelmäßig die Regeln eigenmächtig interpretierend!

Oder die Mutter, morgens, hektisch und unter Zeitdruck auf dem

Weg zur Arbeit noch eben bei der Schule vorbeifahrend,

schimpfend auf den vielen behindernden Verkehr. Als Jugendliche

dann wird das Verhalten in der Bezugsgruppe bedeutsam oder

vermeintlich coole Vorbilder werden nachgeahmt! Und was früher

die Carrera-Bahn gewesen ist, wird heute mit den Kumpels bei

Need for Speed ausgelebt! (Fahrlehrer-Vater in Kurs,

Fahrlehrerschein vorzeigen)

- Lernen durch die Folgen des Verhaltens (Folie): am besten

natürlich durch angenehme Folgen, wie eine positive Verstärkung,

eine Belohnung, oder das etwas Negatives aufhört: bei schnellem

Fahren z.B. Selbstbestätigung, Lust an der Geschwindigkeit oder

Verschwinden von Langeweile. Wir lernen aber auch durch

unangenehme Folgen, wie Bestrafung, Schmerzen, hohe

Anspannung, oder weil etwas Positives aufhört, z.B. beim

Fahrerlaubnisentzug (unbeschränkte Mobilität ist nicht mehr

möglich, dafür vielerlei Abhängigkeiten). Selbstverständlich treten

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bei einem Verhalten zumeist beide Varianten von Folgen auf,

positive wie negative. Für das Lernen von Verhalten ist jedoch

entscheidend, welche Variation für den Handelnden subjektiv

bedeutsamer ist.

Wichtig sind noch drei Prinzipien (Folie):

Je später eine Folge auftritt, desto geringer ist ihre Wirkung auf das

Verhalten – die Unmittelbarkeit (Zustellung des behördlichen

Schreibens mit dem kleinen schlechten Foto erst vier Wochen

nach dem Vorfall).

Je unwahrscheinlicher das Auftreten einer Folge ist, desto geringer

ist ihre Wirkung – die Wahrscheinlichkeit (fast alle meine

Übertretungen der Verkehrsregeln werden nicht entdeckt; wenn ich

dann einmal auffällig geworden bin, dann war‘s halt Pech).

Und je bedeutsamer eine Folge ist, desto größer ist ihre Wirkung –

die Bedeutsamkeit (ich baue einen Auffahrunfall im Regen,

Zeitverlust, Ärger, hohe Kosten, (noch mehr) Punkte, nur weil

meine Reifen abgefahren sind; 40,- € sind ein Klacks dafür, dass

ich ja die ganze Zeit über viel schneller voran gekommen bin …).

- Lernen durch vorausgehende Ereignisse, ein in der Regel

unbewusst ablaufender Lernprozess (Folie): immer wenn ich im

Hamburger Westen auf der Straße aufgehalten worden bin, war‘s

ein Pinneberger, das nervte total. Auf der Autobahn bei Neustadt-

Glewe taucht vor mir ein Fahrzeug mit Pennt Immer auf, an dem

muss man so schnell wie möglich vorbei, wer weiß was sonst noch

kommt, also ohne weitere Gedanken zu verschwenden trotz

Überholverbot und Geschwindigkeitsbegrenzung mit Schwung

vorbei.

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Diese drei sogenannten Lerngesetze stehen miteinander in Verbindung,

sie spielen bei jedem Verhalten eine Rolle. Jedem Verhalten (Reaktion)

geht immer ein Auslöser (Stimulus) voraus. Und hat dann eine Folge

(Konsequenz), die wiederum gleichzeitig Auslöser für das nächste

Verhalten ist, usw. Also der Zurechtweisung durch den Disponenten,

jetzt mal hinne zu machen (Auslöser) folgt ein beschämtes, ängstliches

Schlucken (Verhalten), mit der Folge niedergeschlagen zu sein, sich

schlecht zu fühlen, Angst um den Arbeitsplatz (gute Schicht, neue

Aufträge) zu haben. Das löst Verunsicherung aus, Ärgergefühle, …

Das Punktsystem wirkt anscheinend bei vielen Autofahrern, es wirkt

abschreckend. Der Lernerfolg nach den ersten Punkten ist doch so, dass

die antizipierten negativen Folgen die zu großzügigen subjektiven

Regelauslegungen insoweit beeinflussen, dass zumindest die höheren

Punkteränge nicht mehr erreicht werden. Prinzipiell sind der

überwiegende Teil der Autofahrer zur Einhaltung von Regeln eben doch

befähigt. Auch die Mehrfachtäter, wobei diese allerdings allzuoft ihr

selbst aufgestelltes System mit extremen Regeln befolgen!

Schaut man sich die Auszüge aus dem Verkehrszentralregister z.B. im

Rahmen der Verkehrspsychologischen Beratung (ab 14 Punkte) an, stellt

man fest, dass niemand an derselben Stelle noch einmal aufgefallen ist.

Aus der negativen Folge wird zumindest gelernt, zukünftig genau dort

regelgerecht zu fahren. Eine Generalisierung dagegen findet bei den

Problemfällen nicht statt. Nicht nur dies spricht für eine deutlich stärkere

und konsequentere Überwachung, und zwar gerade der

gefahrenträchtigen Verstöße: die kommunale Parkraumüberwachung ist

vielerorts ein vielfaches intensiver als die

Geschwindigkeitsüberwachung!

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Ergebnisse einer Wirksamkeitsuntersuchung eines Kurses zur

Wiederherstellung der Kraftfahreignung belegen zum einen, dass wir es

mit verschiedenen Problemgruppen zu tun haben (Folie): überwiegend

reine Punktetäter (ca. 40 %), ein Drittel Aggressionstäter bzw. Straftäter,

und jeweils zu ca. 12% Auffällige in der Probezeit und Punktetäter, die

auch mit Alkohol und/oder Drogen aufgefallen sind; innerhalb dieser

Gruppen müssten auch noch heterogene Tatprofile unterschieden

werden.

(Folie) Nur 16 % der Teilnehmer war älter als 40 Jahre, über die Hälfte

dagegen 30 Jahre und jünger! (Folie) Es handelte sich überwiegend um

Männergruppen! „Ja, ich habe mehr Unfälle verursacht, auch mehr

Ordnungswidrigkeiten begangen als meine Frau. Wenn man aber

genauso berücksichtigen würde, dass ich dreimal so viel fahre wie sie,

sähe die Statistik wohl ganz anders aus.“ So kommentierte Werner

Frömming aus Verlbert jüngst in der ADAC Motorwelt eine Meldung, das

Frauen laut Sündenregister in Flensburg weniger Ordnungswidrigkeiten

und Straftaten im Straßenverkehr begehen als Männer. Ein sehr häufig

gehörtes Erklärungsmuster verbirgt sich dahinter: Wer viel fährt, muss

zwangsläufig viele Fehler machen.

(Folie) Fast 80% verfügten über einen einfachen bis mittleren

Bildungsabschluss, 12% hatten Abitur. Das bedeutet aber nicht, dass

Fahrer mit Abitur sich eher an die Regeln halten – vielmehr ist bei dem

damals noch durch die Fahrerlaubnisbehörden angewendeten

Rechtskraftsprinzip davon auszugehen, dass diese eher über das

Wissen und die Ressourcen verfügen, gegebene Möglichkeiten zur

Abwendung rechtlicher bzw. behördlicher Maßnahmen zu nutzen. Oder

sich doch unter dem Druck drohender behördlicher Maßnahmen zu einer

temporären Modifizierung ihrer Regeln herabgelassen haben.

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(Folie) Bei den Rückfallquoten zeigte sich deutlich, dass die reinen

Punktetäter in den drei Jahren nach der Maßnahme am wenigsten

hatten profitieren können, 72% hatten eine neue Eintragung, und fast

30% hatten 7 und mehr Punkte auf ihr zuvor leeres Punktekonto

gesammelt. Begünstigt sicherlich durch die Erwartung, bevor 8 Punkte

erreicht sind, würde die Fahrerlaubnisbehörde nicht tätig werden. Ähnlich

wie bei der Fahrerlaubnis auf Probe sollte bei einer Neuerteilung nach

Entzug die behördliche Eingriffsschwelle deutlich abgesenkt werden.

(Folie) Interessant, und nicht unerwartet, ein weiteres Ergebnis: Je höher

die Leistung des früher gefahrenen Fahrzeugs, desto wahrscheinlicher

eine erneute Auffälligkeit. Nur bei einer erneuten Entziehung fiel die

Quote der über 150 kW – motorisierten Fahrer am geringsten aus, was

die oben geäußerte Vermutung der Bedeutung des Bildungsgrads um

die Bedeutung der sozioökonomischen Leistungsstärke erweitert.

Hier kommen wir zu weiteren Erklärungsansätzen für eine abweichende

Karriere im Straßenverkehr:

- Glaubenssätze: alle anderen haben genauso viele Punkte wie ich

auch, oder sogar noch mehr – ich bin also gar nichts besonders,

ich bin wie die anderen auch ein Opfer der Verhältnisse, der

Wegelagerei, der Staat braucht eben Geld, das holt er sich bei mir,

der Melkkuh der Nation …

- Oder der Glaubenssatz: Schnell bringt mehr Geld, bei Taxifahrern

oder Kurierfahrern öfters gehört, wobei letztere unter z.T

erbärmlichen finanziellen Rahmenbedingungen liefern müssen.

- Oder: Das Leben ist ein immerwährender Kampf! Ich bin

erfolgreich, wenn ich ein Geschäft abgeschlossen habe, und

meinem Konkurrenten den Auftrag weggeschnappt habe. Und

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wenn ich durch gewagtes Überholen einen Platz weiter nach vorne

gekommen bin … So ist eben die Leistungsgesellschaft …

- Oder: Ich schaffe alles, ich habe alles im Griff! Auffällige mit

diesem Lebensmotto haben in der Regel eine zu enge Zeitplanung

bei völlig unrealistischer Einschätzung der notwendigen

Fahrtdauer. Zeitpuffer sind vertane Lebenszeit, auch weil sie mit

der vermeintlich entstehenden Leere so gar nichts anzufangen

wissen.

- Sensation seeking: die Lust am extremen, riskanten Autofahren,

wie z.B. die Teilnahme an illegalen Autorennen oder der Versuch,

auf der linken Autobahnspur konsequent die 250 km/h zu halten,

zeigt ein gelassenes Verhältnis zum eigenen Überleben und

verweist auf latente Suizidalität (die dann häufig unter

Alkoholeinfluss zu realisieren versucht wird).

- Autofahrer, die von Recht und Gesetz gar nichts halten, und die

bereits auf eine Vielzahl anderer krimineller Delikte und

entsprechende Verurteilungen zurückblicken können. Prof.

Schubert hat auf dem letzten DVR – Presseseminar ausführlich zu

dissozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen Stellung

genommen: bei mangelnder Fähigkeit zur Perspektivenübernahme

bleiben diese auf einer der beiden unteren Stufen in der

Entwicklung des moralischen Urteilens stehen: ich unterwerfe mich

dem Mächtigeren bzw. ‚Wie du mir so ich dir’. Der Straßenverkehr

als notwendig soziale Veranstaltung mutiert für diesen

Personenkreis zu einem Raum für die Durchsetzung eigener

Interessen, es geht um Macht - Verkehrsschilder haben darin

vielleicht noch einen dekorativen Wert …

- Zu nennen sind auch diejenigen, die vom Recht vermeintlich sehr

viel halten. Wenn sie das Gefühl haben, der andere habe sie nicht

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geachtet oder habe ihnen Unrecht getan, sind sie bereit, das Recht

in die eigenen Hände zu nehmen, z.B. andere Fahrer

auszubremsen oder zu bedrohen – „Ich wollte ihn nur zur Rede

stellen und darauf hinweisen …“.

- Mangelnde Impulskontrolle aufgrund einer ADHS ist nicht nur bei

vielen jungen Fahrern festzustellen, sondern auch bei älteren: sie

fahren unaufmerksam, lassen sich leicht ablenken, ärgern sich

schneller, sind angespannt, und werden häufig auch aufgrund von

Selbstmedikationsversuchen alkoholisiert oder nach

Drogenkonsum im Straßenverkehr auffällig.

All diese denken sich nichts weiter dabei, sie fahren wie sie leben, d.h.

auch in anderen Lebensbereichen werden sich ähnliche Verhaltens- und

Einstellungsmuster finden! Schwierigkeiten und Folgen werden selektiv

wahrgenommen, kognitiv Dissonantes wird passend argumentiert. Ein

Unrechtsbewusstsein ist nur selten festzustellen.

Im gerade veröffentlichten Verkehrssicherheitsprogramm 2011 wird die

Einhaltung der Verkehrsregeln als elementare Grundvoraussetzung für

einen sicheren Straßenverkehr benannt. Richtigerweise wird bei den

zuständigen Bundesländern die erforderliche Überwachung und

Sanktionierung von Verstößen angemahnt, ohne die das notwendige

Umlernen geringe Realisierungschancen hat. Hier beschleicht mich

jedoch nicht nur gelegentlich das Gefühl, eine gesamtgesellschaftliche

Koalition aus Autofahrern verhindert erfolgreich entsprechende

Versuche, und freut sich insgeheim, dass die Überwachungstätigkeit im

Navigationsgerät oder Radio enttarnt wird.

Für Regelakzeptanz zu werben halten wir nicht nur bei dem hier zur

Rede stehenden kleinen Kreis der Mehrfachtäter für wenig

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aussichtsreich. Für die vielen anderen wären verstärkt Angebote zur

freiwilligen Regelauffrischung zu bedenken, z.B. über Fahrschulen/VHS,

redaktionell eingebunden über die Presse oder warum nicht darüber

nachdenken, so etwas wie den 7. Sinn auf allen Kanälen neu zu

verankern. Wenn die Vielen regelachtender fahren, fällt den Wenigen ihr

extremes Verhalten im Straßenverkehr schwerer.

Bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten Reformierung des

Punktesystems sollen vereinfachte, transparentere und

verhältnismäßigere Regelungen zur Akzeptanz von Eintragungen

beitragen und damit die Präventivwirkung in Hinblick auf die Vermeidung

von Verkehrsverstößen erhöhen. Die kurzzeitig durch die Medien

geisternde neue 20-Punkte-Grenze wäre aus unserer Sicht der absolut

falsche Weg. Eher sollten die Eingriffsschwellen deutlich gesenkt

werden, ergänzt durch frühzeitigere Angebote zur angeleiteten Reflexion

und Veränderung von Einstellung und Verhalten im Straßenverkehr, z.B.

durch die verkehrspsychologische Beratung.