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LISZT »Mazeppa« BRITTEN Serenade für Tenor, Horn und Streicher REGER »Eine romantische Suite« CARYDIS, Dirigent STAPLES, Tenor BRÜCKNER, Horn Montag 10_10_2016 20 Uhr Dienstag 11_10_2016 20 Uhr

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LISZT»Mazeppa«

BRITTENSerenade für Tenor, Horn und Streicher

REGER»Eine romantische Suite«

CARYDIS, DirigentSTAPLES, TenorBRÜCKNER, Horn

Montag10_10_2016 20 UhrDienstag11_10_2016 20 Uhr

Die ersten Veröffentlichungen unseres neuen MPHIL Labels

Valery Gergiev dirigiert Bruckner 4

& Mahler 2 zusammen mit den Münchner

Philharmonikern

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119. Spielzeit seit der Gründung 1893

VALERY GERGIEV, ChefdirigentPAUL MÜLLER, Intendant

FRANZ LISZT»Mazeppa«

Symphonische Dichtung Nr. 6 S 100

BENJAMIN BRITTEN»Serenade for Tenor Solo, Horn and Strings« op. 31

1. »Prologue«2. »Pastoral«3. »Nocturne«

4. »Elegy«5. »Dirge«6. »Hymn«7. »Sonnet«

8. »Epilogue«

MAX REGER»Eine romantische Suite«

nach Gedichten von Joseph von Eichendorff op. 125

1. »Notturno«: Molto sostenuto2. »Scherzo«: Vivace

3. »Finale«: Molto sostenuto

CONSTANTINOS CARYDIS, DirigentANDREW STAPLES, TenorJÖRG BRÜCKNER, Horn

Eine Aufzeichnung der Konzertserie durch den Bayerischen Rundfunk wird am Samstag, dem 22. Oktober 2016, ab 20.05 Uhr auf BR-Klassik gesendet.

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Todesritt und Terzenstudie

MARCUS IMBSWEILER

Franz Liszt: »Mazeppa«

FRANZ LISZT(1811–1886)

»Mazeppa«Symphonische Dichtung Nr. 6 S 100

LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN

Geboren am 22. Oktober 1811 im burgen­ländischen Raiding (heute: Doborján / Un­garn); gestorben am 31. Juli 1886 in Bay­reuth.

TEXTVORLAGE

»Mazeppa« (1828), ein Text aus dem Ge­dichtband »Les Orientales« (1829) von

Victor Hugo (1802–1885), der seinerseits auf dem gleichnamigen Versepos (1819) von Lord [George Gordon] Byron (1788–1824) basiert.

ENTSTEHUNG

Während seiner Zeit als Hofkapellmeister in Weimar (1843–1859) schrieb Liszt zwölf Symphonische Dichtungen: programmati­sche Orchesterwerke jenseits klassischer Symphonik. Als Nr. 6 entstand im Jahr 1851 »Mazeppa«, das auf der gleichnami­gen vierten der »Transzendentalen Etü­den« für Klavier solo basiert. Die Entste­hungsgeschichte dieser Etüde wiederum reicht bis ins Jahr 1826 zurück, also bis zu Liszts Anfängen als Komponist. Bei der Ausarbeitung der Partitur stand ihm sein langjähriger Assistent Joachim Raff zur Seite.

URAUFFÜHRUNG

Am 16. April 1854 in Weimar im Großherzog­lichen Hoftheater (Großherzoglich­ Weimarische Hofkapelle unter Leitung von Franz Liszt).

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Franz Liszt: »Mazeppa«

Franz Liszt im Atelier von Franz Hanfstaengl in München (1858)

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Franz Liszt: »Mazeppa«

EIN UKRAINER GEGEN RUSSLAND

Zwischen Symphonischer Dichtung und Klavieretüde scheinen Welten zu liegen. Hier die orchestrale Umsetzung einer pro­grammatischen Idee, einer Erzählung oder Bildfolge, dort die eher abstrakte Ausar­beitung eines spieltechnischen Problems. Dass es auch anders geht, dass Inhalt und instrumentales Handwerk verschmelzen können, dafür steht das Schaffen Franz Liszts ein – besonders eindrucksvoll seine Tondichtung »Mazeppa«.

Sie erzählt die Geschichte des Ukrainers Iwan Stepanowitsch Mazepa (1639–1709), der zur Strafe für einen Ehebruch nackt auf ein Pferd gebunden und in der Steppe seinem Schicksal überlassen wird. Kosaken retten ihn vor dem sicheren Hungertod, wählen ihn später sogar zu ihrem Anführer. Einen Kosaken­Hetman namens Mazepa hat es tatsächlich gegeben; zeitweise ein Ver­bündeter Zar Peters des Großen, starb er letztendlich im Kampf gegen die Russen. Inwieweit auch der spektakuläre Todesritt historischer Wahrheit entspricht, ist um­stritten. Von Künstlern jedenfalls wurde die Legende immer wieder aufgegriffen, zunächst von Autoren wie Voltaire, Byron und Puschkin, dann von Malern wie Géri­cault, Vernet und Delacroix. Zur Vorlage von Liszts Tondichtung wiederum wurde ein Gedicht Victor Hugos aus dem Jahr 1828. Die Jahreszahl ist insofern von Inte­resse, als die Entstehungsgeschichte der Musik noch etwas früher einsetzt.

ETÜDEN­METAMORPHOSEN

1826 nämlich, mit gerade einmal 15 Jah­ren, komponierte Liszt zwölf Klavier­etüden, deren Nr. 4 eine eher schlichte

Terzenstudie in d­Moll darstellt. Elf Jahre später, 1837, überarbeitete er sein Etü­denwerk, mit zum Teil erheblichen Eingrif­fen. So kommen die Terzpassagen der Nr. 4 nun viel ungestümer daher und wer­den von einer trotzigen Melodie überwölbt. Noch einmal leicht verändert, veröffent­lichte Liszt dieses Einzelstück separat, und zwar unter dem Titel »Mazeppa«. Un­schwer lassen sich die ursprünglich so bra­ven, jetzt wild­bedrohlichen Terzfolgen mit dem Todesritt Mazeppas in Verbindung bringen und das packende d­Moll­Thema mit dem unbeugsamen Charakter des Ver­urteilten. Schon an diesem Punkt also löst sich die Komposition vom rein Etüdenhaf­ten – sie transportiert einen Inhalt.

Damit nicht genug, revidierte Liszt im Jahr 1851 die komplette Sammlung ein weiteres Mal und gab ihr den Namen »Etudes d'exé­cution transcendante«. »Transzendental« muten ihre spieltechnischen Herausforde­rungen an; darüber hinaus tragen nun alle zwölf Einzelstücke eigene, charakteristi­sche Überschriften. Zu den wichtigsten Eingriffen bei der (nach wie vor »Mazeppa« betitelten) Nr. 4 zählen eine kurze Einlei­tung sowie eine marschartige Coda, der Liszt die Schlussverse aus Hugos Gedicht unterlegte: »Il tombe enfin ! … et se relève Roi !« (»Noch einmal stürzt er … und steht als König wieder auf.«) Nicht mehr nur der Todesritt, sondern auch Rettung und triumphale Rückkehr Mazeppas sind nun Gegenstand der Musik.

DIE ORCHESTERFASSUNG

Im selben Jahr 1851 fertigte Liszt außer­dem eine Orchesterversion von »Mazeppa« an, die er seinem Zyklus Symphonischer Dichtungen als Nr. 6 eingliederte. Aller­

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Franz Liszt: »Mazeppa«

Horace Vernet: Mazeppa und die Wölfe (1826)

dings ist der Begriff »Version« mit Vorsicht zu genießen, so einschneidend sind die Ver­änderungen gegenüber sämtlichen Klavier­fassungen. Die Terzpassagen der Ur­sprungsetüde etwa fehlen vollständig und sind durch alternative Bewegungschiffren ersetzt: »stampfende« Triolenketten, Tremoli, auf­ und absteigende Tonleitern. Etüdenhaft wirkt hier so gut wie nichts mehr, alles ist plastische, detailgetreue Darstellung. Zum Dreh­ und Angelpunkt der Komposition wird das »Mazeppa«­ Thema, das nicht nur in seiner trotzig­ düsteren Variante erscheint, sondern auch in einer schmerzlich­sehnsuchtsvollen

(»espressivo dolente«). Damit erweitert Liszt gewissermaßen das Psychogramm seines Helden, wechselt zwischen Innen­ und Außensicht.

Was den Aufbau des Werks angeht, lehnt sich die Orchesterfassung an die Klavier­version von 1851 an, führt die einzelnen Teile aber deutlich breiter aus. Das betrifft sowohl die Einleitung, die das Losstürmen des Pferdes nach einem Peitschenhieb schildert, als auch den Hauptteil mit dem ständig variierten »Mazeppa«­Thema. Ein Stocken der Bewegung bis hin zum totalen Stillstand lässt sich als Zusammenbruch

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Franz Liszt: »Mazeppa«

des Pferdes deuten, die folgende Andante­ Passage als Mazeppas Todesahnungen. Dann der Umschwung: Trompetensignale künden von der Rettung des Helden. Die Coda schließlich ist zu einem eigenen Groß­abschnitt angewachsen, der, so Liszt, auch separat aufgeführt werden kann. Es han­delt sich um einen Triumphmarsch slawi­schen Kolorits, thematisch an den »Arbei­terchor« Liszts aus dem Revolutionsjahr 1848 angelehnt. Orientalische Stimmung verbreitet der Mittelteil des Marschs, der hohe Holzbläser mit Triangel und Becken kombiniert.

»MAZEPPA« ALS KÜNSTLER­ALLEGORIE

Lässt man die verschiedenen Entwick­lungsstufen der »Mazeppa«­Komposition Revue passieren, fällt auf, wie sich der Schwerpunkt der Darstellung verlagert: von der reinen Schilderung dramatischen Geschehens hin zur epischen Erzählung über Strafe und Belohnung, Tod und Auf­erstehung. Dies durchaus im Sinne Victor Hugos, dessen Mazeppa allegorisch für das Schicksal des Künstlers steht. Im zweiten Teil seines Gedichts vergleicht er das galoppierende Pferd mit dem Genius der Kreativität, der über die Grenzen un­serer Welt hinausträgt. Indem der Künst­ler Leiden erduldet, erreicht er eine neue Ebene der Genialität: »Er steht als König wieder auf.« Eben diese allegorische Auf­fassung der Legende macht Mazeppa zu einem romantischen Helden, weshalb Liszt ihn nur zu gerne in eine Reihe mit den üb­rigen Heroen seiner Tondichtungen stellte: Tasso, Orpheus, Prometheus.

Nicht alle waren bereit, ihm hierin zu fol­gen. Kritiker wie der Wiener Eduard Hans­lick zeigten sich regelrecht abgestoßen

vom »dissonirenden Geheul« der Musik. Aus heutiger Sicht liegt gerade hier, in der Modernität ihrer Tonsprache, eine Stärke der Partitur. Auf die überbordende Bild­fülle des Gedichts antwortet Liszt mit einem höchst differenzierten Orchester­satz. Die Streicher sind streckenweise elffach geteilt, unter die Seufzerfiguren in den Bläsern mischen sich naturalisti­sche Geräuscheffekte durch Spielanwei­sungen wie pizzicato (gezupft) und col legno (mit dem Bogenholz). Wie neu diese Effekte für zeitgenössische Hörer waren, berichtet Liszts Biographin Lisa Ramann: »Bei der ersten Aufführung des Werkes, in Weimar, unter Liszt, war die Wirkung von solcher Naturwahrheit, daß mehrere Zuhörer ihre Blicke plötzlich zur Höhe wandten, vermeinend, Nachtvögel hätten sich dahin verirrt.«

GEDENKKONZERT FÜR PETER SADLO

Eintritt frei

KAMMERORCHESTER DER MÜNCHNER PHILHARMONIKER(Leitung: Lorenz Nasturica-Herschcowici)

SCHLAGZEUGER DER MÜNCHNER PHILHARMONIKER

Werke von BACH, BARBA UND REICH

Sonntag30_10_2016 17 Uhr— HIMMELFAHRTSKIRCHE München-Sendling

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Benjamin Britten: Serenade

Wenn es Nacht wird

WOLFGANG STÄHR

Benjamin Britten: Serenade

BENJAMIN BRITTEN(1913–1976)

»Serenade for Tenor Solo, Horn and Strings« op. 31

1. »Prologue«2. »Pastoral«3. »Nocturne«4. »Elegy«5. »Dirge«6. »Hymn«7. »Sonnet«8. »Epilogue«

LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN

Geboren am 22. November 1913 in Lowe­stoft (East Suffolk / England); gestorben am 4. Dezember 1976 in Aldeburgh.

TEXTVORLAGEN

Brittens Serenade besteht aus einer Folge von sechs altenglischen Dichtungen, deren Spektrum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert reicht: eine Pastorale von Charles Cotton (1630–1687), ein Nocturne von Alfred Ten­nyson (1809–1892), eine Elegie von William Blake (1757–1827) aus dessen Sammlung »Songs of Experience«, ein anonymer Grabgesang aus dem 15. Jahrhundert, eine »Hymn to Diana« von Ben Jonson (1572–1637) sowie ein Sonett von John Keats (1795–1821).

ENTSTEHUNG

Benjamin Britten lernte im Sommer 1942 den jungen britischen Hornisten Dennis Brain (1921–1957) kennen, für den er ur­sprünglich ein Hornkonzert schreiben woll­te, bevor er die Anregung seines Verlegers aufnahm, einen Liedzyklus zu komponie­

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Benjamin Britten: Serenade

ren: für Tenor, Solohorn und (Streich­) Orchester; der Tenorpart sollte natürlich Peter Pears vorbehalten sein, Brittens Lebensgefährten. Im Frühjahr 1943 war die von einem instrumentalen Pro­ und einem Epilog gerahmte Vertonung der sechs eng­lischen Gedichte vollendet: Brittens »Se­renade for Tenor Solo, Horn and Strings« op. 31.

WIDMUNG

»To Edward Sackville­West«. Baron Edward Charles Sackville­West (1901–1965) war ein britischer Romanschriftsteller, Musik­kritiker, Vorstandsmitglied des Royal Ope­ra House und in seinen späten Jahren Mit­glied des House of Lords; in seinen diversen Funktionen förderte er vor allem das Schaffen seiner homosexuellen Freunde Benjamin Britten und Michael Tippett.

URAUFFÜHRUNG

Am 15. Oktober 1943 in London in der Wig­more Hall (Dirigent: Walter Goehr; Tenor: Peter Pears; Horn: Dennis Brain).

UNTER FREUNDEN

Das Komponieren für bestimmte Instru­mentalisten, Sänger oder Ensembles, fern­ab der Routinezwänge eines Auftrags, war für Benjamin Britten nicht nur anregend, weil es seine Kreativität bündelte und auf eine bekannte oder befreundete Persön­lichkeit konzentrierte: Überblickt man sein Lebenswerk, erscheint es fast als zwingen­de Vorbedingung. Allein die Opernpartien und Liedzyklen aufzuzählen, die er für sei­nen Lebensgefährten, den Tenor Peter Pears schuf, würde den Rahmen eines sol­chen Artikels sprengen. Auch die Sänger Janet Baker, Dietrich Fischer­Dieskau und John Shirley­Quirk gehören als Adressaten und Widmungsträger zur Entstehungsge­schichte wichtiger Vokalkompositionen Brittens. Der tiefen und herzlichen Freund­schaft, die Britten mit dem russischen Cel­listen Mstislaw Rostropowitsch verband, verdanken wir eine ganze Reihe der bedeu­tendsten Cellowerke des 20. Jahrhunderts: die Sonate für Cello und Klavier, drei Solo­suiten und die grandiose, in Moskau urauf­geführte Symphonie für Cello und Orches­ter.

Aus der Begegnung mit dem jungen, da­mals 21­jährigen Hornisten Dennis Brain im Sommer 1942 resultierte die Serenade Opus 31. Ursprünglich hatte Britten an die Komposition eines Hornkonzerts für Brain gedacht, aber da er zu jener Zeit ganz im Bann der Vorbereitungen zu seiner Oper »Peter Grimes« stand, widerstrebte es ihm, ein Werk jenseits der Vokalmusik zu beginnen. Aus diesem Dilemma befreite ihn ein Vorschlag des aus Wien emigrierten Schönberg­Schülers Erwin Stein, der da­mals für den Musikverlag Boosey & Hawkes tätig war: Er legte Britten nahe, einen Lied­zyklus zu komponieren für Tenor (dieser

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Benjamin Britten: Serenade

Benjamin Britten (um 1940)

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Benjamin Britten: Serenade

Solopart musste zwangsläufig für Pears, den künftigen Peter Grimes, bestimmt sein), Orchester und – um Dennis Brain ge­recht zu werden – obligates Solohorn.

DIE HEIMKEHR NACH ENGLAND

Die Serenade, deren Titel zunächst »Noc­turne« oder »Nocturnes« lauten sollte – den verbindenden Gedanken der um Däm­merung, Dunkel, Tod und Schlaf und die Nachtseiten der Seele kreisenden Gedichte angemessen –, markiert Brittens Rückkehr nach England. Im buchstäblichen Sinne wa­ren Britten und Pears tatsächlich gerade – im April 1942 – von einem dreijährigen Aufenthalt in Nordamerika heimgekehrt. Nachdem sich Britten mit französischer (»Les Illuminations« nach Rimbaud, 1939) und italienischer Dichtung (»Seven Son­nets of Michelangelo«, 1940) musikalisch auseinandergesetzt hatte, wandte er sich nun englischer Lyrik zu: einem anonymen Grabgesang aus dem 15. Jahrhundert, einer Hymne an Diana aus der Feder des begnadeten Dramatikers Ben Jonson (1572–1637), einem Hirtenidyll von Charles Cotton (1630–1687), den kühnen Visionen des Dichters, Malers und Kupferstechers William Blake (1757–1827), einem Sonett des Romantikers John Keats (1795–1821) und der erlesenen Wortkunst Alfred Tenny­sons (1809–1892). Von ihm, Lord Tenny­son, vertonte Britten noch ein anderes Gedicht, »Now sleeps the crimson petal«. Erst 1987 wurde das Manuskript im Nach­lass von Erwin Stein entdeckt. Warum der Komponist dieses Lied am Ende doch nicht für seinen Zyklus berücksichtigte, darüber lässt sich nur spekulieren.

»DAS ANTLITZ DES BÖSEN«

Brittens Serenade gleicht aber nicht allein einer Heimkehr zum englischen Wort, son­dern auch zur englischen Musik, denn der deklamatorische Duktus der Tenorpartie, rhythmisch agil und zwischen Rezitativ und Arioso bruchlos wechselnd, verrät das Vor­bild des von Britten bewunderten Henry Purcell. Ebenfalls an Purcell gemahnt die Kompositionskunst des »English ground«, die Britten für die Vertonung des Grab­gesangs (»Dirge«) wählte: Der Tenor singt ein (unangenehm hoch liegendes) Ostinato von sechs Takten, das die Streicher mit einem trauermarschartig rhythmisierten Fugato einfassen. Der späte Einsatz des Solohorns auf dem Höhepunkt des Satzes lässt einem wahrlich das Blut in den Adern gefrieren. Edward Sackville­West, der Dichter und Kritiker – und Widmungsträger der Serenade –, erahnte in dieser Kompo­sition das »Antlitz des Bösen«, das »Ge­fühl der Sünde im menschlichen Herzen«. Die Hymne, das sich unmittelbar anschlie­ßende Lied, lässt uns wieder frei atmen: mit scherzohafter, schwereloser, elfen­leicht schwebender Bewegung, »presto e leggiero«.

Das ergreifendste, quälend ausdrucks­stärkste Stück des Zyklus ist wohl die Ele­gie nach Versen von William Blake, ein kur­zes, düsteres Rezitativ des Tenors, das gerahmt wird vom Vor­ und Nachspiel des Orchesters, und diese jeweils 17 Takte sind erfüllt von einer unheilvollen, nahezu un­erträglichen Spannung. Gewalt und Über­wältigung, die Zerstörung der Reinheit und Unschuld, die Bedrohung durch das Böse – Brittens Lebensthemen – sprechen wort­los und unmissverständlich aus dieser Mu­

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Benjamin Britten: Serenade

sik. Anfang und Ende der Serenade, in der Partitur als Prolog und Epilog überschrie­ben, werden vom Hornisten allein bestrit­ten. Britten beschränkte sich bei der Kom­position dieser Soli auf die Töne der Natur­tonreihe des Horns, die folglich auch auf einem ventillosen Naturhorn geblasen wer­den können. Romantisch­sehnsuchtsvolle Assoziationen an Wald und Jagd, an Ferne und Unendlichkeit ruft der Hörnerschall wach, insbesondere im Epilog, der »off stage«, hinter der Bühne, gespielt werden soll: »Blow, bugle, blow, set the wild echoes flying.«

DAS SPIEL DES UNSPIELBAREN

Dennis Brain war nicht nur der Solist der Uraufführung am 15. Oktober 1943 in der Londoner Wigmore Hall (mit Peter Pears und einem kurzfristig zusammengestellten Streichorchester unter Leitung von Walter Goehr) und der ersten Schallplattenein­spielung, die Britten selbst im Mai 1944 in London dirigierte: Er war zuvor auch, hel­fend und beratend, am Entstehungspro­zess der Serenade wesentlich beteiligt. »Er war stets sehr vorsichtig, ehe er Änderungswünsche unterbreitete«, erin­nerte sich Britten. »Abschnitte, die, selbst angesichts seiner ungeheuren Fähigkeiten, unspielbar schienen, wurden wieder und wieder geübt: Dann erst entschloss er sich, mir einen kompositorischen Eingriff vorzu­schlagen. Sein Respekt vor den Ideen eines Komponisten war grenzenlos. Eine Zeitlang schien es, als ob niemand außer ihm jemals fähig sein würde, sie [die Serenade Opus 31] adäquat zu spielen. Aber wie es ge­wöhnlich geschieht, wenn ein Stück exis­tiert und ein meisterlicher Musiker, der zeigt, dass man es spielen kann, fanden

sich auch hier nach und nach andere ein, die über die Technik verfügten, es eben­falls zu spielen.«

Der berühmteste Nachfolger des 1957 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Dennis Brain ist ohne Zweifel der australi­sche Hornist Barry Tuckwell. Britten schätzte ihn als Solisten seiner Serenade so sehr, dass er ihn für die zweite Aufnah­me der Komposition unter seiner Leitung, die im Mai 1963 entstand, verpflichtete – zusammen mit Pears und den Streichern des London Symphony Orchestra.

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»Serenade«: Die Gesangstexte»Serenade«: Die Gesangstexte

»Serenade«BENJAMIN BRITTEN

1. »PROLOGUE«(Solohorn)

2. »PASTORAL«

The day’s grown old; the fainting sunHas but a little way to run,And yet his steeds, with all his skill,Scarce lug the chariot down the hill.

The shadows now so long do grow,That brambles like tall cedars show;Mole hills seem mountains, and the antAppears a monstrous elephant.

A very little, little flockShades thrice the ground that it would stock;Whilst the small stripling following themAppears a mighty Polypheme.

And now on benches all are sat,In the cool air to sit and chat,Till Phoebus, dipping in the west,Shall lead the world the way to rest.

Charles Cotton (1630–1687)

1. »PROLOG«

2. »PASTORALE«

Der Tag ist alt geworden, die bleichende SonneHat nur noch einen kurzen Lauf vor sich.Doch Phöbus’ Rosse, trotz seiner Kunst, Ziehen den Wagen nur mühsam hinab.

Die Schatten wachsen jetzt so lang, Dass Sträucher hoch wie Zedern aussehen; Maulwurfshügel sind wie Berge, und die Ameise Erscheint wie ein ungeheurer Elefant.

Eine winzig kleine Herde Beschattet dreimal mehr an Boden als sonst, Und der kleine Knabe, der ihr folgt, Erscheint wie ein mächtiger Polyphem.

Nun haben sich alle auf Bänke gesetzt, Um in der kühlen Luft zu sitzen und zu plaudern, Bis Phöbus im Westen untertaucht Und der Welt den Weg zur Ruhe weist.

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»Serenade«: Die Gesangstexte

3. »NOCTURNE«

The splendour falls on castle wallsAnd snowy summits old in story:The long light shakes across the lakes,And the wild cataract leaps in glory:Blow, bugle, blow, set the wild echoes flying,Bugle, blow; answer, echoes, answer dying, dying, dying.

O hark, O hear ! how thin and clear,And thinner, clearer, farther going !O sweet and far from cliff and scarThe horns of Elfland faintly blowing !Blow, let us hear the purple glens replying:Bugle, blow; answer, echoes, answer, dying, dying, dying.

O love, they die in yon rich sky,They faint on hill or field or river:Our echoes roll from soul to soul,And grow for ever and for ever.Blow, bugle, blow, set the wild echoes flying,And answer, echoes, answer, dying, dying, dying.

Alfred Tennyson (1809–1892)

4. »ELEGY

O Rose, thou art sick !The invisible worm,That flies in the nightIn the howling storm,Has found out thy bedOf crimson joy:And his dark secret loveDoes thy life destroy.

William Blake (1757–1827)

3. »NOCTURNO«

Der Glanz fällt auf die Mauern des Schlosses Und schneeige Gipfel, sagenhaft alt; Die lange Nacht zieht über die Seen, Der wilde Wasserfall springt herrlich auf; Blas, Hifthorn, blas ! Lass die wilden Echos fliegen ! Blas, Hifthorn ! Gebt Antwort, Echos, ersterbend !

O horch, o hör, wie fein und klar, Und feiner, klarer, weiter fort ! Wie süß und fern von Klippen und Felsen Die Hörner Elflands leise herüberblasen. Blas, lass die purpurnen Schluchten widerhallen. Blas, Hifthorn ! Gebt Antwort, Echos, ersterbend !

O Lieb, sie sterben in dem reichen Himmel, Verklingen über Hügeln, Feldern und Flüssen; Unsere Echos hallen von Seele zu Seele Und wachsen immerfort. Blas, Hifthorn, blas ! Lass die wilden Echos fliegen ! Gebt Antwort, Echos, ersterbend !

4. »ELEGIE

O Rose, du bist krank ! Der unsichtbare Wurm, Der in der Nacht fliegt, Im heulenden Sturm, Entdeckte dein Bett Der roten Freuden, Und seine dunkle, heimliche Liebe Zerstört dein Leben.

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»Serenade«: Die Gesangstexte

5. »DIRGE«

This ae nighte, this ae nighte,Every nighte and alle,Fire and fleet and candlelighte,And Christe receive thy saule.

When thou from hence away art past,Every nighte and alle,To Whinnymuir thou com’st at last;And Christe receive thy saule.

If ever thou gavest hosen and shoon,Every nighte and alle,Sit thee down and put them on;And Christe receive thy saule.

If hosen and shoon thou ne’er gav’st naneEvery nighte and alle,The whinnes sall prick thee to the bare bane;And Christe receive thy saule.

From Whinnymuir when thou may’st pass,Every nighte and alle,To Brig o’ Dread thou com’st at last;And Christe receive thy saule.

From Brig o’ Dread when thou may’st pass,Every nighte and alle,To Purgatory fire thou com’st at last;And Christe receive thy saule.

If ever thou gavest meat or drink,Every nighte and alle,The fire sall never make thee shrink;And Christe receive thy saule.

5. »TRAUERGESANG«

Diese Nacht, vielleicht schon diese Nacht – Jede Nacht und alle ! Liegst du im Sarg bei Kerzenlicht,Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du von hinnen gefahren bist – Jede Nacht und alle ! So kommst du auf die Dornenheide, Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du jemals Rode und Schuhe schenktest – Jede Nacht und alle ! Setz dich nieder und zieh sie an, Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du niemals Rock und Schuhe schenktest – Jede Nacht und alle ! Werden die Dornen dich bis auf die Knochen stechen, Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du die Dornenheide verlassen darfst – Jede Nacht und alle !Kommst du zur Brücke des Schreckens, Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du die Brücke des Schreckens verlassen darfst –Jede Nacht und alle !Kommst du ins Fegefeuer,Und Christus nehme deine Seele auf.

Wenn du jemals zu essen und trinken schenktest –Jede Nacht und alle !Wird das Feuer dich nicht versengen,Und Christus nehme deine Seele auf.

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»Serenade«: Die Gesangstexte

If meat or drink thou ne’er gav’st nane,Every nighte and alle,The fire will burn thee to the bare bane;And Christe receive thy saule.

This ae nighte, this ae nighte,Every nighte and alle,Fire and fleet and candlelighte,And Christe receive thy saule.

Anonymus (15. Jahrhundert)

6. »HYMN«

Queen and huntress, chaste and fair,Now the sun is laid to sleep,Seated in thy silver chair,State in wonted manner keep:Hesperus entreats thy light,Goddess excellently bright.

Earth, let not thy envious shadeDare itself to interpose;Cynthia’s shining orb was madeHeav’n to clear when day did close:Bless us then with wished sight,Goddess excellently bright.

Lay thy bow of pearl apart,And thy crystal shining quiver;Give unto the flying hartSpace to breathe, how short so­ever:Thou that mak’st a day of night,Goddess excellently bright.

Ben Jonson (1572–1637)

Wenn du niemals zu essen und trinken schenktest –Jede Nacht und alle !Wird das Feuer dich bis auf die Knochen brennen,Und Christus nehme deine Seele auf.

Diese Nacht, vielleicht schon diese Nacht –Jede Nacht und alle !Liegst du im Sarg bei Kerzenlicht,Und Christus nehme deine Seele auf.

6. »HYMNE«

Königin und Jägerin, keusch und schön, Da nun die Sonne schlafen ging, Von deinem silbernen Thron aus Herrsche in gewohnter Weise; Hesperus ersehnt dein Licht, Du leuchtend helle Göttin !

Erde, lass deinen neidischen Schatten Nicht kühn dazwischen treten; Cynthias heller Kreis ist bestimmt Den Himmel zu erhellen, wenn der Tag vorüber ist; Beglücke uns mit dem erwünschten Anblick, Du leuchtend helle Göttin !

Leg deinen Perlenbogen beiseite, Und deinen kristallglänzenden Köcher, Lass dem fliehenden Hirschen Zeit zum Atemholen, sei's auch kurz, Die du zum Tag die Nacht machst, Du leuchtend helle Göttin !

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»Serenade«: Die Gesangstexte

Dennis Brain, Hornist und Uraufführungssolist der Serenade

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»Serenade«: Die Gesangstexte

7. »SONNET«

O soft embalmer of the still midnight,Shutting, with careful fingers and benign,Our gloompleas’d eyes, embower’d from the light,Enshaded in forgetfulness divine:O soothest Sleep ! if so it please thee, close,In midst of this thine hymn my willing eyes.Or wait the »Amen« ere thy poppy throws Around my bed its lulling charities.Then save me, or the passed day will shineUpon my pillow, breeding many woes,Save me from curious conscience, that still lordsIts strength for darkness, burrowing like a mole;Turn the key deftly in the oiled wards,And seal the hushed casket of my Soul.

John Keats (1795–1821)

8. »EPILOGUE«(Solohorn »off stage«)

7. »SONETT«

Du linder Balsamspender der stillen Mitternacht, Du schließest uns mit sanfter Hand und gütig Die Augen, vom Dunkel beglückt, vorm Licht geschützt, Umschattet von göttlichem Vergessen. O milder Schlaf ! Gefällt es dir, so schließ Mir mitten in deinem Preislied die willigen Augen, Oder erwarte das Amen, ehe deine Mohnblüte Um mein Bett ihre einschläfernden Gaben ausstreut. Dann schütze mich, sonst scheint der vergangene Tag Auf meine Kissen, brütet manchen Jammer; Schütz mich vor dem nagenden Gewissen, Das seine Kraft noch bis zur Dunkelheit zurückhält und wie ein Maulwurf wühlt; Dreh flink den Schlüssel im geölten Schloss um Und versiegle den verstummten Schrein meiner Seele.

8. »EPILOG«

Übersetzungen ins Deutsche: Gerd Ueckermann

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Mondnacht, Elfentanz

und HeliosMICHAEL KUBE

Max Reger: »Eine romantische Suite«

MAX REGER(1873–1916)

»Eine romantische Suite« nach Gedichten von Joseph von Eichendorff op. 125

1. »Notturno«: Molto sostenuto2. »Scherzo«: Vivace3. »Finale«: Molto sostenuto

LEBENSDATEN DES KOMPONISTENGeboren am 19. März 1873 in Brand / Ober­pfalz; gestorben am 11. Mai 1916 in Leip­zig.

ENTSTEHUNG

Nicht erst während seiner Anstellung als Meininger Hofkapellmeister nutzte Max Reger vor allem die von Konzerten weitge­hend freien Frühjahrs­ und Sommermonate zur Niederschrift neuer Werke. Für das Jahr 1912 hatte er bereits am 3. März Her­zog Georg II. von Sachsen­Meiningen brieflich von seinem Plan in Kenntnis ge­setzt, neben anderem auch ein dreisätzi­ges Orchesterwerk komponieren zu wollen. Die von ihm zunächst noch als »Eine Nacht­musik« bezeichnete Partitur wurde zwi­schen Ende Mai und Ende Juli 1912 in Schneewinkl bei Berchtesgaden und in Mei­ningen vollständig ausgearbeitet. Am 16. September erschien das Werk bereits im Druck.

WIDMUNG

Reger widmete seine »Romantische Suite« dem Dirigenten Hugo Grüters (1851–

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Max Reger: »Eine romantische Suite«

1928), der zwischen 1898 und 1922 als Städtischer Musikdirektor in Bonn wirkte. Grüters, mit dem Reger häufig auch vier­händig spielte, hatte in dieser Funktion mehrfach erfolgreich Orchesterwerke so­wie Chor­ und Kammermusik von Reger zur Aufführung gebracht.

URAUFFÜHRUNG

Am 11. Oktober 1912 in Dresden (Königlich Sächsische Hofkapelle [heute: Sächsische Staatskapelle Dresden] unter Leitung von Ernst von Schuch; auf dem Programm stan­den ferner Schumanns »Genoveva«­ Ouvertüre und Bruckners 5. Symphonie. Bereits in der Saison 1912/13 kam es zu 30 (!) weiteren Aufführungen der »Roman­tischen Suite« in Deutschland, vielfach durch die von Reger selbst geleitete Mei­ninger Hofkapelle.

ZWISCHEN SPÄTROMANTIK UND BACH’SCHER STRENGE

Gemeinhin haftet dem Œuvre von Max Reger der Makel des Übermäßigen und Un­verständlichen an – ein Vorwurf, der ins­besondere durch die kompositorisch dicht gefügten, formal wie klanglich ausufern­den Werke der Münchner Jahre befördert wurde. So waren es neben einer Vielzahl von Liedern und Orgelstücken vor allem der »Gesang der Verklärten« op. 71, das Streichquartett d­Moll op. 74, später dann auch die Sinfonietta op. 90, deren groß­flächig angelegtes avanciertes Wechsel­spiel zwischen spätromantischer Harmonik und kontrapunktischer Durchdringung für Irritationen und teilweise massiv vorgetra­gene Kritik sorgten. Überhört wurden da­bei freilich all jene Themen, Passagen, Sätze oder auch Werke, in denen eine ganz andere, nachgerade empfindsame Seite des Komponisten zum Vorschein kommt. Sie erweist sich nicht nur als zart fühlend, sondern fast als zerbrechlich und klingt mit ihren modalen Wendungen wie ein von innen kommendes romantisches Schweben, das die äußerliche Kraft und Komplexität der Werke als schützende Hülle erscheinen lässt. Dies betrifft auch die drei oben ge­nannten Werke, nur dass es einer Neuaus­richtung des Hörens bedarf, um diese Mo­mente nicht mehr länger nur als Kontrast, sondern als Kern zu begreifen.

»VON ELEKTRISCHEN FUNKEN UMWIRBELTE GENIALITÄT«

Diese beiden klingenden Pole muten letzt­lich wie ein Spiegel von Regers gebroche­ner Psyche an, wie sie etwa der deutsche Literat Max Brod anlässlich eines Prager Gastspiels im Dezember 1910 erlebt und festgehalten hat: »Wir sitzen und trinken.

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Max Reger: »Eine romantische Suite«

Heinrich Hübner: Max Reger (1936)

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Max Reger: »Eine romantische Suite«

Besonders eifrig trinkt Reger. Daheim überwacht ihn seine Frau, so erzählt er unbefangen; auf Konzertreise fühlt er sich frei. […] Aus dionysischen Freuden verfällt er in bitteres Schluchzen. Die Arme liegen auf dem Tisch, das rote Gesicht tränen­überströmt auf den Armen. »Meine arme Mutter. O Gott, meine Mutter. Sie ist im Irrenhaus.« […] Am nächsten Tag […] zeig­ten [wir] ihm die Prager Burg. Jetzt war er ernst und großartig. Nie wieder habe ich so stark das Gefühl gehabt, dass um eine geniale Person die elektrischen Funken wir­belnd toll zur Erde knistern. […] Am Abend […] wurde mir die Ehre zuteil, den Halbgott ins Konzert zu lotsen. […] Reger saß in sei­nem Zimmer bei Cognac, er war nicht mehr in schlichtmenschlichen Regionen. […] Nun, das wird ja heute abend im Konzert schön werden, dachte ich herzensbekümmert. Und dann, im großen Saal, spielte Reger mit einer Zartheit, einer gottergriffenen Innig­keit, einer Feinheit und Präzision, wie ich zeitlebens nie wieder Klavier spielen ge­hört habe.«

AUF DEM WEG ZUR SYMPHONIE

Gleichermaßen Komponist wie Interpret, bestimmten und stimulierten bei Reger biographische Konstellationen und künst­lerische Erfolge den jeweiligen Schwer­punkt seines Schaffens. Dies betrifft nicht nur die Zeit nach der Rückkehr in das Elternhaus nach Weiden (1898), während der, neben zahlreichen Bearbeitungen, Lie­dern und Orgelstücken, ein Fundus an eige­nen Kammermusikwerken angelegt wurde, sondern mehr auch der Wechsel nach Mün­chen (1901), später die Berufung nach Leipzig zum Universitätsmusikdirektor (1907). Vier Jahre später wurde Reger schließlich zum Kapellmeister der Meinin­ger Hofkapelle ernannt, für die er dann

auch die meisten seiner Orchesterwerke schrieb. Hier hatte er, protegiert durch den kunstliebenden aber tauben (!) Herzog Georg II., einen ebenso traditionsreichen wie hochkarätigen Klangkörper zur Verfü­gung, mit dem die eigenen Werke in vorbild­lichen Interpretationen einstudiert und aufgeführt werden konnten. Kurios mutet es allerdings an, dass sich Reger zeitlebens zu keiner Symphonie durchringen konnte, obwohl ein solches Werk von Beginn seiner Komponistenlaufbahn an als Ziel anvisiert war. Ungeklärt ist bis heute, ob ein als Opus 18 vorgesehenes Werk aus dem Jahre 1896 wirklich fertig gestellt wurde und möglicherweise auf dem Postweg an einen Londoner Verleger verloren ging. Gleich­wohl kommt die in München entstandene Sinfonietta op. 90 (1904/05) in vieler Hin­sicht dem Anspruch der Gattung sehr nahe. Auch die »Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin« op. 128 (1913) sind in diesem Kontext als symphonischer Entwurf zu ver­stehen, so wie es Reger selbst seinem Freund Karl Straube, dem Leipziger Tho­maskantor, in einem Brief vom Dezember 1912 mitteilte: Er wollte »im nächsten Sommer ›als Vorbereitung‹ zur Symphonie außer den Tondichtungen ›noch etwas un­endlich Graziöses‹ schreiben« – und mein­te damit die aus sechs kleiner disponierten Sätzen bestehende »Ballettsuite« op. 130.

NACHTMUSIKEN, LITERARISCH ILLUSTRIERT

In diesem Kontext nimmt die »Romantische Suite« op. 125 eine singuläre Stellung ein – hat Reger den Sätzen doch jeweils ein Gedicht von Joseph von Eichendorff (1788–1857) vorangestellt und bestand bei Aufführungen auch auf deren vollstän­digen Abdruck im Programmheft. Fraglich ist allerdings, auf welche Weise diese lyri­

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Max Reger: »Eine romantische Suite«

schen Texte mit der Komposition verbun­den sind. So griff Reger bei der endgültigen mehr musikalisch­sachlichen Bezeichnung der drei Sätze (nämlich als »Notturno«, »Scherzo« und »Finale«) weder auf die originalen Titel der Gedichte zurück (diese lauten »Nachtzauber«, »Elfe« und »Adler«), noch auf die von ihm zwischenzeitlich er­wogenen Überschriften »Mondnacht«, »El­fentanz« und »Helios«. Darüber hinaus griff Reger – wie dies auch andere Kompo­nisten, z. B. Mahler, taten – massiv in die ausgewählten Dichtungen ein: Indem er aus Eichendorffs »Nachtzauber« die zweite, auf eine vergangene Liebe verweisende Strophe ebenso strich wie die gesamte zweite Hälfte des »Adler«, richtete er die beiden rahmenden Texte im Sinne einer Na­turschilderung ein, die als solche auch dem musikalischen Charakter der beiden Sätze entspricht.

»MONDNACHT«, »ELFENTANZ« UND »SONNENAUFGANG«

Offen bleiben muss, wie weit Eichendorffs Verse, die Reger offenbar schon frühzeitig ausgewählt hatte, wirklich als eine Art dichterischer Konkretisierung selbst er­fahrener Inspirationsquellen dienten. So heißt es am 29. Juni 1912 in einem Brief an den Verlag mit humoristischem Unterton: »Satz I (Notturno – eine thüringische Mondnacht) und Satz II (Scherzo – Elfen­tanz !) in Partitur fix u. fertig; nun arbeite ich an Satz III (letzter !) (Helios – Sonnen­aufgang !) Das ganze Werk nach Gedichten von Eichendorff als ›Programm‹ ! Ich habe ja bei meinen Leipziger Fahrten, wenn ich auf der nächtlichen Heimreise durch den Thüringer Wald fahre, so recht Gelegen­heit, Thüringer Mondnacht kennen zu ler­nen.« In diesem Sinne kann dann auch jene Anekdote verstanden werden, die in der

Überlieferung auf unterschiedliche Werke bezogen wird, jedoch auch für die »Roman­tische Suite« gelten kann: Als Richard Strauss bemerkte: »Reger, noch einen Schritt weiter, dann Sie sind bei uns !«, erwiderte dieser: »Genau diesen Schritt werde ich eben nicht tun...«

AUFSCHWUNG ZU LEUCHTENDER VERKLÄRUNG

Folglich bleibt sich Reger in der komposi­torischen Substanz, der Ausarbeitung und Instrumentation der »Romantischen Sui­te« treu, auch wenn der Anfang des ersten Satzes nahezu impressionistisch anmutet. Dies zeigt sich an den mehr poetischen, sich über einem dicht gewobenen Begleit­stimmensatz entfaltenden Gesten der Vio­linen, denen zwar in den Hörnern mehrfach ein fahl abgetöntes B­A­C­H­Motiv entge­gentritt, die sich aber immer wieder zu einer leuchtenden Verklärung aufschwin­gen. Im Scherzo entfaltet Reger dann einen ungeahnt leichten, an Webers »Oberon« erinnernden und nach geträumter Som­mernacht duftenden Satz, der nicht weit vom Wellenspiel der Najaden aus der nur ein Jahr später entstandenen »Böcklin­ Suite« entfernt ist. Mit der Wiederkehr der ersten Takte aus dem »Notturno« zu Beginn des »Finale« schafft Reger einen zyklischen Zusammenhang, strebt nun aber mit einer Intensivierung der Bewe­gung und einer Beschleunigung des Tempos den Höhepunkten rascher zu. Über dem echoartigen Widerhall der Nacht erhebt sich am Ende ein strahlendes E­Dur.

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Max Reger: »Eine romantische Suite«

Joseph von Eichendorff (Radierung nach einer Zeichnung von Franz Kugler)

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»Eine romantische Suite«: Gedichttexte

»Eine romantische

Suite«MAX REGER

»Eine romantische Suite«: Gedichttexte

1. »NOTTURNO«

Hörst du nicht die Quellen gehenZwischen Stein und Blumen weitNach den stillen Waldesseen,Wo die Marmorbilder stehenIn der schönen Einsamkeit ?Von den Bergen sacht hernieder,Weckend die uralten Lieder,Steigt die wunderbare Nacht,Und die Gründe glänzen wieder,Wie du’s oft im Traum gedacht.

Joseph von Eichendorff: »Nachtzauber«

2. »SCHERZO«

Bleib bei uns ! Wir haben den Tanzplan im TalBedeckt mit Mondesglanze,Johanniswürmchen erleuchten den Saal,Die Heimchen spielen im Tanze.

Die Freude, das schöne leichtgläubige Kind,Es wiegt sich in Abendwinden:Wo Silber auf Zweigen und Büschen rinnt,Da wirst du die Schönste finden !

Joseph von Eichendorff: »Elfe«

3. »FINALE«

Steig nur, Sonne,Auf die Höhn !Schauer wehn,Und die Erde bebt vor Wonne.

Kühn nach obenGreift aus NachtWaldespracht,Noch von Träumen kühl durchwoben.

Joseph von Eichendorff: »Adler«

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Max Reger: KomponistenportraitMax Reger: Komponistenportrait

»Ob meine Sachen etwas taugen oder nicht, das wird die Geschichte entschei­den.« Künstlerische Egomanie oder ästhe­tische Esoterik waren ihm fremd, und doch sah sich Max Reger (1873–1916) mit sei­nem vielfältigen Schaffen und grenzen­losen schöpferischen Vermögen selbst­bewusst in der Nachfolge von Bach, Mozart und Brahms – kompositorische Bezugs­punkte, die auch heute noch – in Hinblick auf einzelne Besetzungen und Gattungen – hörend nachvollziehbar sind. Umso über­raschender ist es, dass man sich mit seiner Musik so oft schwer tut. Dabei sind es ge­rade nicht die fein ausgesponnenen und eng gestrickten kontrapunktischen Linien oder die mit Chromatik gespickten, durch den Quintenzirkel dahinrasenden Harmo­nien, die so manches Werk musikalisch äch­zen lassen. Vielmehr fehlt es allzu häufig an gestaltungsfreudigen Interpreten, die Regers lange Bögen auch einmal ruhig at­men lassen, die die kadenzierenden Ziel­punkte weiträumiger Passagen bewusst ansteuern oder die mit roter Tinte bezeich­nete, genau kalkulierte Agogik und Dyna­mik wachen Ohres befolgen.

Vollkommen unumstritten war Reger nie, vielmehr regte seine Musik zur Parteinah­me an. Dennoch blieben große Skandale ebenso aus, wie die schon zu Lebzeiten von Freunden und Mitstreitern veranstalteten Reger­Feste keine nachhaltige Wirkung entfalteten. Konnten sich noch Teile der in den 1920er Jahren auftretenden jungen Generation mit ihm als wichtigem, Grenzen auslotenden Meister der spätromantischen Moderne identifizieren, brach diese kurze Tradition bald nach 1945 fast vollständig zusammen – oder beschränkte sich eine Zeitlang noch auf gefällige Schmonzetten wie die für nahezu jedes Instrument mit Klavierbegleitung arrangierte Romanze G­Dur oder »Mariä Wiegenlied« (aus den »Schlichten Weisen« op. 76). Umso mehr gilt daher immer noch jene Einschätzung, die Arnold Schönberg, der ja auch den lan­ge als konservativ geschmähten Brahms als fortschrittlich einschätzte, im Jahre 1922 seinem Schwager Alexander Zemlins­ky ans Herz legte: »Reger muss meines Erachtens viel gebracht werden: erstens, weil er viel geschrieben hat, zweitens, weil er schon tot ist und man immer noch nicht Klarheit über ihn besitzt – ich halte ihn für ein Genie.«

Maximaler Reger –über einen Riesen

in der MusikMICHAEL KUBE

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Max Reger: Komponistenportrait

Regers Konzertkalender vom 2. bis 15. November 1913 mit zwölf verschiedenen Stationen

MUT ZUR ANNÄHERUNG

Wie sich also Reger nähern und verstehen ? Die Antwort ist – wie kann es anders sein – kompliziert und auf mehreren Ebenen zu suchen. Da wäre zunächst der Tonsatz selbst, den Reger in einer so hochvirtuo­sen, kontrapunktisch wie harmonisch dicht gefügten Art und Weise gestaltet, dass sie selbst einem weidlich geübten Musiker zu­nächst das Fürchten lehrt. Wer sich mit den Noten vertraut machen will, muss sich tatsächlich erst einmal mühsam einen Überblick verschaffen über die Form und die Eckpunkte des Verlaufs, über die weit tragenden melodischen Linien und die Har­

monien, deren Richtung und Ziel nicht im­mer sofort ersichtlich sind. Somit regt Reger auch zum grundsätzlichen Nachden­ken darüber an, wie ein musikalischer Satz aus sich heraus zu gestalten ist – mit all seinen Aspekten (um nicht Parametern zu sagen). Schon früh von seinen Antipoden in aller Öffentlichkeit mit solcherlei Ein­wänden konfrontiert, konnte Reger indes nahezu unbeeindruckt erwidern: »Mit einem flüchtigen Durchlesen wird man bei meinen Sachen nie Glück haben ! Meine Mu­sik verzichtet auf jeden sogenannten billi­gen Effekt – ich gehe jeder nur im gerings­ten banalen Wendung mit Bewusstsein aus dem Wege.«

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Max Reger: Komponistenportrait

STATIONEN

Diese Äußerung stammt aus dem Jahr 1900, und die Kritik bezog sich auf ein auf­trumpfendes Schaffen, das sich zu jenem Zeitpunkt neben zahlreichen Brotarbeiten (Klavierstücke und Lieder) vor allem auf Werke für große Orgel erstreckte, darunter die Choralfantasien op. 40 und op. 52 und die erschütternde »Symphonische Fanta­sie und Fuge« op. 57. Es ist diesen Werken wirklich nicht anzumerken, dass sie im ab­gelegenen oberpfälzischen Weiden ent­standen, wohin sich Reger nach reichlich ausschweifender Studienzeit in Wiesbaden auf Druck seiner Eltern hatte zurückziehen müssen. Gleichwohl empfand er die Studien­jahre als verlorene Zeit, wovor er später Fritz Stein vorsorglich warnte: »Ferner: nach Tübingen würde ich an Deiner Stelle niemals gehen ! […] Ich schreibe Dir das, weil ich 8 Jahre meines Lebens in ähnlicher Lage sozusagen ›umsonst‹ gelebt habe.« Eine deutliche Sichtweise, jedoch lässt sich in Regers weiterem Œuvre tatsächlich eine gewisse Abhängigkeit von Wirkungsort und schöpferischem Ertrag festmachen: Der erlösende Wechsel nach München (1901) wurde begleitet von einer ganzen Reihe von Kompositionen (etwa dem Streichquartett d­Moll op. 74), in denen Reger reichlich Extreme auslotete, auch hinsichtlich des Ausdruckscharakters. Mit der Berufung nach Leipzig zum Universi­tätsmusikdirektor (1907) nahm er sich nun erstmals großformatiger Partituren an wie den »Hiller­Variationen« op. 100, dem Violinkonzert op. 101, dem 100. Psalm op. 106 (zur Einweihung der Jahrhundert­halle in Breslau) und dem »Symphonischen Prolog zu einer Tragödie« op. 108. Weitere Orchesterwerke entstanden nach Regers

Ernennung zum Kapellmeister der Meinin­ger Hofkapelle (1911) – einer Tätigkeit, die er für etwas mehr als zwei Jahre bis zu einem verheerenden Nervenzusammen­bruch mit geradezu besessenem Eifer und nicht enden wollenden Konzertreisen aus­übte. Nach Sanatorium und Kur sollte der Neuanfang in Jena (1915) schon bald wie­der alte Energien freisetzen und ins ge­wohnte Gleis führen. Und dennoch beginnt Reger mit einem nach innerer Klarheit und äußerem Ausgleich strebenden Stil etwas Neues, wie er es auch Karl Straube gegen­über programmatisch formulierte: »Jetzt beginnt der freie, jenaische Stil bei Re­ger.«

MOZART IM BLICK

Tatsächlich muten die letzten Werke, vor allem das Klarinettenquintett op. 146, auf eigentümliche Weise entspannter in der Struktur und gelöster im Tonfall an. Doch sollte diese Wendung hin zu durchsichtiger Kantabilität und harmonischer Wärme nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit kaum mehr als nur eine der vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten von Regers Perso­nalstil in den Vordergrund trat. So notier­te er schon 1904 mit anhaltender Überzeu­gung seine Vorstellung von einer mehr sich beschränkenden klassizistischen Haltung: »Mir ist’s absolut klar, was unserer heuti­gen Musik mangelt: ein Mozart !« Als »ers­te Früchte dieser Erkenntnis« nannte Re­ger gegenüber seinem Verlag das Streich­trio op. 77b und die Serenade op. 77a für Flöte, Violine und Viola, die er zuvor schon als »etwas allerleichtestes, einfachstes u. sehr melodiöses« angekündigt hatte. Dabei handelt es sich auch um eine Gegenreakti­on, mit der Reger letztlich dem Unwillen

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Max Reger: Komponistenportrait

gegen Richard Strauss, der arg privaten »Sinfonia Domestica« und deren Erfolg bei einer Amerika­Tournee Luft machen wollte.

MELANCHOLIE DES VERMÖGENS

Hört man auch nur eines seiner vor kompo­sitorischem Vermögen nur so strotzenden Werke, so überrascht es, wie unsicher sich Reger seiner Schöpfungen war. Dies be­trifft nicht nur das Frühwerk (bis op. 20), das er gelegentlich als »wertvollen Mist« bezeichnete, sondern auch all jene groß­formatigen Kompositionen, die er mit dem eng befreundeten, aber auch stark Ein­fluss nehmenden Thomaskantor Karl Straube durchsprach – und im Anschluss die Partituren entweder umarbeitete, »wohltätige« Kürzungen vornahm oder gar (wie im Fall des atemberaubenden Lateini­schen Requiems) abbrach; eine Symphonie hat er übrigens nach einigen Versuchen nie vollendet, und eine Oper lässt sich bei Max Reger gar nicht erst vorstellen. Auf der anderen Seite war es ihm als rastlos um­herreisendem Interpreten darum zu tun, eine Aufführungstradition seiner Werke zu etablieren. Denn so schwierig sich manche seiner überzeichneten Partituren auch lesen mögen, so gibt es doch einen poeti­schen Kern, den es nicht nur zu erfassen, sondern auch herauszuarbeiten gilt. Wenn dies gelingt, bedarf es dann auch nicht mehr der auf vielen Fotos festgehaltenen körperlichen Präsenz des Komponisten oder seines legendär derben oberpfälzer Humors. So waren die im schön gebunde­nen, 1923 herausgegebenen »Max Reger­ Brevier« dokumentierten Witze und Bon­mots selbst bei den Apologeten lange Zeit beliebter als viele der unzweifelhaft mit einer Melancholie des Vermögens geschrie­

benen Werke. Und als Ernst Bloch in den kontrapunktisch durchwirkten Partituren lediglich eine »Fingerfertigkeit höherer Ordnung« erblickte (»Geist der Utopie«, 1923), hatte Paul Bekker längst auf ihre Funktion als Katalysator für die sich for­mierende Neue Musik (1919) hingewiesen. Verborgen blieb beiden freilich die mensch­liche Tragik, die Reger physisch geradezu spiralförmig in den Abgrund trieb. So starb er, bis zuletzt ein (wie er sich selbst be­zeichnete) »Akkordarbeiter«, im Alter von 43 Jahren am 11. Mai 1916 in einem Leip­ziger Hotelzimmer mitten in der Arbeit über einer neuen Komposition. Heute muss die tatsächliche Bedeutung seines Schaf­fens erst wieder klar gestellt werden. Wie wichtig er aber mit seinen Kompositionen für die nachfolgende Generation des musi­kalischen Aufbruchs gewesen war, fasste bereits Paul Hindemith zusammen: »Max Reger war der letzte Riese in der Musik. Ich bin ohne ihn gar nicht zu denken.«

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Die KünstlerDie Künstler

DIRIGENT

Constantinos Carydis

Constantinos Carydis wurde 1974 in Athen geboren und studierte zunächst Musik­theorie und Klavier am Konservatorium sei­ner Heimatstadt. Anschließend setzte er seine Ausbildung mit einem Dirigierstudium bei Michael Hermann an der Hochschule für Musik und Theater in München fort. Als Pianist konzertierte er mit verschiedenen Orchestern in Griechenland und trat bei Klavier­ und Kammermusikabenden auf.

Erste Festengagements als Dirigent führ­ten ihn an das Münchner Staatstheater am

Gärtnerplatz und an die Staatsoper Stutt­gart. Als Operndirigent gab er wiederholt Gastdirigate an der Frankfurter Oper (»Dido und Aeneas«, »Herzog Blaubarts Burg«), den Staatsopern in Wien (»Don Giovanni«, »Carmen«, »La Bohème«), Berlin (»Il Turco in Italia«) und München (»Don Giovanni«, »Pelléas et Mélisande«), an der Amsterda­mer Nederlandse Opera (»Le Nozze di Figa­ro«, »Don Giovanni«, »Entführung aus dem Serail«), an der Opera de Lyon (»A Midsum­mer Night’s Dream«) und am Royal Opera House Covent Garden (»Don Giovanni«, »Carmen«).

Konzertengagements führten ihn u. a. zum Israel Philharmonic Orchestra, dem Sympho­nieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, dem Bayerischen Staatsorchester, dem Mahler Chamber Orchestra, dem Tonhalle­Orchester Zürich, dem Mozarteumorchester Salzburg, dem Konzerthausorchester Berlin, dem Orches­ter des Maggio Musicale Fiorentino und zum Edingburgh Festival.

2011 erhielt Constantinos Carydis den erstmals verliehenen Carlos­Kleiber­Preis der Gesellschaft der Freunde des National­theaters München.

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Die Künstler

TENOR HORN

Andrew Staples

Jörg Brückner

Als ehemaliger Chorknabe der St. Paul's Cathedral in London studierte Andrew Sta­ples am King's College in Cambridge. Er erhielt das Peter­Pears­Stipendium der Britten Pears Foundation, mit dem er seine Ausbildung am Royal College of Music in London fortsetzte. Als Jaquino (»Fidelio«) debütierte er am Royal Opera House Covent Garden. Er sang u. a. am Théâtre de la Monnaie in Brüssel, an der Staatsoper Hamburg und bei den Salzburger Festspie­len. Außerdem war er als Tamino in von ihm selbst inszenierten und von Daniel Harding dirigierten Produktionen beim Lucerne Festival (halbszenisch) und in Drott­ningholm zu erleben. Besondere Aufmerk­samkeit erregte Andrew Staples mit sei­nem Projekt »Opera for Change«, in dessen Rahmen »Die Zauberflöte« in zehn afrika­nischen Ländern in Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern aufgeführt wurde.

Der in Leipzig geborene Hornist studierte bei Rainer Heimbuch und Karl Biehlig an der Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Wei­mar und bei Hermann Märker in Leipzig. Nach Abschluss seiner Studien wurde Jörg Brückner als 3. Hornist im Gewandhaus­orchester Leipzig unter Kurt Masur enga­giert, von wo er 1997 als Solohornist zum Orchester der Dresdner Philharmonie wechselte. Bei namhaften Orchestern war er als Orchesteraushilfe tätig, 2009 spiel­te er während der Salzburger Osterfest­spiele bei den Berliner Philharmonikern Solohorn. Als Solist konzertierte er unter Dirigenten wie Jeffrey Tate, Walter Weller, Simone Young und Rafael Frühbeck de Bur­gos. Seit 2006 hat Jörg Brückner eine Pro­fessur für Horn an der Hochschule für Mu­sik »Franz Liszt« in Weimar, seit 2008 ist er erster Solohornist bei den Münchner Philharmonikern.

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Sebastian Schuster

Münchner Klangbilder

TITELGESTALTUNG ZUM HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM

»Eine junge, hübsche Frau, sinnbildlich für die heutige Zeit, in einem alten, sehr rus­tikalen Haus, welches die klassische Musik darstellt. Beides zusammen ergibt eine skurrile aber doch harmonische Verbindung und spiegelt die ruhige Eleganz, das Dra­matische und die Poesie der ›Serenade für Tenor, Horn und Streicher‹ von Benjamin Britten wider.« (Sebastian Schuster, 2016)

Für dieses Motiv hat sich Sebastian Schus­ter zusammen mit seinem Kollegen Davide Mirabella auf die Suche nach einer perfekt geeigneten Location gemacht und ist schließlich in Berchtesgaden fündig gewor­den: eine alte, seit über 20 Jahren verlas­sene Nervenheilanstalt und ehemaliges Lazarett. In Zusammenarbeit mit einem Modell aus der Modeschule in Hallein ent­stand schließlich dieses Bildmotiv, das den Kon trast zwischen alt und neu auf seine eigene Art porträtiert.

DER KÜNSTLER

Sebastian Schuster (28) ist gebürtiger Berchtesgadener und rutschte 2015 als Quereinsteiger in das erste Semester der Akademie U5 in München. Davor arbeitete er als gelernter Holzbildhauer mit Ab­schluss an der Holzfachschule für Bildhau­erei und Schreinerei in Berchtesgaden. An der Akademie U5 möchte er seine Ideen und Begabungen weiterentwickeln und sich kreativ fortbilden.

DIE HOCHSCHULE

Die Akademie U5 an der Einsteinstraße in München bildet seit mehr als 40 Jahren junge Kreative zu gestandenen Kommuni­kations­Designern aus. Die älteste deut­sche Hochschule für werbliches Gestalten hegt das Motto: »Unsere Studenten sollen Wirklichkeit studieren.« Im Laufe von sechs Semestern erlernt man alles um nach dem Diplom­Abschluss in der Gestaltungsbran­che Fuß zu fassen.

DIE KONZERTPLAKATE DERSPIELZEIT 2016/17

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Vorschau

Mittwoch26_10_2016 20 Uhr aDonnerstag27_10_2016 20 Uhr bFreitag28_10_2016 20 Uhr g4Mittwoch26_10_2016 10 Uhr Öffentliche Generalprobe

LUDWIG VAN BEETHOVENKonzert für Klavier und Orchester Nr. 1 C­Dur op. 15DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCHSymphonie Nr. 10 e­Moll op. 93 DAVID AFKHAM, DirigentRADU LUPU, Klavier

Freitag04_11_2016 20 Uhr k4Samstag05_11_2016 19 Uhr dSonntag06_11_2016 11 Uhr mFreitag04_11_2016 10 Uhr Öffentliche Generalprobe

HECTOR BERLIOZKonzertouvertüre »Le Corsaire« op. 21MARC­ANDRÉ DALBAVIEKonzert für Flöte und OrchesterANTONÍN DVOŘÁKSymphonie Nr. 5 F­Dur op. 76 LIONEL BRINGUIER, DirigentHERMAN VAN KOGELENBERG, Flöte

Sonntag20_11_2016 11 Uhr

2. KAMMERKONZERTFestsaal im Münchner Künstlerhaus

»Garten von Freuden und Traurigkeiten«

CAMILLE SAINT­SAËNS»Fantaisie« für Flöte und Harfe A­Dur op. 124SOFIA GUBAIDULINA»Garten von Freuden und Traurigkeiten« für Flöte, Viola, Harfe und SprecherARNOLD BAXFantasy Sonata für Viola und HarfeCLAUDE DEBUSSYSonate für Flöte, Viola und Harfe F­Dur

MICHAEL MARTIN KOFLER, FlöteBURKHARD SIGL, ViolaTERESA ZIMMERMANN, HarfeGOTTFRIED FRANZ KASPAREK, Sprecher

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Das OrchesterDas Orchester

1. VIOLINENSreten Krstič, KonzertmeisterLorenz Nasturica­Herschcowici, KonzertmeisterJulian Shevlin, KonzertmeisterOdette Couch, stv. KonzertmeisterinClaudia SutilPhilip MiddlemanNenad DaleorePeter BecherRegina MatthesWolfram LohschützMartin ManzCéline VaudéYusi ChenIason KeramidisFlorentine LenzVladimir TolpygoGeorg Pfirsch

2. VIOLINENSimon Fordham, StimmführerAlexander Möck, StimmführerIIona Cudek, stv. StimmführerinMatthias Löhlein, VorspielerKatharina ReichstallerNils SchadClara Bergius­BühlEsther MerzKatharina SchmitzAna Vladanovic­LebedinskiBernhard MetzNamiko Fuse

Die MünchnerPhilharmoniker

Qi ZhouClément CourtinTraudel ReichAsami Yamada

BRATSCHENJano Lisboa, SoloBurkhard Sigl, stv. SoloMax SpengerHerbert StoiberWolfgang StinglGunter PretzelWolfgang BergBeate SpringorumKonstantin SellheimJulio LópezValentin Eichler

VIOLONCELLIMichael Hell, KonzertmeisterFloris Mijnders, SoloStephan Haack, stv. SoloThomas Ruge, stv. SoloHerbert HeimVeit Wenk­WolffSissy SchmidhuberElke Funk­HoeverManuel von der NahmerIsolde HayerSven FaulianDavid HausdorfJoachim Wohlgemuth

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Das Orchester

KONTRABÄSSESławomir Grenda, SoloFora Baltacigil, SoloAlexander Preuß, stv. SoloHolger HerrmannStepan KratochvilShengni GuoEmilio Yepes Martinez Ulrich Zeller

FLÖTENMichael Martin Kofler, SoloHerman van Kogelenberg, SoloBurkhard Jäckle, stv. SoloMartin BeličGabriele Krötz, Piccoloflöte

OBOENUlrich Becker, SoloMarie­Luise Modersohn, SoloLisa OutredBernhard BerwangerKai Rapsch, Englischhorn

KLARINETTENAlexandra Gruber, SoloLászló Kuti, SoloAnnette Maucher, stv. SoloMatthias AmbrosiusAlbert Osterhammer, Bassklarinette

FAGOTTEJürgen PoppJohannes HofbauerJörg Urbach, Kontrafagott

HÖRNERJörg Brückner, SoloMatias Piñeira, SoloUlrich Haider, stv. SoloMaria Teiwes, stv. SoloRobert Ross

Alois SchlemerHubert PilstlMia Aselmeyer

TROMPETENGuido Segers, SoloBernhard Peschl, stv. SoloFranz UnterrainerMarkus RainerFlorian Klingler

POSAUNENDany Bonvin, SoloMatthias Fischer, stv. SoloQuirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune

PAUKENStefan Gagelmann, SoloGuido Rückel, Solo

SCHLAGZEUGSebastian Förschl, 1. SchlagzeugerJörg HannabachMichael Leopold

HARFETeresa Zimmermann, Solo

CHEFDIRIGENT Valery Gergiev

EHRENDIRIGENTZubin Mehta

INTENDANTPaul Müller

ORCHESTERVORSTANDStephan HaackMatthias AmbrosiusKonstantin Sellheim

Das Orchester

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Impressum

IMPRESSUM

Herausgeber:Direktion der MünchnerPhilharmonikerPaul Müller, IntendantKellerstraße 481667 MünchenLektorat: Christine MöllerCorporate Design:HEYE GmbHMünchenGraphik: dm druckmedien gmbhMünchenDruck: Gebr. Geiselberger GmbHMartin­Moser­Straße 23 84503 Altötting

TEXTNACHWEISE

Marcus Imbsweiler, Wolf­gang Stähr und Michael Kube schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Stephan Kohler verfasste die lexikalischen Werkan­gaben und Kurzkommenta­re zu den aufgeführten Werken. Künstlerbiogra­phien: nach Agenturvorla­gen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist sei­tens der Urheber genehmi­gungs­ und kostenpflich­tig.

BILDNACHWEISE

Abbildungen zu Franz Liszt: Ernst Burger, Franz Liszt in der Photographie seiner Zeit, München 2003; Wikimedia Commons. Abbil­dungen zu Benjamin Brit­ten: Heinrich Lindlar (Hrsg.), Benjamin Britten – das Opernwerk, Bonn 1955; alchetron.com. Ab­bildungen zu Max Reger: Fritz Stein, Max Reger, Laaber 1980; Wikimedia Commons; Susanne Popp / Susanne Shigihara, Max Reger am Wendepunkt zur Moderne – Ein Bildband mit Dokumenten aus den Be­ständen des Max­Reger­ Institus, Bonn 1987. Künstlerphotographien: Thomas Brill (Carydis), Agenturmaterial (Staples), wildundleise.de (Brück­ner).

Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt

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