Bruce frantzis Kampfkunste und-des-chi-ba-gua-tai-chi-hsing-i-

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Bruce Frantzis

Die Kraft der inneren Kampfkünste

und des Chi Kampf- und Energietechniken

im Ba Gua, Tai Chi und Hsing-I

Hinweise fü r die Leser

Alle fe t tgedruckten Begriffe, die im laufenden Text und in den eingeschobenen Kästen auftauchen,

werden in dem alphabetisch geordneten Glossar am Ende des Buches definiert.

Wichtiger Hinweis

Die Ausübung der Kämpf- und Meditationsküste kann Risiken mit sich bringen. Die in diesem Buch

beschriebenen Methoden sollen ärztlichen Rat und medizinische sowie psychologische Behandlung

nicht ersetzen. Der Leser sollte vor der Ausübung von Kampftechniken, Bewegungsübungen, Medi-

tat ionen oder Trainingsprogrammen fachlichen Rat einholen, um die Möglichkeit von Verletzungen

oder nachteiligen Folgen, die aus der Anwendung der in diesem Buch vorgestellten Methoden,

Übungen und deren Anwendung resultieren könnten, weitgehend zu vermeiden. Beim Auftreten

jeglicher unangenehmen körperlichen oder psychischen Wahrnehmung sollte sofort fachmedizini-

scher Rat eingeholt werden. Dennoch übernehmen Autor und Verlag keinerlei Haftung für Schäden

irgendwelcher Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwendung der Angaben in

diesem Buch entstehen. Sämtliche Informationen in diesem Buch sind für Interessierte zur Weiter-

bildung gedacht.

A n m e r k u n g des Übersetzers

Die vom Autor verwendeten Umschri f ten des Chinesischen entsprechen nicht durchgehend einem

der gängigen Systeme der Transkription (Romanisierung) des Chinesischen [Wade-Giles, Pinyin

oder Yale] und stellen of t Mischformen dieser unterschiedlichen Umschriftsysteme dar. Um die

Einheitlichkeit der Terminologie im Gesamtwerk des Autors zu bewahren, wurde darauf verzichtet,

die Umschriften nach einem dieser Systeme zu vereinheitlichen. Mehr zur vom Autor verwendeten

Romanisierung finden Sie im Anhang E: „Chinesische Terminologie".

Titel der Originalausgabe: The Power of Internal Martial Arts and Chi

Erschienen bei Energy Arts, Inc. P. 0. Box 99, Fairfax, CA 94798-0099

and Blue Snake Books

© 1998, 2007 Bruce Frantzis

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Stephan Schuhmacher

1. Auflage 2008

© 2004 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Aitrang

www.windpferd.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Laout: Marx Grafik 6t ArtWork

unter Verwendung eines Fotos von Mark Thayer

Lektorat: Bücherwurm

Innenillustrationen: Janet Bollow und Lisa Petty, Girl Vibe, Inc.

Gesetzt aus der Rotis

Gesamtherstellung: Schneelöwe Verlagsberatung 8t Verlag, Aitrang

Druck: Himmer AG, Augsburg

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 978-3-89385-554-4

Widmung

Ich widme dieses Buch

den Ausübenden sämtlicher Methoden der Kampfkunst,

die sich ernsthaft darum bemühen, zu helfen,

die lebendigen Traditionen der Kampfkunst zu fördern

und sie für künftige Generationen zu bewahren.

Uber den Autor

Bruce Frantzis hat sich seit 1961 in den östlichen Heilkünsten, der Kampf-

kunst und der Meditation geschult. Als Schüler in einer Übertragungslinie

daoistischer Künste gibt Mr. Frantzis an verschiedenen Orten in Norda-

merika und Europa Kurse in den inneren Kampfkünsten. Er lehrt auch

daoistische Techniken der Heilung, der Stärkung von Vitalität und der

Förderung spirituellen Wachstums. Er ist einer der beiden Schüler des

verstorbenen daoistischen Weisen Liu Hung Chieh. Liu hat ihn in aller

Form als Nachfolger in seiner Übertragungslinie bestätigt und hat ihn

ermächtigt, diese uralte Weisheit in der westlichen Welt zu lehren. Bruce

Frantzis hat außerdem bei einer Reihe anderer bekannter Lehrer der inneren

Kampfkunst in China und Japan studiert; er hat ihr Wissen zusammenge-

fasst, es entmystifiziert und allen zugänglich gemacht.

Weitere Veröffentlichungen des Autors sind Die Energietore des Körpers

öffnen. Der Weg zur Meisterschaft. Eine praktische Einweihung in das

daoistische Qi Gong (Windpferd, 2001), Im Tao sein - Entspannung in

Achtsamkeit. Die Wasser-Methode der taoistischen Meditation - Teil 1 -

(Windpferd/Schneelöwe, 2006), Die große Stille. Die Wasser-Methode der

taoistischen Meditation (Windpferd, 2007).

Weitere Informationen über Veranstaltungen des Autors, seine bisherigen

Veröffentlichungen und künftige Bücher finden Sie auf der Internetseite

des Autors unter www.energyarts.com

Inhalt

Über den Autor 4

Danksagungen 13

Vorwort 14

Zur Identifizierung der in diesem Buch erwähnten Personen 17

Warum dieses Buch geschrieben wurde 26

Prolog 27

Das spirituelle Ungenügen im Westen 27

Ein Meister des Chi ist ein Lehrer besonderer Art 28

Eine Frage an der Oxford-Universität 29

Fa Jin: Die Projektion von Energie ohne Muskelkraft 32

Wie Fa Jin gelehrt wird 32

Man kann Fa Jin anwenden, ohne Schmerzen zuzufügen 33

Mein eigenes Fa-Jin-Training 34

Der Gebrauch des Fa Jin zur Heilung 34

Fa Jinßir die spirituelle Entwicklung 35

Einführung 36

Kapitel 1 - Das Animalische, das Humane und das Spirituelle

Drei Ansätze für die Kampfkünste 41

Der animalische Ansatz 43

Der humane Ansatz 47Was ist die „Kunst" in den inneren Kampfkünsten? 49

Der spirituelle Ansatz 50Vernünflig trainieren 56

Kapitel 2 - Ein Kontinuum

Die äußeren und inneren Kampfkünste Chinas 65

Es gibt viele Arten von Kampfkunst 65

Verbeugungen, Gürtel und Uniformen 68Ist eine Kampfkunst „besser" als eine andere? 70

Was sind „Anwendungen" in der Kampfkunst?. 72

Die Genialität von Formbewegungen,

die Kampfanwendungen enthalten 75

Gute Formen der Kampfkunst wurden von Profis erfunden 77Lebendige und tote Formen 78

Die Abstimmung der äußeren Kampfkünste 83Kraft und Stärke 85Geschwindigkeit 86Ausdauer 87

Reflexe 88Die äußeren Kampfkünste innerhalb und außerhalb von China . . . . 90 Äußere Kampfkünste mit Beimischung von etwas innerer Arbeit . .94

Die Kombination der Abstimmung von äußeren

und inneren Kampfkünsten 95

Die Ausrichtung der inneren Kampfkünste 100

Chi und die Realität der Selbstverteidigung 108

Der Grund für die Betonung des Ba Gua in diesem Buch 109

Das Eisenhemd-Chi-Gung 110

Training mit Waffen 111

Kapitel 3 - Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die inneren Kampfkünste Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua 119

Fünf charakteristische Eigenschaften der inneren Kampfkünste 119

Die Entwicklung von Kampfkraft durch das Chi 121

Das sechzehnteilige Nei-Gung-System der inneren Kraft 121

Wie die innere Chi-Kraft in den Kampfkünsten durch das

sechzehnteilige daoistische Nei-Gung-System erzeugt wird 124

Die Beziehung des Chi Gung zu den Formübungen

in den Kampfkünsten 125

Drei grundlegende Vorschläge für einen realistischen Ansatz

zur Erlangung von innerer Kraft 127

Der Prozess des Erlernens von Nei Gung 128

Schlaglicht auf einzelne Nei-Gung-Elemente:

Der Prozess des Auflösens 131

Der Prozess der äußeren Auflösung 131

Der Prozess der inneren Auflösung 132

Die gleichzeitige Auflösung in den inneren

und den äußeren Raum 133

Die Stadien des Fühlens: I, Chi und Hsin 134

Die Natur des I oder der Intention 134

Direkte und indirekte Bewegung des Chi 139

Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua -Was ist hier gleich und was unterschiedlich? 141

Philosophische Perspektiven: Hart, Weich und Wandel 142

Wie die drei inneren Kampfkünste sieh bewegen 144

Die Betonung von Fußarbeit, Hüfte und Händen 145

Gemeinsamkeiten 146

Schwachpunkte 147

Die Notwendigkeit realistischer Selbsteinschätzung 147

Über Einschüchterung und Furcht hinausgehen 148

Effizienz und das Verhältnis von Risiko und Belohnung 149

Ba Gua, Tai Chi oder Hsing-I zum Zweck des Kämpfens erlernen . 151

Gesundheit und Kampfkunst-Könnerschaft 152

Grundlegendes Krafttraining 152

Die Bedeutung der Stehübung für die langfristige Entwicklung von innerer Kraft 154

Die acht Stadien der Übung zur Entwicklung der Kampffertigkeiten

im Ba Gua 156

Der Übergang von der Form zur Formlosigkeit:

Das Ziel der inneren Kampfkünste auf hohem Niveau 156

Stufe 1 157

Stufe 2 157

Stufe 3 158

Stufe 4 158

Stufe 5 159

Stufe 6 159

Stufe 7 160

Stufe 8 160

Techniken der inneren Kampfkunst 161

Hand- und Handflächen-Hiebe der inneren Kampfkünste 161

Arten von Hieben und der Einsatz der Hand 163

Die gleichzeitige Projektion von Energie

in entgegengesetzte Richtungen 171

Chin Na 171

Würfe 172

Tritttechniken 173

Mangel von Techniken am Boden 176

Kampfwinkel 178

Die Bedeutung der Tierformen in den inneren Kampfkünsten . . . . 183

Sparringpraktiken 186

Übung mit Freunden, Kampf mit Feinden 187

FaJin 188

Was die Methoden der kleinen, mittleren und großen Bewegungen

des Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua für den Kampf bedeuten 189

Körperliche Bewegung 190

Energiearbeit 192Kampfanwendungen 193

Die Bedeutung der Meister-Schüler-Beziehung

und einer Übertragungslinie 195

Kapitel 4 - Tai Chi

Erwägungen für den Kampf und Kampfanwendungen 203

Tai Chi Chuan als Kampfkunst 203Die acht grundlegenden Kampfprinzipien des Tai Chi 206

1. Abwehren (Peng) 210

2. Zurückrollen/Roll Back (Lu) 212

3. Vorwärtsdrängen (Ji) 222

3. Abwärtsdrücken (An) 223

Abwehren, Zurückrollen, Vorwärtsdrängen und Abwärtsdrücken

sind sowohl offensichtlich als auch verborgen 224

5. Abwärtsziehen (Tsai) 227

6. Spalten (Lieh) 227

7./S. Ellbogenhieb (Jou)/'Schulterstoß (Kao) 228Ellbogenhiebe und Schulterstöße, die direkt mit Kranich und

Schlange zu tun haben 229

Vier progressive Stadien des Erlernens von Tai Chi als Kampfkunst .. 233

Lange und kurze Formen 233

Links und rechts bei der Übung von Formen 234

Erstes Stadium: Arbeit mit der Form (lange oder kurze Form) . . . . 235

Zweites Stadium: Push Hands 241

Die vier Stile des Push Hands 252

Drittes Stadium:

Methoden für den Übergang vom Push Hands zum Sparring 256

Viertes Stadium: Sparring und tatsächlicher Kampf 258

Verschiedene Arten von Tai-Chi-Meistern oder -Lehrern,

denen man begegnen mag 264

Die wunderbare Persönlichkeit eines Tai-Chi-Lehrers 267

Kapitel 5 - Hsing-I

Erwägungen für den Kampf und Kampfanwendungen 275

Hsing-I Chuan als eine Kampfkunst 275

Hsing-I als ausgezeichnete Brücke zwischen den äußeren Kampfkünsten und den inneren Kampfkünsten 276

Die historischen Ursprünge des Hsing-I 278

Die drei Hauptschulen des Hsing-I 284Die Shanxi-Schule 284

Die Hebei-Schule 285

Die I-Chuan-Schule 287

Die Techniken und Trainingspraktiken des Hsing-I 293

Die Fünf Elemente 295San Ti 300

Was das San Ti lehrt 301

Die Tierformen 308

Kapitel 6 - Ba Gua

Erwägungen für den Kampf und Kampfanwendungen 321

Das Ba Gua als Kampfkunst 321

Die sagenumwobenen Ursprünge des Ba Gua 323Der geheimnisvolle Tung Hai Chuan 323

Die einzigartigen Kampfkunsteigenschaften des Ba Gua 324

Gegen acht Gegner gleichzeitig kämpfen 325

Vorgeburtliches und nachgeburtliches Chi 326

Die Philosophie des Kampfkunsttrainings in der vorgeburtlichen

und der nachgeburtlichen Methode des Ba Gua 328

Nachgeburtliches Training 330

Die Übung des Ba Gua 334Die Stadien des Kreisgehens 334

Die körperlichen Eigenschaften des Kreisgehens 337

Die energetischen Eigenschaften des Kreisgehens 338

Die Energien des I Ging - Der Beginn des fortgeschrittenen Ba Gua. . 339

Die acht Mutterhände 340

Shi Liu und die kondensierte Erste Hand 342

Spontane Bewegungen 344

Bien Hua und die Kunst des Wandels nach dem I Ging 344

Wandel der Energie und der Kampfanwendungen 349

Die Wandlung von Angriffswinkeln:

Kreise, Spiralen, Dreirecke und Vierecke 355

Kreise und Spiralen 357

Dreiecke und Vierecke 358

Sparringübungen 359

Rou Shou, die „weichen Hände" 360

Die Abfolge des Trainings 361

Kapitel 7 - Geschwindigkeit

Das Wesen der Geschwindigkeit in allen Stilen der Kampfkunst 377

Wie man die vier grundlegenden Arten der Geschwindigkeit erreicht. 377

Typ I: Geschwindigkeit von Punkt A zu Punkt B 378Geschwindigkeit der Beine und Füße 381

Typ II: Geschwindigkeit in der Berührung 383

Typ III: Geschwindigkeit unter wechselnden Bedingungen 389

Typ TV: Geschwindigkeit in Relation zur Kraft 391

Das Schnell-langsam-Paradoxon der inneren Kampfkünste 393

Gemeinsame Eigenschaften 397

SpezialisierteStrategien 400

Kapitel 8 - Die Verwendung von Energie zur Heilung

Die Gesundheitsaspekte der Kampfkünste 407

Die inneren Kampfkünste als System der Energieheilung 407

Der Unterschied zwischen Gesundheit und Fitness

aus der Perspektive der inneren Energiearbeit 408

Persönliche Gresundheit: Jack Pao und die Natur von Grenzen .. . 410

Muss man Selbstverteidigung erlernen, um gesundheitlich

von einer inneren Kampfkunst profitieren zu können? 411

Gesundheit und Fitness in den inneren Kampfkünsten 414

Wie die inneren Kampfkünste und Chi Gung

Gesundheit herbeiführen 419

Verstörtes Chi in Ordnung bringen 420

Die inneren Kampfkünste als natürlicher Weg, zu einem Heiler

durch Handauflegen zu werden 422

Die Verbindung zwischen den inneren Kampfkünsten

und dem Heilen 424

Die Bedeutung einer persönlichen Praxis von Chi Gung

und inneren Kampfkünsten für westliche Heiler 425

Der Wert des Erlernens der inneren Künste

für ältere Kampfkünstler 428

Wer sollte die inneren Kampfkünste noch jenseits

der Dreißig praktizieren? 430

Die inneren Kampfkünste und geistige Gesundheit 433

Innere Kampfkunst für Teenager 433

Was die inneren Kampfkünste für die geistige Gesundheit leisten . 434

Kapitel 9 - Das Dao der spirituellen Kampfkünste Eine Brücke zur daoistischen Meditation 441

Was ist eine spirituelle Kampfkunst? 441Spirituelle Kampfkünste sind nichts für Feiglinge 443

Wann ist ein Pfad „spirituell" - die daoistische Perspektive 445

Andere Wege der Umsetzung von Spiritualität

in den Kampfkünsten 450

Drei Ebenen der spirituellen Kampfkünste 453

In wessen Hintern wird bei den Kampfkünsten getreten? 457

Die Schattenseiten der spirituellen Kampfkunst 458

Daoistische Meditation und das innere Auflösen 464

Der Prozess des spirituellen Erwachens 472

Die Beziehung des Sparring zu den fünf Arten der Übung 483

Abschluss: Die Spiritualität ins tägliche Leben integrieren 484

Anhang A: Die verschiedenen Stile des Tai Chi

Eine kurze Geschichte 489

Der Ursprung der verschiedenen Stile des Tai Chi 489Das ursprüngliche Tai Chi aus dem Dorf der Chen-Familie 490

Das Tai Chi Chuan verlässt das Chen-Dorf

und wird zum Yang- und dann zum Hao-Stil 492Der Chen-Stil bringt den Yang-Stil des Tai Chi hervor 492

Der Yang-Stil und der kleine Chen-Stil

bringen den Hao/Wu-Stil hervor 495

Der Alte Yang-Stil wird zum Neuen Yang-Stil 495Der Alte Yang-Stil 496

Der Neue Yang-Stil 497

Der Yang-Stil bringt den Wu-Stil hervor 498

Die Denkweise der traditionellen Kampfkünste 499Kombinationsstile 502

Andere Stile des Tai Chi:

Familientraditionen, geheime und verlorengegangene Linien 504

Wie kam es zur Schaffung neuer Stile?. 505

Gründe für Variationen innerhalb desselben Stils 507

Anhang B: Der Hintergrund des Ba Gua

Eine kurze Geschichte 511

Die Grundlagen der Ba-Gua-Schule in der Moderne 511

Die vier Hauptschüler von Tung Hai Chuan 511

Keine Adepten mit Ching Gung in der Moderne 515

Die Ausbreitung des Ba Gua außerhalb von Beijing 516

Ba Gua in Hongkong 518

Ba Gua in Taiwan 519

Das traditionelle Ba Gua und das Wu Shu Ba Gua

in der heutigen Volksrepublik China 521

Verschiedene Übertragungslinien 525

Anhang C: Die energetische Anatomie des menschlichen Körpers

Die Hauptenergiekanäle und die drei Dantien 527

Was ist dem linken, rechten und dem zentralen Energiekanal

gemeinsam? 527

Der Verlauf des Zentralkanals 528

Der Verlauf des linken beziehungsweise rechten Kanals 530

Anhang D: Linien und Trainingschronologie

Zusammenfassung der Kampfkunsterfahrung von Bruce Frantzis 532

Die Zertifikate 533

Ba-Gua-Zertifikat 533

Tai Chi Zertifikat 534

Hsing-I Zertifikat 534

Die Linien 535

Namensliste der Ba-Gua-Meister 535Die Namensliste der Tai-Chi-Meister 536

Die Namensliste der Hsing-I-Meister 536

Anhang E: Chinesische Terminologie

Die Romanisierung chinesischer Wörter in diesem Buch 537

Wie chinesische Wörter, Sätze und Namen in diesem Buch

transkribiert wurden 537

Anhang F: Glossar

Anhang G: Die Living Taoism Collection und

die B. Frantzis Energy Arts Lehren

Das B. Frantzis Energy Arts® Programm 566

Meditation 569

Andere heilen 570

Innere Kampfkünste 571

Living Taoism™ Collection 572

Kontakt/Information 573

Danksagungen

V i e l e Menschen aus dem Bereich der Kampfkünste haben die Entstehung

dieses Buches tatkräftig unterstützt. Ich möchte den folgenden Menschen,

die das Manuskript gelesen und mir mit ihrer Kritik und Ratschlägen

geholfen haben, danken:

FRANK ALLEN, Director and Chief Instructor, Wu Tang Physical Culture

Association, New York, New York

BERNARD LANGAN, Senior Instructor, Taoist Internal Arts Studio, Ber-

keley, California

HAL LEHRMAN, Head Instructor, Aikido of Park Slope, Brooklyn, New

York

CLARENCE LU, Assistant Director, Wu Tang Physical Culture Association,

Urheber des Mandarin for the Martial Arts Language Program, New York,

New York

ALAN PEATFIELD, Tai Chi Instructor. Seit 30 Jahren Praktizierender der

asiatischen Kampfkünste, Dublin, Irland

ERIC PETERS, Tai Chi and Chi Gung Instructor, Martha's Vineyard, Mas-

sachusetts

RACHEL ROBINSON, Schwarzer Gürtel dritten Grades im Kempo-Karate,

Haverhill, Massachusetts

BILL RYAN, Director with Senior Staff, Brookline Tai Chi, Brookline, Mas-

sachusetts

ERIC SCHNEIDER, Founder and Chief Instructor, Northeastern Tai Chi

Chuan Association, New York, New York

Besonderer Dank gilt Stuart Kenter für sein unschätzbar wertvolles Lektorat

und für seine Anstrengungen, ein komplexes uraltes östliches Wissen auf

eine Weise zu präsentieren, die es für moderne Leser zugänglich macht.

13

Vorwort

Vorgefasste Meinungen in einen Kampf auf Leben oder Tod hinein-

zutragen, ist ein begrenzter Ansatz, der dazu führen kann, dass man sein

Leben verliert.

Die schwierigste Aufgabe für einen Krieger besteht darin, zu jedem

gegebenen Zeitpunkt das loslassen zu können, was wir für die Wahrheit

halten. Doch Aufgeben ist in einer Situation, in der es um Leben oder Tod

geht, keine Option. Unser Alltagsleben ist keine Abfolge von Ereignissen,

bei denen es um Leben oder Tod geht, aber es fordert uns dazu heraus,

nachgiebig zu sein und das, was sich vor unserer Nase befindet, genau

zu untersuchen.

Es gehört ganz offensichtlich zum Handwerk des Kriegers, mit Macht

umzugehen, und Macht ist die Fähigkeit, zu handeln, um eine Veränderung

herbeizuführen. Vorgefasste Meinungen begrenzen unser Vermögen, uns

zu verändern, und die Unfähigkeit, uns durch Veränderung anzupassen,

behindert unser Wachstum. Wachstum ist ein Prozess, in dem wir das,

worauf wir unsere Persönlichkeit aufgebaut haben, hingeben müssen,

ohne es aufzugeben. Es bedeutet, dass wir uns aus unserer persönlichen

Festung hervorwagen und die Grenzbereiche sich uns anbietender neuer

Ideen auskundschaften.

Zum Glück geht es bei der Ausübung der meisten Kampfkünste nicht

wirklich darum, zu töten. Das versetzt uns in die Lage, genügend Zeit und

Raum zur Verfügung zu haben, so dass wir nicht ständig auf der Hut sein

und unsere Auffassungen fallen lassen können, damit andere Sichtweisen

unsere persönliche Erfahrungswelt bereichern können. Wenn uns jemand

sagt, das Terrain außerhalb unseres eigenen Landes sei andersartig und

uninteressant - nehmen wir diesen Glauben dann als unsere eigene Wirk-

lichkeit an, oder statten wir diesem Terrain einen Besuch ab und sehen

selbst nach?

In der Ausbildung des Soldaten für die Schlacht wird der aggressive

animalische Instinkt, der über gewöhnliche Wut hinausgeht, betont. Man

bringt dem Soldaten bei, „keinen Zweifel in sein Denken eindringen zu

lassen". Aber letztlich ist es doch so, dass das Leben uns immer wieder

überrascht, ganz gleich, wie sehr wir an unseren Überzeugungen darüber,

14

wie die Welt beschaffen ist und was wir selbst sind, festhalten. Je ange-

strengter wir versuchen, das Leben in den Griff zu bekommen und ihm mit

unnachgiebiger Härte unser Denkens aufzuzwingen, desto mehr werden

die Ereignisse unseres Lebens dazu tendieren, uns aus unseren begrenzten

Anschauungen aufzurütteln. Das Leben garantiert uns, dass es uns bis in

die Grundfesten dessen, was wir in dieser alltäglichen Welt für unsere

„Identität" halten, erschüttern wird. Wenn wir uns wirklich auf dem Pfad

des Wachstums durch die Kampfkunst befinden, dann werden wir an

jedem einzelnen Tag durch unsere eigene Offenheit für das Unbekannte,

das persönlich noch nicht Erprobte, herausgefordert und in Frage gestellt.

Wenn wir nicht fähig sind, uns einen forschenden Geist zu bewahren,

werden wir nicht in der Lage sein, die wahre Natur des Schlachtfeldes

zu erkennen. Das letzte Gefecht findet nämlich auf der Ebene unseres

inneren Daseins statt. Nehmen wir Dinge blindlings an? Weisen wir Dinge

blindlings zurück? Glauben wir blindlings alles zu wissen, was es gibt?

Wir müssen die Augen weit aufmachen, damit wir beginnen können,

die Unendlichkeit in uns selbst und im Aufbau der Welt zu begreifen.

Als Krieger sind wir dazu verpflichtet, uns für die Tatsache zu öffnen,

dass wir in allem, was wir zu wissen glauben, vielleicht sehr eingeschränkt

sind und dass wir uns selber zu dieser Beschränktheit programmiert ha-

ben. Wir müssen erkennen, worin die Schranken in unserem Alltagsleben

bestehen - sei es, dass wir aus Furcht eine Haltung unnachgiebiger Stärke

annehmen oder eine Position absoluter Autorität, die auf unvollständigem

Wissen basiert, oder seien es Haltungen, auf wir uns im alltäglichen sozialen

Austausch mit anderen, denen wir ein ganz bestimmtes Bild von uns selbst

vermitteln möchten, versteifen. All diese Lebensentwürfe sind die Summe

der Realität unserer inneren Vorgänge. Wenn wir das, was wir zu sein

glauben und was wir für das Leben halten, nicht hinter uns lassen können,

sind wir bloß gewöhnliche Soldaten, die dem Marschbefehl des Egos folgen.

Der gute Kampf besteht darin, dass wir die Mechanik unseres inneren

Bedürfnisses, unbedingt Recht zu behalten, durchschauen - ebenso wie die

aus Geltungsbedürfnis entstandenen rebellischen Vorstellungen, die wir auf

das Unbekannte und das, was wir fürchten, projizieren. Wenn wir erkennen,

dass diese persönliche innere Mechanik unsere Auffassung des Lebens

und des Todes einschränkt, dann ermöglicht uns das die Erfahrung von

Demut, und wir begreifen, dass der Krieger zu unaufhörlichem Wachstum

verpflichtet ist. Wir müssen in unseren Glaubensstrategien Raum schaffen,

um die Kriege, die wir anzetteln, überleben zu können.

15

Meine persönliche Erfahrung des ganzen Spektrums dessen, was Krieg

sein kann, brachte es mit sich, dass ich den Inbegriff der unnachgiebigen

Härte und des gnadenlosen Kampfes von den Schlachtfeldern mit hinü-

ber nahm in mein Leben als Zivilist. Und so brachte ich diese Aspekte

des Lebens auch mit in das Dojo und mein Kampfkunsttraining. Ich war

körperlich so angespannt und mental so versteinert - Eigenschaften, die

mir auf dem Schlachtfeld im Kampf auf Leben oder Tod sehr zu gute

gekommen waren -, dass ich schließlich krank wurde. Das Training mit

Bruce Kumar Frantzis hat mir gezeigt, dass Härte und mentale Ausrichtung

in den Kampfkünsten nur von begrenztem Nutzen sind. In den dreißig

Jahren meiner Schulung in den Kampfkünsten habe ich keinen anderen

Menschen getroffen, der ein so umfassendes Wissen an den Tag legt wie

Bruce Frantzis. Sein Wissen ist wirklich authentisch. Er vermag nicht nur

mit großem Geschick zu demonstrieren, welch innere Macht beim Kämpfen

möglich ist, er ist auch ein wunderbarer Lehrer, was die heilende Kraft des

Chi angeht. Sein Können bei der Übermittlung daoistischer meditativer

Praktiken hat große und wohltuende Veränderungen in meinem Leben

hervorgerufen, ohne dass meine Fähigkeit, meinen Mann zu stehen, wenn

es im Kampf um Leben oder Tod geht, darunter gelitten hätte.

Das in diesem Buch vermittelte Wissen ist ein Elixier, das alles enthält,

was im Bereich der inneren Kampfkunst möglich ist. Ich kann das Trai-

ning, das Bruce anbietet, jedem, der ein komplettes System für Kampf,

Heilung und Meditation in den inneren Kampfkünsten sucht, wärmstens

empfehlen.

Lee Burkins

Veteran der Kampftruppe der U.S. Army Special Forces

Montrose, California

16

Zur Identifizierung der in diesem Buch erwähnten Personen

In diesem Buch tauchen immer wieder die Namen vieler hervorragender

Kampfkünstler aus China und Japan auf. Da die meisten westlichen Leser

mit diesen östlichen Namen nicht vertraut sind, habe ich im Folgenden

ein „Who is Who" zum leichten Nachschlagen zusammengestellt. Bei den

chinesischen und japanischen Namen wird der Familienname gewöhnlich

zuerst angegeben, der Vorname folgt darauf. Alternative Umschriften sind

manchmal in Klammern angeführt. Viele der Menschen in dieser Liste sind

direkte Nachfolger in einer Übertragungslinie von anderen hier Angeführ-

ten oder Nachkommen anderer, die eine Familienübertragungslinie in der

Kampfkunst begründet haben.

Obwohl viele der in diesem Buch genannten Kampfkünstler in ihrer

jeweiligen Kampfkunst als Meister oder sogar Großmeister bezeichnet

werden, habe in diesem Buch darauf verzichtet, die entsprechenden Titel

vor ihren Namen zu nennen.

Bai Hua (Peh Hua) Ein Schüler von Liu Hung Chieh im Hsing-I und Ba

Gua und von Lin Du Ying im Tai Chi des Alten Yang-Stils. Bai Hua ist ein

Daoist, der sich auf die innere Alchemie spezialisiert hat. Er ist einer der

Hauptlehrer des Autors auf dem Gebiet der inneren Kampfkunst.

Chang Chao-Tung (auch bekannt als Chang Chang K'uei, Zhang Zhang

Kui) Der Hauptlehrer von Wang Shu Jin. Er ist eine der wichtigsten Per-

sönlichkeiten in der Hsing-I-Übertragungslinie und ein Ba-Gua-Schüler

von Tung Hai Chuan und Cheng Ting Hua.

Chang Chun-Feng Der Lehrer, der Gao Yishengs Methode der 64 Posituren

des nachgeburtlichen Ba-Gua-Systems vom Festland nach Taiwan gebracht

hat. Er ist der Lehrer von Hung 1 Hsiang und seinem Bruder Hung I Min.

Chang I Chung Der erste Tai-Chi-Lehrer des Autors in Tokio. Einer der

Hauptschüler von Wang Shi Jin, der als Assistenzlehrer fungierte, wenn

sich Wang in Japan aufhielt.

17

Chan San Fen Der Legende nach der daoistische Unsterbliche, der das

Tai Chi Chuan schuf, nachdem er den Kampf zwischen einer Schlange und

einem Kranich beobachtet hatte.

Chen Fa Ke (Ch'en Fa K'e) Der erste wichtige Tai-Chi-Lehrer des Chen-

Stils im zwanzigsten Jahrhundert, der sein Heimatdorf verließ und nach

Beijing ging, um zu lehren.

Chen I Ren Ein wichtiger Hsing-I-Lehrer in Hongkong und einer der

beiden Lehrer, die die innere Kampfkunst des Liu He Ba Fa To nach Hong-

kong brachten.

Chen Man-ching (Zhen Manqing) Der Lehrer, der den Autor in das Tai

Chi Chuan einführte. Er war einer der ersten erstklassigen Tai-Chi-Meister

aus China, die in den frühen Jahren der Übertragung des Tai Chi nach

Amerika in New York City gelehrt haben.

Chen Pan Ling (Ch'en P'an Ling) Er war vor dem zweiten Weltkrieg eine

der wichtigen Persönlichkeiten auf dem Gebiet der inneren Kampfkunst

im Festland-China und später auch in Taiwan. Er war der Tai-Chi-Lehrer

sowohl von Wang Shu Jin als auch von Hung I Hsiang.

Chen Wang Ting (Ch'en Wang T'ing) Nach einer der Theorien über die

Entstehung des Tai Chi Chuan der Begründer dieser Kampfkunst.

Cheng Ting Hua (Ch'eng T'ing Hua) Einer der Hauptschüler von Tung

Hai Chuan, der Begründer der Kampfkunst des Ba Gua Chang. Seine Linie

ist eine weit verbreitete Schule des Ba Gua.

Cheng You Long (Ch'eng You Lung) Der Sohn von Cheng Ting Hua; der

erste Ba-Gua-Lehrer von Liu Hung Chieh, der Liu formell in die Ba-Gua-

Übertragungslinie initiierte.

Chi Chi Guang Ein berühmter chinesischer General, dessen Schulungs-

handbuch militärischer Techniken die Grundlage von 29 der 32 körperli-

chen Bewegungen des ursprünglichen Chen-Stils des Tai Chi darstellt.

Chuan You (Ch'uan You, Quan You) Der beste jener Schüler von Yang Lu

Chan, die nicht zu seiner Familie gehörten. Er war, zusammen mit seinem

Sohn Wu Jien Chuan, einer der Begründer des Wu-Stils des Tai Chi. Seine

Linie stellt einen der drei Hauptlinien des Wu-Stils dar.

Konfuzius (latinisierte Schreibweise von Kongzi oder K'ung-tzu, auch

Kongfuzi oder K'ung-fu-tzu oder Konfutse geschrieben) Der Philosoph

18

des Altertums, dessen Denken zur Grundlage der traditionellen weltlichen

Kultur Chinas darstellt. Seine Vorstellungen hatten starken Einfluss auf

die sozialen Beziehungen, die Umgangsformen, Sitten und Gebräuche in

China und auf die hierarchischen Strukturen der meisten Kampfkünste in

China und Japan.

Dai Long Bang (Tai Lung Pang) Der Lehrer von Li Luo Neng, dem neuzeit-

lichen Vater des Hsing-I, dessen Schüler und Schülersschüler das Hsing-I im

neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert in China verbreitet haben.

Feng Zhi Qiang (Feng Zhiqiang) Der Chen-Stil-Tai-Chi-Lehrer des Autors

in Beijing. Der letzte ernsthafte Schüler des Chen Fa Ke im Push Hands.

Feng ist in ganz China für seine Beherrschung des Push Hands berühmt

und hat eine anerkannte Kurzform des Chen-Stils kreiert.

Fu Chen Sung (Fu Zhen Sung) Einer der fünf Kampfkunst-Tiger von

Südchina; er war ein besonderer Kenner des Ba Gua und Tai Chi und hat

den kombinierten Fu-Stil des Tai Chi geschaffen.

Gao Yisheng (Gao I Sheng) Lehrer der 64 Techniken der nachgeburtlichen

Methode des Ba Gua, das von seinem Schüler Chang Chun-Feng an Hung

I Hsiang und Hung I Min weitergegeben wurde.

Goto Einer der Hauptschüler von Sawai Kenichi des Taiki-Ken, der I-

Chuan-Schule des Hsing-I.

Gu I Jai (Ku Yu Cheung) Einer der fünf Kampfkunst-Tiger von Südchina,

ein besonderer Kenner des Hsing-I. Er wurde im Westen bekannt durch

das Foto, auf dem er einen hüfthohen Stapel von Ziegelsteinen mit einem

einzigen Hieb seiner Handkante zerschlägt.

Guo Yun Shen (Kuo Yun Shen) Schüler von Li Luo Neng und eine der

wichtigsten Persönlichkeiten im Hsing-I. Zwei seiner Schüler begründeten

wichtige Zweige des Hsing-I, nämlich die synthetische Methode (Sun Lu

Tang) und das I Chuan (Wang Hsiang Zai).

Han Hsing Yuan Der I-Chuan-Lehrer des Autors in Hongkong, einer der

vier Hauptschüler von Wang Hsiang Zai.

Hao Wei Zhen (Hau Wei-Chen) Der Lehrer von dessen Namen sich der

Name des Tai-Chi-Stils des kleinen Rahmens herleitet. Er war der Tai-

Chi-Lehrer von Sun Lu Tang, der den kombinierten Sun-Stil des Tai Chi

kreierte.

19

Huang Hsi I Einer der Hauptlehrer des Autors im Bereich der inneren

Kampfkünste und des Chi Gung Tui Na. Einer der besten Hsing-I-Schüler

von Hung I Hsiang, der später zu einem der führenden Chi-Heiler seiner

Generation in Taiwan wurde.

Hung I Hsiang Einer der Hauptlehrer des Autors auf dem Gebiet der

inneren Kampfkunst. Der Schüler von Chang Chun Feng und Chen Pan

Ling war von den 1950er bis in die 1980er Jahre einer der wichtigsten

Lehrer des Ba Gua und des Hsing-I in Taiwan.

Hung I Min Neben seinem Bruder Hung I Hsiang einer der Hauptschüler

von Chang Chun Feng.

Jiang Fa Ein geheimnisvoller Flüchtling, der nach einer der existierenden

Theorien das Tai Chi in das Dorf Chen gebracht hat.

Ju Wen Bao Der Ba-Gua-Lehrer von Liu Hung Chieh. Der erste Lehrer,

der Liu Tung Hai Chuans Methoden daoistischer Meditation gelehrt hat.

Kanazawa H. Ein wichtiger Meister des japanischen Shotokan-Karate,

der für seine außerordentliche Technik und seinen Kampfgeist bekannt ist

sowie dafür, dass er im Jahre 1950 die Japanischen Karate-Meisterschaften

mit einem gebrochenen Arm gewonnen hat.

Kawashima Einer der Hauptschüler von Chang I Chung in Tokio.

Kung Pao Tien (Gong Bao Tian) Ba-Gua-Schüler von Yin Fu.

Kuo Lien Ying (Guo Lien Ying) Ein hoch qualifizierter Tai-Chi-Meister,

der in der Frühzeit der Einführung des Tai Chi in Amerika in San Fran-

cisco gelehrt hat. Er ist der Schöpfer des kombinierten Kuan-Ping-Stils

des Tai Chi.

Laozi (Laotse, Lao-tzu) Der Autor des Daodejing (Taoteking, Tao-te-

ching, „Das Buch vom Weg und seiner Wirkkraft"), das als das wegberei-

tende Werk über die Grundlagen des Daoismus gilt. Vor etwa 2.500 Jahren

geschrieben, ist es nach der Bibel das meistübersetzte Buch in der Welt.

Lee, Bruce Ein berühmter Star der Kampfkunst-Filme der 1960er und

1970er Jahre. Der Schüler von Yip Man schuf den Jeet-Kune-Do-Stil der

Kampfkunst.

Li Luo Neng (auch Li Neng Jan oder Li Nengran) Eine der prägenden

Figuren des modernen Hsing-I; die Linie seiner Schüler verbreitete das

Hsing-I im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert in ganz China.

20

Li Tsung (Li T'sung, Li Cunyi) Bedeutende Persönlichkeit in der Hsing-

I-Linie. Seine Zusammenarbeit mit dem Ba-Gua-Kampfkünstler Cheng

Ting Hua führte zu einer Vermischung dieser beiden wichtigen Systeme

der Kampfkunst.

Liang Jr Pang (Liang Chih P'ang) Ein wichtiger Hsing-I-Lehrer in Hong-

kong und einer der beiden Lehrer, die ursprünglich die innere Kampfkunst

der Liu He Ba nach Hongkong brachten.

Liang Tung Ts'ai (auch bekannt als T. T. Liang) Der Lehrer des Autors

im Bereich des Neuen Yang-Stils des Tai Chi. Er war ein Schüler von Chen

Man-ching und trug viel zur Verbreitung des Tai Chi in Amerika bei.

Lin Du Ying Bai Huas Lehrer im Alten Yang-Stil des Tai Chi und der

Lehrer des Autors in Xiamen (Amoy) in der Provinz Fujian (Fukien). Er

war ein Schüler von Tien Chau Ling und Wu Hui Chuan, den wichtigsten

Schülern von Yang Pan Hou.

Ling Shan Yang Lu Chans bester Schüler im Bereich der Phase der wei-

chen Energie des Tai Chi Chuan.

Liu Hung Chieh Ein Tai-Chi-Schüler von Wu Jien Chuan und Mitglied

der ursprünglichen Ba-Gua-Schule von Beijing sowie ein daoistischer

Meditationsmeister. Er war der letzte der Hauptlehrer des Autors auf dem

Gebiet der inneren Kampfkünste und der daoistischen Meditation.

Lo Te Hsiu Hung I Hsiangs bester Schüler auf dem Gebiet von Gai

I Shengs linearer 64-Hände-Methode des nachgeburtlichen Ba Gua. Einer

der besten Ba-Gua-Meister seiner Generation in Taiwan.

Ma Gui (auch bekannt als Ma Shr Ching oder Ma Shi Ching) Einer der

„Großen Vier" Schüler von Tung Hai Chuan, dem Begründer des Ba Gua.

Ein wichtiger Lehrer von Liu Hung Chieh.

Musashi Miyamoto Wahrscheinlich der größte japanische Samurai und

einer der besten Schwertkämpfer Japans; er lebte von 1584 bis etwa 1645.

Pao, Jack Ein Ba-Gua-Lehrer und Trainingspartner des Autors in Hong-

kong.

Sawai Kenichi Der Hsing-l-Lehrer des Autors in Tokio; er war in China 10

Jahre lang ein Schüler von Wang Hsiang Zai, dem Begründer des I Chuan.

Sawai nannte sein Hsing-I-System „Taiki-Ken".

21

Shr Liu (Shi Liu) Einer der Hauptschüler von Tung Hai Chian im Bereich

des Ba Gua. Er war spezialisiert auf das „Single Palm Change" (Einhand-

Wandlung).

Sun Hsi Kun (Sun Xikun) Schüler von Cheng You Lung. Sun schrieb

ein wichtiges Buch über das Ba Gua auf Chinesisch und lehrte nach dem

chinesischen Bürgerkrieg in Hongkong und Taiwan.

Sun Lu Tang Eine bedeutende Persönlichkeit in der Geschichte der drei

inneren Kampfkünste. Sun Lu Tang schrieb das erste Buch über die inneren

Kampfkünste auf Chinesisch. Er war der Hauptschüler von Guo Yun Shen

im Bereich des Hsing-I und ein wichtiger Schüler von Cheng Ting Hua

und ist der Begründer des Sun-Stils des Tai Chi Chuan.

Sung Shr Rong (Sung Shirong) Ein Meister in den Übertragungslinien

des Hsing-i und des Ba Gua.

Tan Hsiu Fa Shr Ein Patriarch der T'ien-T'ai-(Tian-Tai-)Schule des chi-

nesischen Mahayana-Buddhismus. Er war der wichtigste buddhistische

Meditationsmeister von Liu Hung Chieh.

Tien Chau Ling (Tian Zhaoling) Hauptschüler von Yang Pan Hou und des

Alten Yang-Stils. Einer der führenden Tai-Chi-Kämpfer seiner Generation.

Er war der Lehrer von Lin Du Ying.

Tu Hsin Wu (Du Xinwu) Tu, der für seine Tritttechnik bekannt war, war

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine wichtige Persönlichkeit in der

Kampfkunst in Nordchina. Er praktizierte das „Boxen des natürlichen To-

res" (Natural Gate Boxing) und war der Hauptlehrer von Wan Lai Sheng.

Er unterrichtete auch Liu Hung Chieh für kurze Zeit.

Tung Hai Chuan (Dong Haichuan) Der neuzeitliche Begründer der Kampf-

kunst Ba Gua Chang; er lehrte in der zweiten Hälfte des neunzehnten

Jahrhunderts.

Tung Hu Ling Hu Ling, der Sohn von Tung Ying Chieh, war einer der

ersten hoch qualifizierten Lehrer, die in der frühen Phase der Einführung

des Tai Chi nach Amerika in Hawaii lehrten.

Tung Ying Chieh (Dong Yingjie) Einer der wichtigen Schüler des Yang

Chen Fu Tai Chi. Tung und seine Nachfolger aus seiner Familie verbreite-

ten den Neuen Yang-Stil des Tai Chi in Südostasien und den Vereinigten

Staaten.

22

Ueshiba Morihei Der Aikido-Lehrer des Autors. Ueshiba, der in Japan

O-Sensei, der Große Lehrer, genannt wird, ist der Begründer der modernen

japanischen Kampfkunst Aikido, die auf der inneren Energie basiert.

Wan Lai Sheng Einer der fünf t Kampfkunst-Tiger von Südchina. Er

praktizierte das „Natural Gate Boxing". Er war der Hauptschüler von Tu

Hsin Wu und ein Kollege von Liu Hung Chieh.

Wang Chun Yang Lu Chans bester Schüler auf dem Gebiet des Tai Chi

der harten Energie.

Wang Shu Jin (Wang Shu Chin) Einer der Hauptlehrer des Autors auf

dem Gebiet der inneren Kampfkunst und einer der wichtigsten der Lehrer,

die das Hsing-I und das Ba Gua aus Festland-China nach Taiwan brachten.

Er schulte sich unter Chang Chao Tung in Hsing-I und Ba Gua, unter Wang

Xiang Zhai in I Chuan und unter Chen Pan Ling in Tai Chi.

Wang Tsung Yueh (Wang Zongyue) Nach einer der existierenden Theori-

en jener Daoist, der das Tai Chi ursprünglich in das Dorf Chen brachte und

der das moderne Tai Chi Chuan begründete. Es heißt, er sei der Hauptautor

der Tai-Chi-Klassiker.

Wang Xiang Zhai (Wang Hsiang Chai) Der letzte Schüler des Hsing-I-

Lehrers Guo Yun Shen und der Gründer der I-Chuan-Schule des Hsing-I. Er

war der Lehrer der drei I-Chuan-Lehrer des Autors: Wang Shu Jin, Sawai

Kenichi und Han Hsing Yuan.

Wei Shao Tang Lehrte den Autor und T. T. Liang in Taiwan die Halb-

schritt-Gottesanbeterin-Methode.

Weng Hsien Ming Einer der Hauptschüler von Hung I Hsiang; er gewann

dreimal in Folge die Vollkontakt-Meisterschaften von Taiwan.

Wu Hui Chuan Hauptschüler von Yang Pan Hou und des Alten Yang-

Stils. Einer der führenden Tai-Chi-Kämpfer seiner Generation, Er war der

Lehrer von Lin Du Ying.

Wu Gong I und Wu Gong Zao Söhne von Wu Jien Chuan. Die beiden

Brüder begründeten einen anderen Zweig des Wu-Stils des Tai Chi.

Wu Jien Chuan (Wu Ch'en Ch'uan, Wu Jianquan) Der Sohn von Chuan

You, der, zusammen mit seinem Vater, auch als einer der Begründer des

Wu-Stils des Tai Chi bekannt ist. Aus seiner Linie gingen die meisten der

Ausübenden des Wu-Stils hervor. Er war der Hauptlehrer von Liu Hung

Chieh auf dem Gebiet des Tai Chi.

23

Wu Yu Hsiang (Wu Yuxiang) Schüler von Yang Lu Chan; er kehrte

in das Dorf Chen zurück und kreierte einen wichtigen Stil des kleinen

Rahmens im Tai Chi. Er ist eine bedeutende Persönlichkeit im Bereich der

Tai-Chi-Literatur.

DIE YANG-FAMILIE

Yang Lu Chan (Yang Lu Ch'an) „Yang, der Unbesiegbare" war der Be-

gründer des Yang-Stils des Tai Chi. Er war berühmt für seine überragende

Beherrschung der Tai-Chi-Kampfkunst und ist der Yang, der das Tai Chi,

das bis dahin im Dorf Chen geheim gehalten wurde, in China bekannt

machte, von wo aus es sich im Rest der Welt verbreitete.

Yang Pan Hou (Yan Ban Hou) Der Sohn von Yan Lu Chan und die zweite

Generation der Tai-Chi-Familientradition der Yang. Er war der wichtigste

Tai-Chi-Lehrer seiner Generation und war neben Wus Vater der zweite

Hauptlehrer von Wu Jien Chuan.

Yang Shao Hou Ein Yang der dritten Generation, der für seine über-

ragenden Fähigkeiten als Kämpfer und für sein aufbrausendes Gemüt

bekannt war. Er starb jung.

Yang Cheng Fu (Yang Ch'eng Fu) Ein Yang der dritten Generation und

Begründer des Neuen Yang-Stils. Die Form, die er kreierte, ist mit ihren

vielfältigen Variationen die grundlegende Tai-Chi-Form, die von den aller-

meisten Ausübenden des Yang-Stil Tai Chi in aller Welt praktiziert wird.

Yang Shou Jung (auch bekannt als Yang Shou-chung oder Yang Shou-

zhong) Ein Yang der vierten Generation und der älteste Sohn von Yang

Chen Fu. Er lebte in Hongkong und war dort Lehrer des Autors.

Yin Fu Einer der Hauptschüler von Tung Hai Chuan, dem Begründer der

Kampfkunst des Ba Gua Chang. Seine Linie stellt eine Schule des Ba Gua

dar, die sehr verbreitet ist.

Yip Man Hauptlehrer des Hongkong-Zweiges der Kampfkunst Wing

Chun; die andere Schule hat ihren Sitz in Fatshan in der Provinz Kanton.

Er war der Lehrer von Bruce Lee.

Yue Fei (Yueh Fei) Der berühmte chinesische General des Altertums, der

der Legende nach der Begründer des Hsing-I Chuan war.

24

SCHULEN DER INNEREN KAMPFKUNST,

DIE IN DIESEM BUCH ERWÄHNT WERDEN

Tai Chi

Ursprünglicher Chen-Stil

Yang-Stil

Alter Yang-Stil

Neuer Yang-Stil

Hao-Stil

Wu-Stil

Kombinationsstile

Sun Lu Tang

Chen Pan Ling

Kuan Ping

Fu-Stil

Familien-Linien, geheime Linien, verloren gegangene Linien

Hsing-I

Shansi-Stil

Hebei-Stil

I Chuan (auch Da Cheng Chuan, Da Cheng Quan oder Ta Cheng Ch'uan

genannt)

Honan-Stil, auch der Muslim-Stil genannt.

Ba Gua

Cheng Ting Hua - Drachenstil

Yin Fu - Weidenblatt-Hand-Stil

Shr Liu

Sung Shr Rong

Gao Yisheng - Nachgeburtliche Methode der 64 Techniken

25

Warum dieses Buch geschrieben wurde

Mit diesem Buch komme ich einer Verpflichtung gegenüber den Aus-

übenden der Kampfkünste nach, die ich schon seit langem spüre. Ich

hoffe, dass es die Leser und besonders die Jüngeren unter ihnen geneigt

machen wird, sich mit den spirituelleren Aspekten der inneren Kampfkunst

auseinanderzusetzen. An dieser Stelle möchte ich mich vor all meinen

Lehrern verbeugen und sie meiner tief empfundenen Dankbarkeit dafür

versichern, dass sie sich so freundlich meiner angenommen und ihre wert-

vollen Kenntnisse mit mir geteilt haben. Ohne ihre Bereitschaft, ihr Wissen

preiszugeben, wäre dieses Buch niemals entstanden.

26

Prolog

Ich fing im Jahre 1995 an, dieses Buch zu schreiben. Mitte der 1960er

Jahre begann ich Kampfkunst vor allem mit einem am Wettkampf orien-

tierten Ansatz zu lehren. Seit Beginn der 1970er Jahre verschob sich der

Schwerpunkt meiner Lehrtätigkeit hin zu einer Mischung von auf den

Wettkampf und die Förderung der Gesundheit ausgerichteten Kampfküns-

ten. Seit 1987 widmete ich immer mehr der Schulung von Menschen, die

die Kraft des Chi verwenden möchten, um ihre Gesundheit zu verbessern

und Stress zu reduzieren.

Zu diesem Wandel kam es, weil ich mir zunehmend der sich abzeichnen-

den Krise der Heilkunde im Westen bewusst wurde und beunruhigt darüber

war, dass die westliche Schulmedizin so viel Leiden verursacht hat und

noch weiter verursachen wird; außerdem sah ich, dass sich immer mehr

Stress und Angst im Leben der Menschen des Abendlandes breit machten.

Nachdem ich etliche Jahre als Ausübender der Chi-Gung-Heilmethoden

in chinesischen Kliniken gearbeitet und mit mehr als 10.000 Schülern im

Westen gearbeitet hatte, war mir in der Tat deutlich geworden, dass die

Chi-Künste geradezu wundervolle Heilkünste sind.

Deshalb war es mir wichtig, die erste englischsprachige Ausgabe dieses

Buches mit einem Kapitel über die Kampfkünste als Systeme der Heilung

abzuschließen.

Das spirituelle Ungenügen im Westen

Ich bin mir auch zutiefst dessen bewusst, dass in der westlichen Welt ein

tiefes spirituelles Unbehagen vorherrscht. Es manifestiert sich als eine akute

Spaltung in Körper, Geist und Seele der Menschen, die sie in körperlicher,

emotionaler, mentaler und spiritueller Hinsicht schwächt.

In Körper, Geist und Seele gesund zu werden, war ein notwendiger As-

pekt meiner Ausbildung als Kampfkünstler. Wie sich zeigen sollte, war es

27

mir auf dem Weg, den ich persönlich gegangen bin, beschieden, mich als

Chi-Gung-Heiler und Priester im chinesischen DAO oder der daoistischen

Religion zu schulen.*

In dieser überarbeiteten [und der ersten deutschsprachigen] Ausgabe

möchte ich auch zeigen, dass die Kraft des Chi in den Kampfkünsten zu

einer tiefen Spiritualität führen kann. Auch wenn es vielen ein Wider-

spruch zu sein scheint, Kampfkunst mit Spiritualität zu kombinieren, hat

es in der daoistischen Tradition immer eine Richtung gegeben, die diese

beiden Seiten als Aspekte einer einzigen integrierten Chi-Praxis verstan-

den hat. Tatsächlich hat die Abrundung meiner als ein Krieger und Heiler

begonnenen Chi-Arbeit mich dazu geführt, die daoistische Meditation zu

erlernen und sie mit den Energiekünsten des Kampfes und der Heilung

zu integrieren.

Deshalb endet diese überarbeite Ausgabe mit einem Kapitel über die

spirituellen Aspekte der Kampfkunst.

Ein Meister des Chi ist ein Lehrer besonderer Art

Viele meiner Schüler und Leser der ersten Ausgabe haben mich gefragt,

warum dieses Buch kein Lehrbuch geworden ist, in dem Anleitungen zu

den besprochenen Techniken und Anwendungen gegeben werden.

Die ursprüngliche Absicht dieses Buches war, Schülern der Kampfkunst

Wissen über das große Potential dieser Künste und über die Unterschiede

zwischen ihnen zu vermitteln.

Die inneren Kampfkünste lassen sich nicht in einem Buch lehren. Schü-

ler dieser Künste brauchen einen lebendigen Lehrer, der nicht nur die kör-

perlichen Techniken und ihre Anwendung im Sparring oder Kampf kennt,

sondern der auch weiß, wie das Chi in Körper, Geist und Seele fließt.

Dies ist notwendig, um die Schüler zu schützen und sicherzustellen,

dass sie auf die produktivste und intelligenteste Weise lernen. Der ideale

* Der Daoismus ist im Westen noch wenig bekannt. Wenn er sich auf die spirituelle

Tradition des Daoismus bezieht, benutzt der Autor manchmal die Schreibweise DAO. Dies

soll die daoistische Religion von anderen, eher umgangssprachlichen Verwendungen des

Wortes „Dao" unterscheiden, die nicht direkt mit den philosophischen oder praktischen

spirituellen Grundlagen dieser alten chinesischen Religion zu tun haben.

28

Lehrer wird seine Unterweisungen auf eine sorgfältige Einschätzung des

Schülers gründen, wobei er dessen Auffassungsgabe, seinen Stand der

persönlichen Entwicklung und seine Fähigkeit, das zu verkraften, was

in seinem Inneren auftauchen kann, in Betracht zieht. Es kann leicht

passieren, dass man zuviel oder zuwenig Wissen vermittelt, es zu früh

oder zu spät vermittelt, und das sind Situationen, mit denen viele Lehrer

nicht angemessen umzugehen wissen. Das trifft besonders dann zu, wenn

die Schüler während des Trainings in positive oder negative emotionale,

mentale, psychische oder karmische Zustände geraten.

Lehrer, die in China als Meister gelten, wissen, welche Kenntnisse sie

an einen Schüler weitergeben können und in welchem Tempo dies zu

geschehen hat, besonders was die Nei-Gung-Techniken zum Spüren des

Chi-Flusses und dem Arbeiten mit diesem angeht. Der Lehrer muss in

der Lage sein, die Energie eines Schülers auf vielen Ebenen gleichzeitig

zu lesen und angemessen zu interpretieren. Diese Fertigkeit erlangt man

nur aufgrund eines tiefen inneren Wissens, das man sich über lange Zeit

durch ein Leben angeeignet hat, das dem Erkennen der Chi-Energie und

der Arbeit damit gewidmet ist, und zwar auf allen Ebenen, auf denen sie

nutzbar ist: im Kampf, beim Heilen und in der Spiritualität.

Nur Meister kennen die volle Funktionsweise der Chi-Methoden des

Nei-Gung-Systems, das sich in 16 Kategorien einteilen lässt (siehe Sei-

te 121-124) und haben diese wirklich inkorporiert. Auf der höheren Ebene

der Schulung in den so genannten spirituellen Kampfkünsten haben die

Schüler es mit der psychischen und karmischen Gesundheit ihrer Seele zu

tun und nicht nur mit körperlichen Selbstverteidigungstechniken.

Da die inneren Kampfkünste also ein großes Potential zu spiritueller

Transformation besitzen, ist es sehr wichtig, dass Schüler mit einem starken

Interesse an Spiritualität sich unter einem Meister schulen, der sowohl die

inneren Kampfkünste als auch die daoistische Meditation beherrscht.

Eine Frage an der Oxford-Universität

Im Jahre 2004 hatte ich die Ehre, zu einem Vortrag über den lebendigen

Daoismus an die Oxford Universität eingeladen zu werden. Während der

anschließenden Diskussion stellte jemand die Frage: „Warum haben die

Kampfkünste eine so wichtige Rolle in der Geschichte von asiatischen

29

Ländern wie China und Japan gespielt?" Ich hatte damals nicht die Zeit,

angemessen auf diese Frage zu antworten, und sagte deshalb nur in einem

knappen Satz: „Wegen ihres Wertes für die Verbesserung des Einzelnen,

also dessen, was man im Westen Charakterbildung nennt." Diese Frage

möchte ich hier jetzt etwas ausführlicher beantworten.

In einigen Ländern Asiens ist die Kampfkunst immer noch die reinste

Form des Wettkampfes, bei dem es im Sparring gelegentlich auch um

Leben oder Tod geht. Historisch gesehen, gab es neben dem offensicht-

lichen Bedarf an Fertigkeiten für den Krieg und dem Trieb, sich auf die-

ser elementaren Ebene mit anderen zu messen, auch andere Aspekte der

Kampfkunst, die wichtig waren.

Die Chinesen, Koreaner und Japaner wussten, dass sowohl die äußeren

Kampfkünste als auch die Kampfkünste mit Chi-Energie-Praktiken eine

starke moralische Empfindung vermitteln können, die es den Ausübenden

ermöglicht, über ihre rein biologischen Triebe und korrumpierbares anima-

lisches Eigeninteresse hinaus zu den stärker ethischen und mitfühlenden

Möglichkeiten des menschlichen Wesens fortzuschreiten. Außerdem halfen

die strengen Trainingsmethoden, Menschen mit enormem Stehvermögen,

Konzentration und Durchsetzungskraft hervorzubringen, die, gleich auf

welchem Gebiet, stets sehr erfolgreich sein konnten.

Dieses Buch wurde aus der Sicht der inneren Kampfkünste Chinas

(auch Neijiaquan oder Nei Jia Chuan genannt) geschrieben. Für Tausende

von Jahren waren die inneren Kampfkünste die vorherrschende Form der

Selbsthilfe im Bereich der Körperertüchtigung, Gesundheit und Spiritua-

lität. Vor 3000 Jahren drangen daoistische Mönche in der Meditation tief

in ihren Körper und Geist ein und entdeckten nicht nur den Chi-Fluss,

sondern auch, wie man das Chi ausgleichen, verstärken und im Körper

speichern kann. Die Mönche benutzten die Chi-Energie, um sich bei bester

Gesundheit zu halten, Krankheit zu heilen und eine tiefe innere Stille und

Spiritualität zu erlangen. Ihre Entdeckungen verdichteten sich schließlich

zu dem Nei-Gung-System, das zur energetischen Grundlage der inneren

Kampfkünste Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua sowie der traditionellen chine-

sischen Medizin, die Akupunktur, Chi Gung und Chi Gung Tui Na umfasst,

und der daoistischen Meditation wurde. Die daoistischen Energiekünste

werden auch in der Teezeremonie, der Kalligraphie und dem Feng Shui

eingesetzt.

Eine der Ideen, die Bestandteil aller daoistischen Praktiken sind, ist der

Gedanke, dass jedermann selbst für den Weg verantwortlich ist, den sie

30

oder er im Leben beschreitet. Wollte man ein Krieger werden, dann lernte

man, die eigene Energie zum Kampf zu nutzen; wurde man verletzt, dann

lernte man, dieselbe Kunst auch zur Selbstheilung zu nutzen. Es war ein

allgemein bekanntes Phänomen, dass Ausübende der inneren Kampfkünste

im Allgemeinen länger lebten und gesünder waren als die anderen Men-

schen in ihrer Umgebung.

Wollte man Heiler oder Arzt werden, so lernte man, wie man die En-

ergiekünste zur Unterstützung und Heilung von Körper, Geist und Seele

benutzen konnte. Man erlernte die inneren Kampfkünste auch, um einfach

nur gesund zu sein. In China weiß jedermann, dass die langsamen Be-

wegungen des Tai Chi, selbst wenn sie nicht korrekt ausgeführt werden,

ungemein wirksam zur Erhaltung der Gesundheit sind, und deshalb werden

sie seit Generationen von Millionen von Menschen praktiziert.

Wollte man den Pfad zur Erleuchtung beschreiten, so erlernte man an

einem bestimmten Punkt der Schulung diese Künste, um das eigene Chi

freizusetzen und es auszugleichen sowie um innere Dämonen zu beseitigen

und damit spirituell gesünder zu werden.

Für Tausende von Jahren haben die religiösen Traditionen im Osten das

Training in den Kampfkünsten als Grundlage der Spiritualität verwendet.

Das Ziel war, eine solch starke Einstellung zu erzeugen und soviel Chi

(Lebenskraft) aufzubauen, dass man weder den Tod fürchtete noch Angst

vor einer vollen Hingabe an das Leben hatte.

Außerdem war bekannt, dass diese Praktiken psychisch gesunde Indi-

viduen mit einem guten Charakter hervorbringen, da sie sich sehr stark

auf persönliche Disziplin konzentrieren sowie darauf, den Körper von

inneren Dämonen zu befreien, so dass der Ausübende ausgeglichen und

klar werden konnte.

Der Daoismus, eine der großen lebendigen Religionen dieser Welt, ist

der Kern aller daoistischen Kampfkünste, Heilpraktiken und spirituellen

Übungen. Eines der wichtigsten Ziele des Daoismus ist, ein inneres Gleich-

gewicht im Praktizierenden und damit auch in seinem täglichen Leben

sowie seinen Beziehungen zu anderen und der Umwelt zu erzeugen. Aus

diesen Gründen ist der Daoismus immer noch eine der großen lebenden

Religionen, und er besitzt Chi-Praktiken, die der Schlüssel zu einem er-

füllten Leben sind.

31

Fa Jin: Die Projektion von Energie ohne Muskelkraft

Viele Menschen haben mich gebeten, etwas über die Fa-Jin-Technik zu

sagen, die auf dem Umschlag dieses Buches gezeigt wird. Die äußeren

Kampfkünste benutzen körperliche Kraft und die Kraft der Muskeln, doch

in den reinen inneren Kampfkünsten ist das nicht der Fall. Die „Kunst" in

allen inneren Kampfkünsten besteht darin, in totaler Entspannung, mit

ausgeglichenen Emotionen und ohne Muskelanspannung zu kämpfen und

Fa-Jin-Techniken einzusetzen. Dies ist einer der wesentlichen Unterschiede

zwischen den inneren Kampfkünsten und den äußeren Kampfkünsten.

Die Fa Jin genannte Technik besteht aus dem Speichern von Kraft und

deren plötzlicher Freisetzung hin zu einem bestimmten Punkt in Zeit und

Raum. Auf dem Foto auf dem Umschlag sieht man, wie Energie mit einer

solchen Kraft durch die Hände freigesetzt wird, dass der Schüler ein ganzes

Stück in die Höhe und durch die Luft geschleudert wird. Die spezifische

Methode ist in diesem Fall eine Push-Hands-Bewegung des Tai Chi, die

„Pressen" genannt wird.

Die Technik wird im Zeitlupentempo gelehrt, um es dem Schüler zu

ermöglichen, die Welle von Chi effektiver zu spüren. Wird sie während

Kampfübungen im Sparring angewendet, so wird die Bewegung mit hoher

Geschwindigkeit ausgeführt.

Viele Schüler glauben nicht, dass Fa Jin möglich ist, bis ein Lehrer

ihnen diese Technik demonstriert. Sie sagen dann gewöhnlich: „Ich habe

kaum eine Berührung seiner Hände gespürt, und schon flog ich durch

die Luft."

Zum Fa Jin gehört die Kraft, die Energie willentlich von jedem Punkt des

Körpers aus und auch durch eine Waffe zu projizieren. Im Fall des Fotos

auf dem Umschlag wird die Energie durch die Hände projiziert.

Wie Fa Jin gelehrt wird

Im Westen wird Fa Jin vor allem dann gelehrt, wenn Kampfkünstler das

Push Hands des Tai Chi erlernen, eine Partnerübung, durch die die meis-

ten der Fertigkeiten und Arten der Chi-Kraft entwickelt werden, die ein

Ausübender im Kampf mit der leeren Hand wie mit der Waffe benötigt

(siehe S. 240-263) .

32

Das Fa Jin wird üblicherweise dann gelehrt, wenn Schüler erkennen

lassen, dass sie in Hinsicht auf die Körpermechanik eine hervorragende

Grundlage besitzen: präzise und doch entspannte Ausrichtungen, inne-

re Flexibilität und Entspannung sowie die Fähigkeit, den Atem mit der

Bewegung zu koordinieren und, was am wichtigsten ist, die Fähigkeit zu

spüren, was auf einer tiefen Ebene in ihrem Körper geschieht. Erst dann

verfügen sie über die notwendigen Grundlagen für das Erlernen des Nei-

Gung-Systems, des hoch entwickelten daoistischen Systems des Erspürens,

der Entwicklung und der Lenkung der Chi-Energie im Körper, aus dem die

inneren Kampfkünste schöpfen.

Wenn die Schüler beginnen, das Fa Jin

zu erlernen, sind sie gewöhnlich noch in

den Anfangsphasen des Spürens und Len-

kens des Chi. Auch wenn sie vielleicht in

der Lage sind, eine Welle des Chi zu spüren,

die durch ihren Körper läuft, werden sie da-

mit zunächst ihre Gegner nicht werfen oder

auch nur aus dem Gleichgewicht bringen

können. So werden sie oft versucht sein,

eine gewisse Muskelkraft einzusetzen, was

sie jedoch daran hindern wird, ihr Chi zu

spüren und es durch den Körper zu be-

wegen.

Man kann Fa Jin anwenden, ohne Schmerzen zuzufügen

Anders als bei vielen anderen Sparring-

Techniken, die, wenn sie konkret angewen-

det werden, Schmerzen zufügen können,

kann man das Fa Jin in entwickelter Form

sicher anwenden, ohne Schmerzen zuzufü-

gen. Das kommt daher, dass die Kraft wie

eine Welle durch den Körper hindurchläuft.

Statt im Körper Halt zu machen und dort

Schaden anzurichten (wie zum Beispiel ein

Stoß oder Schlag), tritt die Kraft wieder aus

und setzt ihren Weg hinter der Person durch

Fa Jin: Das Projizieren von

Chi-Energie zur Entwurzelung

und Bewegung eines Gegners.

33

den Raum fort. Da dem so ist, kann man in einer Trainingssitzung Hun-

derte Male Fa Jin geben und empfangen, ohne dass dadurch kumulativ

ein Schaden angerichtet wird, wie das bei vielen Kontaktsportarten der

Fall ist.

Wird das Fa Jin jedoch in Situationen angewendet, wo eine echte

Selbstverteidigung notwendig ist, kann des beträchtlichen Schaden an-

richten, wenn man die Energiewelle verkürzt, so dass sie im Körper des

Gegners Halt macht.

Mein eigenes Fa-Jin-Training

Ich habe von all meinen in diesem Buch erwähnten Lehrern der inneren

Kampfkünste und in geringerem Maße auch von den anderen gelernt,

welche Kraft das vom Chi erzeugte Fa Jin hat. Meine Reise begann in den

späten 1960er und frühen 1970er Jahren in Taiwan und Hongkong bei

Wang Shu Jin, Hung I Hsiang, Bai Hua und Yang Shou Jung (dem Urenkel

des Gründers des Yang-Stil Tai Chi) und in den 1980er Jahren wurde meine

Ausbildung in der Volksrepublik China in Xiamen bei Lin Du Ying und

in Beijing bei Feng Zhi Qiang und Liu Hung Chieh abgeschlossen. Einige

diese Lehrer waren hauptsächlich Adepten des Yang-, Chen- und Wu-Stils

des Tai Chi, manche waren vor allem Meister des Hsing-I und Ba Gua und

andere beherrschten alle drei Kampfkünste gleich gut.

Der Gebrauch des Fa Jin zur Heilung

Das Fa Jin ist nicht nur für den Kampf nützlich. Es war auch Teil meiner

Ausbildung als Chi-Gung-Heiler in chinesischen Kliniken. Bei dieser An-

wendungsform projizierte ich allein heilendes Chi ohne jegliche körperliche

Kraft (was in China eher Fa Chi als Fa Jin genannt wird) und nicht ein

Chi, das sich in körperliche Kraft umwandelt (Fa Jin).

Die Technik war in zweierlei Hinsicht nützlich: um heilende Ener-

gie durch meine Hände zu projizieren und um die negative Energie, die

Mitverursacher der Krankheit meiner Patienten war, aus dem Körper zu

entfernen.

In der traditionellen chinesischen Medizin heißt es, dass das Chi auf

flüssige und kraftvolle Weise frei durch den ganzen Körper fließen muss,

wenn man bei guter Gesundheit bleiben will. Ist die Chi-Energie blockiert,

dann ergeben sich daraus gewöhnlich Schmerzen und Krankheiten.

34

Und vor allem war es notwendig für mich, das Fa Jin zu benutzen, um

damit jegliche negative Energie auszuschleudern, die sich durch die Arbeit

mit meinen Patienten angesammelt haben mochte. Dies war wichtig, um

entspannt und emotional ausgeglichen zu bleiben und das Burn Out zu ver-

meiden, das so vielen Menschen in den Heilberufen zu schaffen macht.

Fa Jin für die spirituelle Entwicklung

Aus spiritueller Sicht kann die Fähigkeit, die eigene Energie freizusetzen

und gezielt zu lenken, in der daoistischen Meditation helfen, die tiefsten

spirituellen Energiekanäle und Energiezentren zu öffnen. Außerdem kann

das Fa Jin benutzt werden um Blockaden tief im Körper, die am tiefsten

verborgenen inneren Dämonen, zu beseitigen, so dass man durch deren

Auflösung Zustände erhöhten Gewahrseins und größerer Klarheit erlangt.

Letzten Endes vertieft sich das Gewahrsein so weit, dass man des Gewahr-

seins selbst (des Bewusstseins) gewahr wird sowie aller Dinge, mit denen

sich ein Menschenwesen verbinden kann, einschließlich der Energie des

Mitgefühls. Die höchste Verwirklichung für jemanden, der dem daoistischen

Pfad des Kriegers/Heilers/Priesters folgt, ist, seine Energie bis zum Punkt

der Erleuchtung zu entwickeln.

So etwas kann geschehen, wenn das Fa Jin über den bloßen körperli-

chen Bereich hinausgeht und man damit in den Bereich der Spiritualität

eindringt.

35

Einführung

AlsKnabe war ich körperlich ziemlich unbeholfen, bis ich im Jahre

1961 im Alter von 12 Jahren begann, Judo* zu trainieren und wenig später

auch Karate. Durch die fortgesetzte Übung verschiedener Kampfkünste

erreichte ich schließlich körperliche Koordination, und zwar eher, weil ich

die Wirksamkeit meiner Kampfkunst verbessern wollte, und nicht, weil

ich ausdrücklich danach strebte, mich anmutiger zu bewegen. Was die

Technik anging, so hatte ich zu ihr damals die Einstellung eines Samurai

auf dem Schlachtfeld, und mich interessierten vor allem folgende Fragen:

Funktionierte die Technik in einem tatsächlichen Kampf? Wie wirksam ist

sie? Auf welche Weise und in welchen Gefahrensituationen kann sie mich

davor bewahren, verletzt zu werden?

Während meiner Jugendzeit interessierte ich mich zwar am Rande auch

für die gesundheitlichen und meditativen Aspekte der Kampfkunst, aber

ihre ästhetische Dimension beachtete ich überhaupt nicht. Wen sollte es

schon interessieren, ob die Bewegungen schön oder hässlich waren? Schöne

Bewegungen mochten ihre Funktion in der Kampfkunst haben, oder auch

nicht. Und was in der Kampfkunst funktionierte, das konnte von mir aus

gut aussehen, oder auch nicht. Was mich als junger Mann anspornte,

war also die Frage, ob ich einen Wettkampf gewinnen konnte oder nicht.

Ein Wettstreit im Bereich der reinen Formen bedeutete mir nichts. Jahr-

zehntelang war es ein tief verwurzeltes Streben danach, im tatsächlichen

Kampf zu bestehen, das mich dazu antrieb, täglich viele Stunden lang

verschiedene Kampfkünste zu üben. Und so brachte mir diese Leidenschaft

schon bevor ich neunzehn Jahre alt war schwarze Gürtel im Judo, Karate,

Jiu Jitsu und Aikido ein. Dann begab ich mich auf eine persönliche Suche

nach den Wurzeln der Kampfkunst. Sie führte mich zuerst nach Japan,

wo ich mehrere Jahre lang auf der Schwarzgürtel-Ebene intensiv Karate,

* Ausführliche Erläuterungen zu den fett-gedruckten Begriffen finden Sie im Glossar

ab Seite 540

36

Judo und Aikido trainierte, und dann nach China, wo ich, um meine

Schulung zu vertiefen, weitere zehn Jahre Kampfkunst studierte. Es war

die Begegnung mit den inneren Kampfkünsten Chinas, die mein Leben

für immer veränderte.

Im Jahre 1968, als ich gerade ein Jahr eines mörderischen Karate-Trai-

nings mit dem Team absolviert hatte, das die japanische Universitätsmeis-

terschaft gewonnen hat, machte ich Urlaub in Taiwan. Dort begann ich

mich bei Wang Shu Jin in der inneren Kampfkunst Ba Gua zu schulen.

Kurz danach studierte ich bei Sawai Kenichi in Tokio Hsing-I und bei

Wangs Schüler Chang I Chung das Tai Chi.

Der Zyklus meines Karate-Trainings hatte sich vollendet. Nachdem

ich im Frühjahr 1970 in Okinawa ein spezielles Schwarzgürtel-Training

des Shorin Ryu absolviert hatte, verschob'sich mein Streben, mich in

den Kampfkünsten der Stöße, Tritte und Schläge auszuzeichnen deutlich

hin zu den chinesischen Stilen. Zu diesem Zeitpunkt waren die einzigen

für einen wirklich ernstzunehmenden Kampf verwendbaren chinesischen

Kampfkünste, in die ich seit jenem Urlaub in Taiwan eingeführt worden

war und die ich ernsthaft geübt hatte, die inneren Systeme. Im darauf fol-

genden Jahrzehnt führte mich meine Reise durch die inneren Kampfkünste

auf einige Nebengeleise der inneren und äußeren Kampfkunst Chinas. Auf

diesen A u s f l ü g e n s tud ie r te ich Weißer Kranich, Wing Chun, Affenboxen,

Chinesisches Ringen, Nördliche Gottesanbeterin (Praying Mantis), Die Acht

trunkenen Unsterblichen u n d den Stil des Nördlichen Shaolin. Es g a b zwei

Gründe, die mich zu einer Zeit, da es mir vor allem darum ging, Ba Gua,

Tai Chi und Hsing-I zu meistern, dazu motivierten, mich der zusätzlichen

harten Arbeit zu unterziehen, meinem Repertoire auch noch diese äußeren

und inneren Kampfkunst-Methoden hinzuzufügen. Zuerst einmal emp-

fiehlt es sich, die Methoden zu kennen, die irgendein potentieller Gegner

anwenden könnte, und zu wissen, wie man sie pariert. Das, was man auf

dem Gebiet der Kampfkunst nicht kennt, kann zu einer Niederlage fuhren.

Und vom Standpunkt des Angriffs aus gesehen, kann eine übergreifende

Beschäftigung mit anderen Stilen zudem dazu führen, dass man grobe

Techniken kennen lernt, die uns helfen können, die nächsten (und stärker

verfeinerten) Ebenen der inneren Kampfkünste weiterzuentwickeln. Mein

Motto ist es, nichts als feststehend vorauszusetzen. Die Kenntnisse, die ich

durch dieses übergreifende Training erworben habe, haben mir Einsich-

ten eröffnet, die mich Lücken in den äußeren wie inneren Kampfkünsten

erkennen ließen, die ein Gegner ausnutzen könnte.

37

Anders als im Westen waren zu jener Zeit in bestimmten städtischen Bal-

lungsgebieten des Ostens fast immer ausgezeichnete Lehrer einer Vielzahl

verschiedener Disziplinen der chinesischen Kampfkunst zu finden. Ich habe

diese einzigartige Gelegenheit genutzt und begann dadurch zu verstehen,

in welcher Hinsicht die Kampftechniken der äußeren und inneren Systeme

einander ähneln und worin sie sich voneinander unterscheiden. Ich woll-

te auch das volle Potential meiner früheren Liebe, des Karate, erfassen,

um herauszufinden, wie weit diese Technik führen kann. Die Künste des

Gung Fu kamen meinem Verlangen entgegen, mich im Sparring mit einem

Gegner zu messen, insbesondere wenn gerade keine Praktizierenden der

inneren Kampfkünste zur Verfügung standen, mit denen ich spielerisch

Schläge und Würfe austauschen konnte.

Es war persönlich sehr erfüllend, neue Techniken und Perspektiven der

Kampfkunst zu erlernen, zu benutzen und gleichzeitig ihre verschiedenen

körperlichen, emotionalen und strategischen Stärken und Schwachpunkte

in unterschiedlichen taktischen Situationen zu analysieren. Diese verglei-

chenden Studien haben mich von dem Bedürfnis befreit, der leider nur

allzu häufig anzutreffenden voreingenommenen fixen Idee anzuhaften,

dass „mein Stil der beste" ist, ohne die nackte Wahrheit dessen zu kennen,

was es sonst noch an Methoden gibt. Ich war eher daran interessiert, zu

wachsen und effektiv zu sein, als daran, wie ich eine emotionale Investition

in den Glauben an die Überlegenheit irgendeines Stils der Kampfkunst

verteidigen konnte. Schließlich und endlich ist es die Person, die kämpft,

und nicht ein System der Kampfkunst.

Indem ich die unterschiedlichen äußeren und inneren Methoden erlernte,

ergab sich für mich ein Kontext, innerhalb dessen ich sehr hilfreiche Fra-

gen über die Anwendung vergleichender Techniken im Kampf zu stellen

vermochte. Diese Art von Erkundungen führte zu einer beträchtlichen

Vertiefung des fortlaufenden Trainings in meinen Haupttechniken und

meiner Ausrichtung auf die inneren Kampfkünste. Wenn man nur höflich

genug fragt, dann werden Meister der inneren Kampfkunst oft auch Fra-

gen beantworten, die sich auf solch vergleichende Techniken beziehen.

Fragt man sie allerdings nicht danach, dann schweigen sie ebenso oft zu

diesem Punkt und zu der Frage, wie sie die Methodologie eines Systems,

das nicht ihr eigenes ist, analysieren würden. Wenn man ihnen vormacht,

was ein anderer Ansatz zu bieten hat, ist es relativ wahrscheinlich, dass

sie so etwas sagen wie: „Nun, wir machen das nichts so", und dass sie

dann erklären, warum sie es nicht so machen. Oder sie sagen „Wir machen

38

das auch, aber etwas anders", und dann fahren sie fort zu demonstrieren,

warum und wozu sie es anders machen und in welcher Hinsicht man mit

dieser Technik vorsichtig sein sollte.

Schließlich faszinierte mich immer mehr die philosophische Frage, was

die „Kampfkünste" als Ganzes gesehen in ihrem Kern eigentlich sind. Das

Forschen nach einer Antwort auf diese Frage führte mich letztlich zu der

Erkenntnis, dass die Kampfkünste mehr sind als eine Ansammlung viel-

schichtiger Bewegungen und Techniken, die dazu dienen, einen Gegner

zu besiegen. Zu dieser Einsicht kam es während der letzten Runde meiner

Kampfkunst-Studien in Beijing bei dem außerordentlichen daoistischen

Adepten Liu Hung Chieh, dem ich im Jahre 1981 begegnete und der mir

während der darauf folgenden Jahre zeigte, dass Heilen, Spiritualität und

die Kampfkünste sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammenführen

lassen. Zu jener Zeit, ich war damals in meinen frühen Dreißigern, richtete

sich meine Aufmerksamkeit völlig auf die inneren Künste aus.

Mit diesem Buch komme ich einer Verpflichtung nach, die ich schon

seit langem der Gemeinschaft der Kampfkunst-Ausübenden gegenüber

zu haben glaube. Ich hoffe nämlich, dass ich die geneigten Leser und vor

allem die jüngeren Leser für die eher spirituelle Seite der Kampfkünste zu

interessieren vermag. Hiermit möchte ich meine tiefe Verbundenheit und

meinen Dank all meinen Lehrern gegenüber zum Ausdruck bringen, die

so freundlich ihre Zeit und ihre wertvollen Informationen mit mir geteilt

haben. Ohne ihre Bereitschaft, ihr Wissen zu offenbaren, hätte dieses Buch

nicht geschrieben werden können.

39

Der Autor führt eine Bewegung des „Drache und Tiger"-Chi-Gung aus, das

eine Methode aus dem Shaolin-Kloster ist, die vom Daoismus beeinflusst

wurde. Die Bewegung wird aus gesundheitlichen Gründen zur Stärkung des

Herzens ausgeführt und erzeugt für den Kampf enorme Schlagkraft.

Das Animalische, das Humane und

das Spirituelle

Drei Ansätze für die Kampf künste

Das Spektrum der Kampfkünste, die auf dem Erdball praktiziert werden,

ist ziemlich breit. Wenn man jedoch einmal hinter die Unterschiede blickt

und die Wurzeln der einzelnen Praktiken selbst betrachtet, dann lassen

sich im Wesentlichen drei Ansätze unterscheiden: kämpfen wie ein Tier;

kämpfen als ein menschliches Wesen; und Kampf als ein Weg, zu einem

spirituell entwickelten Menschen zu werden. Ein konsequentes Kampf-

kunsttraining in Übereinstimmung mit einem dieser Ansätze kann entweder

einige der animalischen Aspekte der menschlichen Natur verstärken oder

menschlichen Wesen helfen, ihr spirituelles Potential zu verwirklichen.

Die Einstellung eines Übenden in Kombination mit der Eigenart seiner

Trainingsmethoden wird ihn von selbst in die eine oder andere Richtung

führen.

Als Menschenwesen haben wir vielleicht von unseren entfernten Ahnen

unter den Primaten das tief verwurzelte Bedürfnis geerbt, von Dominanz

und Unterwerfung geprägte Verhaltensmuster an den Tag zu legen. Dies

lässt sich oft innerhalb der Gesellschaft beobachten, auf der individuellen

wie auch der physischen und psychischen Ebene - etwa im Konkurrenzver-

halten innerhalb von Gruppen im Bereich des Sports oder der Wirtschaft

sowie auf der politischen Bühne, auf der es seit Menschengedenken schon

immer Streit und Kriege gegeben hat. Ihrer Natur nach haben die Diszi-

plinen der Kampfkunst unmittelbar mit diesem Aspekt der menschlichen

Erfahrung zu tun, und zwar nicht indem sie unsere natürliche Tendenz

zur Gewalttätigkeit sublimieren, sondern indem sie voll darauf eingehen.

Doch idealerweise vermittelt die Praxis der Kampfkünste dem Übenden

anfanglich ein Bauchgefühl für die Kernursachen unseres Hangs zur Gewalt

und ermöglicht es ihm letztlich, diesen Drang zu transzendieren.

In den Kampfkünsten steht die Tür jederzeit offen und sie laden ihre

Anhänger entweder dazu ein, sich noch mehr in ihre eigenen animalischen

41

1

Impulse zu vertiefen und/oder sich schrittweise hin zu ihrem höheren spi-

rituellen Potential zu entwickeln. Ein größeres Maß an die Menschlichkeit

fördernden Praktiken in den Kampfkünsten kann und wird Menschen dazu

schulen, sich auf Vernunft zu verlassen und über das Aufflammen von

Emotionen, die Gewalt verursachen, hinauszugelangen. Diese Fähigkeit

ist gerade heute besonders wertvoll, wo wir alle nur denkbare Hilfe dazu

benötigen, mit dem immer stärkeren Stress umzugehen, der sich aus den

rasend schnellen Entwicklungen in unserer supertechnologisierten Welt

ergibt.

Aus einer Perspektive gesehen, ließe sich argumentieren, dass sämtli-

che Kampfkünste, was den Bereich der kriegerischen Auseinandersetzung

angeht, seit dem Auftauchen von Feuerwaffen - von der einschüssigen

Muskete bis hin zu den vollautomatischen Waffen - systematisch an Be-

deutung verloren haben. Nichtsdestotrotz stellen uns die Kampfkünste

ein machtvolles Werkzeug zur Verfügung, mit dem sich der Charakter

und die Spiritualität menschlicher Wesen schulen und verfeinern lassen,

wie es in Japan nach der Meiji-Restauration in der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts geschehen ist. Damals wurde es den Samurai gesetzlich ver-

boten, Schwerter zu tragen und Kämpfe auf Leben oder Tod auszufechten.

Die japanische Kampfkunst, in der es gänzlich und ohne Schnickschnack

um die Wissenschaft des möglichst effektiven Tötens von Feinden ging,

wurde Bujitsu oder „Kampftechnik" genannt. Der aus China stammende

Begriff „Dao" (den wir aus der daoistischen spirituellen Tradition von

Laotse und dem I Ging kennen) wird im Japanischen Do (mit langem „o")

ausgesprochen. Also wurden die japanischen Schulen der Kampfkunst,

deren Ziel es war, sowohl wirksame Techniken zu lehren als auch den

spirituellen Charakter ihrer Anhänger zu entwickeln, Budo genannt oder

„Weg des Kampfes".

Alle Kampfkünste, die in einer Schlacht zur Anwendung kommen, sind

nur so gut wie die Person, die sie anwendet. Kampfkünste sind mehr als der

Kampf gegen einen Gegner; sie können auch zu einem Mittel werden, die

Feinde des Lebens zu bekämpfen - Krankheit, mangelnde Selbstachtung,

Stress und das Fehlen einer spirituellen Mitte. Von diesem Standpunkt ge-

sehen, mag es sein, dass die Kampfkünste, die in einer Ackerbaugesellschaft

oder auch noch in der frühen Industriegesellschaft, als die Menschen ihren

Lebensunterhalt noch mit ihrer Hände Arbeit verdienten, sehr wirksam

waren, in unserer heutigen Hochtechnologiegesellschaft, in der eher un-

sere Nerven und Gehirnzellen dem Stress ausgesetzt sind, nicht mehr so

42

nützlich sind. Darum empfiehlt es sich heutzutage, sich die animalischen,

humanen und spirituellen Aspekte der verschiedenen Kampfkünste darauf-

hin anzusehen, was sie auf dem Schlachtfeld des heutigen Alltagslebens

für uns bedeuten können.

Der animalische Ansatz

Natürlich ist das Thema des Verhaltens der Tiere ein sehr weites Feld. Bis

heute wurde ein beträchtliches wissenschaftliches Wissen, das aus Beo-

bachtungen und Experimenten stammt (und auch anekdotischer Natur

ist) angesammelt, und die Forschung geht immer noch weiter. Und trotz

all dieser Anstrengungen haben wir wahrscheinlich erst einen Bruchteil

dessen aufgedeckt, was es zu wissen gibt. Es existiert eine Unmenge von

Theorien, und einige davon versuchen, das Kampfverhalten der Tiere ganz

spezifisch mit der Gewalttätigkeit in Verbindung zu bringen, die von uns

Menschenwesen ausgeht. Ich möchte von vornherein klarstellen, dass ich

in dieser Diskussion nicht andeuten oder gar behaupten möchte, Gewalt sei

ein rein animalisches Verhalten. Bei dem hier beschriebenen Ansatz geht

es vielmehr in engerem Sinne um ganz spezifische Situationen, in denen

ein einzelnes Tier - aus welchem Grund auch immer - von einem anderen

einzelnen Tier oder einem Rudel von Tieren angegriffen wird und eine der

klassischen Verhaltensreaktionen von Kämpfen, Flüchten oder Erstarren

an den Tag legt. Es gibt eine vielschichtige soziobiologische und philo-

sophische Diskussion über die Frage, inwieweit die Gewalttätigkeit von

Tieren mit der Gewalttätigkeit von Menschen zusammenhängt, besonders

in den Bereichen des Streits um ein Territorium, der sexuellen Rivalität,

von Gewinn und Verlust und vielleicht auch von rituellem Verhalten. Mit

diesen Debatten hat das vorliegende Kapitel überhaupt nichts zu tun. Was

uns hier interessiert, ist, was mit Tieren und Menschen in dem Augenblick

geschieht, wo es zu einem tatsächlichen physischen Kampf kommt.

Das Bild der Kampfkünste, das der breiten Öffentlichkeit im Allgemeinen

von den verschiedenen Medien präsentiert wird, ist das von kontrollier-

ter Gewalttätigkeit - gebleckte Zähne, angespannte Muskeln, projizierter

Zorn. In den Filmen und Fotos von Helden der Kampfkunst aus Amerika,

Europa, Japan und Hongkong (und leider allzu oft auch im wirklichen

Leben) begegnen wir immer wieder dem Schauspiel eines Kämpfers, der mit

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verzerrtem Gesicht und verdrehten Muskeln animalische Laute ausstößt.

All diese Effekte sollen ganz offensichtlich das Wüten eines gefährlichen

und in die Enge getriebenen Tieres zum Ausdruck bringen. Wenn die

dramatischen Höhepunkte vorüber sind, legt der Kämpfer dann häufig ein

friedvolles Verhalten an den Tag. Diese grundlegenden aus dem Tierreich

stammenden und hormonell bedingten Verhaltensmuster finden sich auch

bei vielen Kampfkünstlern wieder. Sie sind Ausdruck einer stark ener-

getischen Kraft. Tatsächlich war die Manifestation solcher animalischen

Reaktionen in der gesamten Menschheitsgeschichte eine der leichtesten

Methoden, um Menschen zu physischer Gewalt anzustacheln.

In grauer Vorzeit wurde das Drüsensystem des Menschen augenblicklich

zur Kampf- oder Fluchtreaktion aktiviert, wenn ein Säbelzahntiger an

seinem Lagerfeuer auftauchte. Diese Reaktion war ein reiner Überlebens-

mechanismus, der der Entwicklung des Intellekts wahrscheinlich lange

vorausging. Wir nennen sie heute den „Kampf-oder-Flucht-Reflex". Solche

Begegnungen hinterließen tiefe Spuren in der menschlichen Psyche. Dass

diese Spuren heute noch präsent sind, dient dazu, unser Überleben zu

sichern. Viele zivilisierte Menschen sträuben sich jedoch psychisch gegen

die Idee, dass es erlaubt ist, sich gegenseitig körperlich zu verletzen, um die

Sicherheit der eigenen Person zu garantieren. (Einem anderen Menschen

im Kampf von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen ist etwas ganz

anderes, als im sicheren Sessel auf einen Knopf zu drücken, um eine Gestalt

in einem Videospiel umzubringen.)

Viele Kampfkünste bedienen sich der „animalischen" Adrenalin-Reak-

tion, um die körperliche Kraft und die Effektivität der Bewegungsabläufe

eines Praktizierenden zu steigern. Wenn sich ein Individuum direkt mit

der Furcht konfrontiert sieht, die Gewalttätigkeit normalerweise hervorruft,

dann ist das größte Hindernis für die Anwendung irgendeiner erlernten

Selbstverteidigungstechnik Hemmung und Lähmung. Indem er sich über

längere Zeit darauf trainiert, die Adrenalinausschüttung zu aktivieren, kann

sich ein Kampfkünstler darauf vorbereiten, unter Druck zu handeln - vor-

zugsweise indem er sich in das stärkste und garstigste Tier auf der Bühne

verwandelt. In jedem Kontext, in dem die körperlichen Attribute von

Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer von überragender Wichtigkeit sind,

ist ein solcher Ansatz auch ganz vernünftig. Doch in unserem modernen

elektronischen Zeitalter, in dem unser Gegner ein nie gekannter Stress ist

sowie die Krankheiten, die mit diesem einhergehen, ist der animalische

Ansatz wohl eher kontraproduktiv.

44

Wenn man sich ständig darin übt, die eigenen Hormondrüsen „feuern"

zu lassen, um sich in Kampf-oder-Flucht-Situationen zu motivieren, dann

läuft man Gefahr, dieses Verhaltensmuster auch in andere Bereiche des

Alltags hinüberzutragen. Manchmal ist eine solche Übertragung durchaus

hilfreich, etwa wenn man schwere körperliche Arbeit zu leisten hat. In eine

solche Situation ist der gesamte Körper involviert, und wenn die körper-

liche Aktion beendet ist, dann ist auch Schluss mit der Sache. Dies stellt

einen natürlichen Abschluss dar. Die Handlungsprinzipien der äußeren

Kampfkünste bedienen sich gewöhnliches dieses Ansatzes.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Die frühe Betonung von Karate und Aikido

Als Knabe von 12 Jahren begann ich mit der Übung von

Judo und Karate nicht aus sportlichen oder spirituel-

len Gründen oder um mein Selbstvertrauen zu steigern,

sondern schlichtweg um fähig zu sein, mich in dem ge-

walttätigen Klima von New York vor der sehr realen

Möglichkeit schützen zu können, Opfer eines Gewaltaktes zu werden.

Mein Interesse an der Kampfkunst weitete sich bald aus und umfasste

dann auch Jiu Jitsu, in dessen Rahmen ich zum ersten Mal mit dem As-

pekt des Heilens und der Meditation in Berührung kam, indem ich Shiatsu

und Zen praktizierte. (An meiner ersten zweiwöchigen Klausur mit der

Sitzmeditation des Zen nahm ich bereits als Teenager teil.) Zu dieser Zeit

erwähnte ein Nachbar, der einen schwarzen Gürtel im Judo besaß, eine

„neue" Kampfkunst namens Aikido, die ich sofort zu lernen begann. Ich

studierte sie auch weiterhin und schulte mich schließlich unter ihrem

Begründer darin. Die Vorstellung, dass die innere Chi- oder Ki-Energie

die körperlichen Bewegungen motiviert und antreibt, war für mich völlig

neu und ausgesprochen faszinierend. Ich kann mich noch sehr lebhaft an

meine ersten Experimente erinnern, bei denen ich das Chi während der

Aikido-Übung aus meinem Bauch durch meinen Torso und aus meinen

Fingerspitzen heraus auf die Matte ausdehnte. Ich spielte auch außer-

halb des Kontextes der Kampfkunst mit dieser energetischen Kraft, die

aus meinen Fingern ausstrahlte, um meinen ganzen Körper zum Beispiel

vorwärts zu ziehen, damit ich bei meinem Teilzeitjob des Austragens von

Waren schneller durch die Straßen von Manhattan laufen konnte.

Während ich die Highschool besuchte, übte ich den Tomeki- und den

Hombu-Stil des Aikido, fühlte mich aber weiterhin sehr stark zur Kampf-

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kunst des Karate hingezogen. Nachdem mein Lehrer in dem aus Okinawa

stammenden Shorin Ryu Karate aus New York City abgereist war, übte

ich mich für den Rest meiner Zeit an der Highschool in den beiden ja-

panischen Stilen Goju und Shotokan. Meine Leidenschaft für das Karate

führte dazu, dass ich es auch auf dem fortgeschrittenen Niveau weiterhin

intensiv studierte. Es war in der Tat meine tiefe Sehnsucht, meine Kennt-

nisse des Karate, Judo und Aikido zu vertiefen, die dazu führte, dass ich

mich nach meiner Graduierung an der Sophia Universität in Tokio ein-

schrieb, statt meine Ausbildung im Westen fortzusetzen.

Die meiste Zeit jedoch ist die Methode des Anstacheins der Hormondrüsen

nicht besonders hilfreich, insbesondere wenn man einen Bürojob hat oder

im Hochtechnologiebereich arbeitet. In diesen Fällen ist die Ausgangsposi-

tion eine völlig andere. Die Ereignisse folgen sehr schnell aufeinander, und

so kann der Tiger innerhalb einer Stunde etliche Male an Ihrem Schreibtisch

auftauchen: Sie sehen, wie sich eine Krise anbahnt, ein Geschäftsabschluss

scheitert, ein Projekt muss termingerecht abgewickelt werden, sie müs-

sen sich Rückendeckung gegenüber einem Konkurrenten verschaffen, ein

schwerer Fehler ist zu korrigieren, ein Mensch in einer wichtigen Position

wird ein Urteil über Sie fällen, der Computer ist abgestürzt, und so weiter.

Den ganzen Tag lang hält der Stress unbarmherzig an. Wenn Sie dann auch

noch durch das Training in einer Kampfkunst, die dem animalischen Ansatz

folgt, die offensichtliche oder unterschwellige Gewohnheit entwickeln,

ihre Hormondrüsen jedes Mal, wenn sie eine besondere Leistung erbringen

wollen, auf Hochtouren laufen zu lassen, dann ist es sehr wahrscheinlich,

dass der Stress einfach zu groß wird.

Wird der animalische Kampf-oder-Flucht-Reflex ausgelöst, dann strömt

das Blut in die periphere Muskulatur ihres Körpers (die Sie brauchen, um

gegen den Tiger zu kämpfen) und wird deshalb von den inneren Organen

und aus dem Gehirn abgezogen. Auf die Dauer kann solche andauernde

Aktivität das Verdauungssystem und die Funktionen von Herz und Gehirn

schädigen, weil dass Blut nicht dorthin strömt, wo es gebraucht wird. Wir

können mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass die Höhlen der Nean-

dertaler längst nicht so häufig von Tigern heimgesucht wurden, wie der

Stress im modernen Arbeitsalltag zuschlägt. Es mag ja ein oder zweimal

im Monat durchaus die Sache Wert sein, seine Verdauung zu unterbre-

chen, um zu verhindern, dass man von einer wilden Bestie zerrissen wird.

Aber sind die vielen schweren und manchmal sogar tödlichen von Stress

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verursachten Krankheiten die Sache ebenfalls wert? Das ist eine Frage,

die sich insbesondere Arbeitssüchtige stellen sollten sowie Teenager, deren

Hormone sowieso schon verrückt spielen.

Seien Sie sich dessen bewusst, das Kampfkünstler aller Schulen, seien

es nun äußere oder innere Disziplinen, sich funktionell gesehen letztlich

des animalischen Ansatzes bedienen können. Auch wenn die „hormonelle"

Reaktion sich mit zunehmendem Alter abschwächt, können auch ältere

Praktizierende jeder Schule weiterhin die Gewohnheit pflegen, es zu ani-

malischen Ausbrüchen kommen zu lassen. Auch wenn das „Aufstacheln"

der Drüsen zumeist mit den äußeren Kampfkünsten in Verbindung gebracht

wird, ist diese Reaktion auch dort nicht immer dieselbe. Auch wenn es

bei Praktizierenden der inneren Kampfkünste im Idealfall nicht zu diesem

„Feuern" der Hormondrüsen kommt, geschieht das bei vielen von ihnen

dennoch, wenn sie in einem Kampf, bei einem Sparring oder bei Übungen

mit einer anderen Person unter Druck geraten.

Auf der nächsten Ebene lehren Kampfkünste die Ausübenden, auch

ohne die Verwendung des animalischen Ansatzes effektiv zu sein. Sie tun

das, indem sie stattdessen ihr menschliches Potential anzapfen.

Der humane Ansatz

Der animalische Ansatz in der Kampfkunst sieht folgendermaßen aus: Eine

potentiell gewaltgeladene Situation stachelt den animalischen Instinkt an;

das löst Furcht aus, wodurch die Drüsen aktiviert werden, was wiederum

die Herzfrequenz erhöht, was den Körper aktiviert und ihn zum Kampf

bereit macht. Der humane Ansatz in der Kampfkunst ist folgendermaßen

beschaffen: Eine potentiell gewaltgeladene Situation aktiviert sofort das

menschliche Vermögen herauszufinden, wie man diese Situation am besten

ohne jeglichen stressigen Zorn bewältigt. Dann wird das Körper-Geist-

System ruhig und hellwach, was es dem gesammelten Geist ermöglicht,

augenblicklich und bewusst das Chi zu aktivieren. Das führt wiederum

dazu, dass der Körper schnell und kraftvoll zu reagieren vermag, ohne dass

jedoch die Drüsen aktiviert werden, die Pulsfrequenz zunimmt oder Wut

erzeugt wird. Auf der humanen Ebene der Kampfkunst ist es die Vernunft,

die die Aktivitäten des Körpers ruhig und leidenschaftslos beherrscht. Das

heißt, dass die Entscheidung über unsere Reaktionsweise von unserem

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Verstand getroffen wird und nicht von unserem Hormonsystem. (Die An-

wendung des humanen Systems setzt natürlich voraus, dass das fragliche

Individuum seine animalischen Instinkte transzendieren möchte.)

Auch wenn es für das Tier von Vorteil sein mag, wenn es vor einem

Kampf auf Leben oder Tod sein Körper-Geist-System so weit nur irgend

möglich auf Hochspannung bringt, würde es das menschliche Leben aller

Freude berauben, wollten wir dieses Verhalten ständig aufrecht erhalten.

Eine Katze vermag sich zu entspannen, nachdem sie zugeschlagen hat,

die meisten Menschen können das nicht. Allmählich lässt diese ständig

aufrechterhaltene animalische Spannung den Körper rigide werden, und

der Stress, der sich aus dieser Verkrampfung ergibt, kann zu dem beherr-

schenden Kontext werden, in dem jemand sein Leben führt.

Die inneren Kampfkünste Chinas wählen deshalb bewusst einen ande-

ren Weg. Sie arbeiten durch eine äußerst gesammelte Verschmelzung von

Verstand und der subtilen Energie des Körpers darauf hin, eine humane

Form des effektiven Kämpfen zu entwickeln, die ohne die Aktivierung

instinktiver Hormonreaktionen auskommt. Es ist schwieriger, diesen Weg

zu gehen, weil uns der animalische Ansatz genetisch einprogrammiert ist.

In den inneren Kampfkünsten braucht es eine Menge Zeit, viel frustrie-

rendes Scheitern und beträchtliche Bemühung, um das Bewusstsein mit

dem Körper zu verschmelzen, was die Voraussetzung dafür ist, dass das

menschliche Element den animalischen Instinkt überwinden und Frieden

damit schließen kann. Für die Meisterung einer inneren Kampfkunst ist es

nötig, das normale zentrale Nervensystem des Praktizierenden so zu trans-

formieren, dass er augenblicklich und effektiv mit einer Konfrontation mit

körperlicher Gewalt umzugehen (und/oder in irgendeinen Hochleistungs-

modus umzuschalten) und gleichzeitig die Auswirkung von wiederholtem

Stress zu neutralisieren vermag. In unserem modernen Informationszeit-

alter könnte die Fähigkeit, unter Druck entspannt zu bleiben, sehr leicht

zu der besten Verteidigung gegen die lebensbedrohlichen Konsequenzen

von Stress werden.

Eine Methode zur Transformation des zentralen Nervensystems in ein

System, das mit äußerstem Druck umzugehen und dabei zugleich die

störenden hormonellen Reaktionen zu vermeiden vermag, ist der aus dem

Daoismus stammende sechzehnteilige Prozess zur Entwicklung des Chi

(siehe Seite 121). Diese Nei-Gung-Praktiken können das üblicherweise

angespannte zentrale Nervensystem eines Menschen in ein sehr flüssiges

System umwandeln, im dem es bei bewussten Willensakten praktisch ohne

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jede Verzögerung zur Bewegung oder Kraftausübung des Körpers kommen

kann. In den inneren Kampfkünsten beruht ein großer Teil der Geschick-

lichkeit im Kampf darauf, dass es im zentralen Nervensystem nicht zu

einer solchen Zeitverzögerung kommt. Indem die Reaktionszeit praktisch

gegen Null geht, kann der Kampfkünstler seine Kampftechniken schneller

verändern als sein Gegner und ist außerdem in der Lage, normalerweise

voneinander getrennte Bereiche der körperlichen Kraftanwendung zu ei-

nem einheitlichen und machtvollen Ganzen zu integrieren.

Was ist die „Kunst" in den inneren Kampfkünsten?

Man kann dann sagen, dass Kampftechniken sich zu einer Kunst entwi-

ckeln, wenn zur Kunst gehört, dass man den imaginativen oder höheren

Anteilen des eigenen Selbst eine materielle oder mentale Form verleiht.

Die Kreativität, die zur Schöpfung von Kunst gehört, muss durch irgendein

Medium, das unter anderem auch der Kampf sein mag, aus der Tiefe des

menschlichen Herzens und der menschlichen Seele schöpfen. Die Kunst-

fertigkeit der inneren Kampfkünste kann sich auf unterschiedliche Weisen

manifestieren. Da sind zuerst einmal die tänzerischen Elemente, durch die

eine ästhetische Verfeinerung sowie die Mühelosigkeit und die Vollkom-

menheit eines menschlichen Körpers, der sich gekonnt, anmutig und präzise

durch den Raum bewegt, zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens haben

wir die Entwicklung und die Manifestation von Chi und innerer Kraft

(sowohl der subtilen, als auch der rohen) in den Disziplinen der inneren

Kampfkünste - Elemente, die den meisten Menschen normalerweise nicht

zugänglich sind. Drittens spielt noch die Herbeiführung höherer Bewusst-

seinszustände eine Rolle, in die wir während der individuellen Übung von

Formen, aber auch durch die Wechselwirkung in einem Sparring einzutre-

ten vermögen und durch die wir es letztlich der Seele ermöglichen, sich

durch den Körper zu artikulieren.

Der Kampfkünstler, der sich dem humanen Ansatz verpflichtet fühlt,

betrachtet die künstlerische Perfektion und die Verknüpfung von Kampf-

techniken als eine Art Selbstzweck, da er auf diese Weise durch die Form

des Kampfes dieselben höheren künstlerischen Impulse zum Ausdruck

bringen kann, die der Maler mit dem Pinsel oder der Schriftsteller durch

Worte artikuliert. Und in der Tat erlebt der humanistische Kampfkünstler

die Schattierungen von Kraft sowie die Nützlichkeit und Effektivität von

Kampftechniken ganz ähnlich, wie ein Maler Farbschattierungen erfährt.

49

Verschiedene Typen sowohl subtiler als auch grober Kampftechniken

(Schläge, Tritte, würfe, Hebel usw.) können so wirken, wie verschiedene

Malstile in unterschiedlichen Medien.

Diese Art von Kreativität gehört allerdings kaum zu den Erfahrungen,

die ein Anfanger in einem Einführungskurs zur „Selbstverteidigung" macht.

In solchen Kursen ist das Ziel nicht so hoch gesteckt. Und wenn solche

Anfänger erst einmal das Gefühl gewonnen haben, sie könnten jetzt „auf

sich selbst aufpassen", dann geben sie das Studium der Kampfkünste meist

wieder auf und wenden sich etwas anderem zu. Bei Kampfkünstlern, die

vielleicht erst Jahrzehnte später herausfinden, dass ihre Leidenschaft für

eine bestimmte Kampfkunst oder die Kampfkünste im Allgemeinen wei-

terhin zunimmt, noch lange nachdem sie hinreichend gelernt haben, zum

Zweck der Selbstverteidigung „zu kämpfen", sieht die Sache ganz anders

aus. Wer ein Handwerker des Kampfes ist, der wird aufhören, wenn er das

Gefühl hat, dass sein Produkt fertig gestellt ist. Der Kampfkünstler jedoch

wird fortfahren, zu lernen und zu wachsen, weil sein Ziel der kreative

künstlerische Ausdruck seiner Kampfkunst ist.

In alter Zeit gingen die Menschen in den asiatischen Kulturen davon

aus, dass der schöpferische Akt sich in der Kampfkunst ebenso äußern

kann wie in der Malerei, der Musik und anderen künstlerischen Betätigen,

die aus dem Geist des Menschen schöpfen.

Der spirituelle Ansatz

Der spirituelle Ansatz der Kampfkünste hat zwei Ebenen. Die erste Ebene

ist die Phase der Vorbereitung, in der der Praktizierende ein hohes Maß an

Selbsterforschung zu betreiben und viele innere Kämpfe zu bestehen hat,

um sich von seinen vielfältigen emotionalen und spirituellen Blockaden

zu befreien. Auf der zweiten Ebene gelangt er zu spezifischen Medita-

tionspraktiken, die ein Individuum zur direkten Erfahrung höherer und

verfeinerter Bewusstseinszustände führen können.

Anfangs besteht die größte spirituelle Herausforderung darin, sich von

den eigenen emotionalen und psychischen Konditionierungen der Vergan-

genheit zu befreien, um zu einem reifen Menschenwesen zu werden, also

jemandem, der die innere und äußere Verantwortung für seine eigenen

Gedanken und Handlungen zu übernehmen vermag. Eine andere spirituelle

50

Herausforderung besteht darin, die rechte Balance zwischen Verantwortung

und persönlicher Macht zu finden. Um dieses Gleichgewicht finden zu

können, muss eine Person die Fähigkeit entwickeln, für unnötigen Schaden,

den sie anderen zufügt - sei es auf der Trainingsmatte oder anderswo -,

echte Reue zu empfinden, und sie muss bereit sein, ihre eigenen morali-

schen Schwächen zu korrigieren.

Um ihre eigene Spiritualität stabilisieren zu können, müssen Ausüben-

de der Kampfkünste fähig sein, sowohl ihre animalischen als auch ihre

menschlichen Leidenschaften auszubalancieren. Wer sich auf der mensch-

lichen Ebene in einer Kampfkunst übt, der kann dies zwar tun, ohne seine

animalischen hormonellen Instinkte anzustacheln, er kann aber zugleich

durchaus gemein, gierig, boshaft, voller Abscheu und Hass, arrogant und

verblendet sein - kurz, alles andere als spirituell. Damit sie über spirituelle

Hindernisse hinausgehen können, müssen Praktizierende entweder von Na-

tur aus Heilige sein - oder sie müssen sich einem Prozess der moralischen

Läuterung unterwerfen, durch den sie einen von Herzen kommenden Sinn

für Moralität entwickeln und verinnerlichen. Im Verlaufe dieser Reinigung

wird die Moralität des Praktizierenden in all ihren Aspekten ständig wei-

terentwickelt und auf die Probe gestellt, sowohl in der Sitzmeditation als

auch im körperlichen Sparring. Ohne Moralität kann der wahre Prozess

der spirituellen Kampfkünste gar nicht erst beginnen.

Auch wenn die Moralität der inneren Kampfkünste Ba Gua und Tai Chi

offensichtlich aus dem Daoismus abgeleitet wurde, verlangt die Schulung

in der Kampfkunst von den Schülern nicht, dass sie einen anderen religiö-

sen Glauben annehmen. Eine persönliche Moralität kann ihre Wurzeln

entweder in einer der großen Religionen der Welt haben, sei es nun eine

östliche oder eine westliche, sie kann aber auch einfach auf einer indivi-

duellen Innenschau beruhen, bei der das Individuum sich selbst und seine

Seele ernsthaft und tiefgründig erforscht.

Ob die Quelle der eigenen Moralität nun eine religiöse Tradition ist

oder ob sie durch säkulare Introspektion entwickelt wurde, sie wird durch

die Übung in einer spirituellen Kampfkunst auf jeden Fall so lange bis

an ihre tiefsten Wurzeln erkundet, entwickelt und auf die Probe gestellt,

bis sie ganz und gar in das moralische Gewebe des individuellen Daseins

des Praktizierenden eingewoben ist. Das Sparring fungiert als ein Spiegel,

der das Gewahrsein der spirituellen Stärken der Person (zum Beispiel Mut,

Freundlichkeit, Großzügigkeit, Versöhnlichkeit, Mitgefühl, Verständnis,

Ausgeglichenheit und Einsicht) ebenso hervorhebt wie die spirituellen

51

Blockaden und Schwachpunkte, die zu seiner Befindlichkeit als ein Men-

schenwesen gehören.

Durch die Praxis einer inneren Kampfkunst haben Menschen auch die

Möglichkeit, zu einer Erfahrung des universalen Bewusstseins zu gelangen.

Ob ein Kampfkünstler in seiner niederen Natur stecken bleibt oder sich

zur Verwirklichung seines spirituellen Potentials aufzuschwingen ver-

mag, hängt zu einem gewissen Maße davon ab, ob er oder sie bereit ist,

bewusst in sich selbst hinabzutauchen und den Kampf mit seinen „spiri-

tuellen Gegnern" aufzunehmen, also mit den menschlichen Schwächen,

die jedermann in sich trägt: Hass gegenüber einem selbst und anderen,

Negativität, Falschheit, Neid, Zorn, ein aufgeblähtes Ego, das Bedürfnis,

andere zu unteijochen usw. Dieser spirituelle Krieg ist zu führen, bis der

Sieg in jenem klaren Raum errungen wird, in dem positive Energie und

eine echte spirituelle Mitte beheimatet sind.

In Kampfübungen zwischen zwei Personen ist Ihr Gewahrsein dessen,

was auf der Ebene innerer mentaler, emotionaler oder psychischer Zustände

geschieht, mindestens ebenso wichtig wie die Frage, ob eine Kampftechnik

funktioniert. Sie schulen sich darin, sich dessen bewusst zu werden, wie

jeder Aspekt Ihres inneren Seins auf äußere Reize reagiert. Während Ihr

Partner mit Ihnen „kämpft", lernen Sie viel über Ihre Geistesklarheit und

darüber, wie sie durch Zorn, Furcht, Angst, Lähmung oder die Unfähigkeit,

einer Herausforderung gerecht zu werden, verloren gehen kann. In einem

Sparring treten jene Bereiche in Ihrem Inneren, denen es an spiritueller

Reife mangelt, deutlich hervor. Die Aufgabe besteht dann darin, Ihre spi-

rituellen Schwachpunkte zu überwinden und eine innere spirituelle Kraft

zu entwickeln, während Sie gleichzeitig Ihre Kampftechnik trainieren.

Mit der Zeit lernen Sie dann, dass es in einem Sparring nicht unbedingt

einen Konflikt geben muss. Durch diese Einsicht wird langsam aber sicher

die Grundlage gelegt, auf der Sie dann zur zweiten Ebene der spirituellen

Praxis fortschreiten können.

Auf der zweite Ebene des spirituellen Ansatzes dreht sich alles um

spezifische Meditationsmethoden, die darauf ausgerichtet sind, den Kampf-

künstler in jene höheren Bereiche des Bewusstseins zu führen, in denen

die Ich-Empfindung abgelöst wird von einer umfassenderen Erfahrung

des Universalen Bewusstseins oder der Energie, die alles durchdringt. Das

Hauptziel des Ausübenden, der diesen Punkt erreicht, besteht darin, zu

einer lebenden Brücke zwischen der gewöhnlichen Menschenwelt und

dem spirituellen Universum zu werden. Damit jemand diese spirituelle

52

Arbeit vermittels der Kampfkünste zu leisten vermag, ist es unerlässlich,

dass er sich mit seinen inneren Energieblockaden und persönlichen men-

talen „Feinden" auseinandersetzt. Die Waffen, die der Kampfkünstler in

diesem Gefecht benutzt, sind Aufmerksamkeit, die einsame Übung von

Formen, Übungen im Kampf mit einem Partner und Sitzmeditation. Der

Pfad schlängelt sich durch das Dickicht Ihres Kampfes mit den inneren

Widersprüchen, die sich aus Ihrer animalischen und menschlichen Natur

ergeben, und führt zu einem Punkt, an dem Sie all ihre menschlichen

Beschränkungen zu akzeptieren vermögen. Letztlich führt dieser Pfad zur

Transformation der Seele, was dann wiederum das Tor zu echtem spiritu-

ellem Erwachen aufstößt.

Voraussetzung für die Beherrschung der so genannten niederen Emo-

tionen (Hass, Gier, Zorn, Unwissenheit usw.) ist, dass das Individuum

Hochachtung für alle Formen des Lebens und der Schöpfung sowie Respekt

vor ihnen entwickelt. Die Meditationsübungen zielen darauf hin, inneres

Gleichgewicht, Harmonie und Mitgefühl zu fördern sowie die Weisheit des

Wissens darum, wann man handeln und wann man stillhalten sollte, zu

entwickeln. Genau dies ist das Ziel der spirituellen Kampfkünste. Unter

all den verschiedenen Ansätzen der Kampfkunst stellen die daoistischen

Praktiken des Ba Gua und des Tai Chi etwas Einzigartiges dar, nicht nur

weil die Spiritualität zu ihren zentralen Werten gehört, sondern auch, weil

sie die gesamte spirituelle Tradition des Daoismus sowie die Methoden

ihrer praktischen Umsetzung inkorporieren.

Der Prozess der Spiritualisierung beginnt mit den allein ausgeführten

Übungen der Form. Es gibt sowohl ganz spezifische als auch allgemeine

Formen der Übung, durch die die Energiekanäle des Körpers zuerst geöffnet

und dann von Negativität gereinigt werden, bis sie schließlich auf einer

höheren Ebene der Harmonie funktionieren, auf der Liebe, Mitgefühl, Aus-

geglichenheit, Unterscheidungsvermögen und Weisheit gefordert werden.

Ist dies erreicht, lernt der Übende das gesamte Körper-Geist-System zu

einen und die innere Stille zu stabilisieren. Man könnte sagen, dass der

Prozess der Meditation in der Bewegung begonnen hat, wenn der Punkt

erreicht ist, wo der Körper sich bewegt und der Geist still ist. Von nun

an geht es dem Übenden hauptsächlich darum zu lernen, wie er bewusst

die unterschiedlichen Abstufungen dessen manifestieren kann, was die

Daoisten Leere nennen, oder wie er zu höheren Stadien der meditativen

Stille fortschreiten kann, die man im Verlauf des Weges zum Begreifen

des Universalen Bewusstseins erfährt.

53

Die aus dem Daoismus stammenden transformierenden Praktiken des

Sitzens und die allein ausgeführten Bewegung werden benutzt, um sämt-

liche spirituellen Blockaden aufzulösen, die während des Sparrings offen-

kundig werden. Wie schon gesagt, gibt uns das Sparring mit einem Partner

die Gelegenheit, uns mit dem zu konfrontieren, was wir in uns tragen; es

kann so zu einem machtvollen Instrument einer Selbsterforschung werden,

die uns hilft Selbstzufriedenheit und Selbstüberschätzung auszuräumen.

Die Techniken der Sitzmeditation, die im Ba Gua und im Wu-Stil Tai

Chi verwendet werden und die Liu Hung Chieh den Autor lehrte (siehe

Seite 367) stammen aus der meditativen Tradition der daoistischen Al-

chimie, die selbst keine Praxis der Kampfkunst voraussetzt. Allerdings ist

die daoistische Sitzmeditation im Laufe der Geschichte in einigen Linien

dazu herangezogen und speziell darauf abgestimmt worden, die Auflösung

von spirituellen Blockaden, die während der Solo- und Partnerübungen

der Kampfkünste ganz natürlich auftauchen, zu unterstützen. Umgekehrt

kann auch alles, was während Ihrer Meditationsübungen auftaucht, für

das Sparring und die Soloübungen nutzbar gemacht und darin auf die

Probe gestellt werden. Es ist also so, dass die Meditation, die Soloübung

von Formen und das Sparring mit einem Partner sich gegenseitig ergänzen

und auf natürliche Weise unterstützen.

So kann es zum Beispiel sein, dass sich im Sparring zeigt, dass in Ihnen

in bestimmten Situationen ein deutliches Gefühl von Lähmung oder Wut,

Unsicherheit, Furcht und so weiter auftaucht, das aus taktischer, emotio-

naler oder rationaler Perspektive unsinnig ist. Nach dem Sparring können

Sie sich dann in der Sitzmeditation auf die Energie dieser Lähmung, Wut,

Unsicherheit oder Furcht konzentrieren. Indem Sie nacheinander die ein-

zelnen Schichten der Unbewusstheit durchdringen und entfernen, stoßen

Sie möglicherweise auf alte Verhaltensmuster, unter denen Sie vielleicht

schon Ihr ganzes Leben lang gelitten haben und in denen Lähmung, Wut,

Unsicherheit oder Furcht vorherrschen. Solche inneren spirituellen Blo-

ckaden lassen sich in der Sitzmeditation auflösen; man kann sie aller-

dings auch unter Verwendung spezifischer Meditationsmethoden durch die

Übung von Solo-Kampfkunst-Formen aus dem Körper entfernen. Winzige

Veränderungen der Bewegung können Ihr Bewusstsein für die inneren

Mechanismen hinter der Lähmung, die Sie in einem Handlungsablauf

erfahren, verstärken. Ihre Reaktionen auf den Druck, der in einem Spar-

ring mit einem Partner entsteht, werden offenbaren, ob Sie die Blockade

tatsächlich überwunden haben oder ob Sie noch weiter daran arbeiten

54

müssen. Ist erst einmal eine Gruppe von Blockaden beseitigt, dann bereitet

das die Bühne für das Auftauchen der nächsten Schwachpunkte in Ihrer

Spiritualität, und wann immer das geschieht, sollte die meditative Arbeit

erneut beginnen.

Der Unterschied zwischen dem animalischen, dem humanen und dem

spirituellen Ansatz in der Kampfkunst hat nichts mit den verwendeten

körperlichen Techniken des Angriffs und der Verteidigung zu tun. Er hat

dafür sehr viel damit zu tun, was für eine Art von Person aus diesem

Training hervorgeht, und natürlich mit der Natur der Praktiken selbst. Die

Art des Selbstgewahrseins, auf die die Kampfkunst sich konzentriert, ihre

Moralität und die Essenz ihrer Meditationspraxis und ihres Geistestrainings

sind entscheidend für den Prozess der Spiritualisierung. Hier kommt zum

Tragen, was die chinesischen Meister in einem kurzen Satz formulieren:

„Was du praktizierst, das wirst du."

Beim Aikido und der Kunst des Hsing-I sieht der spirituelle Ansatz etwas

anders aus. Beide haben eine spirituelle Grundlage, doch sie inkorporie-

ren weder in die Soloübung von Formen noch in das Sparring mit einem

Partner spezifisch daoistische Übungen oder andere transformierende Me-

ditationstechniken (siehe Seite 140). Zwar gibt es in diesen beiden Künsten

auch Sitzübungen, aber diese werden hauptsächlich dazu benutzt, das Chi

des zentralen Nervensystems zum Zweck der Stärkung körperlicher und

psychischer Kraft zu entwickeln; ihr Zweck ist nicht die Transformation

des inneren Bewusstseins und des Gewahrseins. Das Aikido zum Beispiel

legt philosophisch großen Wert auf die Lösung von Konflikten durch

Entspannung, Liebe und Harmonie.

Menschen, die Kampfkunst mit einem humanen Ansatz trainieren, kön-

nen zu einem gewissen Ausmaß psychospirituelle Kräfte (zum Beispiel die

Fähigkeit, Energie zu projizieren) entwickeln und tun das auch oft, doch

ohne irgendeine authentische spirituelle Grundlage können diese unge-

wöhnlichen Kräfte zu einer Gefahr werden. Sie können in einem Menschen

ein falsches Gefühl der Macht hervorrufen und ihn ins Unglück führen,

weil der egoistische Hunger nach Macht in seinem Leben alle Freude und

Ausgeglichenheit verdrängen kann. Im spirituellen Ansatz der Kampf-

kunst sind eigene Meditationsübungen und meditationsartige Techniken

eine unabdingbare Voraussetzung. Man kann sich diese Methoden ganz

unabhängig von den Kampftechniken aneignen - wie etwa in Japan das

Zen oder in Tibet das Tantra -, aber im Idealfall sind sie nahtlos in die

Kampfkunst integriert.

55

Vernünftig trainieren

Wie auch immer Ihre Fähigkeiten und Ihre Ziele im Bereich der Kampf-

kunst aussehen, das Training für den Kampf sollte so beschaffen sein,

dass Ihr Körper dabei niemals Schaden leidet. Das ist eine Richtlinie, die

sich deutlich von den Gepflogenheiten etwa im westlichen Boxen unter-

scheidet, dessen Praktiken oft zu beträchtlichen Verletzungen führen. Man

wird wohl kaum behaupten können, dass das andauernde Einstecken von

harten Schlägen gegen den Kopf (wie sie im westlichen Boxen ausgeteilt

werden) der Gesundheit förderlich ist. Schläge gegen den Kopf sind viel-

mehr ausgesprochen gefährlich, und viele Boxer leiden im Alter an den

Folgen all der Verletzungen, die ihnen während des Trainings oder im

Kampf zugefugt wurden. Aber auch wenn viele Berufssportler (wie zum

Rugby-Spieler) wissen, dass sie vielleicht Krüppel sein werden, wenn ihre

Karriere erst einmal beendet ist, spielen sie doch weiter um des Siegens

willen. Die meisten Kampfkünstler sind dagegen der Ansicht, dass man

sich davor hüten muss, seinen Körper zu zerstören, wenn man ein wirklich

guter Kämpfer werden will.

Aus der Sicht des Daoismus müssen Gesundheit und herausragende

Leistung immer in einem Gleichgewicht stehen. Seinen Körper durch dau-

ernde Verletzungen zu ruinieren, während man trainiert, sich selbst zu

verteidigen, ist ein Widerspruch in sich. Was in diesem Fall verteidigt wird,

ist nur das eigene Ego und sein Verlangen danach, zu gewinnen.

56

Portrait eines Meisters der inneren Kampfkunst

Wang Shu Jin - Unglaubliches Chi

Im Sommer des Jahres

1968 reiste ich von Japan

aus nach Taiwan, um die

innere Kampfkunst des

Ba-Gua-Meisters Wang

Shu Jin kennen zu ler-

nen, eines Meisters der

damals von vielen als

einer der besten Kämp-

fer der leeren Hand in

Asien angesehen wurde.

Ich fand heraus, wo sich

Wangs Schüler trafen,

nämlich jeden Morgen

um 5 Uhr 30 beim Am-

phitheater im Park von

Taichung. Zu jener Zeit

hielten sich sehr viele

Menschen im Park auf,

und sie übten dort alle

möglichen Dinge, unter

anderem Shaolin Gung

Fu, Karate, Tai Chi und Badminton. Einige machten, an den Ästen von

Bäumen hängend, Streckübungen, manche gingen einfach spazieren, an-

dere spielten Saxophon. Ich war in den Anblick dieser surrealen Szene

vertieft und machte mir so meine Gedanken über die Begegnung des al-

ten Chinas mit dem Zwanzigsten Jahrhundert, als ich einen untersetzen

Mann in einem weißen Schlafanzug mit zwei Vogelkäfigen in den Hän-

den die Straße entlang auf uns zu watscheln sah. Es war Wang Shu Jin,

ein rundlicher älterer Herr, der bei einer Körpergröße von etwa 1 Meter 55

gute 115 bis 135 Kilo mit sich herumtrug.

Ich war damals 19 Jahre alt, ein anerkannter junger Karate-Champion,

und ich hatte, wie es die Tradition verlangte, ein Geschenk mitgebracht,

mit dem ich dem Meister gegenüber meine Hochachtung zum Ausdruck

brachte: eine nicht unbeträchtliche Menge erstklassigen Ginsengs. Bei

unserer ersten Begegnung zögerte Wang jedoch nicht, seine Geringschät-

57

zung für das Karate zum Ausdruck zu bringen. Er sagte mir klipp und

klar, Karate sei „nur geeignet, um gegen alte Frauen und Kinder zu kämp-

fen". Da ich mich dem Karate-Training schon seit vielen Jahren gewid-

met hatte und es damals meine größte Leidenschaft war, verletzte mich

seine abfällige Bemerkung bis ins Mark. Doch ich musste meinen Unmut

hinunterschlucken. In unserem darauf folgende Sparring besiegte Wang

mich bei jedem Durchgang und klopfte mir nach Belieben leicht auf alle

Körperteile, um mir zu zeigen, wie mühelos er meine Verteidigung zu

umgehen wusste. Obwohl ich mir die größte Mühe gab und trotz Wangs

enormer Leibesfülle ermöglichte es ihm sein Ba Gua Chang, all meinen

Schlägen mühelos auszuweichen und am Schluss immer hinter mir zu

stehen.

Um mir eindrücklich zu beweisen, dass ich noch viel zu lernen hatte,

erlaubte er mir nach einigen Tagen der Übung mit ihm, ihm mit voller

Kraft auf jede beliebige Körperpartie zu schlagen. Ich legte alle Kraft, die

ich nur aufbringen konnte, in diese Schläge, aber sie richteten nicht mehr

aus als die Schläge eines Dreijährigen. Ich trat ihm gegen die Knie und in

die Leistengegend, ich schlug ihm gegen den Hals, auf die Ellbogen und

die Rippen, ohne dass dies Wirkung zeigte. Wie viele Ba-Gua-Meister

besaß er die Fähigkeit, Schläge zu absorbieren, ohne verletzt zu werden.

Als ich ihm gegen das Schienbein getreten hatte, tat mein Fuß noch lan-

ge danach weh. Als ich meine Faust in seinen Bauch hämmerte, fühlte

es sich an, als hätte ich mir durch den Hieb das Handgelenk gebrochen.

Während des Sparrings klopfte Wang mir immer wieder auf den Kopf,

um mir zu demonstrieren, wie leicht es für ihn gewesen wäre, mich zu

vernichten. Einmal klopfte er mir tatsächlich nur leicht auf den Kopf, was

mich aber augenblicklich zu Boden warf. Ich saß völlig verdattert auf der

Erde und hatte das Gefühl, gerade einen starken Stromschlag bekommen

zu haben.

Nach einer Weil wurde mir klar, dass meine beschränkten Fähigkeiten

und meine Unfähigkeit, ihm weh zu tun, ihn zu langweilen begannen.

Manchmal packte er mich mit den Armen und ließ mich, meine Füße

in der Luft, drei- oder viermal wie ein Jojo vor und zurück von seinem

Bauch abprallen. Anschließend schleuderte er mich zurück. Später hörte

ich, dass Wang in jungen Jahren während Herausforderungskämpfen auf

dem Festland tatsächlich einigen Gegnern auf diese Weise die Wirbelsäule

gebrochen hatte. Jahre später lernte ich von einem anderen Lehrer, dass

die einzig mögliche Verteidigung gegen diese Technik darin bestand, sich

zur Seite zu drehen, so dass man mit dem Hüftknochen und nicht mit dem

Bauch auf seinen gefürchteten Bauch aufprallte. Gelang einem das nicht,

dann war man geliefert.

58

Nachdem ich erst einmal Wangs aufschlussreichen, wenn auch ziemlich

verblüffenden Fähigkeiten begegnet war, war ich natürlich versessen dar-

auf, sein Ba Gua lernen. Er selbst hatte es bei Chang Chao-Tung gelernt,

einem Schüler von Tung Hai Chuan, von dem es heißt, er habe das Ba

Gua im späten neunzehnten Jahrhundert öffentlich zugänglich gemacht.

Bevor Wang mich als Schüler annahm, beschloss er zu testen, wie ernst es

mir war. In schroffem Tonfall wies er mich an, die Ba-Gua-Chang-Positur

einzunehmen, die „Die Wildgans verlässt den Schwann" genannt wird,

und diese Positur beizubehalten, bis ich eine andere Anweisung erhielte.

Diese Positur verlangt, dass ein Bein bis auf Hüfthöhe angehoben wird,

während der Oberkörper zu einer Seite hin gebogen ist und die Arme aus-

gestreckt sind. Ich nahm die Positur ein, wie er es verlangt hatte, und be-

hielt sie Minute für Minute bei, wobei ich mehrere Male zusammenbrach.

Jedes Mal schütteten Wangs Schüler sofort einen Eimer kaltes Wasser

über mich aus und befahlen mir, die Positur wieder einzunehmen. Nach

zwei Stunden dieser Tortur willigte ein lächelnder Wang ein, mich als

seinen Schüler anzunehmen. Was hatte Wang da auf die Probe gestellt?

War es meine Hingabe, mein Vermögen, Härten zu ertragen, meine Ernst-

haftigkeit oder meine Verrücktheit (das heißt meine Leidenschaft für die

Kampfkunst)? Vielleicht war es ein bisschen von alledem.

Wangs Fähigkeiten im Kampf waren einfach verblüffend. Trotz seines Al-

ters und seines Gewichts war Wang unglaublich behände, blitzschnell, bei

bester Gesundheit und hatte unglaubliche körperliche Kraft. Im Westen

nehmen wir an, dass ein Mensch, der dick ist, nicht fit sein kann, dass er

ungeschickt und langsam und mit seiner eigenen Erscheinung unzufrie-

den sein muss. Wang war der beste Beweis dafür, dass dieser Stereotyp

unzutreffend ist. Er fühlte sich offenkundig ausgesprochen wohl in seiner

Haut. Er nahm regelmäßig Herausforderungen der besten Kämpfer aus

Japan und Südostasien zu Kämpfen mit Vollkontakt ohne jegliche Ein-

schränkungen an, und er gewann sie immer. Noch in seinen Achtzigern

konnte er die härtesten jungen Burschen schlagen. An kalten Trainings-

tagen standen seine Schüler um ihn herum und wärmten sich an ihm die

Hände, als sei er ein Ofen - ein Beweis für den erstaunlichen Grad seiner

Chi-Entwicklung. Wang war der erste, der mir beibrachte, wie man das

Chi dazu benutzen kann, ein hohes Maß an Gesundheit und Vitalität zu

erreichen. Er zeigte mir auch, wie man das Chi benutzen kann, um Kraft

für den Kampf zu erzeugen.

Wang besaß einen tiefen Glauben an das Chi. Bei unserer ersten Begeg-

nung sagte er zu mir: „Ich kann mehr essen als du, ich kann mehr Sex

haben als du, und ich kann besser kämpfen als du - aber du hältst dich

für gesund. Nun, junger Mann, gesund sein, das heißt sehr viel mehr als

59

nur jung sein. Es kommt allein drauf an, wie viel Chi du besitzt." Seine

Worte machten einen tiefen Eindruck auf meinen neunzehnjährigen Geist

und führten dazu, dass sich meine westlichen Vorstellungen von dem,

was die Wirklichkeit des Körpers ist und wie er funktioniert, grundlegend

änderten. Wie sich später herausstellte war Wang auch in der daoistischen

Meditation bewandert und war ein aktiver und kundiger Meister der dao-

istischen Praktiken der Arbeit mit der sexuellen Energie. Das waren Din-

ge, die er nur an wenige ausgewählte Schüler weitergab.

Seine Schüler waren selbst großartige Kämpfer. Das Ausmaß des Könnens

seiner Schüler sagte vielleicht noch mehr über die Effektivität der inneren

Künste als die Fähigkeit von Wang selbst. Es machte deutlich, dass Wang

kein Übermensch war, sondern einfach über eine überlegene Kombination

von Talent, Engagement und der Fähigkeit, ausgezeichnete Unterweisun-

gen zu geben, verfugte. Als ich begann, bei Wang zu üben, vermochten

etliche seiner Schüler im Alter zwischen fünfzehn und siebzig Jahren

mich windelweich zu prügeln. Ich konnte es einfach nicht glauben! Frau-

en wie Männer waren in der Lage, mich zu treffen, ohne meine Hiebe zu

sich heranzuziehen. Im Kampf mit einer alten Frau dermaßen vorgeführt

zu werden, war für einen stolzen neunzehnjährigen Karate-Champion

nicht gerade leicht zu verkraften. Einige der älteren Menschen trainierten

erst seit ein paar Jahren bei Wang. Sie verprügelten mich an jenem ersten

Tag so kräftig, dass ich am liebsten das Weite gesucht hätte. Ich weiß

noch sehr gut, wie ich mich damals fragte, was sie wohl als nächstes tun

würden: Würden sie mir wohl ein kleines Kind vor die Nase stellen, das

mich dann verhauen würde?

Viele von Wangs Schülern hatten erst spät in ihrem Leben mit dem Trai-

ning begonnen. Tatsächlich gehörte es zu den Spezialitäten von Wang,

Menschen in ihren Fünfzigern und Sechzigern, die alle möglichen kör-

perlichen Probleme hatten, als Schüler anzunehmen und sie gesund und

stark zu machen. Zu jener Zeit hatten ältere Menschen in Taiwan kaum

Angst vor willkürlicher Gewalt, denn die Polizei griff bei Leuten, die ih-

nen etwas antaten, sehr hart durch. Deshalb kamen Wangs ältere Schüler

ursprünglich auch nicht zu ihm, um Selbstverteidigung zu lernen. Doch

auch wenn diese älteren Schüler aus rein gesundheitlichen Gründen zu

Wang gekommen waren, wurden sie doch zu guten Kämpfern, denn das

Kampftraining gehörte einfach zum Wangs Programm.

In Taiwan sprach ich mit einigen Schülern von Wang, die in ihren Fünf-

zigern waren und die erst kürzlich ohne jede vorherige Kampfkunstpraxis

mit der Übung von Ba Gua begonnen hatten. Sie waren zu Wang ge-

kommen, weil sie impotent zu werden drohten oder weil sie unter einer

chronischen Krankheit litten. Nachdem sie mit der Übung von Ba Gua

60

begonnen hatten, ging ihre Impotenz wieder zurück, und ihre Gesundheit,

ihre Reflexe und ihre Geistesklarheit hatten beträchtlich zugenommen.

Ihre chronischen Krankheiten waren entweder gänzlich verschwunden

oder hatten sich doch gebessert.

Die Schüler von Wang waren ständig auf der Suche nach ihrem eigenen

Chi und öffneten damit die Energiebahnen ihres Körpers. Sie pflegten

zu versuchen, das Chi-Gefühl eines Schlages, den Wang ihnen versetzt

hatte, in einer abgemilderten aber immer noch erstaunlichen Weise nach-

zuvollziehen. Wang war ein Experte im Projizieren des Chi. Er vermochte

eine enorme Kraft auszusenden, die andere Menschen deutlich spüren

konnten und die manchmal sogar wehtat, auch wenn seine Hände sich

erst in ganz kurzem Abstand von ihrem Körper zu bewegen begannen.

Manchmal tippte er einem nur ganz leicht mit den Fingern auf die Brust,

und wenn er sich entschloss, dabei ein wenig Chi zu projizieren, konnte

er einen damit gegen die Wand schleudern oder einem solche Schmerzen

zufügen, dass man glaubte, sterben zu müssen - und das, obwohl seine

Hand sich dabei kaum um einen Zentimeter bewegte. Dieses Vermögen,

seine gesamte Kraft augenblicklich in einen einzigen Punkt zusammen-

zuführen, ist eine der Techniken, die im Ba Gua entwickelt werden. Wenn

man diese Methode erklärt, dann hört sich das sehr klinisch an, aber

wenn jemand diese Theorie an Ihrem eigenen Körper anwendet, dann

kann die Sache überaus erheiternd oder auch erschreckend werden. Wenn

man Chi von dieser Stärke absorbiert, so kann sich das anfühlen wie ein

angenehmer Windstoß, aber auch wie ein Blitzschlag.

Als ich im Jahr 1968 begann, mit Wang Rou Shou (was im Ba Gua etwa

dem Push Hands im Tai Chi entspricht) zu üben, brauchte er mich nur zu

berühren, um mich durch die Luft zu schleudern. Als ich Wang zehn Jah-

re später zum letzten Mal in Taichung begegnete, hatte ich das Privileg,

noch einmal Rou Shou mit ihm üben zu dürfen. Aufgrund der Methoden,

die ich von Wang selbst gelernt hatte, aber auch vermöge dessen, was mir

andere Meister inzwischen beigebracht hatten, war es mir jetzt mit Müh

und Not möglich, der Kraft von Wang zu entgehen. Er „kriegte" mich

nicht mehr so leicht wie früher. Ich war darüber außer mir vor Freude. Es

gab mir das Gefühl, dass ich in der Zwischenzeit auf eine höhere Ebene

der Kunst fortgeschritten war. Ich war endlich in der Lage, Dinge zu tun,

von denen ich zehn lange Jahre geträumt hatte - und dieses Gefühl nähr-

te einen riesigen Irrtum in mir.

Es kam der Moment, wo ich herausfinden wollte, ob ich es nun mit der

Kraft von Wang aufnehmen konnte, wobei mir natürlich klar war, dass

er inzwischen ein Alter über achtzig Jahren erreicht hatte. Meine Kör-

persprache muss ihn wohl herausgefordert haben, und er antwortete auf

61

mein Vorhaben, indem er eine geballte Ladung Energie in meinen Körper

projizierte, die sich in der Muskulatur zwischen meinen Schulterblättern

festsetzte. Es bedurfte danach drei Monate intensiver Körperarbeit und

der Behandlung mit Akupunktur, um diese Energie und die damit verbun-

denen Schmerzen wieder loszuwerden. Es ging dabei nicht etwa um eine

Muskelzerrung, sondern um ein Bündel von Energie, das Wang tief in

meinen Körper versenkt hatte. Ganz offensichtlich gab es also noch fort-

geschrittenere Ebenen, die es für mich noch zu meistern galt. Einerseits

waren das aufregende Aussichten, andererseits war dieser Vorfall eine

eindeutige Mahnung, mir nicht zu viel auf mein Können einzubilden.

Wang lehrte hauptsächlich dadurch, dass er eine Bewegung vormachte,

die seine Schüler beobachteten und dann so gut wie möglich nachzu-

ahmen versuchten. Er betonte die Bedeutung einer tiefen entspannten

Atmung und eines machtvollen Bauches. Er konnte den Körper eines

Schülers auch von seiner Körperhaltung und der inneren Abstimmung

her positionieren. Sein Chi und seine innere Kraft waren so offensichtlich

und so machtvoll, dass man eine geradezu greifbare körperliche Emp-

findung von der Art des Chi bekam, die er übermittelte. Wie schon ge-

sagt, demonstrierte er, worin das Chi einer Technik bestand, indem er den

Schüler körperlich schlug, wobei er gerade genug Kraft einsetzte, damit

beim Schüler keinerlei Zweifel bestehen blieb, was da gerade geschehen

war. Als Alternative setzte er Fa Jin (siehe Seite 188) ein, um die Art von

Kraft in den Körper eines Schülers zu projizieren, die dieser fühlen sollte,

damit er erspüren konnte, wie sein Chi beschaffen war. Dieses Projizieren

von Chi in einen Schüler war typisch für alle echten Meister der inneren

Kampfkünste, die ich persönlich in China getroffen habe. Sie gingen da-

von aus, dass das rein visuelle Lehren einer Technik nicht ausreichte. Sie

waren vielmehr der Ansicht, dass sie einen Schüler, wenn sie ihm wirklich

etwas beibringen wollten, in subtiler und gröberer Hinsicht spüren lassen

mussten, worin die Wirklichkeit verschiedener Arten von innerer Kraft

bestand. Sie hielten dies für notwendig, wenn sie den Schüler in die Lage

versetzen wollten, die Techniken der Selbstverteidigung nachzuvollzie-

hen. Wangs Schüler versuchten, sein Chi mit aller ihnen zur Verfügung

stehenden Kreativität nachzuahmen.

Wang lehrte, indem er etwas vormachte, und seine Unterweisungen waren

relativ unspezifisch. Was ihn vor allem interessierte, war, ob seine Schüler

Kraft oder Chi manifestieren konnten oder nicht. In seiner Methode gab

es wenige präzise und detaillierte Anweisungen, wie genau man dieses

Nachvollziehen erreichen konnte. Wangs grundlegender Ratschlag lau-

tete: Üben! Er empfahl, gewisse Bewegungen wie die Erste Hand (Single

Palm Change, siehe Seite 335) oder die erste Bewegung des Hsing-I, die

62

das „Spalten" genannt wird (siehe Seite 295), Stunde für Stunde immer

wieder zu wiederholen. „Übt", so pflegte er zu sagen, „und das Können

wird sich ganz natürlich einstellen." Ich habe ihn beim Wort genommen.

63

Ein Foto aus dem Archiv von Bruce Frantzis. Es zeigt den Autor im Alter von

fünfzehn Jahren, wie er einen Seitwärtstn'tt des Karate im Sprung ausführt.

Das Studium des Karate und des Judo waren der Anfang seiner Reise von den

äußeren zu den inneren Kampfkünsten.

Ein Kontinuum

Die äußeren und inneren Kampfkünste Chinas

Es gibt viele Arten von Kampfkunst

In China wie im Rest der Welt haben die Menschen aus allen möglichen

Gründen physisch miteinander gekämpft, aus weisen und törichten, ge-

rechten und ungerechten Gründen. Krieg, Verbrechen, korrupte Regierun-

gen, der Streit um natürliche Ressourcen und die menschliche Neigung

zur Gewalttätigkeit hat es immer gegeben. In Asien und insbesondere

in China sind über viele Generationen hinweg systematisch organisierte

Kampfformen zur effektiven Bekämpfung des „Feindes" entwickelt worden.

Die Menschen haben mit ihrem Körper gekämpft und vor der Erfindung

des Schießpulvers auch mit Waffen wie Messern, Schwertern, Stöcken,

Speeren, Peitschen und Ketten. Ein ähnliches Muster ist auch im Westen

zu beobachten, wo praktische Kampftechniken wie das Boxen, Ringen und

Fechten sich zu Kunstformen entwickelten.

Der Bestandteil „martial" in dem englischen Begriff für Kampfkunst,

martial art, ist von Mars, dem alten römischen Gott des Krieges und des

körperlichen Wettstreits, hergeleitet. Es ist also zu erwarten, dass vieles,

was zum Training der Kampfkunst gehört, auch zur Leistungsverbesse-

rung im Hochleistungssport und in normalen Freizeitaktivitäten beitra-

gen kann. In der Kampfkunst werden die Grenzen der körperlichen und

geistigen Fähigkeiten des Menschen wie in allen anderen innovativen

Berufs- und Amateursportarten ständig auf die Probe gestellt, analysiert

und vorangetrieben. Die Kampfkünste Chinas gehören zu den am höchsten

entwickelten in der Welt. Aufgrund der Sprachbarriere und der (bis vor

kurzem zu verzeichnenden) Tendenz der Chinesen, jeglichen Austausch

mit fremden Nationen stark einzuschränken oder zu vermeiden, ist man

im Westen jedoch über viele Aspekte der alten chinesischen Disziplinen

der Kultivierung von Körper und Geist kaum informiert.

65

2

In China gibt es über die Ursprünge der Kampfkünste viele Legenden

von unterschiedlicher Farbigkeit. Alles, was sich mit Zuverlässigkeit sagen

lässt, ist, dass es in China bereits seit dreitausend Jahren verschiedene

Formen der Kampfkunst gibt.1 Es gibt dort zwischen fünfzig und sech-

zig Hauptrichtungen der Kampfkunst, die ihrerseits mehr als vierhundert

unterscheidbare Schulen mit spezifischen Namen und einer kohärenten

Philosophie umfassen. Der größte Teil der körperlichen Techniken, die von

diesen Schulen gelehrt werden, besitzt eine oberflächliche Ähnlichkeit.2

Jede Schule hat jedoch ihre eigene Art und Weise, dieselbe Technik aus-

zuführen, und es gibt zahllose Variationen der körperlichen Bewegung

und der Art von Kraft, die angewendet wird. Jede Schule besitzt auch

ganz bestimmte Techniken, auf die sie spezialisiert ist. Außerdem verfügt

jede Schule über ihre eigene Philosophie oder ihre eigenen Theorien, die

dann im Kampf praktisch umgesetzt werden. In einigen Schulen gibt es

ganz deutliche militärische, religiöse, geheimbündlerische, Unterwelt- oder

Familien-Anklänge.

Die Namen vieler Schulen sind von Säugetieren (Bär, Pferd, Tiger, Affe,

Leopard), Vögeln (Weißer Kranich, Schwalbe, Falke), Insekten oder Spin-

nentieren (Gottesanbeterin, Skorpion) und mythologischen Tieren (Drache,

Phönix, Einhorn) abgeleitet. Manche tragen den Namen berühmter männ-

1 Die bekannteste, wenn auch historisch unrichtige Legende besagt, dass Bodhidharma

oder Damo, ein großer buddhistischer Meditationsmeister aus Indien, die Kampfkunst

im Jahre 526 im Shaolin-Kloster begründete. Er tat das angeblich, um den Körper der

Mönche zu stählen, damit sie lange Zeiten der Meditation ohne negative körperliche

Begleiterscheinungen verkraften konnten. Wie es heißt, entstand so die Shaolin-Schule

der Kampfkünste. Dass Bodhidharma jene Disziplin nach China brachte, die dort zum

Chan/Zen-Buddhismus wurde, ist ziemlich sicher. Kampfkünste gab es in China jedoch

bereits lange vor seiner Ankunft . Er mag zwar auch einige Formen der Kampfkunst

mitgebracht haben, aber es gibt keinerlei historische Belege dafür.

2 In allen Kampfkünsten Chinas ist es nicht möglich, die genaue Zahl der Arm-, Fuß-,

Wurf- und Blocktechniken zu ermitteln. Wie sollte man eine solche Berechnung anstel-

len? Stellt derselbe Hieb, der auf kurze, mittlere oder lange Distanz, der hoch, mittelhoch

oder tief ausgeführt wird, nun sechs verschiedene Hiebe dar, oder sind das einfach

nur Variationen einer einzigen Technik? Sollte dieselbe Technik, die mir der rechten

oder der linken Seite des Körpers ausgeführt wird, als ein oder zwei Techniken gezählt

werden? Ist dieselbe Bewegung die im Stand, in einer niedrigen Hocke, auf dem Boden

liegend, während eines Sprungs in die Höhe oder auf dem Boden rollend ausgeführt

wird, eine Technik, oder sind es fünf Techniken? Wenn man all das bedenkt, dann kann

man sagen, dass die chinesische Kampfkunst ein grundlegendes Repertoire von 300

bis 500 Finger-, Knöchel-, Handflächen-, Handkanten-, Handrücken-, Handgelenk-,

Unterarm-, Ellbogen-, Schulter- und Kopfstoß-Techniken besitzt. Außerdem gibt es

etwa 50 bis 100 Tritte und Kniestöße, 100 Würfe und 100 Hebel-Techniken.

66

licher oder weiblicher Kampfkünstler (Wing Chun und Wu Mei) oder von

Familien von Kampfkünstlern (Tai Chi der Chen-, Yang- oder Wu-Famile,

oder die südliche Shaolin-Schule der Hung-, Choi- oder Li-Familie), die

die einzelnen Formen begründet oder sie der Öffentlichkeit zugänglich

gemacht haben. Einige Schulen tragen poetische Namen, andere werden

nach erhabenen philosophischen Vorstellungen der Chinesen benannt

(Hsing-I Chuan oder „Geistform-Boxen") oder nach religiösen Prinzipien

oder Bildern, die aus dem Konfuzianismus stammen (Aufrechtes Boxen),

die buddhistischen Ursprungs sind (Boxen der Lohan oder der Wächter

des Jin-Gang-Tempels) oder auch aus dem Daoismus kommen (Tai Chi, Ba

Gua, Yin-Yang oder Boxen der Acht trunkenen Unsterblichen).

Für jemanden, der sich hier nicht auskennt, mögen diese vielen Namen

einigermaßen verwirrend sein. Wir müssen jedoch bedenken, dass die

Bevölkerung Chinas während des größten Zeitraums seiner Geschichte

weit größer war als die von Europa. Eine ungebrochene Tradition, die

über 3000 Jahre zurückreicht, hat in China zahlreiche schöpferische Ge-

nies hervorgebracht. Viele von ihnen haben sich darauf spezialisiert, mit

Hilfe der Kampfkünste die latenten Fähigkeiten von Körper und Geist zu

entfesseln.

In China wurde das Schießpulver bereits vor mehr als 1000 Jahren

erfunden, doch die Chinesen entschieden sich dafür, der Technologie der

Feuerwaffen keine Beachtung zu schenken und dafür die Kampfkünste zu

entwickeln. Die alten Chinesen waren der interessanten Überzeugung, dass

ein Mensch, der andere Menschen tötet, ohne ihnen dabei ins Gesicht zu se-

hen und ohne die persönliche Erfahrung zu machen, ein Leben zu nehmen,

indem er mit Hilfe des Schießpulvers den „Tod auf Distanz" bringt, leicht zu

einem Untermenschen wird, der bereit ist zu gnadenlosem Massenmorden.

Feuerwaffen besaßen für sie zwar das Potential, außerordentlich effektiv

zu sein, hatten aber auch etwas völlig Entmenschlichendes. Man braucht

sich nur die Beispiele des Auslöschens ganzer Städte durch konventionelle

Bomben oder Atombomben oder auch des sinnlosen Abknallens irgend-

welcher Passanten aus einem fahrenden Auto vor Augen zu halten, um zu

Begreifen, dass die Chinesen da wohl nicht Unrecht hatten.

Die Kampfkünste verlangen viele Jahre andauernden Trainings, bis man

darin einen hohen Grad des Könnens erreicht. Während dieses langen Pro-

zesses hat der Übende ausreichend Gelegenheit, ernsthaft zu kontemplieren,

was Leben, Tod, Schmerz, sinnlose Gewalt, Gewissen und Reue wirklich be-

deuten. Außerdem wird ein Angreifer wohl stärker das moralische Gewicht

67

seines Tuns empfinden (d. h. es wird mehr Gefühl im Spiel sein), wenn die

Gewalt unmittelbar und auf ganz bewusste Art und Weise ausgeübt wird,

als jemand, der Gewalt „auf Distanz" ausübt, indem er auf einen Knopf

oder einen Abzug drückt. Jene chinesischen Kampfkünste, die in einem

religiösen oder philosophischen Rahmen entwickelt wurden, sprechen das

Thema der Konsequenzen von Gewaltanwendung gewöhnlich direkt an.

Sie tun das, um die Ausübenden der Kampfkunst auf die pragmatischen,

psychologischen und moralischen Implikationen von Gewalt in ihnen

selbst und in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Mit der Zeit breiteten sich all die unterschiedlichen Kampfkünste über

den ganzen Fernen Osten aus. Die Kampfkünste Chinas scheinen die

technische Quelle oder zumindest die ursprüngliche Inspiration für die

Kampfkünste aus Japan, Korea, Okinawa, Burma und Thailand gewesen

zu sein. In Malaysia und Indonesien gibt es eher eine Mischung von

Kampftechniken aus China und aus Indien, wobei auf der körperlichen,

mentalen und strategischen Ebene deutliche Anklänge von chinesischen

Kampfmethoden erkennbar sind.

Auch wenn es in China hunderte von verschiedenen Schulen der Kampf-

kunst gibt, lassen sie alle sich letztlich doch auf einen von drei grundlegen-

den Stilen reduzieren: die äußere Kampfkunst, die innere Kampfkunst und

eine gewisse Mischung dieser beiden Stile. In diesem Kapitel werden wir

diese drei grundlegenden Stille in Hinsicht drauf untersuchen, wie sie mit

den einzelnen Aspekten des Kämpfens, also zum Beispiel mit körperlicher

Kraft, Stärke, Geschwindigkeit, Ausdauer und Reflexen, umgehen.

Verbeugungen, Gürtel und Uniformen

In der Vorstellung der westlichen Öffentlichkeit beschwört der Begriff

„Kampfkunst" Vorstellungen von harter Disziplin herauf. Zu diesen Vor-

stellungen gehört auch das Bild von barfüßigen Leuten, die schlafanzu-

gähnliche Kleidung mit verschiedenfarbigen Gürteln tragen (wobei ein

schwarzer Gürtel anzeigt, dass jemand ein „Experte" ist) und sich ständig

formell voreinander verbeugen. Auch wenn solche Elemente für die meisten

japanischen und koreanischen Kampfkünste (Karate, Tae Kwon Do, Judo

usw.) charakteristisch sein mögen, sind sie doch keinesfalls für die meisten

der Kampfkünste dieser Welt repräsentativ.

Die in den Kampfkünsten getragene Kleidung ist im Allgemeinen eher

ein kulturelles Symbol als etwas, das an sich ein Bestandteil der Kampf-

68

kunst selbst ist. Designer-T-Shirts, auf denen der Name bestimmter Schulen

der Kampfkunst oder stilisierte Symbole prangen, sowie schicke Uniformen,

bei denen Jacke und Hose verschiedene Farmen haben, gehören eher in

den Bereich der Mode als den der Kampfkunst. Die einzige Voraussetzung,

die Gewänder und Fußbekleidung in den Kampfkünsten erfüllen müssen,

ist, dass man sich darin in verschiedenen Umgebungen bequem und un-

behindert bewegen kann. Boxer (Thaiboxer ebenso wie Boxer westlichen

Stils) sowie Ausübende der indonesischen, indischen und chinesischen

Kampfkünste mögen gute Kämpfer sein und dennoch mit nacktem Ober-

körper oder in einfachem T-Shirt und ohne bestimmte Schuhe an den

Füßen trainieren.

Die Ausübenden der inneren Kampfkünste pflegen entweder in normaler

Straßenkleidung oder üblicher Sportbekleidung zu trainieren. Während

öffentlicher Vorführungen oder Wettkämpfe jedoch mögen auch Aus-

übender nichtjapanischer und nichtkoreanischer Kampfkunst-Schulen

formelle Landestrachten tragen (chinesische Kampfkünstler mögen zum

Beispiel Seidenuniformen tragen), wenn sie nicht auch dort ihre übliche,

nichtformelle Trainingskleidung tragen. Die Situation ist etwa der ver-

gleichbar, die wir aus der Welt der Börse und der großen Konzerne mit

ihrem formellen Bekleidungskodex und andererseits der Welt der jungen

Hochtechnologie-Firmen kennen. In der ersteren ist der Schnitt und die

Qualität der Kleidung einer Person ein Hinweis auf deren Position innerhalb

der Organisation, während in der letzteren informelle Kleidung der große

Gleichmacher ist und die Chefs ebenso wie alle anderen Mitarbeiter hier

bei der Arbeit vielleicht Hemden mit offenem Kragen oder kurzärmelige

Hemden und Laufschuhe, vielleicht sogar Shorts tragen.

Es gibt in allen Kulturen sichtbare Rangabzeichen, die anzeigen, wer

innerhalb einer Hierarchie wer ist. In den Kampfkünsten gibt es drei unter-

schiedliche Sichtweisen dieses Themas: 1) die Hierarchie sollte für Insider

ebenso wie Außenstehende deutlich sichtbar sein; 2) die Qualität des Kön-

nens des Kampfkünstlers sollte ohne Reklame durch irgendwelche Kostüme

für sich sprechen; 3) überlegene Kampfkunst sollte verborgen bleiben.

In vielen Schulen der Kampfkunst sieht man daran, wer sich länger und

eifriger verneigt und wer Kommandos brüllt, sehr schnell, wer hier einen

höheren und wer einen niederen Rang einnimmt. In anderen Schulen

werden keine offensichtlichen Hinweise auf Rangunterschiede zur Schau

gestellt. Letzteres gilt besonders für die Schulen der inneren Kampfkunst.

Festzustellen, wer hier welchen Rang einnimmt, ist dort kaum möglich,

69

wenn der Beobachter nicht ein sehr geübtes Auge besitzt oder jemanden

in voller Aktion beobachten kann.

Das Tragen von Gürteln stammt aus der alten Tradition der Samurai. In

den japanischen Systemen zum Beispiel zeigt ein weißer Gürtel an, dass

jemand gerade mit dem Üben beginnt. Ein brauner Gürtel weist den Träger

als jemanden aus, der in die Anfangsgründe der Kunst eingeführt wird.

Ein schwarzer Gürtel ersten Grades, auf Japanisch Shodan genannt, wird

von den Medien und der breiten Öffentlichkeit oft fälschlicherweise für

das Abzeichen eines „Kampfkunstexperten" gehalten. In Japan bezeich-

net „Shodan" jedoch den Grad des „Anfangers", jemanden, der so weit

gekommen ist, dass er oder sie jetzt wirklich bereit ist, die Kampfkunst zu

erlernen. In der Tradition der japanischen Kampfkünste müsste jemand

schon den schwarzen Gürtel vierten oder fünften Grades besitzen, damit

man ihn als einen „Experten" betrachten würde. Manche Schulen in China

und Indonesien geben auch farbige Schärpen oder bestimmte Stoffe zur

Kennzeichnung des Ranges aus, aber ihre wirklichen Könner lassen ihren

Rang nicht durch sichtbare Abzeichen erkennen. Als Faustregel kann man

sagen, dass Schulen der äußeren Kampfkunst oft klar erkennbare Abzeichen

für ein System von Graden besitzen und hier eine militärisch anmutende

Disziplin herrscht. Im Gegensatz dazu scheinen die Schulen der inneren

Kampfkünste oft äußerst informell, lax und manchmal geradezu chaotisch

zu sein, ein Eindruck, der jedoch täuschen kann. In Wirklichkeit legen die

inneren Schulen größten Wert auf eine gute Beherrschung der Kunst ohne

rituelles Getue und ohne Pauken und Trompeten, und sie konzentrieren

sich darauf, eine innerlich angenommene Disziplin und nicht eine von

außen auferlegte Disziplin zu kultivieren.

Ist eine Kampfkunst „besser" als eine andere?

Eine Frage, die (oft in einem provokativen Tonfall) in den Medien gestellt

wird, die sich mit Kampfkunst befassen, ist: „Kann diese Kampfkunst jene

Kampfkunst schlagen?" Die Antwort ist, dass kein bestimmtes System der

Kampfkunst besser ist als ein anderes. Sie sind einfach in vielerlei Hin-

sicht verschieden voneinander. Liu Hung Chieh (siehe Seite 367) pflegte

zu sagen: „Wer einen Kampf gewinnt oder verliert, das ist keine Frage

des Stils der Kampfkunst, die er ausübt, sondern hängt davon ab, wie viel

,Gung Fu' (persönliches Kampfgeschick) er besitzt." Wenn wir die Ge-

samtsumme dessen, was es bedarf, damit jemand in einem harten Kampf

70

gewinnen kann, als Gung Fu, das heißt Können oder Wissen, bezeichnen,

dann sollten wir über ein altes chinesisches Sprichwort nachdenken, das

folgendermaßen lautet: „Manche Menschen werden mit Wissen geboren,

manche Menschen erhalten Wissen als ein Geschenk des Himmels, manche

Menschen erlangen Wissen durch fortgesetzte harte Arbeit und ernsthaftes

Studium. Das einmal erlangte Wissen aber, ist stets dasselbe."

Was die Kampfkünste angeht, sind diejenigen, die „mit Wissen geboren"

werden, die Naturtalente. Es sind Individuen mit einem unglaublichen

Instinkt für den Kampf. Sie pflegen die Technik mit einem Minimum an

Erfahrung gut zu lernen, und oft schlagen sie Gegner, die alles richtig

machen, während sie selber alles „falsch" machen. Jene, die „Wissen als ein

Geschenk" erhalten haben, finden sich oft genetisch mit außerordentlicher

Geschwindigkeit, großer Kraft, ungewöhnlichen Reflexen, großer Ausdauer

oder der Fähigkeit, Schläge einzustecken, ausgestattet. Doch die meisten

von uns gehören zu denjenigen, die sich das Wissen durch „fortgesetzte

harte Arbeit und ernsthaftes Studium" aneignen müssen. Im Allgemeinen

heißt es, dass der übliche Weg dazu, die Kampftechniken zu erlernen und

in den Kampfkünsten überlegenes Können zu erreichen, darin besteht,

dass man sich schindet, viel praktische Erfahrung sammelt und sich über

einen langen Zeitraum abschleifen lässt. Wenn jemand aber erst einmal das

Gung Fu für den Kampf erworben hat und mit Regelmäßigkeit kämpfen

und dabei gewinnen kann, dann spielt es keine Rolle mehr, wie er oder

sie das Gung Fu erlangt hat. Hat man es einmal „gepackt", dann hat man

es - „das einmal erlangte Wissen ist stets dasselbe".

Wenn das einmal klar ist, dann kann man natürlich sagen, dass es un-

ter den vielen Techniken der Kampfkünste einige gibt, die effektiver sind

als andere. Man kann die Situation vergleichen mit der des Gebrauchs

eines Automobils. Alle Autos können Sie von Punkt A nach Punkt B

bringen. Jedes Auto hat, vom Standpunkt dessen, was es leisten kann,

gewisse Stärken und gewisse Schwächen. Die Geschwindigkeit in unter-

schiedlichem Gelände, der Wenderadius, die Radaufhängung, die Bedie-

nungsfreundlichkeit, Bremsstrecke und Beschleunigung, die Zuverlässigkeit

unter verschiedenen klimatischen Bedingungen, der Kraftstoffverbrauch

oder die Reparaturkosten - das sind alles Aspekte die zum Gesamtpaket

gehören. Analog dazu kann man mit allen Kampfkünsten kämpfen (also

im Kampf von A nach B gelangen). Doch wie bei den Autos ist auch hier

die Frage, was unter welchen Bedingungen am besten funktioniert. Man

muss eine „Probefahrt" machen, um das herauszufinden. Die besonderen

71

Leistungsmerkmale einer Kampfkunst mögen in der Geschicklichkeit lie-

gen, mit der Tritte, Hiebe, Handschläge, Arm- oder Beinblockaden, Halte-

oder Würgegriffe, Schläge auf Nervenpunkte, Würfe, sanfte oder harte

Techniken ausgeführt werden - das alles gehört zum Gesamtpaket. Und

wie bei den Autos hat auch jede Kampfform ihre Vorteile. Einige sind am

besten, wenn man im Stehen kämpft, andere wenn man auf dem Rücken

liegt, wenn man sich hinkauert, wenn man in die Luft springt, wenn man

auf festem oder schlüpfrigem Grund kämpft, wenn man mit oder ohne

Waffen, gegen einen kleineren oder einen größeren Gegner, gegen einen

oder gegen mehrere Gegner kämpft.

Will man die Frage beantworten, ob also eine Kampfkunst einer anderen

überlegen oder unterlegen ist, dann muss man viele verschiedene Dinge in

Betracht ziehen. Es gibt hier nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch

viele Grauabstufungen. Eine ausgewogene Antwort auf die Frage „Welche

Kampfkunst ist besser?" verlangt, dass man sich fragt: Besser in welcher

Hinsicht - wo, wie und unter welchen genauen Bedingungen? Es ist ganz

natürlich, dass Menschen, die eine bestimmte Kampfkunst über lange Zeit

ausgeübt haben, das Gefühl bekommen, ihr Stil sei der beste. (Glaubten

sie das nicht, was würde sie dann dazu bringen, endlose Stunden harter

Arbeit und mühsamer Übung zu investieren?) Letztlich beurteilt ein jeder

über lange Zeit geschulter Kampfkünstler die Kampfkünste anderer Stil-

richtungen in Hinsicht auf seine eigene Lebenserfahrung und seine Art

der Wahrnehmung auf dem Spielfeld der Kampfkünste. Schließlich und

endlich ist es so, und das sollten wir nicht vergessen, dass ein guter Fahrer

in einem mittelmäßigen Auto ein Rennen wahrscheinlich eher gewinnt als

ein schlechter Fahrer in einem guten Auto. Wie Liu Hung Chieh immer

wieder betonte, ist es das Individuum, das zählt.

Was sind „Anwendungen" in der Kampfkunst?

Kampfkünstler der japanischen und koreanischen Kampfkünste üben sti-

lisierte Bewegungen, die Kata beziehungsweise Hyung genannt werden.

Ausübende der chinesischen Kampfkünste üben „Formen". Was bringt

die orientalischen Kampfkünstler dazu, Hände und Füße in stilisierten

Bewegungsabläufen durch die Luft zu bewegen? Man übte diese Formen,

um den eigenen Geist sowohl im eigenen Körper als auch in dem den

Körper umgebenden Raum (wo sich ein hypothetischer Gegner und/oder

ein hypothetisches Objekt befinden) zu etablieren. Bewegt man seinen

72

Körper unter Verwendung des angesammelten Kampfwissens eines be-

stimmten Systems der Kampfkunst im Kampf gegen einen imaginären

Gegner, dann beschwört man gleichzeitig bestimmte Bewusstseinszustände

herauf, während man sich ganz deutlich das Bauchgefühl vorstellt, das

man in einer Kampfsituation empfindet. Man tut dies, damit einem das in

Fleisch und Blut übergeht, was man Kampfanwendungen nennt (im Karate

Bunkai und in den chinesischen Kampfkünsten Yung Fa oder das „Wie

des Gebrauchs"). In diesen Kampf-Anwendungen sind die angesammel-

ten Ideen der Kampftechnologie eines Systems enthalten, wie sie durch

praktische Kampferfahrung erprobt und nicht nur durch Theorien und in

der Vorstellung entwickelt wurden. Wenn diese Kampfanwendungen in

Kata oder Formübungen der Kampfkünste nicht ganz deutlich vorhanden

sind, werden solche Übungen eher zu einer Art von Tanz und sind keine

Kampfkunst mehr. Wenn ein heutiger Ausübender der Kampfkunst das

ganze Spektrum der subtilen Anwendungen einer jeden Technik erlernt,

dann werden diese Formen lebendig und die vielen Stunden der Übung

haben sich letztlich gelohnt.

Nach klassischem Verständnis war das Kraft- und Geschwindigkeits-

training immer auf Engste mit einem Verständnis der Kampfanwendungen

verknüpft. In sämtlichen Schulen der Kampfkunst war die direkte Ver-

mittlung der Kampfanwendungen manchmal ein Versprechen, das sich

erst für die fortgeschritteneren Schüler der höheren Grade erfüllte. Dieses

Versprechen wurde manchmal eingelöst, manchmal aber auch nicht. So

kommt es dazu, dass sogar fortgeschrittene Praktizierende sowohl der

äußeren als auch der inneren Kampfkünste oft kein wirkliches Verständnis

der Kampfanwendungen besitzen, die in die von ihnen geübten Formen

eingebettet sind. Das Traurige an dieser Situation ist, dass selbst erfah-

rene Praktizierende diese Anwendungen oft nicht zu sehen bekommen,

geschweige denn sie erlernen.

In vielen Schulen der Kampfkunst werden die Elemente der Kraft und

der Geschwindigkeit der jeweiligen Kunst weiter gepflegt, aber das Wissen

um die höher entwickelten Kampfanwendungen bleibt auf ein Minimum

beschränkt. Die Schüler der Kampfkünste sollten also darauf achten, ob

Lehrer, die nach der Bedeutung einer Form gefragt werden, ausweichend

oder klar und gerade heraus antworten. In Wahrheit ist es nämlich so,

dass wir nur dann gegen einen Gegner bestehen können, der uns in Größe,

Geschwindigkeit und/oder Kraft überlegen ist, wenn wir die Anwendungen

gut beherrschen. Damit irgendeine Kampfbewegung ihr Potential entfalten

73

kann, muss sie die notwendige Geschwindigkeit, Kraft und Kampfanwen-

dung besitzen. Bei Zwei-Personen-Übungen sollte man so lange unablässig

an den Kampfanwendungen arbeiten, bis man sie unter allen denkbaren

Bedingungen flüssig und gekonnt auszuführen vermag. Man könnte die

Formen (das System der Kampfkunst) mit der Computer-Hardware ver-

gleichen, von deren Software (die Kampfanwendungen) die Überlegenheit

des Nutzers letztlich abhängig ist.

Jede Bewegung einer Form sollte also begleitet sein von der klaren

Absicht, der Visualisierung und dem Gefühl einer Kampfsituation und

ganz speziellen oder auch allgemeinen Bedingungen. Wenn zum Beispiel

Ihr Körper, Ihre Hände und Ihre Füße sich in einem bestimmten Gelände

in einer ganz bestimmten Positur befinden und Ihr Gegner beabsichtigt,

A gegen Sie auszuführen, dann üben Sie, abhängig von den jeweiligen

Bedingungen, eine von vielen spezifischen und effektiven B-Reaktionen.

Diese Bedingungen können ganz einfach oder sehr komplex sein und sie

könnten eine Unmenge an Variablen enthalten, je nachdem, was ein be-

stimmtes System der Kampfkunst als wirksame Reaktion betrachten, wenn

man unter Druck gerät. Kampfanwendungen sollten folgende Faktoren

berücksichtigen:

1. Wie kämpft man mit einer Person oder mehreren Personen unter-

schiedlicher Größe und Statur.

2. Welche Arten von Geschwindigkeit und Kraft will man zur Anwen-

dung bringen?

3. Was sind die optimalen Stellungen für Ihre Hände, Füße und Hüfte,

wenn Sie einen Angriff abwehren, auf einen Angriff warten und die

Situation abschätzen oder wenn Sie angreifen?

4. Welche Fußarbeit ist nötig, um die Art von Kampftechnik, die Ihre

Methode befürwortet, effektiv in einem nicht abgesprochenen und

unvorhersehbaren Sparring ausführen zu können?

5. Wie legen Sie Hand an die Gliedmaßen eines Gegners, um seinen

Angriff abzublocken, die Person zu werfen oder die Gliedmaßen zu

verdrehen oder zu brechen?

6. Wie benutzt man seine Arme oder Beine strategisch, um einen Geg-

ner so zu treten, zu stoßen oder zu schlagen, dass man verwundbare

Stellen am Körper des Gegners trifft?

7. Was tut man, wenn sich der Gegner mit einer Waffe oder ohne eine

Waffe in kurzer, mittlerer oder weiter Entfernung befindet?

74

8. Was tut man, wenn man gerade durch die Luft fliegt, auf dem Boden

liegt, aufrecht steht, sich niederkauert, sich auf schlüpfrigem oder

bewegtem Untergrund, in einem Sturm der einem die Sicht raubt

oder unter anderen ungünstigen Wetterbedingungen befindet?

9. Wie verteidigt man sich zum Beispiel an einem dunklen Ort, auf

beengtem Raum, mit dem Rücken gegen eine Wand oder vor einem

Felsen oder an einem Abgrund stehend?

Die Genialität von Formbewegungen, die Kampfanwendungen enthalten

In allen Kampfkünsten, selbst im Tai Chi, werden Bewegungen einzeln und

in kombinierter Form geübt. Bei den Einzelübungen wird im Allgemeinen

eine einzelne Technik wiederholt ausgeführt, während man auf der Stelle

steht oder sich entweder in einer geraden Linie oder in bestimmten Win-

keln vorwärts bewegt. Die Formen andererseits beinhalten Kombinationen

von verschiedenen Einzelbewegungen, Techniken des Übergangs zwischen

einzelnen Bewegungen und die simulierte Bewegung von einer Situation zu

einer anderen. Mit den Formen trainiert man also die mentale Flexibilität,

die es uns erlaubt, flüssig von einer taktischen Situation zu einer anderen

überzugehen, ohne dass wir geistig erstarren oder in der Bewegung stecken

bleiben. Formarbeit in der sehr viele Kampfanwendungen enthalten sind,

ist ein grundlegendes und zeitsparendes Mittel zum Erlernen einer ausrei-

chenden Zahl an Optionen zum Umgang mit mehreren Angreifern.

Selbst gut trainierte Kämpfer erstarren oft trotz ihrer Kampferfahrung,

wenn sie in eine ihnen neue Kampfsituation geraten, weil sie nicht die

geistige Flexibilität besitzen, um den Übergang zu einer neuen Situation zu

bewerkstelligen. Formen zwingen uns dazu, über Reaktionen auf Situatio-

nen, die wir bei der gewöhnlichen geradlinigen und wiederholten drillarti-

gen Übung einzelner Techniken im Allgemeinen nicht in Betracht ziehen,

nachzudenken und Reaktionen darauf einzuüben. So geben die Formen

dem Körper und dem Geist Gelegenheit herauszufinden, wie bevorzugte

und gut geübte Techniken in unterschiedlichen Situationen angewendet

werden können. Vielleicht gebraucht man in einer realen Konfrontation

ja nicht genau dieselben Hand- und Fußtechniken wie in einer Form, doch

es kann durchaus sein, dass wir eine Variation oder mehrere Variationen

der Prinzipien anwenden, die durch die Formen vermittelt werden, was

75

natürlich an sich schon dazu führt, dass unsere Chancen, einen Kampf zu

überleben, sich erhöhen.

Formen erweitern also in allen Kampfkünsten das Repertoire an Tech-

niken ganz beträchtlich. So übt man zum Beispiel im Hsing-I genauso

Hiebe in der geradlinigen Vorwärtsbewegung wie man es etwa beim Karate

oder dem Shaolin tut. Bei einer solchen „Linie" geht es per definitionem

darum, etwas zu treffen, das sich vor uns befindet. Es ist schwierig, ver-

nichtende Kraft in einen Hieb zu legen, wenn man sich dabei rückwärts

bewegt. Hsing-I hat jedoch herausgefunden, wie man das tun kann, aber

nicht durch seine nach vorn gerichteten Übungslinien, sondern durch

seine Formen.

Viele heute existierende Kampfbewegungen, einschließlich der Kampf-

techniken, die in die Formen eingebettet sind, wurden als Reaktion auf

einen Reiz aus der Umgebung entwickelt. So kann eine Technik in einer

Form etwa erfunden worden sein, um die übelsten Methoden anderer

Kampfstile kontern zu können, etwa die Würfe und Würgegriffe im Judo.

Wird diese Technik dann in eine andere geographische Gegend übertragen,

in der das Judo unbekannt ist, kann die Anwendung dieser Technik in Ver-

gessenheit geraten, weil sie niemals gebraucht wird. Es kann aber auch sein,

dass dort, wo es keine Angreifer mit hohem Tritt gibt, eine Formtechnik,

die früher einmal zur Abwehr hoher Fußtritte entwickelt wurde, einfach

der Tradition halber bewahrt wird. Aber niemand weiß genau, warum es

diese Technik eigentlich gibt, und so mag es sein, dass völlig aus der Luft

gegriffene Geschichten über ihre Bedeutung im Kampf erfunden werden.

Früher waren die einzelnen Stile der Kampfkunst auf relativ kleine

geographische Regionen beschränkt. Erst in unserer modernen Zeit sind

praktisch alle bekannten Kampfkünste aufgrund der andauernden Aus-

landsreisetätigkeit vieler Menschen und der unglaublichen Explosion der

Kommunikationstechniken in der ganzen Welt verbreitet worden. Wenn

man also ein engagierter Kampfkünstler ist, dann empfiehlt es sich, auch

das zu erlernen, was in anderen Stilrichtungen praktiziert wird, denn es

kann gut sein, dass man es früher oder später mit diesen Techniken kon-

frontiert wird. In alter Zeit war es nicht möglich, diese unterschiedlichen

Kampfkünste kennen zu lernen, da die grundlegenden Techniken und

Strategien der meisten Kampfkünste streng gehütete Geheimnisse waren

und es dem Fremden, der sie vielleicht hinausschmuggeln wollte, an den

Kragen gehen konnte. Besuchte man eine rivalisierende Schule der Kampf-

kunst und wurde dort nicht als ein Freund eingeführt und akzeptiert, dann

76

war es möglich, dass man auf eine Weise herausgefordert wurde, die einen

blutigen Kampf nach sich zog.

Da die Ausübenden der Kampfkünste heutzutage oft großmütiger sind,

ist es möglich, in verschiedenen Bereichen der Kampfkünste vergleichende

Studien anzustellen, ohne gleich als ein Feind oder ein Spion behandelt

zu werden. Diese freiere Atmosphäre macht es vielen talentierten Schülern

möglich, ihre Frustrationen zu überwinden und die positiven Aspekte des-

sen zu sehen, was ihr eigener Lehrer zu bieten hat. Die Schüler haben nun

die Möglichkeit, ihre Schwächen und Stärken durch vergleichende Studien

einzuschätzen, was ihnen helfen kann, ihr volles Potential zu entwickeln.

Alles, was dazu nötig ist, ist, sich von der „wir gegen die anderen"-Men-

talität zu befreien und die beschränkten Vorstellungen vom „Status" in-

nerhalb der eigenen Organisation zu überwinden und sich stattdessen auf

die Leidenschaft für das Lernen und die Freude daran zu konzentrieren.

Gute Formen der Kampfkunst wurden von Profis erfunden

Die Gründer verschiedener Formen der Kampfkunst wurden nicht deshalb

als Könner berühmt, weil sie beeindruckende Kostüme trugen, gute Wer-

bung machten, laut brüllen konnten, wunderschöne Übungshallen besaßen

und tolle Geschichten über die Fähigkeiten ihrer Kampfkunst-Vorväter zu

erzählen wussten. Sie erlangten ihren Ruhm, weil sie gegen die bestge-

schulten Profis ihrer eigenen Generation kämpfen und gewinnen konnten

und nicht weil sie enthusiastische aber unerfahrene Amateure oder ihre

eigen Schüler zu schlagen vermochten. Diese Männer praktizierten nur das,

was ihrer Ansicht nach wirklich funktionierte. In alter Zeit nahmen die

Leute die Kampfkünste sehr ernst. Wer die Kunst nur schlecht beherrsch-

te, lief Gefahr, früh zu sterben. Es gab einmal eine Zeit in China wo ein

Reisender, dem es gelang, den Leiter eine Schule oder einer Gruppe von

Leibwächtern oder eines Sicherheitsdienstes im Kampf zu besiegen, das

absolute und kulturell akzeptierte Recht hatte, dessen ganze Schule oder

ganzes Geschäft zu übernehmen. Wie es auch im Profi-Boxsport ist, ge-

wann man Ansehen und Reichtum durch Siege, die authentischem Können

zu verdanken waren, und nicht durch bloßes Gerede.

Wenn jemand ein äußerst talentierter Kämpfer ist, muss das jedoch

noch nicht unbedingt bedeuten, dass er auch in der Lage ist, einen anderen

77

Menschen so weit zu schulen, dass dieser denselben Standard erreicht.

Um das tun zu können, ist es nötig, dass es klar definierte und systema-

tische Trainingsmethoden gibt. Wenn diese gegeben sind, dann weiß ein

junger Kampfkünstler, der ebenso motiviert ist wie sein Lehrer und der

bereit ist, hart zu trainieren, genau, welchen Prozess er durchlaufen muss,

um - mehr oder weniger - dieselben Fähigkeiten zu entwickeln wie dieser.

Wie konnte man also die Technologie der Kampfkunst übertragen? Wie

konnte man die „Betriebsgeheimnisse" in Hinsicht auf das, was bei beim

Schlagen, Treten, Werfen, Hebeln, Reißen, Würgen, Fallen und so weiter

am wichtigsten ist, weitergeben? Wie konnte man weitergeben, welche

Taktik zu benutzen, welche Strategie zu berücksichtigen ist, wie man von

einer Taktik oder Technik zu einer anderen übergeht und welche Kampf-

einstellung in unterschiedlichen Situationen angemessen ist? All diese

Geheimnisse der Kunst wurden durch die Formen vermittelt, die durch

alle möglichen Arten der Parterübungen miteinander verbunden und in

Gesamtabläufe integriert wurden.

Lebendige und tote Formen

Der Zweck der Formen bestand darin, all die Kampfanwendungen an

einem Ort zusammenzuführen. Je wirklicher und lebendiger die Formen

sind, desto realistischer sind die Kampfanwendungen, die sie enthalten,

und desto mehr Techniken verwenden sie in Partnerübungen und nicht

abgesprochenem Sparring. Die Meister lebendiger und funktionierender

Systeme der Kampfkunst haben oft genug wiederholt und auch bewiesen,

wie funktionell und auch vital ein solches System über etliche Generatio-

nen hinweg sein kann. Und diese Meister waren der Ansicht, dass intakte

Bewegungsformen mit ihren Kampfanwendungen ganz wesentlich dafür

sind, dass das Erbe einer Kampfkunst bewahrt werden kann. Ohne solche

Formen, so glaubten sie, kann ein System der Kampfkunst leicht zu einer

nur in geringem Maße funktionalen oder toten Tradition degenerieren.

Formen, die wahrhaft lebendig sind, kann man in ihrem Vermögen,

Informationen zu übermitteln, mit einem Kapitel eines Buches vergleichen

(so enthält zum Beispiel eine kleine Form zahlreiche Kampfprinzipien,

von denen jedes wiederum Variationen eines Themas erlaubt), halble-

bendige Formen mit Abschnitten eines Textes oder längeren Sätzen und

tote Formen mit einfachen Sätzen oder einzelnen Wörtern. Hochentwi-

ckelte Formen der Kampfkunst mit einer lebendigen Tradition sind wie

78

ganze Bibliotheken höchst nützlicher Informationen. Erfahrene Meister

der Kampfkunst können uns, wenn sie es denn wollen, durch den Ge-

brauch exakt derselben körperlichen Formbewegungen lehren, Kapitel

für Kapitel und Buch für Buch die Informationen der groben und subtilen

Kampfanwendungen, die in jedem kleinsten Bruchteil einer Bewegung

verschlüsselt sind, zu lesen. Sind alle Informationen komplett übermittelt

worden, dann liegt es in der Verantwortung des Schülers, entsprechend

zu agieren. In toten Traditionen aller Kampfkunst-Stile sind zwar die

körperlichen Bewegungen vorhanden, aber es fehlen hier die allermeisten

Kampfanwendungen. In toten Formen sind die eigentlich darin enthaltenen

Kampfanwendungen zu zufrieden stellenden Anweisungen verwässert

worden - im Karate etwa der Anweisung, schneller, kräftiger oder härter

zu sein, oder im Tai Chi der Anweisung, weicher, entspannter, niedriger

oder ruhiger zu sein. Solche Kommandos mögen zwar an und für sich

in Ordnung sein, wenn sie aber allein verwendet werden, also ohne das

Wissen um die komplette anwendbare Kampftechnik, die in der gelehrten

Form enthalten ist, dann wird dem Schüler unweigerlich die wesentliche

Bedeutung der Bewegung entgehen.

Wenn der Lehrer einem Schüler also nicht den Inhalt vieler „Bücher"

übermittelt hat, dann ist es wahrscheinlich, dass der Schüler eine tote

Form, praktiziert. Beginnt der Schüler dann wiederum zu lehren, dann

wird eine tote Tradition verewigt. Unglücklicherweise ist diese traurige

Situation nur allzu häufig anzutreffen. Es ist der Fluch der Szene der klas-

sischen Kampfkünste, dass viele früher einmal edle und äußerst effektive

Formen der Kampfkunst zu reinem Gefuchtel und bloßer Schauspielerei

reduziert werden - „voll Wortschwall, und bedeutet nichts", wie es bei

Shakespeare heißt.

Wer immer eine Kampfkunst erlernen will, die „funktioniert", der muss

entweder eine lebendige Tradition finden, in der er sich schulen kann,

oder er muss das Wissen, das ihm zugänglich ist, vermischen und zusam-

menfügen und seinen eigenen Kampfstil erfinden,3 was unterschiedliche

Resultate zeitigen kann, sehr gute bis ziemlich erbärmliche. Aber auch jede

lebendige Tradition kann mehr oder weniger vollständig sein, abhängig

davon, wie viele Bände von Kampfanwendungen verloren gegangen sind

3 So etwas geschieht des Öfteren. Die hybride Kampfform Jeet Kune Do, die von dem

berühmten Kampfkunst-Filmstar Bruce Lee erfunden wurde, ist ein bekanntes Beispiel

dafür.

79

oder inwieweit die noch vorhandenen zugänglich sind. Wenn dann jemand,

der sich in einer toten Tradition geschult hat, auf eine lebendige Tradition

trifft, hört man oft die erstaunte Frage: „Warum habe ich das nicht von

meinem Lehrer gelernt?"

Die Ausübenden toter Traditionen wissen im Allgemeinen nicht, wie

sie die Techniken, die in den Kata oder Formen ihrer Tradition enthalten

sind, im tatsächlichen Kampf effektiv anwenden können. Diese Kampf-

künste besitzen Hunderte von Formbewegungen, doch wenn es zu einem

wirklichen Kampf kommt, dann nutzen die Ausübenden nur wenige davon,

während die restlichen Formen nur dazu dienen, die körperliche Koordina-

tion zu verbessern. Wo dies der Fall ist, weist das darauf hin, dass die in

den Formen enthaltene Information über die Kampfanwendung verloren

gegangen ist. Zu einem solchen Verlust kann es in einem ganzen Kampf-

kunst-System kommen oder in einer Linie dieses Systems oder auch nur

in einer bestimmten Schule.

In den lebendigen Traditionen der Kampfkunst hat jede echte Kreis-

gang-Technik des Ba Gua (sowohl die vorgeburtliche als auch die nach-

geburtliche - siehe Seite 326 -, wie sie von Tung Hai Chan, dem moder-

nen Begründer des Ba Gua überliefert wurde), jede noch so unscheinbare

Zeitlupenbewegung im Tai Chi, jede Standpositur oder jeder Stoß in der

Bewegung im Hsing-I klar definierte und vielfältige praktische Anwen-

dungen im Kampf. Bei lebendigen Traditionen der inneren Kampfkunst ist

die Art und Weise, wie sich die Ausübenden in einer Form bewegen, mehr

oder weniger die Weise, in der die Bewegung in einem Kampf angewendet

wird. Wenn es Ihren Formbewegungen an dieser Realität mangelt, dann

erlernen Sie keine gänzlich lebendige Tradition. Was die heute praktizier-

ten inneren Kampfkünste angeht, sind tote oder unvollständige Kampf-

kunst-Traditionen am häufigsten im Tai Chi und am wenigsten häufig im

Hsing-I anzutreffen, wobei Ba Gua etwa in der Mitte anzusiedeln wäre.

In den traditionellen Schulen der inneren Kampfkunst werden die in den

Formbewegungen enthaltenen Kampfanwendungen zuerst einmal gelehrt,

um es einem Individuum zu ermöglichen, sich ein gewisses Inventar an

spezifischen Techniken anzueignen, mit dem es auf spezifische Formen

der Verteidigung oder des Angriffs reagieren kann. Dann wird sowohl

innerhalb der Formen als auch mit separaten Chi-Gung-Methoden ein

grundlegendes Krafttraining gelehrt. Als nächstes werden die Anwendun-

gen und das Krafttraining innerhalb der Formen miteinander verschmolzen.

Schließlich werden die Formen hauptsächlich deshalb geübt, um Körper

80

und Geist des individuellen Ausübenden beweglicher zu machen sowie

reaktionsfähiger, was Veränderungen der Kampfsituation angeht, aber auch

um den „stillen" Geist zu erzeugen und um zu fortgeschritteneren Chi-

Methoden zu gelangen, die die Kampfanwendungen überlagern sollen.

Tote Formen und die Konfrontation mit der Wirklichkeit Zusätzlich

zum Form- und Chi-Training (der Quelle innerer Kraft) sind viele Stunden

realistischer Übung mit einem Partner oder mehreren Partnern nötig, um

die körperlichen Kampftechniken des Ba Gua, Tai Chi und Hsing-I zu meis-

tern. Viele Menschen möchten gern glauben, dass die Übung von Formen

der äußeren Kampfkunst oder der inneren Kampfkunst allein sie schon

zu übernatürlich begabten Kämpfern machen kann. Um die Formulierung

eines Songs von George Gershwin zu gebrauchen: „It ain't necessarily so"

(„Das muss nicht unbedingt so sein"). Mit Formen sollten Sie Ihre Absicht

und Ihre Kraft trainieren, und wenn es Ihren Formen (beziehungsweise

Ihrem Sparring mit einem Partner) an diesen beiden Elementen mangelt,

dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie in einer echten Konfrontation

nicht gut abschneiden werden.4

In einem Kampf sind Leistung und Kompetenz verlangt. Ihr körperliches

Überleben oder Ihre Gesundheit könnte davon abhängen. Zum Kämpfen

braucht es Energie, Intuition und Know-how. Wenn ein Meister der inneren

oder äußeren Kampfkunst, ein Lehrer oder ein Freund nicht realistisch zu

demonstrieren vermag, wie eine Technik im Kampf angewendet wird, dann

ist dieser Mensch nicht die Person, von der man diese Technik wirklich

lernen könnte. Lernen Sie nur bei jemandem, der zu demonstrieren vermag,

dass er die Form, die er lehren will, auch anzuwenden weiß.

Manche der Menschen, die eine innere Kampfkunst hauptsächlich aus

gesundheitlichen Gründen, für Langlebigkeit oder die Meditation trai-

nieren, möchten auch für den Kampf trainieren. Wenn eines Ihrer Ziele

4 Diese Position wurde in den 1970er Jahren sehr klar von Bruce Lee formuliert, als er

behauptete, die klassischen Kampfkünste seien tot. Dieses Gefühl war sowohl bei den

älteren als bei den jüngeren Kampfkunst-Meistern der lebendigeren Schulen damals

ziemlich verbreitet. Während ich in China war, hörte ich solche Aussagen von vielen

Meistern, die Dinge sagten wie: „Das ist eine sehr interessante Formbewegung, die du

da machst - aber weißt du auch, wie du sie anwenden kannst?" Diese Betonung der

Funktionalität in der Form findet einen besonders klaren Ausdruck in einem Satz, den

man oft von Ausübenden des Hsing-I und ähnlicher Kampfkünste hört, wenn sie ihre

Formbewegungen beschreiben: „Bu hao kan, hen hao yung" („Die Bewegungen sehen

nicht schön aus, aber sie funktionieren bestens").

81

darin besteht, sich gegenüber körperlicher Aggression sicher zu fühlen,

indem Sie Selbstverteidigung erlernen, oder wenn Sie ein kompetenter

Kämpfer einer inneren Kampfkunst werden möchten, dann lernen Sie Ba

Gua, Tai Chi und Hsing-I nur von jemandem, der diese Künste auch im

Kampf anwenden kann und der diese Anwendungen zu lehren vermag.

(Manche Lehrer kennen nur den Kampf mit der leeren Hand, manche nur

den Kampf mit einer Waffe, manche kennen sich mehr oder weniger mit

beidem aus.) Wenn Sie sich verbessern wollen, dann trainieren Sie nur mit

Menschen, die sowohl den Enthusiasmus als auch die Bereitschaft zum

Kämpfen haben. Verwechseln Sie echtes Kampftraining nicht mit Übungen

zur Sensibilisierung oder zu Kampftheater. Es braucht ein gewisses Maß

an Mut, Biss (oft „Herz" genannt) und Bereitschaft, keine Angst davor zu

haben, selbst getroffen oder geworfen zu werden oder einen anderen Men-

schen zu treffen oder zu werfen. Außerdem sind eine gewisse emotionale

Reife, Mitgefühl und spirituelles Bewusstsein vonnöten, damit das eigene

Ego sich nicht aufbläht, wenn man ein neues Gefühl der „Macht" erfährt,

das realistisch oder nicht realistisch sein mag.

Es wird Ihnen nur dann möglich sein, die überlegenen Techniken der

Kampfanwendung der inneren Kampfkünste auf solide Weise zu verwen-

den, wenn Sie auch dann einen ruhigen und stabilen Geist zu bewahren

vermögen, wenn Sie sich fürchten, wenn Sie getroffen werden oder frus-

triert sind.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Der Wert von vergleichenden Studien in den Kampfkünsten

Es gibt viele Bereiche, in denen sich die äußeren, äuße-

ren/inneren und inneren Kampfkünste überschneiden.

Meine eigene Erfahrung hat gezeigt, dass die äußeren

Kampfkünste zwar in Hinsicht auf Kampfanwendung

und einige von ihnen auch in Hinsicht auf die Entwick-

lung von Chi einiges zu bieten haben, dass aber nur die inneren Kampf-

künste das ganze Spektrum meiner Erwartungen zu befriedigen vermoch-

ten. Die ausladenden Techniken der äußeren/inneren Kampfkunst gehen

gewöhnlich von groben Bewegungen aus, von denen eine jede eine einzi-

ge Kampfidee verkörpert. In den inneren Kampfkünsten gibt es gewöhn-

lich dieselben Ideen und Kampftechniken mit einer größeren Variabilität,

82

Subtilität und mit kleineren Bewegungen. Während eine Kampfidee in

den mehr äußerlichen Künsten gewöhnlich als eine große Bewegung Aus-

druck findet, wird dieselbe Idee in einer inneren Kampfkunst durch eine

viel kleinere und subtilere Bewegung ausgedrückt, so zum Beispiel viel-

leicht nur durch winzige körperliche Kreisbewegungen oder sogar nur auf

der unsichtbaren Ebene der reinen Absicht, auf welche Weise sich die En-

ergie manifestieren soll. Die inneren Kampfkünste können dieses Ziel ver-

wirklichen, weil sie in der Lage sind, eine größere Flexibilität, Sensibilität,

Geschwindigkeit und größeres Bewusstsein in jene kritischen Momente im

Kampf einzubringen, in denen das Vermögen, innerhalb von Millisekunden

innere Kraft zu mobilisieren, über Sieg oder Niederlage entscheiden kann.

Den inneren Kampfkünsten ist es gelungen, alle Kampfelemente der äu-

ßeren/inneren Kampfkünste, die ich gelernt habe, in ihre Formen und

Kampfanwendungen zu absorbieren. Außerdem können die inneren Sys-

teme subtile Bereiche erreichen, die das Shaolin nicht erreicht, vor allem

weil die inneren Kampfkünste Methoden besitzen, um mit den inneren

Kraftlücken zwischen dem Ende einer Technik und dem Beginn einer an-

deren Technik umzugehen, Kraftlücken, die in den meisten Systemen der

äußeren Kampfkunst nicht überbrückt werden.

Wie viele meiner Lehrer der inneren Kampfkünste betonten, können die

äußeren Kampfkünste zwar die Eins-Zwei-Drei-Abfolge äußerer Bewe-

gungen im Kampf lehren, doch es sind die inneren Kampfkünste, welche

die Entwicklung der inneren Kraft lehren, die es den Samen der äußeren

Kampfkünste ermöglicht, zu einem starken Baum heranzuwachsen. Nach

über einem Jahrzehnt der vergleichenden Studien habe ich mich ganz

und gar den inneren Kampfkünsten zugewandt. Ich wollte Effektivität im

Kampf ohne Aggression, und wie ich fand, können die inneren Kampf-

künste beides vermitteln und mich zudem noch gesund machen und au-

ßerdem als ein Vehikel der Meditation dienen.

Die Abstimmung der äußeren Kampfkünste

Ein Hauptaugenmerk aller Kampfkünste ist die jeweilige Wahrnehmung

der Verbindung von Körper und Geist. Betrachtet der Ausübende den

Körper als ein abgetrenntes äußeres Objekt, das trainiert werden muss,

damit es bestimmte erwünschte Kampffertigkeiten hervorbringt? Oder

lässt der Ausübende den Geist in den Körper ein (d. h. fühlt er den Geist

83

im Körper) und schafft so eine Verschmelzung von Körper und Geist,

um die Fertigkeit für den Kampf zu erzeugen? Wenn Kampfkünstler ihre

Treffer landen, stellen sie sich dann vor, dass sich ihr Körper wie bei

Kämpfern in einem Nintendo-Spiel bewegt (äußerer Ansatz), oder spüren

sie tatsächlich alles, was geschieht, in ihrem Körper und letztlich in ihrem

Geist (innerer Ansatz)?

Die Ausübenden der äußeren Kampfkünste sind auf dieselbe Emp-

findung ihres Körpers ausgerichtet wie die Ausübenden eines modernen

Sports. Hier liegt die Betonung auf der Entwicklung von Knochen, Mus-

keln, Sehnen, Bändern und der effektiven Verwendung von Sauerstoff.

Äußerlich orientierte Kampfkünstler gehen, wie es auch bei vielen mo-

dernen Leistungssportlern und Tänzern der Fall ist, beim Training oft in

die Falle rein mechanischer Wiederholung. Es mag ihnen ausschließlich

darum gehen, dass der Körper schneller agieren kann sowie kräftiger und

ausdauernder wird. Viele, die auf diese Weise vorgehen, sind sich dessen

nicht bewusst, dass sie damit ihr körperliches und auch ihr emotionales

Wohlergehen beinträchtigen können. Außerdem können Kämpfer ebenso

wie Athleten auf dem äußeren Pfad süchtig werden nach dem Hochgefühl

einer Adrenalinausschüttung, die durch den Wettkampf erzeugt wird oder

dadurch, dass man jemanden besiegt.

Je stärker Ausübende der äußeren Systeme sich auf berührungsorien-

tierte Praktiken einlassen, desto mehr werden sie sich im Allgemeinen der

Gefühle innerhalb ihres eigenen Körpers bewusst. Partnerübungen, bei

denen beide Partner einander berühren (zum Beispiel beim Ringen, bei den

„klebenden Händen", beim Push Hands oder bei der Übung von Hebeln),

sind geeignet, bei den Ausübenden die Fähigkeit zu entwickeln, den Körper

des anderen zu spüren. Sodann wird es für den einzelnen ganz natürlich,

auch die Gefühle in seiner eigenen Körperlichkeit erkunden zu wollen.

Rein äußerlich orientierte Hieb-und-Tritt-Kampfkünstler haben oft keine

Beziehung zu einer inneren Sensibilität. In der Tat ist es so, dass dieser

Mangel an innerem Körper/Geist-Gewahrsein oft den Zeitraum, innerhalb

dessen sie Wettkämpfe durchzuführen vermögen, verkürzt, wie es auch

bei Athleten der Fall ist. Wenn man den Körper ohne innere Sensibilität

über seine Grenzen hinaus antreibt, kann das zu verheerenden kurz- und

langfristigen gesundheitlichen Problemen führen. Wenn man lernt, seine

Gliedmaßen zu „fühlen" und eine vernünftige Mäßigung übt, so kann

das sehr positive und lebenslang anhaltende Wirkungen zeitigen und die

Wettkampfkarriere von Athleten, die oft durch die Ausübung einen Spor-

84

tes aufgrund von Sportverletzungen (wie bei Turnern, Baseball-Spielern,

Fußballern usw.) oder durch exzessives Training stark verkürzt wird.

Kraft und Stärke

Die Kraft und die Stärke, die für einen Hieb, Tritt oder Wurf nötig sind,

wurden in alter Zeit durch verschiedene Mittel erworben. Die meisten dieser

Mittel werden auch heute noch angewandt. Dazu gehören:

1. Gewichtheben mit simplen Hilfsmitteln wie Steine, schwere Holz-

blöcke oder mit Wasser gefüllte Gefäße. In der Geschichte Chinas

waren Ausübende der äußeren Kampfkünste berühmt dafür, dass

sie Objekte heben oder bewegen konnten, die mehrere hundert Kilo

wogen. Im heutigen Training wurden diese Methoden einfach durch

die Arbeit mit modernen Trainingsgeräten abgelöst.

2. Das Anheben von schweren Gewichten, wie etwa Felsbrocken,

während man Kampfkunst-Formen der leeren Hand ausführt; auch

das Üben von Kampfkunst-Formen, die besonders schwere Waffen

benutzen. Ein gutes Beispiel für Letzteres findet sich in den äuße-

ren Kampfkunstschulen Südchinas, wo die Schüler üben, sowohl

im Stand als auch in Schrittfolgen eine fünfzehn bis zwanzig Kilo

schwere metallene Waffe mit geschwungener Klinge, die Guan Dao

genannt wird, zu schwingen. Diese Waffe wurde eigentlich nur von

Kämpfern zu Pferde benutzt. Für den Kampf am Boden ist diese

Waffe total unpraktisch, aber sie ist ein ausgezeichnetes Mittel, um

beim Training auf dem Boden körperliche Kraft zu entwickeln.

3. Schwere Objekte in die Luft werfen und sie wieder auffangen (Säcke

voller Bohnen oder Reis, Zementblöcke oder Metallstücke); die Rinde

mit bloßen Händen von Bäumen reißen; stundenlang hintereinander

Seile oder Holzstücke verdrehen. Solche Trainingsmethoden werden

benutzt, um die Kraft des eigenen Griffs beim Festhalten zu entwickeln.

4. Die Benutzung von Riemenscheiben, um schwere Sandsäcke pro

Trainingseinheit Hunderte oder gar Tausende Male anzuheben, um

damit Wurftechniken zu simulieren.

5. Das Treffen von Objekten zur Entwicklung der Stärke von Schlägen,

Stößen oder Tritten. Als Ziel dienen schwere Säcke, Metall, Steine,

gepresster Lehm, Bündel von landwirtschaftlichen Erzeugnissen,

Baumstämme, Holzpuppen, Bäume oder Wasser. All das wird ge-

schlagen, gestoßen oder getreten.

85

6. Die Finger Hunderte oder gar Tausende Male am Tag in Sand, Boh-

nen, Kieselsteine, Eisenfüllungen oder Erdklumpen hineinstoßen, um

die Schlagkraft der Finger zu vergrößern. (Auch wenn im Verlauf

solchen Trainings zum Schutz chinesische Medikamente äußerlich

angewendet werden, führt so etwas bei den Ausübenden im Alter

nicht selten zu gesundheitlichen Problemen wie Arthritis.)

7. Mit den Armen und Beinen wiederholt gehen alle möglichen harte

Objekte schlagen, um die Knochen zu härten. Bei Partnerübungen

schlägt man sich immer wieder gegenseitig auf Arme oder Beine um

zu sehen, wer stärker ist oder wer sich zuerst einschüchtern lässt. Zum

gleichen Zweck werden auch Schläge gegen Holzpuppen ausgeführt.

Solche Übungen machen allerdings nicht nur die Knochen hart, son-

dern führen später auch zu gesundheitlichen Problemen, etwa Schä-

digungen des Körpers, die auf die kumulierte Wirkung von Einschlä-

gen am Körper oder auf Akupunkturmeridiane zurückzuführen sind.

8. Das Üben von Liegestützen und anderen gymnastischen Übungen,

dynamische Spannungsatmung und Übungen mit Muskelanspan-

nung zur Erhöhung der allgemeinen Fitness des Körpers.

Alle diese Methoden zum Aufbau der Kraft und Stärke haben einen ge-

meinsamen Nenner: Sie beruhen auf einer abwechselnden Entspannung

und Anspannung der Muskeln des Körpers. Sie alle streben körperlich

offenkundige Resultate an, statt sich auf Übungen zu konzentrieren, die

das Chi (subtile Körperenergie) aufbauen. Das Üben von Chi Gung (Ener-

giearbeit) wird von den Ausübenden der äußeren Kampfkünste manchmal

völlig getrennt von ihrem Krafttraining ausgeführt, und diese Übungen

werden so gut wie nie in das Haupttrainigsprogramm integriert. (Das gilt

besonders für Chi-Gung-Übungen, die ausgeführt werden, um Schläge

besser einstecken zu können.)

Geschwindigkeit

Die Fähigkeit der Geschwindigkeit wurde und wird auch heute noch nor-

malerweise entwickelt durch:

1. Die Wiederholung von Bewegungen, die mit zunehmender Ge-

schwindigkeit ausgeführt werden, wobei entweder ein Lehrer mit

seinen Kommandos oder ein mechanisches Gerät (heute eine elek-

86

tronische Zeituhr) den Takt vorgibt. Diese Bewegungen können wie-

derholt als Einzelbewegungen durchgeführt werden, als festgelegte

Bewegungsfolgen oder als in Formen inkorporierte Bewegungen.

2. Training mit Gewichten an Armen, Beinen und um die Hüfte, die die

Körperbewegung verlangsamen, so dass der Körper sich schneller

bewegen kann, wenn die hinderlichen Gewichte entfernt werden.

3. Sparringübungen, die man nur übersteht, wenn die Reaktionszeit

und die Zeit für einen Angriff fortlaufend verkürzt werden.

Ausdauer

Die Ausdauer wurde und wird in vielen Fällen auch heute noch durch

folgende Mittel erhöht:

1. Zahllose Wiederholungen verschiedener Übungen und Formen der

jeweiligen Kampfkunst. Da äußere Übungen im Allgemeinen ziem-

lich aerob sind, ist die Wiederholung von Bewegungen oft alles, was

geübt wird. Einzeln ausgeführte Formübungen werden oft über die

Grenzen menschlichen Durchstehvermögens hinaus ausgeführt. Das

Motto solcher Übungen lautet dann oft „Wer stark sein will, muss

leiden" oder „Gib immer 150 Prozent".

2. Über lange Zeiträume hinweg in eingefrorener Haltung in schwie-

rigen niedrigen Standposituren oder mit einem angehobenen Bein

in Hüft-, Kehlen- oder Kopfhöhe stehen bleiben.

3. Für lange Zeit auf und ab Springen, wobei verschiedene Arten von

Kampfkunst-Bewegungen ausgeführt werden.

4. Hügel oder Treppen (manchmal mit Tausenden von Stufen) zu einem

Trainingsort hinauflaufen. (Dies war ein übliches Ausdauertraining

in vielen in den Bergen gelegenen Klöstern.)

5. Stundenlanges Ringen oder Sparring ohne jede Unterbrechung, bis

ein Ausübender körperlich nicht mehr in der Lage ist weiterzuma-

chen. Wo diese Methode regelmäßig angewendet wurde, nahmen

die Ausübenden gewöhnlich Kräutermedizinen ein, um die inne-

ren Organe vor langfristigen Schäden zu schützen. Im modernen

Zirkeltraining geht der Ausübende in regelmäßigen Mustern von

einer Form der Übung zu einer anderen über, um ein Maximum

an Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer zu entwickeln. In China

hatten die äußeren Kampfkünste ihre eigene Version dieser Trai-

87

ningsmethode. Dabei ging man zum Beispiel von der Übung einer

Form in langsamer Geschwindigkeit zu schnellen Kniebeugen über,

dann vielleicht zu Sprüngen oder Tritten, weiter zum Training mit

schweren Gewichten und dann zum Einhalten einer Positur (zum

Beispiel mit einem Bein in der Luft) für lange Zeit und schließlich

zur extrem schnellen Ausführung einer Reihe von Formen.

Reflexe

Die Reflexe werden zum großen Teil von der angeborenen Begabung des

einzelnen Übenden bestimmt. In Hinsicht auf die Reflexe setzt diese gene-

tische Ausstattung dem Ausübenden normalerweise nicht zu überwindende

Grenzen. Auch wenn ein Mensch über viele Jahre hinweg Tag und Nacht

trainiert, kann er, wenn es ihm an der angeborenen Reaktionsgeschwin-

digkeit des zentralen Nervensystems mangelt, schließlich doch leicht von

einem Anfanger mit nur wenig Übung geschlagen werden, wenn dieser

einfach schneller ist. Gewöhnlich verlangsamen sich die Reflexe, wenn ein

bestimmtes Alter überschritten ist, und die meisten älteren Ausübenden der

äußeren Kampfkünste fallen diesem natürlichen Prozess anheim, wenn sie

keine inneren Praktiken ausüben. Die Verlangsamung der Reflexe ist ein

Hauptgrund dafür, dass ältere Menschen die äußeren Kampfkünste nicht

mehr erfolgreich erlernen können, natürlich neben der Tatsache, dass ein

älterer Körper Schläge nicht mehr so leicht ohne eine Beeinträchtigung der

Funktionstüchtigkeit wegstecken kann. In China wird die Bedeutung dieses

Faktors des Alters für das erfolgreiche Erlernen von Kampffertigkeiten im

Bereich der inneren Kampfkünste überwunden. Die äußeren Kampfkünste

wenden jedoch eine Reihe von Techniken an, die helfen sollen, neue Reflexe

zu erzeugen. Dazu gehören:

1. Kadenzen, die spezifische Bewegungen einzeln oder in Kombi-

nation begleiten, wobei das Timing und die Geschwindigkeit der

Bewegungen in regelmäßigen Abschnitten verändert werden. Die

Geschwindigkeit und das Timing der Schläge können dabei, wie

beim Trommeln, variiert werden, um schnelle Reflexe bei den

Übenden hervorzurufen, wenn die Bewegungen mit den Schlägen

synchronisiert werden. Diese Übung ist geeignet, die Bewegungen

von Zögern zu befreien, was ein Schlüsselelement von schnellen

Reflexen ist.

88

2. Spezifische schnell/langsam getimte Sequenzen, die in die Formen

der äußeren Kampfkunst selbst eingebettet sind. Wenn der Schüler

fortschreitet, werden diese Sequenzen in den Formen, die mehr

Koordination verlangen, immer subtiler.

3. Anwendungsspezifische Sparringübungen. Diese werden, um einen

speziellen erwünschten Reflex zu entwickeln, so oft wiederholt,

bis sie schließlich völlig automatisch und unbewusst ausgeführt

werden.

4. Die Verwendung spontaner Kräfte in der Umwelt zur Schärfung

der Reflexe in den unterschiedlichsten Situationen. Einige Beispiele

hierfür sind: Ein verschreckt hin und her laufendes Huhn einfangen

(dies entwickelt Fußreflexe sowie die Hand-Auge-Koordination);

Versuchen, ein in turbulenter Luftströmung durch die Luft wirbeln-

des Blatt mehrfach zu treffen; einen durchs Wasser schießenden

Fisch mit bloßen Händen fangen; ein bestimmtes Insekt oder einen

bestimmten Vogel aus einem auseinanderstiebenden Schwärm ein-

zufangen versuchen; eine fliegende Mücke mit einem Paar Essstäb-

chen aus der Luft fangen.

Was die Entwicklung von Reflexen in den äußeren Kampfkünsten angeht,

ist es wichtig zu verstehen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit dabei im-

mer außerhalb des Ausübenden liegt. Die wirksamen Methoden basieren

gewöhnlich auf Muskelspannung. Der Körper wird darauf getrimmt, wie

ein Roboter auf Kommando zu reagieren. Drücke einen Knopf, und der

Körper blockt, tritt, schlägt, wirft oder wendet einen Hebel an. Wenn der

Körper dabei schneller wird, gilt das als gut, wenn nicht, dann braucht

er noch mehr Übung. Dabei ist im Ausübenden gewöhnlich nur wenig

Gewahrsein dessen vorhanden, was innerlich auf der Ebene des zentralen

Nervensystems, der Emotionen oder des Geistes geschieht, während die

Technik angewendet wird. Das kann dazu führen, dass in den Übungen

der äußeren Kampfkünste wenig Raum dafür bleibt, in Bereiche des emo-

tionalen oder spirituellen Wohlergehens fortzuschreiten, da dieses auf

innerem Gewahrsein beruhen.

89

Die äußeren Kampfkünste innerhalb und außerhalb von China

Zu den bekanntesten der nichtchinesischen äußeren Kampfkünste gehören

Boxen, Ringen, Savate, Fechten, Judo, Jiu Jitsu, Karate (praktisch alle'Stile),

Tae Kwon Do (praktisch alle Stile), Thai-Boxen, Bando, Penchat und Silat

und Kuntao. Innerhalb Chinas lassen sich die bekannteren äußeren Kampf-

künste (die im Westen unter dem Oberbegriff „Kung Fu" bekannt sind) mehr

oder weniger unterteilen in jene, die aus dem Norden, und jene, die aus

dem Süden dieses riesigen Landes stammen. Selbst die Kampfkünste aus

West- und Zentralchina tragen den Geschmack entweder von nördlichen

oder von südlichen Stilen. Diese Nord-Süd-Unterteilung bezieht sich auf

Kampfkünste, die aus dem Shaolin-Kloster stammen, das einer der legen-

dären Geburtsorte der chinesischen Kampfkunst ist. Im Shaolin-Kloster

arbeiteten Mönche und politische Flüchtlinge, die aufgrund uralter Rechte

an diesem heiligen Ort vor Verfolgung geschützt waren, zusammen. Sie

übten gemeinsam verschiedene Techniken der Kampfkunst und befruch-

teten sich so gegenseitig. Das Wort Shaolin ist in China ein Synonym für

die äußeren Kampfkünste.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Die Brücke vom Äußeren zum Inneren

Als Träger des Schwarzen Gürtels ging ich, nachdem ich

neun Jahre lang täglich trainiert hatte, zum weiteren

Studium nach Okinawa, dem Geburtsort des modernen

Karate und Tae Kwon Do. Weil ich den Mindestanforde-

rungen in Hinsicht auf den Rang entsprach und da ich

glücklicherweise persönliche Beziehung hatte, wurde ich im Rahmen des

Shorin-Ryu-Karate-Systems in ein spezielles Studienprogramm in Karate

für ausgewählte Schüler, auf japanisch Kenkyusei genannt, aufgenom-

men. Hier werden künftige Lehrer in die innersten Geheimnisse des Kara-

te eingeführt. Das Training mit Waffen, Nachtkämpfe und spezielle Atem-

und Kampftechniken, die den meisten Trägern des Schwarzen Gürtels

nicht beigebracht werden, waren wesentliche Bestandteile dieses Kurses.

Nach einigen Monaten wurde mir klar, dass ich viele der „geheimsten"

Techniken bereits während der ersten beiden Jahre meiner Grundausbil-

dung in den inneren Kampfkünsten Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua gelernt

90

hatte. Viele Ausübende des Karate mussten zwischen fünf und zwanzig

Jahre warten, bevor man ihnen im Shorin-Ryu-Karate dieselben Dinge

beibrachte. Diese Situation im Kenkyusei war zu jener Zeit ähnlich auch

in anderen Stilen des Karate in Okinawa und Japan anzutreffen. Mein

Lehrer in Okinawa war der oberste Schwarzgürtelträger nach dem bereits

älteren Meister dieses Stils. Ich fragte ihn, wie es möglich sei, dass ich

Dinge, die er selbst noch nicht gelernt hatte, bereits von chinesischen

Meistern in Japan und Taiwan erlernt hatte.

Mein Lehrer war nicht nur ein hervorragender Karate-Kämpfer, sondern

auch ein Jazz-Musiker. Er war sehr viel aufgeschlossener als die gewöhn-

lichen Karate-Meister aus Japan oder Okinawa. Er antwortete mir sehr

viel offener, als das jemand in seiner Position einem Ausländer gegenü-

ber normalerweise getan hätte. Er gab mir Recht. Er habe Sparrings mit

Kampfkunst-Experten von Taiwan gehabt, und sie hätten ihn nicht nur

verwirrt, sondern auch geschlagen. Er bestätigte auch, dass die chinesi-

schen Kampfkünste wissen, wie man traditionelle Prinzipien der östlichen

Medizin auf eine Weise, die im Karate weitgehend unbekannt ist, wirksam

mit dem Kampfkunst-Training verbindet. Die chinesischen Kampfkünste,

so gestand er ebenfalls ein, hätten ein besseres medizinisches Wissen um

den Körper, als es im Karate vorhanden sein. Er fügte außerdem hinzu, die

Kampfkunst in Taiwan stünde auf einer höheren Ebene, auch wenn man

in Okinawa machtvolle und nützliche Techniken besäße, die äußerst gut

funktionierten - was zweifellos stimmte.

Daraufhin fragte ich ihn, warum er nicht nach Taiwan gehe, das doch

nahe bei Okinawa liege. Es war offensichtlich, dass er Karate und die

Kampfkünste im Allgemeinen liebte, und sein Jazz-Hintergrund brachte

es mit sich, dass er offen war für Experimente, die seine Fähigkeiten

hätten ausbauen können. Seine Antwort war typisch für den in Asien

überall anzutreffenden Kampf zwischen orthodoxem Konservativismus

und Bestrebungen, zu neuen Ufern des Wissens aufzubrechen. Er sagte,

er wisse, dass die Kampfkunst in Taiwan besser sei als das, was er sel-

ber ausübe. (Wenn man bedenkt, dass dieser Mann etwa so gut war, wie

man im Karate überhaupt werden kann, ist das eine ziemlich drastische

Aussage.) Er betonte dann, dass er nun einmal aus Okinawa stamme und

dass er deshalb niemals auf die Idee kommen würde, von einem Chinesen

zu lernen, weil das einen Gesichtsverlust für seinen aus Okinawa stam-

menden Karate-Stil sein würde. Dass war eine Sache des Nationalstolzes.

Wichtiger jedoch war, dass es dabei um die Wahrung des „Gesichts" ging.

Jahre später gab Liu Hung Chieh, mein Lehrer in Beijing, immer wieder

folgenden Kommentar zum Leben in einer vom Konfuzianismus gepräg-

ten Gesellschaft: „Man kann sich im Leben um eines von zwei Dingen be-

91

mühen: entweder darum, glücklich zu werden, oder darum, sein Gesicht

zu wahren. Ein jeder hat die Wahl."

Dieser Wettstreit um die Wahrung des Gesichts ist bereits seit Hunderten,

wenn nicht seit Tausenden von Jahre die Heimsuchung der asiatischen

Kampfkünste.5 Diese Einstellung bringt Menschen dazu, ein unglaubli-

ches Standesbewusstsein und übermäßigen Stolz in die Kampfkunst zu

investieren, die sie selber ausüben, anstatt einmal herauszufinden, wie

sie ihr bereits vorhandenes Wissen ausdehnen können, indem sie sich

um neue Möglichkeiten bemühen. Als Konsequenz davon beginnt das

vorhandene Wissen der Kampfkünste zu stagnieren und geht dann leicht

aufgrund von Geheimnistuerei und Stolz, die hier völlig fehl am Platze

sind, verloren. Zum Glück ändert sich diese Situation heute im Westen.

Dort machen sich die Ausübenden des Karate und anderer Kampfkünste

die Vorteile einer offenen Gesellschaft zu Nutze, in der sie die Freiheit be-

sitzen, das aus anderen Stilen, was sie für nützlich halten, zu adaptieren,

ohne sich gleich als Verräter fühlen zu müssen.

Meine Erfahrung in Okinawa führte dazu, dass ich in meinen Ansichten

über die Kampfkünste wesentlich aufgeschlossener wurde als es zu je-

ner Zeit die meisten meiner Kollegen waren. (Von den 1950er bis in die

1970er Jahre war der Gedanke, etwas aus einer Kampfkunst zu überneh-

men, die nicht die eigene war, etwas Unerhörtes.) Sie trug außerdem dazu

bei, dass ich mich mit größerer Entschlossenheit in Richtung der inneren

Kampfkünste orientierte, die ich heute ganz klar favorisiere. Wenn man

möchte, dass sich eine Investition langfristig auszahlt, so hat meine Er-

fahrung gezeigt, dann ist es weise, für andere Investitionen, die mehr

Gewinn bringen, offen zu sein, auch wenn wir unsere Gefühle, etwas zu

besitzen und erreicht zu haben, dabei zeitweilig beiseite lassen müssen.

Ich kehrte im Frühjahr 1970 von Okinawa nach Tokio zurück und machte

mir Gedanken darüber, was wohl der nächste Schritt auf meiner Reise

durch die Kampfkünste sein sollte, wobei ich mir die Worte meines Leh-

rers aus Okinawa vor Augen führte. Ich war damals gerade zwanzig Jahre

alt, voller verrückt spielender Hormone und war einfach verrückt nach

der Intensität, die darin besteht, andere mit Händen, Füßen, Würfen und

Hebeln „aufzumischen". Auch wenn ich weiterhin Sparrings mit hoch-

rangigen Karate-Kämpfern absolvierte, war mir doch klar, dass ich mich

nicht weiterhin ernsthaft dem Karate-Training widmen konnte. Es war

ebenfalls offensichtlich, dass meine Knie der hohen Belastung im Judo

auf die Dauer nicht standhalten würden, wie es mir bereits einmal passiert

5 Der chinesische Terminus hierfür ist men hu jr jieri, was, frei übersetzt, in etwa bedeutet:

Jedermann außerhalb unseres Tores (also unseres eigenen Stils der Kampfkunst) ist als

Feind zu betrachten, den man, ablehnen, ignorieren und gering schätzen muss.

92

war. Schmerzhafte Knieprobleme hatten schon für manche meiner Freun-

de das Aus bedeutet, weil sie die Warnsignale für drohende Schädigungen

ihrer Knie ignoriert hatten.

Morihei Ueshiba (siehe Seite 199), der Vater des Aikido, bei dem ich mich

geschult hatte, war ein Jahr zuvor verstorben, und obwohl ich mein Trai-

ning im Aikido-Hauptquartier fortsetzte, fühlte ich mich dort nach dem

Tod von O-Sensei nicht mehr so wohl wie früher. Ich konzentrierte mich

also auf die Fortführung meines Tai-Chi-Trainings, aber ich arbeitete

damals noch mit dem Push Hands und hatte noch nicht die Phase des

freien Sparrings erreicht. Ein Glanzpunkt in jener traurigen Zeit war das

Hsing-I-Training bei Sawai Kenichi.6 Ich übte gemeinsam mit seinen an-

deren Schülern viel Stehendes Chi Gung neben einigem sehr intensivem

und abwechslungsreichem Sparring.

Die südlichen Shaolin-Stile sind bekannt für a) Handtechniken auf kurze

Distanz im Nahkampf; b) kurze, breite und niedrige Standposituren, wobei

sich „kurz" auf die Entfernung zwischen den Füßen bezieht, wenn ein Fuß

vor oder hinter dem anderen steht; c) Kraft-Blockaden; d) minimale Fußar-

beit, wie sie für eine Person geeignet ist, die auf engem Raum kämpft, etwa

an Deck eines kleinen Bootes; und e) die Bevorzugung von Handtechniken

gegenüber Tritten. Die Sammelbezeichnung für die südlichen Shaolin-Stile

ist Nan Chuan oder „Südliches Boxen".

Das Nördliche Shaolin ist bekannt für: a) ausgedehnte Handtechniken

auf weite Distanz; b) lange, ausgedehnte Standposituren; c) Ablenkungs-

und Ausweichtaktiken anstelle von Kraftblockaden; d) ausladende Fuß-

arbeit und Sprungtechniken zum Kampf auf weiten, offenen Flächen;

und e) starke Betonung von Tritttechniken ebenso wie Handschlägen. Die

klassischen Ausdrücke der chinesischen Kampfkunst sind „Südliche Hände"

und „Nördliche Füße". Die Sammelbegriffe für die äußeren Kampfkünste

des Nordens sind Chang Chuan (Langes Boxen) oder Bei Shaolin (Nörd-

liches Shaolin). Vor allem die nördlichen Stile der äußeren Kampfkunst

wurden zur Grundlage der inneren Kampfkünste Tai Chi Chuan, Ba Gua

und Hsing-I.

Einige Stile der Kampfkunst hatten nördliche und südliche Abteilun-

gen, wie zum Beispiel die Gottesanbeterin (Praying Mantis), der Weiße

Kranich, Affe, Tiger und das Hung-Boxen. Zu den typischen südlichen

6 Siehe das Buch Taiki-Ken, The Essence o/Kung Fu von Kenichi Sawai, Tokio (Japan

Publications) 1976.

93

Stilen, die auch im Westen praktiziert werden, gehören Choi Li Fut, Mok

Gar, Wing Chun, Wu Mei und die Fünf Ahnen. Die meisten der rein nörd-

lichen Stille sind nicht bis in den Westen vorgedrungen, mit Ausnahme

des Chinesischen Ringens, von Chang Chuan, Nördliches Shaolin, Lohan

und Verlorene-Spur-Boxen. Im Allgemeinen waren die Kampfkünste in

Nordchina besonders aktiv, und deshalb brachte diese Region immer wie-

der die stärksten militärischen Kämpfer und professionellen Leibwächter

hervor. Historisch gesehen, kamen hauptsächlich die südlichen Stile in

den Westen, da Chinas Seehäfen in den südlichen Regionen lagen. Seit

jedoch immer mehr Chinesen aus Nordchina in den Westen einwandern,

haben diese Einwanderer sowie Gaststudenten aus Nordchina ebenfalls

ihre Kampfkünste in den Westen gebracht.

Wenn begeisterte Ausübende der Kampfkünste sich durch das Kontinu-

um der Kampfkünste von den äußeren Kampfkünsten zu den gemischten

äußeren/inneren Kampfkünsten hin bewegen und schließlich bis hin zu den

noch subtileren inneren Künsten, dann stellen sie fest, dass viele derselben

körperlichen Methoden (Hiebe, Würfe usw.) auch weiterhin verwendet

werden. Die entscheidenden Unterschiede liegen nicht in den körperlichen

Techniken, sondern betreffen folgende Aspekte: a) Muskelkraft contra

Chi; b) Geist hat Vorrang über Körper; c) systematische Schulung des un-

bewussten Geistes; wird d) körperlich Spannung befürwortet oder ist sie

eher verpönt; e) ist die Koordination zwischen verschiedenen Körperteilen

minimal, unvollständig oder voll integriert.

Äußere Kampfkünste mit Beimischung von etwas innerer Arbeit

Auf den höheren Ebenen der meisten äußeren Kampfkünste in China

entwickelt sich die Arbeit nach vielen Jahren des Übens in Richtung der

Einbeziehung des Chi (der subtilen Lebensenergie). Gewöhnlich beginnt die

innere Arbeit nicht mit Methoden der Entwicklung des Chi, sondern mit der

Lehre von Atemmethoden. Mit der Zeit führt die Arbeit mit dem Atem dann

zu einem Gewahrsein subtiler Energie. Oft pfropft eine bestimmte äußere

Kampfkunst ihrem eigenen System einfach eine Chi-Gung-(Energiearbeit-

JTechnik auf. Solche Übernahmen galten dann gewöhnlich als „großes

Geheimnis", das nur an ausgewählte und besonders geeignete Schüler

weitergegeben wurde. Im Allgemeinen betrachten die Chinesen die Kampf-

94

kunstfertigkeiten der höheren Ebenen eher als eine Art der Meditation und

der inneren Arbeit zur Entwicklung von Chi und nicht als eine Form des

bloßen Erlangens körperlicher Fähigkeiten. Dieses Paradigma unterscheidet

sich wesentlich von der Art und Weise, wie man im Westen gewöhnlich

die eigenen Kampfkünste des Boxens, Ringens und Fechtens wahrnimmt.

Manchmal übt jemand, der eine auf Muskelspannung basierende äußere

Kampfkunst praktiziert, getrennt davon auch ein Chi-Gung-System. In

einem solchen Fall wird das Chi Gung die Art und Weise der Ausübung

der äußeren Kampfkunst nicht verändern. Es hat dann vielmehr die Wir-

kung, die bei einem Auto die Verwendung eines Kraftstoffs mit höherer

Oktanzahl hat - Kraft und Effektivität werden erhöht, ohne dass jedoch

die Konstruktion des Motors dadurch verändert würde. Ein Ausübender

einer äußeren Kampfkunst mag auch Zen-Buddhismus praktizieren, was

zwar zu einer größeren Geistesruhe führen kann, was aber die Grundstruk-

tur der auf Muskelspannung basierenden Kampfkunst nicht wesentlich

verändert. Zen-buddhistische Meditation wird gewöhnlich in die äußeren

Kampfkünste Japans wie Karate und Schwertkünste wie Kendo und Iaido

inkorporiert.

Die Kombination der Abstimmung von äußeren und inneren Kampfkünsten

In den äußeren/inneren Kampfkünsten ist die Entwicklung des Chi min-

desten ebenso wichtig wie die Entwicklung roher körperlicher Kraft, wenn

nicht wichtiger. Es wird zwar immer noch Muskelspannung angewendet,

aber in deutlich geringerem Ausmaß und nicht mit derselben Heftigkeit

wie bei den rein äußeren Kampfkünsten. In dieser Mischform wird in allen

Kampftechniken und Trainingsabläufen die Entspannung deutlich mehr

betont als die Spannung.

Im Kontinuum der äußeren/inneren Kampfkünste hat jede einzelne

Kampfkunst gewöhnlich eine deutliche Vorliebe entweder für äußere oder

für innere Techniken. Äußere Praktiken sind solche, die basieren auf: a)

Muskelspannung; b) aerober Aktivität statt auf Kultivierung von Chi; c) der

Tendenz, das Körpertraining in einzelne Teile aufzuspalten, zum Beispiel

Armtraining, Beintraining, Hüfttraining und so weiter.

95

Innere Kampfkünste sind solche, die ganz und gar basieren auf: a) mus-

kulärer und geistiger Entspannung; b) Integration des ganzen Körpers; c)

offensichtlicher oder subtiler Kreisförmigkeit in allen Körperbewegungen;

d) direkter Verbindung des Geistes mit dem zentralen Nervensystem zur

Erzeugung von Geschwindigkeit und Reflexen; und e) Gewahrsein und

der bewussten Einbeziehung der inneren nichtmuskulären Komponenten

wie der Wirbelsäule, der Blutgefäße, der inneren Organe, der Drüsen, der

Gelenken, des Gehirns und aller Energiezentren, -kanäle und -punkte

innerhalb des Körpers sowie der äußeren Aura.

Die progressiven Stadien dieses mittleren Bereiches der Kampfkünste,

der die äußeren mit den inneren Kampfkünsten verbindet, sind die fol-

genden:

1. Im ersten Stadium werden Chi-Praktiken benutzt, um das zentrale

Nervensystem und die Muskeln des Ausübenden zu entspannen,

bevor er oder sie „explodiert" und kräftige Hiebe unter Einsatz von

Muskelspannung austeilt. In diesem Stadium ist die Praxis eher

äußerlich/innerlich. Diese Entspannung des Chi des Geistes und des

zentralen Nervensystems ist entscheidend für jede innere Praxis.

Die äußeren Kampfkünste entspannen ebenfalls Körper und Geist,

bevor sie Kraft anwenden, aber sie üben nicht spezifisch, wie man

Kontrolle über das Chi gewinnt, was den Entspannungsprozess sta-

bilisiert.

2. Im nächste Stadium lernt man, deutlich zu spüren, wie den Atem

in alle Bereiche des Körpers eindringt. Wenn man zum Beispiel eine

Kampftechnik ausführt, dann verursacht die eigene Atmung das

konkrete Gefühl von Druck in dem verwendeten Körperteil - der

Hand, wenn man schlägt oder greift, dem Bein, wenn man tritt oder

wirft, dem Ellbogen oder Unterarm, wenn man blockt oder stößt. Je

äußerlicher die Praxis ist, desto enger begrenzt wird das Gefühl des

Atems sein; je innerlicher die Praxis ist, desto mehr ist der gesamte

Körper des Atems gewahr. Dieses Gefühl des Atems wird den eigenen

Techniken auf allen Ebenen Kraft und Subtilität hinzufügen.

3. Verschiedene Atemmethoden werden im Stillstand und in der Be-

wegung mit den Techniken koordiniert. Zu diesen Atemmethoden

gehören (a) der vibrierende Atem mit oder ohne Explosionen am

Ende (wie im Fujian Weißer Kranich); (b) maschinengewehrähnliche

kontinuierliche kurze Ausatmungen, wie sie bei den südlichen Sha-

96

olin-Stilen der kurzen Hand üblich sind; (c) animalische röhrende

oder vibrierende Atemzüge; diese Atmung hat die Funktion, die in-

neren Nervenimpulse zu beschleunigen wie bei einem erregten Tier,

was zu extremer Explosivität, Wut und Geschwindigkeit führt, wobei

diese Kraft dann gegen den Gegner gewendet wird; (d) rhythmische

Atmung, die sowohl regelmäßige als auch unterbrochene Atem-

muster benutzt; (e) langsame, tiefe Atmung, die sowohl innerlich

ausgeführt wird, als auch um das Chi willentlich in einzelne oder

mehrere Körperteile hineinzuatmen und wieder herauszuziehen.

4. Eine grundlegende Maxime der Chi-Gung-Übungen ist, dass das Chi

das Blut bewegt. Nun strebt man an, mit der Zeit bewusst zu spüren,

wie das Chi das eigene Blut bewegt. Dieses Gefühl ermöglicht es uns,

deutlicher zu spüren, ob sich das Chi auch dorthin bewegt, wohin

wir es lenken. Wenn Blut vom Chi schnell bewegt wird, fühlt man

Wärme, selbst wenn sich der Körper äußerlich nicht bewegt. Anfangs

fühlt sich das Blut für die meisten Menschen schwerer und konkreter

an als das Chi, so dass es in den frühen Stadien der Kultivierung des

Chi besser geeignet ist, den Chi-Fluss einzuschätzen. Zum nächsten

Stadium gehört, dass man das Chi als etwas vom Atem Getrenntes

erfahren kann, während es sich bei der Ausführung einer Kampf-

kunsttechnik im Körper bewegt. Manchmal werden Visualisierungen

benutzt, um ein konkretes Gefühl dafür zu entwickeln, wie sich das

Chi im Körper auf und ab und in alle Richtungen bewegt. Das Chi

Gung ist nun keine abgetrennte Technik mehr, sondern wird jetzt

ganz oder zumindest teilweise in alle ausgeführten Kampfkunst-

techniken integriert. Während dieser Prozess fortschreitet, wird die

Praxis immer innerlicher.

5. Wenn man weiter fortschreitet, wird man dessen gewahr und fühlt,

wie sich zunächst der Atem und später das Chi direkt durch die

Nerven des eigenen Körpers bewegen. Diese Empfindung ist bemer-

kenswert leicht und unkörperlich. In diesem Stadium der Praxis wird

es uns möglich, Kontrolle über unser automatisches Nervensystem

zu erlangen. Wenn wir uns so weit meistern, wird es uns möglich,

eine außergewöhnliche Kontrolle über die Körperfunktionen zu er-

langen, eine Fähigkeit, für die die indischen und tibetischen Yogis

und die chinesischen Chi-Gung-Meister berühmt sind.

6. Zu diesem Stadium gehört der Gebrauch aller möglichen Selbsthyp-

nose- und Visualisierungstechniken, wodurch unsere Leistungsfä-

97

higkeit erhöht wird. Dazu gehört die Visualisierung, die gleichzeitig

von dem Gefühl begleitet wird, wiederholt bestimmte Bewegungen

auszuführen, oder man sieht sich selbst bei Sparringmanövern mit

allen möglichen Variationen. Solche Praktiken können Muster in

unserem Nervensystem erzeugen, so dass wir die für eine bestimmte

Fertigkeit nötigen Reflexe erlangen, ohne also viel körperliche Trai-

ningszeit einsetzen zu müssen. Solche Techniken werden sowohl bei

der Ausführung von Formen als auch in der sitzenden Meditation

angewendet. Auch Trancezustände werden benutzt, um den Körper

geerdeter, schneller, beweglicher oder stärker zu machen, als das mit

gewöhnlicher körperlicher Übung möglich wäre. Manchmal wird

Musik dazu benutzt, während des Trainings den Trancezustand zu

vertiefen, eine Praxis, die man vor allem in den Kampfkünsten Af-

rikas, Indiens und Indonesiens antrifft. Die üblichen Techniken kon-

zentrieren sich auf die Fähigkeit, plötzlich mit großer Heftigkeit zu

explodieren und einer wahrgenommen Gefahr gegenüber erstaunlich

sensibel und reaktionsfähig zu werden. Diese Techniken der Einü-

bung mentaler Muster müssen sehr sorgfältig dosiert werden, damit

sie keine negativen Nebenwirkungen auf das zentrale Nervensystem

und die Persönlichkeit haben. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sie

bei den Übenden mentale Erregung, Depression, paranoide Tenden-

zen und dramatische Stimmungsschwankungen hervorrufen.7 Wenn

der Trainingsansatz das mentale Wohlergehen und die körperliche

Leistungsfähigkeit auf ausgeglichene Weise berücksichtigt, so ist das

die beste Methode zur Vermeidung einer negativen Programmierung

des zentralen Nervensystems. In der Geschichte jedoch waren viele

der Meister der äußeren/inneren Kampfkünste nur auf Kompetenz

im Kampf auf dem Schlachtfeld aus und kümmerten sich nicht um

mentale Ausgeglichenheit und Gesundheit. Wünscht man sich eine

humanere oder spirituellere Herangehensweise an die Kampfkünste,

dann braucht es auf Seiten der Lehrer eine größere Sensibilität,

7 Als ich in den 1960er und frühen 1970er Jahren das Fukien Weißer Kranich übte, hörte

ich von vielen Meistern des Weißen Kranich und begegnete auch einigen, die offen-

sichtlich an einigen dieser Probleme litten. Später, nach vielen Jahren der Forschung,

wurde mir klar, dass diese Art von Problemen aufgrund der Visualisations- und

Selbsthypnose-Praktiken aller äußeren/inneren Kampfkünste auftreten können. Viele

Meister, die ich dazu befragte, waren sehr besorgt darüber und ließen sich ausführ-

lich darüber aus, wie man diese Probleme vermeiden kann oder wie man sie, wenn

möglich, entweder in frühen oder späten Stadien wieder rückgängig machen kann.

98

was die subtilen Möglichkeiten angeht, posttraumatische Schocks

hervorzurufen oder zu vermeiden.

7. Es gibt ein Stadium, in dem sowohl der Gebrauch des Körpers als

auch die Integration des Körpers feiner abgestimmt wird, als das in

den äußeren Kampfkünsten möglich ist. Die Koordination der sechs

Körperkombinationen (Hände/Füße, Knie/Ellbogen, Schultern/Hüf-

te) wird zu einem zentralen Anliegen. Die meisten guten äußeren

Kampfkünste versuchen die zentrifugale horizontale Drehkraft aus

der Hüfte einzusetzen, um Arme oder Beine mit Geschwindigkeit

zu bewegen. Die inneren Systeme gehen weiter, indem sie versu-

chen, all die vertikalen Körperpunkte miteinander zu verbinden, die

sich simultan mit der horizontalen Bewegung bewegen können. So

müssen sich zum Beispiel Ellbogen und Knie in genau koordinierter

Synchronisation miteinander bewegen statt nur „einigermaßen"

synchron zu sein. Die innere Bewegung der Gelenke wird miteinan-

der verbunden und koordiniert, so dass sich etwa bei der Beugung

oder Steckung eines Ellbogens um x Grad das Knie ebenfalls um

genau x Grad beugt oder streckt. Je innerlicher die Praxis ist, desto

feiner abgestimmt wird die Koordination zwischen den einzelnen

Körperteilen sein, und umgekehrt. Besonders in den südchinesischen

Schulen ist es üblich, die Kraft sequentiell zu entfesseln, ein Gelenk

nach dem anderen, wobei sich die Kraft in einem peitschenartigen

Effekt von unten nach oben durch den Körper bewegt, so dass eine

schnelle Serie von Hieben ausgelöst wird. Es ist auch üblich, nur

die Kraft eines einzelnen, isolierten Gelenks oder einer bestimmten

Kombination von Gelenken zu benutzen. Einen Gegner zu treffen,

indem man getrennte Komponenten der sechs Kombinationen be-

nutzt, ist in den nördlichen Schulen weniger üblich. Dort werden

alle sechs Kombinationen gleichzeitig eingesetzt, jedoch längst nicht

mit derselben Präzision, Verfeinerung und Kohärenz wie in den

daoistischen inneren Kampfkünsten Tai Chi, Ba Gua und Hsing-I.

8. Das Speichern und dann Freisetzen von Chi wird zu der haupt-

sächlichen Weise der Ausführung aller Techniken. In den Shaolin-

Systemen wird dieser Prozess im Allgemeinen „Verschlucken und

Ausspucken", auf Chinesisch Tun Tu, genannt. Hier geht es nicht nur

darum, zu entspannen und nach außen zu explodieren (was auch in

den äußeren Kampfkünsten praktiziert wird), sondern auch darum,

Energie zu speichern und sie augenblicklich mit dem gesamten

99

Körper freizusetzen. Diese Freisetzung von Energie kann auf zwei

grundlegende Weisen geschehen: Die erste Weise ist die Freisetzung

in einem einzigen kontinuierlichen machtvollen Hieb. Die zweite

Weise ist die Freisetzung durch einen großen Kraftausbruch, der zu

einer Serie von regelmäßig getimten presslufthammerähnlichen,

peitschenden, vibrierenden oder wellenartigen Stößen oder Hieben

führt.

9. Ein fortgeschrittenes Stadium beinhaltet die Manipulation des Chi

in der äußeren Aura außerhalb des Körpers. Diese Chi-Gung-Tech-

nik wird zu zweierlei Zwecken eingesetzt: einmal um das Chi des

Ausübenden zu stärken und auszubalancieren; zum anderen um zu

lehren, wie man das Chi in der äußeren Aura von Gegnern manipu-

lieren, kontrollieren oder durchbrechen kann, um sie zu schwächen,

sie für einen Angriff verletzlich zu machen oder einfach um ihre

Sinne zu verwirren.

Zu den im Westen bekannteren äußeren/inneren Kampfkünsten gehören

südliche Systeme wie Weißer Kranich, Südliche Gottesanbeterin, Weiße

Augenbraue, Schlange, Wu Mei sowie nördliche Systeme wie Baumwoll-

boxen, Ba Ji Chuan und die Acht trunkenen Unsterblichen. Ich China gibt

es sehr viel mehr Stile, von denen die meisten nie in den Westen gelangt

sind. Diese Systeme benutzen gewöhnlich verschiedene Kombinationen

von daoistischen, buddhistischen, Shaolin- und Kunlun-Formen des Chi

Gung. Auch auf den vielen Inseln Indonesiens gibt es eine Vielfalt von

äußeren/inneren Stilen.

Die Ausrichtung der inneren Kampfkünste

In den rein inneren Kampfkünsten kommt es zu einem Umschwung - hier

wird das Thema der Gesundheit über einen langen Zeitraum und der the-

rapeutischen Heilung des Körpers zu einem wichtigen Anliegen. Sowohl in

den äußeren Kampfkünsten als auch in den äußeren/inneren Kampfkünsten

wird Gesundheit zumeist unter dem Gesichtspunkt der Fitness verstanden.

Die Heilung von körperlichen Gebrechen gehört gewöhnlich nicht zu den

Fertigkeiten der äußeren Formen oder Mischformen und zählt nicht einmal

zu ihren Prioritäten. In beiden Kategorien ist die Schaffung und Verfeine-

rung von nützlichen Kampftechniken die treibende Kraft.

100

Die wichtigsten inneren Kampfkünste des Daoismus, Ba Gua, Tai Chi

und Hsing-I, sind aus der Nei-Gung-Tradition (siehe Seite 121) der dao-

istischen Meditation abgeleitet. Dieses System bildete die Grundlage der

traditionellen chinesischen Medizin. Den daoistischen Meditierenden ging

es vor allem um Gesundheit und geistiges Wohlbefinden und nicht um

Kriegführung oder Selbstverteidigung. Sie lebten oft in unzugänglichen

Gebieten, wo es niemanden gab, der sie hätte angreifen können. Ihre Chi-

Technologie wurde als eine außerordentlich wirksame Quelle der Kraft in

die daoistischen Kampfkünste inkorporiert, um so auch in der säkularen

Welt gebraucht zu werden. In den daoistischen Kampfkünsten standen

Gesundheit, Heilen, therapeutische Diagnose und die Kultivierung klarer

meditativer Bewusstseinszustände im Vordergrund. Das Kämpfen wurde

als ein nützliches Nebenergebnis angesehen.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Weißer Kranich

Im Sommer des Jahres 1969 besuchte ich Wang Shu Jin

erneut in einem Park in Taichung zu weiterem Training,

das ganz ausgezeichnet war. Danach verbrachte ich eini-

ge Tage mit einem Freund in Taipei. Dieser Freund stell-

te mich in dem Hotel, in dem ich wohnte, einem jungen

Meister" des Yang-Stil Tai Chi vor. Dieser Meister hatte etwas sehr Biegsa-

mes; er war gut im Push Hands und konnte harte Ellbogenschläge gegen

den Körper ohne Mühe wegstecken. Das Wichtigste für mich war, dass er

die Fa-Jin-Entwurzelungstechnik des Tai Chi Chuan sehr gut beherrschte.

Sowohl Wang Shu Jin als auch Sawai Kenichi, bei dem ich mich in Tokio

im Hsing-I schulte, beherrschten das Fa Jin, doch sie hatten mich bisher

nicht in dieser Technik unterwiesen. Ich trainierte eine Zeitlang mit dem

jungen Meister und kehrte dann nach Japan zurück.

Im nächsten Sommer arbeitete ich wieder mit Wang, kehrte dann nach

Taipei zurück und suchte den jungen Meister wiederum auf. Wir lernten

uns persönlich ein wenig kennen, und ich besuchte seine Familie in dem

Dorf Hsilo in Zentraltaiwan, das die Heimat vieler taiwanesischer Kampf-

künste war, einschließlich des Weißen Kranich. Dieser junge Meister bot

mir einen Handel: Er würde mich in die „Geheimnisse" des Fa Jin (siehe

Seite 188) einführen, wenn ich ihn nach Tokio mitnehmen und dort för-

dern würde.

101

Wie viele naive junge Menschen, die begierig auf einen Abkürzungsweg

zu Wissen und Erfolg sind, sprang ich auf dieses Angebot an. Ich dachte,

ich könnte auf diese Weise die konservative Haltung der alten Meister

umgehen. So kam der junge Meister nach Japan und lebte dort bei mir

in meinem kleinen Appartement. Es war nicht leicht, ihn als Bestandteil

meines Lebens zu akzeptieren, aber nach einiger Zeit zeigte er mir das

„Geheimnis". Er zeigte mir, wie man den Atem und den Körper heftig

vibrieren lässt und dabei laut knurrt wie ein Tiger, wie man die Sehnen

streckt, die Taille dreht wie die Bewegung eines Lebensmittelmischers,

wie ich meinen eigenen Körper schlagen und dann mit den Händen in der

Luft flattern konnte. Dann kehrte er nach Taiwan zurück.

Damals hielt ich dies alles für eine große Errungenschaft, und so trainierte

ich diese „Geheimnisse" sehr eifrig. Und sie funktionierten. Ich wurde

sehr biegsam, schnell und sensibel und begann etwas Fa Jin anzusam-

meln, auch wenn es eher von erschreckender Natur war und nicht von der

sanften Art, die sich aus dem Tai Chi entwickeln kann. Es war faszinie-

rend zu entdecken, dass bloße Schläge mit dem Handgelenk, der offenen

Hand und den Fingern die massiveren Knochen des Körpers ausrenken

oder gar brechen konnten. Die Praxis half mir zweifelsohne im Sparring.

Der Nachteil war, dass sie meine Energie sprunghaft, durchdringend und

explosiv machte.

Im folgenden Jahr kehrte ich nach New York zurück und übte in Cheng

Man-chings Schule sehr viel Push Hands, während er sich gerade in Tai-

wan aufhielt. Die vibrierende „Tai Chi"-Methode funktionierte sehr gut.

Allerdings sahen die Mitglieder von Chengs Schule sie zwar als wirksam,

aber als zu „hart" an. Als ich wieder im Osten war, fand ich heraus, dass

das, was der junge Meister mir in Wirklichkeit beigebracht hatte, eine in

Taiwan beheimatete Kampfkunst war, nämlich das Fukien Weißer Kra-

nich8, insbesondere die Methode der Tsung He oder Vibrierender Kranich

Linie. Diese Kunst ist darauf spezialisiert, das Chi in das Untere Dantien

abzusenken und die Wurzel sehr schwer zu machen. Sie betont das Sensi-

bilitätstraining des Push Hands, insbesondere das Einknicken der Gelen-

ke. Diese Art des Push Hands besitzt Ähnlichkeit mit dem Push Hands des

8 Alle Formen des Weißer Kranich haben ihren Ursprung im Shaolin-Kloster. Neben dem

Fukien Weißer Kranich sind die beiden anderen großen Schulen die Kantonesische

und das Nördl icher Weißer Kranich. Jede Schule besitzt mehrere Zweiglinien und

Untergruppen. Das Kantonesische Weißer Kranich wird oft Lama Pai genannt , da man

annimmt , dass es in Tibet entstand. Es ist für seinen langen Stil des Nördlichen Shaolin

bekann t und besitzt l ange Schläge und kurze, schnelle Schritte. Nördlicher Kranich

ist bekannt fü r seine Betonung langer, träger, weicher und weitläufiger Schläge, die

dem Flügelschlag des Vogels gleichen, und /oder der „Baumwoll-Handfläche" (siehe

Seite 170) und nicht fü r vibrierende Schläge.

102

Tai Chi, jedoch ohne das Weiche und Variable der Tai-Chi-Technik. Ich

übte diese Technik am Morgen in den Parks von Taiwan, wo sich immer

viele bereitwillige Partner fanden. Durch diese Übung bekam ich immer

eine intensive Trainingseinheit mit hoch motivierten Individuen, wäh-

rend ich weiterhin meine Kenntnisse im Tai Chi ausbaute.

Auf meiner zweiten Reise nach Taiwan war es aufregend für mich, eine

der Quellen des Goju Karate (das aus der Provinz Fukien kommt) zu fin-

den, da ich diese Form praktiziert hatte, als ich noch jünger war. Die

Hauptstandpositur des Fukien Weißer Kranich, zum Beispiel, ist auch die

Drei-Kriege-San-Chin-Standpositur.9 Weißer Kranich benutzte auch viele

der Innenarm-Berührungstechniken des Goju, wenn auch mit einer viel

größeren Variationsbreite und einem größeren Maß an Verfeinerung, als

ich es zuvor in Japan und Okinawa gesehen hatte. Eine Qualität und

ein Markenzeichen dieses südlichen Stils ist die Konzentration auf hoch

entwickelte Kraft-Atemtechniken, mit denen man die Fähigkeit entwi-

ckelt, heftige Körpertreffer mühelos zu absorbieren und auszuhalten. So

gestattete es zum Beispiel eine weibliche Ausübende des Weißer Kranich,

die ihre Kunst auf Wettbewerben in Taiwan demonstrierte, kräftigen

Männern, sie mit voller Kraft zu schlagen, wobei sie offensichtlich weder

Schmerz noch Angst verspürte. Jahre später erzählte mir Liu Hung Chieh

in Beijing, er habe 1928 bei den nationalen chinesischen Vollkontakt-

Meisterschaften gesehen, wie Ausübende des Fukien Weißer Kranich re-

gelmäßig vernichtende Schläge von Shaolin-Leuten verkrafteten, ohne

Wirkung zu zeigen, dass jedoch die Praktizierenden des Hsing-I mit ihren

machtvollen „inneren" Schlägen die Ausübenden des Fukien Weißer Kra-

nich zu Boden schickten.

Dass ich mir einen Hintergrund in den Einknicken- und Vibrations-Tech-

niken des Weißer Kranich aneignen konnte, war eine wertvolle Vorberei-

tung auf das Erlernen des Kampfgebrauchs der Einknicken- und Ellbogen-

und Schulter-Techniken in den inneren Kampfkünsten. Die Praxis des

Weißer Kranich hat mir geholfen, die Vogel-Techniken im Hsing-I und Ba

Gua sowie die Ellbogen- und Schulter-Techniken im Tai Chi zu verstehen.

Meine Erfahrung mit den reinen inneren Künsten hat mir gezeigt, dass

deren allgemeine Prinzipien zwar denen des Weißer Kranich ähnelten,

dass die Details hier aber viel stärker verfeinert, flüssiger und umfassen-

der waren und dass sie eine beruhigendere Wirkung auf den Geist hatten.

9 Tai Tzu, das ebenfalls eine Variante der Drei-Kriege-Standpositur benutzt, ist ein wei-

terer Stil des Südlichen Shaolin aus der Provinz Fukien, und es ist auch die Quelle des

Uechi Ryu Karate aus Okinawa.

103

Die daoistischen inneren Kampfkünste sind vor allem darauf ausgerichtet,

unser Chi zu entwickeln und unseren Geist zu beruhigen. Wenn eine Pra-

xis für unseren Körper und unseren Geist schädlich ist, dann soll man sie

nach Ansicht der Daoisten nicht ausüben, auch wenn sie im Kampf noch

so wirksam sein könnte. Aus daoistischer Sicht wäre es eine in Hinsicht

auf die langzeitige Gesundheit und das Wohlbefinden ziemlich dumme

Strategie, beim Erlernen von Selbstverteidigung seinen Körper und Geist

zu schädigen. Millionen von Menschen in China üben die inneren Kampf-

künste nur um Vorsorge für ihre Gesundheit zu treffen, Verletzungen und

Krankheiten zu heilen und als eine Form der Meditation und Stressbewäl-

tigung. Es gehört zur Natur der Gesundheitspraktiken, dass man sie, wie

Aerobic, in einer „Folge-dem-Führer-Manier" ausüben kann, sobald man

die inneren Prinzipien einmal erlernt hat.

Die Meister der inneren Kampfkünste, die die praktische Seite des Kämp-

fens betonen, werden in China als die besten Kämpfer angesehen. In

der Welt der chinesischen Kampfkünste gelten die inneren Kampfkünste

als die subtilsten, komplexesten und am höchsten entwickelten. In den

inneren Künsten wird die Zirkularität der Bewegung wichtiger als die

lineare Aktion. Will man ein wirklicher Könner auf dem Gebiet der inne-

ren Kampfkünste werden, so erfordert das harte Arbeit, Intelligenz und

Ausdauer. Es ist auch nötig, dass ein Individuum innengelenkt und in der

Lage ist, für sich allein zu üben. Äußerlich motivierte Menschen, die der

physischen Anwesenheit eines Führers bedürfen, dem sie folgen können,

um Bewegungen zu üben, haben gewöhnlich Schwierigkeiten, mit den

höheren Ebenen der inneren Praxis zurechtzukommen.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Die Entdeckung des Inneren meines Körpers und des Chi - Stehen lernen

Die Erfahrung des erstaunlichen Chi von Wang Shu

Jin im Sommer des Jahres 1968 war der entscheidende

Wendepunkt, der mich dazu motivierte, mich ganz und

gar dem Erlernen der chinesischen Weise der Entwick-

lung des Chi für die Kampfkunst zu widmen. Auch wenn

ich am liebstem auf unbestimmte Zeit in Taiwan geblieben wäre, um bei

Wang zu lernen, war das wegen Verpflichtungen, die ich an der Univer-

sität in Tokio hatte, nicht möglich. Als ich wieder zurück in Japan war,

104

erkundete ich deshalb häufig die dortige Szene der inneren Kampfkünste.

Wie es das Schicksal so wollte, führte mich diese zu einer der wichtigsten

Methoden zur Entwicklung des Chi und des Gewahrseins, wie es innerhalb

des Körpers wirkt. Ich fand Chang I Chung und die Übung des Stehens.

An drei Tagen in der Woche lehrte Chang I Chung (einer der Hauptschü-

ler von Wang) in einem großen Lagerraum mit Zementfußboden über

dem Botan-Coffee-Shop10 in Shibuya, einem Stadtteil von Tokio, Tai Chi.

Die Stunden begannen mit Stehen, einer Art Anwärmübung für das Chi

Gung, gefolgt von der Chen-Pan-Ling-Kombinationsform (siehe Seite

503), einer Stock-Form, Push Hands und Zwei-Personen-Kampfübungen

(mit bloßer Hand und mit einem Stock). In den ersten paar Monaten, übte

ich die Aufwärmübungen" und dann die Form, und ich investierte meh-

rere Stunden täglich, um die Form für mich allein zu üben, während ich

auch noch andere Kampfkunst-Kurse besuchte.

Nach einigen Monaten fragte ich den Lehrer: „Wenn ich mein Tai Chi

wirklich verbessern will, was sollte ich dann tun?" Eine Woche später

antwortete er: „Wenn du wirklich Tai Chi lernen willst, dann konzentriere

dich zuerst ernsthaft auf das Stehen und erst danach auf die grundlegen-

den Übungen. Dann wirst du bereit sein, die Tai-Chi-Form zu lernen." Er

fuhr fort: „Das wurde hier schon vielen der Schüler gesagt, die Tai Chi

als eine Kampfkunst erlernen wollten, aber sie hörten nur selten darauf.

Wirst du darauf hören?"

Kurze Zeit später erhielt ich denselben Rat von drei weiteren Kampfkünst-

lern, die ich sehr respektierte. Der erste war ein Mann namens Kawashi-

ma. Er war ein ernsthafter Ausübender des Karate und graduierter Stu-

dent, der zu den besseren von Changs Schützlingen gehörte. Kawashima

war dem Rat, das Stehen zu üben, gefolgt, und er sagte mir, es sei sehr

großzügig von Chang gewesen, mir die Wahrheit so ohne Umschweife zu

sagen. Der zweite war Sawai Kenichi, das Oberhaupt der I-Chuan-Schule

(siehe Seite 287), und der dritte war sein ungemein kraftvoller Schüler

10 Die Coffee Shops in Japan sind ein Zwischending zwischen einem deutschen Cafe,

einem französischen Bistro und einer amerikanischen Bar. (Anm. d. Übers.)

" Später lernte ich, dass diese Aufwärmübungen Teil einer alten daoistischen Chi-Gung-

Serie waren, auch wenn hier die letzte Komponente der Wirbelsäulenstreckung fehlte.

Ich lernte zuerst die äußeren Aspekte dieser Übungen von Chang, aber es bedurfte

doch acht Jahre schwieriger vergleichender Studien, bis ich tatsächlich die ganze

innere Wirksamkeit dieser 3000 Jahre alten daoistischen Methode verstand. Die wich-

tigsten der inneren Komponenten lernte ich in Beijing von Liu Hung Chieh. Ohne

die Unterweisung von Liu, hätte ich niemals herausgefunden, wie ich die mit Chang

begonnene Arbeit hätte abschließen können. (Mehr Informationen über diese Chi-

Gung-Serie finden sich in Bruce Frantzis, Die Energietore des Körpers öffnen, Aitrang

(Windpferd Verlag) 2002.

105

Goto. Jeder von ihnen sagte mir, die Stehübung führe zu wahrer innerer

Kraft (und meiner Ansicht nach besaßen sie alle drei diese Kraft). Ich

nahm mir also all diese Ratschläge zu Herzen und kam zu dem Schluss,

dass dies wohl sehr ernst gemeint war. Da ich immerhin um die halbe

Welt gereist war, um die „wahre" Kampfkunst zu lernen, widmete ich

mich also einer strengen Praxis des Stehens. Während ich außerdem noch

die Tai-Chi-Form lernte, erreichte ich im Verlauf der darauf folgenden

Jahre einen Punkt, an dem ich in der Lage war, nur die Standpositur

beizubehalten,12 oder zu stehen und dabei sechs Stunden lang ohne Un-

terbrechung die grundlegenden Übungen zur Entwicklung der inneren

Energie durchzuführen.

Da ich Changs Rat zu stehen äußerst gewissenhaft befolgte, war es mir

nach zwei Jahren schließlich möglich, die meisten seiner fortgeschritte-

nen Schüler zu übertreffen, selbst einige, die schon über ein Jahrzehnt

Erfahrung in Tai Chi hatten. Und während der folgenden zwanzig Jahre

hörte ich überall in China von einem breiten Spektrum hervorragender

Tai-Chi- und Hsing-l-Meister, wie sehr sie diese Übung des stehenden Chi

Gung schätzten. Sie alle hatten mehr oder weniger parallele Vorgehens-

weisen für das Einhalten von Tai-Chi- und Hsing-I-Posituren. In Beijing

rieten mir Kenner des Chen-Stils außerdem, man solle dann, wenn man

die Bewegungen einigermaßen gut beherrsche, üben, für lange Zeit zu

Stehen, und zwar mit erhobenen Armen, so als umarme man einen Baum.

Diese Übung, so sagten sie, sei eine Voraussetzung für das Erlangen von

authentischem innerem „Gung Fu", das heißt Kraft und Fertigkeit. Die

übereinstimmende Ansicht der vielen Meister der inneren Kampfkünste,

die ich in China getroffen habe, war: „Es ist notwendig zu stehen und

grundlegende Übungen (genannt Ji Ben Gung, siehe Seite 152) durchzu-

führen, wenn du willst, dass deine Bewegungen Kraft haben und nicht

leer sind."

Die inneren Kampfkünste haben sowohl innere als auch äußere Aspekte.

Das Ziel besteht darin, diese Aspekte nahtlos zu einem integrierten Gan-

zen zu verschmelzen. Die Ausübenden der inneren Kampfkünste zählen

die körperlichen Bewegungen der Kampftechniken zu den äußeren As-

pekten. Dementsprechend können sie jede der Kampftechniken aus dem

12 Jahre später wurde mir derselbe statische Prozess von Lehrern für das San Ti (siehe

Seite 300) im Hsing-I und für verschiede Stellungen im Tai Chi empfohlen. Auch

wenn ich die Tai-Chi-Stellungen nicht für mehre Stunden am Stück beibehielt, war die

Übung, sie für bis zu eine Stunde lang beizubehalten ohne Zweifel einer der Gründe

dafür, dass es mir schließlich gelang, mein Chi abzusenken.

106

Repertoire der äußeren und äußeren/inneren Kampfkünste verwenden,

wenn sie das auch gewöhnlich auf eine stärker verfeinerte, zirkuläre und

innerlich koordinierte Ganzkörpermanier tun. Im Wesentlichen sind Aus-

übende der inneren Kampfkünste der Ansicht, dass Kampftechniken mit

der anderen Person zu tun haben und nicht innerlich mit Körper, Geist

und Seele des Ausübenden. Die Grundlagen der inneren Komponenten der

inneren Kampfkünste sind Intention (Absicht), Chi und Bewusstsein. Die

Wirksamkeit der Kampftechniken der inneren Kampfkünste beruht auf der

gezielten Anwendung innerer Kraft, nicht auf äußeren Körperbewegungen

und Techniken, auch wenn die Ausübenden der inneren Kampfkünste diese

außerordentlich gut beherrschen. Der Geist hat hier ganz klar den Vorrang

vor körperlicher Technik.

Man erlangt Geschwindigkeit, Reflexe, Kraft und Ausdauer, indem man

seinen Vorrat an Chi vergrößert, indem man das zentrale Nervensystem

wirksamer macht, idem man die Gewebe des Körpers (insbesondere die

Nerven) umwandelt und indem man durch subtile Veränderungen und

Überlagerungen der eigenen inneren Struktur ein hohes Maß an nicht-

anhaftender Zentrierung und geistiger Klarheit entwickelt. Auf diese Weise

wird es möglich, äußere Leistungsfähigkeiten wie athletische Fähigkeiten

und Kampfkompetenz zu manifestieren. Zu den wesentlichen Anliegen

der inneren Kampfkünste gehören:

1. Der vollständige Gebrauch der 16 grundlegenden Komponenten des

daoistischen Nei-Gung-Systems (siehe Seite 121), einschließlich der

präzisen Abstimmung des Körpers, die verhindert, dass der Fluss des

Chi blockiert oder das Chi zerstreut wird. Wenn man diese Prinzipien

praktiziert, so bringt das außerordentlich wirksame biochemische

Anpassungen mit sich.

2. Die Umwandlung jeder Form von Chi in funktionell kraftvolle und

nützliche Techniken für den Kampf, zur Heilung und zur Medita-

tion.

3. Eine umfassende und funktionale Nutzung des Prinzips der Sechs-

Kombinationen-Körperintegration (siehe Seite 119). Es geht dabei

darum, zu erreichen, dass der ganze physische Körper, das Chi und

der Geist sich wie eine einzige integrierte Zelle bewegen, ohne sich

einzeln bewegende Teile. Dieser Punkt wird von zwei höchst be-

deutsamen Aussagen in den Tai-Chi-Klassikern illustriert. Die erste

ist: „Von Positur zu Positur bleibt die innere Kraft ununterbrochen."

107

Die zweite ist: „Wenn ein Teil sich bewegt, bewegen sich alle Teile;

wenn ein Teil anhält, halten alle Teile an."

4. Exakte Methoden zur Bewegung des Chi unter Nutzung der Inten-

tion und der tiefsten Schichten des menschlichen Geistes (die im

Chinesischen und Japanischen als Herz-Geist bezeichnet werden) zur

Einwirkung auf die Gefühle und das Bewusstsein eines Individuums.

Das Wissen darum, wie man die daoistischen Meditationsmethoden

des stillen Sitzens und höhere Bewusstseinszustände mit Praktiken

im Stehen, in der Bewegung, im Sitzen und im Liegen sowie mit

den Formen der Kampfkunst verschmilzt.

Um wirklich zu verstehen, was die inneren Kampfkünste in Hinsicht auf

das Kämpfen zu leisten vermögen, ist es notwendig zu begreifen, dass sie

praktisch alle Kampftechniken der äußeren Künste inkorporieren, während

sie ihnen gleichzeitig ihre eigenen inneren Qualitäten überlagern. Sie fügen

ihnen einzigartige Methoden und Kampfstrategien, die auf der Theorie des

Yin/Yang und dem I Ging beruhen, hinzu. Historisch gesehen, haben Men-

schen, die ihre Kampffertigkeiten in den äußeren und den äußeren/inneren

Kampfkünsten verbessern wollten, das Chi Gung der rein inneren Kampf-

künste benutzt, um ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten auszubauen.

Jedes der einzelnen inneren Systeme hat Unterabteilungen, die sich auf

bestimmte Aspekte des Kämpfens spezialisiert haben, doch ihnen allen ist

die Betonung der Gesundheit und des Wohlbefindens gemeinsam. Einige

Stile und Unterabteilungen sind selten, andere sind populär. Die Popula-

rität eines bestimmten Systems ist kein Indiz für seine Überlegenheit oder

Unterlegenheit im Kampf. Die Stile, die man am ehesten im Westen antrifft,

sind das Tai Chi Chuan mit den Unterabteilungen Yang, Wu, Chen, Hao,

Sun u n d Kombinationsform; da s Ba Gua mi t d e n Stilen Yin Fu u n d Cheng

Ting Hua; u n d das Hs ing- I C h u a n mi t den Sti len Hebei, Shansi, Muslim,

Hsin I, I Chuan oder Da Cheng Chuan sowie Liu He Ba Fa. Ihnen allen ist

das Grundkonzept des Chi gemeinsam.

Chi und die Realität der Selbstverteidigung

In der Anfangsphase des Trainings einer inneren Kampfkunst hat ein

Schüler gewöhnlich noch nicht viel Chi. Zu den anfänglichen Ba-Gua-

Übungen zum Beispiel gehört die Entwicklung einer guten Körpermechanik

108

und -koordination, während man lernt, den Körper zu verlängern und

spiralig zu bewegen. Die Körpermechanik der inneren Kampfkünste ist

wesentlich höher entwickelt als die der äußeren Kampfkünste. Sie beruht

auf innerlich und äußerlich verbundenen Körperbewegungen und Spiralen,

die das Öffnen und Schließen, die Kompression und die Ausdehnung der

Flüssigkeiten innerhalb des Körpers zur Freisetzung von Kraft verwenden.

Wenn ein Schüler Fortschritte macht, dann verlässt er sich, auch wenn er

sehr kräftig ist, immer weniger auf seine Körperkraft und immer mehr auf

den Chi-Fluss durch sein System. Es ist dann das Chi, das ihm oder ihr Kraft

gibt und den Körper bewegt. Das ist als, als ginge man von einem Computer

aus den 1950er Jahren, dessen Hardware sehr viel Platz einnahm, der aber

weniger Leistungsfähigkeit besaß, zu einem modernen Laptop über, dessen

Hardware in einen kleinen Aktenkoffer passt, der aber das Vielfache der

Leistung eines Computers aus den 1950er Jahren besitzt.

Anfänger haben oft die irrige Vorstellung, ihr Chi allein könne genügen,

einen Gegner zu besiegen, ohne dass sie die Fertigkeiten des Schlagens,

Tretens, Werfens und Hebelns meistern müssten. Das ist, als wolle man

den Wagen vor das Pferd spannen.

Allerdings ist zum Beispiel im Ba Gua das höchste Ziel, einen Gegner

nur mit der Kraft des reinen Chi besiegen zu können. Um dies tun zu kön-

nen, braucht man innere Kraft, die auf Chinesisch Nei Jin genannt wird.

Diese Kraft erlangt man, wenn man das Chi des eigenen Körpers auf eine

bestimmte Frequenz einstimmt, die den Körper vereint und es ermöglicht,

eine enorme Menge an innerer Kraft zu projizieren. Dazu muss man sich

jedoch auf einer sehr fortgeschrittenen Ebene befinden. Anfangs ist das

Training viel körperlicher, und es braucht Jahre der Übung, bis es unkör-

perlich wird. Man muss nicht nur sein Chi vermehren, sondern auch die

körperlichen Techniken erlernen. Dies verlangt mindestens ebensoviel kör-

perliche Koordination, wie sie in den äußeren Kampfkünsten nötig ist.

Der Grund für die Betonung des Ba Gua in diesem Buch

Obwohl dies ein Buch über alle chinesischen inneren Kampfkünste ist, wird

das Ba Gua doch besonders betont. Was ist der Grund dafür, wenn man

bedenkt, dass die Kunst des Tai Chi sehr viel populärer und seine Praxis

viel weiter verbreitet ist? Es gibt mehrere relevante Gründe. Zuerst einmal

109

ist das Ba Gua wahrscheinlich die einzige rein daoistische Kampfkunst.'3

Als solche enthält es viel ursprüngliche Kampfkunst-Information, die nicht

im Laufe der Zeit verändert oder verwässert wurde. Zweitens gilt das Ba

Gua bei höchst angesehenen Meistern der inneren Künste als die technisch

am höchsten verfeinerte und die effektivste der inneren Kampfkünste.

Drittens enthält das Ba Gua all die inneren und äußeren zirkulären und

spiraligen Techniken, die es in den linearen Kampfkünsten entweder über-

haupt nicht oder nur teilweise gibt. Viertens ist Ba Gua zweifellos einer

der Vorläufer des Aikido, der wichtigsten innere Kampfkunst der Japaner,

und umfasst die offenkundigen Gesundheits- und Energiepraktiken, die im

Aikido gewöhnlich fehlen. Fünftens hat Ba Gu die Anmut und Schönheit

der anderen inneren Künste, doch seine Bewegungen werden in einer nor-

malen und/oder schnellen aeroben Geschwindigkeit ausgeführt statt in dem

Zeitlupentempo des Tai Chi, mit dem viele Kampfkünstler nichts anfangen

können. Sechstens umfasst Ba Gua die gesamte spirituelle Tradition der

Kampfkünste, die im Tai Chi und im Hsing-I sehr viel seltener anzutreffen

ist. Siebtens entspricht Ba Gua vielen der Gründe, aus denen die Menschen

Tai Chi praktizieren, das jedoch mit höherem innerem Gewahrsein und in

einer sehr viel dynamischeren Form der Entspannung.

Das Eisenhemd-Chi-Gung

Wenn Sie und ein Übungspartner im Sparring oder in Übungen mit zusam-

mengelegten Händen, wozu auch das Rou Shou (siehe Seite 360) gehört,

an den inneren Partner-Kampfanwendungen der Kampfkünste arbeiten,

dann kann das, was als ein leichter Klaps begann, sich zu einem heftigen

Hieb entwickeln, entweder aus Versehen oder aufgrund einer vereinbarten

Eskalation der Kraft. Über einen bestimmten Grad der Eskalation hinaus-

zugehen, kann allerdings gefährlich werden.

An diesem Punkt mögen Sie vielleicht anfangen wollen, die Eisenhemd-

Techniken zu erlernen, die Ihnen die Fähigkeit verleiht, heftige Schläge

ohne Gefahr und Schmerzen zu absorbieren. Einige Ausübende des Ba Gua,

wie zum Beispiel Wang Shu Jin (siehe Seite 57), sind berühmt dafür, dass

sie einfach stillstehen und ihren Gegnern erlauben, sie zu treffen, wobei

13 Auch wenn Tung Hai Chuan, der Begründer des modernen Bas Gua, das Lohan-Boxen

studierte, bevor er Ba Gua lernte, ist sein Ba Gua doch in allen inneren Aspekten rein

daoistisch.

110

sie von vornherein wissen, dass die Schläge keine Wirkung haben werden.

Es gehört zu den Pai Da genannten Eisenhemd-Techniken des Shaolin, den

Körper in systematischen Mustern mit kleinen Stöcken, Eisenstangen oder

Strümpfen voller harter Objekte wie Steine oder Murmeln zu schlagen.

Will man das Eisenhemd des Ba Gua entwickeln, so verwendet man keine

äußeren Objekte, mit denen der Körper geschlagen wird, um die Fähig-

keit zu entwickeln, Energie zu absorbieren. Hier genügen vielmehr innere

Energieübungen, die sowohl innerhalb der Form als auch in getrennten

Nei-Gung-Sitzungen ausgeführt werden, um diesen Zweck zu erreichen.

Im Ba Gua kann man trainieren, indem man die Arme benutzt, um den

eigenen Körper zu schlagen, oder indem man die inneren Organe mani-

puliert, damit sie den inneren Druck verändern. So kann man Chi zum

Schutz in bestimmte Körperpartien lenken.

Es empfiehlt sich für einen Kampfkünstler nicht, das Eisenhemd schon

früh in seiner Schulung zu erlernen, denn dies könnte die Entwicklung

seiner Sensibilität behindern. Wie Sie sich vorstellen können, wird ein

Übender, der heftige Schläge absorbieren kann, ohne Schaden zu lei-

den, kaum dazu neigen, auf Sensibilität und Bewegung zu achten. Diese

Einstellung könnte sich als schwerer Nachteil erweisen, wenn scharfe,

schneidende Waffen ins Spiel kommen. Eine solche Vernachlässigung

von Sensibilität könnte auch die „Lebendigkeit" innerhalb Ihres Körpers

verringern. Ausübende der inneren Kampfkünste betrachten die Qualität

des Lebendigseins und der Fähigkeit, auf die Umgebung zu reagieren, als

etwas sehr Wichtiges. Es wäre ein großer Fehler, wollten Sie es Ihrem Ego

erlauben, Sie um diese Sensibilität zu bringen, nur weil Sie vielleicht stolz

darauf sein könnten, den „besten Schlag" Ihres Gegners wegzustecken.

Training mit Waffen

Die traditionellen Waffen der inneren Kampfkünste sind dieselben vier

Waffen, die in allen chinesischen Kampfkünsten verwendet werden: das

gerade zweischneidige Schwert, da s Breitschwert/Messer, de r Stock u n d

der Speer. Die innere Kampfkunst Ba Gua macht keinen Unterschied zwi-

schen der Übung mit dem geraden Schwert und dem Breitschwert, was in

der Welt der Kampfkunst eine merkwürdige Praxis darstellt. Dieses Fehlen

einer Unterscheidung ist eine Auswirkung der kreiselnden Fußarbeit mit

„Zehen nach innen, Zehen nach außen" und der sphärischen Bewegungen,

die ein einzigartiges Merkmal der Ba-Gua-Praktik des Kreisgehens ist.

111

Werden die Bewegungen des Ba Gua (in der nachgeburtlichen Methode,

siehe Seite 330) mit einer Fußarbeit ausgeführt, die eher der des Tai Chi oder

Hsing-I entspricht, dann werden die deutlich unterschiedlichen Methoden

zur Übung mit jeder Waffe sehr wohl differenziert. In den vorgeburtlichen

Methoden des Ba Gua jedoch tendieren die Aktionen aufgrund der bogen-

artigen Wirbel, die die sphärischen Bewegungen der Waffe erzeugen - beim

Stechen, Hauen, Schneiden, Abblocken und Ablenken -, dazu, in sich

und aus sich heraus zu fließen, ohne eine Identifikation unterschiedlicher

Gestalten oder Gebräuche, die die Funktion jeder spezifischen Waffe nor-

malerweise zu verlangen scheint, zuzulassen.

Das Tai Chi spezialisiert sich auf das gerade Schwert, das mehr Fertigkeit

und Präzision verlangt. Im Tai Chi wird sehr deutlich zwischen der Technik

für das gerade Schwert und der für das Breitschwert unterschieden. Das

Breitschwert gilt als eine Waffe zum Hauen, wobei Kraft und Stärke zählen,

und es ist ideal für den Kampf mit mehreren Gegnern geeignet. Das gerade

Schwert verlangt mehr Sensibilität und kreisförmige Bewegungen. Es ist

dem Breitschwert in Duellen klar überlegen, ist jedoch zum Kampf mit

mehreren Gegnern, wie beim Kampf mit Soldaten auf dem Schlachtfeld

oder dem Kampf mit einer Räuberbande, nicht so geeignet. Die Kunst des

Hsing-I meidet das gerade Schwert und spezialisiert sich auf eine Art des

Breitschwerts, welches dem langen japanischen Samurai-Schwert, das

Katana genannt wird, ähnelt.

Das Hsing-I spezialisiert sich auch auf den Speer und zu einem gerin-

geren Maße auf den Stock. Tai Chi arbeitet hauptsächlich mit Speeren und

macht zahlreiche Push-Hands-Übungen mit ihnen. Die Natur der drehen-

den und kreisenden Bewegungen des Kreisgehens im Ba Gua verringert

die Unterschiede zwischen dem Speer und dem Stock, und mit beiden wird

im Wesentlichen auf dieselbe Weise geübt.

Der Speer, der in den traditionellen chinesischen Kampfkünsten „der

König der langen Waffen" ist (der Speer ist etwa drei Meter lang) und

der Stock (der Stock ist etwa zwei Meter lang) haben viele Techniken

gemeinsam, aber aufgrund der Unterschiede in ihren Biegebewegungen

unterscheiden sich auch manche Techniken. Speere werden im Allgemei-

nen benutzt, um zu schneiden und zu stechen, Stöcke um zu stechen und

zu hauen. Die besten Speere werden aus einem besonderen, Bai La Gan

genannten Holz gemacht, das in der Shandong-Provinz wächst. Speere,

die aus diesem Holz gefertigt sind, sind dick und biegsam und können,

wenn sie blockiert werden, aufgrund ihrer Biegsamkeit in einem Bogen von

112

bis zu einem Meter schwingen. Diese Amplitude ist groß genug, um das

Bein oder den Schädel von jemandem zu brechen. (Wenn eine Speerspitze

angebracht ist, können deren Schnitte tödliche Wunden verursachen).

Da das Holz dermaßen flexibel ist, vermag das Ende des Speers mit der

Speerspitze schneller zu rotieren, als jede Schlange zuschlagen kann. Da

das Bai-La-Gan-Holz so äußerordentlich biegsam ist, kann es sich bei

einem harten Schlag mit einem Schwert gewöhnlich so biegen, dass es

nicht beschädigt wird.

Auch wenn die Hauptübungen mit der Waffe sich im Allgemeinen auf

die vier hauptsächlichen Waffen konzentrieren, hat doch jede der inneren

Kampfkünste auch ihre zweitrangigen Waffen. Das Tai Chi des Chen-Stils

zum Beispiel arbeitet mit einer verwirrenden Vielzahl von traditionellen

langen und kurzen Waffen. Auch wenn diese im Chen-Dorf noch aufbe-

wahrt werden, übt heute außerhalb des Dorfes praktisch niemand mehr mit

diesen Waffen. Im Hsing-I dagegen wird oft mit Dolchen geübt, was offen-

sichtlich auch heute noch relevant ist. Das Ba Gu hat noch andere Waffen,

etwa den mit Nadeln besetzten Ring, Peitschen und Hirschhornmesser,

die aus zwei gekrümmten und in entgegengesetzte Richtung weisende

Schneiden mit einem Griff in der Mitte bestehen. Dies waren praktische

Waffen, die man an einem Gürtel tragen konnte. Ihr Gebrauch passt gut

zu den spiraligen Bewegungen des Ba Gua. Diese alten Waffen waren

ausgezeichnet zum Trainieren von Körper und Geist, und sie fügten der

modernen Praxis der Kampfkünste Variabilität und Abwechslungsreichtum

hinzu. Auch wenn diese Waffen zu ihrer Zeit auf dem neuesten Stand

waren, hat ihr praktischer Wert in der Moderne angesichts der Feuerkraft

von verborgenen Gewehren deutlich abgenommen.

Die Energien, die ein Kampfkünstler erzeugt, wenn er Techniken der

offenen Hand verwendet, sind nicht dieselben, die bei der Verwendung von

metallenen Waffen erzeugt werden. Wenn man heute die Waffenformen der

chinesischen Kampfkünste studiert, dann bekommt man gesagt, dass der

Zweck dieser Übungen darin bestehe, zu lernen, wie man sein Chi durch

die Waffe senden kann.14 Manche Angehörige der Ba-Gua-Schule würden

diese Aussage nur für teilweise wahr halten. Sie glauben, dass der Gebrauch

einer metallenen Waffe beim Kämpfenden die Frequenz dessen, was die

Daoisten als die acht primären Energieebenen in einem Menschenwesen

14 Diese Aussage ist mehr oder weniger korrekt, was den Gebrauch von hölzernen Waffen

angeht, trifft jedoch nicht auf metallene Waffen zu.

113

identifiziert haben (siehe Seite 140), verändert. In Folge dessen wird die

Wechselwirkung dieser energetischen Ebenen mit dem Körper verändert. Im

Ba Gua werden die Übungen mit Waffen nur ausgeführt, um Sha Chi, die

Energie des Tötens, zu erzeugen - sei es das Töten einer anderen Person,

eines Tieres oder eines inneren mentalen Dämons. Sha-Chi-Praxis mit

metallenen Waffen macht den Übenden körperlich sehr stark, nicht nur

weil bei der körperlichen Übung eine schwere Waffe mit frei gewähltem

Gewicht verwendet wird, sondern auch aufgrund einer alchimistischen

Reaktion zwischen dem Metall der Waffe und der Energie der Person, die

die Waffe schwingt.

Und noch ein praktischer Hinweis: Wenn Sie die Techniken der leeren

Hand gut beherrschen, dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, auch mit

Waffen zu arbeiten. Manche Kampfkünstler meinen, dass es für jeman-

den, dem es um Gesundheit und spirituelle Entwicklung geht, nicht nötig

sei, mit Waffen zu üben. Wenn Sie jedoch ein kompletter Kampfkünstler

sein wollen, dann sollten Sie sich auch im Gebrauch der traditionellen

Waffen schulen. Ausübende des Tai Chi trainierten traditionellerweise mit

besonders schweren Schwertern, um ihr Chi so weit zu entwickeln, dass

sie Waffen, deren Handhabung beträchtlicher körperlicher Kraft bedurfte,

weich, entspannt und präzise handhaben konnten, und sie trainierten mit

hölzernen Schwertern, um außerordentliche Leichtigkeit und Sensibilität

zu entwickeln. Ausübende des Hsing-I benutzten ein außergewöhnlich

schweres Breitschwert zum Krafttraining. Übende des Ba Gua arbeiten üb-

licherweise mit besonders großen oder sehr schweren Waffen, die zwischen

vier und zwanzig Pfund wiegen, um ihr Chi maximal zu entwickeln. In

der Schlacht benutzen die Ausübenden aller inneren Kampfkünste mittel-

schwere Schwerter mit einem persönlich justierten Schwerpunkt, um den

besten Mittelweg zwischen Geschwindigkeit, der Stärke des Metalls und

der Sensibilität bei der Handhabung zu treffen.

114

Portrait eines Meisters der inneren Kampfkunst

Cheng Man-ehing - Langsame und schnelle Bewegung

In dem Aikido-Kurs, den ich in New York nach der Schule besuchte, traf

ich einen Judo-Lehrer namens Lou Klinesmith. Er kannte meine Leiden-

schaft für die Kampfkünste und fragte mich eines Tages, ob ich interes-

siert sei, eine neue Art des „weichen" Schlags kennen zu lernen. Da ich

neugierig war, sagte ich: „Na klar, warum nicht?" Also hielt er seine Hand

etwa zwei Zentimeter von meinem Körper entfernt und gab mir dann da-

mit auf völlig entspannte Weise einen leichten Klaps. Im ersten Moment

fühlte es sich so an, als habe er mich überhaupt nicht berührt, aber nach

etwa einer halben Sekunde explodierte etwas in mir - ich klappte vor

Schmerz geradezu zusammen. Lou massierte meinen Körper einige Se-

kunden lang und ich erholte mich wieder völlig. Dann begann er, mir von

Tai Chi Chuan zu erzählen und von seinem Lehrer, einem sechzig Jahre

alten Meister namens Cheng Man-ching. Er schlug mir vor, mir seine

Arbeit einmal anzusehen.

Zu jener Zeit, es war Mitte der 1960er Jahre, lehrte Cheng Man-ching im

chinesischen Kulturzentrum in der Upper East Side von Manhattan. Da

dieses Zentrum nur ein paar hundert Meter von meiner Wohnung entfernt

115

lag, war es ziemlich leicht, einmal dort vorbeizuschauen. Das Zentrum

hatte große Erkerfenster, durch die man den Unterricht von außen beo-

bachten konnte. Die langsamen Bewegungen des Tai Chi sahen für mich

ziemlich merkwürdig aus, und so ging ich erst einmal mehrfach an dem

Gebäude vorbei, bevor ich schließlich eintrat.

Cheng führte mich in die Tai-Chi-Form ein, aber er drängte mich in kei-

ner Weise oder versuchte, mir den Wert des Tai Chi als Kampfkunst zu

„verkaufen", wie es Lou getan hatte, und ich war zu schüchtern, danach

zu fragen. Cheng war offensichtlich ein ziemlich fähiger Kampfkünstler,

von denen des damals in New York eine ganze Reihe gab. Doch Cheng

schien offenbar keine praktischen Hieb-, Tritt-, Wurf- oder Hebeltechni-

ken zu lehren. Mein Ziel war leicht zu definieren. Ich war ein aktiver und

gesunder Teenager, der in seinem Leben noch keine ernsthafte Krankheit

erlebt hatte, und das einzige, was ich wollte, war Kämpfen lernen. Für

mich sah es so aus, als lehre Cheng nichts, was mit Kampfkunsttechnik

zu tun hatte, also verließ ich seine Schule nach zwei Wochen wieder und

kehrte zu „meinem Ding" zurück, den japanischen Kampfkünsten (Karate,

Judo, Aikido, und Iaido, der Samurai-Schwertkampf). Ich war ein recht

kurzsichtiger Teenager und vermochte damals noch nicht das wertvolle

Potential des Tai Chi für Gesundheit, Selbstverteidigung und das allge-

meine Wohlbefinden zu begreifen.

Doch für diese zwei Wochen mit Cheng zu tun gehabt zu haben, erwies

sich als äußerst wertvoll. Wenn ich Cheng Man-ching dabei beobachtete,

wie er seine Bewegungen ausführte, wurde meine Aufmerksamkeit immer

auf den langsamen Lotos-Tritt am Ende seiner kurzen Yang-Stil-Form

gelenkt. Während einer Unterrichtsstunde demonstrierte Cheng den Lo-

tos-Tritt einmal, indem er ihn äußerst schnell ausführte. Ich merkte sofort

auf. Ich konzentrierte mich dann darauf, herauszufinden, wie er den Lo-

tos-Tritt ausführte, und ich übte diesen Tritt und andere langsame Tritte

bei mir zuhause. Vier Dinge wurden mir dabei in Hinsicht auf die Tritte

im Zeitlupentempo klar. Zuerst einmal entwickeln sie das Gleichgewichts-

gefühl. Zweitens streckten sie alle meine kleinen Muskeln sehr viel mehr

als die schnellen Tritte. Drittens verbesserten sie die körperliche Koordi-

nation und erhöhten mein Gewahrsein jedes winzigen kleinen Fehlers in

meinem Tritt, ein Wissen, das ungemein nützlich ist, wenn man besser

werden will. Und viertens waren die hohen Tritte im Zeitlupentempo sehr

viel schwerer auszuführen als die schnellen Tritte.

Also begann ich die Zeitlupenmethode den hohen seitlichen Tritte des

Karate anzupassen. (Zu jener Zeit führte niemand in New York diese Ka-

rate-Tritte im Zeitlupentempo aus.) Nachdem ich Cheng verlassen hatte,

gelangte ich im Verlauf der folgenden zwei Jahre an einen Punkt, an

116

dem ich zehn kontrollierte hohe Seitentritte im Zeitlupentempo ausfuh-

ren konnte, ohne den Fuß abzusetzen. Diese Zeitlupenmethode war ein

wesentliches Hilfsmittel zur Entwicklung meiner besten Kampftechnik

für den Wettkampf, des hohen seitlichen Tritts, dem ich schließlich den

Sieg in vielen Wettkämpfen zu verdanken hatte. Das Verdienst für die

Entwicklung dieses Ansatzes gebührt ganz und gar Cheng Man-chings

Unterweisung und Inspiration. Auf mich allein gestellt, hätte ich diese

Methode niemals entdeckt.

117

Alle inneren Kampfkünste haben Hiebtechniken. Im Hsing-1 werden sie am häufigsten verwendet, im Ba Gua am seltensten, wobei das Tai Chi ungefähr

dazwischen angesiedelt ist. Die hier gezeigte Methode der in alle Richtungen

schlagenden und schneidenden Faust mit spiraliger Bewegung gibt es allein

im Ba Gua. liu Hung Chieh korrigiert die Technik des Autors.

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die inneren Kampfkünste Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua

Fünf charakteristische Eigenschaften der inneren Kampfkünste

In der Praxis von Ba Gua, Tai Chi und anderen Nei-Gung-Künsten (siehe

Seite 121) gibt es fünf wichtige Elemente, die diese Künste in der Welt der

Kampfkünste einzigartig machen:

1. Alle Bewegungen haben eine spiralige, drehende Energie, die alle

Teile des Körpers einbezieht, einschließlich der Bauchhöhle, der in-

neren Organe, der Knochen, des Knochenmarks, der Bänder, Sehnen,

Muskeln und der tiefsten Schichten der Faszien. Manchmal sind

diese drehenden Aktionen äußerlich offensichtlich, manchmal sind

sie sehr subtil, und einige spielen sich tief innerhalb des Körpers ab

und es gibt nur minimale sichtbare Hinweise darauf.

2. Alle inneren Kampfkünste betonen das Liu He, die sechs körperli-

chen Kombinationen. Auf der körperlichen Ebene bezieht sich dies

auf drei äußere Kombinationen: Ellbogen und Knie, Hand und Fuß,

Schulter und Hüfte. Hier geht es darum, dass die äußeren Glied-

maßen durch die Körpermitte miteinander koordiniert werden. Bei

den drei inneren Kombinationen, den Nei San He, müssen Intention,

Energie und Bewusstsein miteinander und mit dem äußeren Körper

koordiniert werden.

3. Die Bewegungen betonen und benutzen alle Körpersysteme, die mit

der Wirbelsäule verbunden sind. Dieser Prozess maximiert die Kraft

und Flexibilität der Wirbelsäule, kann bei Wirbelsäulenverletzungen

helfen und entwickelt die Sensibilität, die Stärke und die Ausdauer

119

3

des zentralen Nervensystems. Die inneren Kampfkünste bewegen

ständig die Wirbelkörper der Wirbelsäule, wodurch die zerebro-

spinale Flüssigkeit kräftig durch das System gepumpt wird.

4. Bei allen Nei-Gung-Künsten geht es um das Öffnen und Schließen

von Gelenken und Körperhöhlungen, wozu auch die Ausdehnung

und Kompression der Synovial-Flüssigkeit in den Gelenken gehört.

Die äußeren Kampfkünste, wie etwa Judo, Karate, Boxen und Gung

Fu, kümmern sich im Allgemeinen nicht um diese Methoden, es sei

denn auf eine sehr allgemeine Weise. Im Gegensatz dazu sind die

inneren Künste sehr viel subtiler und deshalb kraftvoller, besonders

was Stressbewältigung, Körpertherapie und eine Verlangsamung des

Alterungsprozesses angeht. Ba Gua unterscheidet sich insofern von

Hsing-I und Tai Chi, als die Praktiken der beiden letzteren verbieten,

die Körpermitte zu überqueren. Das heißt mit anderen Worten: Die

linke Hand darf nicht zur rechten Seite der Wirbelsäule gehen und

die rechte nicht zur linken. Im Ba Gua kommt es ständig zu einer

solchen Überschreitung, ohne dass irgendeiner der inneren Energie-

kanäle im Körper kurzgeschlossen oder annulliert wird. Man kann

also sagen, dass das Ba Gua mit mehr Aspekten des Chi des Körpers

arbeitet als Tai Chi oder Hsing-I.

5. Ein wichtiges Ziel des Ba Gua und des Tai Chi ist die Öffnung der

Hauptenergiekanäle des Körpers. Das Öffnen des physischen Körpers

(Gelenke, Höhlungen) hilft, den Energiefluss innerhalb des Körpers zu

befreien. Es gibt viele Energiekanäle im Körper; die drei wichtigsten

s ind der Zentralkanal, de r linke Kanal u n d der rechte Kanal. (Siehe

Anhang C). Andere sind die Yin- und die Yang-Kanäle des Körpers.

Die Yin-Kanäle laufen die Innenseite der Arme und der Beine und

die Vorderseite des Körpers entlang. Die Yang-Kanäle verlaufen an

der Außenseite der Beine, den Rücken hinauf und die Außenseite

der Arme entlang. Es gibt außerdem noch die Meridiane, die wie

verbindende Gürtel um den Körper herumlaufen (sie werden Jing

Luo genannt) sowie die Meridiane die als die acht speziellen oder

außerordentlichen Meridiane bezeichnet werden. Alle diese Kanäle

werden durch die anfängliche Ba-Gua-Praxis des Kreisgehens und

später durch die stehenden und sitzenden Übungen geöffnet und

miteinander verbunden. Das Kreisgehen mit richtig ausgerichtetem

Körper hilft, die wirbelnde Energie zu entwickeln, die für das Ba

Gua charakteristisch ist. Auf den weiter fortgeschrittenen Ebenen

120

des Ba Gua sind dann Nei-Gung-Übungen im Sitzen außerordentlich

wichtig für das Öffnen aller Energiekanäle des Körpers, von denen

es mehrere Tausend gibt, die funktionell nützlich sind.

Die Entwicklung von Kampfkraft durch das Chi

Das sechzehnteilige Nei-Gung-System der inneren Kraft

Die hauptsächlichen inneren Kampfkünste des Daoismus - Ba Gua Chang,

Tai Chi Chuan und Hsing-I Chuan - sind aus der Nei-Gung-Tradition der

daoistischen Meditation abgeleitet.15

Das daoistische Nei-Gung-System scheint die Wurzel zu sein, aus der

all die anderen Chi-Gung-Systeme in China einige oder den Großteil ihrer

Informationen und Kapazitäten bezogen haben.16 Es ist auch die Wurzel

der essentiellen Chi-Arbeit und der inneren Kraft der inneren Kampfkünste

Ba Gua, Tai Chi und Hsing-I, der Chi-Therapie und -Körperarbeit und der

daoistischen Meditation. Die Abfolge des Erlernens der sechs Komponenten

ist nicht festgeschrieben. Wo man beginnt, das hängt davon ab, welches

Ziel man verfolgt - ob es zum Beispiel darin besteht, das Leistungsvermö-

1 5 Anmerkung des Herausgebers : Der Au to r hat in der Vergangenhe i t versucht , die

inneren Nei-Gung-Komponenten gleichzeitig mit den äußeren Bewegungen des Tai

Chi, Hsing-I und Ba Gua zu lehren. Im Laufe der Jahre hat er j edoch herausgefunden ,

dass die Komplexität der körperlichen Bewegungen die Aufmerksamkei t der Schüler

auf die inneren Energien hemmt. Die Schüler können sich an fangs nur auf das einer

oder das andere konzentrieren, nicht auf beides. Deshalb lehrt er diese energetischen

Praktiken heute in einem sechsteiligen Chi -Gung-Programm. Diese speziellen Chi-

Gung-Praktiken sind unveränder t über Tausende von Jahren überliefert worden . Sie

sind über diesen langen Zeitraum immer wieder auf die Probe gestellt worden und

funktionieren auch heute noch außerordentlich gut. (Siehe Seite 566, zu Informationen

über das B. Frantzis Energy Arts" Programm.)

16 Die anderen wichtigen Chi-Gung-Systeme in China sind das buddhist ische, das me-

dizinische, das konfuzianische und die Kampfkunst . Alle diese Systeme haben einige

Techniken gemeinsam, haben aber auch unterschiedliche Spezialisierungen, Ziele und

philosophische Grundlagen.

121

gen zu erhöhen, die Gesundheit zu verbessern, Kampfkünste zu erlernen,

das Heilen zu erlernen oder in der Meditation fortzuschreiten.

1. Atemmethoden, von den einfachen bis zu den komplexeren.

2. Die inneren Energien in ihrem Fluss entlang der absteigenden ,

aufsteigenden und verbindenden Energiekanäle des Körpers füh-

len, sie in Bewegung setzen, verändern und umwandeln.

3. Präzise Abstimmung des Körpers, um zu verhindern, dass der

Chi-Fluss blockiert oder zerstreut wird. Diese Prinzipien zu prak-

tizieren führt zu außergewöhnlich effektiven biomechanischen

Abstimmungen.

4. Das Auflösen von Blockaden auf der körperlichen, emotionalen

und spirituellen Ebene.

5. Die Energie durch die primären und sekundären Meridian-Kanäle

des Körpers sowie durch die Energietore lenken.

6. Den Körper von innen nach außen und von außen nach innen

entlang der Yin- und der Yang-Akupunkturmeridiane biegen und

strecken.

7. Öffnen und Schließen aller Teile des Körpergewebes (Gelenke,

Muskeln, weiche Gewebe, innere Organe, Drüsen, Blutgefäße,

zerebro-spinales System und Gehirn) sowie der subtilen Energie-

anatomie des Körpers.

8. Manipulieren der Energie der Aura außerhalb des Körpers.

9. Kreisläufe und Spiralen der Energie innerhalb des Körpers erzeu-

gen, die spiraligen Energieströme des Körpers kontrollieren, das

Chi willentlich in jeden Teil des Körpers lenken, besonders in die

Drüsen, das Gehirn und die inneren Organe.

10. Energie in jeden Teil des Körpers absorbieren oder sie davon weg

projizieren.

11. Alle Energien der Wirbelsäule kontrollieren.

12. Kontrolle über den rechten und den linken Energiekanal des Kör-

pers gewinnen.

13. Kontrolle über den zentralen Energiekanal des Körpers gewin-

nen.

14. Die Fähigkeiten und alle Nutzungsmöglichkeiten des Unteren Dan-

tien (auch: Hara oder Elixierfeld oder Zinnoberfeld) entwickeln

lernen.

122

15. Die Fähigkeiten und alle Nutzungsmöglichkeiten des Mittleren

und des Oberen Dantien entwickeln lernen.

16. Sämtliche Teile des physischen Körper zu einer einheitlichen En-

ergie verbinden.

Bei den Chinesen gibt es den Ausdruck „ba gua shen fa", der übersetzt

ungefähr bedeutet „Was Ba Gu für deinen Körper tut". Die inneren Wir-

kungen des Ba Gua gehören zu dem, was die Chinesen Nei Jia oder innere

Entwicklung nennen; dazu gehören alle Arbeiten mit dem Chi und die Me-

ditation. Nei Jia Chuan oder die inneren Kampfkünste unterscheiden sich

deutlich von Wai Jia Chuan, den äußeren Kampfkünsten, die, wie schon

gesagt, auf muskulärer Fitness, Ausdauer und Reflexen basieren. Die Nei-

Jia-Kampfkünste mit ihrem medizinischen Nutzen, ihrer Stressbewältigung

und ihrer Betonung der Meditation könnten sehr wohl die beliebtesten

Kampfkünste im einundzwanzigsten Jahrhundert werden.

In den inneren Kampfkünsten beginnt jegliche Bewegung tief im Inne-

ren des Körpers und arbeitet sich zur Haut hin nach außen. Es geht hier

darum, Innen und Außen völlig miteinander zu verschmelzen. Die äußeren

Kampfkünste arbeiten am Äußeren des Körpers (das heißt an den Muskeln

und den Reflexen), aber wenn sie Chi Gung einbeziehen, können sie sich

schließlich in das Innere vorarbeiten. Als Faustregel kann man folgendes

sagen: Die inneren Künste Chinas arbeiten mit dem allgemeinen inneren

Gewahrsein eines Menschen, damit dieser zu einer konkreten Empfindung

der tiefsten Untersysteme innerhalb des Körpers kommt. In den äußeren

Kampfkünsten geht es im Wesentlichen um die Bewegung der Muskeln

und des äußeren Rahmens des Körpers.

Auch wenn es in einer äußeren Kunst eine Bewegung gibt, die sich

ganz genau so in einer inneren Kunst findet, wird die äußere Kampfkunst

normalerweise nicht tiefer vordringen als bis zu den äußeren Schichten

des Körpers. Für ein geschultes Auge würde eine Bewegung bei einem Tai-

Chi-Meister und einer Ballerina, die exakt die gleiche Bewegung ausführen,

doch nicht im Entferntesten gleich aussehen. Ein Laie würde allerdings

im Allgemeinen keinen großen Unterschied sehen. Wie die Bewegungen

innerlich ausgeführt werden, ist die entscheidende Frage. Das Nei-Gung-

System ist der Schlüssel zu der Antwort.

123

Wie die innere Chi-Kraft in den Kampfkünsten durch das sechzehnteilige daoistische Nei-Gung-System erzeugt wird

Das hoch entwickelte Nei Gung, das von den Daoisten vor Tausenden von

Jahren entdeckt und entwickelt wurde, wurde schließlich zur Quelle der

Chi-Kraft in den inneren Kampfkünsten Ba Gua, Tai Chi und Hsing-I. Die

Daoisten haben dieses Energie-System schon lange vor der Zeit, zu der

die äußeren Kampfkünste angeblich im Shaolin Kloster begründet wur-

den, entdeckt. Tatsächlich haben viele der Shaolin Kampfkünste, was ihre

geheimen inneren Krafttechniken angeht, sehr viel von dem daoistischen

System entlehnt und haben die „sanften" Energietechniken des Nei Gung

ihrem „harten" philosophischen Ansatz angepasst.

Die Daoisten haben diese machtvollen Energietechniken des Nei Gung

entdeckt, als sie mit Hilfe der Meditation tief in ihren Geist und Körper

eindrangen. Sie meditierten hauptsächlich, um die spirituellen Wirklichkei-

ten des Universums aufzudecken, sie persönlich zu erfahren und sich in sie

zu vertiefen. Sie betrachteten die Meditation nicht als eine Unterabteilung

ihrer Bemühungen, besser kämpfen zu lernen. Die Daoisten benutzten

ihr Nei-Gung-System vielmehr dazu, bei bester Gesundheit zu bleiben,

Krankheiten zu heilen und ihre eigenen inneren Energien ständig zu ver-

feinem, um die Geheimnisse der tiefen inneren Stille und der Spiritualität

in eigener Erfahrung verwirklichen zu können.

Das Training zur Entwicklung von Hochleistung in den Kampfkünsten

und im Wettkampfsport mit Hilfe der inneren Kraftmethoden des Nei

Gung hatte zwei klar unterschiedene Stadien. In dem leichteren ersten

Stadium ging es um das spezifische Ziel, die Gesundheit zu verbessern

und offensichtliche und verborgene Verletzungen zu heilen (siehe Kapitel

8). Das Nei Gung zur Verbesserung der Gesundheit zu trainieren, ist eine

notwendige vorbereitende Stufe, wenn man im Bereich der Athletik oder

der Kampfkünste Hochleistung erzielen will. Ein schwacher oder kran-

ker Körper ist keine ausreichende Grundlage für Trainingsmethoden, die

wirkliche körperliche Kraft und Geschwindigkeit erzeugen wollen. Die

Gesundheitsphase des Nei-Gung-Trainings beseitigt alle Verletzungen und

anderen Probleme, die ein hartes Training unmöglich machen könnten und

die die Chancen eines Schülers, schließlich in den Bereich der Hochleistung

vorzudringen, vereiteln würden. Wenn der Körper auf diese Weise gesünder

124

und kraftgeladener wird, kann er sich ganz natürlich besser, schneller und

mit mehr Kraft bewegen und wird ausdauernder.

Im zweiten Stadium des Trainings geht es dann ganz ausdrücklich um

Hochleistung. In diesem Stadium werden zwar die gleichen inneren Tech-

niken angewendet, nun aber mit einem deutlich höheren Maß an Einsatz.

Der Unterschied besteht nicht darin, was man trainiert (das heißt mit

welcher Komponente des sechzehnteiligen Systems man arbeitet), sonder

wie man trainiert. Man benutzt zwar dieselben Methoden wie zur Ent-

wicklung von Gesundheit, doch man muss jetzt viel härter arbeiten, mehr

Zeit investieren, andere Trainingskonzepte benutzen und seine eigenen

Anforderungen, was den Mindestleistungsstandard angeht, beträchtlich

nach oben schrauben. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, genügend

zusätzliche Anstrengungen aufzubringen, um in das nächste Stadium fort-

zuschreiten, in dem man nicht nur beste Gesundheit verwirklicht, sondern

auch außerordentliche Kraft.

Die Beziehung des Chi Gung zu den Formübungen in den Kampfkünsten

Innerhalb der Kampfkünste wird die innere Kraft durch zwei hauptsächliche

Methoden trainiert. Zu Beginn lernt man die innere Kraft zu entwickeln,

indem man das Nei Gung/Chi Gung erst einmal als eine getrennte Kunst

erlernt. Durch diese Schulung erreicht man mehrere Ziele: Die Gesundheit

des Körpers wird verbessert, man wird des Chi immer deutlicher gewahr

und bekommt ein Verständnis der Natur der inneren Arbeit, die für die

innere Kampfkunst, die man meistern will, nötig ist, das einem immer

mehr in Fleisch und Blut übergeht. Diese ganze innere Arbeit vollzieht

sich erst einmal unbelastet von der Notwendigkeit, die komplexe kör-

perliche Koordination zu erlernen, die zu einer guten Ausführung der

Bewegungen der Kampfkunst nötig ist. Wenn man etwas Neues beginnt,

so ist es in den frühen Stadien nicht nur leichter, eine Fertigkeit nach der

anderen zu erlernen, sondern dies ist auch auf lange Zeit gesehen eine

bessere Strategie für die Arbeit mit Körper und Geist. Es ist schwieriger,

zwei anspruchsvolle Fertigkeiten gleichzeitig zu erlernen, und es braucht

mehr Zeit. Hat jemand nur begrenzte Zeit zum Üben, so ist es besser, nur

eine Fertigkeit auf einmal anzugehen.

Als nächstes erlernt man die Bewegungen und Kampfanwendungen

der speziellen inneren Kampfkunst, die man ausüben möchte, und inkor-

125

poriert die neu erworbenen Nei-Gung-Komponenten in alle körperlichen

Bewegungen. Hat der Körper erst einmal mehr oder weniger die grundle-

gende Fähigkeit erworben, die innere Energiearbeit mit den körperlichen

Bewegungen zu verschmelzen, dann kann man sich darauf konzentrieren,

die innere Kraft zu maximieren. Diese Intensivierung lässt sich dann auf

immer fortgeschritteneren Ebenen des Trainings vollziehen, sowohl was

die Entwicklung der Soloformen der jeweiligen Kampfkunst angeht, als

auch im Kampftraining mit Gegnern.

Mit der zweiten Methode der Kultivierung innerer Kraft lernt man, wie

man die Nei-Gung-Arbeit in die körperlichen Bewegungen der Formen

der Kampfkunst einbringt, während man gleichzeitig die Formen erlernt.

Erreicht man dann eine mittlere oder fortgeschrittene Ebene der Übung,

praktiziert man als nächstes intensiv getrennte Chi-Gung-Übungsreihen

(die man zu Beginn der ersten Methode erlernt). Der Zweck dieses Sta-

diums ist eine dramatische Verschiebung des Schwerpunkts der Übung:

Man bezieht seine Kraft jetzt immer mehr aus dem Chi, statt sich, wie

man es zuvor gewohnt war, auf das körperliche Training zu verlassen.

Sobald dieses Stadium einmal stabilisiert ist, beginnt der Übende schließ-

lich die fortgeschrittenste Chi-Arbeit der inneren Kampfkünste innerhalb

der Kampfbewegungen selbst zu erlernen, also nicht mehr in separaten

Übungsreihen.

Die Diskussion hat sich bisher auf diejenigen konzentriert, die eine inne-

re Kampfkunst üben. Praktiziert man Aikido oder eine äußere Kampfkunst

wie Karate oder Tae Kwon Do oder eine äußere/innere Kampfkunst wie

das Silat oder viele Formen des Gung Fu, dann kann man seine inneren

Kraftreserven dadurch beträchtlich aufstocken, dass man Chi Gung erlernt.

Findet man einen Meister der inneren Kampfkunst, der dazu bereit ist und

der mental flexibel genug ist, dann kann der einem beibringen, das Chi

Gung in die spezifische eigene Kampfkunst zu integrieren. Schließlich

wurde das Tai Chi ursprünglich daraus entwickelt, dass man gewöhnliche

äußere Kampfkünste mit dem Nei Gung verschmolz. Auf dieselbe Weise

ließe sich das Nei Gung auch dem Karate oder jeder anderen, nicht gänz-

lich inneren Kampfkunst hinzufügen. Die Ausübenden des Aikido, die ja

bereits ein großes Interesse an Ki-Arbeit besitzen (Ki ist das japanische

Wort für das chinesische Chi) würden, gerade im Bereich der Gesundheit,

besonders davon profitieren, wenn sie ihre Praxis durch das systemati-

sche Chi-Training des Nei Gung/Chi Gung aufwerten würden. Nei Gung

kann die körperliche Fitness der Ausübenden einer äußeren Kampfkunst

126

verlängern, möglicherweise um Jahrzehnte, kann ihre Kreativität anregen

und ihnen helfen, die Langeweile zu überwinden, die sie vielleicht bei der

fortlaufenden Ausübung ihres Stils empfinden.

Drei grundlegende Vorschläge für einen realis-tischen Ansatz zur Erlangung von innerer Kraft

Um die Existenz von irgendeiner kostbaren Sache zu wissen, ist etwas

ganz anderes, als sie tatsächlich zu erwerben. Nei Gung hat den Menschen

schon seit Jahrtausenden Gutes getan. Indem ich diese Informationen

hier in kohärenter Form präsentiere, hoffe ich das Bewusstsein für diese

Dimension der Kampfkünste auf internationaler Ebene anzuheben. Es gibt

viele hoch motivierte, kreative und intelligente Menschen, die, wenn sie die

Implikationen dieser Informationen einmal begriffen haben, ein wertvolles

Instrument in die Hand bekommen könnten, mit dem sie künftigen Gene-

rationen behilflich sein können. Um das Nei Gung wirklich zu verstehen,

sollten Sie sich nicht mit unvollständigen Informationen zufrieden geben,

sondern den folgenden drei Vorschlägen folgen:

1. Verstehen Sie, worum es bei den Kampfkünsten selbst geht. Da Sie

nun um die sechzehn Komponenten wissen, beginnen Sie, in sich

selbst und in Ihrem Lehrer danach zu suchen. Wenn Sie sehen, dass

Ihr Lehrer eines oder mehrere der sechzehn Nei-Gung-Elemente

verkörpert, dann bitten Sie höflich darum, dass er Sie alle Elemente,

die er selber benutzt, lehrt. Dies mag etwas Hartnäckigkeit verlangen,

denn viele Lehrer geben solche Information nicht gern preis. Andere

werden jedoch großzügig genug sein, Sie zu unterweisen, wenn Sie

respektvoll darum bitten.

2. Als nächstes müssen Sie sich Klarheit darüber verschaffen, ob Ihr

Lehrer das ganze System, große Teile des Systems oder nur we-

nige Teile davon gelernt hat. Es ist nicht leicht einzuschätzen, ob

ein Lehrer das Nei Gung in Gänze oder nur zum Teil in sich auf-

genommen hat. Jedermann kann die richtigen Worte dahersagen,

aber tatsächliches Wissen zu besitzen, ist etwas ganz anderes. Der

untrainierte Schüler könnte sich leicht Shaolin-Konzepte und -Trai-

ningsmethoden andrehen lassen, die nur so aussehen, als seien sie

daoistisches Nei Gung. So könnte man zum Beispiel die Shaolin-

127

Technik des Tun Nu oder des „Einsaugens und Ausspeiens" mit dem

Nei-Gung-Prozess des Kai He verwechseln, der eine sehr viel stärker

verfeinerte Methode der Energiekontrolle darstellt als das aus dem

Shaolin stammende Pressen und Lösen der Muskeln.

3. Die wichtigste Voraussetzung für das Erlernen von Nei Gung ist,

dass man aktiv einen Lehrer sucht, der es beherrscht. Nur ein Leh-

rer, der das System sicher beherrscht, vermag zu erkennen, wann

die rechte Zeit gekommen ist, einen Schüler einen bestimmten Teil

des Systems zu lehren. Der Lehrer muss in der Lage sein zu sehen,

wann und wie der Schüler das ihm vermittelte Nei Gung verarbeitet,

und er muss einzuschätzen vermögen, wann der Schüler bereit ist,

mehr aufzunehmen. Um es kurz zu sagen: Beim Nei Gung muss der

Lehrer sorgsam über das Wachstum des Schülers wachen und es

lenken. In dieser Hinsicht gleicht der Lehrer dem sprichwörtlichen

Gärtner, der für das Wachstum des Schülers sorgt, der ausjätet, was

überflüssig ist, der aufpfropft und neu pflanzt, wo es nötig ist, und

der mit neuen Informationen düngt.

Der Prozess des Erlernens von Nei Gung

Nachdem Sie die leichteren Gesundheitspraktiken des Nei Gung erlernt

haben, üben Sie sich emeut in jedem der sechzehn Elemente, um die ma-

ximale innere Kraft hervorzurufen. In Ihrer Praxis werden Sie auf lange

Sicht gesehen durch Phasen gehen, in denen Sie in sich selbst drei klar zu

unterscheidende energetische Qualitäten manifestieren werden. Wie die

Proportionen zwischen diesen Eigenschaften aussehen, hängt davon ab,

in welcher der drei inneren Kampfsportarten Sie sich schulen. (Denken Sie

daran: Was hier diskutiert wird, ist die unsichtbare Energie innerhalb Ihres

Körpers, und das sind nicht die physischen Eigenschaften Ihrer Muskeln

oder anderen Gewebe, die nicht angespannt sein sollten und die im Idealfall

den besten Tonus beibehalten und völlig entspannt bleiben.) Eine dieser

Eigenschaften macht Ihre innere Energie und Ihre Energiekanäle sehr stark

Yin - also weich, amorph und entspannt -, und das wird Ihnen mit der

Zeit ermöglichen, Geschwindigkeit und mühelose und koordinierte flüs-

sige Bewegung zu manifestieren. Die zweite Eigenschaft wird die Energie

innerhalb Ihres Körpers sehr stark Yang machen - also komprimiert, genau

umrissen und hart -, was es Ihnen im Laufe der Zeit erlauben wird, sowohl

auf offensichtliche als auch auf subtile Weise Kraft zu projizieren. Das

128

Harte und das Weiche sind die entgegengesetzten Pole ein und derselben

Kraft. Die dritte Eigenschaft ist das Vermögen, im Fluss zu bleiben und

augenblicklich zwischen Härte und Sanftheit hin und her zu wechseln.

Die harten und weichen Attribute können sich als die Gesamtqualität

einer ganzen Kampfkunst oder Chi-Gung-Methode manifestieren oder auch

als ein Element innerhalb der einzelnen und spezifischen Nei-Gung- oder

Kampfkunst-Techniken. Der Kommentar des daoistischen Adepten Liu

Hung Chieh (siehe Seite 367) zur Praxis des Tai Chi Chuan, das relativ

weich ist, und auch des Ba Gua Chang, das relativ hart ist, sagt alles zu

dieser Situation. Liu sagte: „Wann immer ich in den mehr als vierzig Jah-

ren meiner Praxis das Gefühl hatte, dass mein Chi zu hart und zu stark

wurde, fühlte ich mich mit der Praxis des Ba Gua Chang nicht mehr recht

wohl; dann habe ich das Tai Chi stärker betont. Wenn ich mich durch die

Betonung des Tai Chi mit der Zeit nicht mehr recht wohl damit fühlte,

weil ich zu entspannt und zu leer wurde, und wenn ich wollte, das sich

mein Chi wieder solider und kräftiger anfühlte, dann habe ich die Praxis

des Ba Gua wieder stärker betont."

Reihenfolge für den Lernprozess

Hier ist ein Vorschlag für die Abfolge beim Erlernen des Nei Gung:

1. Lernen Sie eine körperliche Bewegung, entweder innerhalb eines

Chi-Gung-Programms, einer statischen Kampfkunst-Stellung oder

einer Kampfkunstform.

2. Lernen Sie, die Bewegung zu Förderung der Gesundheit und um

Ihren Körper und Ihr zentrales Nervensystem auf fortgeschritteneres

Training vorzubereiten, sanft auszuführen.

3. Führen Sie als nächstes eine Nei-Gung-Komponente in jeden ein-

zelnen Teil der Bewegung ein und konzentrieren Sie sich dabei auf

ihren härteren Aspekt. Diese Praxis sollte die innere Energie Ihres

Körpers stahlhart machen und sich im Laufe der Zeit als klar defi-

nierte äußere Kraft manifestieren.

4. Arbeiten Sie dann auf sanfte Weise an der Nei-Gung-Komponente,

bis die Härte auf mühelose, angenehme und entspannte Weise in

Ihr zentrales Nervensystem eingearbeitet ist.

5. Üben Sie schließlich intensiv weiter, bis Sie Ihre Energie willentlich

zwischen hart und weich umschalten können, und zwar sowohl

allmählich als auch augenblicklich, zunächst mit wenig Mühe und

schließlich mühelos.

129

Dieser Prozess der Konzentration zuerst auf hart, dann auf weich und dann

auf die Integration der beiden wiederholt sich bis ins Unendliche. Je mehr

energetische Härte sie in der gegenwärtigen Runde erreichen können, desto

größer ist Ihre Fähigkeit, in der nächsten Runde energetische Sanftheit

zu erreichen, was Ihnen wiederum die Möglichkeit gibt, in der nächsten

Runde, härter zu werden, als es Ihnen möglich gewesen wäre, wenn Sie die

Härte zuvor nicht mit Sanftheit integriert hätten. Dieser Zyklus wiederholt

sich immer wieder.

Der Nei-Gung-Prozess ist wie das Schmieden eines Samurai-Schwerts

Dieser ganze Prozess der Entwicklung der inneren Kraft des Nei Gung

lässt sich mit der Herstellung der Klinge eines Samurai-Schwerts verglei-

chen. Das klassische Samurai-Schwert, das Stärke, Biegsamkeit und eine

besondere Schärfe der Klinge verkörpert, wurde aus dem wahrscheinlich

besten Stahl der Welt geschmiedet.

Die Klinge eines Samurai-Schwerts wurde durch das nahtlose Zusam-

menfalten vielfacher Stahlschichten gefertigt. Jede Lage Stahl, die separat

von einem Meister-Schwertschmied und seinen Assistenten geschmiedet

wurde, wurde mit den früheren Lagen kombiniert, um Stärke und Halt-

barkeit zu erreichen.

Jede der sechzehn separaten Komponenten des Nei Gung ist wie eine

Stahlschicht eines Samurai-Schwerts. Wie beim Schmieden der einzelnen

Lagen von Stahl, die das Kernmetall des Schwertes bilden, verlangt das

Erlemen der einzelnen Nei-Gung-Komponenten, dass man jede ihrer vielen

einzelnen Schichten Tag für Tag in einem beständigen Strom der Praxis

wieder und wieder übt. Wer das Nei Gung ausübt, der arbeitet auf jeder

Stufe des Erlernens jeder einzelnen Nei-Gung-Komponente und auch der

Kombination mehrerer Nei-Gung-Komponenten mit den Eigenschaften von

Härte und Sanftheit und der Integration der beiden. Letztendlich ermög-

licht es diese Vorgehensweise dem Ausübenden der inneren Kampfkunst,

das Harte und das Weiche nahtlos miteinander zu verbinden. Schließlich

vermögen die fortgeschrittenen Ausübenden augenblicklich zu kontrollie-

ren, wie viel und welche Art von Kraft sie manifestieren, so als bedienten

sie den Dimmer-Schalter eines elektrischen Lichts. Diese Fähigkeit ist für

Wettkampfsportler ebenso nützlich wie für Kampfkünstler.

130

Schlaglicht auf einzelne Nei-Gung-Elemente: Der Prozess des Auflösens

Der Prozess der äußeren Auflösung

Eine Person kann lernen, durch den konzentrierten aber entspannten Ge-

brauch der geistigen Intention und des Herz-Geistes (siehe Seite 139) mit

einer Meditationstechnik, die der Prozess der äußeren Auflösung genannt

wird, Energieblockaden aufzubrechen und aufzulösen. Die Blockaden, die

körperliche, mentale, emotionale oder geistige Ursachen haben mögen,

können überall innerhalb des Körpers existieren und auch außerhalb des

Körpers in der ihn umgebenden Aura, dem bioelektrischen Feld. Solch

energetischen Blockaden lassen sich durch eine mentale Anstrengung

zerstreuen oder auflösen, und ihre Energie kann man dann nach außen

ausstoßen. Für den Kampfkünstler ist es wichtig, das energetische Feld, das

den Körper umgibt, zu klären, weil ihm das erlaubt, extrem sensibel für die

energetische Lücke zu sein, die sich zwischen ihm und dem Gegner befin-

det, und zwar bevor die Körper der Kämpfenden sich berühren. Wenn Sie

Ihre äußere Aura auflösen, laufen Sie als Kampfkünstler weniger Gefahr,

vom Geist Ihres Gegners überwältigt zu werden. (Wenn Ihre Aura völlig

aufgelöst ist, kann sie nicht beeinflusst werden.) Die äußere Auflösung

ist für alle stehenden Praktiken, das San Ti (siehe Seite 300), besonders

wichtig, ebenso wie für die Halte-Stellungen im Tai Chi.

Die Praxis der äußeren Auflösung erlaubt es Ihnen, Spannungen tief im

Inneren Ihres Körpers zu lösen (und sie nach außen auszustoßen), was die

Geschwindigkeit Ihrer Nervenreflexe erhöht und Ihre Reaktionszeit ver-

kürzt. Das macht es Ihnen wiederum möglich, sich schneller zu bewegen,

während Sie eine einzelne Technik ausführen oder während Sie von einer

Technik zu einer anderen übergehen. Die Auflösungspraktiken (sowohl die

äußeren als auch die inneren) verbessern Ihr Timing.

Der äußere Auflösungsprozess lässt sich dazu verwenden, jene Ener-

gieblockaden zu lösen, welche die Koordination zwischen Körperteilen,

deren wechselseitige Verbindung nützlich wäre, verhindern. Er beseitigt

auch Blockaden in den Energiekanälen, was es der Kraft erlaubt, aus dem

Körper heraus zu explodieren. Außerdem ermöglicht er es den Nerven, im

131

Bereich ihrer höchsten Kapazität zu funktionieren, was zu höchstmöglicher

Geschwindigkeit, besten Reflexen, größter Sensibilität und Ausdauer führt.

Die Heilung kleinerer und größerer Verletzungen mit Hilfe des Prozesses

der äußeren Auflösung ist wichtig für das ständige Fortschreiten und den

letztendlichen Erfolg sowohl für Athleten als auch für Ausübende der

Kampfkunst.

Wenn Sie die äußere Auflösung praktizieren, sucht Ihr Geist Ihren Körper

nach blockierten oder unbehaglichen Stellen ab. Solchen Blockaden mag

man an einem spezifischen Punkt begegnen, in einem Körperteil (Schulter,

Hüfte usw.), in einer ganzen Körperregion (Beine, Bauch, Rücken, Brust

usw.) oder in einem inneren Körperteil (Leber, Gelenk, Blutgefäß, Sehne

usw.). Dort, wo sie lokalisiert ist, mag eine Energieblockade es dem Kör-

per unmöglich machen, entspannt zu sein oder sich wohl zu fühlen. Der

Prozess der äußeren Auflösung ist ein meditatives Mittel, um Entspannung

und Wohlbefinden herbeizuführen. Er wird solange angewendet, bis sich

schließlich der ganze Körper zu entspannen vermag. Regelmäßige Entspan-

nung allein wird nicht unbedingt die Energieblockaden auflösen, die das

unbehinderte Zirkulieren des Chi im Körper vereiteln, und sie wird auch

nicht unbedingt Krankheiten heilen. Der Prozess der äußeren Auflösung

jedoch wird in China bereits seit Jahrtausenden angewandt, und er kann

tatsächlich heilen. Will man Tai Chi oder Ba Gua allein zur Verbesserung

der Gesundheit oder der Leistungsfähigkeit praktizieren, dann ist der Pro-

zess der äußeren Auflösung für diese Bedürfnisse ausreichend.

Der Prozess der inneren Auflösung

Der Prozess der inneren Auflösung benutzt ebenfalls den Geist, um blo-

ckierte Energie aufzulösen, aber bei diesem Prozess wird die gelöste ne-

gative Energie nach innen befördert, tief in den inneren Raum, und nicht

nach außen, also weg vom Körper, projiziert. Dieser innere Raum lässt sich

als ebenso grenzenlos erfahren wie das äußere Universum. Letztlich wird

der emotionale, mentale oder psychische Energiegehalt der Blockade in die

Tiefen des Bewusstseins hinein aufgelöst, in jenen spirituellen Bereich, den

die Daoisten „Leere" nennen. Die innere Auflösung lässt sich am besten

in der sitzenden Meditation erlernen.

Die innere Auflösung ist der wichtigste meditative Zugang zur Auf-

lösung emotionaler Schwierigkeiten wie etwa lähmender Einstellungen,

Fehlverhalten, zeitweiliger oder lebenslanger negativer Muster oder des

132

Mangels an Durchstehvermögen, wenn man sich mit emotional schwer

zu verkraftenden Situationen konfrontiert sieht.17 Probleme wie diese hin-

dern oft selbst die begabtesten Individuen daran, ihr volles Potential zu

entfalten. Eine gut ausgeglichene, stimmige oder zumindest realistische

emotionale Basis ist notwendig, um irgendetwas für längere Zeit gut aus-

führen zu können. Der Prozess der inneren Auflösung ist wesentlich für

die emotionale Stabilität, welche die Voraussetzung für Höchstleistungen

ist und die zweifellos nützlich ist, um der Egomanie entgegenzuwirken,

die oft eine Begleiterscheinung der Leistungen so genannter „Stars" ist.

Außerdem ist dieser Prozess ein Schlüssel zur Auflösung energetischer

Blockaden, die intellektuellen Leistungen im Wege stehen. Wenn sie auf

die richtige Weise praktiziert wird, kann diese Auflösungstechnik die spi-

rituelle Entwicklung ganz wesentlich fördern. Wird sie in die Strukturen

der inneren Kampfkünste inkorporiert, dann macht die innere Auflösung

des Nei Gung die Verwirklichung des gesamten Spektrums der körperlichen

und psychischen Kräfte dieser Kampfkünste möglich.

Die gleichzeitige Auflösung in den inneren und den äußeren Raum

Fortgeschrittene Auflösungsarbeit macht es möglich, die im Körper ge-

bundene Energie in beide Richtungen gleichzeitig aufzulösen - das heißt

aus dem Körper heraus und tief in das Innere des Bewusstseins hinein.

Um diese Fähigkeit entwickeln zu können, muss man sich der Praxis der

daoistischen Meditation allerdings über einen langen Zeitraum intensiv

widmen. Ganz allgemein kann man sagen, dass die Auflösungstechniken

eine Brücke zwischen Chi Gung, den Kampfkünsten und der Meditation

schlagen.

17 Dieser Auflösungsprozess kann und soll keine professionelle psychologische oder

psychotherapeutische Arbeit ersetzen. Wer also ernste emotionale oder psychische

Probleme hat, sollte auf jeden Fall einen ausgebildeten Psychotherapeuten aufsuchen,

bevor er oder sie einen der Auflösungsprozesse praktiziert.

133

Die Stadien des Fühlens: I, Chi und Hsin

Die vier Ebenen der Entwicklung des Chi sind im Ba Gua Chang zwar

ähnlich wie in den Künsten Tai Chi Chuan, Chi Gung und Aikido, aber

nicht genauso wie dort.

In allen Künsten der Chi-Entwicklung gibt es folgende Standardaussage:

„Der Geist führt, das Chi folgt dem Geist, das Blut folgt dem Chi und die

Kraft folgt dem Blut." Der Geist erzeugt Chi, das Chi bewegt das Blut, und

das Blut bringt Kraft hervor. Wie man aus diesem Axiom ersehen kann,

ist der Geist die Quelle jeglicher Errungenschaft in allen Chi-Künsten.

Der Geist hat jedoch zwei klar unterscheidbare Dimensionen (von denen

man auch sagen könnte, dass zwischen ihnen die wahre Demarkations-

linie zwischen der inneren Arbeit für Anfänger und für Fortgeschrittene

verläuft). Diese beiden Dimensionen des Geistes sind das, was die Chine-

sen das I (ausgesprochen „yi") nennen, den projizierenden, denkenden,

analysierenden Geist, und was sie Hsin oder den Herz-Geist nennen, aus

dem das Denken entspringt und in dem die Essenz des Menschenwesens

wohnt, noch bevor der Intellekt sich regt. Nach Ansicht der chinesischen

Philosophie ist das Hsin im Kern unseres Daseins lokalisiert, in unserem

Herzzentrum (dem Mittleren Dantien).

Die Natur des I oder der Intention

Den Menschen ist die Fähigkeit, zu denken, sich etwas vorzustellen und

zu fühlen, angeboren. Der Teil unseres Geistes, der Gedanken projiziert,

wird im Chinesischen I, der absichtsvolle Geist, genannt. Vermittels der

Vorstellungskraft kann der Geist den Körper weit über die Grenzen dessen,

was als „normal" gilt, hinaus aktivieren. Es gibt viele Theorien darüber,

wie die Verbindung von Geist und Körper hergestellt wird. In Wirklichkeit

sieht das folgendermaßen aus: Wenn Ihre Augen geschlossen sind, dann

besteht eine Weise, auf die Sie sie öffnen können, darin, dass Sie die

Empfindung in Ihrem Körper, die mit dem Chi Ihrer Augenlider und Ihrer

Augäpfel verbunden ist, verändern. Ihr Geist, der mit dem Chi verknüpft

ist, fühlt dann, wie sich das Chi mit dem Körper verbindet. Durch dieses

Gefühl denkt der Geist die Augen auf.

Wenn Sie kein Gewahrsein Ihres eigenen Körpers haben, werden Sie

Ihre Augen nicht fühlen; sie werden sich einfach physisch öffnen und

schließen. Wenn Ihr Geist ein gewisses Körpergewahrsein besitzt, werden

134

Sie spüren, wie die Muskeln und Gewebe Ihrer Augen sich regen und be-

wegen, während Ihre Augen sich öffnen und schließen. Gewinnt Ihr Geist

ein beträchtliches Körpergewahrsein, dann können Sie das Chi fühlen,

welches das Körpergewebe aktiviert, das Ihre Augen sich öffnen lässt. Die

Methoden für das I, Chi und Hsin, die im Folgenden diskutiert werden,

basieren auf dem Ansatz des Ba Gua. Das Tai Chi und das Hsing-I besitzen

ebenfalls solche Ansätze - manche ganz ähnliche, manche verschiedene -,

mit denen dasselbe Ziel erreicht wird.

Ebene 1: Ihren Körper und Ihr Chi fühlen Damit wir etwas fühlen

können, müssen sich entweder unsere physischen Nerven oder unsere

psychischen Nerven (das heißt unsere Kanäle subtiler Energie) zu einem

bestimmten Grad öffnen und müssen sensibel werden. Doch genauso wie

bei einer Person, deren Augen offen sind, deren Geist aber nicht spüren

kann, dass sie es sind, kann es sein, dass Ihr Chi sich zwar bewegt, dass Sie

es aber nicht fühlen. Auf dieser anfänglichen Ebene der Übung ist es höchst

unwahrscheinlich, dass Sie das Chi in Ihrem Körper fließen spüren. Um zu

lernen, das Chi direkt zu fühlen, müssen Sie sich zuerst darauf konzent-

rieren, die Fähigkeit zu erlangen, die einzelnen Teile Ihres Körpers separat

zu spüren (Schulterblätter, Wirbelsäule, Gelenke, das Innere des Bauches

usw.). Dann müssen Sie daran arbeiten, die Ganzkörperbewegungen des Ba

Gua oder der jeweiligen Chi-Kunst, die Sie praktizieren, zu fühlen.

Ebene 2: Übergangsbewegungen - die weitere Entwicklung des I Wenn

die Ziele von Ebene 1 erreicht sind, dann hat Ihr I (mentale Intention, Wille

oder Projektion) begonnen, das Chi durch Ihre Arme und Beine zu bewegen.

Doch die Bewegung von Ihrem Unteren Dantien durch Ihren Rumpf zu

Ihrem Nacken und Kopf ist ebenfalls wichtig. Hier müssen Sie sich intensiv

auf die Übergangsbewegungen konzentrieren, die eine statische Ba-Gua-

Armpositur mit einer anderen statischen Ba-Gua-Armpositur verbinden.

(Siehe Kapitel 6, Seite 335.) Das I wird das Chi in Bewegung bringen.

Außerhalb des menschlichen Körpers befindet sich die Aura; die ers-

te Schicht der äußeren Energie des Körpers beginnt gewöhnlich auf der

Ebene der Außengrenze der Haut und erstreckt sich in eine Entfernung

von etwa einer Faustbreite bis hin zu etwa eineinhalb oder zwei Meter in

den Raum. Es ist diese Schicht des Chi, welche die Energie, die aus dem

Kosmos kommt, in den Körper überträgt. Diese äußere Energiehülle, die

unmittelbar die Energie innerhalb des menschlichen Körpers stimuliert und

135

reguliert, wird im Allgemeinen der ätherische Körper (Chi-Körper) oder

die Aura genannt. Es ist allerdings auch so, dass die Energie innerhalb

des Körpers den ätherischen Körper erzeugt. Wie bei der Henne und dem

Ei, ist nicht zu sagen, welches von beiden zuerst kommt, und alles, was

auf einen der beiden Aspekte wirkt, wirkt auch auf den anderen. Dies ist

der Hauptgrund dafür, dass die Hände in allen Nei-Gung-Posituren, auch

im Tai Chi, Ba Gua und Hsing-I, nicht näher an den Körper herangeführt

werden als auf die Entfernung einer Faustbreite. Wenn sie näher an den

Körper herankämen, könnten sie die Energie, die zwischen dem physischen

Körper und dem ätherischen Energiefeld zirkuliert, kurzschließen.

Die Entfernung vom Körper, in der die Stimulierung des ätherischen

Körpers durch Ihre Hände jeweils am schwächsten und am stärksten ist,

liegt irgendwo innerhalb der Distanz von einer Faustbreit und wenigen

Dutzend Zentimetern. Dort, wo sie am stärksten ist, wird das Gefühl bei-

nahe greifbar für Sie sein, dort wo sie am schwächsten ist, ist das Gefühl

am wenigsten spürbar.

Während Sie in einer natürlichen Progression durch die Übungen der

Ebene 1 gehen, wird Ihr Lehrer Ihre Handbewegungen auf eine ganz be-

stimmte Weise lenken, um damit ein Vorantreiben des Chi durch spezifische

Energiekanäle in Ihrem Körper zu erleichtern, damit Sie Chi aus Ihren

Handflächen und Fingerspitzen projizieren können,. Diese spezifischen

Weisen der Bewegung werden gewöhnlich als Übergangsbewegungen von

einer statischen Positur zu einer anderen gelehrt. Anfangs werden Sie

die Übergangsbewegungen mehrfach ausführen, um Ihr Gefühl für den

Energiekanal zu stabilisieren. Mit der Zeit wird sich dann die Öffnung

dieser Energielinie durch das Halten der spezifischen statischen Positur

stabilisieren. An diesem Punkt werden Sie das Chi in diesem Kreislauf

fühlen, wie es sich bei Ihrer Handhaltung konsolidiert.

Diese Chi-Projektionen werden gewöhnlich ihren Energiefluss aufschlie-

ßen, und das wird in drei fortschreitenden Stadien geschehen: 1. durch

d e n Mittleren Erwärmer, de r z w i s c h e n d e m Unteren Dantien u n d dem

Mittleren Dantien liegt; 2. durch das Untere Dantien und von dort zu den

Armen und dem Kopf; und 3. schließlich vom Kopf zu den Füßen und von

den Füßen zum Kopf, wobei die Bewegung zuerst an der Körperoberflä-

che geschieht (einschließlich der Wirbelsäule und des Rückens) und dann

tiefer in die inneren Organe und Knochen vordringt. Schließlich bewegt

sich das Chi in diesem dritten Stadium durch den Zentralkanal und das

Knochenmark. Die mentale Projektion und Visualisierungsmethode, die

136

das Chi bewegt, wird I Chu Dzuo genannt oder „die Intention bewegt das

Chi". Dies ist die leichteste Weise, Zugang zum Chi im Körper zu gewin-

nen, aber nicht die machtvollste Ebene des Chi im Körper. Sie ist jedoch

ausreichend zur Förderung der Gesundheit und zum Zweck der Heilung

und der Selbstverteidigung.

Ebene 3: Spezifische Arbeit mit den Energiekanälen Auf dieser Ebene

der Übung beginnt man, das Chi mühelos durch den Körper zu lenken, in-

dem man allein das bewusste Denken benutzt. Wenn man Ba Gua übt, dann

muss man jetzt die Beziehung zwischen einer bestimmten Körperbewegung

und dem Energiefluss in den Energiekanälen des Körpers kennen. Je nach

dem Kenntnisstand und der Art der Kenntnisse Ihres Lehrers wird dieses

Material gewöhnlich auf drei verschiedene Weisen gelehrt. Eine dieser drei

Methoden, die auf die Selbstverteidigung abgestellt ist, scheint für die meis-

ten die leichteste Weise zu sein, diese Arbeit zu erlernen. Denken Sie, dass

ein nicht ausreichend qualifizierter Lehrer Ihrer Bitte vielleicht nicht zu

entsprechen vermag, wenn Sie ihn nach expliziter Information zu diesem

Thema fragen, und dass ein Meister, aus welchen Gründen auch immer,

auf Ihre Bitte vielleicht nicht eingehen will. Die drei Ansätze sind:

1. Es wird gelehrt, wie man die Energie von Punkt zu Punkt lenkt, um

Kraft zu entwickeln. Dieser Ansatz ist gewöhnlich mit Selbstver-

teidigungsanwendungen verbunden und stellt die für Schüler am

leichtesten zu erlernende Methode dar, weil die Kampfanwendungen

sehr konkret sind und man sie sich relativ leicht einprägen kann.

Selbst wenn Sie sich vor Gewalt fürchten oder sie verabscheuen,

wird eine zumindest rudimentäre Kenntnis der Ba-Gua- (oder Tai-

Chi-)Selbstverteidigungsanwendung einer bestimmten Bewegung

(die gewöhnlich eines sehr viel tiefer gehenden Trainings bedarf,

wenn Sie sie tatsächlich zur Selbstverteidigung anwenden möchten)

Ihnen eine praktische und verlässliche Methode an die Hand geben,

wie Sie Ihre Chi-Pfade mental aktivieren können. Diese grundle-

gende Chi-Praxis ist auch ein sehr praktischer Grund dafür, die

elementaren Selbstverteidigungsanwendungen von Tai Chi, Ba Gua

und anderen inneren Kampfkünsten selbst dann zu erlernen, wenn

Sie kein Interesse an tatsächlichem Kämpfen haben.

2. Das Funktionieren der Chi-Zirkulation wird entweder aus der Pers-

pektive der praktischen medizinischen Wirkungen und der Vorteile,

die man persönlich aus diesen Kenntnissen gewinnt, gelehrt oder in

137

Hinsicht darauf, wie die von einer Bewegung aktivierte Energie in

der Chi-Gung-Therapie oder -Körperarbeit angewendet wird. Nach

normalem westlichem Verständnis werden Gegensätze als antago-

nistisch aufgefasst. Vom Standpunkt des 1 Ging und des Daoismus

gesehen, sind Gegensätze komplementärer Natur und besitzen inein-

ander übergehende Eigenschaften. Dementsprechend kann dieselbe

grundlegende Energiepraxis dazu benutzt werden, entweder zu hei-

len oder Schaden zuzufügen (sich selbst oder anderen), je nachdem,

welche Absicht dahinter steht und wie man sie anwendet.

3. Bewegungen und Kenntnisse über den Fluss des Chi werden ver-

mittelt, indem man eine Geschichte oder Allegorie verwendet; diese

Methode wird zum Zweck der Meditation verwendet. Hier ruft die

Energie, die sich entlang bestimmter Chi-Bahnen bewegt, einen

spezifischen Bewusstseinszustand oder bestimmte Gefühle hervor.

Während die Geschichte erzählt wird, überwacht der Lehrer den

Prozess und passt die Geschichte entsprechend an, um den Ener-

giefluss im Zuhörenden so stark wie möglich zu stimulieren.

Ein Ergebnis der Übung mit einer dieser drei Weisen, das Chi durch Ihren

Körper strömen zu lassen, wird sein, dass Sie beginnen, die Fähigkeit zu

entwickeln, Energie in Ihrem Unteren Dantien zu speichern und zu stabili-

sieren, so als sei dieses eine Batterie oder ein Vorratstank. Aber eine Batterie

kann nicht nur Energie speichern, sie kann sie auch freisetzen. Nachdem Sie

eine gewisse Menge an Chi in Ihrem Unteren Dantien gespeichert haben,

gehen Sie nun einen Schritt weiter: Sie lernen, Chi augenblicklich in jedem

Punkt in Ihrem Körper zu speichern oder es daraus freizusetzen.

Ebene 4: Hsin oder der Herz-Geist Die I-Chu-Dzuo-Methode kann Sie

nur bis zu diesem Punkt bringen. Die Menge an mentaler Energie, die

Sie bis hierher eingesetzt haben, ist beträchtlich. Dennoch gehorcht das

Chi Ihrem bewussten Denken bislang nur oberflächlich. Die hier bisher

vorgestellten Ebenen 1, 2 und 3 bereiten Sie auf die Nei-Gung-Phase der

Energiearbeit im Tai Chi und Ba Gua vor, die nicht mehr so sehr auf dem I,

sondern vielmehr auf dem Hsin und dem Prinzip des Chi Chu Dzuo basiert.

Auf der I-Ebene der Übung muss Ihr Geist denken, um das Chi durch

den Körper zu lenken, und er muss ziemlich viel physische und mentale

Energie dazu aufwenden. Jetzt jedoch müssen Sie über Ihr bewusstes

Denken hinausgehen und sich der tiefsten Essenz Ihres Daseins bedienen,

ihres unbewussten Herz-Geistes, um in direkten Kontakt mit Ihrem Chi

138

zu kommen. Die I-Methode enthält noch eine Getrenntheit von I und Chi,

das heißt, Ihr bewusstes Denken beeinflusst Ihr Chi dahingehend, dass es

sich bewegt, ist aber noch nicht völlig eins damit.

Direkte und indirekte Bewegung des Chi

Der rationale, analysierende und berechnende menschliche Geist (Ver-

stand/Gehirn) vermag die Menschen gewöhnlich nicht dahin zu bringen,

dass sie sich vollkommen wohl in ihrer Haut fühlen. Das Denken und die

Imagination können zweifellos genügend Chi erzeugen, um Ihren Körper

einigermaßen gesund zu machen, ohne dass Sie dabei jedoch in innerem

Frieden ruhen und harmonische Beziehungen zu anderen Menschen ha-

ben. Um die grundlegende Beschaffenheit und innere Wirklichkeit Ihres

bewussten Geistes verändern zu können, müssen Sie tiefer in seine Wurzel

eindringen. Die I-Intention kann Ihnen helfen, Dinge zu erledigen, aber

sie wird nicht die innere Struktur Ihres Daseins verändern können. Das

kann nur der Herz-Geist oder das Hsin.

Im Westen nennen wir das Hsin das Unterbewusstsein oder den intuiti-

ven Geist. Für die Chinesen ist es die Quelle, aus der das Denken aufsteigt.

Lassen Sie Ihr I, Ihre Intention (Willen, Absicht), zu einem äußeren Objekt

hin fließen. Versuchen Sie als nächstes, so gut es Ihnen möglich ist über

die Form dieses Objekts hinauszugehen, das heißt über seine Gestalt, seine

Farbe, seine Größe - was auch immer seine physischen Eigenschaften sein

mögen. Transzendieren Sie identifizierende Wörter, Namen und alle ande-

ren Ideen, die mit dem Objekt verbunden sind. Versuchen Sie nun aus der

Tiefe Ihres Seins ganz authentisch zu begreifen, was dieses Objekt in seiner

Totalität ist, ohne dass Ihr denkender Geist sich in die direkte Beziehung

zwischen dem Objekt und der Essenz Ihres Seins einmischt. Auch wenn Sie

Ihres bewussten Denkens (denkenden Geistes) gewahr sind, funktionieren

Sie jetzt vom Hsin, dem Kern Ihres Seins, aus.

Nach Ansicht der Chinesen ist der wahre Geist eines Menschen in der

subtilen Energie seines Herzens angesiedelt- dem Zentrum seines Seins.

Aus dieser Energie gewinnt man das höhere mentale Vermögen, das Ba

Gua zu praktizieren.

Wenn Sie die I-Techniken bis hin zu der und einschließlich der dritten

Ebene hinreichend geübt haben, wird sich ein Vorrat von Chi in Ihrem Un-

teren Dantien angesammelt haben. Diese Ansammlung ist keineswegs nur

eine Idee oder eine abstrakte Vorstellung von Chi, sondern wirkliches Chi,

139

das Sie spüren können. An diesem Punkt können Sie nun damit beginnen,

langsam das Hsin zu nähren, bis es mit dem zentralen vereinenden Chi

Ihres Körpers, dem Jeng Chi, das im Unteren Dantien angesiedelt ist, in

Kontakt zu treten und damit zu verschmelzen vermag. Sie sollten nun einen

direkten, tiefen Kontakt zum Chi Ihres Körpers auf seinen tiefsten Ebenen

haben und können deshalb beginnen, all die daoistischen Nei-Gung-Prak-

tiken zu benutzen, die für das Ba Gua und das Tai Chi von Nutzen sind.

Außerdem sollten Sie jetzt auch in der Lage sein, Ihr Chi nicht nur auf die

wesentlichen Körperprozesse auszurichten (Organe, Drüsen, das Gehirn, das

zerebro-spinale System, die weichen Gewebe und die Knochen), sondern

auch die verschiedenen Aspekte all dessen, was die Daoisten unsere acht

Energiekörper nennen (physischer, Chi/ätherischer, emotionaler, mentaler,

übersinnlicher und kausaler Körper sowie Individualität und das Dao).

Durch das Aufblühen dieser Praxis wird ihr potentielles Sein schrittweise

verwirklicht, während Ihr bewusstes Gewahrsein des Hsin zunimmt. Schritt

für Schritt werden Sie fähig, nicht nur Ihres persönlichen Chi gewahr zu

sein, sondern auch des Universalen Chi, das die Quelle aller manifestierten

Form und aller nichtmanifestierten Essenz ist. Diese Ausrichtung auf das

Hsin als das wesentlichste Element aller Praktiken des chinesischen Bud-

dhismus und des Daoismus führt schließlich zu der „direkten Bewegung

des Chi", dem Chi Chu Dzuo. Damit man das Chi Chu Dzuo praktizieren

kann, muss das Hsin entwickelt sein. Man könnte sagen, dass die I-Methode

eine stärker äußerliche Chi-Gung-Praxis ist, durch die das äußere Chi da-

hingehend manipuliert wird, dass es in den Körper eindringt, während das

Chi Chu Dzuo eine eher innere Chi-Gung-Praxis ist, durch die Energie aus

der Tiefe unseres Geistes und aus dem Zentrum unseres inneren Chi zum

Zirkulieren gebracht wird. Allein die Methode des Hsin Nei Gung führt zu

Bildung des Nei Dan, des „inneren Elixiers" (wörtlich „innerer Zinnober"

oder „innere Pille", auch das „kosmische Ei" genannt), auf dem die fort-

geschrittenen Chi-Praktiken der daoistischen inneren Alchimie basieren,

welche die Grundlage der höheren Meditationspraktiken des Daoismus ist.

Bei der Praxis des I Chu Dzuo bleibt immer eine winzige Lücke zwischen

dem Denken des Geistes und der Bewegung des Chi bestehen. In der Chi-

Chu-Dzuo-Methode werden Ihr Geist und das Chi eins.

In den daoistischen Nei-Gung-Praktiken, einschließlich des Ba Gua und

des Tai Chi, entwickelt der Ausübende früher oder später nicht nur das Hsin

(der Urgrund der Meditation), sondern gleichzeitig eine direkte Kontrolle

des Chi im Körper, das für den organischen Wandel auf der zellulären

140

Ebene notwendig ist. Es ist vor allem die Chi-Chu-Dzuo-Methode, die für

die erstaunliche Kraft und Vitalität so vieler achtzig- und neunzigjähriger

Ausübender des Tai Chi und Ba Gua in China verantwortlich ist.

Die I-Chu-Dzuo-Methode ist so, als wisse man um den Schatten der

Chi/Geist-Verbindung in einem selbst, während einem die Chi-Chu-Dzuo-

Methode eine unmittelbare Erfahrung dieser Verbindung verschafft. Die

Chi-Chu-Dzuo-Methode, die auf dem Hsin basiert, ist wahrscheinlich die

höchste Ebene der daoistischen Arbeit mit dem Chi, während die I-Chu-

Dzuo-Methode leichter auch von gewöhnlichen Menschen angewendet

werden kann. Die Chi-Chu-Dzuo-Methode, die auf dem daoistischen Nei

Gung beruht, lernt man am besten unter der persönlichen Anleitung eines

echten Adepten. Die meisten Menschen können schließlich die Fähigkeit

zur Praxis des Hsin/Chi Chu Dzuo erlangen, wenn sie sich entspannen und

mit Ausdauer üben - was die Voraussetzung dafür ist, dass ein Individuum

authentisches inneres Gung Fu (Fertigkeit) in irgendeinem Studienbereich

erlangt.

Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua -Was ist hier gleich und was unterschiedlich?

Alle drei Inneren Kampfkünste haben ähnliche Techniken der Kultivierung

des Chi und des Kampfes. Sie praktizieren sie nur auf ganz unterschiedliche

Weise. Ihre spezifischen Übungsweisen bringen auch ganz unterschiedliche

Körpertypen hervor; sie fördern unterschiedliche Denkstrategien und haben

unterschiedliche philosophische Ansätze, was das Erreichen von Zielen

angeht. Jede von ihnen hat ihre Stärken und ihre Schwächen.

Das Hsing-I hat unter den drei Künsten die einfachste innere Struktur,

Tai Chi ist in der Mitte einzuordnen, das Ba Gua ist am komplexesten. Die

langsamen und rhythmischen Bewegungen des Tai Chi sind für die meisten

Menschen - besonders für Kranke und Behinderte - körperlich und mental

am leichtesten zu erlernen, während das Erlernen der Bewegungen des Ba

Gua am schwierigsten ist. Das Hsing-I ist im Allgemeinen für junge Leute

am attraktivsten, das Tai Chi eher für ältere Menschen, während das Ba

Gua Jung und Alt gleichermaßen anspricht. Ungeachtet des Alters scheint

141

im Körper eine machtvolle Synergie zu entstehen, wenn man die äußerste

Sanftheit der Yin-Energie des Tai Chi mit der Kraft verbindet, die das Yang

des Ba Gua entwickelt.

Anfangs ist das Hsing-I die leichteste und praktischste Weise, das Kämp-

fen zu lernen, Tai Chi ist am verwirrendsten, und das Ba Gua ist letztlich

die kompletteste und wirksamste Methode. Manche Schulen des Ba Gua

und des Wu-Stil Tai Chi sind stärker meditativ orientiert als das Hsing-I

oder andere Stile des Tai Chi.

Philosophische Perspektiven: Hart, Weich und Wandel

Die drei Künste unterscheiden sich psychologisch und philosophisch von-

einander. Hsing-I konzentriert sich auf den direkten Ansatz, die aggressive

Vorgehensweise. Zu den charakteristischen Merkmalen der Hsing-I-Men-

talität gehört es, geradewegs auf ein Problem zuzugehen, alle Hindemisse,

die auftauchen, zu überwinden, ein außerordentlich großes Selbstvertrauen

zu haben, das sich mit keiner Niederlage abfindet, und beim Erreichen

von Zielen eine „packen wir's an"-Mentalität an den Tag zulegen. Mental

gesehen, ziehen Ausübende des Hsing-I sich niemals zurück. Für sie ist ein

Schritt zurück nur eine zeitweilige taktische Situation, die es ihnen erlaubt,

mit dem weiterzukommen, was ihr Hauptanliegen ist, nämlich Angreifen

und Siegen. Die beiden Aussagen, die das Hsing-I charakterisieren, sind

„Mein Wille geschehe" und „Kein Rückzug". Dies sind die Schlachtrufe,

mit denen ein Hsing-I-Kämpfer vorwärts geht und einen Gegner auf die

aggressive Weise besiegt. Diese harte, militaristische Einstellung ist ganz

nützlich, wenn man einen erfolgs- und wettkampforientierten Geist und

die entsprechende Selbstdisziplin kultivieren möchte. Sie hilft außerdem

einem Menschen, der ein schwaches oder verletztes Ego hat, wieder zu

einem positiven Selbstbild zu gelangen.

Das Tai Chi betont Sanftheit; es erreicht seine Ziele auf eine indirekte,

nicht-offensichtliche Weise, subtil und indem es um Hindernisse herum

fließt, statt sie frontal anzugehen. Täuschungsmanöver, dem anderen kei-

nen festen Punkt zum Angreifen zu liefern, feinfühlig und vorausschau-

end zu sein und über alle möglichen Strategien des Gegenangriffs zu

verfügen - das alles gehört zum psychologischen Profil des Tai Chi. Eine

Tai-Chi-Haltung wird einem Gegenstand, einer Person oder Situation nur

minimalen oder gar keinen Widerstand entgegensetzen. Ein Tai-Chi-Adept

142

wird einer auf ihn zukommenden Kraft nachgeben, und, während er schein-

bar Schwäche demonstriert, diese Kraft in sich hineinziehen, sie umgehen

wie Wasser, das um einen Felsblock herum fließt, und dann in dem Moment

einen Gegenangriff starten, wo es am wenigsten erwartet wird.

Die Handlungsmaximen im Tai Chi sind „Vergiss dich selbst und folge

dem anderen" und „Dein Wille geschehe", so dass der Gegner bekommt,

was er will, aber nicht auf die von ihm erwartete Weise. Indem der Tai-Chi-

Kämpfer durch das Nachgeben dem Gegner gibt, was dieser will, manövriert

er sich von einer Position der Schwäche in eine vorteilhafte Position.

Das Hauptprinzip des Tai Chi besteht darin, jede anstürmende Kraft

oder jeden Widerstand zu absorbieren und die Energie dieser Kraft zu

nutzen, um sie zu besiegen. Anders als das Hsing-I, mag das Tai Chi nicht

angreifen, doch wenn ein Tai-Chi-Kämpfer angegriffen wird, dann benutzt

er die Energie des Angriffs, um den Angreifer zu besiegen. Auch wenn

sowohl Tai Chi als auch Hsing-I nur innere Prinzipien benutzen, sind ihre

Strategien zum Umgang mit Problemen oder schwierigen Situationen doch

diametral entgegengesetzt. Das Tai Chi ist defensiv, während das Hsing-I

aggressiv ist. Doch in dem weichen, samtenen Handschuh des Tai Chi

steckt eine Faust aus Stahl.

Die Tai-Chi-Philosophie ist besonders nützlich für gestresste Menschen,

denen es schwer fällt, sich zu entspannen, wenn sie sich Druck ausgesetzt

sehen. Für solche Individuen kann es von Nutzen sein, wenn sie lernen,

loszulassen und sich zu entspannen und in den vielen Situationen, in denen

es keine Möglichkeit gibt, Kontrolle auszuüben, sich dem Unausweichli-

chen zu fugen. In den boomenden Wirtschaftsregionen Nordostasiens ist

Tai Chi das beliebteste Stressreduktionsprogramm für den erfolgreichen

Geschäftsmann und Manager. Während der Hsing-I-Ansatz seiner Natur

nach sehr hart, linear und maskulin ist, ist das Tai Chi in seiner Vorgehens-

weise sanft, rund und feminin. Beide Ansätze sind gleichermaßen kraftvoll

und effektiv. Das Tai Chi wäre psychologisch wertvoll für jemanden, der

die Yin-Elemente Empfänglichkeit und Sensibilität erfolgreich mit den

Yang-Elementen Kraft und der Fähigkeit, Ziele zu erreichen, kombinieren

möchte.

Psychologisch gesehen, beruht das Ba Gua auf der Idee, dass man in der

Lage sein sollte, flüssig von einer Situation zu einer anderen überzugehen.

Gewahrsein und die Fähigkeit zur Anpassung an den natürlichen Fluss der

Dinge sind seine wichtigsten Leitlinien. Anders als das Tai Chi beziehungs-

weise das Hsing-I, besitzt die Kunst des Ba Gua weder eine harte noch eine

143

weiche Philosophie, obgleich sie beide Strategien anzuwenden weiß, wenn

das von Vorteil ist. Wandel und die Suche nach Natürlichkeit in all ihren

Aktionen ist die Hauptleitlinie. Das Ba Gua benutzt alle vierundsechzig

psychologischen und spirituellen Paradigmen der 64 Hexagramme des

I Ging, ohne auf irgendeine von ihnen festgelegt zu sein. Damit ist das

Ba Gua eine größere Herausforderung als das Tai Chi beziehungsweise

das Hsing-I.

Im Ba Gua kümmert man sich weder sonderlich um sich selbst noch

um den Gegner. Stattdessen geht es einfach um das, was sich in genau

diesem Moment ereignet. Hier schenkt man seine Aufmerksamkeit nicht

nur der eigenen Energie sowie der des Gegners, sondern auch der Energie

der Umwelt, einschließlich der Erde, der Sterne, des Himmels, der Bäu-

me und aller natürlichen energetischen Kräfte, die uns umgeben. Damit

unsere Bewegung und unsere Projektion von Kraft in Harmonie mit der

Kraftmatrix sein können, die sich aus all diesen uns umgebenden Ener-

gien ergibt, müssen wir unser Ich-Empfinden und alle Pläne zurücklas-

sen. Die machtvollen Selbstverteidigungsanwendungen des Ba Gua sollte

man als bloße Nebenprodukte dieser Interaktion ansehen und nicht als

Selbstzweck. Tatsächlich üben viele Menschen in China das Ba Gua ohne

jegliche kämpferische Ambitionen. Sie konzentrieren sich stattdessen auf

seine gesundheitlichen und meditativen Aspekte oder auf die pure Freude,

mit den Kräften der Natur zu verschmelzen.

Das Ba Gua hat auch viel mit den Tai-Chi-Grundprinzipien von Sanft-

heit und Nachgiebigkeit gemeinsam. Tatsächlich folgt das Ba Gua vielen

der Prinzipien der Tai-Chi-Klassiker wie: 1. den Fluss der inneren Energie

von Positur zu Positur nicht unterbrechen; 2. erkennen, dass der Körper

fünf „Bögen" (Biegungen) besitzt; 3. das Gerade durch das Gekrümmte

erreichen; 4. auf die Energie hören; 5. die Energie richtig beurteilen; 6. Den

Gegenangriff vortragen, indem man beginnt, nachdem der Gegner begon-

nen hat, aber ankommt, bevor sein Angriff beendet ist.

Wie die drei inneren Kampfkünste sich bewegen

Üblicherweise werden verschiedene Analogien benutzt, um zu beschreiben,

wie die für die drei inneren Kampfkünste typischen Bewegungen aussehen

und wie sie sich anfühlen. Tai Chi ist flüssig wie das Wasser, aber verwurzelt

wie die Erde. Hsing-I ist wie ein Berg, eine feste, nicht zu bewegende Kraft,

mit einer leichten und agilen Fußarbeit. Ba Gua ist wie ein Wirbelsturm

144

oder wie der Steppenläufer'8 der sich frei mit dem Wind bewegt. Entspre-

chend gibt es Gleichnisse für die Art von Körper, die durch die jeweilige

Praxis entwickelt wird: Tai Chi ist wie ein Gummiball; Hsing-I ist wie eine

Eisenstange; Ba Gua ist wie biegsamer Stahl. Ein durch die Praxis des Ba

Gua trainierter Körper ist außerordentlich elastisch und stark. Er ist auch

ziemlich entspannt, jedoch nicht von der Art extremer Entspannung, wie

man sie mit dem Tai Chi verbindet. Während der Ba-Gua-Körper nicht

so entspannt ist wie der Tai-Chi-Körper, gilt er im Allgemeinen als der

stärkere der beiden.

Alle drei inneren Künste sind fähig, enorm viel Kraft zu absorbieren

und zu projizieren. Als Kampfkunst unterscheidet sich das Ba Gua von

den beiden anderen, weil es nicht nur seine eigenen spezifischen Eigen-

schaften besitzt, sondern auch die Eigenschaften von Tai Chi und Hsing-I

umfasst. Das Hsing-I besitzt eine machtvolle und durchdringende Energie,

die durch die Arm/Hand-Verteidigung eines Gegners hindurchzuschneiden

vermag wie ein heißes Messer durch Butter. Manche Ba-Gua-Praktizie-

rende entwickeln so viel Kraft, dass sie nicht einmal kreiseln müssen.

Ihre Füße scheinen sich nicht zu bewegen. Sie können allein durch eine

Hüftdrehung zu Ihnen hindurchdringen. Diese Methode hat Ähnlichkeit

mit dem Hsing-I. Andererseits verkörpert das Ba Gua auch die Fähigkeit

des Tai Chi, nachzugeben und aus dem Weg zu gehen, besonders wenn

es das Dai benutzt, die Technik des Führens (auf der das Aikido basiert).

Während das Hsing-I als hart gilt und das Tai Chi als sanft, ist das Ba

Gua keines von beidem. Es vermag ebenso hart zu sein wie auch weich,

aber seine Essenz ist der Wandel. Es ist deshalb in der Mitte zwischen Hart

und Weich angesiedelt. Ein Adept des Ba Gua kann seine Posituren oder

Bewegungen augenblicklich so anpassen, dass sie den Bedürfnissen des

jeweiligen Moments entsprechen.

Die Betonung von Fußarbeit, Hüfte und Händen

Auf welcher Ebene des Ba Gua man sich auch befindet, man darf nie

länger als einen Sekundenbruchteil an einem Ort stehen bleiben. Wer das

Tai Chi praktiziert, der wird eine Positur einnehmen und sie beibehalten,

sich aus der Hüfte bewegen und den Gegenangriff starten. Praktizierende

18 Der Steppenläufer ist eine Pflanze (aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse), eine

Art im Wind rollender Busch. (Anm. d. Übers.)

145

des Hsing-I werden sofort auf den Gegner losgehen oder ihre Stellung

halten und den Kampf dort austragen. Im Gegensatz dazu ist die erste

und wichtigste Zielsetzung eines Ba-Gua-Praktizierenden, in Bewegung

zu bleiben. Alle Bewegung, ob offensiv oder defensiv, beginnt in den Fü-

ßen. Im Ba Gua bewegt sich eine Hand nie allein. Damit eine Hand sich

bewegen kann, muss sich auch ein Fuß bewegen, entweder im Raum oder

durch eine Veränderung des Drucks auf den Boden.

Dieser Ansatz unterscheidet sich von dem des Hsing-I, wo die Hand alle

Bewegungen anführt und die Hüfte und der Fuß folgen, oder dem des Tai

Chi, wo alles von der Hüfte ausgeht und die Hand und der Fuß folgen. Im

Ba Gua bewegt sich der Fuß, und der ganze Körper bewegt sich mit ihm.

Dieser Unterschied trifft für alle Schulen des Ba Gua zu. Wenn eine Akti-

on trotzdem von der Hüfte oder der Hand angeführt wird, dann bedeutet

das gewöhnlich, dass die Ba-Gua-Technik hier mit Methoden aus dem

Tai Chi oder dem Hsing-I vermischt worden ist. Eine solche Vermischung

ist of im Westen anzutreffen, wo die Praxis einer der drei Künste oft mit

Eigenschaften der anderen beiden vermischt worden ist.

Im Ba Gua muss man, ob man stillsteht oder sich bewegt, stets die

eigene Verwurzelung bewahren, ganz gleich, wie schnell oder in welche

Richtung man sich bewegt. Es gibt hier kein vertikales Auf-und-ab-Hüp-

fen von Schritt zu Schritt. Die Bewegung ist ein Kontinuum mit einem

flüssigen Übergang von einer Positur zur nächsten. Auch wenn ein Schritt

während eines Kampfes vielleicht nur eine Zehntelsekunde dauert, so muss

die Wurzel in diesem Augenblick dennoch stark sein. Dieser Augenblick

sollte ausreichen, um sich auf den Gegner einzustellen. Wenn das nicht der

Fall ist, sollte der Kämpfer in Bewegung bleiben, bis er eine vorteilhafte

Position erreicht hat.

Gemeinsamkeiten

In allen drei inneren Kampfkünsten ist es möglich, durch die Bewegung

eine innere Kraft zu erzeugen, die sich durch körperliche Techniken nach

außen lenken lässt, um einen Gegner zu kontrollieren oder ihn zu verlet-

zen. Bei jeder dieser Künste konzentrieren die Kämpfer all ihre Kreativität

und Intelligenz darauf, zu lernen, wie sie diese Kraft aus ihrem Körper

projizieren können. Die gesamte Chi-Arbeit wird darauf ausgerichtet sein,

ein Maximum an Kraft, Geschwindigkeit, nützlicher Flexibilität sowie der

Fähigkeit, rasch die Techniken zu wechseln, hervorzubringen. Dieses Trai-

146

ning wird sehr viel mehr konzentrierte körperliche Anstrengung verlangen,

als zu Erlangung von Gesundheit und langer Lebensdauer eigentlich nötig

wäre - Dinge, die ein Kämpfer als ein Nebenprodukt der daoistischen

Übungen zur Stärkung der inneren Kraft sowieso erlangt. Viele Anfänger

der inneren Kampfkünste übertreiben das Training aufgrund eines über-

steigerten Enthusiasmus, was manchmal zu Erschöpfung und zu Verlet-

zungen führen kann. Um so etwas zu vermeiden, sollten die Übenden die

schwierige Lektion lernen ihr Training auf 70% dessen, was der Körper

aushalten kann, zu beschränken. (Wo eine Verletzung oder eine körperliche

Behinderung vorliegen, sollte der Prozentsatz noch geringer sein.)

Schwachpunkte

Ein Ausübender der inneren Kampfkünste muss seine Kraft ständig an

überlegenen Gegnern messen, um die Wirksamkeit seines Trainings ein-

schätzen zu können. Dadurch testet er den Fortschritt seiner Kraft, seiner

Meisterung des Stils und seiner Vertrautheit mit einem breiten Spektrum

an Techniken. Das Wichtigste dabei ist jedoch, dass so die Schwachpunkte

offensichtlich werden, so dass der Übende zu analysieren vermag, wo

seine Fertigkeiten noch mangelhaft sind, damit er Wege suchen kann,

diese Schwachpunkte zu beseitigen. Echte Meister der Kampfkunst werden

einen aufrichtigen Schüler immer auf seine Schwächen aufmerksam ma-

chen - sei es mit Worten, körperlichen Lektionen oder durch offensichtliche

Beispiele. Wenn der Schüler fähig ist, berechtigte Kritik zu erkennen und

sie sich zu Herzen zu nehmen, dann wird er dem Rat des Meisters folgen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass dies der schnellste Weg zum Erfolg ist.

Ein Meister kann einem diese Kritik durch Worte angedeihen lassen oder

dadurch, dass er einen im Kampf besiegt.

Die Notwendigkeit realistischer Selbsteinschätzung

Der Tradition gemäß gehen Schüler, die die inneren Kampfkünste um des

Kampfes willen erlernen, davon aus, dass sie irgendwann einmal in einen

Kampf auf Leben oder Tod verwickelt werden. Wenn sie klug sind, dann

lassen sie ihre Schwächen zu Tage treten und lassen lieber zu, dass ihr Ego

im Training angeknackst wird, als dass es in einem tatsächlichen Kampf

zusammen mit ihrem Körper zerstört wird.

Im Training der Soloformen führt der Übende jede Bewegung aus, indem

er sich dabei einen imaginären Gegner vorstellt und ihn fühlt. Ein Schüler

147

der Kampfkunst muss die Anwendung dieser Techniken dann ständig in

der Konfrontation mit tatsächlichen Angreifern üben, zunächst mit Part-

nern aus seiner eigenen Schule und später mit anderen, die nicht seine

Freunde sind und die andere Kampfmethoden beherrschen. Im Kampf mit

tatsächlichen Gegnern sucht der Ausübende des Ba Gua sich auf die Ver-

mehrung von Kraft zu konzentrieren, auf die Sensibilität der Berührung,

Geschwindigkeit, Drehung in der Hüfte und die Fähigkeit, flüssig von einer

Technik zur nächsten überzugehen. Außerdem konzentriert er sich darauf,

dem Gegner mit Körper und Füßen aus dem Weg zu gehen, Täuschungs-

manöver zu benutzen, den Gegner zu dominieren und wie ein Gespenst zu

verschwinden und wieder aufzutauchen. Ganz ähnlich geht es im Tai Chi

Chuan zu, außer dass beim Tai Chi mehr Wert auf Nachgiebigkeit, äußerste

Weichheit und weniger aktive Fußarbeit gelegt wird sowie darauf, die Füße

längere Zeitabschnitte an einem Ort zu verwurzeln.

Über Einschüchterung und Furcht hinausgehen

Die meisten Kämpfer versuchen ihren Gegner einzuschüchtern, wie es auch

ein großes Tier im Kampf tut. Die meisten Lehrer der äußeren Kampfkünste

verwenden viel Zeit darauf, ihre Schüler zulehren, wie man einen Gegner

einschüchtert oder „psychisch fertigmacht", ohne sich selbst einschüchtern

zu lassen. Wenn Sie sich ins Bockshorn jagen lassen, dann werden Sie

unter Druck erstarren und nicht in der Lage sein, noch so große Kampf-

fertigkeiten, die Sie besitzen mögen, ins Spiel zu bringen, so dass selbst

ein Gegner, der Ihnen unterlegen ist, Sie zu besiegen vermag. Die Schreie

im Karate, der Boxer, der zu seinem Gegner sagt „Versuch es ruhig mit

deinem besten Schlag, das kratzt mich kein bisschen", die Person mit den

irren Augen eines Massenmörders, der Mensch, dessen Geist allein schon

Furcht und Schrecken einzuflößen vermag, die Drohung eines Messers,

einer zerbrochenen Flasche oder einer Pistole - all das sind mentale Waffen,

die der effektive Kämpfer benutzt, um dass Herz des Gegners vor Angst zu

lähmen. Die Wirkung ähnelt der von Autoscheinwerfern im Dunkeln, die

ein Kaninchen in 50 Meter Entfernung auf der Straße erstarren lassen. Es

hat eigentlich genügend Zeit, um davonzulaufen, aber es wird trotzdem

überfahren, weil Einschüchterung diese Lähmung verursacht hat.

Diese Furcht (die im Grunde die Furcht vor dem Tod und dem Unbe-

kannten ist, eine Furcht, die viele Menschen nicht gänzlich zu kontrollieren

vermögen) führt auch zu der massiven Ego-Dominanz und Unterwerfung,

148

die sich so oft in Rudeln oder Herden von Tieren oder bei militärischen

Aktionen beobachten lässt. Wenn ein Mensch seine Furcht überwinden

kann - wozu jeder Ausübende der inneren Kampfkünste Ba Gua, Tai Chi

und Hsing-I in der Lage sein muss dann lässt sich die Atmosphäre von

Gewalttätigkeit, die in so vielen Situationen herrscht, in denen Menschen

miteinander kämpfen, beträchtlich entspannen.

Effizienz und das Verhältnis von Risiko und Belohnung

Kämpfer müssen sich darauf konzentrieren herauszufinden, wie sie ihre

innere Kraft so einsetzen können, dass sie die größtmögliche praktische

Wirkung hat. Unter allen nur denkbaren Umständen müssen sie darauf

vorbereitet sein, die Natur der Kraft ihres Gegners zu verstehen und die

wirksamste Art und Weise zu finden, wie sie ihr entgegentreten können.

Was bedeutet es, wenn man sich in einem Kampf zuviel oder zuwenig

bewegt? Wenn man innerhalb einer Mikrosekunde zuviel oder zuwenig

Kraft einsetzt? Wann soll man sich bewegen und wann stillstehen? Wann

soll man Kraft einsetzen, welche Art von Kraft und für wie lange? Diese

Fragen muss man wieder und immer wieder ausloten. Wie groß ist die

Chance, dass man mit einem Hieb, einem Wurf, einem Hebel oder einem

Tritt Erfolg hat? Wie stehen die Chancen, dass man, wenn man diese

Technik anwendet, gekontert wird, und mit welcher Art von Konter? Man

muss wieder und wieder trainieren, bis man das Verhältnis zwischen Risiko

und Belohnung kennt, bis es einem in Fleisch und Blut übergangen ist. Im

Kampf fallen die wichtigsten Entscheidungen darüber, ob man agiert oder

abwartet, instinktiv, bevor unser Geist überhaupt Zeit hat, einen Gedanken

zu formulieren. Hunderte, Tausende, ja Zehntausende von Stunden der

Solo- und Partnerübung verleihen Ihnen die Fähigkeit, blitzartig gelassen

und spontan zu reagieren, wenn Sie sich in einer Situation befinden, in

der es um Leben oder Tod geht.

149

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Die Gefühle beim Kampf im Zaum halten

Weng Hsien Ming, einer der fortgeschrittenen Schüler

der Schule von Hung I Hsiang (siehe Seite 317), hatte

die Vollkontakt-Meisterschaften von Taiwan dreimal

gewonnen. Eines Tages waren Weng und ich mitten

in einem ziemlich harten Sparring, das sich eine Weile

hinzog. Es fand auf dem Basketballfeld mit Zementboden statt, auf dem

Hung I Hsiang seine Abendkurse abhielt. Ab und zu trafen wir beide

einander leicht und machten einen Punkt, und auch wenn uns die Sache

Spaß machte, war es doch zugleich ein verbissenes Gefecht. Irgendwann

traf ich ihn aus Versehen in ein Auge und schlug ihm seine Kontaktlinse

heraus. Normalerweise macht ein Schlag ins Auge wütend und führt zu

einer sehr heftigen Reaktion. Doch nichts dergleichen geschah. Wir un-

terbrachen das Sparring und suchten zusammen mit ein paar Schülern

aus Hungs Gruppe auf dem Zementboden nach der Kontaktlinse. Als sie

gefunden war, machte Weng sie sauber und setzte sie dann wieder ein.

Wäre es in irgendeiner Schule der äußeren Kampfkünste im Fernen Osten

(oder genauso gut im Westen) zu einem ähnlichen Zwischenfall gekom-

men, dann hätte das leicht zu einer ziemlich gewalttätigen Konfrontation

führen können, entweder aus einer Angstreaktion heraus oder aus einem

Reflex des Egos, das sein Gesicht wahren möchte. Weng wusste, dass ich

ihn nicht mit Absicht ins Auge geschlagen hatte (wir hatten einander

schon ziemlich oft getroffen, ohne dass es einem von uns etwas ausge-

macht hätte), und wir setzten das Sparring mit vollem Einsatz fort, ohne

dass sich Furcht, Rachegefühle oder Stolz eingemischt hätten. Das war

bei Weng keineswegs ein Zeichen von Schwäche, sondern zeigte vielmehr

seine große mentale Stabilität. Da wir uns auf diese Weise kennen gelernt

hatten, wurden wir gute Freunde, und etwas später teilte ich sogar mein

Zimmer mit ihm.

Weng konnte in einer echten Kampfsituation den Gegner in kürzester Zeit

empfindlich verletzten, sei es in einem formellen Wettkampf, sei es in einem

Herausforderungskampf. Er ließ sich jedoch nicht einschüchtern und ver-

suchte auch nie, seine Gegner einzuschüchtern. Er konzentrierte sich statt-

dessen darauf, seine Geistesklarheit zu bewahren und seine Techniken ohne

jede Verschwendung von Bewegungen kraftvoll, praktisch und effizient sein

zu lassen. Will man ein überragender Kämpfer werden, der seine Gefühle

im Zaum halten kann, dann sollte man sich an ihm ein Beispiel nehmen.

150

Ba Gua, Tai Chi oder Hsing-I zum Zweck des Kämpfens erlernen

Sie bekommen das, wofür Sie bezahlen, also geben Sie ihr Geld (das heiß

Ihr Chi und Ihre Bemühung) auf kluge Weise aus.

Wenn Sie die inneren Kampfkünste für den Kampf benutzen wollen

(oder wenn Sie überhaupt irgendeine Kampfkunst benutzen wollen), dann

wäre es von Vorteil, wenn Sie sich an die folgenden Punkte erinnerten:

1. Es ist leicht, irgendetwas schlecht auszuüben. Um Erfolg zu haben,

ist es unerlässlich, ernsthaft und beharrlich zu üben.

2. Um Wang Shu Jin zu zitieren: „Es ist besser, ein oder zwei Techni-

ken gut zu beherrschen, als 10.000 Techniken schlecht zu beherr-

schen.

3. Es ist gar nicht so leicht, einige wenige Dinge gut zu beherrschen."

4. Es ist äußerst schwierig, viele Dinge gut zu beherrschen.

5. Es ist praktisch unmöglich, alle Techniken des Ba Gua oder des Tai

Chi gut zu beherrschen. Selbst Tung Hai Chuan, Wu Jien Chuan,

Yang Cheng Fu und die Chen-Familie beherrschten einige Bewe-

gungen besser als andere.

Wenn Lehrer der inneren Kampfkunst lehren, liegt es in ihrer Verantwor-

tung, die Kampftechniken ihrer Linie so klar und genau wie möglich zu

übermitteln. Die Verantwortlichkeit des Schülers besteht darin, allein und

mit Partnern so lange zu üben, bis er im Kampf dieselbe Fertigkeit wie

sein Lehrer oder sogar noch größere Fertigkeit an den Tag legen kann. Die

Schüler müssen selber auswählen, welche Techniken sie meistern wollen,

und dann die entsprechende Arbeit leisten. Bei den Chinesen gibt es einen

klassischen Leitsatz: Shrfujing men (Der Lehrer bringt dich ans Tor), lien

dzai ge shin (die Übung ist deine eigene und trägt Frucht entsprechend

den Bemühungen deines eigenen Herz-Geistes).

Wenn Ihr Lehrer Ihnen etwas demonstriert, dann sind Sie dazu ver-

pflichtet, es zu üben. Üben Sie nicht, dann mag das eine der folgenden

Konsequenzen nach sich ziehen: 1. Ihr Lehrer korrigiert Sie nicht mehr,

weil Ihr Verhalten gezeigt hat, dass Sie diese Fertigkeit nicht wirklich er-

lernen wollen; 2. Sie werden diese Fertigkeit nicht erlangen; 3. wenn Sie

die nächste Stufe dieser Fertigkeit erlernen, wird diese schwach sein, weil

die Grundlage fehlt; 4. Sie werden nie einen hohen Grad der Fertigkeit

erlangen, wenn sich Ihre Einstellung nicht ändert.

151

Im Prozess der Übung und des Wettkampfs bleibt es nicht aus, dass

Kampfkünstler und Athleten körperliche Verletzungen erleiden, entwe-

der durch die Bewegungen oder durch den körperlichen Kontakt, den

die jeweilige Praxis mit sich bringt. Es ist zwar möglich, auch mit einer

Verletzung weiter zu üben, aber Sie sollten vermeiden, sich aufgrund von

Überbelastung erneut zu verletzen. Wenn Sie sich zum Beispiel den Arm

verletzt haben, dann üben Sie nur Ihr Chi-Gung- oder Ba-Gua-Gehen, bis

der Arm wieder geheilt ist. Wenn Sie sich am, Bein wehgetan haben, dann

üben Sie nur Ihre Oberkörper-Techniken. Setzen Sie also Ihr Training fort,

aber auf eine Weise, die den verletzten Bereich nicht belastet. Wenn Sie sich

nämlich erneut verletzen, dann verlängert das nur die Zeit, in der Sie nicht

voll trainieren können. Lassen Sie nicht zu, das kleine oder mittelstarke

Verletzungen zu lang anhaltenden chronischen Verletzungen werden, die

letztlich Ihr Vermögen, effektiv zu kämpfen, beeinträchtigen.

Gesundheit und Kampfkunst-Könnerschaft

Wenn jemand das Ba Gua aus gesundheitlichen Gründen praktiziert, dann

sollten die Unterweisungen, die er oder sie erhält, darauf abgestimmt sein,

den Körper gesund und stark zu machen. Erlernt jemand das Ba Gua für den

Kampf oder für die Meditation, dann sollten seine Unterweisungen entspre-

chend ausgerichtet sein. Nach Ansicht der Daoisten muss das Training für

eine Kampfkunst zuerst und vor allem den Körper des Übenden nähren und

sein mentales und emotionales Wohlbefinden fördern. Erst wenn der Körper

und der Charakter eines Ausübenden stark geworden sind, kann er wirklich

lernen, die Kunst für den Kampf zu verwenden. Die Fähigkeit zu kämpfen

bleibt immer ein zwar wichtiges, aber doch zweitrangiges Anliegen. Die

Anhänger des Ba Gua sind der Ansicht, dass ein Kampfkünstler ein Held

sein muss und kein Feigling sein darf. Diese Heldenhaftigkeit muss jedoch

aus wahrer innerer Zentrierung, Zuversicht und Fertigkeit entstehen, nicht

aus Wagemut, roher körperlicher Begabung, einem gewalttätigen Gemüt

und einer bloß intellektuellen Vorstellung von der Kunst.

Grundlegendes Krafttraining

Die traditionelle innere Praxis des grundlegenden Krafttrainings, die Ji Ben

Gung genannt wird, arbeitet vom Inneren des Körpers her nach außen. Ji

Ben Gung entwickelt die innere Energie oder den „Saft", den man für die

152

inneren Kampfkünste braucht. Was diese Praxis betrifft, so geht zum Bei-

spiel das Ba Gua - ebenso wie die meisten traditionellen inneren Schulen

in China und Japan - davon aus, dass es besser ist, eine einfache Technik

zu üben. Im Ba Gua könnte diese Technik das vorgeburtliche Kreisgehen

mit der Ersten Hand (Single Palm Change) sein; im Hsing-I oder Tai Chi

könnte es die Standardübung, San Ti, oder eine Chi-Gung-Methode mit

nur wenigen Bewegungen sein. Es ist besser, eine schlichte Übung zu

praktizieren, bei der Ihr Chi voll und Ihr Körper mit Ihrer Energie, Ihrem

Geist und ihrer essentiellen Natur verbunden ist, als viele Techniken eher

schwächlich auszuführen, wobei keine dieser Techniken Ihren Körper und

Ihren Geist wirklich für effektives Kämpfen fit macht.

Eine alternative Methode bestand darin, dass man zuerst das Hou Tien,

das nachgeburtliche Ba Gua, erlernte. Diese Methode arbeitet von der Au-

ßenseite des Körpers nach innen, und dazu gehört, dass man eine Unmenge

von äußeren Bewegungsformen oder Hsing erlernt, von denen jede ihre

spezifische Kampfanwendung besitzt. Erst wenn der Übende nach Jahren

Drei Posituren der Zehn himmlischen Stämme, einer aus der Ba-Gua-Schule stammenden nachgeburtlichen Methode des grundlegenden Krafttrainings in der Bewegung, hier ausgeführt von dem Ba-Gua-Adepten Lo Te Hsiu aus Taipei, Taiwan.

153

der Praxis diese Formen sehr gut beherrschte, wurde er in den inneren

Methoden der Entwicklung von Kraft unterwiesen.

Letztlich ist das wichtigste Anliegen bei der Verwendung von Ba Gua,

Tai Chi, Hsing-I und allen anderen inneren Kampfkünsten zum Kampf,

mit möglichst wenig Verletzungen siegreich zu sein, oder doch zumindest

so weit heil zu bleiben, dass man weglaufen kann.

Die Bedeutung der Stehübung für die langfristige Entwicklung von innerer Kraft

Bei der Stehübung sind die wichtigsten Aspekte die folgenden:

1. Der inneren Landschaft unseres Körpers gewahr werden.

2. Die Spannungen im Körper von innen her anstrengungslos auflö-

sen.

3. Sich nicht auf die Empfindung physischer Kraft verlassen, wodurch

der Körper weicher wird, während man gleichzeitig einen exzellen-

ten Muskeltonus beibehält.

4. Das Chi absenken und Verwurzelung entwickeln.

5. Sich in die Lage versetzen, die sechs Kombinationen im eigenen

Körper zu fühlen und die ihnen entsprechenden Chi-Bahnen im

Körper miteinander zu verbinden.

6. Während der Kampfbewegungen die Fähigkeit aufrechterhalten,

das Innere des Körpers deutlich zu spüren, so dass ein Gewahrsein

dessen entsteht, was sich zur selben Zeit innerhalb und außerhalb

des Körpers abspielt. Dies ermöglicht es Ihnen, in der Bewegung

nicht von Ihrem Chi abgelenkt zu werden. Diese Fähigkeit ist we-

sentlich bei sehr schnellen Bewegungen, besonders im Ba Gua mit

seinen schnellen Kreis- und Drehbewegungen, denn dabei neigen

die Ausübenden dazu, die Verbindung zu ihrem Inneren zu verlieren,

weil sie sich ganz auf ihre äußeren körperlichen Bewegungen im

Raum konzentrieren.

7. Für das Chi im Raum um den Körper herum sensibel werden.

Die Stehübung legt das Fundament für das erfolgreiche Erlernen all der

anderen fortgeschrittenen Methoden des Chi Gung. Im späteren Training

154

Die Stehübung, eine Methode des grundlegenden Krafttrainings,

hier ausgeführt von dem verstorbenen Wang Shu Jin.

(bei den Übungen in Bewegung, im Sitzen, im Liegen und bei den sexu-

ellen Praktiken des Daoismus) erzeugt die Stehübung den Rahmen für

die willentliche Bewegung des Chi. So können alle die fortgeschrittenen

Chi-Übungen, die zur Verbesserung der Gesundheit oder der Entwicklung

von Kraft praktiziert werden, auch im Stehen ausgeführt werden. Im All-

gemeinen fehlen die inneren Stehübungen des Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua

in den normalen Trainingskursen im Westen. Als der Autor zum Beispiel in

den frühen 1970er Jahren die Stehübung in New York unterrichtete, machte

das dort offensichtlich sonst niemand.'9 In den 1980er Jahren begannen

dann mehr Leute das Stehen im Westen zu unterrichten, und dieser Trend

hat in den 1990er Jahren weltweit zugenommen.

! Eine seltene Ausnahme in Amerika war Kuo Lien-ying, der seine Schüler in San

Francisco regelmäßig die Stehübung des „Universellen Pfahls" lehrte.

155

Die acht Stadien der Übung zur Entwicklung der Kampffertigkeiten im Ba Gua

Der Übergang von der Form zur Formlosigkeit: Das Ziel der inneren Kampfkünste auf hohem Niveau

In jedem Bereich von Kenntnissen brauchen Anfänger zunächst eine Struk-

tur, eine Form, um die Grundlagen zu erlernen. Dies gilt ganz besonders

für die inneren Kampfkünste. Wenn man jedoch erst einmal die Grund-

lagen und die technischen Voraussetzungen gemeistert hat, dann besteht

die wahre Vortrefflichkeit darin, über die Form hinauszugehen und zur

Essenz dessen zu gelangen, was man ursprünglich erlernen wollte. Von

diesem Punkt aus kann man in jenen kreativen Raum eintreten, wo „das,

was nicht zu lehren ist" natürlich und spontan aus der eigenen Seele

aufsteigt. Hier kann man nun endlich die Form transzendieren, die Ebene

des „Wie-Machens und Was-Machens" verlassen und auf der Ebene des

Formlosen operieren.

In den inneren Künsten lernt man die Form, um zunächst eine Tech-

nik zu meistern. Dann aber vergisst man die Form und erreicht letztlich

einen Zustand, den die Chinesen Wu Wei (wörtlich: Nichttun) oder das

„Tun, ohne zu tun" nennen. Diese Formlosigkeit ist das höchste Ziel der

inneren Kampfkünste.

Man kann den Prozess der Meisterung einer inneren Kampfkunst mit

dem Werdegang eines erstklassigen Jazzpianisten vergleichen. Wenn ein

solcher Musiker zuerst die Technik oder die „Form" des Klavierspielens

erlernt, verbringt er viele Stunden am Tag mit der Übung von Tonleitern

(körperliche Technik - Schläge, Tritte, Würfe, Hebel, Balance, Geschwin-

digkeit, Fußarbeit usw.). Dann übt er vielleicht Akkorde (verschiedene

Arten der inneren Kraft, Flüssigkeit der Bewegung, innere Energiearbeit,

die Meisterung subtiler Bewegungen, die Ruhigstellung des Geistes usw.).

Der Pianist beginnt dann damit, einfache Standards zu spielen (Kampf mit

jeweils einem Gegner) und schreitet schließlich zu immer komplizierteren

Riffs fort (Kämpfen mit mehreren Gegnern).

Ein Pianist mag die technische Seite seiner Kunst beherrschen und sehr

gut, ja sogar makellos spielen, und dabei kann trotzdem etwas fehlen.

156

Im Jazz nennt man das oft die magische Komponente der Improvisation,

die einen Musiker von einem Punkt aus spielen lässt, der jenseits innerer

Beschränkungen, jenseits von Form und Technik ist. Jetzt spielt er die

Musik nicht nur „richtig", er jammt mitreißend, mit einem Sound, der die

Seele ergreift. Er hat einen Sprung über die technische Virtuosität hinaus

getan, wird angetrieben von Inspiration, schierer Kreativität, in einem Akt

des völligen Loslassens.

Ein Ausübender der inneren Kampfkünste, der sorgfältig übt, meistert

mit der Zeit ebenfalls alle technischen Aspekte seiner Kunst, und er wird

dabei tatsächlich furchtlos. Doch das Eintreten in jenen wundersamen

Raum, in dem der frei improvisierende Jazzmusiker „abhebt", setzt voraus,

dass er sich nicht mehr um seine technischen Fertigkeiten kümmert, dass

er sich weit über sie hinaus aufschwingt - in eine Region, wo die norma-

len Erwägungen aus dem Bereich von Zeit und Raum aufgehoben sind.

Will man sich innerhalb der inneren Kampfkünste auf eine solche Reise

begeben, so verlangt das, dass man in der Lage ist, seinen Geist ganz still

werden zu lassen, und eine Erweiterung des Bewusstseins erreicht, die eher

der Meditation ähnelt als dem, was man üblicherweise unter einer Kampf-

kunst versteht. Dies ist die Natur des Pfades, den man beschreiten muss,

um von der fünften bis zur achten Stufe des Kämpfens im Ba Gua zu ge-

langen. Auf der ersten Stufe sind die Dinge allerdings noch relativ einfach:

Stufe 1

Soloübungen: Hier lernt man die grundlegende physische Koordination.

Dazu ist es nötig, dass man in der Lage ist, eine bestimmte Kampfan-

wendung für jeden Teil jeder einzelnen Technik zu visualisieren und zu

fühlen.

Partnerübungen: Die Partnerübungen bestehen aus Anwendungen, durch

die man die Visualisierung jeder einzelnen Solobewegung für sich kon-

kretisieren kann, so dass man die Solobewegungen mit stärkerer Intention

auszuführen vermag.

Stufe 2

Soloübungen: Hierbei werden das Öffnen und Schließen der Gelenke und

die Aktivierung der Rückenmarkspumpe zur Entwicklung von Kraft be-

tont. Man lernt, klar zwischen dem Aufnehmen und Abgeben von Kraft

zu unterscheiden.

157

Partnerübungen: Betonung der Rückenmarks- und Gelenkspumpe, so dass

diese Bereiche sich öffnen und schließen können, ohne dass man dabei

Störimpulse empfindet oder erstarrt, was bei den meisten Anfängern pas-

siert. Hier werden auch Hieb- und Tritttechniken betont.

Stufe 3

Soloübungen: Man beginnt, sich auf flüssiges und schnelles Öffnen und

Schließen zu konzentrieren, auf schnelles Gehen und schnelle Handflä-

chen-Wandlungen in Solobewegungen.

Partnerübungen: Nachdem man gelernt hat, sicher zu fallen, konzentriert

man sich auf Wurftechniken und vertikale Aufwärts- und Abwärtsanwen-

dungen. Hierbei werden doppelte und dreifache Schläge durch schnelles

Öffnen und Schließen betont.

Stufe 4

Soloübungen: Betont das Verdrehen von Körpergewebe (Arme, Beine, Hüf-

te), horizontale Drehkraft und extrem schnelle Wandlungen. Geht über

die festgelegten formalen Bewegungen hinaus; die Absicht dahinter ist,

dass man nun zu trainieren beginnt, wie man physische Bewegung aus

dem Denken heraus erzeugen kann. Wenn Sie denken, dann sollte Ihr

Körper sich dem Denken entsprechend verformen. Diese Stufe stellt den

Beginn der Verschmelzung von Geist und Körper dar. Hier entsteht eine

sehr komplexe Fußarbeit.

Partnerübungen: Betont Anwendungen, die darauf basieren, dass man in

eine Richtung dreht, dabei die Energie eines Gegners speichert und die

Energie dann wieder zum Gegner hin freisetzt, indem man die Drehung

blitzartig umkehrt. Hier werden unter Anwendung solcher Umkehrungs-

prinzipien Hebel und Würfe praktiziert. Auf dieser Ebene wird die Ge-

schwindigkeit stärker betont als die Kraft.

Bis zu dieser Stufe haben die vorgeburtlichen und die nachgeburtlichen

Praktiken (siehe Seite 329 f.) ähnliche Ziele und Ergebnisse. Die letzten vier

Stufen jedoch ergeben sich allein aus der Methode des vorgeburtlichen

Kreisgehens.

158

Stufe 5

Soloübungen: Jetzt konzentriert man sich darauf, den Energien nachzuge-

hen, die um uns herum existieren: Erde, Himmel, Sterne, Bäume, Wasser,

Menschen. Man beginnt, die natürlichen Energien der Umwelt dazu zu

benutzen, das Chi im eigenen Körper anzuregen und es sowohl stärker

als auch schneller zu machen. Das Hauptaugenmerk liegt nun auf den

Qualitäten der einzelnen Energien der acht Trigramme20 und nicht nur

auf der körperlichen Bewegung.

Partnerübungen: Nachdem Sie bereits ein großes Arsenal von Waffen (Trit-

te, Schläge, Hebel, Würfe, Ausweichtechniken) gemeistert haben, lernen Sie

nun, jede der Energien der acht Trigramme klar zu unterscheiden und sie

im Ba Gua anzuwenden. Sie konzentrieren sich darauf, wie sie zu Ihrem

größten Vorteil am wirksamsten die wirbelnden Energien Ihrer selbst, Ihres

Gegners und der Umwelt verschmelzen lassen können, und zwar an genau

dem Punkt in Zeit und Raum, an dem die jeweilige Wechselwirkung statt-

findet. In diesem Stadium wird die spiralig aufsteigende und absteigende

Energie zwischen Himmel und Erde besonders betont.

Stufe 6

Soloübungen: Sie machen Ihren Körper und Geist so still und so leer wie

möglich. Hier werden Yin-Energie- oder sehr amorphe Energie-Techniken

betont sowie die Meditation.

Partnerübungen: Ihre Techniken müssen für Sie jetzt völlig mühelos wer-

den. Sie wenden ebenso viel Kraft an, wie dann, wenn Sie sich am Kopf

kratzen, und dennoch hat Ihre Technik eine vernichtende Wirkung auf

den Gegner. Wenn Sie ein liebevolles und offenes Herz haben, wird diese

„Vernichtung" eine spirituell tief greifende und letztlich förderliche Wir-

kung auf Ihren Gegner haben. Wenn Ihr Herz egozentrisch und grausam ist,

dann wird diese Kraft Angst und Schrecken, Unterwerfung und spirituelle

Kontraktion in Ihrem Gegner erzeugen.

20 Nach daoistischer Vorstellung verkörpert jedes der acht Trigramme des I Ging eine

der grundlegenden Energien, aus denen das Universum geschaffen wurde und die

sämtliche Manifestat ionen hervorbringen.

159

Stufe 7

Soloübungen: Ihr Herz wird jetzt völlig still und Sie fühlen sich rundum

wohl. Sie verlieren jegliches Gefühl dafür, irgendetwas zu tun. Ihre Bewe-

gungen und Ihre Energie folgen einfach der Bewegung von Himmel und

Erde. Hier ist die Bewegung über das rein Körperliche hinausgegangen.

Partnerübungen: Sie beginnen, körperliche Kräfte zu manifestieren, die

über bloße Hebelwirkung, über die Logik und über die Gesetze der Phy-

sik oder alles andere, was Sie sich vorstellen können, hinausgehen. So

konnte zum Beispiel Liu Hung Chieh (siehe Seite 367) noch im Alter von

achtzig Jahren die Kraft eines Mannes, der doppelt so groß war wie er,

mit einem Finger aufhalten. Er konnte einen solchen Mann beim Push

Hands des Tai Chi so leicht vertikal in die Höhe heben, wie Sie eine Tüte

mit Kartoffelchips hochheben. Er konnte auch eine Betonplatte unter sei-

nen Füßen zerbrechen, indem er einfach nur darüber hinwegging. Er wog

weniger als 50 Kilogramm, und nach den Gesetzen der Logik hätte ihm

so etwas nicht möglich sein sollen. Auf dieser Ebene des Ba Gua bewegen

sich die Meister im Allgemeinen nicht mehr so viel wie in den früheren

Stadien ihres Trainings. Sie haben es nicht nötig - ihre Energie ist hier

das Bewegende.

Stufe 8

Diese Stufe transzendiert unsere normale Vorstellung von der Realität und

sie lässt sich mit Worten nicht mehr angemessen beschreiben. In jedem

Zeitalter haben nur wenige dieses Stadium erreicht, heutzutage sind es

noch weniger. Einem Meister auf dieser Ebene der Praxis würde es nicht

schwer fallen, seine Authentizität unter Beweis zu stellen - wenn er denn

das Bedürfnis hätte, dies zu tun.

160

Techniken der inneren Kampfkunst

Hand- und Handflächen-Hiebe der inneren Kampfkünste

Die inneren Kampfkünste besitzen ein ebenso großes Repertoire an Hieben

mit der Hand, wie man es in den meisten äußeren Kampfkünsten findet,

etwa im Karate oder im Kung Fu. Es sind dies Fausthiebe ebenso wie

Schläge mit der offenen oder geschlossenen Hand. Bei Hieben mit der

Hand benutzt man das Handgelenk, den Handsattel (das ist der Bereich

zwischen Daumen und Zeigefinger), die Kante und Fläche der offenen

Hand sowie die Vorder-, Rück-, Innen- und Außenseite der geschlossenen

Hand. Zusätzlich jedoch verwenden alle drei inneren Stile (Ba Gua, Tai Chi

und Hsing-I) spezialisierte innere Hiebe, die das Thema dieses Abschnitts

sind. Auch wenn die einzelnen inneren Stile die gleichen Kampftechniken

benutzen, unterscheiden sie sich doch hinsichtlich der Formbewegungen

und der Interpretation der Kampfanwendungen für den Kampf mit einem

Gegner leicht oder stark voneinander. Diese Unterschiede erklären sich aus

der Art und Weise, wie jeder der Stile die Essenz einer bestimmten Technik

im Rahmen seiner einzigartigen Philosophie und seiner praktischen Vor-

gehensweisen aufgefasst und umgesetzt hat. Die uralten inneren Kampf-

techniken, die bis heute überlebt haben, sind ein Grund dafür, warum die

inneren Kampfkünste im modernen China zu Recht berühmt wurden.

Ba Gua Chang benutzt, wie sein Name „Acht Trigramme Handfläche"

bereits zeigt, häufiger die Handfläche als die Faust. Als „Faustregel" kann

man sagen, dass das Ba Gua die offenen Hände, die Unterarme und die

Finger mit großer Wirksamkeit einsetzt. Unter den acht „Mutterhänden",

die in dieser Kunst gelehrt werden, gibt es nur eine Faust. Wir sollten

jedoch nicht vergessen, dass die berühmteste Technik von Ma Wei Chi

(siehe Anhang B, Seite 514) ein sphärischer Hieb war. Das Tai Chi benutzt

gewöhnlich eine ausgeglichene Mischung von Techniken mit der offenen

Hand und mit der Faust. Das Hsing-I benutzt in seinen grundlegenden

Fünf-Elemente-Praktiken hauptsächlich Techniken mit der geschlossenen

Faust, in seinen Tierformen jedoch Techniken mit der offenen Hand.

Der Hieb kann in den inneren Kampfkünsten auf unterschiedliche Weise

ausgeführt werden. Die erste Weise ist jene, die der Anfänger, der noch kei-

ne Kontrolle besitzt, gewöhnlich benutzt: den Gegner so hart wir möglich

161

schlagen. Auf den fortgeschritteneren Ebenen muss man sich entschließen,

ob man den Gegner ernsthaft verletzen will oder nicht. Entscheidet man

sich dagegen, jemandem einer Verletzung zuzufügen, dann benutzt man

vielleicht eine Fa-Jin-Technik (siehe Seite 188), bei der die eigene Kraft

durch die Person, die man trifft, hindurchgeht. Ihr Fa Jin wird die ange-

griffene Person zweifellos im physischen Raum bewegen, wird ihr jedoch

keine ernsthafte Verletzung zufügen.

Wenn jedoch Gewaltanwendung notwendig ist und die einzig brauch-

bare Option darin besteht, jemanden zu verletzen, dann können Sie das

Fa Jin auf das Innere des Angreifers fokussieren, so dass Ihre Kraft sei-

nen Körper nicht verlässt. Dies verursacht durch Blutergüsse oder ande-

re Schädigungen Zerstörung im Körper. Die frühen Meister der inneren

Kampfkünste konnten eine andere Person äußerlich treffen, ohne einen

Flecken auf der Haut zu hinterlassen, doch der Getroffene starb dann in

der Folge aufgrund einer Schädigung der inneren Organe. Die Fähigkeit,

die eigene Kraft auf sehr kleine Bereiche im Körperinneren zu fokussie-

ren, ist etwas sehr Erstaunliches. Diese Technik ist der Anwendung nach

jenen Panzerabwehrgranaten vergleichbar, die die Besatzung des gegneri-

schen Panzers töten, ohne die äußere Hülle des Panzers zu zerstören. Eine

plötzliche Freisetzung von Fa Jin wird durch die Technik der Drehung

des weichen Gewebes in Kombination mit einer plötzlichen Öffnung der

Gelenke und Höhlungen des Körpers zur Freisetzung von Chi aus einem

Punkt im Körper erreicht.

In China gelten die inneren Kampfkünste als wesentlich machtvoller

als die äußeren Kampfkünste, und in der Tat glauben viele Menschen, dass

die Schlagkraft der inneren Künste etwas Übernatürliches hat. Doch die

Wirksamkeit der inneren Kampfkünste im Kampf ist keineswegs überna-

türlich, sondern basiert auf extrem hoch entwickelten körperlichen und

Chi-Mechanismen.

Während der Kern der äußeren Kampfkünste die Kampftechnik ist,

besteht der Kern der inneren Kampfkünste in der Entwicklung der inneren

Kraft oder des Chi. Zu Beginn eines Trainings in den inneren Kampfkünsten

erscheinen die äußeren Bewegungen des Ausübenden noch wenig subtil.

Wenn ein Übender der inneren Kampfkunst in seiner Praxis jedoch immer

erfahrener wird, dann wird es für einen Beobachter immer schwieriger,

ihm äußerlich anzusehen, was er tut. Das Gefühl, dass die beobachtbare

Kraft etwas Übernatürliches hat, ist nicht zutreffend. Es ist einfach so, dass

man die inneren Mechanismen, die zur Anwendung kommen, nicht sehen

162

kann. Auf den höchsten Ebenen der Chi-Entwicklung können die inneren

Kampfkünste schon so aussehen, als stammten sie aus einer anderen Welt.

Dazu kommt es allerdings nur, wenn jemand gar keine körperliche Kraft

mehr benutzt, sondern sich gänzlich auf sein Chi verlässt. In der Moderne

haben nur wenige Menschen diese Ebene erreicht.

Hier werden einige allgemeine Bewegungs- und Energie-Muster vorge-

stellt und nicht einzelne der Hunderte von spezifischen Bewegungen oder

Techniken. Jede Technik kann eine unglaubliche Anzahl von Variationen

und Grundbewegungen umfassen. Diese Techniken sind solche, die für den

tatsächlichen Hand-zu-Hand-Kampf verwendet werden, und es kann sein,

oder auch nicht, dass sie in irgendeiner der Handberührungsübungen, dem

Rou Shou oder Push Hands, verwendet werden. Wenn Ihnen manche dieser

Techniken sehr hart vorkommen, dann vergessen Sie nicht, dass man fast

überall auf der Welt heute auf legale oder illegale Weise Handfeuerwaffen

und Sprengstoff kaufen kann. Außerdem braucht es lange Zeit, bis man

diese hoch entwickelten Techniken der inneren Kampfkunst entwickelt

hat. Während dieser Zeit sollten die Ausübenden auch gründlich in Selbst-

kontrolle geschult werden und sollten zudem eine moralische Erziehung

erhalten, die ihnen verdeutlicht, was die wahre Natur von Gewalttätigkeit

ist und wie man Mitgefühl entwickelt. Das verhindert im Allgemeinen

die Gewalttätigkeit, die wütende oder gestörte Menschen oft an den Tag

legen und die sie nicht nur ihre Fäuste, sondern auch Pistolen oder Messer

gebrauchen lässt.

Arten von Hieben und der Einsatz der Hand

Auch wenn das Tai Chi in China und im Westen die größte Zahl von

Anhängern hat, wird gewöhnlich nicht das ganze Spektrum seiner Kampf-

techniken gelehrt. Das Hauptaugenmerk liegt zumeist auf den Formen

und auf Push Hands. Auch wenn das Ba Gua und das Hsing-I sowohl

im Westen als auch in China weniger Anhänger haben, pflegen wesent-

lich mehr Lehrer dieser beiden Kampfkünste nicht nur die Formen und

das Rou-Shou-/Push-Hands-Training zu betonen, sondern auch die tat-

sächlichen Kampftechniken zu lehren. Da das Ba Gua unter den inneren

Kampfkünsten das größte Repertoire von Kampftechniken besitzt, wird

sich die nun folgende Darstellung spezifischer Techniken zuerst auf das

Ba Gua, dann auf das Tai Chi und schließlich auf das Hsing-I beziehen.

Wo in diesem Buch nicht ausdrücklich etwas anderes gesagt wird, sind die

163

Namen der Formbewegungen des Tai Chi aus der Nomenklatur des Yang-

Stils übernommen. Damit ist keine Wertung in Bezug auf höhere oder

niedere Standards impliziert; ich verwende diese Termini einfach deshalb,

weil der Yang-Stil der am meisten verbreitete ist und der größte Teil der

heute zugänglichen Literatur aus diesem Bereich stammt.

Vergessen Sie nicht, dass all die Handtechniken der inneren Kampfküns-

te, die hier erwähnt werden, und auch die vielen anderen, die nicht erwähnt

sind, ausgeführt werden können, während man öffnet und Energie aus

dem Körper aussendet, aber genauso gut, wenn man schließt und Energie

in den Körper aufnimmt (siehe Nei Gung, Seite 121).

Der durchdringende Hieb Beim durchdringenden Hieb werden gewöhn-

lich die Finger, die Handfläche oder die Handkante verwendet. Ein geradli-

niger Hieb (der in Wirklichkeit das Resultat einer spiraligen motivierenden

Kraft im Inneren ist) wird verwendet um: a) in den Körper des Gegners

einzudringen; b) den Gegner vom Boden hochzuheben, während man in

seinen Körper, seine Glieder oder seinen Kopf eindringt; c) um die Gelenke

der Arme oder Beine des Gegners auszurenken; d) um den schützenden

oder angreifenden Arm des Gegners beiseite zu schlagen, während man

ihn gleichzeitig mit dem Speer durchbohrt, ihn mit der Handfläche schlägt

oder ihm einen Hieb mit der Handkante versetzt. (Diese letztere Bewegung

ist eine der hauptsächlichen Schlagtechniken des Ba Gua.) Man findet diese

Bewegung auch in der Tai-Chi-Bewegung namens „Die weiße Schlage

streckt die Zunge heraus" und im Hsing-I in der Wasser-Element-Technik

namens „Bohrende Faust".

Der aufwärtsgekrümmte Hieb Diesen Hieb kann man mit der Handflä-

che, den Fingern, dem Handgelenk oder dem Ellbogen ausführen. Der auf-

wärtsgekrümmte Hieb wird bei gefahrlosem Training benutzt, um Energie

in jemanden hinein zu entladen (das heißt, um Fa Jin zu benutzen). Diese

Technik kann Gegner hochheben oder sie zurückschleudern, ohne sie zu

verletzen. Wenn sie benutzt wird, um den Gegner zu verletzen, kann sie

Knochen brechen und die inneren Organe zerreißen oder zum Bluten brin-

gen (besonders wenn man die Handfläche oder den Ellbogen benutzt). Sie

kann auch Muskeln der Arme oder Beine an ihren Ansatzstellen abreißen.

Diese Bewegung findet sich auch im „Anfang" des Tai Chi (Handgelenk), in

„Die schöne Frau webt mit dem Schiffchen" (Handflächen), in „Die Hände

heben" (Finger), „Der weiße Kranich breitet die Flügel aus" (Ellbogen) und

164

in der zum Feuerelement gehörenden „Hämmernden Faust" (Pounding Fist)

des Hsing-I und seiner Huhn-, Tiger- und Affen-Form.

Schneiden Das Schneiden wird einerseits benutzt, um Knochen zu

zertrümmern, etwa beim Zerhacken eines Arms oder des Nackens, oder,

was besonders nützlich ist, um zu schneiden wie mit einem Messer. Die

Funktion des Schlages besteht hier darin, tiefer in das Körpergewebe ein-

zudringen, um durch das Vordringen in tiefere Muskelschichten schwere

Verletzungen zuzufügen. Der Schnitt kann seitwärts, aufwärts, abwärts

oder diagonal ausgeführt werden, wobei die Handkante oder der Hand-

sattel, die Fingerknöchel, die Rückseite des Handgelenks, die Spitze des

Ellbogens, die Schulter, der Kopf, die Knie oder die Füße benutzt werden.

Man findet die Technik auch in vielen Zurückrollen-(Roll-Back-)Kompo-

nenten der Tai-Chi-Bewegungen, im Übergang zwischen dem Ende von

„Der weiße Kranich breitet die Flügel aus" und dem Anfang von Brush

Knee und Twist Step sowie in der abwärtsschneidenden Komponente der

„Spaltenden Faust" der Fünf-Elemente-Technik des Hsing-I, in der Ab-

wärtskomponente der „Hämmernden Faust" und in der Schlange, dem

Adler und anderen Tierformen des Hsing-I.

Fingerhiebe Fingerhiebe werden benutzt, um in das Fleisch einzudringen.

Dabei kann man am Einschlagspunkt eine starke vibrierende oder schüt-

telnde Bewegung verwenden, eine harkende oder krallenartige Aktion, ein

wellenartiges Zuschlagen und Zurückziehen, oder eine drehende, drillende,

bohrende Bewegung. Das Finger-Gung-Fu des Kämpfenden muss ausge-

zeichnet sein, damit er gegen den Kopf schlagen und eindringen kann,

ohne sich selbst an den zustoßenden Fingern zu verletzen. Dieses Training

der Finger wird dadurch erreicht, dass man durch Nei Gung und die Ba-

Gua-Posituren des Kreisgehens Chi in die Finger führt, und nicht dadurch,

dass man, wie im Shaolin, Fingerliegestütze macht oder die Finger in Sand

oder gegen andere Objekte stößt. Fingerhiebe werden auch benutzt, um

spezifische Akupunkturpunkte auf eine ganz bestimmte Art und Weise

oder zu bestimmten Tageszeiten anzugreifen, um das Chi eines Gegners

zu stören. (Diese Techniken heißen im Kantonesischen Dim Mak und im

Mandarin Dian Xue.) Im Tai Chi wird speziell bei der Rückwärtshand des

Single Whip und der Vorwärtshand des Brush Knee und des Twist Step

mit Fingertechniken gearbeitet, ebenso wie im Hsing-I bei den Tierformen

Affe, Schlange, Tiger und Drache.

165

Fingerknöchelhiebe Fingerknöchelhiebe sind im Wesentlichen dasselbe

wie Fingerhiebe, außer wenn es darum geht, weiches Gewebe zu verdrehen

und Knochen zu treffen. Finger leisten eine feinere Arbeit, wenn man die

Muskeln, Sehnen, Venen und Gelenke eines Gegners greifen und verdrehen

will, und sind letztlich wirksamer, was das Treffen weicher Oberflächen und

weicher Gewebe angeht. Fingerknöchel, die dieselbe körperliche Bewegung

und dasselbe Jin (Kraft) anwenden, sind für den Angreifer gewöhnlich

sicherer, wenn man damit Knochen trifft. Sowohl im Tai Chi als auch im

Hsing-I sind Fingerknöchelhiebe Bestandteil aller Schläge.

Greifen Greiftechniken werden nicht nur benutzt, um einen Gegner fest-

zuhalten, wie ein Ringer es tut, und ihn zu werfen, sondern auch um die

Haut vom Körper zu reißen oder einen Arm oder ein Bein mit einem Ge-

lenk- oder Muskelhebel zu verdrehen, was extreme Schmerzen oder einen

Bruch verursacht. Diese Techniken herrschen im „Herabziehen" (Pull Down)

des Chen-Stil Tai Chi vor sowie zum Beispiel in den 131 Spaltungstechniken

innerhalb von „Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus". Im Hsing-I

sind diese Techniken immer dann einbezogen, wenn sich eine Hand zur

Faust schließt, besonders in der „Spaltenden Faust".

Hiebe Hiebe können entweder mit der steifen oder mit der lockeren Hand

ausgeführt werden, wobei entweder die Handfläche oder der Handrücken

benutzt wird. Die steife oder lockere Hand kann benutzt werden wie eine

Keule, um das zu zerschmettern, was sie trifft, oder um eine Vibration

auszusenden, die inneres Körpergewebe in einiger Entfernung vom Auf-

schlagspunkt zu verletzen. So kann zum Beispiel ein Hieb auf die Schulter

die Leber verletzen, ein Hieb auf den Scheitel kann das Genick brechen

oder ein Hieb in den Magen kann die Wirbelsäule verletzen. Weiche Hiebe

können dazu verwendet werden, um Knochen zu brechen (zum Beispiel

den Schädel, die Rippen, das Brustbein oder die Knie). Weiche Hiebe in

Kombination mit Techniken, die eine spiralige Umkehrung der Bewegung

verwenden, sind ideal geeignet, um die inneren Organe eines Gegners zu

verletzen. Im Rou Shou des Ba Gua werden aus Gründen der Sicherheit

kraftvolle Durchdringungshiebe vermieden, während im Kampf Kraft-

durchdringung benutzt wird, um innere Organe zum Platzen zu bringen.

Hiebe gegen den Kopf werden ebenfalls verwendet, nicht um Knochen zu

brechen, sondern um eine Gehirnerschütterung herbeizuführen, die den

Gegner das Bewusstsein verlieren lässt, die zu inneren Blutungen oder

166

zum Tode führt. Diese Hiebe tauchen im Tai Chi im Brush Knee und Twist

Step auf, in der Abwärtsbewegung des „Anfangs", im Roll Back und im

Übergang vom Schulterstoß zu „Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus".

Sie sind zudem enthalten in der Spaltenden Faust sowie in den kleinen

Übergangsteilen der Tierformen des Hsing-I.

Links-rechts-, Vorwärts-rückwärts- und Auf-und-n ieder -Umkehrun-

gen Die Umkehrungstechniken beruhen auf der S-förmigen Bewegung

die sich im Yin-Yang-Symbol des Tai Chi findet, das die spiraligen und

kreisförmigen Bewegungen des Ba Gua inkorporiert. Sie sind in den meis-

ten Ba-Gua-Bewegungen zu finden, weniger häufig im Chen-Stil Tai Chi

(besonders in den Würfen), noch weniger häufig in den Bewegungen des

kleinen Rahmens des Yang-Stil- und des Wu-Stil Tai Chi, und am wenigsten

häufig in den großrahmigen Methoden im Yang-Stil Tai Chi.

Umkehrhiebe Der erste Hieb benutzt die erste Hälfte der S-förmigen Be-

wegung. Dies führt dazu, dass sich der Gegner mit starkem Schwung in

eine Richtung bewegt: aufwärts oder abwärts, nach links oder rechts, vor

oder zurück oder in einer diagonalen Richtung. Während der Gegner sich

in eine Richtung bewegt, schlängelt Ihr Körper sich zurück und schlägt

aus der Gegenrichtung zu. Diese Umkehrung vervielfacht die Kraft, mit

der Sie einen Gegner schlagen oder werfen können. Das ist eine Wir-

kung wie bei einem Frontalzusammenstoß mit einem anderen Auto: Der

Schwung des Gegners aus dem ersten Hieb trifft auf die zweite Hälfte der

Kraft Ihrer S-förmigen Bewegung, die nun in die Gegenrichtung geht.

Dieser Frontalzusammenstoß-Effekt wird noch durch die kinetische Kraft

des Richtungswechsels Ihres eigenen Gewichts und Ihrer eigenen Energie

verstärkt. Die Rechts-links-Umkehrungen werden üblicherweise benutzt,

um den Kopf, den Nacken oder die Rippen des Gegners zu treffen. Die

Auf-ab-Umkehrungen werden gewöhnlich benutzt, um dem Nacken oder

der Wirbelsäule des Gegners ein Schleudertrauma zu versetzen und den

Körper dann in der Aufwärtsbewegung zu treffen. Der Körper des Geg-

ners ist durch den Peitschenhieb so desorientiert, dass er sich nicht gegen

einen auf ihn zukommenden Hieb wappnen und ihn absorbieren kann,

was eine verheerende Wirkung hat. Wenn Nacken und Wirbelsäule ein

Schleudertrauma erleiden, kann Ihr Gegner bei einem Hieb nicht zurück-

weichen. Das hat dieselbe Wirkung, als würde Ihr Gegner mit dem Körper

an einer Wand stehen, wenn er getroffen wird. Die Vorwärts-rückwärts-

167

Umkehrungstechnik wird angewendet, um den Hals oder die Wirbelsäule

eines Gegners zu brechen oder um einen Gegner mit dem Gesicht zuerst

auf den Boden zu werfen.

Umkehrwürfe Wurfaktionen folgen im Allgemeinen demselben Umkeh-

rungsmuster wie die S-förmigen Schläge mit der Hand. Die vertikale Zu-

Boden-werfen-Technik, die von der „Die Schlange kriecht abwärts"-Positur

des Tai Chi/Ba Gua abgeleitet wurde, ist ein einzigartiger Aspekt des Ba

Gua. Sie wird besonders häufig im Cheng-Ting-Hua-System des Ba Gua

angewendet, das die meisten Wurftechniken entwickelt hat. Zu diesen

Techniken gehören die folgenden:

1. Der vertikale Abwärtsfall wird von einer Links-rechts- oder einer

Vorwärts-rückwärts-Umkehrung gefolgt; das alles wird in einer

schnellen, flüssigen und koordinierten Bewegung ausgeführt.

2. Das Absenken des Körpers (entweder physisch oder energetisch oder

beides zusammen) wird mit einer gleichzeitigen Aufwärtsbewegung

der Arme koordiniert.

3. Wenn der Körper Ihres Gegners in der Höhe Ihres Unterleibes an-

gekommen ist, senken Sie den Körper ab und kehren die Bewegung

dann nach oben um, was dazu fuhrt, dass seine Beine nach oben und

sein Kopf oder sein Körper abwärts auf den Boden geschleudert wer-

den. Diese Bewegung wird noch dadurch verkompliziert, dass sich

Ihr Körper und/oder Ihre Füße zusätzlich zu der Auf-ab-Bewegung

Ihres Körpers/Ihres Chi in jede beliebige Richtung bewegen können.

Im Ba Gua sind die Würfe besonders abhängig von einem raschen

Öffnen und Schließen der Gelenke und der Körperhöhlungen sowie

von einer öffnenden und schließenden sowie beugenden Aktion der

Wirbelsäule.

Kampfkünstler, die ein gutes Repertoire von Würfen besitzen, werden in

der Lage sein, ihre Techniken relativ leicht an den Cheng-Ting-Hua-Stil

des Ba Gua anzupassen, und werden finden, dass die Wurf-, Hieb- und

Tritttechniken des Ba Gua einander ausgezeichnet ergänzen. Wer auf das

Schlagen und Treten spezialisiert ist, wird finden, dass die Wurftechniken

des Ba Gua sich relativ leicht in einen Stil integrieren lassen, der sich auf

das Schlagen konzentriert. Wenn man im Kampf vielseitige Fertigkeiten

besitzen will, dann ist es wichtig, auch Würfe zu beherrschen. Kämpft

man mit mehreren Gegnern gleichzeitig, ist es hilfreich, wenn man einen

Gegner in einen anderen hineinwerfen kann, so dass sein Körper den

168

anderen daran hindert, auf Sie einzustürmen. Dies bedeutet im Grunde,

zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, besonders wenn die Füße des

einen Gegners den Kopf oder die Knie des anderen treffen.

Zusammen mit dem Drehen und den Fußarbeitsmustern des Ba Gua

haben die S-förmigen Umkehrungen erheblichen Anteil an dem „mal siehst

du es, mal siehst du es nicht"-Phänomen der Ba-Gua-Anwendungen. Ein

Ausübender des Ba Gua scheint zu den unerwartetsten Momenten zu er-

scheinen und zu verschwinden; er ist aufgrund der komplexen Fußarbeit,

der schnellen Hüftdrehungen und des kurzen Aussetzens des Gewahrseins

des Gegners mitten in einer Richtungsumkehrung dazu in der Lage.

Im Tai Chi sind diese S-Kurven-Techniken besonders in allen Zweigen

des Chen-Stils anzutreffen. Sie tauchen im Tai Chi des großen und des

mittleren Rahmens längst nicht so häufig auf wie in den Tai-Chi-Stilen des

kleinen Rahmens. Im Hsing-I sind diese Techniken am seltensten; sie sind

dort einzig in den Tier-Stilen wie Bär oder Schlange anzutreffen.

Vibrierende Schläge Die Vibrationstechniken werden im Chinesischen

Dou Jin genannt. Im Ba Gua lässt man mit diesen Techniken das gesam-

te Chi des Körpers vibrieren, was dazu führt, dass sich das Öffnen und

Schließen im Körper mit hoher Geschwindigkeit vollzieht. Das erzeugt

einen Maschinengewehr-Effekt, bei dem der Gegner in einem Augenblick

mit voller Kraft von fünf oder sechs vibrierenden Schlägen getroffen wird.

Diese Schütteltechniken sind besonders nützlich:

1. um aus einer Distanz von nur 1 bis 2 Zentimeter Knochen zu zer-

trümmern,

2. wenn man auf äußerst kurze Distanz kämpft, zum Beispiel wenn man

von einem Ringer festgehalten wird und nicht genügend Distanz

hat, um zu einem Hieb auszuholen;

3. um sich von Hebeln zu befreien;

4. gegen Kämpfer, die die Eisenhemd-Technik entwickelt haben, durch

die sie eine ihre inneren Organe schützende Luftschicht wie ein

Autoreifen um ihren Körper herum erzeugen können;

5. bei seitlichen Hieben gegen einen Boxer, der Schlägen gegen den

Kopf auszuweichen vermag.

Im Falle des Kampfkünstlers, der die Schutztechnik des Eisenhemds gemeis-

tert hat, und des Boxers, der auszuweichen vermag, sind die verletzlichen

Teile des Körpers tatsächlich abgeschirmt. Benutzt man die Vibrationstech-

169

nik gegen solch einen Kämpfer, dann entfernt die erste oder zweite Vi-

bration die Pufferzone des Gegners, und der nächste vibrierende Hieb

fügt dann die Verletzung zu. Die vibrierende Kraft hat ihren Ursprung im

Dantien und kann den Körper augenblicklich durchströmen (wie bei einem

Hund, der sich Wasser aus dem Fell schüttelt), oder man kann sie in jeden

spezifischen Punkt des Körpers oder auch in mehrere Punkte fokussieren,

selbst in den Kopf oder die Hüften. Diese Technik, die man am häufigsten

in den Drachen-Stilen des Ba Gua antrifft, ist eine fortgeschrittene Technik,

aber eine sehr wichtige. Dou Jin wird auch häufig im Hsing-I verwendet

(besonders in der I Chuan Linie) sowie im Chen-Stil und im „alten Stil"

des Yang Tai Chi Chuan, wenn auch im Allgemeinen nicht in den „neuen"

Stilen, die auf Yang Chen Fu zurückgehen.

Kompressionshiebe Bei den Kompressionshieben wird die Kraft des

Schlages mit dem Gefühl eines schweren dumpfen Schlages in einen Punkt

in der Tiefe des Ziels kondensiert. Mit einem solchen Hieb kann man zum

Beispiel den fünften Ziegelstein in einem Stapel von fünfzehn Ziegelsteinen

zerbrechen. Wenn Sie diese Technik an einem Sandsack üben (was jedoch

im Ba Gua gewöhnlich nicht zu empfehlen ist, wenn man sein inneres

Chi in maximalem Ausmaß entwickeln möchte), dann wird sich die volle

Kraft Ihres Schlages im Zentrum des Sandsacks konzentrieren, während

der Sack selbst sich gar nicht bewegt. Diese Hiebe können benutzt werden,

um innere Organe oder das Gehirn zu verletzen. Dies ist eine frühere Ebene

der „Baumwollhand", und die Technik wird oft als das Innere-Kampfkunst-

Äquivalent der „Eisenhand" des Shaolin bezeichnet. Diese Methode gibt

es in allen drei Stilen, wo sie gleichermaßen mit der offenen Hand, der

Faust oder dem Unterarm ausgeführt wird.

Hiebe mit der „Baumwollhand" Diese weichen Schläge beruhen auf der

Kraft und dem Durchdringungsvermögen Ihres inneren Chi. Bei diesen

Schlägen sollte man ebensoviel körperliche Kraft anwenden, wie wenn

man einem Neugeborenen über den Kopf streicht. Die Durchdringungskraft

des Chi jedoch kann beim Gegner ein leichtes Unbehagen verursachen

oder auch starke vorübergehende Schmerzen ohne Nachwirkungen, innere

Blutungen oder den Tod. Um diesen Hieb anwenden zu können, braucht

man ein extrem ausgereiftes Können und ausgezeichnete Kontrolle über

das eigene Chi. Auch diese Technik ist allen fortgeschrittenen Ebenen aller

inneren Kampfkünste gemeinsam.

170

Hiebe mit Wellenenergie Wellenenergie-Hiebe scheinen weich oder

kraftlos zu sein, können jedoch extrem machtvoll sein. Sie basieren darauf,

dass man eine Schockwelle durch den Gegner sendet. Die Kraft dieser Hiebe

ähnelt der Kraft, die unter der Oberfläche großer Ozeanwellen vorhanden

ist, die jedoch an der Oberfläche nicht zu sehen ist. Diese Schläge fühlen

sich extrem leicht und gewichtlos an. Sie sind Bestandteil der fortgeschrit-

tenen Ebenen aller drei inneren Kampfkünste.

Die gleichzeitige Projektion von Energie in entgegengesetzte Richtungen

Man kann Energie aus den Händen gleichzeitig in entgegengesetzte Rich-

tungen projizieren, um Gelenke zu zertrümmern, das Rückgrat zu brechen,

innere Organe zu zerstören oder den Kopf zu durchdringen. Diese innere

Technik ist in viele Bewegungen aller drei Stile inkorporiert.

Chin Na

Zum Chin Na gehört, dass man die Hand, einen Arm, eine Schulter, Hüft-

oder Beingelenke eines Gegners nimmt und sie so verdreht, dass man

extreme Gelenkschmerzen oder einen Bruch verursacht. Zu dieser Aktivität

kann gehören, dass man den Finger einer Person verdreht, um eine Schulter

auszukugeln, oder das Fußgelenk verdreht, um ein Knie, eine Hüfte oder

den Rücken einer Person auszurenken. Im Ba Gua und den meisten anderen

chinesischen Kampfkünsten macht Chin Na nie mehr als 5 oder 10 Prozent

der Anwendungen aus. Wenn sich ein Gegner sehr schnell bewegt und

den Körper biegt, um die Winkel zu verändern, kann es äußerst schwierig

sein, irgendeines seiner Gelenke zu fassen zu bekommen. Wenn man die

Gelegenheit erhält, einen Chin-Na-Hebel anzuwenden, kann man das nur

ein Geschenk nennen. In den japanischen und koreanischen Kampfküns-

ten, wo die Hiebe gewöhnlich linear sind, lässt sich das Chin Na häufiger

anwenden, weil die Gelenke eines Angreifers gewöhnlich gerade gehalten

werden. In den chinesischen (und anderen) inneren Kampfkünsten, wo die

Gelenke ständig einknicken und sich biegen und niemals ganz gerade sind,

ist es sehr schwierig, Chin-Na-Hebel anzuwenden.

171

Im Tai Chi besitzt der Chen-Stil die größte Bandbreite von Chin-Na-

Techniken, während der Yang-Stil die geringste Anzahl besitzt. Im All-

gemeinen verfügt das Hsing-I über ein geringeres Spektrum an Chin-Na-

Techniken als sowohl das Ba Gua als auch das Tai Chi.

Würfe

Das Ba Gua besitzt eine große Bandbreite an Wurftechniken. Dies gilt

besonders für die Stile, die auf die Schule von Cheng Ting Hua, eines

Meisters des Shuai Jiao (chinesisches Ringen), zurückgehen. Weil es nicht

allzu viele verschiedene Möglichkeiten gibt, einen Menschen zu werfen,

finden sich die gleichen Arten von Würfen wie im Ba Gua auch im Judo,

Jiu Jitsu, Aikido, Ninjutsu, im chinesischen Ringen und im Nördlichen

Shaolin mit ihren Fußfegern, Beinhebeln und Brechern. Echte Kampfwürfe

werden im Ba Gua angewendet um:

1. den Körper eines Gegners zu verletzten, indem man eine Schulter,

einen Ellbogen, ein Fußgelenk, ein Knie, eine Hüfte oder den Nacken

bricht;

2. um einem Gegner den Atem zu rauben, so dass er nicht weiter

anzugreifen vermag;

3. den Angreifer zu töten.

Im Ba-Gua-Training mit einem Partner werden Würfe so ausgeführt, dass

niemand absichtlich verletzt wird. Der wichtigste Punkt, den es hier zu

betonen gilt, ist nicht, welche spezifischen Würfe es im Ba Gua gibt (das

zu erklären, würde mehrere Bücher füllen), sondern ist die Flüssigkeit und

Verbundenheit zwischen Würfen, Tritten, Hebeln und Armhieben, die im

Ba Gua einzigartig sind. Simultane Hebelwürfe sind im Ba Gua üblich,

ebenso wie der Übergang vom Werfen einer Person zum Hieb gegen eine

andere Person, oder umgekehrt. Ein anderer einzigartiger Aspekt der Kunst

des Ba Gua ist die Fähigkeit, Würfe, Hiebe, Tritte und Hebel flüssig abzu-

wechseln, während man sich in völlig verschiedene Winkel bewegt und

es mit verschiedenen Gegnern aufnimmt.

Der Yang-Stil des Tai Chi konzentriert sich im Allgemeinen nicht sehr

stark auf Würfe, auch wenn seine Hauptvariante, der Wu-Stil, das tut.

Der Chen-Stil hat das breiteste Repertoire an Wurftechniken im Tai Chi.

Im Hsing-I sind die Wurftechniken eher in seinen Tier-Stilen anzutreffen

als in den Fünf Elementen (siehe Seite 295). Alles in allem betont das

Hsing-I von allen inneren Kampfkünsten die Wurftechniken am wenigsten.

172

Tritttechniken

Im Ba Gua gibt es äußerst hoch entwickelte Tritttechniken. Sie sind Teil

dessen, was im Ba Gua Chi Shi Er Tui oder die „zweiundsiebzig Bein-

techniken" genannt wird. Beim allergrößten Teil dieser zweiundsiebzig

Techniken geht es um den Gebrauch der Knie, des Schienbeins und der

Füße zum Angriff während eines Schritts. Dazu gehören Beinhebel, Würfe,

Stampfer und Tritte.

Im Gegensatz zu den Behauptungen einiger englischsprachiger Bücher

über das Ba Gua gibt es tatsächlich Tritte über Taillenhöhe, aber solche

hohen Tritte werden gewöhnlich auf ein Mindestmaß beschränkt. Einige

Schulen in Beijing lehren neue Schüler, die zuvor im Training des Nörd-

lichen Shaolin (wo die Techniken des hohen Tritts ebenso entwickelt sind

wie im Tae Kwon Do, Karate, Savate oder Kickboxen) hohe Tritte gelernt

haben, die Ba-Gua-Methoden des hohen Tritts. Diese Schüler werden ge-

lehrt, wie sie ihre zuvor gelernten hohen Tritte in Methoden des hohen

Tritts umwandeln können, die auf den inneren Prinzipien und der spe-

zifischen Zirkularität und der spiraligen Natur des Ba Gua basieren. Die

Tianjin-Schulen des Ba Gua verwenden ungern Tritte oberhalb der Höhe

des Solarplexus, und viele der südchinesischen Ba-Gua-Schulen mögen

keine Tritte über der Taille. Wenn sie die Wahl haben, treten Ausübende

der südlichen Stile vorzugsweise nicht oberhalb der Leisten oder Nieren.

Das Grundprinzip und die bevorzugte Vorgehensweise im Ba Gua lässt

sich folgendermaßen formulieren: „Je niedriger der Tritt, desto umsichti-

ger und wirksamer ist er." Alle Ba-Gua-Schulen benutzen alle möglichen

runden, rückwärtigen, seitlichen und drehenden Tritte, die höchstwahr-

scheinlich aus dem Nördlichen Shaolin abgeleitet sind, die aber zusätzlich

die eigentümliche kreisförmige und spiralige Methodologie des Ba Gua

verwenden.

Einer der Gründe, warum viele Ausübende des Ba Gua hohe Tritte

vermeiden, ist, dass man beim Stehen auf einem Bein, um mit einem Tritt

anzugreifen, die Genitalien, das Knie, Bein, Steißbein und die Wirbelsäu-

le bloßlegt, wenn das tretende Bein sich in die Luft erhebt. Die meisten

Kampfkünstler werden sich darauf konzentrieren einen Tritt abzublocken

und dann zu kontern. Ausübende des Ba Gua werden sich stattdessen

darauf konzentrieren, das tretende Bein abzufangen und zu kontrollieren,

und vermittels dieser Kontrolle dann den Unterkörper des Angreifenden

anzugreifen. Da die Ba-Gua-Kämpfer Methoden kennen, wie sie jedes

173

Gelenk der unteren Körperhälfte und der Wirbelsäule ausrenken können,

haben sie ihre ganz eigenen Vorgehensweisen in Hinsicht auf Tritte, be-

sonders beim Kampf mit mehreren Gegnern. Eine Faustregel ist, dass man

den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen sollte - entweder durch die

eigene Aktion oder die des Gegners -, bevor man tritt. Es gibt im Ba Gua

zwar Tritte zum Kopf, aber im Allgemeinen gilt, dass man sich umso mehr

Blößen gibt, je höher der Tritt ist. Wenn man trotzdem oberhalb der Leisten

oder Nieren tritt, dann sollte das nur unter ganz bestimmten Umständen

geschehen, wie zum Beispiel:

1. Ihre Hände müssen den Gegner so kontrollieren, dass kein Konter

möglich ist.

2. Wenn Ihre Hände den Gegner nicht kontrollieren, dann müssen

sie seinen Körper so verdrehen oder verwinden, dass dennoch kein

Gegenangriff möglich ist.

3. Wenn Sie jemanden geworfen haben und er sich gerade in der Luft

befindet, so dass er nicht kontern kann.

In Hinsicht auf die Frage, ob man treten sollte oder nicht, ist der wichtigste

Punkt, den es zu beachten gilt, dass man dann, wenn ein Gegner den Tritt

kontern könnte, in der Lage sein muss, den Konter zu erkennen und ihn

zu unterbinden oder den Tritt abzubrechen und zu einer anderen Technik

überzugehen. Die Verteidigungstechniken aller drei inneren Kampfkünste

konzentrieren sich darauf, jede Gelegenheit auszunutzen, das tragende Bein

oder die Wirbelsäule des Gegners anzugreifen, wenn er sie beim Angriff

mit einem hohen Tritt bloßlegt.

Das Tai Chi hat ein kleineres Repertoire an Tritttechniken als das Ba Gua.

Es konzentriert sich hauptsächlich auf hohe wie niedrige Vorwärtstritte,

seitliche Tritte und Lotos-Tritte (Auswärtssichel) sowie Rundtritte gegen

den Unterkörper. Im Chen-Stil werden Sprungtritte praktiziert, während das

im Yang- und im Wu-Stil nur innerhalb der Waffen-Techniken geschieht,

besonders beim Kampf mit dem Breitschwert. Das Hsing-I verwendet keine

Tritte gegen den Kopf und kennt nur den abwärts stampfenden Tritt gegen

den Oberkörper. Allerdings gibt es im Hsing-I die ganze Bandbreite der

Tritte gegen den Unterkörper, besonders gegen das Knie.

Die Tritte im Ba Gua stammen aus den folgenden drei Quellen.

Ein Tritt ist ein Schritt und ein Schritt ist ein Tritt Das Grundprinzip

des Tretens im Ba Gua ist, dass jeglicher Tritt ein Schritt ist und jeglicher

174

Schritt ein Tritt. Alle Schritte des Kreisgehens im Ba Gua lassen sich in

Trittaktionen überführen. Die Vorwärtsschritte des Ba Gua werden dann

zu Vorwärtstritten, die Rückwärtsschritte zu Rückwärtstritten, die Seit-

wärtsschritte zu Seitwärtstritten, die Kou-Bu-Schritte zu runden Tritten

und die Bai-Bu-Schritte zu Sichel- und Hakentritten. So kann zum Bei-

spiel ein Schritt vorwärts zu einem Tritt werden, der überall hin zwischen

Fußgelenk und Kopf zielen kann. Diese Tritte werden unmittelbar vom

Boden aus geführt, ohne dass das Knie vor dem Treten angehoben wird.

Solche Tritte sind Teil der normalen Gehsequenz und kommen gewöhnlich

unterhalb des Gesichtsfeldes des Gegners hoch, so dass sie für den Gegner

relativ unsichtbar sind.

Im Ba Gua wird die Mehrzahl der Tritte nicht wie im Karate, Nördlichen

Shaolin oder Savate ausgeführt, wo man steht und dann zuerst das Knie

hebt, um dann zu treten. Die Mehrzahl der Tritte im Ba Gua wird vielmehr

ausgeführt, während man einen Schritt macht; anstelle des Schrittes hebt

sich das Bein in Form eines Tritts auf einer geraden Bahn vom Boden.

Diese Details der Tritttechnik, die im Gehen des Ba Gua verborgen sind,

sind nur wenig bekannt.

Dieselbe Situation gibt es im Tai Chi, wo in der Art und Weise, wie der

Fuß auf dem Boden steht, wie er gehoben und in der Luft bewegt und wie

er wieder abgesetzt wird, ein ganzes verborgenes Repertoire von Tritt-,

Block- und Wurftechniken enthalten ist. Um sich in diesen Techniken

zu schulen, muss man die Geschwindigkeit der Tai-Chi-Form dramatisch

verlangsamen. Diese Langsamkeit ist notwendig, um die außerordentliche

Balance und Verwurzelung sowie die Fähigkeit, an den Beinen des Gegners

zu kleben zu entwickeln, für die das Tai Chi in China zu Recht berühmt

ist. Um diese verborgenen Techniken von Tai Chi und Ba Gua erlernen zu

können, braucht man die Anleitung eines Meisters der inneren Kampf-

kunst, der einem die subtilen Methoden zu erklären vermag, wie man seine

mentale Intention benutzen kann, um den Körper zu aktivieren. Ohne eine

solche Unterweisung kann es sein, dass selbst ein Kampfkunstexperte die

Techniken nicht zu erkennen vermag. Die Schritttechniken des Hsing-I

zielen besonders darauf ab, gegen den Unterkörper eines Angreifers zu

treten oder stampfen.

Aus Formen abgeleitete Tritte und Kniestöße Im Ba Gua schließt die

Arbeit mit Formen spezifische Bewegungen ein, die zu Vorwärts-, Seit-

wärts- oder runden Tritten führen, wozu gewöhnlich auch hohe Tritte

175

zum Nacken oder zum Kopf gehören sowie Kniestöße zum Brustkorb, den

Rippen und den Hüften. Dabei wird das Knie gewöhnlich zuerst angehoben,

bevor der Tritt ausgeführt wird. Dasselbe gilt für die spezifischen Tritte

im Tai Chi und Hsing-I.

Abwärts t re ten oder Stampfen Diese Abwärtstritte entstehen aus ei-

nem plötzlichen Absenken des physischen Körpers und einem plötzlichen

Absinken des Chi durch das Bein in den Fuß. So enthält zum Beispiel

„Die Schlange kriecht abwärts" einen niedrigen Seitwärtstritt; ein „Ze-

hen auswärts"-Schritt des Ba Gua enthält ein 45-Grad-Stampfen zum

Knie-Schienbein des Gegners, zum Fußgelenk und/oder zum Fuß. Und

ein Abwärts-und-seitwärts-Stampfen nach hinten entwickelt sich aus der

Aktion einer klaren Abwärtsbewegung beim Schritt. Stampfen gegen den

Unterschenkel oder den Fuß wird verwendet, um ein Bein, ein Gelenk oder

die Wirbelsäule des Gegners auszurenken oder zu brechen. Diese Techniken

herrschen besonders im Hsing-I vor.

Auch wenn es eine Spezialität von Ba-Gua-Kämpfern ist, ein tretendes

Bein des Gegners abzufangen und dann das Bein und/oder die Wirbelsäule

des Gegners zu brechen, treten sie selber nicht zu, wenn sie nicht sicher

sind, dass der Tritt nicht gekontert werden kann. Zu diesen Methoden

gehört das Kreuzen der Arme des Gegners; die Balance des Gegners kon-

trollieren, gewöhnlich indem man seine Hände ergreift und ihn aus der

Balance zieht; den Schwung des Gegners so lenken, dass er nicht mehr

die Richtung wechseln und zugreifen kann; oder den Gegner treten, wenn

einer oder beide seiner Füße in der Luft sind.

Mangel von Techniken am Boden

Etwas, das im Repertoire des Ba Gua nur allzu offensichtlich fehlt, sind

Techniken für den Kampf am Boden. Im Ba Gua gilt der Kampf am Boden

als angemessen für den Kampf mit nur einem Gegner, aber als strategisch

unklug im Kampf mit mehreren Gegnern. Hier ist man der Ansicht, dass

ein Gefährte des Gegners, mit dem Sie am Boden ringen, Sie angreifen

und Sie treten oder auf Sie stampfen oder Sie anderweitig auf tödliche

Weise verletzen kann. Nichtsdestoweniger werden die Würgegriffe und

Festhaltetechniken der Bodenarbeit auch im Ba Gua ausgeführt, allerdings

in einer stehenden Positur oder einer tiefen Hocke. Aufgrund seiner niedri-

gen Standposituren, des Kreisgehens und der spezifischen Posituren in der

176

Ba-Gua-Form besitzt diese Kampfkunst Techniken zum Bodenkampf, bei

denen die Gesäßbacken nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt sind.

Diese Haltungen ermöglichen es Ihnen, einen großen Gegner zu unterlaufen

oder mit Bodenkämpfern und Ringern umzugehen, wobei Sie trotzdem

fortfahren können, mit acht Gegnern gleichzeitig zu kämpfen.

Wie das Ba Gua, besitzt auch die Kampfkunst des Tai Chi extrem tiefe

Hockposituren (wie bei der Hockenden Einzelpeitsche, dem Stoß abwärts

und extrem niedrigen Push-Hands-Praktiken). Das Hsing-I hat Affen-,

Drachen- und Adler-Posituren für den Bodenkampf.

Üblicherweise lässt sich in den inneren Kampfkünsten eine Reihe von

Techniken anwenden, wenn man auf dem Boden kämpft, etwa Nervenhiebe,

Hautkrallen, um heftige Schmerzen zu verursachen, und verletzende Hiebe

ohne Ausholbewegung. Was den Kampf gegen einen Gegner angeht, ist es

durchaus legitim, wissen zu wollen, wie man vorgehen soll, wenn man es

auf dem Rücken oder auf dem Bauch liegend mit einem im Bodenkampf

erfahrenen Gegner aufnehmen muss, der einem die Gelenke brechen oder

die Luft abschnüren kann. Bei einem entsprechenden Training müssen

folgende Punkte beachtet werden:

1. Auf einer Matte oder auf Beton am Boden zu kämpfen, verlangt ei-

nen ziemlich gesunden Körper, weil die Gelenke und die Wirbelsäule

beim Bodenkampf besonders anfällig für Verletzungen sind. (Wer

zum Beispiel chronische Rückenprobleme hat, sollte es besonders

vermeiden, geworfen zu werden oder den Körper beim Ringen auf

dem Boden mit Gewalt verdreht zu bekommen.)

2. Der Bodenkampf ist in jungen Jahren leichter zu erlernen; sind

einem die Fertigkeiten für den Bodenkampf allerdings erst einmal

in Fleisch und Blut übergegangen, dann kann man sie sich bis in

ein hohes Alter bewahren, wie etliche erstklassige Judo- und Jiu-

Jitsu-Kämpfer bewiesen haben.

3. Es empfiehlt sich, sich in verschiedenen Kampfkünsten zu schulen

und den Wert von Bodenkampftechniken des Judo, Jiu Jitsu und

Aikido (Swari Waza genannt) kennen zu lernen, auch wenn man

nur lernen will, wie man sich gegen sie verteidigen kann. Es gibt

natürlich eine Menge von Dingen, die man in einem echten Kampf

auf dem Boden tun kann, die normalerweise von den Regeln der

Ringkampfkünste verboten sind, wie etwa Beißen, Kratzen, in die

Leiste greifen oder den Kopf des Gegners auf den Boden schmettern.

177

4. Wenn man einmal eine gewisse Fertigkeit im Ringen erlangt hat,

sollte man sich nicht allzu sehr darauf verlassen und zu lange auf

dem Boden bleiben. Wie das Ba Gua betont, ist man beim Boden-

kampf besonders verletzlich, wenn man es mit mehreren Gegnern

zu tun hat.

Die richtige Balance zwischen einem regelmäßigen Training in den inneren

Kampfkünsten und einem Training in den Ringkampfkünsten zu finden

ist, wie bei allem anderen, eine Frage der Abwägung der zur Verfügung

stehenden Zeit gegen die eigenen Prioritäten.

Kampfwinkel

In einer Konfrontation mit einem Gegner möchte man vermeiden, über-

wältig zu werden, während man gleichzeitig den Gegner überwältigen

möchte. Man kann die Situation mit der einer Mücke vergleichen, die

nach einer Mahlzeit sucht, aber erst einmal ein Loch im Moskitonetz

finden muss, um zu ihrem Opfer vorzudringen, während man selbst sein

Moskitonetz frei von Löchern halten möchte. Jeder Angriff hat dann am

meisten Aussicht auf Erfolg, wenn es für sie eine klare Linie ungehinderten

Zugangs zu seinem Ziel gibt. Das heißt, dass es ein deutliches Loch in dem

Moskitonetz gibt, durch das die Mücke leicht hindurchfliegen kann. Für

einen Kampfkünstler gibt es nur wenige Möglichkeiten, solch ein deutliches

Loch im Netz aufzutun:

1. Ihr Gegner ist benommen oder aus irgendeinem Grund bewegungs-

unfähig.

2. Sie können sich so schnell bewegen, dass Ihr Gegner Ihren Angriff

gar nicht kommen sieht oder nicht genug Zeit hat, um angemessen

zu reagieren.

3. Indem Sie die Winkel Ihrer Arme, Beine und Ihres Torso ausrichten,

können Sie der Kraft Ihres Gegners ausweichen und unbehindert

durch jedes kleine Loch schlüpfen, das sich in seiner Verteidigung

auftut.

Wenn die Arme oder Beine Ihres Gegners die Ihren berühren oder auf

irgendeine Weise Ihren klaren Angriffswinkel blockieren können, dann

kann es sein, dass Ihrem Angriff genug Kraft entzogen wird, so dass er

entweder völlig wirkungslos bleibt oder doch in seiner Wirkung nicht

178

dem entspricht, was im Moment nötig wäre. Die Arme von jemandem zu

treffen ist etwas ganz anderes, als einen offenen Zugang zu einem Angriff

auf seinen Körper oder seinen Kopf zu haben. Ganz ähnlich ist es mit der

Defensive. Wirksame defensive Kampfwinkel erlauben es dem Verteidiger,

die Kraft des Angreifers mit minimalem Kraftaufwand abzulenken, was es

möglich und leichter macht, zum Gegenangriff überzugehen. Je besser der

Verteidigungswinkel ist, desto weniger Kraft des Angreifers wird der An-

gegriffene mit seinem Körper absorbieren müssen, was besonders wichtig

ist, wenn der Gegner deutlich stärker ist. Je mehr der Angegriffene von der

Kraft des Angriffs frontal einstecken muss, desto größer ist die Gefahr, dass

er durch den Schock des Treffers zeitweilig in seiner Bewegung stecken

bleibt und damit noch verletzlicher für den nächsten Angriff wird und

nicht zu einem wirksamen Gegenangriff fähig ist.

Wenn Sie Ihre Kampftechnik also auf realistische Weise in einem Kampf

anwenden möchten - entweder zur Verteidigung oder zum Angriff ist

das Erlernen der Kampfwinkel eine grundlegende Fertigkeit, die für alle

drei inneren Kampfkünste von wesentlicher Bedeutung ist. Die Kampf-

winkel-Methoden des Ba Gua sind unter den drei inneren Kampfkünsten

wohl die am höchsten entwickelten (siehe Seite 355).

In der ersten Phase der Unterweisung in den Kampftechniken und ihren

grundlegenden Kampfwinkeln werden diese in allen drei inneren Kampf-

künsten oft durch festgelegte und choreographierte Angriffs- und Vertei-

digungsbewegungen eingeübt, die üblicherweise Zwei-Personen-Formen

genannt werden. Zwei-Personen-Formen sind sehr nützlich, um in allen

drei inneren Kampfkünsten das grundlegende Kampfvokabular zu erlernen.

Diese Formen sind jedoch nur ein anfänglicher Ausgangspunkt für das

Verständnis der Techniken und für das Erlangen der Fähigkeit, das ganze

Potenzial dieser Techniken und die Kampfwinkel, die sie enthalten, prak-

tisch umsetzen zu können. Man gelangt gewöhnlich dazu, dieses Potenzial

auszuschöpfen, indem man den Herz-Geist entwickelt, was durch Übungen

mit Handberührung und nicht-festgelegte Sparrings geschieht.

179

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Wing Chun

In den frühen 1970er Jahren schien niemand in Chen

Man-chings Schule in New York freies Sparring zu

praktizieren. Während dieser Zeit freundete ich mich

mit dem inzwischen verstorbenen Clifton Cooke an, der

einer der besseren Praktizierenden des Push Hands in

dieser Schule war. Das führte dazu, dass wir beide in der Schule und

außerhalb der Schule gemeinsam unablässig die Formen, Push Hands,

Schwertkampf und die Zwei-Personen-Formen üb ten. Eines Tages er-

zählte mir Clifton, er lerne eine aus Kanton stammende Shaolin-Kampf-

kunst, die sich Wing Chun nenne. Er beschrieb sie als eine auf linearen

Methoden basierende Kampfkunst, in der es nicht viel formelle Arbeit mit

Formen oder Chi Gung gäbe und die sich stattdessen auf eine Form des

Sparring mit Handberührung konzentriere, die Chi Sau genannt werde.

Im Chi Sau kann man die Sensibilität des Push Hands des Tai Chi erlernen

und anwenden, während man gleichzeitig versucht zu stoßen, zu schla-

gen und sogar gegen die Schienbeine und Knie des Partners zu treten.

Was er mir erzählte, hörte sich interessant an, und so begann ich, damals

und auch nach meinem letzten Ausflug in den Osten gemeinsam mit ihm

Wing Chung zu lernen. Das Wing Chun gefiel mir, weil seine Stöße und

Schläge ein tief in mir vorhandenes Bedürfnis erfüllten, die sanften Tech-

niken in einem realistischen Sparring anzuwenden, wozu sich beim Push

Hands keine Gelegenheit bot.

In den 1970er Jahren war das Wing Chun in Amerika und Europa so

ziemlich die einzige Kampfkunst, in der man die Armberührungssensibi-

lität in Sparrings stundelang mit enthusiastischen Partnern erlernen und

üben konnte.21 Die Übung in dieser Kampfkunst war gut für mich, da sie

mir erlaubte, die Sensibilität beim Schlagen, Kontrollieren und Abfangen

zu erlangen, die notwendig ist, wenn man die Fähigkeit zum „Kleben"

in irgendeinem Stil der Kampfkunst wirklich meistern will. In Taiwan

herrschte nie ein Mangel an bereitwilligen Übungspartnern und Lehrern

21 In den 1970er Jahren waren die meisten der Shaolin-Schulen der Kampfkunst im

Westen noch nicht vertreten. Jene, die hier anzutreffen waren, kamen hauptsächlich

aus Kanton, nicht etwa, weil diese Schule in China vorherrschend war, sondern weil

kaum Ausübende aus anderen Regionen Chinas entweder als Einwanderer oder als

Studenten in den Westen gekommen waren. Ende der 1980er Jahre begann sich diese

Situation mit dem Beginn der Öffnung Chinas für die Außenwelt und der Veränderung

der politischen Situation in Taiwan zu ändern.

180

im Bereich der Handberührungspraktiken; das galt für die inneren Kampf-

künste ebenso wie für die äußeren und für die Mischstile. Im Westen üb-

ten die Ausübenden der inneren Kampfkünste diese Sparringpraktiken

noch nicht, nur das Push Hands. Sowohl im Westen als auch in Hongkong

lernte ich das Wing Chun hauptsächlich bei Mitgliedern der Schule von

Yip Man22; in Hongkong betrieb ich auch einige vergleichende Studien

bei einem Mitglied der Fatshan-Schule.

Wing Chun basiert auf Hand- und Armtechniken. Es benutzt auch Tritt-

techniken, hauptsächlich beim Annäherungskampf, wobei man ebenso

wie in den inneren Kampfkünsten zuerst die Arme des Gegners kontrol-

liert und ihn durch diese Kontrolle bewegungsunfähig macht oder ihn

aus dem Gleichgewicht bringt, bevor man mit einem Tritt, zumeist zum

Unterkörper, angreift. Die Haupt-Kampftechniken des Wing Chun sind

bestens geeignet, um die Präzision der linearen Kampfwinkel in Hinsicht

auf die Positionierung der eigenen Ellbogen und Hände relativ zur Kraft

der Tritte und Schläge eines Gegners zu erlernen. Das Wing Chun entwi-

ckelt extrem schnelle Reflexe. Es arbeitet die linearen Kampfwinkel für

die Arme ziemlich gut heraus, allerdings nicht alle, die man in Hüfte und

Beinen braucht. Die Philosophie des Wing Chun ist ebenso wie die des

Hsing-I ziemlich pragmatisch ausgerichtet; hier wird Wirksamkeit mehr

geschätzt als alles andere. Bei den vielen Selbstverteidigungskursen für

Frauen, die ich in New York City gegeben habe, erwies sich das Wing

Chun als ein wertvolles Hilfsmittel. Während meiner beiden folgenden

längeren Reisen nach Hongkong übte ich auch weiterhin Wing Chun.

Viele Kampfkünstler pflegen das Wing Chun etwa folgendermaßen zu

charakterisieren: „Es ist toll, wenn man in einer Telefonzelle, in einem

Aufzug oder unter ähnlich beengten Umständen kämpfen muss, aber in

einer anderen Umgebung kommt man damit in Schwierigkeiten." Beson-

ders dann, so möchte ich hinzufügen, wenn genügend Platz vorhanden

ist, so dass man geworfen werden kann. Diesen Punkt machte mir der

inzwischen verstorbene Bill Paul deutlich.

Bill war der erste Mensch, der mich an die praktische Seite der chinesi-

schen Kampfkünste heranführte. In Judo-Kreisen hatte Bill den Spitz-

namen „der starke Kalifornier". Er besuchte meine Judo-Klasse während

eines Aufenthalts in New York, wo er Wettkämpfe absolvierte, um einen

Platz in der Judo-Olympiamannschaft für die Spiele von 1964 zu erhal-

ten. Bill stammte aus San Francisco, und er hatte dort Ende der 1950er

Jahre begonnen, chinesische Kampfkünste zu üben. Damals schien diese

Stadt der einzige Ort in der westlichen Welt zu sein, wo eine breite Palette

12 Yip Man war der Lehrer von Bruce Lee.

181

von chinesischen Kampfkünsten für nichtchinesische Schüler zugänglich

war. Bill arbeitete manchmal als Türsteher und wusste deshalb praktisch

nützliche Kampfkünste zu schätzen. Als die Klasse beendet war, blieb er

noch eine Weile um zu plaudern. Das Gespräch führte uns zu der Bezie-

hung zwischen Judo und Karate, und Bill begann, über Gung Fu zu spre-

chen, insbesondere über Choi Li Fut, Fut Gar und Hung Gar. Da ich als

einziger in der Judo-Klasse auch Karate übte, wurde ich sein Gegner. Es

war sehr lehrreich zu erfahren, wie er mich festnageln und meine Hände

abfangen konnte und wie er mich von vorne, von hinten und von den

Seiten mit Techniken treffen konnte, von denen ich nicht einmal wusste,

dass sie existierten. Seine Angriffe riefen mein lebenslanges Interesse an

Gung Fu wach.

Während meiner Zeit an der Universität in Japan traf ich Bill wieder, als er

kam, um im Hauptquartier des Kokodan Judo zu trainieren. Zu dieser Zeit

war ich bereits wesentlich fortgeschrittener, und wir konnten wirklich ge-

genseitig Gung-Fu-Techniken austauschen, was wir auch gelegentlich ta-

ten, nur dass Bill inzwischen das Kantonesische Weißer Kranich, Affenbo-

xen und Wing Chun praktizierte und ich einen Hintergrund in den inneren

Kampfkünsten und den Affen-Techniken des Hsing-I hatte. Einige Jahre

später trafen wir uns durch Vermittlung eines gemeinsamen Freundes in

Berkeley in Kalifornien wieder. Ich war an die Westküste gekommen, um

herauszufinden, ob sich in der Bay Area ähnliche Trainingsmöglichkeiten

in den chinesischen Kampfkünsten fanden wie in Hongkong und Taiwan.

An jenem Nachmittag in Berkeley hatten wir viel Spaß. Bill und ich be-

gannen ein leichtes Sparring. Wie bei zwei Jazzmusikern, die gemeinsam

jammen, kamen wir beide langsam immer mehr in Fahrt, während wir

unsere verschiedenen chinesischen Kampftechniken benutzten, um ein-

ander anzugreifen und zu kontern. Wir befanden uns in einem ziemlich

großen Raum, so dass wir viel Bewegungsfreiheit hatten. Bill besaß groß-

artige Ellbogentechniken, die einen dazu motivierten, sich in der Hüfte zu

drehen, um ihnen auszuweichen, damit man nicht getroffen wurde. Mir

wurde klar, dass Bill im Ringen wesentlich besser war als ich; deshalb

versuchte ich gar nicht erst, ihn zu werfen, weil ich wusste, dass er mei-

nen Angriff sofort gekontert hätte. Wir waren beide zu gut trainiert, um

einen wirksamen Hebel zuzulassen. Wir benutzten niedrige Tritte, da ein

hoher Tritt eine Einladung zu einem Wurf gewesen wäre. Von den inneren

Kampfkünsten her besaß ich die Fähigkeit, in die Hocke zu gehen und

das Gewicht zu verlagern, was sich als sehr nützlich erwies. Wenn Bill zu

einem Wurf ansetzte, ging meine Hand zu seiner Leiste, so dass er es bald

wieder aufgab, mich werfen zu wollen. Gelegentlich gelang es uns beiden,

den anderen durch die Luft fliegen zu lassen.

182

Nach einer Weile beschlossen wir, etwas Wing Chun Chi Sau zu praktizie-

ren, das oft in ein Sparring freier Form überging. An einem bestimmten

Punkt dachte ich, ich hätte vom Kampfwinkel her die Oberhand gewon-

nen und wollte Bill den Rest geben, wobei ich mich strikt an die Wing-

Chun-Technik hielt. Das erwies sich als ein sehr schlechter Schachzug.

Da ich nicht auf alle meine Hüft- und Fußwinkel geachtet hatte, fand ich

mich plötzlich in einem wunderbar getimten Wurf durch die Luft fliegen.

Diese Erfahrung machte mir unmissverständlich klar, dass einen in der

Kampfkunst das, worauf man nicht achtet, zum Verhängnis werden kann.

Für den Rest unseres Sparrings bediente ich mich nicht mehr dieser hand-

greiflichen Wing-Chun-Strategie, und Bill vermochte mich nicht mehr zu

werfen. Nach unserem Sparring verriet Bill mir, wo die guten Schulen für

chinesische Kampfkunst in San Francisco zu finden waren. Ich sah mir

die meisten von ihnen näher an und beschloss dann, zu weiteren Studien

wieder in den Osten zurückzukehren.

Im Laufe der Jahre fiel mir diese Anfälligkeit des Wing Chun für Würfe

immer wieder auf, besonders in Vollkontakt-Turnieren im Fernen Osten,

wo Ringer zuerst Kontakt mit den Armen eines Wing-Chun-Kämpfers

aufnahmen und einen Hieb abfingen oder sie festhielten und sie dann

sehr hart zu Boden warfen. Ich nahm diese Einsicht in Hinsicht auf das

Hsing-I sehr ernst, da auch dieser Stil hauptsächlich mit den Händen ar-

beitet. Doch war das Studium der Winkel für den Kampf mit den Armen

im Wing Chun überaus nützlich. Es bereitete des Boden für ein Verständ-

nis des wesentlich breiteren Spektrums an Kampfwinkeln in den inneren

Kampfkünsten (siehe Seite 178), besonders im Bereich der Fußarbeit und

der Wechsel der Winkel der Hüfte in der Bewegung und bei Drehungen.

Die Bedeutung der Tierformen in den inneren Kampfkünsten

Die Praxis der Tierformen ist in den äußeren Kampfkünsten üblich. Der

Begriff „Tier" bezieht sich hier auf das gesamte Tierreich, also auf Säu-

getiere, Fische, Vögel und Reptilien - sowohl reale Tiere als auch mythi-

sche. Die Adepten der chinesischen Kampfkünste haben Tiere sehr genau

beim Kampf beobachtet und haben analysiert, was sie tun und was sich

als wirkungsvoll erweist. Sie beobachteten, wie sich Tiere im Kampf auf

eine ganz bestimmte Weise bewegten: Affen sprangen, rollten auf dem

Boden und kletterten auf andere Tiere und auf Bäume. Bären begraben

183

andere Tiere unter sich, bevor sie sie töten. Vögel schießen hin und her

und stoßen herab. Tiger springen aus einer kauernden Positur. Und auch

den mythischen Tieren schrieb man alle möglichen Kampfbewegungen

zu. Jedes Tier hat seine eigene natürliche Waffe: Bären erdrücken andere

Tiere mit ihrer Schulter; Tiger schlagen mit ihren Krallen zu; Kraniche

lassen ihre Flügel in Maschinengewehrtempo vibrieren; Schlangen beißen

sehr gezielt zu oder würgen ihre Beute zu Tode; Affen kneifen, hauen,

reißen mit ihren Zähnen und schlagen mit dem Handgelenk; und Pferde

zerschmettern mit ihren Hufen.

Doch jenseits aller körperlichen Bewegungen und natürlichen Waffen,

mit denen es ausgestattet ist, lässt jedes Tier in seinem Kampfverhalten eine

spezifische Strategie erkennen. Es wird auch Taktik anwenden, um diese

Strategie umzusetzen: ausweichen und zuschlagen, blitzschneller Angriff,

verwirren und dann zuschlagen, mit überwältigender Kraft auf den Gegner

zu stürmen, außerordentliche Geschwindigkeit anwendend und so weiter.

Die Tierformen der Kampfkunst versuchen die verschiedenen Qualitäten

kämpfender Tiere auf den Kampf zwischen Menschen zu übertragen.

Doch Menschen sind keine Tiere. Wir haben nicht vier Beine, einen

Schwanz, Flügel, Fangzähne oder Klauen. Wir sind weder so groß noch

so klein wie manche Tiere, und wir können auch nicht fliegen. Aber wir

besitzen einen Geist, und wir können unseren Körper mit Hilfe dieses

Geistes umformen. In den inneren Kampfkünsten bringt die Anfangsstufe

der Unterweisung in den Tierformen den Ausübenden dazu, spezifische

körperliche Kampftechniken zu erlernen. Dazu mag gehören, dass Sie

kauern, hüpfen, springen, sich drehen oder Ihre Hände, Arme, Ihren Rumpf

oder Ihre Füße so bewegen, dass Sie die Bewegung von Tieren imitieren.

Fingerknöchel können zu Pferdehufen werden, Finger zu Krallen, Ellbo-

gen zu Hörnern, Handflächen zu Tatzen, Handrücken zu Flügeln, und so

weiter. Doch bei all dem sind die körperlichen Techniken nicht der wich-

tigste Aspekt der Tierformen in den inneren Kampfkünsten. Wichtiger ist,

dass der Ausübende zum Geist des Tieres wird, das seine Kampfstrategien

erzeugt und anpasst.

Jedes Tier hat eine spezifische geistige Eigenschaft. Der Bär zum Bei-

spiel trottet daher, bis er sich plötzlich sehr explosiv und schnell bewegt;

Katzen, besonders Tiger, sind wild; Pferde sind stürmisch; Affen sind er-

regbar und boshaft; Schlangen sind geschmeidig und verschlagen; Vögel

sind frenetisch, und so weiter. Manche Tiere töten mit einem klaren Hieb,

andere brauchen dazu mehrere Angriffe.

184

Was im Folgenden über die Tierformen gesagt wird, bezieht sich nur

auf die inneren Kampfkünste. Es mag manchmal auch für die Tierformen

des Shaolin zutreffen, manchmal auch nicht.

So wie zu dem echten Tier, das sie nachahmt, gehört auch zu jeder

Tierform der inneren Kampfkünste ein für die Wahrnehmung von Ge-

fahr und die Reaktion darauf typischer Bewusstseinszustand. Bei jeder

einzelnen Tierform geht es darum, in den Geist des Tieres einzudringen.

Wenn man eine Tierform übt, dann lernt man, wie das jeweilige Tier zu

denken, Situationen wahrzunehmen wie dieses Tier und seine Energie zu

mobilisieren, wie das Tier es tut. Das wird nicht nur als eine spezifische

Technik ausgeführt, sondern als eine ganze Art und Weise, zu sein und mit

einer Situation umzugehen. Diese Methode ermöglicht es Ihnen, nicht nur

eine spezifische körperliche Bewegung eines Tiers nachzuahmen, sondern

sich mental anzupassen und von einer Technik zur nächsten überzuge-

hen, so wie ein Tier sich in der Situation eines Kampfes ständig anpasst

und reagiert. Man muss lernen, sich in den Geisteszustand des Tieres zu

versetzen und seinen Zorn zu leben, seine Bösartigkeit, sein absolutes

Selbstvertrauen, seine Wildheit, seine Verschlagenheit, seine Losgelöstheit,

seine Fähigkeit, sich anzuschleichen, und so weiter.

Das mag sich zwar faszinierend anhören, aber aus einem anderen

Blickwinkel gesehen, hat man dann, wenn man zu einem Tier wird, nur

einen Schritt rückwärts auf der Leiter der spirituellen Evolution getan.

Der nächste evolutionäre Schritt vorwärts bestünde darin, sich all die

funktionierenden Kampfstrategien des Tieres zu bewahren, dabei aber ei-

nen klaren, stillen Geist zu bewahren, so dass man ein Mensch bleibt und

nicht zu einem Tier wird. Ihr Geist muss lernen, Ihren Körper allein durch

den Gebrauch von innerer Kraft und Klarheit der Intention zu bewegen,

und nicht mit Hilfe von Zorn und anderen animalischen Emotionen, die

in einem Kampf nur allzu leicht aufgerührt werden.

Wie ich schon im ersten Kapitel gesagt habe, tritt die Klarheit der

Intention an die Stelle der Ausschüttung von gewalterzeugenden Hor-

monen als Quelle Ihrer Kraft und Motivation zur Selbstverteidigung und

befreit Sie von dem Kampf-Flucht- oder Erstarrungs-Reflex. Wenn sie auf

dieser Ebene weit genug fortschreiten, wird der Drang, einen Angreifer

zu besiegen, zuerst abgelöst von dem Wunsch, ihm, wenn möglich, kein

Leid zuzufügen, und dann von dem Wunsch, die gewalttätige Absicht in

ihm zu neutralisieren. Zu dieser Neutralisierung sollte es während der

Konfrontation kommen und sie sollte auch dazu verwendet werden, die

185

Energiematrix des Angreifers unterschwellig dahingehend zu beeinflussen,

dass seine Neigung zur Gewalt nach dem Kampf verringert ist. An diesem

Punkt beginnen die Tierformen der inneren Kampfkünste sich dem spi-

rituellen Bereich anzunähern, sowohl während der Soloformen als auch

während der Kampfanwendungen. Hier werden, kurz gesagt, spezifische

Techniken vermittelt, die zu dem Ziel hinführen, das eigene Bewusstsein

und das Ihres Gegners zu erweitern.

Sparringpraktiken

Wie das Tai Chi und das Hsing-I entwickelt auch das Ba Gua Kampffer-

tigkeiten durch die Übung einer methodischen Sequenz von Solo- und

Partnerübungen. Wie wir bereits angesprochen haben, ist das Kreisgehen

bei gleichzeitiger Übung der sechzehn grundlegenden Nei-Gung-Energie-

übungen die eine wichtigste Ba-Gua-Übung zur Entwicklung der Kampf-

kunst-Kraft. Wird das mit dem Halten von Stellungen, Soloübungen und

Hand-Wandlungen kombiniert, dann kann man das Ba Gua als körperliche,

energetische und spirituelle Kunst in vollem Umfang realisieren.

Aber auch wenn allein die Übung dieser Solopraktiken Sie zu einer

gewissen Kompetenz als Kämpfer führen kann, muss diese Schulung doch

durch spezifische Trainingspraktiken mit einem Partner ergänzt werden,

damit Sie das Ba Gua als Kampfkunst voll entwickeln können. Es gibt

einfach keinen Ersatz für die Arbeit mit einem lebendigen Menschen. Zu

den Techniken für die Arbeit mit Zwei-Personen-Anwendungen gehört:

1. Rou Shou; 2. Kreisgehen mit zusammengelegten Handflächen, wobei

sowohl abgesprochene als auch spontane Angriffe und Verteidigungen

ausgeführt werden; 3. Angriffe und Verteidigungen auf nahe, mittlere

und weite Distanz (sowohl abgesprochene als auch spontane); und 4.

freies Sparring.

Für den Schüler auf einer mittleren Ebene der Schulung im Ba Gua oder

Tai Chi geht es darum, die Rundheit der eigenen Techniken zu bewahren,

so dass er, auch wenn er getroffen wird, ohne von Trägheit, emotionaler

Erstarrung oder körperlicher Spannung verursachte Pausen von einer Tech-

nik zu einer anderen übergehen kann. Diese Praxis fördert die Fähigkeit,

kühlen Kopf zu bewahren und unter Druck nicht zu erstarren. Da sie letzt-

lich den Gegner berühren müssen, damit eine Kampftechnik funktionieren

kann, macht das Rou-Shou-Training Sie mit dem Prozess von Wandlungen

an dem Punkt bekannt, wo Ihr Körper den Gegner berührt, gewöhnlich

186

die Arme. Das Rou-Shou-Training schlägt innerhalb des Körper-Geistes

des Übenden eine Brücke zwischen dem Zögern und der Fähigkeit, zum

nächsten Punkt überzugehen; dieser nächste Punkt kann der Schock der

Berührung oder des Schlagens von Armen sein, ein Wurf oder ein Hebel.

Die Hauptziele der Rou-Shou-Übung sind:

1. Sensibilität und Lebendigkeit der Berührung entwickeln;

2. die Neigung zum Erstarren oder zur Hysterie im Kampf überwin-

den;

3. die Fähigkeit entwickeln (wie im Push Hands des Tai Chi): a) sich

zu verwurzeln; b) die Hüfte und die Glieder zu drehen; c) die Arm-

gelenke einzuknicken; d) und d) Sprungkraft in den Beinen sowohl

für vertikale als auch für horizontale Bewegungen zu entwickeln.;

4. eine sichere und praktische Methode zu Verfügung zu stellen, rea-

listische Kampftechniken für einen tatsächlichen Kampf zu entwi-

ckeln.

Das Rou Shou kann von unschätzbarem Wert für Ausübende des Tai Chi

sein, da es eine natürliche Brücke zwischen dem Push Hands (siehe Sei-

te 241), das für eine praktische Selbstverteidigung nicht ausreicht, und dem

Sparring darstellt. Dieser Übergang fehlt heutzutage unglücklicherweise

in den meisten Tai-Chi-Schulen.

Übung mit Freunden, Kampf mit Feinden

Es ist nicht dasselbe, ob man für eine potentielle Selbstverteidigungssituati-

on oder einen Wettkampf trainiert, oder ob man sich im wahren Leben mit

einem gewalttätigen Gegenüber konfrontiert sieht oder an einem heftigen

Kampf bei einem Wettkampf teilnimmt. Als ich selbst im Alter von zwölf

Jahren Judo zu trainieren begann, war ich immer verunsichert, wenn der

Lehrer sagte, die Schüler sollten beim normalen Randori, der freien Übung,

nur Judo „spielen", wenn sie sich jedoch in einem formellen Wettkampf

mit einem anderen Schüler befänden, dann sollten sie „kämpfen". Sollte

das heißen, dass jemand in einem Moment unser Freund und Spielgefährte

und im nächsten Moment unser „Feind" sein soll? Das fand ich verwirrend.

Eines Tages fragte ich den Lehrer, einen früheren Gewinner der japanischen

Judomeisterschaften, danach, und er erklärte mir die Situation.

187

Auf der Matte sind die Menschen, mit denen man übt, unsere Freunde

und Klassenkameraden. Der Zweck der gemeinsamen Übung ist, einander

durch die Entwicklung der Technik zu fordern. Man möchte der anderen

Person nicht wehtun; wenn das nicht der Fall ist, kann man nicht weiter-

üben. Verliert man dabei die Kontrolle über sich und tut dem Übungspart-

nern gemeine Dinge an, dann werden sie dir diese später heimzahlen oder

werden nicht mehr mit dir üben wollen. Einem Übungspartner wehzutun

oder seine Aggressionen am Körper eines anderen auszulassen wird die

Atmosphäre vergiften und gilt als sehr schlechtes Betragen. Gute Umgangs-

formen sind in den Kampfkünsten sehr wichtig, ebenso wie Freundlichkeit

und gegenseitiger Respekt. Während der Übung geht es nicht so sehr

darum, zu gewinnen, sondern die eigene Technik zu verbessern. Darum

„spielt" man bei Übungen Judo und kämpft nicht im Dojo.

Im Wettkampf ist die Situation eine andere. Hier geht es nicht darum,

zu spielen, sondern zu gewinnen. Wenn es Ihnen nicht um das Gewinnen

geht, brauchen Sie sich auf keinen Wettkampf einzulassen; dann üben

Sie ganz einfach nur. Aber hier geht es um Kampfkunst. Deshalb müssen

Sie mit der Einstellung in einen Wettkampf gehen, dass Sie kämpfen und

gewinnen wollen, natürlich im Rahmen der Regeln. In einem Wettkampf

haben Sie während des Kampfes keine Freunde, nur einen Feind, den es

zu schlagen gilt. Ohne Gewinnen und Verlieren hat ein Wettkampf keinen

Sinn. Wenn der Kampf vorüber ist, dann kann man wieder als Freunde

gemeinsam üben und Judo spielen. Judo als Spiel und Judo als Kampf hat

beides seine Zeit und seinen Platz.

Bei jeder Kampfkunst ist es wichtig, dass man gemeinsam mit seinem

Übungspartner Grenzen festlegt und sich darüber einigt, bis zu welchem

Maß an Intensität und Kraft man sich steigern möchte. Man kann es im

Großen und Ganzen sanft angehen und verschiedene Ebenen der Intensität

zwischendurch einstreuen.

Fa Jin

Fa bedeutet „entladen, freisetzen, ausschleudern" oder „projizieren"; Jin

bedeutet „Kraft". Abhängig vom Grad der Schulung des Ausübenden, ist das

Fa Jin irgendwo in einem Kontinuum zwischen körperlichen Praktiken und

Chi-Praktiken angesiedelt. Die innerliche Kompression und Entspannung

des Körpers, die aus dem Öffnen und Schließen und den Drehungen des

Körpers entsteht, erleichtert die Entwicklung von Fa Jin, der Freisetzung

188

von Energie. So wird die Freisetzung von Energie sowohl in der Kampf-

kunstteehnik der Leeren Kraft (siehe Seite 292) eingesetzt als auch im Chi

Gung Tui Na (siehe Seite 422).

Während die meisten Kampfkünste körperliche Kraft und Muskelstärke

benutzen, ist dies im Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua nicht der Fall. Wenn

sie in völliger Entspannung und ohne jegliche muskuläre Anspannung

ausgeführt werden, dann setzen die Fa-Jin-Techniken Energie in kurzen,

konzentrierten Stößen frei, die enorme Kraft enthalten. Diese Kraft kann

durch den Körper eines Angreifers hindurchgehen und ihm keine körperli-

che Verletzung oder Schmerzen zufügen, kann diesen Körper aber zugleich

einige Meter zurückschleudern, so als sei er von einer Sturmböe ergriffen

worden. Die Kraft des Fa Jin kann jedoch auch auf das Innere des Körpers

konzentriert werden, wo die freigesetzte Energie dann schweren Schaden

anrichten kann. Worauf es beim Fa Jin ankommt, ist die Speicherung von

Energie und deren plötzliche Freisetzung in einen bestimmten Punkt in Zeit

und Raum hinein. Diese Fähigkeit, Energie plötzlich in konzentrierter Form

freizusetzen, ist nicht nur wesentlich für den kämpferischen Aspekt des

Ba Gua, sondern auch für die in dieser Kunst entwickelten Fähigkeiten der

Reinigung des Körpers von stagnierendem Chi, der heilenden Körperarbeit,

der daoistischen Meditation und der inneren Alchimie.

Was die Methoden der kleinen, mittleren und großen Bewegungen des Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua für den Kampf bedeuten

Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua lassen sich jeweils mit Bewegungen in einem

großen, mittleren oder kleinen Rahmen ausführen. Sowohl in den Formen

als auch in den Kampfanwendungen bezieht sich der Begriff „Rahmen"

auf die Größe des Bereichs, in dem der Körper sich bewegt - ähnlich wie

bei der Größe eines Bilderrahmens.

Einige Stile haben nur große Bewegungen, andere haben nur mittel-

große und wieder andere nur kleine Bewegungen auf jeder Ebene des

Trainings. Bei vielen Stilen ist es jedoch so, dass sie auf der Anfängere-

bene mit großen Bewegungen arbeiten, wobei die Bewegungen mit der

189

Zeit dann immer kleiner werden, so dass die kleinsten Bewegungen dann

erst auf der am weitesten fortgeschrittenen inneren Ebene gelehrt werden.

Wenn der Körper sich ganz geöffnet hat und erst einmal in der Lage ist,

den energetischen Anforderungen einer Bewegung im großen Rahmen zu

entsprechen, dann werden alle erworbenen Fähigkeiten kondensiert und

man beginnt auf der nächsten energetischen Ebene zu arbeiten, wo das

Chi konzentriert und subtil und nicht grob und diffus ist. Im natürlichen

Lauf des Trainings braucht ein Übender im Allgemeinen ein Jahrzehnt der

Schulung und der Praxis oder länger, um alle Aspekte der inneren Arbeit

so weit zu verfeinern und zu integrieren, dass er zur nächsten Stufe der

Bewegung in kleinerem Rahmen fortschreiten kann.

Der Fortschritt vollzieht sich üblicherweise vom Größeren zum Kleineren

hin. Auf frühen Fotos von Yang Cheng Fu, dem Adepten des Yang-Stils

des Tai Chi, sieht man deutlich, dass er Bewegungen im großen Rahmen

ausführt. Zwanzig Jahre später ist er deutlich straffer geworden und zu

einem Stil im mittleren Rahmen fortgeschritten.23

Körperliche Bewegung

Vom Anblick her lassen Stile im großen Rahmen mehrere Eigenschaften

erkennen:

1. Arm- und Beinstellungen sind sehr ausgreifend, wobei die Hände

so weit vom Körper entfernt sind, wie die technischen Erfordernisse

des jeweiligen Stils es zulassen.

2. Armbewegungen und Schrittaktionen tendieren dazu, große Kreise

in der Luft zu beschreiben. Der Winkel zwischen der Achsehöhle

und dem Ellbogen ist dabei so groß wie möglich, auch in den Über-

gangsbewegungen.

3. Bei Übungen mit Hüftdrehung liegt die Betonung darauf, sich so weit,

wie es ohne Unbehagen möglich ist, nach jeder Seite hin zu drehen.

23 Diese Progression findet man auch im Westen, wo das Tai Chi von Cheng Man-ching

ziemlich weit verbreitet ist. Fotos aus dem Jahr 1950 zeigen ihn bei der Ausübung

eines großrahmigen Stils. In seinem später in englischer Sprache veröffentlichten

Buch (bei dem R. W. Smith der Koautor war) zeigen ihn die Fotos bei der Ausübung

eines Stils in mittelgroßem Rahmen. In seinen Siebzigern, nicht lange vor seinem

Tod, zeigen Videobänder, das Chengs Bewegungen noch kleiner und kondensierter

geworden sind.

190

4. Standposituren sind meist lang und tief, wobei man sich bemüht,

so tief wie möglich zu stehen.

5. Die Posituren sind ausgreifend, die Ellbogen stehen 60 bis 90 Grad

zur Seite hin ab und es sind keine winzigen Kreisbewegungen vor-

handen.

Vom Anblick her lassen Stile im mittleren Rahmen die folgenden Eigen-

schaften erkennen:

1. Die Armbewegungen kommen näher, aber nicht ganz nahe an den

Körper heran, dies jedoch nur für kurze Zeit, bevor sie sich wieder

weit vom Körper entfernen.

2. Standposituren haben mittlere Höhe; das Gesäß sinkt nicht auf

gleiche Höhe wie die Knie oder noch tiefer ab.

3. Sowohl Arm- als auch Beinbewegungen tendieren dazu, sich vom

Körper zu entfernen, aber nicht so weit, wie es möglich wäre.

4. Armbewegungen und Schrittaktionen tendieren hin zu einer Mi-

schung von großen und kleinen kreisförmigen Bewegungen, wobei

die meisten Bewegungen im mittleren Bereich liegen.

5. Hüftbewegungen drehen bis zu 90 Grad zur Seite, aber nicht mehr.

(Oft dreht sich die Hüfte nur um 45 Grad, wobei der Bogen durch

kleine Bewegungen tief im Bauch oder im Unteren Dantien gestrafft

wird. Diese Bewegungen sind von außen nicht offensichtlich.)

6. Kleine, wellengleiche Kreise tauchen in den Übergängen zwischen

offensichtlichen Posituren auf.

7. Die Wandlungen innerhalb der Übergänge von Positur zu Positur

werden sehr viel stärker betont als in den Formen in größerem

Rahmen.

8. Die Ellbogen stehen gewöhnlich 45 Grad zur Seite hin ab.

9. Die Kreise der Form sind kleiner als bei dem größeren Rahmen. Ei-

nige Kreisbewegungen sind ziemlich offensichtlich; andere kleinere

Kreise sind nur für ein geschultes Auge, das winzige Bewegungen

zu entdecken vermag, erkennbar.

Vom Anblick her lassen Stile im kleinen Rahmen folgende Eigenschaften

erkennen:

1. Die Armbewegungen kommen wiederholt sehr nah an den Körper

heran, bevor sie sich wieder weit vom Körper entfernen.

191

2. Die Standposituren sind oft hoch, wobei die Knie oft nur ganz leicht

gebeugt sind.

3. Sowohl Arm- als auch Beinbewegungen haben die Tendenz sich

weniger weit vom Körper zu entfernen, als möglich wäre, wobei

oft nur wenige Zentimeter zwischen Ausgreifen und Zurückziehen

liegen.

4. In der Hüfte dreht man sich meist nur 45 Grad zur Seite.

5. Die Kreise haben die Tendenz, extrem klein zu werden, wobei die

Übergangsbewegungen oft nicht nur einen Kreis, sondern mehrere

Kreise oft auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Winkeln ent-

halten. Selbst für das geschulte Auge eines Ausübenden der äußeren

Kampfkünste und von Bewegungsspezialisten sind viele der körper-

lichen Kreisbewegungen, die ablaufen, oft äußerlich nicht sichtbar.

Wenn man jedoch durch die Haut hindurch ins Körperinnere sehen

könnte, dann erschienen einem diese Kreisbewegungen sehr groß

und offensichtlich. Um diese machtvollen inneren Bewegungen aus-

führen zu können, braucht man eine extrem starke Intention und

sehr gute Kontrolle des Chi. Allgemein gesagt gelten die Stile im

kleinen Rahmen bei den Ausübenden der inneren Kampfkünste als

die am meisten fortgeschrittenen.

Energiearbeit

In den inneren Kampfkünsten und jeder daoistischen Chi-Arbeit gibt es eine

grundlegende Maxime: „Je mehr im Äußeren, desto weniger im Inneren;

je mehr im Inneren, desto weniger im Äußeren." In Begriffen der inneren

Kampfkünste formuliert, bedeutet dieser Spruch, dass das Chi sich um so

weniger innerlich bewegt, also unter der Haut im Inneren des Körpers,

je mehr eine Person sich äußerlich bewegt (großer Rahmen). Umgekehrt

ist es so, dass das Chi und der Körper sich um so mehr innerlich, das

heißt unter der Haut im Inneren des Körpers, bewegen, je weniger sich

der Körper äußerlich bewegt (kleiner Rahmen). Je kleiner der Rahmen ist,

desto mehr beruht die Bewegung auf inneren energetischen Vorgängen

und entwickelt diese. Je größer der Rahmen ist, desto weniger wirkt er

auf der energetischen Ebene und um so mehr wirkt er auf den Körper und

entwickelt diesen.

Bewegungen im großen Rahmen konzentrieren sich mehr auf die Ent-

wicklung roher Energie und Kraft in eine generelle Richtung oder auf

192

einer Geraden. Die Chi-Bewegungen sind hier einfach und verlaufen, so

lange es möglich ist, von Punkt A nach B. Energie verläuft in einer klaren

Bewegung vom Beginn der Bewegung zu ihrem Ende, ohne dass andere

Dinge geschehen, um sekundäre energetische Bewegungen zu erzeugen.

So ist zum Beispiel eine vertikale energetische Bewegung nach vorn nur

eine vertikale energetische Bewegung ohne eine sekundäre horizontale,

diagonale oder rückwärts gerichtete energetische Komponente.

Bei Bewegungen im mittelgroßen Rahmen laufen gewöhnlich zwei oder

drei zirkuläre energetische Bewegungen gleichzeitig ab, ein Phänomen,

das in den Bewegungen im großen Rahmen fehlt. Die Übergangsbewe-

gungen haben die größte Anzahl von kleinen energetischen Bewegungen.

Diese machen es möglich, das eine körperliche Bewegung vielfache Wir-

kungsmöglichkeiten besitzt, die auf der groben körperlichen Ebene nicht

offensichtlich sind, die sich aber energetisch ganz klar manifestieren und

die eine Wirkung auf den Gegner haben.

Was die drei Rahmen angeht, haben die Bewegungen des kleinen

Rahmens den größten Grad an energetischer Kontrolle und das breiteste

Spektrum an energetischen Techniken. Sie entwickeln die Fähigkeit, En-

ergie in einen bestimmten Punkt zu absorbieren sowie in einen Punkt zu

projizieren. Energetische Bewegungen können sehr klein sein, so klein,

dass sie innerhalb eines inneren Organs oder eines Gelenks zentriert sind.

Bewegungen des kleinen Stils sind oft am besten zur Heilung spezifischer

körperlicher Probleme geeignet. Die energetischen Bewegungen werden

immer kleiner, bis sie in einem Punkt ablaufen können oder ihre Richtung

an einem Punkt umkehren. Auf einer höheren Ebene entwickeln sich klei-

ne energetische Bewegungen von der Kreisform hin zur Kugelform. Die

Bewegungen im kleinen Rahmen werden energetisch als Kreise in Kreise,

oder Kugeln in Kugeln bezeichnet.

Kampfanwendungen

Die Stile im großen Rahmen konzentrieren sich auf große Kraftbewe-

gungen, bei denen jede der vier Energien - Peng, Lu, Ji und An (siehe

Seite 207) - mit der Kraft des ganzen Körpers angewendet wird. Eine

große Aktion erzeugt einen großen Rückweg: weite Hiebe, Stöße, Tritte in

eine Richtung und Würfe oder Hebel. Die Stile des großen Rahmens sind

auf den Kampf auf weite Distanz spezialisiert. Sie sind am leichtesten zu

erlernen, besitzen jedoch die geringste Bandbreite der hoch entwickelten

193

Anwendungen des Tai Chi. Hier wird die rohe Kraft betont, mit langen,

ausgedehnten Bewegungen, und nicht so sehr die Fähigkeit, zu augen-

blicklichem Wandel, rasch, flüssig und auf kurze Distanz.

Wenn man einem Gegner sehr nahe kommt, dann können Bewegun-

gen des mittleren und kleinen Rahmens außerordentlich wirksam sein.

Ist die Distanz zwischen Ihnen und einem Gegner klein, dann lassen sich

Bewegungen des großen Rahmens unterdrücken, während Bewegungen

des kleinen Rahmens in der Offensive wie in der Defensive auch dann

wirksam sind, wenn nur wenige Zentimeter Platz vorhanden ist. Je klei-

ner der Rahmen, desto schneller können Sie von einer Kampftechnik zu

einer anderen wechseln, desto mehr Kombinationen können sie in einer

Zeiteinheit ausführen und desto geringer ist die körperliche Distanz, die

nötig ist, um Kraft zu absorbieren oder zu projizieren.

Die Bewegungen des kleinen Rahmens beziehen ihre Kraft nicht so sehr

aus einer körperlichen Abstimmung, wie das oft bei den Bewegungen des

großen Rahmens der Fall ist, sondern durch die Bewegung von Energie

innerhalb des Körpers. Selbstverteidigungstechniken des kleinen Rahmens

können die Richtung ihrer Kraft oder den Punkt des Körperkontakts dieser

Kraft in einer Sekunde mehrfach verlagern. Während der Ursprung und die

Stoßrichtung der Kraft in den Bewegungen des großen Stils offensichtlich

sind, sind sie das bei den Bewegungen des kleinen Stils nicht. Für den

Beobachter ist logisch nicht nachvollziehbar, was eine bestimmte Mani-

festation von Kraft verursacht oder wie sie überhaupt möglich ist. Das ist

möglich, weil hier die Fähigkeit vorhanden sein kann, subtile Energiebe-

wegungen in verschiedenen Körperteilen gleichzeitig hervorzurufen. Die

energetischen Bewegungen des mittelgroßen Rahmens sind eine Mischung

und Verbindung von groß- und kleinformatigen Anwendungen. Um es

nochmals zu sagen: Je größer der Rahmen, desto größer die rohe Kraft; je

kleiner der Rahmen, desto mehr an subtiler Kraft steht zum Wandel und

zur Projektion der Kraft auf einen Punkt zur Verfügung.

194

Die Bedeutung der Meister-Schüler-Beziehung und einer Übertragungslinie

Im Ba Gua, Tai Chi und allen anderen inneren Kampfkünsten hat es immer

drei Ebenen (Klassifizierungen) der Schulung und des Trainings gegeben:

1. Schüler: Anfängern brachte man nur die äußeren Formen und Übun-

gen und nur die allergrundlegendsten Anwendungen bei.

2. Persönlicher Schüler: Diese Kategorie blieb nur besonders engagier-

ten Schülern und vielleicht Freunden oder Verwandten vorbehalten.

In Tung Hai Chuans ursprünglicher Ba-Gua-Schule konnte man

nicht bei Tung oder einem seiner Meisterschüler persönlich lernen,

ohne durch eine formelle Zeremonie zu einem offiziellen Schüler

geworden zu sein. (Diese Zeremonie wird im Chinesischen Bai Shr

genannt.) Bevor man diese formelle Beziehung eingegangen war,

wurde man nicht umfassend und in allen Einzelheiten geschult.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem chinesischen Bürgerkrieg

wurden die Unterweisungen allerdings weniger formell. Viele Ba-

Gua-Lehrer lehrten Schüler nur für kurze Zeit, ohne sie durch die

gesamte Schulung zu führen. Die Zeiten des Krieges waren einfach

zu chaotisch für eine komplette Schulung, und deshalb wurden mehr

Lehren unvollständig weitergegeben als zu Tungs Zeit.

3. Die höchste Ebene der Schulung: Diese Ebene blieb jenen persön-

lichen Schülern vorbehalten, die ausersehen waren, die Übertra-

gungslinie fortzuführen. Ein Linienschüler wird in allen Aspekten

der Kunst unterwiesen, und er ist der spezielle Schüler, der dafür

verantwortlich ist, sie alle zu meistern und sie der nächsten Gene-

ration zu übermitteln. Um als Linienschüler auserwählt zu werden,

muss die jeweilige Person bereits ihre Fähigkeit, effektiv zu lehren,

unter Beweis gestellt haben. (Ein persönlicher Schüler, der kein

Linienschüler ist, ist dagegen nicht dafür verantwortlich die Gesamt-

heit einer Kunst an die nächste Generation weiterzugeben, sondern

nur die spezifischen Teile der Kunst, auf die er spezialisiert ist. Er

braucht nur ein überragender Praktizierender und Vertreter der Teile

der Kunst zu sein, die man ihm beigebracht hat.) Tungs beste ur-

sprüngliche Schüler wurden alle als Linienschüler geschult. Es stand

ihnen frei, ihre eigenen Schüler und persönlichen Schüler zu wählen.

195

Der Begriff Ba Gua Men oder „Ba-Gua-Tor" bezieht sich auf diejenigen,

die zumindest die Ebene des persönlichen Schülers erreicht haben und

die als Vertreter des Systems gelten können. Die traditionelle chinesische

Anschauung ist, dass jene, die sich nicht bei einem Lehrer dieser Ebene

schulen oder die nicht die Unterweisungen dieser Ebene von einem qua-

lifizierten Lehrer erhalten, keine „echten" Ba-Gua-Praktizierende sind. Sie

sind, mit anderen Worten, nicht „innerhalb des Tors", das heißt in den

Genuss der Unterweisungen auf höchster Ebene gekommen. Sie sind auch

nicht dazu verpflichtet, nur die höchsten Leistungen zu erbringen. In China

ist ein persönlicher Schüler dazu verpflichtet, überragende Leistungen zu

erbringen, damit sein Lehrer nicht das Gesicht verliert. Andererseits spiegelt

es sich nicht im Gesicht des Meisters wider, wenn ein Schüler schlechte

Leistungen erbringt. Dies ist die klassische chinesische Tradition. Das Ge-

sagte gilt auch für das Tai Chi und das Hsing-I, wo die Begriffe Tai Chi

Men und Hsing-I Men sich auf die höchste Ebene der jeweiligen Kunst

beziehen und nicht auf die popularisierten und verwässerten Versionen,

von denen es heute so viele gibt.24

Alle Kampfkünste, einschließlich des Ba Gua, müssen dann, wenn sie

überleben und die Tradition fortsetzen sollen, auf kreative Weise und ohne

Qualitätsverlust von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ist

das nicht der Fall, dann wird die Kunst mit jeder Generation schwächer

werden und schließlich verkümmern.

Viele der übertriebenen Geschichten, die sich in den Legenden fin-

den, die sich um das Ba Gua ranken, sind aus der Vorliebe der Chinesen

entstanden, die berühmten Heldentaten ihrer Vorfahren, das heißt ihrer

Übertragungslinie, wiederzuerzählen. Wir müssen bedenken, das China

eine Tradition der Ahnenverehrung hat, die sich ebenso auf die „Familie"

24 So betreffen zum Beispiel die Geschichten über die legendären Heldentaten von Tai-Chi-Praktizierenden allein Praktizierende der Tai-Chi-Men-Ebene. Durch eine Schwächung des „Tores" hat jede der folgenden Generationen Fähigkeiten verloren, die von der vorherigen Generation noch verwirklicht wurden. Darum gehört die große Mehrzahl der heutigen Tai-Chi-"Experten" nicht zum Tai Chi Men, und sie besitzen gewöhnlich nicht die Fertigkeiten, die das Tai Chi in China berühmt gemacht haben. Die Zeitlupenbewegungen des Tai Chi sind allerdings dermaßen wirksam, dass sie selbst dann für die Gesundheit gewöhnlicher Menschen außerordentlich förderlich sind, wenn sie nur schlecht ausgeführt werden. Es sieht so aus, dass das Tai Chi Men in dem Ausmaß zurückgeht, in dem das gewöhnliche Tai Chi, vor allem in seinen vereinfachten Versionen, zunimmt. (Siehe Anhang A, Seite 505.) In vieler Hinsicht scheint diese unglückselige Tendenz auch im Ba Gua vorhanden zu sein. (Siehe Anhang B, Seite 521.)

196

der Schule einer Kampfkunst oder einer Meditations-Übertragungslinie

bezieht wie auf die Blutsverwandtschaft. Je mehr es einem gelingt, den

Ruf der eigenen Vorfahren aufzuwerten, desto mehr „Gesicht" oder Status

genießt man selbst und genießen die eigenen Nachfahren.

Die historischen Darstellungen in fast allen Büchern über das Ba Gua in

einer westlichen Sprache oder in Chinesisch berichten, diese Person habe

bei jener Person gelernt, und jene Person wiederum bei einer weiteren, und

jede dieser Personen habe das weitergegeben, was sie beherrschte. Wichti-

ger als solche angeblichen Empfehlungen ist die Frage, ob ein Lehrer fähig

ist, die Methoden des Ba Gua tatsächlich praktisch zur Selbstverteidigung,

zum Heilen oder zur Meditation zu verwenden. In China gibt es viele

Ba-Gua-Lehrer, die behaupten, die Lehre „in direkter Linie" erhalten zu

haben, doch vermögen sie nicht, sie praktisch und wirksam anzuwenden.

In China wird man immer gefragt: „Wer ist dein Lehrer und wie lange

hast du beim ihm gelernt?" Und zudem: „Wer war der Lehrer deines Leh-

rers?" So will man herausfinden, ob sich jemand in einer authentischen

Tradition geschult hat.

Es gibt viele Situationen, in denen sich die Frage von echter oder

falscher Linie widerspiegelt: Der Abiturient, der nicht lesen oder schrei-

ben kann, der Karate-„Experte", der von einem untrainierten Teenager

zusammengeschlagen wird, der Therapeut, der keine positive Wirkung

auf seine Patienten hat. In diesen Fällen wäre es wohl berechtigt, wenn

Sie Fragen über die Fähigkeiten dieser Personen und die Kompetenz ihrer

Schulen stellten.

In Hinsicht auf die Übertragungslinie ist in China auch die Frage der

guten oder schlechten Qualität der Schulung von Bedeutung. Von einem

Meister aus einer authentischen Linie, der selbst ein guter Schüler war,

kann man mit einiger Berechtigung erwarten, dass er auch seinen eige-

nen Schülern einen guten Dienst zu erweisen vermag. Schlechte Schüler

unterbrechen die Linie. Gute Lehrer und Linien pflegen gute Schüler her-

vorzubringen. Legitime Linienhalter, die schlechte Lehrer sind, schwächen

oder unterbrechen die Linie, indem sie ihre Schüler nicht angemessen

schulen.

Selbst die besten Schüler schwacher Linien finden gewöhnlich, dass sie

nie das volle Maß der Fertigkeiten erlangen, die normalerweise aus all den

Jahren an Einsatz und Übung, die sie investiert haben, hätte resultieren

müssen. Für den Schüler in China bedeutet eine Linie, dass er mit der

gesammelten Erfahrung, dem Wissen und den Qualitätsstandards in Be-

197

rührung kommt, die dafür gesorgt haben, dass die legitimen Ba-Gua- oder

Tai-Chi-Schulen so lange Zeit überdauert haben und aus guten Gründen

so hoch geachtet und berühmt geworden sind.

Legitime Tai-Chi- und Ba-Gua-Meister sind in eine Menge an äußerst

entscheidenden Informationen eingeweiht, von denen mittelmäßige und

schlechte Tai-Chi-Lehrer nicht die geringste Ahnung haben. Heutzutage

sind die Menschen gewöhnlich nicht mehr bereit, Jahrzehntelang vier

bis acht Stunden am Tag zu trainieren, wie das für die Meister selbst-

verständlich war, die die daoistischen Praktiken zur Kultivierung des Chi

erfunden und weiterentwickelt haben. Diese Meister fanden heraus, was in

der Übung zu sich selbst erzeugendem Fortschritt führte und kümmerten

sich um nichts anderes.

Das wichtige Material führt, wenn es richtig angewendet wird, dazu,

dass das Chi in Ihnen zunimmt, und macht Sie stärker, klarer und fä-

higer - bis ins hohe Alter. Die Augenwischerei besteht aus unzähligen

Abwandlungen einer bestimmten Technik, die dazu führen, dass Sie end-

los viele innere Empfindungen haben, dabei aber nur minimales inneres

Wachstum herauskommt. Alle Tai-Chi- und Ba-Gua-Praktiken erzeugen,

wenn Sie die Bewegungen ausführen, verschiedene innere Empfindungen

und Erfahrungen. Zu jeder Komponente, sei es eine grundlegende oder

eine fortgeschrittene, gehört dann, wenn man zur nächsten logischen

Ebene der Übung fortschreitet, eine ganz neue Reihe von körperlichen und

psychischen „Aha"-Erlebnissen.

Die Natur und die spezifischen Eigenschaften der wertvollsten Kompo-

nenten dieser Künste sind so beschaffen, dass eine Chance von eins zu einer

Milliarde besteht, dass sie die entscheidenden Bestandteile des Tai Chi, Ba

Gua oder Chi Gung, die man Sie nicht gelehrt hat, auf eigene Faust entde-

cken. Man ging in China jedoch davon aus, dass ein guter Schüler, sobald

man ihn einmal in die nächste wesentliche Ebene der Information einge-

führt hatte, die dieser Ebene innewohnenden Abwandlungen von selbst

herausfinden kann. Anderen Schülern, die von nicht der Linie angehören-

den Lehrern entscheidende Informationen nicht erhalten haben, ist damit

eine Obergrenze für ihr Wissen gesetzt, die sie nicht überschreiten können,

so dass sie mehr oder weniger auf derselben Ebene verbleiben, auch wenn

sie endlos üben. Die einzige Möglichkeit, diese Begrenzung zu überwinden

und auf die nächste logische Ebene der Befähigung fortzuschreiten, besteht

darin, die neuen entscheidenden Komponenten von einem Lehrer mit grö-

ßerem Wissen zu lernen - so sie denn einen finden, der bereit ist, sie diese

198

zu lehren. In China war es immer eine ganz wichtige Frage, ob ein Schüler

wirklich die „echten Dinge" lernte oder nur eine verwässerte Version davon.

Die Frage der Qualität und Legitimität einer bestimmten Schule oder

Linie der inneren Kampfkünste ist durchaus nicht nur eine intellektuelle

Spielerei. Wenn jemand viel Zeit, ehrliche Bemühung und Geld in eine

Erziehung investiert, dann ist die Frage der Qualität der Unterweisung

für ihn sicher bedeutsam. Je umfassender das Wissen und je größer die

pädagogischen Fähigkeiten Ihres Meisters/Lehrers sind, desto mehr werden

Sie in Hinsicht auf die Fertigkeiten von Therapie, Selbstverteidigung und

Meditation aus seinen Unterweisungen gewinnen.

Wenn es Ihnen nur um einen netten Zeitvertreib geht, dann ist Ihnen

die Qualität der Unterweisung vielleicht nicht so wichtig. Solange Sie Ihren

Spaß haben, genügt Ihnen das. Wenn Sie jedoch ernsthaft daran interessiert

sind, die daoistischen Energie-Künste zu erlernen, dann spielt die Qualität

der Unterweisung schon eine Rolle. Ein engagierter Schüler der inneren

Kampfkünste sollte sehr gut über den Hintergrund und die Schulung eines

Lehrers Bescheid wissen. Die erfolgreiche Praxis der daoistischen Ener-

giekünste hängt sowohl von Ihrem persönlichen Einsatz als auch von der

Qualität der Unterweisungen, die Sie erhalten, ab. Dies sind die Elemente,

die eine Schulung sinnvoll und tiefgründig machen.

Portrait eines Meisters der inneren Kampfkunst

Morihei Ueshiba - Woher kam seine Kraft?

Während meiner Zeit als Student der

ersten Semester in Japan trainierte ich

bei O-Sensei Morihei Ueshiba, dem Be-

gründer des Aikido. Meine Forschungen

weisen darauf hin, dass das Aikido von

O-Sensei grundlegend unmittelbar vom

Ba Gua Chang beeinflusst wurde. Mein

Training bei Ueshiba zwischen 1967 und

1969 war meine erste tiefergehende und

ausgedehnte Erfahrung mit einem Meis-

ter erster Güte der inneren Kampfküns-

te. Wenn ich auf mein Training bei ihm

zurückschaue, ist deutlich, dass viele der

körperlichen Techniken von Ueshibas

199

Aikido aus dem Jiu Jitsu stammten. Das Chi jedoch, das er manifestierte,

wenn er Aikido praktizierte, scheint direkt vom Ba Gua her zu stammen,

mit gewissen Einflüssen auch vom Hsing-I.

Ich habe im Japan der späten 1960er Jahre Leute gesehen, die große

Fertigkeiten im Bereich des Daito Ryu Aikijitsu besaßen, der Form des

Jiu Jitsu, auf der das Aikido Ueshibas basiert. Aber keiner von ihnen ver-

mochte das Chi so subtil und so machtvoll zu manipulieren oder auch nur

die Theorien des Ki (Chi), auf denen das Aikido und das Ba Gua basieren,

so zu formulieren, wie Ueshiba. Tatsächlich ging Ueshiba weit über die im

Aikijitsu erreichte Ebene der Fertigkeiten hinaus. Seine Fähigkeit, in das

Chi und den Geist eines Gegners einzutreten, sie umzuwenden, anzuziehen

und damit zu spielen, war phänomenal. In der japanischen Geschichte gab

es keine andere Kampfkunst, die man mit der seinen vergleichen konnte,

und niemand sonst in Japan war in der Lage, auch nur etwas Ähnliches

wie er zu tun. In seinem Dojo wurde oft erzählt, er habe viele Jahre in Chi-

na verbracht und er habe erst nach seiner Rückkehr nach Japan aus China

seine wunderbaren, auf dem Chi beruhenden Aikido-Fähigkeiten gezeigt.

Auf der Grundlage meiner persönlichen Erinnerungen an die Arbeit mit

Ueshiba sowie meiner technischen Analyse von bestehendem Filmma-

terial bin ich zu dem Schluss gekommen, dass man mit gutem Grund

vermuten kann, dass er Ba Gua studiert hat, während er in China war.

Das Eintreten in den Gegner und das Umwenden und Führen des Gegners

sowie Hunderte von subtilen Energieprojektionen des Aikido sind grund-

legende Ba-Gua-Techniken, die schon lange vor Ueshiba existierten. Aus

diesem Grunde glaube ich, dass Ueshiba Ba Gua gelernt hat, während er

sich in der Mandschurei in China aufhielt. Vor und kurz nach dem Zwei-

ten Weltkrieg wäre es angesichts der chauvinistischen militaristischen

und nationalistischen Einstellung der Japaner in jenem Zeitalter politisch

überaus unklug und für seine Organisation kontraproduktiv gewesen,

wenn er bekannt gemacht hätte, dass ein wichtiger Teil seiner „neuen"

Kampfkunst von den Chinesen stammte.

Ueshiba hatte enorme innere Kraft. Solche innere Kraft ist für den west-

lichen Verstand, der durch die offensichtliche Zurschaustellung äußerer

Kraft in Filmen und im Fernsehen konditioniert ist, geradezu unbegreif-

lich. Äußere Kraft ist so, als sähe man jemanden mit einem dicken Bündel

von 100 Euro Scheinen in der Brieftasche: Man nimmt automatisch an,

dass dies eine reiche Person ist, was wahr sein kann, oder auch nicht.

Ein steinreicher Mensch mag jedoch seinen Reichtum verbergen und nur

eine sehr dünne Brieftasche mit sich führen, in der sich nur eine Kredit-

karte befindet mit einem Dispositionsrahmen von einer Million Euro (die

natürlich für die innere Kraft stehen). Der Augenschein mag trügen. In

200

Ueshibas Fall war das so. Als ich bei Ueshiba trainierte, war er bereits

über 80 Jahre alt und von kleinem Wuchs, jedoch unglaublich stark. Als

er noch älter geworden war und nicht mehr lange zu leben hatte, trugen

seine Schüler ihn auf einer Tragbahre in das Dojo. Er sah äußerst schwach

und gebrechlich aus. Doch dann konnte er plötzlich sein Chi sammeln,

aufstehen und sehr starke Männer wie Stoffpuppen durch die Gegend

wirbeln. Danach kehrte er zu seiner Bahre zurück und war wieder ein

kranker alter Mann.

Wenn man mit Ueshiba arbeitete, begann man mit Übernatürlichem zu

rechnen. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, dass er so schnell hin-

ter mich gelangen konnte, dass ich den Eindruck hatte, er sein plötzlich

verschwunden. So etwas findet man auch bei Ausübenden des Ba Gua.

Man konnte Ueshiba deutlich vor Augen haben, und plötzlich war er

weg. Dann war er, genauso plötzlich, wieder da. Dann pflegte Ueshiba

einen Hieb anzutäuschen und einen Hebel anzusetzen oder dich zu Boden

zu werfen. Im Gegensatz dazu würde ein Ausübender des Ba Gua zu-

erst tatsächlich zuschlagen und dich dann zu Boden werfen. Dieses „Mal

siehst du mich, mal siehst du mich nicht" ist eine der großen Stärken der

Kampfkunst von Ba-Gua-Adepten. Anders als bei einem Boxer oder ei-

nem Karate-Kämpfer, deren Hand man auf sich zu kommen sieht, haben

Ba-Gua-Praktizierende eine unglaubliche Kraft und eine seltsame Art von

Geschwindigkeit, die so subtil ist, dass man weder ihren Ursprung noch

ihr Ziel zu erkennen vermag.

Wenn man sich die Filme des verstorbenen Meisters ansieht, ist offen-

sichtlich, dass er viele der Chi-Prinzipien des Ba Gua demonstriert. Doch

während man im Aikido nur in äußerst verschwommenen Begriffen von

diesen Chi-Prinzipien spricht (wenn sie überhaupt erwähnt werden, was

in der Tat selten ist), werden die entscheidenden Energie-Prinzipien im

Ba Gua in aller Ausführlichkeit formuliert und sind systematisch spe-

zifiziert. Dieses sehr wertvolle Vermögen, früher angesammeltes Wissen

intakt weiterzuvermitteln, so dass die nächste Generation die Fertigkeiten

früherer Generationen exakt reproduzieren kann, ist Teil des Genius der

daoistischen inneren Künste. Die daoistischen inneren Kampfkünste und

das Chi Gung formulieren auch sehr deutlich die der Gesundheit dienen-

den und heilenden Chi-Methoden sowie jene, die das Leben verlängern,

Methoden, die dem modernen Aikido gewöhnlich fehlen. Meiner Mei-

nung nach dürfte es für Liebhaber des Aikido interessant und forderlich

sein, das Ba Gua und Chi Gung zu erkunden, um praktische Einblicke in

das zu erlangen, was O-Sensei getan hat.

201

Liu Hung Chieh praktiziert das Wu Stil Tai Chi Chuan

4 Tai Chi

Erwägungen für den Kampfund Kampfanwendungen

Tai Chi Chuan als Kampfkunst

In China üben täglich mehr als 100 Millionen Menschen die körperlichen

Formbewegungen des Tai Chi. Diese Zahl macht deutlich, dass mehr Men-

schen auf der Welt Tai Chi praktizieren als jede andere Kampfkunst. Und

der Enthusiasmus für das Tai Chi nimmt täglich auch im ganzen Westen,

in Südamerika, Japan und Südostasien zu. Dieser Zuwachs im Bereich des

Tai Chi beruht hauptsächlich darauf, dass es enorm nützlich zu Reduzie-

rung von Stress, der Überwindung von Krankheiten und der Förderung

der mentalen und physischen Leistungsfähigkeit ist und ein praktisches

und wirksames Hilfsmittel für Menschen darstellt, die auf angenehme

Weise altern und viele der unangenehmen Situationen vermeiden wollen,

die das Leben ab Einsetzen der mittleren Lebensjahre mit sich bringt.25

Wie man in China sagt: „Tai Chi kann von jedermann ausgeübt werden,

sei die Person männlich oder weiblich, jung oder alt, stark oder schwach,

intelligent oder langsam, gesund oder krank." (Siehe Anhang A, Seite 489;

dort findet sich eine kurze Geschichte des Tai Chi.)

Ursprünglich wurden die Ausübenden des Tai Chi in China nicht auf-

grund der gesundheitlichen Aspekte dieser Kunst berühmt, sondern wegen

der außergewöhnlichen Fertigkeiten im Kampf, die sie durch das Tai Chi er-

langt hatten. Wie ein Tai-Chi-Meister zu sagen pflegte: „Jedermann möchte

25 In diesem Kapitel konzentrieren wir uns hauptsächlich auf den Kampfkunst-Aspekt

des Tai Chi. Erlernt man diese Kampfkunst von einem echten und gut ausgebildeten

Lehrer, dann kommt man damit automatisch in den Genuss der energetischen und

gesundheitlichen Vorteile des Tai Chi. Wird man andererseits von einem guten Lehrer

in die der Gesundheit förderlichen Aspekte des Tai Chi eingeführt, so muss das noch

längst nicht bedeuten, dass man damit auch die Fertigkeit erlangt, das Tai Chi als

Kampfkunst praktisch anzuwenden.

203

gesund sein, doch nur wenige Menschen möchten lernen zu kämpfen." Wer

lernen will, das Tai Chi zum Kämpfen zu benutzen, der sollte drauf gefasst

sein, dass eine erfolgreiche Anwendung des Tai Chi als Kampfkunst ausgie-

biges und hartes Training voraussetzt. Eine weitere Voraussetzung ist - wie

auf jedem anderen Gebiet, auf dem man Hochleistungen vollbringen will,

sei es im sportlichen, geschäftlichen, künstlerischen oder intellektuellen

Bereich -, dass man bereit ist, sich ungeachtet wiederholter Frustrationen

und Enttäuschungen beharrlich weiter zu bemühen. Es gibt einen wohl-

bekannten Wahlspruch, der diese Situation zusammenfasst: „Geh unbeirrt

weiter voran. Nichts auf der Welt kann Beharrlichkeit ersetzen. Talent

kann es nicht - nichts ist häufiger als talentierte Menschen ohne Erfolg.

Genie kann es nicht - das verkannte Genie ist sprichwörtlich. Bildung

kann es nicht - die Welt ist voller gebildeter Versager. Beharrlichkeit und

Entschlossenheit allein sind allmächtig."

Wer sich für die Kampfkünste interessiert, sei es körperlich oder intel-

lektuell, der wird durch dieses Kapitel einige nützliche Einsichten in das

gewinnen, was notwendig ist, um die praktischen Fertigkeiten der Anwen-

dung des Tai Chi als Kampfkunst zu gewinnen. Wie gut sich das Tai Chi

zum Kämpfen eignet, wurde ursprünglich immer wieder in Wettkämpfen

mit Gegnern aus allen möglichen anderen Kampfkünsten unter Beweis

gestellt, in Kämpfen ohne Einschränkungen und sowohl mit der leeren

Hand als auch mit traditionellen Waffen wie Schwert oder Speer.

Zu der inneren Kampfkunst des Tai Chi Chuan, die gewöhnlich kurz

„Tai Chi" genannt wird, gehören zwei getrennte Konzepte: Erstens das Tai

Chi, wobei Tai „groß" oder „viel" bedeutet, und Chi oder (in einer anderen

Umschrift) Ji „das Höchste, das Letzte, das Beste". Beachten Sie, dass das

chinesische Wort/Schriftzeichen Chi hier nicht dasselbe ist wie für das

„Chi", das oft die „Energie" bezeichnet. Tai Chi ist der daoistische philo-

sophische Begriff zur Bezeichnung jenes Bereichs der Nondualität, in dem

die spezifischen einander entgegengesetzten Kräfte des Yin und des Yang

jeglicher Ausformung in einem potentiellen und undifferenzierten Zustand

existieren, bevor sie sich trennen und als gegensätzliche (dualistische) Form

manifestieren - also zum Beispiel als Tag und Nacht, Sonne und Mond, Ich

und andere, Angriff und Verteidigung, Dieses und Jenes. Der Begriff Tai

Chi bezieht sich also auf philosophische Vorstellungen von der Natur des

Daseins, darüber hinaus jedoch auch in einem praktischeren Sinne auf die

auf dem Chi basierenden gesundheitlichen Aspekte und die innere Kraft im

Tai Chi Chuan. Es ist die Tai-Chi-Facette, die heilt und veijüngt, nicht das

204

Chuan. Chuan bedeutet „Faust" und bezeichnet in weiterem Sinne alles,

was mit den Techniken, der Philosophie, der Taktik und der Strategie des

Kämpfens zu tun hat. Das Tai Chi Chuan als Kampfkunst hat die beiden

getrennten und unterschiedlichen Aspekte zu einer integrierten Ganzheit

verschmolzen, indem sie sie ursprünglich an das bereits im China des

siebzehnten Jahrhunderts vorhandene umfangreiche technische Repertoire

der wirksamsten Techniken des bewaffneten und unbewaffneten Kampfes

anpasste. Jeder Teil trug etwas Einzigartiges zu der Mischung bei, die heute

als Tai Chi Chuan bekannt ist.

Die Kampftechniken basieren auf den Techniken eines Handbuchs der

militärischen Ausbildung, das ein berühmter General dazu benutzte, seine

Truppen für den Erfolg auf dem Schlachtfeld zu trainieren. Das Tai Chi ist

eine hybride Kampfform, deren Entstehung man durch die folgende Formel

ausdrücken könnte: Daoistisches Chi Gung + philosophische Prinzipien

des Daoismus + Techniken der äußeren Kampfkunst des Shaolin-Tempel-

Gung-Fu = Chinas neue integrierte innere Kampfkunst, die später Tai Chi

Chuan genannt wurde.

Das Chi Gung fügte innere Kraft hinzu und lud die vorhandenen

Kampfkunst-Techniken damit auf. Die daoistische Philosophie und die

daoistischen Kampfstrategien brachten völlig neue Kampfanwendungen

hervor, die in den Bewegungen der ursprünglichen äußeren Kampfkunst

des Shaolin nicht vorhanden waren. Dieser ganze Integrationsprozess ver-

wandelte die ursprünglichen Kampfbewegungen in unterschiedlichem Aus-

maß dahingehend, dass sie mit den hoch entwickelten Regeln der inneren

Körperbewegungen des Chi Gung in Einklang gebracht werden konnten.

So wurden zum Beispiel Gung-Fu-Hiebe, die zuvor mit gestreckten Armen

oder Beiden ausgeführt wurden, jetzt mit gebeugten Ellbogen oder Knien

ausgeführt. Diese scheinbar kleine Änderung brachte im Kampf mehrere

Vorteile mit sich. Vom Standpunkt des Chi Gung gesehen, machte sie

das Öffnen und Schließen der Gelenke und der Wirbelsäule möglich, das

enorme innere Kraft erzeugt. Sie verkörperte zudem die forderlichen dao-

istischen Losungen „Weder zuviel noch zuwenig tun" und „Hinausgehen

ist Zurückkehren und Zurückkehren ist Hinausgehen". Außerdem führte

sie zu einer wichtigen Sicherheitsmaßnahme im Kampf, denn gebeugte

Arme und Beine sind wesentlich weniger anfällig für knochenbrechende

Hebel als gestreckte Arme und Beine.

Ein anderes wesentliches Beispiel ist die Betonung der Zirkularität kör-

perlicher Bewegungen im Tai Chi, und zwar sowohl innerhalb der Formen

205

als auch bei den Kampfanwendungen. In den dem Tai Chi vorangegange-

nen Gung-Fu-Techniken des Shaolin gab es diese Betonung nicht, oder sie

war zumindest deutlich geringer. Das Konzept der Kreisförmigkeit gehört

zum Kern der daoistischen Philosophie und ist eine wesentliche Kompo-

nente der zentralen Handlungsprinzipien des daoistischen Chi Gung.

Die Grundprinzipien des Tai Chi wurden in einer kurzen Abhandlung

aufgezeichnet, die „Tai Chi Klassiker" genannt wird. Diese Seiten wur-

den im neunzehnten Jahrhundert in einer Ecke eines Salzspeichers in der

Nähe des Dorfes Chen gefunden. Jeder Tai-Chi-Meister benutzt sie als ein

grundlegendes Schulungsmittel und beruft sich immer wieder auf ihre

kurzen, kryptischen Sprüche, die viele Bedeutungsebenen haben. Über

die 13 Posituren26 hinaus, werden in den Klassikern an keiner Stelle die

Namen der Vielzahl von Kampftechniken oder der Push-Hands-Methoden

des Tai Chi erwähnt. Sie enthalten nur verallgemeinerte Nei-Gung-Prinzi-

pien des Daoismus, philosophische Konzepte sowie militärische Strategien

und Taktiken. Selbst die 13 Posituren, die in den „Klassikern" erwähnt

werden, werden nicht in Form von expliziten Übungsanleitungen son-

dern nur als allgemeine Prinzipien der inneren Energie dargestellt. Man

braucht schon einen Adepten, der einem zu übersetzen vermag, wie die

verschiedenen in den Klassikern erwähnten körperlichen Bewegungen im

Einzelnen auszuführen sind.

Die acht grundlegenden Kampfprinzipien des Tai Chi

Das Tai Chi basiert auf dem Gebrauch der einen einheitlichen Chi-Energie

des Körpers, die auf Chinesisch Jeng Chi genannt wird. Doch je nach der

Funktion, die es erfüllt, wird dieses eine Chi mit verschiedenen Namen

benannt - das Dieses-Chi und das Jenes-Chi. Es gibt acht primäre Körper-

energien, die im Tai Chi verwendet werden. Diese acht sind die Grundlage

jeder einzelnen Tai-Chi-Formbewegung und jeder Kampfanwendung des

26 Der Begriff „Positur", der in diesem Buch immer wieder auf taucht , wird im allgemei-

nen sowohl in den inneren Kampfküns ten als auch in den äußeren Kampfkünsten

und ganz besonders im Tai Chi Chuan verwendet , um eine spezifische innere oder

äußere Bewegung oder Technik in einer Form zu bezeichnen. Diese Idee wird auch

in den j apan i schen Kampfküns ten verwendet . Im Karate hat man zum Beispiel die

Aufwär t s - und die Abwärtsblockade (Gedan Barai und Jodan Uke, die Umkehrhiebe

und Vorwärtstri t te (Gyaku Zuki und Mae Geri); Im Judo hat man 0 Soto Gari oder

Uchimata und im Aikido Kyoku Nage.

206

Tai Chi und sie sind in einzelnen oder multiplen Kombinationen sämtlicher

Bewegungen enthalten.

Die Kampfkunst Tai Chi basiert auf dreizehn Prinzipien. Fünf davon

beziehen sich auf die Methodologie der Tai-Chi-Fußarbeit, die dafür verant-

wortlich ist, die Füße und das Zentrum des Körpers flüssig und mit Stabili-

tät zu bewegen. Diese fünf heißen Schritt vorwärts, Schritt rückwärts, Blick

(das heißt seine Intention auf etwas richten und sich bewegen) nach links,

Blick nach rechts und Zentrales Gleichgewicht. Die übrigen acht Prinzi-

pien beziehen sich auf das Wie der Manifestation der Energie im Körper.

Diese acht Energieprinzipien sind der Kern dessen, was das Tai Chi zu

einer einzigartigren Kampfkunst macht, die auf bestimmten Grundsätzen

der daoistischen Philosophie (die vier Seiten und die vier Ecken) beruht.

Bei den acht Prinzipien geht es darum, wie sich die Energie beim Tai Chi

im gesamten Körper in allen Posituren und Bewegungen der Form und in

sämtlichen Kampfanwendungen, einschließlich des Push Hands und des

Sparring, manifestiert. In Hinsicht auf die Anwendung geht man davon

aus, dass diese Kräfte zuerst bei der Berührung verwendet werden und

später auf die Energie des Gegners wirken, bevor es zu einer Berührung

kommt oder wenn man sich nach einer Berührung zurückzieht und bevor

man erneut Kontakt aufnimmt.

Die acht beziehen sich auf nichtphysische Energien, die der Körper

aussenden kann. Sie beziehen sich nicht auf körperliche Bewegungen.

Sie werden mit herkömmlichen chinesischem Begriffen bezeichnet, die

folgendermaßen übersetzt werden:

1. Peng oder Abwehren (aufwärts, sich ausdehnende innere Kraft)

2. Lu oder Zurückrollen/Roll Back (rückwärts oder absorbierend, nach-

gebende Kraft)

3. Ji oder Vorwärtsdrängen (gerade vorwärts, nach vorn gerichtete

Kraft)

4. An oder Abwärtsdrücken (sich abwärts bewegende Kraft)

5. Tsai oder Abwärtsziehen (kombiniert die Yin-Energien von Lu und

An, die sich gleichzeitig in dieselbe Richtung bewegen)

6. Lieh oder Spalten (kombiniert die Yang-Energien von Peng und Ji,

die sich von einem Ausgangspunkt aus in entgegengesetzte Rich-

tungen bewegen)

7. Jou oder Ellbogenhieb (konzentriert Energie im Ellbogen)

8. Kao oder Schulterstoß (konzentriert Energie in der Schulter)

207

Die ersten vier beziehen sich auf die Richtung, in die sich die Energie

bewegt: aufwärts beim Abwehren, rückwärts beim Zurückrollen, gerade

vorwärts beim Vorwärtsdrängen und abwärts beim Abwärtsdrücken. Die

nächsten beiden beziehen sich auf die Kombination von Energien: Ab-

wärtsziehen kombiniert die beiden Yin-Energien von Zurückrollen und

Abwärtsdrücken, die sich in dieselbe Richtung bewegen, und Spalten kom-

biniert die beiden Yang-Energien von Abwehren und Vorwärtsdrängen,

die sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Für jede der ersten vier

gab es im Yang-Stil Tai Chi eine danach benannte Positur, ihre wahre Be-

deutung bezieht sich jedoch auf die Art der inneren Energie (Jin genannt),

die sie bezeichnen.

Alle Bewegungen im Tai Chi sind aus Abwandlungen dieser acht Bau-

steine zusammengesetzt, die im Verlauf jeder einzelnen Positur und Über-

gangsbewegung ständig miteinander kombiniert, von einander getrennt

und neu kombiniert werden. Im Kampftraining muss jeder Tai-Chi-Kämpfer

in der Lage sein, innerhalb eines Sekundenbruchteils von einer Kombi-

nation zur nächsten überzugehen, wenn er gewinnen oder zumindest ein

Unentschieden erreichen will, ohne verletzt zu werden.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Tai Chi in Tokio

Im Jahre 1968 war die im Stadtteil Shibuya gelegene

Schule von Chang I Chung die angesagte Tai-Chi-Schu-

le unter Schwarzgürtelträgern in Tokio. In dieser Schule

traf man eine Menge Inhaber eines schwarzen Gürtels

niederen Grades sowie einige Träger eines schwarzen

Gürtels fünften oder sechsten Grades von Karate-Schulen aus Japan und

Okinawa und aus verschiedenen anderen japanischen Kampfkünsten.

Etwa ein Jahr lang übte ich dort bei Chang die Praxis im Stehen und

hatte dabei Gelegenheit, die Form ausgiebig zu beobachten. Abgesehen

von der durch das Stehen erreichten Entwicklung des Chi half mir die

Tatsache, dass ich den Unterricht mehrere Stunden pro Woche während

des Stehens beobachten konnte, viele der Nuancen des Tai Chi zu erken-

nen, die mir sicherlich entgangen wären, wenn ich mich sofort auf das

Erlernen der körperlichen Bewegungen gestürzt hätte. Was aus diesen

Nuancen hervorging, motivierte mich nachhaltig dazu, die Stehübung

nicht aufzugeben. Mir wurde klar, dass ich all die Chi-Techniken, die ich

208

durch das Stehen erlernte, eines Tages brauchen würde, wenn ich einmal

das Potential der Kampffertigkeiten, die im Tai Chi vorhanden sind, voll

ausschöpfen wollte. Im Verlauf der folgenden fünfzehn Jahre wurde mir

bei diversen Gelegenheiten immer wieder bestätigt, wie bedeutungsvoll

diese Einsicht gewesen ist.

Wenn Menschen zum ersten Mal eine Tai-Chi-Bewegung beobachten,

dann sehen sie gewöhnlich nicht, was dabei tatsächlich geschieht. Oft ist

es so, dass man erst dann zum ersten Mal klar sieht, was dabei wirklich vor

sich geht, wenn man die Ausführung der Bewegung Hunderte von Malen

beobachtet hat. Und das trifft nicht nur dann zu, wenn man die Tai-Chi-

Bewegungen passiv beobachtet und analysiert, sondern auch dann, wenn

man sie aktiv erlernt. In meinem Fall war es so, dass das Verständnis, das

sich durch die lange passive Beobachtung entwickelte, es mir sehr viel

leichter machte, all das Material in den Formen später aktiv zu erlernen;

ich vermochte es dann viel präziser auszuführen, und dieses Beobachten

ersparte es mir, in der späteren Schulung viel kostbare Zeit zu verlieren.

Der Unterricht in den Formen hatte eine interessante Struktur. Die lange

Form war sehr kompliziert. Wir übten sie ziemlich langsam, so dass die

Ausführung der ganzen Form am Stück etwa fünfundvierzig Minuten

brauchte. Die ganze Gruppe (die gewöhnlich aus höchstens zwanzig Per-

sonen bestand) führte die Form gemeinsam von Anfang an aus. Wenn

jemand die nächste Bewegung nicht kannte, hielt die ganze Gruppe inne.

Chang erklärte dem fragenden Schüler dann diese Bewegung und de-

monstrierte ihre grundlegende Kampfanwendung; wollte ein fortgeschrit-

tenerer Schüler mehr dazu wissen, dann führte Chang seine Erklärungen

gewöhnlich weiter aus. Der Anfänger ging dann auf die Seite und übte

allein weiter, manchmal auch mit Hilfe eines älteren Schülers, der zu spät

gekommen war. Wurden keine weiteren Fragen gestellt, dann führte die

Gruppe die Form von dem Punkt an, wo sie sie unterbrochen hatten, bis zum

Ende fort. Musste ein weiterer Schüler eine Bewegung erst erlernen, dann

wiederholte sich der Prozess von Innehalten, Erklärung und Fortfahren.

Indem ich die Gruppenübungen beobachtete und sah, wie Chang diesel-

ben Techniken lehrte, wurden mir im Laufe der Zeit einige Dinge klar. Die

Bewegungen der Formen hatten einen praktischen Wert für den Kampf:

Form und Funktion waren wirklich eins. Die Übung der Form entwickelte

ein enormes Gleichgewicht und trainierte starke Beine, besonders durch die

Tritte im Zeitlupentempo und die wiederholten Bewegungen des In-die-

Hocke-Gehens. Außerdem hatte das Tai Chi eine Menge erstaunlicher Hiebe

mit der Hand, die ich in keiner japanischen Kampfkunst je gesehen hatte.

Die auf den Kampf gerichtete Intention einiger der Kursteilnehmer war

deutlich. Man konnte fast sehen, wie sie einen imaginären Gegner block-

209

ten, ihm auswichen, konterten, Knochen brachen und Hebel ansetzten.

Die langsame, unerbittliche und flüssige Art und Weise, in der die Be-

wegungen ausgeführt wurden, sollte nicht nur die Gesundheit verbes-

sern, sondern auch die Präzision im Kampf verbessern. Es war wunderbar

anzusehen, welche Wirksamkeit für den Kampf die Bewegungen hatten.

Langsam dämmerte mir die Einsicht, dass es durchaus realistisch war, von

der Möglichkeit auszugehen, dass man gut kämpfen kann, ohne Muskel-

spannung und Kraft anzuwenden.

Die Langsamkeit und Kontrolle der Tai-Chi-Bewegungen betonte und

entwickelte offensichtlich ein hervorragendes Vermögen, sich in der Taille

und Hüfte zu drehen, wie es auch von jeder guten japanischen Kampf-

kunst entwickelt wird. Die Bewegungen zu beobachten hatte anfangs zu-

gleich etwas Hypnotisches und Ablenkendes. Als ich jedoch allmählich

lernte, mich zu sammeln, wurde mir immer deutlicher, dass die Form

deshalb so ungeheuer beeindruckend war, weil sie so präzise war und kei-

nerlei überflüssige Bewegungen aufwies. Dieses Tai Chi genannte „Zeit-

lupen-Karate" ließ den Körper auch sehr geschmeidig werden. Im Verlauf

dieses Jahres beobachtete ich, wie einige der Kursteilnehmer Schritt für

Schritt ihre gewohnheitsmäßigen Verspannungen verloren. Monat für

Monat bewegten sich die Schüler in den Partner-Kampfanwendungen im-

mer schneller.

In diesem Kurs lag die Betonung nicht so sehr auf dem nicht auf den

Kampf ausgerichteten Push Hands, sondern vielmehr auf dem Training

grundlegender Kampfanwendungen und auf choreographierten Kampf-

übungen mit einem Partner. Wenn Push Hands geübt wurde, dann lag

die Betonung auf dem Nachgeben, dem Kleben und der Verbindung von

Ganzkörperbewegungen, jedoch ohne Fa Jin (siehe Seite 188). Mit einigen

der am Kampf interessierten japanischen Kursteilnehmer traf ich mich

außerhalb des Unterrichts, um spielerisch den Kampf zu erproben, und

dabei gingen wir deutlich härter „zur Sache" als es im Unterricht üblich

war.

1. Abwehren (Peng)

Peng bezieht sich auf die aus einer Quelle aufsteigende oder sich ausdeh-

nende Bewegung von Energie. Dies ist die primäre Yang-Energie oder

projizierende innere Energie im Tai Chi und in den anderen inneren Kampf-

künsten des Daoismus. Sie ist von ihrer Natur her ebenso auf Defensive

wie auf Offensive angelegt. Sie ist die Wurzel der Yang-Energien im Tai

210

Chi und kann Energie sowohl von den inneren (Yin) als auch von den

äußeren (Yang) Oberflächen des Körpers abstrahlen.27

In seiner ausdehnenden Phase wird Peng oft mit der Energie verglichen,

die Holz auf dem Wasser schwimmen lässt oder die einen Autoreifen

aufbläst oder die zur Auffüllung der Blutgefäße führt. Der Ausdruck „Ab-

wehren" bezieht sich auf die sich ausdehnende Natur von Peng. Wird sie

in die Arme oder einen anderen Körperteil gelenkt, dann ermöglicht sie

es, eine Pufferzone zu erzeugen, die verhindert, dass der erste Aufprall

eines auf Sie zukommenden Angriffs Ihre Verteidigung durchdringt. Das

heißt, dass sie den Angriff entweder mit den Armen, den Beinen oder dem

Körper abwehrt und vielleicht sogar den Hieb von Ihrem Körper zurück-

prallen lässt. Abwehren schenkt Ihnen die entscheidende Mikrosekunde

neurologischen Spielraums, die es Ihnen ermöglicht, nicht überwältigt zu

werden, bevor Sie Ihre Abwehr einleiten und die Kraft eines Angreifers

ablenken, absorbieren oder in eine andere Richtung lenken. Außerdem

erzeugt Abwehren in Ihren Gliedmaßen und Ihrem Rumpf eine Ausdeh-

nung, die verhindert, dass die Kraft eines Angreifers über die Hautgrenze

hinaus eindringen und Sie verletzen kann. Dies ist möglich, weil Peng

unmittelbar das schützende Chi des Körpers aktiviert, das im Chinesischen

Wei Chi genannt wird. Nach der Theorie der chinesischen Medizin hindert

das Wei Chi Krankheiten daran, durch die Poren der Haut in den Körper

einzudringen.

Diese sich ausdehnende Energie kann es Ihnen auch ermöglichen, die

Arme eines Angreifers nach Ihrem Willen zu bewegen, indem sie sich

über seine Stärke hinaus ausdehnt und dem Gegner keine andere Wahl

lässt, als den Körperteil oder die Waffe, die Sie berühren, aus dem Weg zu

bewegen. Wenn Ihr Gegner gegen Ihre Gliedmaßen schlägt, können Sie

Ihr Peng plötzlich einschalten, und wenn Ihr Abwehren stark genug ist,

dann kann Ihr Peng dem angreifenden Arm oder Bein Schmerzen oder

sogar schwere Verletzungen zufügen.

Peng oder Abwehren erklärt, warum die Arme eines Ausübenden der

inneren Kampfkunst in einem Augenblick so weich sein können wie die

eines Säuglings und im nächsten Augenblick stahlhart werden können,

" In Hinsicht auf den Rumpf sind die vorderen Oberflächen vom Scheitel bis zum

Steißbein Yin, die rückseitigen Oberflächen Yang; in Hinsicht auf die Gliedmaßen

sind die Innenseiten der Gliedmaßen Yin, die Außenseiten sind Yang. Stehen Sie mit

nach vorne zeigenden Zehen und halten Sie die Arme ausgestreckt vor dem Körper:

die „Innenseite" ihrer Gliedmaßen ist dem Rumpf zugewandt, die „Außenseite" ist

vom Rumpf abgewandt.

211

ohne dass irgendeine Muskelspannung zu bemerken wäre. Die Entwick-

lung dieser Energie ist das innere Äquivalent für Trainingsmethoden eines

Ausübenden der äußeren Kampfkünste, der Gewichte hebt oder mit den

Gliedmaßen gegen harte Objekte schlägt, um sie abzuhärten. Als An-

griffstechnik kann Peng es möglich machen, dass Ihr Arm zuschlägt wie

ein Bleirohr oder dass Ihr Gegner durch die Luft geschleudert wird, ohne

Schmerzen zu empfinden und ohne verletzt zu werden - falls er nicht

durch die Wucht, mit der er gegen eine Wand oder zu Boden geschleudert

wird, verletzt wird. In seiner aufsteigenden Phase ist Abwehren für die

Fähigkeit verantwortlich, einen Gegner anzugreifen und zu entwurzeln.

Das Entwurzeln lässt die Füße Ihres Gegners vom Boden abheben.

Peng oder Abwehren ist energetisch eine Yang-Kraft. Das ursprüngliche

Tai-Chi-Handbuch aus Chen sagt, dass Peng die Quelle aller anderen Posi-

turen oder inneren Energien im Tai Chi ist. Es ist nicht wirklich einzigartig

für das Tai Chi, denn es wird genauso häufig oder sogar häufiger im Ba

Gua und im Hsing-I angewandt, wo es aus genau denselben Gründen

ebenfalls Peng genannt wird. Es ist das Pang, das es dem Ausübenden

der inneren Kampfkunst ermöglicht, einen Gegner zu treffen und ihn,

wie die Chinesen gern sagen, „davonfliegen" zu lassen. Damit er die Kraft

des Abwehrens erlangt, muss ein Ausübender in der Lage sein, die Chi-

Energie ins Untere Dantien abzusenken (das heißt die Energie aus dem

Oberkörper in den Unterbauch sinken zu lassen). Diese Fertigkeit ist eine

unerlässliche Voraussetzung.

2. Zurückrollen/Roll Back (Lu)

Lu bezeichnet die Fähigkeit, eine auf einen zukommende Kraft energetisch

zu absorbieren und/oder ihr auszuweichen, um zu kontern. Das geschieht

oft mit einer kreisförmigen körperlichen Bewegung, die so minimal ist,

dass sie unsichtbar zu sein scheint. Die energetische Hauptrichtung ist

dabei rückwärts, das Roll Back kann von einigermaßen fortgeschrittenen

Kampfkünstlern aber auch in der Abwärts-, Vorwärts- oder Aufwärtsbewe-

gung ausgeführt werden. Das Zurückrollen ist vor allem defensiver Natur,

ist aber auch beim Angreifen nützlich. Es ist die primäre Yin-Energie im

Tai Chi und es absorbiert Energie sowohl mit der Innenseite als auch der

Außenseite der Arme und mit dem Handrücken.

Der natürliche Vorteil des Zurückrollens besteht darin, dass man weg-

schmelzen und dadurch den eigenen inneren Widerstand gegen die Kraft

212

der Techniken des Gegners auflösen kann. Diese Art der Auflösung führt

dazu, dass der Gegner aus dem Gleichgewicht kommt. Man kann es mit

der Situation vergleichen, in der ein Mann mit der Schulter voran gegen

eine Türe anrennt, um diese aufzubrechen, und dann auf die Nase fällt,

weil die Tür plötzlich geöffnet wird. Das, was man normalerweise erwartet,

wird hier auf den Kopf gestellt. Ihr Gegner im Kampf erwartet, dass Sie Ihre

eigene Kraft seiner Kraft entgegensetzen, und wenn das nicht geschieht,

dann stürmt er vorwärts, nimmt sein Zentrum dabei mit und verliert als

Folge davon seine Balance. In der Sekunde oder dem Bruchteil einer Se-

kunde die bei Ihrem Gegner zwischen dem Verlieren des Gleichgewichts

und dem Wiedererlangen des Gleichgewichts liegt, ist er in einem vertei-

digungsunfähigen Schwebezustand, der optimale Bedingungen für einen

Gegenangriff bietet, welcher ja die Spezialität des Tai Chi ist.

Ist das Abwehren eines Tai-Chi-Praktizierenden stark genug, so kann

er es verwenden, um sich gegen einen Angreifer mit gleicher oder leicht

überlegener Kraft zu verteidigen. Das Zurückrollen jedoch ist die bevor-

zugte Technik auf die ein Ausübender des Tai Chi zurückgreift, wenn

er sich mit einer klar überlegenen Kraft konfrontiert sieht oder in dem

Sekundenbruchteil, in dem ein Angreifer vielleicht einen unzureichenden

Angriffswinkel wählt. Das Roll Back ist die Eigenschaft, die das Tai Chi

charakterisiert. Als innere Kampfkunst spezialisiert sich das Tai Chi vor-

wiegend auf diese Energie.

Zurückrollen ist das, was der sanften Qualität im Tai Chi zugrunde

liegt. Für den Matador im Stierkampf ist offensichtlich, wie wertvoll es

ist, einer überlegenen rohen Kraft ausweichen zu können; er gibt nach

und geht den Hörnern des angreifenden Stiers mit dem Körper und seinem

Cape aus dem Weg.

Vom Standpunkt der inneren Kampfkünste gesehen, kann Kraft entwe-

der intelligent oder dumm sein. „Intelligente" Kraft ist mit großer Sensibi-

lität genau dosiert und kann sich blitzschnell verändern, je nach der Art

der Kraft, mit der sie es aufzunehmen hat. „Dumme" Kraft stürmt in eine

Richtung los und ist kaum oder gar nicht in der Lage, sich den Umstän-

den anzupassen. Dumme Kraft ist wie ein Geschoss auf einer festgelegten

Schussbahn, die es nicht zu kontrollieren vermag. Intelligente Kraft kann

ihre Stärke und Richtung von Beginn bis zu Abschluss der Technik von

Millisekunde zu Millisekunde anpassen. Beide Arten von Kraft gibt es so-

wohl in defensiven wie in angriffsorientierten Kampfkunsttechniken. Bei

Kampfwinkeln zum Beispiel kommt intelligente Kraft ins Spiel.

213

Durch ihre energetische und körperliche Ausführung erlaubt es die Tech-

nik des Zurückrollens dem Tai-Chi-Praktizierenden, sich erfolgreich gegen

die überlegene Kraft auch eines gut geschulten Gegners zu verteidigen.

Besitzt eine Partei in einem Kampf überlegene rohe Kraft oder Geschwin-

digkeit und die andere Partei weiß geschickt Kampfwinkel anzuwenden (wie

das bei Stier und Stierkämpfer der Fall ist), dann ist die rohe Kraft durch

Beherrschung von Kampfwinkeln besiegbar. Wenn jedoch beide Parteien

die Kampfwinkel gleich gut beherrschen, dann wird ein Vorteil auf dieser

Ebene dadurch neutralisiert; dann wird wiederum derjenige dominieren,

der mehr Kraft oder Geschwindigkeit besitzt, solange kein Zurückrollen

ins Spiel kommt.

Die kombinierten Eigenschaften von Ausweichen und Absorbieren im

Roll Back führen zu einer Art Amalgam von Nachgiebigkeit. Wenn man mit

großem Engagement übt, dann wird auch diese sanfte Kraft zunehmen, so

wie ein Gewichtheber durch fortgesetzte Übung immer größere Gewichte

zu heben vermag. Es ist die Übung, die zu dieser Zunahme der Kraft führt,

nicht das bloße Verständnis des Mechanismus des Zurückrollens. Viele

Ausübende des Tai Chi glauben fälschlicherweise, dass das Roll Back, weil

es das intellektuell überlegene Konzept zum Umgang mit roher Kraft ist,

automatisch auch körperlich in der Konfrontation mit einem körperlich

stärkeren Gegner funktioniert. Doch weit gefehlt! Der Schlüssel zum Erfolg

ist die Meisterschaft, die aus ausdauernder Übung entsteht.

Aus der Sicht der Kampfkunst ist und bleibt Kraft nun einmal Kraft.

Es spielt keine Rolle, ob die Kraft „sanft" oder „hart", „äußerlich" oder

„innerlich" ist; entscheidend ist die Frage, ob sie vorhanden ist oder nicht.

Der große Vorteil der sanften Kraft des Zurückrollens besteht darin, dass

diese Kraft relativ geringer sein kann als die darauf anstürmende Kraft

und sie trotzdem die Oberhand zu behalten vermag. Allerdings darf die

sanfte Kraft des Roll Back nicht wesentlich geringer sein, denn dann wird

sie von einer stärkeren „harten" Kraft besiegt. Das trifft umso mehr zu,

wenn der Gegner gut verwurzelt ist, wie es viele fortgeschrittene Adepten

sowohl der inneren als auch der äußeren Kampfkünste sind.

Es ist immer leichter, eine bestimmte Fertigkeit zu entwickeln, wenn

man sich ausschließlich darauf konzentriert und sich nichts anderes vor-

nimmt. Natürlich ist es so, dass man zu einem überragenden Können ge-

langen kann, wenn man sich über lange Zeit darauf konzentriert, diverse

Fertigkeiten zu erlernen und diese schließlich zusammenkommen. Diese

Integration ist zweifellos für die Kampfkünste nötig. So trainierten die

214

Ausübenden der Kampfkünste vor dem neunzehnten Jahrhundert und auch

während des neunzehnten Jahrhunderts noch viele Stunden am Tag, als

ginge es um Leben oder Tod. Sie arbeiteten mit der Intensität von Hoch-

leistungssportlern. In der Hierarchie der inneren Kampfkünste jener Zeit

galt das Tai Chi aufgrund seiner Wirksamkeit auf dem Schlachtfeld als eine

dem Hsing-I überlegene Kampfkunst. Trotzdem war es damals und ist es

auch heute so, dass die meisten Ausübenden des Hsing-I normalerweise

die meisten Tai-Chi-Praktizierenden im tatsächlichen Kampf zu besiegen

vermochten. Diese Situation kann sich jedoch umkehren, wenn der Tai-

Chi-Ausübende zehn Jahre Praxis angesammelt hat. Nach der klassischen

Tai-Chi-Überlieferung braucht es mindestens zehn Jahre intensiven Trai-

nings, bis ein Ausübender des Tai Chi Kampfkünstlern aller Richtungen

in einem tatsächlichen Kampf auf Leben oder Tod gewachsen ist. Woher

kommt dieser offensichtliche Widerspruch?

Das Hsing-I und das Tai Chi benutzen beide dieselbe innere Technologie,

um harte innere Kraft zu entwickeln. Da das Hsing-I jedoch anfangs weni-

ger Betonung auf das Nachgeben legt, konzentriert es sich ausschließlich

auf die Entwicklung von Yang- oder harter innerer Energie und von wirk-

samen Kampfwinkeln. Das Hsing-I hat eine schlichtere Vorgehensweise,

und produziert deshalb schneller eine größere Zahl von Siegern. Beim

Tai Chi geht es andererseits nicht um die Entwicklung von ein oder zwei,

sondern von drei Aspekten. Zuerst einmal ist seine Spezialität die „sanfte"

Energie des Zurückrollens; zweitens geht es darin um die „harten" inneren

Kräfte der Projektion von Energie, wozu Abwehren, Vorwärtsdrängen und

Spalten gehören. Drittens geht es im Tai Chi darum, die beiden ersten

Aspekte in einem komplexen und vielschichtigen Prozess miteinander zu

verschmelzen, was in den Tai-Chi-Klassikern Gang Rou Hsiang Ji genannt

wird oder „Hartes und Sanftes verbinden sich miteinander".

Dieser dritte Aspekt macht es den Ausübenden des Tai Chi möglich,

flüssig und augenblicklich zwischen dem Harten und dem Sanften hin

und her zu wechseln. Diese Wechsel vollziehen sich im Geist des Tai-

Chi-Kämpfers, in seiner körperlichen Technik und in seinen Emotionen

mit einem total flüssigen Umschalten, und es ist dieses „Umschalten", bei

dem viele andere Kampfkünstler oft „stecken bleiben". Diese kritischen

Millisekunden treten im Kampf dann auf, wenn ein Kämpfer nicht in der

Lage ist, sich körperlich zu bewegen oder wenn er mental desorientiert ist,

wenn er nicht weiß, wo, wann und wie er sich als nächstes bewegen soll.

Weil das Tai Chi also höhere Ansprüche stellt, gibt es weniger Menschen,

215

die es umfassend meistern - doch diejenigen, die es meistern, erreichen

wirklich sehr viel. Und wer eine harte oder äußere Kampfkunst ausübt,

der kann selbst durch ein wenig Auseinandersetzung mit dem Tai Chi und

seinen Roll-Back-Techniken seine körperliche Geschwindigkeit und die

Flüssigkeit seiner Ausweichmanöver steigern.

Man braucht allerdings sehr viel emsthaftes Training, um das Potential

des Zurückrollens im Tai Chi wirklich ausschöpfen zu können. Was das

Roll Back angeht, sollten Sie zwei Dinge nicht übersehen: Diese innere

Yin-Technik setzt die Bereitschaft voraus, sich auf subtilere Ebenen des

Geistes einzulassen. Und das Maß Ihrer nachgebenden und absorbieren-

den Kraft muss schon sehr groß sein, damit Sie damit einen Gegner mit

beträchtlicher Kraft und Geschwindigkeit besiegen können. Viele wenig

geschulte Anhänger des Tai Chi mit unzureichendem Roll Back bilden

sich ein, sie könnten einen Karatekämpfer, Gung-Fu-Kämpfer oder Boxer

besiegen, nur weil sie ihre Kampfkunst für überlegen halten ... bis sie dann

einmal eine gründliche Niederlage erleiden.

Mit schwachen Gegnern kann man es auch mit mittelmäßigen Roll-

Back-Fertigkeiten aufnehmen. Um gegen einen starken Gegner bestehen

zu können, braucht man schon ein herausragendes Roll Back. Aus diesem

Grunde ist die Entwicklung des Roll Back die schwierigste und wichtigste

Fertigkeit, die man im Push Hands entwickelt.

Es ist schon wahr, dass das Roll Back im Tai Chi hauptsächlich zum

Zweck der Verteidigung gebraucht wird, und das ist der Grund dafür,

dass das Tai Chi oft für wenig wettkampforientiert gehalten wird. Nichts-

destoweniger wird das Roll Back in seinem absorbierenden Aspekt auch

für den Angriff verwendet. Die Angriffsphase des Zurückrollens macht

starken Gebrauch vom Schließen des Körpers (siehe Seite 122), um En-

ergie anzusaugen wie ein Staubsauger. Ist die Aktion des Schließens mit

der Handkante, der Handfläche oder der Rückseite Ihrer Faust verbunden,

dann kann sie durch das Fleisch eines Gegners schneiden, so als zögen Sie

die Schneide eines Messers durch ein dickes Steak, um es durchzuschnei-

den. Diese Technik, bei der die Faust, die Handkante und die Handflä-

che eingesetzt wird, herrscht im Chen-Stil mit seinen starken kreisförmig

schneidenden Handbewegungen vor, und man erkennt sie auch leicht in

den Yang-Stil-Techniken des Hackens mit der Faust, Abwärtsziehens und

Abwärts-Zurückrollens.

Da das Zurückrollen eine Spezialität des Tai Chi ist, dürfte es nützlich

sein, sich den Trainingsverlauf anzusehen, sowohl was die Körperbewe-

216

Der Autor (rechts) führt die Kampfanwendung

der Tai-Chi-Positur „Zurückrollen" (Roll Back)

in ihrer Angriffsphase aus.

gungen als auch was die damit verbundene energetische Komponente

angeht.

Mechanisch gesehen lenkt eine drehende Bewegung eine heranstür-

mende Kraft ab, so wie Rotorblätter eines Ventilators einen gegen den

Ventilator geworfenen Kiesel abprallen lassen. Dieses Prinzip funktioniert

auch sehrt gut, wenn es auf den menschlichen Rumpf, die Arme oder Beine

angewendet wird. Der Ablauf für das Erlernen der physischen Aspekte des

Roll Back ist folgender:

1. Konzentrieren Sie sich auf das flüssige Drehen in der Taille und den

Hüften. Im Osten heißt es oft: „Hüften so steif wie Eisen müssen zu

Hüften so weich und flexibel wie Tofu (Sojabohnenpaste) werden."

2. Ihre Arme und Beine müssen sich mit der Hüftdrehung koordiniert

beugen.

3. Ihre Arme müssen sich entspannen und weicher werden, bis sie einer

angreifenden Kraft nur minimalen Widerstand entgegensetzen.

217

4. Das Öffnen und Schließen (ebenso wie ein tiefes Entspannen) all

Ihrer Gelenke muss so weit entwickelt werden, dass Ihre Gelenke sich

in Reaktion auf den geringsten Druck Ihres Gegners innerhalb ihres

optimalen Bewegungsspielraums ungehindert bewegen können.

5. Das Drehen der Arme und Beine muss so weit verwirklicht und

stabilisiert werden, dass dadurch die Energie verstärkt und auf den

exakten Punkt des Körperkontakts hingelenkt wird, der meistens

auf dem Unterarm oder der Hand liegt.

6. Jetzt beginnt das ernsthafte Einstudieren der Kampfwinkel unter

Gebrauch des Zurückrollens. Damit diese Phase ihre volle Wirk-

samkeit entfalten kann, muss man die grundlegenden Fertigkeiten

der Punkte 1 bis 5 gemeistert haben.

7. Im Anfangsstadium des Erlernens des Roll Back werden Ihre Be-

wegungen groß und offensichtlich sein, sowohl in Ihren Gelenken

als auch in der Hüfte. Mit der Zeit jedoch werden Ihre körperlichen

Bewegungen immer verfeinerter und zirkulärer, so dass sie schließ-

lich extrem klein werden. Sie können in der Tat so winzig werden,

dass sie für das Auge eines Beobachters, der nicht darin geübt ist,

subtilste Bewegungen zu erkennen, praktisch unsichtbar sind.

Der Ablauf für das Erlernen der energetischen Aspekte der Roll-Back-

Technik ist folgender:

1. Sie entwickeln ein Gefühl für das Absorbieren von Energie mit Ihrem

ganzen Körper.

2. Sie absorbieren Energie auf einer Linie zwischen dem Punkt des

Kontakts mit Ihrem Gegner durch Ihren Körper hindurch bis zu ei-

nem Punkt der rückwärts hinter Ihrem Körper liegt oder der jenseits

Ihrer Füße in der Erde liegt, vorzugsweise an der Grenze Ihrer Aura,

wo sich die Energie mit der Energie der Erde verbindet (das heißt

Ihrer energetischen Wurzel).

3. Sie absorbieren die Energie genau am Punkt des Einschlags und

lenken sie um, was dazu führt, dass Ihr Gegner für einen Sekun-

denbruchteil in der Luft zu schweben scheint.

4. Sie weiten Ihre Fähigkeit, Energie zu absorbieren, dahingehend aus,

dass Sie Energie aus dem Körper Ihres Gegners herausziehen können,

was dazu führt, dass Ihr Gegner in die Richtung des Zuges taumelt.

Dies geschieht normalerweise, ohne dass Ihr Gegner eine Ursache-

Wirkung-Beziehung wahrnimmt, was zu einer ungläubigen Reaktion

218

im Sinne von „Das kann doch nicht wahr sein" führt. Dieser Prozess

wird of mit dem Einholen eines Fisches an der Angel verglichen,

das den Fisch dort landen lässt, wo man ihn haben will.

5. Wenn Sie alle oben genannten Punkte meistern, dann werden Ihre

Hände so sanft, dass Ihr Gegner sie buchstäblich nicht mehr fühlen

kann und nicht weiß, was sie tun.

Zurückrollen und Schlagen Eng verbunden mit dem Zurückrollen ist

die grundlegende Tai-Chi-Technik des Klebens oder Haftens. Das Kleben

kann mit der leeren Hand oder mit einer Waffe ausgeführt werden. Wir

werden uns hier jedoch auf das Kleben mit bloßen Händen konzentrieren.

Das Kleben an der Haut des Gegners wird ausgeführt, nachdem man den

Körper oder ein Glied eines Angreifers mit dem eigenen Körper oder den

eigenen Gliedmaßen abgefangen hat. Wenn Sie jemand angreift und Sie in

Körperkontakt mit der Person bleiben, dann können Sie sie kontrollieren,

sie daran hindern, Sie zu verletzten oder sie in eine Position für einen

Gegenangriff manövrieren. Jedes fortschreitende Stadium des Trainings

verlangt, dass Sie die Kraft eines Angreifers in immer feineren Abstufungen

zu interpretieren verstehen.

Es gibt vier klar zu unterscheidende progressive Stadien des Klebens,

von denen jedes Stadium einen höheren Grad der Fertigkeit, des Chi und

des Vermögens, die Kraft eines Gegners abzufangen, verlangt.28

1. Nachgeben (auf Chinesisch Jan) Man gibt nach, indem man sich

mit großer Präzision vor der Kraft des Angreifers zurückzieht, so

dass man immer kurz vor dieser Kraft bleibt und es der herankom-

menden Kraft damit versagt, einen zu erreichen oder zu treffen.

Wichtig dabei ist, dass man die Kraft des Angreifers dorthin gehen

lässt, wohin sie gehen will, ohne sie aufzuhalten; man ermutig sie

geradezu. Diese Technik führt dazu, dass der Gegner glaubt, dass

er sie beinahe erwischt habe und nur noch ein wenig mehr An-

strengung nötig sei. Die folgenden drei Situationen vermitteln ein

„Gefühl" für diese Prozedur:

28 Hier werden sowohl die chinesischen Begriffe als auch deren Übersetzung angeführt. In einigen Fällen gibt es jedoch keine lineare Übersetzung, die den Sinn des chinesischen Begriffs angemessen wiedergibt. Ich habe deshalb Umschreibungen verwendet, die keine wörtliche Übersetzung des chinesischen Terminus darstellen, aber die Funktion einigermaßen treffend bezeichnen.

219

a) Versuchen Sie, eine in der Luft schwebende Flaumfeder zu treffen.

Wenn Ihre Haut auf die Feder trifft, weicht diese ganz knapp vor

der Kraft Ihrer Faust zurück und vermeidet so einen zerstöreri-

schen Einschlag.

b) Wenn die Hörner des Stiers kurz davor sind, das Cape des Stier-

kämpfers zu berühren, zieht der Matador es ganz knapp vor

der Kraft der Hörner weg. Das verhindert, dass der Schock den

Stierkämpfer über das Cape erreicht oder das Cape sich in die

Hörner des Stiers verwickelt, was bei der nächsten Wendung des

Kopfs des Stiers zum Tod des Matadors führen könnte.

c) Stoßen Sie mit den Fingerspitzen in Wasser. Sie spüren einen

geringen Druck des Wassers, aber das Wasser weicht immer vor

Ihren Fingern zurück, ganz gleich wie schnell oder langsam Sie

zustoßen oder wie viel Kraft Sie benutzen.

2. Verschmelzen (auf Chinesisch Lan) Als nächstes verschmelzen Sie

mit der Kraft des Angreifers, so dass Ihre Kraft und Ihre in Kontakt

befindliche Körperoberfläche an keinem Punkt der Kontaktfläche des

Gegners voraus oder hinterher ist, ganz gleich welche Geschwindig-

keit oder Kraft gerade im Spiel ist. Wenn es zu dieser Verschmelzung

kommt, dann verspürt der Angreifer weder bewusst noch unbewusst

irgendeinen Widerstand oder einen Unterschied zwischen ihm selbst

und Ihnen, was ihn oft unterschwellig die Motivation verlieren lässt,

es wirklich darauf ankommen zu lassen. In diesem Moment können

Sie seine Arme oder Beine (oder seine Waffe) sanft dorthin führen,

wo Sie sie haben wollen, so wie Sie ein Spielzeug leicht und genau

an einer Schnur herumführen können, die weder zu straff noch zu

locker ist. In den Tai-Chi-Klassikern wird diese Aktivität Bu Diu,

Bu Ding genannt oder „weder den Gegner verlassen, noch sich ihm

widersetzen".

3. Kleben oder Haften (auf Chinesisch Nien) Sie tun nun zwei Dinge

gleichzeitig: Sie üben einen sehr subtilen Druck auf die Faszien

Ihres Angreifers gleich unter der Haut aus, um an seinen Muskeln

zu kleben, und Sie ziehen buchstäblich seine Energie aus seinem

Körper heraus und in ihren Körper hinein und über diesen hinaus. Ist

dies erfolgreich, dann werden Sie nur durch den Oberflächenkontakt

mit der Haut Ihres Gegners und ohne ihn festzuhalten seinen Körper

220

mitziehen, wenn Sie sich bewegen. Sie können seine Arme und Beine

dann überall hin bewegen, wo Sie sie haben wollen, weil sie wie

angeklebt an Ihren Armen oder Beiden haften. Diese Technik kann

man mit drei allgemein bekannten Phänomenen vergleichen:

a) Feuchten Sie Ihren Finger an. Nun können Sie mit sanftem Ober-

flächenkontakt ein Stück Papier mit Ihrem angefeuchteten Finger

aufgrund der Klebrigkeit der Feuchtigkeit bewegen, ohne fest

zudrücken zu müssen.

b) Berühren Sie ein Stück Papier mit der klebenden Seite eines

Klebebandes. Sehe Sie, wie das Klebeband das Papier mitnimmt,

wenn es bewegt wird.

c) Wenn Ihr Chi wirklich stark ist, dann ist die Situation ähnlich

wie in dem Fall, da ihre Hände mit statischer Energie aufgeladen

sind. Ein Stück Baumwollfaser wird sich mit Ihrer Hand bewegen,

auch wenn kaum ein physischer Kontakt zu bestehen scheint.

4. Magnetisieren (auf Chinesisch Suei) Die ersten drei Methoden

des Klebens (Nachgeben, Verschmelzen und Haften) setzen voraus,

dass Ihr Gegner sich bewegt und Sie entsprechend den Gesetzen der

Physik mit einem Bewegungsmoment umgehen müssen. Die vierte

Methode, das Magnetisieren, scheint diese Gesetze, so wie wir sie

gegenwärtig verstehen, zu transzendieren. Bei der vierten Methode

magnetisieren Ihre Hände den Körper des Angreifers, was es Ihnen

erlaubt, ihn vom Boden abzuheben, so wie ein starker industrieller

Magnet ein schweres Metallobjekt vom Boden abheben kann. Dabei

ist kein Bewegungsmoment im Spiel. Sie kontrollieren dabei bloß das

Chi des Körpers des Angreifers, und zwar auf eine Art und Weise, die

sich über die Gesetze der Schwerkraft hinwegzusetzen scheint.29

29 Es mag sein, dass diese Methode für künftige Generationen verloren gegangen ist. Mein Lehrer Liu Hung Chieh hat sie mir eines Tages, bevor er starb, demonstriert. Liu hat sie mir nicht erklärt, noch habe ich bis zum heutigen Tage herausgefunden, was er da gemacht hat. Von den ursprünglichen Meistern des Chen-Stils des Tai Chi sowie von dem Begründer Yang und seinem Sohn sowie von einigen ihrer Schüler heißt es, dass sie diese Technik beherrschten. T. T. Liang erzählte eine Geschichte über einen Schüler des Gründers Yang, der einen schweren Sessel vom Boden heben und ihn durch die Luft bewegen konnte, nur indem er die Hände flach oben auf dessen Rückenlehne legte.

221

3. Vorwärtsdrängen (Ji)

Diese innere Energie wird auf einer geraden Linie aus ihrer Quelle vorwärts

projiziert, und zwar in die Richtung, in die man sie lenkt: aufwärts, abwärts,

seitwärts, diagonal oder gerade nach vorn. Sie ist die Hauptangriffstechnik

des Tai Chi und strahlt Energie von der Außenseite der Arme und dem

Handrücken ab.

Vorwärtsdrängen wird auf vier verschiedene und fortschreitend kraft-

vollere Weisen ausgeführt:

1. Ein einfacher, geradeaus verlaufender Hieb mit einer Hand. Hier legt

man einfach die ganze Kraft und das ganze Gewicht des eigenen

Körpers in den Hieb.

2. Ein einfacher, geradeaus verlaufender Hieb mit einer Hand, bei

dem man in einer geraden Linie Chi Energie projiziert, die von den

Füßen durch die Beine, Hüften, den Rumpf und die Wirbelsäule

bis zu dem Teil des Arms oder des Kopfes aufsteigt, der auf den

Gegner auftrifft. Wenn Sie einen Tritt zum Gegner hin ausführen,

trifft dasselbe zu. Wieder projiziert man Energie in einer geraden

Linie aus dem tragenden Bein und der Wirbelsäule zu dem Teil des

tretenden Beins, der den Gegner treffen soll. Man sollte in der Lage

sein, mit dieser und den beiden folgenden Techniken ohne Einsatz

von Körpergewicht zur Erzeugung von Bewegungsmoment enor-

me innere Kraft zu erzeugen. (Wenn man zu dieser Technik noch

Körpergewicht hinzufügt, dann vergrößert das die Kraft natürlich

noch.) Die Methoden 2, 3 und 4 erlauben es dem Ausübenden des

Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua aus einer Entfernung von nur zwei

Zentimeter vom Gegner oder sogar noch geringerer Entfernung bis

hin zu dem Punkt, wo es schon zur Hautberührung gekommen ist,

volle Kraft zu erzeugen.

3. Eine Hand schlägt oder berührt den Gegner, während die Energie

der anderen Hand oder des anderen Arms die Kraft des Hiebes ver-

stärkt, ob die nichtschlagende Hand den Gegner nun berührt oder

nicht. Wenn jemand erst beginnt, sich mit dieser Technik vertraut

zu machen, dann berührt die nichtschlagende Hand gewöhnlich die

schlagende Hand oder den schlagenden Unterarm. Später jedoch

schreitet man dazu fort, die Energie aus der verstärkenden Hand

nur mental in die schlagende Hand zu projizieren.

222

4. Energie aus beiden Armen wird zuerst auf einen Punkt im Raum

jenseits des tatsächlichen Aufschlagpunkts fokussiert. Die Energie

wird dann aus diesem Punkt heraus projiziert, der gewöhnlich tief

innerhalb eines inneren Organs oder innerhalb des Gehirns des

Gegners liegt oder auch auf der gegenüberliegenden Körperoberflä-

che des Gegners. Wenn man zum Beispiel die Brust von jemandem

berührt, dann wäre der Brennpunkt die Wirbelsäule oder ein Punkt

noch jenseits der Wirbelsäule. Yang-Stil Posituren wie „Schritt vor-

wärts", „Parieren und Schlagen", „Vorwärtsdrängen", „Schulterstoß"

und „Durch den Rücken fächern" sind typisch für diese energetische

Technik.

4. Abwärtsdrücken (An)

An erzeugt eine Abwärtsbewegung der Energie. Es ist eine innere Yin-En-

ergie, die Energie sowohl aus den Yin- als auch aus den Yang-Meridianen

der Arme und Hände auszustrahlen vermag. Die Technik ist ebenso an-

griffsorientiert wie defensiver Natur. Um ein Gefühl dafür zu bekommen,

was Abwärtsdrücken ist und wie es funktioniert, versuchen Sie eines der

beiden folgenden Dinge: Setzen Sie sich in einen Sessel mit Armlehnen,

legen Sie die Handflächen fest auf die Armlehnen und heben Sie dann

ihren Körper aus dem Sessel, indem Sie mit den Handflächen nach unten

drücken. Oder setzen Sie sich auf den Boden und heben Sie Ihr Hinterteil

vom Boden, indem Sie mit den Handflächen nach unten auf den Boden

drücken. In beiden Fällen haben Sie die abwärtsgerichtete Aktion von

Abwärtsdrücken ausgeführt.

Das Abwärtsdrücken hat drei primäre defensive Funktionen:

1. Es ist ein direkter Konter für die aufwärts gerichtete expansive

Kraft von Abwehren, der Ihren Gegner daran hindert, die Auf-

wärtsbewegung Ihrer Arme oder Ihres Körpers gegen Ihren Willen

zu kontrollieren.

2. Es macht es Ihnen möglich, Ihren Gegner daran zu hindern, seine

Arme oder Beine zu heben.

3. Es kann den Schwerpunkt Ihres Gegners energetisch zu Boden

zwingen, so dass er sich fühlt, als sei ein großer Sandsack auf ihn

gefallen.

223

Für den Angriff hat Abwärtsdrücken zwei primäre Funktionen:

1. Es vermag Ihre Hände unglaublich schwer zu machen, so dass sie

durch den Körper eines Gegners hindurchschmettern können wie

Stahl durch Blech.

2. Es kann eine machtvolle Energiewelle abwärts durch den Körper

eines Angreifers senden, bis hinab zur Grenze seiner energetischen

Aura unterhalb seiner Füße. Diese Aktion kann die energetische

Wurzel des Angreifers kappen. Außerdem kann diese Abwärtswelle

eine aufsteigende Energiewelle auslösen, die, wenn sie aufsteigt,

dazu führen kann, dass der Angreifer entwurzelt wird - seine Füße

heben sich vom Boden.

Abwärtsdrücken lässt sich mit der beim Dribbeln auf einen Basketball

ausgeübten abwärts gerichteten Energie vergleichen. Diese Energie führt

letztlich dazu, dass der Basketball in die Luft hochspringt. Viele der kör-

perlich kleineren Tai-Chi-Meister von Yang Lu Chan über Cheng Man-

ching bis zu Liu Hung Chieh bevorzugten diese Abwärtsdrücken-Technik

und fügten ihr oft noch ein wenig aufsteigende Abwehren-Energie hinzu,

sobald der „Basketball" (der Körper des Gegners) aufwärts sprang, um diese

Bewegung noch zu verstärken.

Abwehren, Zurückrollen, Vorwärtsdrängen und Abwärtsdrücken sind sowohl offensichtlich als auch verborgen

Die vier oben beschriebenen Kampfprinzipien des Tai Chi (Abwehren,

Zurückrollen, Vorwärtsdrängen und Abwärtsdrücken) bilden den Kern

aller Tai-Chi-Bewegungen und -Kampfanwendungen. Die nächsten vier

Techniken (Abwärtsziehen, Spalten, Ellbogenhieb und Schulterstoß) stellen

unterschiedliche Kombinationen der ersten vier Techniken dar.

Die Formbewegungen der Hauptzweige der diversen Schulen, die die

breite Öffentlichkeit unter dem Oberbegriff Tai Chi kennt (das sind die

Stile Yang, Wu, Chen, Hao und der Kombinationsform-Stil) können sehr

verschieden voneinander aussehen. Sie sind jedoch alle aus denselben vier

Grundbewegungen zusammengesetzt. Vielen Menschen Fällt es schwer,

diesen Punkt zu begreifen, weil sie sich auf die äußeren körperlichen Be-

wegungen konzentrieren und nicht auf das, was die nichtphysischen En-

224

ergien hinter den Bewegungen manifestieren. Was die Ausführung der vier

Prinzipien in den Formen und Anwendungen angeht, gibt es offenkundige

und verborgene Aspekte. Die offenkundigen erklären sich praktisch von

selbst. Zu den verborgenen Elementen gehört der Einsatz von Intention,

und sie sind gewöhnlich Teil der „geheimen" Unterweisungen, die man nur

übermittelt bekommt, wenn man einen Tai-Chi-Adepten findet, der bereit

ist, sie zu lehren. Diese Adepten sind die einzigen, die die verborgenen

Aspekte gründlich kennen.

Die offensichtliche Ebene Wenn man irgendeine Tai-Chi-Form auf der

offensichtlichen Ebene studiert, dann kann man experimentieren und oft

herausfinden, welche Energie im Spiel ist, indem man beachtet, wie die

Hände sich bewegen. Beim Abwehren wird Ihre Energie von den Füßen her

im Körper aufwärts steigen und sich vom Körper weg ausdehnen, während

Ihre Hände sich aufwärts und in jedem Winkel, einschließlich vertikal,

vom Körper weg bewegen. Im Zurückrollen werden Sie Energie von den

Fingerspitzen durch Ihre Arme zur Wirbelsäule hin aus der Luft heran-

ziehen, während Ihre Hände sich von einer in den Raum ausgestreckten

Position zum Körper hin zurückziehen. Im Vorwärtsdrängen, dem genauen

Gegenteil des Roll Back, bewegen Sich Ihre Hände aus Körpernähe in eine

geradeaus gestreckte Position, wobei Ihre Energie sich von der Wirbelsäule

durch Ihre Arme in die Fingerspitzen bewegt. Beim Abwärtsdrücken, dem

Gegenteil von Abwehren, bewegen Sie die Energie vom Scheitelpunkt des

Kopfes bis zu den Fußsohlen, während sich die Hände in jedem beliebigen

Winkel abwärts bewegen, entweder zum Körper hin oder vom Körper weg

oder vertikal abwärts, wie in der Bewegung, die „die Laute spielen" ge-

nannt wird. Was hier gerade beschrieben wurde, ist jedoch nur der visuell

offensichtliche Teil der Geschichte.

Die verborgene Ebene In den inneren Kampfkünsten manifestiert die

Chi-Energie sich nicht vor allem durch eine körperliche Bewegung, son-

dern durch Intention und den Herz-Geist (siehe Seite 139). Wenn eine

Bewegung im Kampf wirksam sein soll, dann muss die direkte Intention

vorhanden sein, welche Art von Energie Sie in ganz bestimmten Situatio-

nen manifestieren wollen. Wie bei der Absicht, die hinter der Entwicklung

des modernen Stealth-Bombers steht, ist das Ideal im Kampf, Ihren Gegner

nicht wissen zu lassen, dass Sie kommen, oder ihn doch zumindest über

Ihre Pläne und Absichten zu täuschen.

225

Mit offensichtlichen körperlichen Bewegungen können Sie einen Gegner

nur schwer täuschen. Praktisch alle Ausübenden der äußeren Kampfkünste

haben Erfahrungen mit Händen, die sich aufwärts, abwärts, vor und zu-

rück bewegen, und sie haben Taktiken entwickelt, um solche Bewegungen

zu kontern und zu besiegen. Sie haben jedoch oft wenig oder gar keine

Erfahrung mit dem Kontern von bei der Berührung projizierter subtiler

Energie. Solche Techniken gibt es in ihrem jeweiligen Kampfkunst-System

vielleicht gar nicht.

In vielen speziellen Tai-Chi-Bewegungen ist die Arbeit mit der Energie

ziemlich verborgen. Das ist jedoch im ursprünglichen Chen-Stil weniger

der Fall als im Yang-, Wu- und Hao-Stil und im Stil der Kombinationsform.

Die Redensart „Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen" trifft auch

auf viele der Bewegungen der inneren Kampfkünste zu.

Die verborgenen Energien: Eingebettetes Abwehren, Zurückrollen, Vor-

wärtsdrängen und Abwärtsdrücken Bei einigen Bewegungen können Sie,

während sich die Arme entweder von Ihrem Körper weg oder auf Ihren Körper

zu abwärts bewegen, von der Außenseite der Arme in Richtung auf den Bo-

den Abwehren-Energie projizieren, die dazu fuhrt, dass Ihr Gegner von Ihren

Armen zurückprallt und gleichzeitig abwärts gezwungen wird. So vollzieht

sich zum Beispiel im Yang-Stil diese Energieprojektion vom Handrücken

der unteren Hand in den Manövern Roll Back, Brush Knee und Twist Step.

Indem Sie die Energie von Zurückrollen benutzen, jedoch nicht seine

physische Bewegung, könnten Sie die Energie Ihres Gegners absorbieren,

während sich Ihre Hände vorwärts oder aufwärts bewegen. Diese Technik

wird manchmal „Die Kraft des Gegners stehlen" genannt. Sie wird zum

Beispiel in der ersten Hälfte der oberen Hand von „Die weiße Schlange

streckt die Zunge heraus" angewendet, bevor Sie in der zweiten Hälfte der

Bewegung einen Stoß gegen die Kehle Ihres Gegners ausführen.

Die energetische Aktion von Vorwärtsdrängen sowie des Vorwärtsgehens

ist auch in vielen Bewegungen vorhanden, bei denen die Hände in einer

körperlichen Aktion, die dem Roll Back ähnelt, zum Körper zurückkeh-

ren. Nur dass Sie hier, wenn Sie mit der Innenseite oder Yin-Seite Ihrer

Arme Energie absorbieren, hinterher oder gleichzeitig Energie für einen

Rückwärts-Ellbogenhieb entlang der Außenseite Ihrer Arme aus Ihren

Ellbogen projizieren.

Die Energie von Abwärtsdrücken ist oft entlang der Unterseite Ihrer

Arme eingebettet und strahlt von dort aus, während Ihre Hände sich ge-

226

radeaus oder aufwärts bewegen. So tritt diese ausstrahlende Energie im

Yang-Stil (unter anderem) in zwei klaren Fällen auf: 1. im oberen Arm

der Posituren Brush Knee und Twist Step, während Ihre Hände sich vor-

wärts bewegen; 2. bei der Ausführung der grundlegenden Abwärtsdrü-

cken-Positur, während Ihre Arme sich heben und vorwärts gehen. In der

grundlegenden Abwärtsdrücken-Positur des ursprünglichen Chen-Stils ist

die Intention nicht so verborgen, da Ihre Hände sich tatsächlich physisch

abwärts bewegen, um in Hüfthöhe zum Boden zu zeigen.

5. Abwärtsziehen (Tsai)

Diese Bewegung kombiniert in vielen Posituren gleichzeitig die beiden

primären Yin-Energien von Zurückrollen und Abwärtsdrücken, und zwar

auf offensichtliche, verborgene und eingebettete Weise. Abwärtsziehen zum

Beispiel verschmilzt diese Energien miteinander und lässt sie in dieselbe

Richtung gehen. Man gibt der Energie eines Angreifers nach und/oder

absorbiert sie, während man ihn gleichzeitig allmählich oder plötzlich

abwärts bewegt. Die plötzliche Variante wird manchmal verwendet, um

einen Gegner dazu zu bringen, zu Boden zu stürzen, ein Schleudertrauma

zu erleiden oder ein Gelenk auszurenken. Die Bewegung ist am offensicht-

lichsten in der Positur Abwärtsziehen zwischen „Die Laute spielen" und

„Schulterstoß" zu erkennen, gerade bevor „Der weiße Kranich breitet die

Flügel aus" sowie in „Nadel auf den Grund des Meeres".

6. Spalten (Lieh)

Spalten ist das Gegenteil von Abwärtsziehen. Es kombiniert die beiden

primären Yang-Energien von Abwehren und Vorwärtsdrängen. In dieser

Aktion, die verlangt, dass man sich in der Hüfte dreht, werden die bei-

den Yang-Energien nicht miteinander verbunden, sondern sie gehen aus

einem gemeinsamen Ursprung in verschiedene Richtungen auseinander.

Das führt zu einer enormen Freisetzung von Energie, wie bei einer Bom-

benexplosion.

Das Spalten lässt sich auf zwei Weisen ausführen. Ihre Hände und

Arme können sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen, oder aber

eine Hand bleibt im Raum fixiert, während die andere Hand davon weg

zieht. Das Spalten lässt sich entweder vorwärts oder rückwärts, seitwärts

oder auf und ab ausführen. Man könnte dabei zwei Abwehren, zwei Vor-

227

wärtsdrängen oder ein Abwehren und ein Vorwärtsdrängen kombinieren.

Diese Aktion ist äußerlich in den sich trennenden Händen von „Der weiße

Kranich breitet die Flügel aus", in „Durch den Rücken fächern" und in

„Einzelpeitsche" zu beobachten.

7./8. Ellbogenhieb (Jou)/Schulterstoß (Kao)

Sowohl Ellbogenhieb als auch Schulterstoß sind im Tai Chi direkt mit

der Methodologie der Schlange und des Kranichs verbunden und darin

miteinander vermischt.

Nach einer der am häufigsten angeführten Legenden entstand das Tai

Chi aus der Beobachtung eines langen Kampfes zwischen einem Kranich

und einer Schlange. Ob sich dies nun tatsächlich so zugetragen hat oder

nicht, auf jeden Fall beschreibt diese Legende metaphorisch die beiden

wesentlichen Prozesse, aus denen alle Tai-Chi-Anwendungen aufgebaut

sind. Die ersten sechs Grundenergien (Abwehren, Zurückrollen, Vorwärts-

drängen, Abwärtsdrücken, Abwärtsziehen und Spalten) konzentrieren sich

hauptsächlich auf Kampfanwendungen, die in den Unterarmen und Händen

enden und die mit dem Kranich assoziiert werden.

Die letzten beiden (Ellbogenhieb und Schulterstoß) werden mit der

Schlange verbunden. Diese Bewegungen benutzen irgendwie den Ellbogen

und die Schulter. Doch an der Sache ist mehr dran als die offensichtliche

Tatsache, dass man mit dem Ellbogen einen Hieb zum Gegner ausführt,

wie man das in den äußeren Kampfkünsten wie dem Thai-Boxen tut,

oder dass man mit der Schulter stößt, wie in einem Schulterblock beim

American Football.

In den Soloformen der späteren Stile des Tai Chi (Yang, Wu, Hao und

Kombinationsform) wird die Mehrzahl der Ellbogen- und Schultertechniken

nicht sichtbar. In diesen Soloformen gibt es jedoch die ganze Bandbreite

der versteckten Techniken. Damit man sie jedoch verstehen kann, müssen

sie mit voller Erklärung auf der Ebene der Intention gelehrt werden. Nur

in der Praxis der Zwei-Personen-Kampfanwendungen findet die ganze

Bandbreite der Ellbogen- und Schultermethoden körperlichen Ausdruck.

Die Situation wird klar, wenn man untersucht, wie die Bewegungen

des ursprünglichen Chen-Stils strukturiert sind, denn hier wird das of-

fensichtlich, was im Yang-Stil verborgen ist. Im ursprünglichen Chen-Stil

sieht man deutliche Ellbogenbewegungen mit sichtbar kraftvollen Ener-

gieentladungen und Schütteln des Ellbogens sowie klar definierte große

228

Kreisbewegungen der Schulter, die in jede Richtung rotiert. Während dieser

offensichtlichen Ellbogen- und Schulterbewegungen sieht man oft, wie

eine Hand, die sich zuvor deutlich bewegt hat, in der größeren Bewegung

innehält und im Raum schwebt, wobei sie einen winzigen Kreis vollzieht,

der den größeren und betonten Schulter- oder Ellbogenbewegungen folgt.

Wie bei den Wellenbewegungen, die man bei einer Schlange sieht, kann

man vielleicht auch Mini-Sequenzen beobachten, die kraftvoll durch eine

offensichtlich klare Schulter- und dann Ellbogenbewegung fließen, bevor

sie in einer Handtechnik kulminieren. In anderen Variationen bewegen

sich die Schultern, Ellbogen und Hände zusammen in einem weichen,

verschmolzenen Fließen, das völlig nahtlos und verbunden ist, wie bei

einem Kranich, der mit den Flügeln schlägt.

Ellbogenhiebe und Schulterstöße, die direkt mit Kranich und Schlange zu tun haben

Der Kranich, der die einheitliche Bewegung symbolisiert, ist ein Bild, das

sich auf jene Techniken bezieht, in denen es eine direkte Energielinie gibt,

die ihren Ursprung im Fuß oder im Unteren Dantien hat und die in einer

flüssigen Bewegung kulminiert, die in der Hand ihren Abschluss findet.

Es heißt, dass diese Bewegung die Bewegung eines Kranichs nachahmt,

der mit den Flügeln schlägt, um den Kopf einer Schlange zu treffen oder

deren Angriff abzublocken. Der Kranich ist ein außerordentlich anmuti-

ger Vogel. Ihn zu beobachten, wie er in langsamen, geradezu hypnotisch

sanften rhythmischen Wellenbewegungen mit den Flügeln schlägt, ist eine

wundervolle Inspiration. Doch der Kranich kann auch furchterregend sein

und seine Flügel rasend schnell bewegen, wenn er erregt ist.

Wenn die Schlange sich über den Boden vorwärts bewegt, dann tut sie

das in einer wellenförmigen Bewegung. Bevor sie zustößt, rollt sie sich

zusammen, um Energie zu speichern, und sie stößt sehr schnell zu, wobei

sie sich entfaltet wie eine Peitsche. Einige Schlangen rollen sich auch zur

Verteidigung zusammen, um ihre Angreifer zu umschlingen, oder sie wür-

gen ihre Beute zu Tode. Wenn im defensiven Stadium des Tai Chi die Hand

nicht ausreicht, um die Kraft eines Angreifers abzulenken, dann übernimmt

der Ellbogen die Ablenkung, und wenn auch das fehlschlägt, dann kommt

die Schulter ins Spiel. Oder man benutzt verschiedene Kombinationen der

mehrfachen Krümmung des Armes, um die Gliedmaßen, den Rumpf oder

den Kopf des Gegners näher an den eigenen Körper heranzuziehen.

229

In der Angriffsphase des Tai Chi äußert sich eine schlangenartige Ent-

faltung der Peitsche als eine schnelle Abfolge von Bewegungen wie Ma-

schinengewehrfeuer. Eine sich vollendende Schulterbewegung wird zu

einer Ellbogentechnik, die zu einem Unterarmhieb wird, der zu einem Hieb

mit dem Handgelenk oder/und der offenen oder zur Faust geschlossenen

Hand wird, der wiederum zu einem Fingerstoß wird, der den Gegner fertig

macht. Wenn eine Technik nicht die gewünschte Wirkung erzielt, dann

geht man zur nächsten über. Wird eine Technik partiell verhindert oder

komplett gekontert, dann geht man blitzschnell mit flüssiger, verbundener

Geschwindigkeit zur nächsten über. Diese Methode erlaubt es Ihnen, um

einen Gegner, der in einem bestimmten Augenblick mehr Kraft in eine

Kampfsituation einbringt als Sie selbst, herum zu gleiten und ihn zu um-

gehen. In der Angriffsphase des Tai Chi setzen Sie einer überlegenen Kraft

keinen Widerstand entgegen, sondern fließen unter Gebrauch verschiedener

Gelenke um sie herum wie Wasser, bis sich die nächste gute Gelegenheit

zum Angriff bietet. Die wellenförmige Peitschensequenz könnte aus einem

Hieb, einem Wurf oder einem Hebel bestehen.

Wie schon erwähnt, sind die Schlangen-Techniken im ursprünglichen

Chen-Stil eher offensichtlich und im Yang-Stil eher verborgen.

Diese maschinengewehrartige Bewegung in den Formen des Yang- und

des Wu-Stils ist am leichtesten in der Übergangsbewegung vom rechten

Schulterstoß zum rechten „Der weiße Kranich breitet die Flügel aus" zu

beobachten. Mit dem Schulterstoß stößt man offensichtlich jemanden mit

der Schulter, gewöhnlich, um das Brustbein oder die Rippen zu brechen

und/oder um jemandem den Atem zu rauben, indem man ihn in den Solar-

plexus trifft. Als nächstes würde man dann einen Hieb mit dem Ellbogen

zum Rumpf des Gegners ausführen, gewöhnlich mit einer schneidenden

Aktion, und dann einen Hieb mit der Rückseite des Handgelenks und der

Hand (irgendwo von den Leisten an aufwärts) und schließlich einen Fin-

gerstoß, um die Kehle, das Gesicht oder die Augen zu treffen.

In einer zweiten grundlegenden Anwendung kommt man von unten am

Körper des Angreifers hoch, packt sein rechtes Bein mit der linken Hand

(oder, wenn man den Winkel erreicht, sein linkes Bein über den Körper

hinweg) und drückt mit der rechten Schulter in seinen angreifenden und

schlagenden Körper. Dann lässt man den Arm um seinen Körper herum

gleiten, bis man einen guten Halt an seiner rechten Seite, am weichen

Teil seiner Taille, seinen Rippen oder seiner Armbeuge hat. Nun ist man

in der Position, den Gegner zu werfen. Bevor man sich nach links dreht,

230

um den Weißen Kranich abzuschließen, dreht man sich zuerst nach rechts

und beginnt dabei mit dem Anheben von Ellbogen und Hand. In diesem

Moment zieht man das Bein, das man gepackt hat, zur eigenen linken Hand

(idealerweise indem man das rechte Bein des Gegners mit dem eigenen

rechten Bein in Schach hält, wenn man sein rechtes Bein mit der linken

Hand gepackt hat) und wirft den Gegner mit einer Drehung der Hüfte und

einem Heben des rechten Ellbogens in einer karussellartigen Auf-und-

ab-Bewegung nach rechts zur Seite. Wird dieser Hieb richtig ausgeführt,

dann werden beide Füße des Gegners vom Boden abheben. Je nachdem,

welches Drehmoment Sie angewendet haben, wird der Gegner auf dem

Rücken oder auf dem Gesicht landen. Während dieser ganzen Prozedur

berührt Ihre rechte Hand den Rumpf des Gegners nicht, nur Ihr rechter

Ellbogen und Oberarm.

Im ursprünglichen Chen-Stil werden Ellbogenbewegungen bei praktisch

jedem Winkel einer kreisförmigen Rotation offensichtlich: aufwärts, ab-

wärts, links, rechts und in allen Diagonalen, wobei der Ellbogen sich auf

den Körper zu oder vom Körper weg bewegt. Diese Ellbogenbewegungen

dienten nicht nur als Hieb zum Zerschmettern und zum Schneiden mit

der Spitze des Ellbogens, sondern sind auch Teil zahlreicher Gelenk- und

Ellbogen-Hebel. Die Abwärtsbewegungen nach außen und vorn werden

häufiger (aber nicht ausschließlich) benutzt, um einen Hebel an Ellbogen,

Knie und Kwa des Gegners anzusetzen. Die Einwärtsbewegungen werden

häufiger (aber nicht ausschließlich) benutzt, um einen Hebel an Handge-

lenk, Fußgelenk, Füßen und besonders den Fingern anzusetzen.

Gemeinsam ausgeführte Schulter- und Ellbogenbewegungen werden

auch dazu benutzt, um Gegner auf den Rücken, die Seite oder das Gesicht

zu werfen, wenn die Vorderseite, eine Seite oder der Rücken Ihres eigenen

Körpers dem Gegner zugewandt ist. Diese Würfe können auf verschiedene

Weisen ausgeführt werden. Die Schulter könnte der Kontaktpunkt für den

Wurf sein, den Sie ausführen, indem Sie Fa Jin (siehe Seite 188) aus der

Schulter anwenden. Sollte der Kontaktpunkt für den Wurf sich jedoch

von der Schulter zum Oberarm und weiter zum Ellbogen verschieben,

dann würde der Impuls zu dem Wurf zwar in der Schulter beginnen, doch

der Wurf selbst würde vom Ellbogen abgeschlossen. Es könnte auch sein,

dass der Ellbogenkontakt den Angreifer aus dem Gleichgewicht bringt, so

dass seine Füße den Bodenkontakt verlieren. Wenn er erst einmal in der

Luft ist, könnte Ihre Hand ihn dann ergreifen oder an ihm kleben, und

mit einer kreisförmigen Armbewegung könnten Sie ihn weiter aufwärts

231

und nach außen schleudern, weg von Ihrem Körper, und vielleicht auch

auf den Boden.

Die Stoßbewegungen der Schulter folgen all den Ellbogenrotationen in

der Form einer „8", und haben ihren Ursprung im Schulterblatt. Beson-

ders was Hiebe gegen den Körper, insbesondere das Herz, angeht, können

Schulterstöße größere Wirkung erzielen als Ellbogenhiebe. Sie erfüllen auch

eine weitere sehr wichtige Funktion als Verteidigungstechnik, wenn eine

Person Sie festhalten will, während eine andere Person Sie schlägt.

Ein Hauptziel von Straßenräubern, Ringern oder Kämpfern, die einen

Hebel ansetzen wollen, besteht darin, Ihren Körper so stark zu umklam-

mern, dass Ihr Körper und/oder Ihre Gliedmaßen sich nicht mehr bewegen

können. Sie wollen Ihnen eine Art Zwangsjacke anlegen, so dass Sie keinen

Raum mehr haben, sich aus ihrem Griff herauszuwinden. Im schlimmsten

Fall werden Sie so von einem der Angreifer festgehalten, so dass Sie sich

nicht mehr verteidigen können, während sein Kumpan Sie schlägt. In

einem solchen Fall werden Schulterbewegungen auf drei grundlegende

Weisen zum Kontern verwendet:

Die erste Weise besteht darin, die Schüttelkraft des Tai Chi (Dou Jin,

siehe Seite 169) anzuwenden, um die fortdauernd auf Sie einwirkende

Kraft abzuschütteln. Wenn Sie damit Erfolg haben wollen, während Sie

am Oberkörper umklammert werden, dann müssen Sie in der Lage sein,

bei der Bewegung Ihrer Schulterblätter eine starke plötzliche Abwehren-

Energie zu mobilisieren.

Eine zweite Weise besteht darin, weniger Abwehren zu benutzen und

Ihre Schulterblätter von der Wirbelsäule weg auszubreiten, was dazu führt,

dass Ihre Schultern und Ihr Rücken sich entweder vorwärts krümmen oder

seitwärts ausdehnen, währen Ihre Brust einsackt. Diese Aktion vergrößert

den Durchmesser Ihres Brustkorbs, den Ihr Gegner umklammert, und ver-

mittelt ihm so die Illusion, dass er Sie fest im Griff hat, wenn das tatsächlich

nicht der Fall ist. Während der Gegner den Umfang seiner Umklammerung

beibehält, können Sie Ihren Körper dann schrumpfen lassen und so einen

ersten körperlichen Zwischenraum erzeugen, der Ihnen genug Raum lässt,

um sich zu winden und einen günstigeren Winkel herbeizuführen. Wenn

Sie Ihren Umfang dann erneut verringern, wird eine zweite kleine Lücke

erzeugt. Diese zweite Lücke erlaubt es Ihren Armen wiederum, sich für

einen kurzen Moment zu bewegen. Das kann, wenn Sie beweglich genug

sind, für einen Gegenangriff ausreichen, der zuerst mit dem Ellbogen und

dann der Hand ausgeführt wird, die dann oft zur Leistengegend hin schlägt.

232

Die dritte Weise besteht darin, irgendeinen Körperbereich, den ein An-

greifer festhält, durch eine schnelle Schulter- oder Hüftrotation zu ver-

schieben, so dass Sie einen körperlichen Zwischenraum erzeugen. Diese

Lücke kann verhindern, dass Ihr Körper und/oder Ihre Gliedmaßen durch

die Kompression bewegungsunfähig gemacht werden, so dass Sie in dem

kurzen Zeitraum zwischen der ersten Berührung durch Ihren Gegner und

der Fixierung seiner Umklammerung aus der Umklammerung ausbrechen

können. Schnelle rotierende Schulterbewegungen erlauben es Ihnen hier,

den Angreifer dazu zu bringen, sich festzulegen und Ihnen dennoch genug

Zeit zu geben, um zu entwischen, bevor er am Ziel ist. In den inneren

Kampfkünsten ist es so, dass der Konter umso kraftvoller und effektiver

ist, je enger diese Lücke ist.

Wir sollten hier auch festhalten, dass im Ba Gua (mehr als im Hsing-I)

ebenfalls trainiert wird, diese Schulter- und Ellbogentechniken zu ver-

wenden. Das Ba Gua besitzt ebenfalls die offensichtlichen technischen

Schulter- und Ellbogenaspekte des Chen-Stil Tai Chi, jedoch mit einem

größeren Repertoire an Würfen. Das Schulter- und Ellbogen-Training im

Hsing-I hat mehr Ähnlichkeiten mit der verborgenen Methodologie des

Yang-Stils. Was die acht grundlegenden Tai-Chi-Techniken angeht, sind sie

alle in allen drei inneren Kampfkünsten vorhanden, wobei das Zurückrollen

im Tai Chi stärker betont wird, während das Abwehren im Hsing-I deutlich

häufiger und im Ba Gua gewöhnlich häufiger verwendet wird.

Vier progressive Stadien des Erlernens von Tai Chi als Kampfkunst

Lange und kurze Formen

Anfänglich waren alle Tai-Chi-Formen lange Formen. Der ursprüngliche

Chen-Stil hatte sechs Formen, die sich mit der Zeit zu zwei Formen ver-

dichteten. Der Yang-Stil begann mit 128 Bewegungen; später kam der

Yang-Stil mit 108, 88, 66, 37 und 24 Bewegungen aus. Im Allgemeinen

begannen die kurzen Formen erst nach dem zweiten Weltkrieg aufzutau-

chen. Drei grundlegende Prozeduren bestimmten, wie alle Formen ur-

sprünglich verkürzt wurden: 1. Ganze Bewegungen wurden ausgelassen;

2. ursprüngliche Bewegungen in den Formen wurden beibehalten, aber

233

die Zahl der Wiederholungen, von denen jede als eine Bewegung zählte,

wurde verringert; 3. Bewegungen wurden vereinfacht, um Übungszeit

zu sparen. Als die Menschen im Laufe der Jahre immer weniger Freizeit

hatten, in der sie üben konnten, führte die Notwendigkeit zu reduzieren

und zu kondensieren zu immer kürzeren Formen.

Der Vorteil der langen Formen im Tai Chi ist, dass sie im Körper rhyth-

mische Energieflüsse erzeugen, die in den kurzen Formen nicht vorhanden

sind. Eine lange Form erzeugt in der gleichen Übungszeit auch viel mehr

Chi als eine kurze Form, die mehrfach nacheinander ausgeführt wird. Die

langen Formen erlauben es letztlich, das gesamte Potential einer Chi-Praxis

sowohl in Hinsicht auf die Eignung zum Kampf als auch was die Verbes-

serung der Gesundheit angeht auszuschöpfen. Aus einem anderen Blick-

winkel gesehen, verlangen die kürzeren Formen weniger Übungszeit. Das

ist heutzutage für viele Menschen attraktiver, weshalb sie eher eine kurze

als eine lange Form praktizieren. Wenn ein Ausübender der Kampfkunst

nur einen begrenzten Zeitraum zur Übung zur Verfügung hat, dann ist es

besser wenn er nur eine begrenzte Anzahl von Bewegungen gut ausführt,

als wenn er viele Bewegungen mittelmäßig praktiziert.

Auf welche Form auch immer Sie sich einlassen wollen, beachten Sie

in Hinsicht auf das Erlernen der kampftauglichen Aspekte einer Kunst die

folgenden Richtlinien.

Links und rechts bei der Übung von Formen

Tai-Chi-Formen werden sowohl auf der linken als auch auf der rechten

Seite des Körpers ausgeführt, wobei die Richtung davon abhängt, wie Sie

beginnen sich aus er Ausgangsposition, die gewöhnlich gerade nach vorn

ausgerichtet ist, zu bewegen. Was die langen ebenso wie die kurzen Formen

angeht, wird sowohl vom Standpunkt der Kampftauglichkeit als auch dem

der Gesundheit von der Tradition angeraten, eine Form zuerst drei Jahre

hintereinander auf der einen Seite (etwa der rechten) zu üben, bevor man

sich wirklich darum bemüht, sie auch auf der linken Seite zu beherrschen.

Dann sollte man die Form drei Jahre lang jeweils zweimal auf der linken

für einmal auf der rechten Seite ausführen. Das ist sehr zu empfehlen, um

den Körper voll auszubalancieren und die Fähigkeit zu verbessern, die

Anwendungen mit beiden Händen gleich gut auszuführen. Die dreijähri-

gen Übungsperioden geben Raum für die notwendigen Wiederholungen,

um das Chi des Körpers zu regeln und zu stabilisieren und seine weichen

234

Gewebe zu strecken. Als nächstes sollte man drei bis vier Jahre darauf

verwenden, die Form auf beiden Seiten gleich oft auszuführen, bis man

in allen Bewegungen mühelos beidhändig geworden ist.

Erstes Stadium: Arbeit mit der Form (lange oder kurze Form)

Jene, deren Engagement stark genug war, um das Tai Chi als eine Kampf-

kunst zu erlernen, lehrte man die Form der Tradition entsprechend in einer

Abfolge progressiver Stadien.

1. Der Schüler lernt jede Bewegung einzeln. Die vermittelte Positur wird

dann für 10 bis 20 Minuten oder mehr gehalten, bis der Körper sich

darauf einstellt und zu lernen beginnt, die grundlegendsten inne-

ren Komponenten der Bewegung zu absorbieren - die körperliche

Entspannung, die richtige innere Abstimmung, die Atmung und die

Dehnung der Gewebe. Dann erlernen Sie den Übergang zur nächsten

Bewegung, wobei sie jeden größeren Wendepunkt des Übergangs für

mindestens 5 Minuten halten. Als nächstes halten Sie die folgende

Positur für 10 bis 20 Minuten, dann wieder Teile des Übergangs

und so weiter, bis Sie zumindest das Ende des ersten Drittels der

Form erreicht haben, idealerweise das Ende der kompletten Form.

In diesem Stadium können Sie die Kampfanwendung nur ganz all-

gemein visualisieren; Details sind hier weder nötig noch erwünscht,

denn die können Sie davon ablenken, sich ganz auf die Verbindung

mit Ihrem Körper zu konzentrieren. Sie sollten sich mental ganz

und gar darauf ausrichten, Ihren Geist zu entspannen und mit dem

Geist in den Körper einzudringen, um in der Lage zu sein, das Innere

Ihres Körpers zu fühlen, und um sicherzustellen, dass das, was Sie

fühlen, sich auch in Ihre äußere Positur überträgt. In diesem Stadium

beginnen die Formbewegungen mit hohen Standposituren und man

arbeitet sich allmählich zu den mittelhohen Posituren vor.

2. Als nächstes kombiniert man die einzelnen Bewegungen zu einem

ganzen Ablauf miteinander verbundener und flüssiger Formbewe-

gungen. Man könnte sich entschließen, bei bestimmten natürlichen

Brüchen in der Form mit der Verbindung von Bewegungen zu begin-

nen, zum Beispiel a) am Ende der ersten Sektion; b) am Ende der ers-

ten „Wolkenhände" (Cloud Hands) in der zweiten Sektion; c) am Ende

235

der zweiten Sektion; und d) gerade vor den zweiten und dritten Wol-

kenhänden in der dritten Sektion. Während man die einzelnen Bewe-

gungen miteinander verbindet, konzentriert man sich auch darauf,

die inneren Rhythmen der Form zu lernen, also wo man innerlich be-

schleunigt oder verlangsamt, um bestimmte Aspekte des Nei Gung zu

betonen, bevor man andere betont. Ihr Geist lernt nun, sich während

flüssiger Bewegungen zu entspannen, was keine leichte Aufgabe ist.

Jetzt lernen Sie, zu sehen und zu fühlen, wie imaginäre Gegner Sie

aus verschiedenen Winkeln angreifen, damit Sie eine volle körperli-

che Erfahrung davon gewinnen, wie es aussehen und sich anfühlen

könnte, wenn Sie entsprechend den Anforderungen der jeweiligen

Kampfanwendung jeder einzelnen Positur verteidigen und zu einem

Gegenangriff übergehen. Die Form wird in diesem Stadium gewöhn-

lich in einer mittelhohen Standpositur ausgeführt.

3. Als nächstes kommt die Frage der Geschwindigkeit. Mit welcher

Geschwindigkeit sollten Sie arbeiten? Ganz allgemein gesagt, wird

die Geschwindigkeit einer Soloform von dem Prinzip bestimmt, dass

man sich weder zu schnell noch zu langsam bewegen sollte. In den

Übungssitzungen muss der einzelne die Geschwindigkeit finden, die

sich gut für ihn anfühlt, eine Geschwindigkeit, die nicht dazu führt,

dass er Verbundenheit, Kraft und/oder Sensibilität in seinen Bewe-

gungen verliert. „Verbundenheit" bedeutet, dass Ihr Geist und Ihre

Bewegungen zusammen sind, ohne dass Sie „davonschwirren" und

ohne dass ein Gefühl der Unverbundenheit zwischen der Geschwin-

digkeit, mit der sich Ihr Geist bewegt, und der Geschwindigkeit Ihrer

körperlichen Bewegung entsteht. Wenn es zu einer solchen Trennung

kommt, dann führen Sie im Grunde geistlose Bewegungen aus. Und

wenn die geistlose Bewegung zu einer Gewohnheit wird - selbst

wenn sie nur ganz kurz auftritt -, dann wird sie im tatsächlichen

Kampf unterschwellige Lücken hervorrufen, die es einem Gegner

erlauben, Sie zu besiegen.

4. Jetzt gehen Sie zurück und lernen die einzelnen Posituren der Form

in größerem Detail, Stück für Stück und ganz klar. Sie konzentrieren

sich auf die zu Yin- oder Yang-Akupunkturmeridianen gehörenden

Oberflächen Ihres Körpers und betonen die vier Hauptenergien von

Abwehren (Peng), Zurückrollen (Lu), Vorwärtsdrängen (Ji) und Ab-

wärtsdrücken (An). Beginnen Sie mit den stehenden Posituren und

gehen Sie dann weiter zu allen Übergängen der Form.

In dieser Phase sollten Sie beginnen, Push Hands (siehe Seite 241)

zu erlernen. Durch das Push Hands können Sie herausfinden, was

Ihr Körper fühlen und tun muss, während Sie Ihre Haut allmählich

dazu erziehen, auf die Energie des Gegners zu hören und sie zu

interpretieren.

Sie stellen sich jetzt vor, dass die Luft in Ihrer Empfindung so etwas

wie ein Trainingspartner ist, und Sie hören auf das Gefühl der Luft

auf Ihrer Haut, während Sie Abwehren, Zurückrollen, Vorwärtsdrän-

gen und Abwärtsdrücken auf die Luft anwenden, so als sei sie ein

menschliches Wesen. Die Geschwindigkeit der Form muss an die-

sem Punkt gewöhnlich für eine Weile dramatisch reduziert werden,

Der Autor (rechts) demonstriert die Tai-Chi-Kampfanwendung der Positur

„Einzelpeitsche" bei der Verteidigung gegen einen Angriff. Er fängt die Kraft

des angreifenden Arms ab und lenkt sie durch seinen Körper hindurch um, so

dass sie aus seiner Handfläche, die den Angreifer schlägt, wieder austritt.

237

damit Sie genügend Zeit haben, zu fühlen und sich der Nuancen

Ihrer Gefühle bewusst zu werden. Diese Phase wird manchmal als

„Schwimmen in der Luft" bezeichnet, weil die Empfindung von

Energie in Bewegung für Ihren Körper so spürbar wird, wie sich der

natürliche Widerstand des Wassers für einen Schwimmer anfühlt.

In dieser Phase nimmt man gewöhnlich eine Standpositur ein, die

etwas tiefer ist als die mittlere Höhe.

5. Als nächstes lernt man die Form erneut, was im Tai Chi tradi-

tionellerweise „Formkorrekturen" genannt wird. Hierbei arbeiten

Sie einen Kraft-Aspekt des sechzehnteiligen Nei-Gung-Prozesses

nach dem anderen in Ihre Bewegungen ein, und zwar so, dass eine

Komponente klar und stark verwirklicht ist, bevor Sie versuchen,

die nächste zu erlernen und anzuwenden. So wird zum Beispiel die

korrekte Atmung (in ihren groben wie in ihren subtilen Bewegun-

gen) zuerst einmal in Ihren Bewegungen stabilisiert, bis sie so gut

eingearbeitet ist, dass sie automatisch wird und Sie selbst nur noch

minimale oder gar keine Aufmerksamkeit darauf verwenden müssen,

sie korrekt auszuführen. Dieser Prozess muss abgeschlossen sein,

bevor Sie zu der nächsten Nei-Gung-Komponente (zum Beispiel

körperliche Abstimmung) weitergehen können. So können Sie Ihre

volle Aufmerksamkeit der nächsten Komponente widmen, ohne dass

Sie dadurch überfordert werden, dass Sie auf zwei Dinge gleichzeitig

achten müssen. Diese Vorgehensweise erlaubt es Ihnen, sich beim

Lernen zu entspannen, und erspart es Ihnen, Zeit zu vergeuden und

Frustrationen zu erleiden. Die Wichtigkeit dieses schrittweisen Ler-

nens mit stabilisierten Plateaus wird offensichtlich, wenn die Zahl

der gleichzeitig ausgeführten inneren Nei-Gung-Prozesse zunimmt,

um schließlich 16 zu erreichen.

6. Diese Phase wird gewöhnlich zuerst ausgeführt, indem man speziell

ausgewählte Standposituren eine nach der anderen für längere Peri-

oden beibehält (traditionellerweise zumindest für eine Stunde, was

für Menschen von Heute vielleicht kein praktikabler Standard mehr

ist). An diesem Punkt werden die Standposituren allmählich immer

niedriger. Die Posituren beginnen aus offensichtlichen Gründen

mit Abwehren, Zurückrollen, Vorwärtsdrängen und Abwärtsdrü-

cken. Dann kommt die für die Form am stärksten repräsentative

Yin-Positur, „Die Laute spielen", die das Abwärtsziehen vollständig

inkorporiert, wobei Sie rücklastig sind (das heißt, dass Ihr gesamtes

238

Körpergewicht auf Ihrem hinteren Bein ruht). Als nächstes kommt

die für die Form am meisten repräsentative Yang-Positur, die Einzel-

peitsche (Single Whip) mit Gewicht auf dem vorderen Bein, die das

Spalten vollständig inkorporiert. (Gewicht auf dem vorderen Bein

bedeutet, dass Ihr Gewicht zu 100 Prozent auf Ihrem vorderen Bein

ruht.) Danach wird Ihr Lehrer Ihnen, wenn nötig, weitere Posituren

beibringen, die Sie zu Hause üben sollen, Posituren die so gewählt

sind, dass sie energetische Lücken in Ihrer Form korrigieren.

Die Nei-Gung-Komponente jeder statischen Positur wird immer körperlich

daraufhin überprüft, ob sie sowohl Kraft absorbieren (Yin) als auch Kraft

projizieren (Yang) kann. Das frühe Training zur getrennten Stabilisierung

der einzelnen Nei-Gung-Komponenten schreitet gewöhnlich über eine

Abfolge wie die folgende fort:

1. Prozess der Lösung und Entspannung

2. Atmung

3. Innere Abstimmung

4. Beugen und Strecken der weichen Gewebe

5. Vereinigung des Körpers und seines Chi

6. Drehung der weichen Gewebe

7. Öffnen und Schließen der Körperhöhlungen und Gelenke (im

Chen-Stil; im Yang Stil kommen die Elemente 6 und 7 in

umgekehrter Reihenfolge)

8. Arbeit mit dem Unteren Dantien

9. Rückenmarkspumpe

10. Bewegungen in den Energiekanälen

Hiernach werden die restlichen der 16 Komponenten (siehe Seite 121)

gelehrt.

Jede einzelne Nei-Gung-Komponente wird zuerst in den Standposituren

stabilisiert und danach durch die gesamte Form hindurch geübt. In der

Schlussphase der Stabilisierung jedes einzelnen Nei-Gung-Elements ist

die eingenommene Standpositur die tiefste. „Tiefste Standpositur" meint

eine Hocke, in der das Gesäß auf gleicher Höhe ist wie die Knie. Diese

Höhe wird als die Positur angesehen, die für Menschen von kleinem bis

mittelgroßem Körperbau ideal geeignet ist, vorausgesetzt, sie haben kei-

ne Knieprobleme. Mit jeder einzelnen Nei-Gung-Komponente, die in den

Standposituren oder den Formen in Bewegung gerade betont wird, wird

239

gleichzeitig auch im Push-Hands-Training gearbeitet. Die Formarbeit und

das Push Hands verstärken einander, bis der eigene Körper und Geist, die

an beidem beteiligt sind, miteinander eins werden.

Wenn Sie etwas „Energetisches" in Ihrer Form sehen und/oder fühlen,

dann wird sich das direkt auf Ihr neurologisches System übertragen und

auch körperlich auf Ihren Körper und Ihre Hände. An einem bestimmten

Punkt in der Übung wird die Form gewöhnlich extrem langsam ausgeführt,

um, wie schon gesagt, jede Nei-Gung-Komponente unterschwellig in den

Körper einzuarbeiten. Wird eine gewöhnlich 20 bis 25 Minuten lange

Form langsam ausgeführt, dann dauert sie mindestens eine Stunde und

oft noch wesentlich länger. Das macht es dem Geist des Übenden zudem

möglich, sich allmählich voll und frei die Nuancen der Anwendung der

Formbewegungen innerhalb der Kampfanwendungen vorzustellen.

7. Nach dieser Phase sollte die Form sich während der folgenden

Jahrzehnte des Lebens des Kampfkunstpraktizierenden auf ganz

natürliche Weise weiterentwickeln. Im Allgemeinen werden die

Standposituren jetzt wieder höher sein als zu der Zeit, wo die Nei-

Gung-Elemente in niedrigen Standposituren stabilisiert wurden.

Wenn man mit Sparringübungen mit einem Partner beginnt, tritt

man in ein Wechselspiel ein, in dem die Form dazu benutzt wird, es

Ihrem Körper möglich zu machen, unterschwellig alle Widerstände

(psychische und neurologische) gegen jenes Fließen aufzugeben, das

notwendig ist, um flüssig von einer Technik zur nächsten übergehen

zu können. Wenn Sie sich weniger für die gesundheitliche oder

meditative Seite des Tai Chi interessieren, sondern hauptsächlich

für Tai Chi als Kampfkunst, dann werden Sie beim Üben der Formen

jetzt vorzugsweise drei Dinge beachten.

1. Sie werden sich auf die Weiterentwicklung spezieller Kom-

binationen der Nei-Gung-Arbeit konzentrieren, um die Kraft

Ihrer Kampfanwendungen zu vergrößern.

2. Sie werden die Form vor allem als ein Hilfsmittel benutzen,

um die Schwächen auszumerzen, die im Sparring oder im

Wettkampf offensichtlich geworden sind.

3. Sie werden üben, ohne dabei an die Kampfanwendungen zu

denken, und dabei alle Spannungen in Ihrem Geist auflösen,

bis er leer und still geworden ist und Sie jegliche Empfindung

von Vergangenheit oder Zukunft verlieren und im gegenwär-

240

tigen Augenblick verweilen. In diesem Zustand wird es Ihnen

möglich sein, Ihre Kampfanwendungen vollständig zu verdau-

en und zu integrieren, so dass sie schließlich ganz mühelos

und natürlich werden.

Zweites Stadium: Push Hands

Push Hands, im Chinesischen Tui Shou genannt, ist der Zwischenbereich

zwischen der Arbeit mit der Form und dem Kampf. Push Hands ist selbst

kein Kampf, aber es ist eine Partnerübung, bei der die meisten der Fähig-

keiten und Arten von Kraft entwickelt werden, die man im Kampf braucht,

im Kampf mit der leeren Hand ebenso wie im Kampf mit Waffen. Die Push-

Hands-Übung kann deshalb mit der leeren Hand, aber auch mit Stöcken,

Speeren oder zweischneidigen geraden Schwertern ausgeführt werden.

Normalerweise erlernt man Push Hands zuerst mit der leeren Hand, bevor

man es mit Waffen übt.

Die Ziele von Push Hands sind:

1. in ständigem Kontakt mit dem Arm des Gegners zu bleiben, bis

einer von beiden deutlich den anderen abschüttelt oder ihn völlig

aus dem Gleichgewicht bringt;

2. die eigene Aggressivität und die anderer zu kontrollieren, indem

man die instinktive animalische Versteifung von Muskeln überwin-

det, die mit dem aus einer Situation es Wettstreits hervorgehenden

Bedürfnis zu gewinnen einhergeht;

3. zu lernen, sich unter Druck zu entspannen;

4. die Kraft und Geschwindigkeit des Gegners zu neutralisieren und

sie zum eigenen Vorteil zu nutzen;

5. angesichts extremer körperlicher oder mentaler Aggression sowie

von Täuschung und anderen destabilisierenden Haltungen ruhig,

zentriert und aufmerksam zu bleiben;

6. fähig zu sein, augenblicklich und ohne zu erstarren von Verteidigung

zu Angriff überzugehen, wobei mit derselben Hand oder mit beiden

Händen eine Hälfte der Bewegung eine Verteidigung und die andere

Hälfte in Angriff ist;

7. fähig zu sein, augenblicklich und nahtlos zwischen harter und wei-

cher innerer Energie hin und her zu wechseln.

241

Hilfsmittel zum Erreichen der Ziele von Push Hands:

1. Techniken, die die Fähigkeit vermitteln, an den Armen, Beinen

und am Körper des Gegners zu kleben (siehe Seite 219).

2. Methoden zur Entwicklung der Fähigkeit, sich mit Gliedmaßen,

in der Taille und mit der Wirbelsäule auf integrierte, koordinierte

und einheitliche Weise zu bewegen - also auf eine Weise, die dem

folgenden Leitsatz aus den „Tai Chi Klassikern" entspricht: „Ein

Teil bewegt sich, alle Teile bewegen sich. Ein Teil hält inne, alle

Teile halten inne."

Eine Art der grundlegenden Standpositur, die sowohl im einzelnen als auch im doppelten Push Hands verwendet wird. Beachten Sie, dass die gegenseitigen vorderen Füße der beiden Gegner einander gegenüberstehen (d.h. der linke vordere Fuß des einen steht dem rechten vorderen Fuß des anderen gegenüber). Hier übt der Autor im Jahre 1985 in Beijing mit seinem Lehrer Feng Zhi Qiang, einem Adepten des Chen-Stils.

242

3. Sensibilitätstraining, das die Fähigkeit entwickelt, unmittelbar an

der Oberfläche Ihrer Haut zu spüren, wie Ihr Gegner sich bewegt.

Ist diese körperliche Sensibilität erst einmal in Ihrer Haut vor-

handen, dann kann sie sich zu dem weiter gehenden Vermögen

fortentwickeln, auf die mentale und emotionale Intention Ihres

Gegners zu lauschen sowie auf seinen psychischen Zustand, seine

körperliche Kraft und seine Energie. Sie können dieses Wissen

dann nutzen, schon bei der kleinsten Regung Ihres Gegners au-

genblicklich zu interpretieren, was er tun wird. Schließlich wer-

den Sie sogar in der Lage sein, die Bewegungen von Gegnern

vorauszusehen, noch bevor sie geschehen. In China nennt man

diese Sensibilität Ting Jin oder „Kraft des Lauschens".

4. Training auf verschiedenen Ebenen der Kraft. Anfänglich füh-

ren beide Partner das Push Hands sehr sanft aus, ohne innere

Kraft einzusetzen. Ist die grundlegende körperliche Koordination

erreicht, dann erhöhen beide Partner allmählich das Maß der

eingesetzten Kraft.

5. Die Entwicklung von:

a) Verwurzelung, also der Fähigkeit, Energie mit Ihrem Körper zu

absorbieren, sie durch ihn hindurch zu leiten und sie in den

Boden zu entladen. Das Vermögen, sich zu verwurzeln, erlaubt

es Ihnen, stehen zu bleiben und sich nicht von einem Angreifer

physisch bewegen zu lassen;

b) Energie. Sie lassen eine nach der anderen die Energien von Ab-

wehren, Zurückrollen, Vorwärtsdrängen und Abwärtsdrücken

zunehmen;

c) Fa Jin, der Fähigkeit, Energie und physische Kraft aus Ihrem

Körper freizusetzen.

6. Das Kultivieren vieler anderer Arten innerer Kraft im Tai Chi zu-

sätzlich zu den acht in diesem Kapitel besprochenen Arten. Dazu

gehören: Schütteln, Vibrieren (siehe Seite 169), Bohren, Zerstreuen,

Schockieren, Durchdringen, Entladen, Transformieren, Verschwin-

den und Wiedererscheinen, Stillsein und so weiter. Diese inneren

Kräfte werden im Allgemeinen durch das Push Hands gelehrt, bei

dem der Lehrer sie auf den Schüler anwendet und sie ihn zuerst

sanft und dann immer gröber erfahren lässt. Allmählich werden die

Schüler dahin geführt, dass sie diese Energien selber manifestieren

können, sowohl in der Arbeit mit der Form als auch im Push Hands.

243

7. Die Entwicklung fortgeschrittener Phasen von Tai-Chi-Kraft. Diese

Entwicklung vollzieht sich in drei Schritten:

a) Man trainiert, die Kraft in eine allgemeine Richtung zu lenken,

ohne etwas Spezielles anzuzielen.

b) Man trainiert, die Kraft auf einer Linie vom Unteren Dantien oder

vom Fuß zum Punkt des Hautkontakts zu lenken.

c) Man trainiert, die Kraft ohne jegliche Warnung direkt am Punkt

des Kontakts mit Gegnern zu manifestieren. Alle diese Fähigkeiten

sind wesentlich, wenn man zum tatsächlichen Kampf übergehen

will. Ohne auf den Punkt gebrachte Kraft ist es fast unmöglich, fä-

hige Gegner zu besiegen (besonders dann, wenn diese eine extrem

gewalttätige Intention haben), indem man Kraft zu ihnen aus-

sendet, ohne sie zu verletzen oder ihnen Schmerzen zuzufügen.

8. Geschwindigkeitstraining. Diese Art des Trainings verwendet so-

wohl regelmäßige als auch gebrochene Rhythmen. Die Beherr-

schung der Geschwindigkeit erlaubt es Ihnen, rasch und flüssig

und ohne Kanten und Lücken, die ein Gegner wahrnehmen und

als Gelegenheit zum Angriff ausnutzen könnte, von einer Technik

zur nächsten überzugehen.

9. Verschiedene Teile des Körpers dazu befähigen, als zentrale Achse

der Bewegungen Ihrer inneren Kraft zu dienen. Diese Achsen wer-

den oft tief innerhalb des Bauches gebildet, was die Fähigkeit vo-

raussetzt, jeden Quadratzentimeter Ihrer Bauchhöhle schnell und

flüssig zu öffnen und zu schließen, während Sie einen praktisch

nicht einzufangenden Ball von Energie in Ihrem Bauch bewegen.

Ist diese Bewegung zeitlich richtig abgestimmt, dann machen diese

Aktionen es Ihnen möglich, Kraft aus Ihrem Bauch und Ihren

Gliedern auf nicht zu entdeckende und scheinbar unmögliche Art

und Weise zu absorbieren.

10. Das Einarbeiten aller inneren Fähigkeiten, die Sie im Push Hands

erlernen, in Ihre Arbeit mit der Form. Dieser Prozess verlangt, dass

Sie Ihr Vermögen vergrößern, zu begreifen, zu fühlen und sich

vorzustellen, wie Sie die Energie innerlich und äußerlich bewegen

können, während Sie Ihre Form ausführen. Diese Dimension macht

Ihre Arbeit mit der Form im Laufe der Jahre der Übung immer

vitaler und lebendiger.

244

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Stehen und das grundlegende Krafttraining - Wie ich lernte, für mich

allein zu üben

Entscheidend für das Erlangen wahrer Vortrefflichkeit

in den inneren Kampfkünsten ist die Fähigkeit, über

lange Zeit auf sich selbst gestellt zu üben. Sehr oft ent-

decken wir gerade in diesen einsamen Übungssitzungen

die Quellen unserer eigenen inneren Kraft. Wir entde-

cken auch, wo unsere verletzlichsten und gefährlichsten Schwachpunkte

sind und wie wir diese beheben können. Die Übung von Chi Gung im

Stehen kann ein strenger Lehrmeister sein, der vermag, uns die Energie

unseres Körpers fühlen und damit arbeiten zu lassen. Die Fähigkeit, das

Innere des Körpers zu fühlen und es auszugleichen, während wir uns

äußerlich entweder im Wettkampf oder in der Soloübung mit der Form

mit hoher Geschwindigkeit bewegen, hat wesentlichen Anteil am Erfolg

in den inneren Kampfkünsten, sowohl was den Wettkampf als auch was

die Entwicklung des Chi angeht.

Das Stehen ist von besonderem Wert für all jene, die keinen regelmä-

ßigen Zugang zu einem Lehrer der inneren Kampfkünste haben, der ir-

gendwelche Abwege bei der Entwicklung des Chi korrigieren könnte. Die

bloße Tatsache, dass Sie üben und „nach innen gehen" kann es Ihnen

allmählich ermöglichen, auf Ihre Empfindungen zu vertrauen, nicht aus

einem Wunschdenken heraus, sondern weil Sie eine solide Grundlage von

Wissen „aus dem Bauch" über Ihre innere Landschaft gewonnen haben.

Die Fähigkeit, das eigene Innere zu fühlen, die am leichtesten durch die

konzentrierte Stehübung zu erlangen ist, ist am besten geeignet, uns zu

helfen, das volle Potential des sechzehnteiligen daoistischen Nei-Gung-

Systems innerhalb der inneren Kampfkünste auszuschöpfen.

Die Stehübung entwickelt auch ein grundlegendes Vermögen, sich selbst

zu motivieren und die eigenen Intentionen zu verwirklichen, auch wenn

wir in schweren Zeiten keinerlei körperliche, mentale oder emotionale

Unterstützung von anderen bekommen. Etwa zwei Jahre nachdem ich

mit der Stehübung begonnen hatte, vermochte ich die Stehübung ge-

legentlich ohne Unterbrechung bis zu sechs Stunden auszuführen. Ich

schätze mich glücklich, dass ich genügend Zeit zur Verfügung hatte, um

das zu tun. Sind die relativ sorglosen Jahren auf dem College erst einmal

vorüber, ist es für viele Menschen nicht mehr so leicht, die Zeit für diese

Art von Übung zu finden.

245

In den späten 1960er Jahren war es nicht gerade einfach, mitten in To-

kio ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo man weder andere Leute störte

noch von diesen gestört wurde. Mein winziges Appartement in Tokio war

wenig geeignet, um für längere Zeit zu Hause zu üben. Ich begann ge-

wöhnlich um zehn Uhr morgens zu üben. Wollte ich meine Lieblingsorte

erreichen, an denen ich ungestört üben konnte, wenn das Wetter trocken

war, dann musste ich über einige verschlossene Tore auf ein Dach klettern

oder über eine Mauer in einen kleinen ungepflasterten Hof einsteigen, der

als Friedhof diente. Die Alternative, die ich am wenigsten mochte, war

auf dem asphaltierten Vorplatz eines großen Bürogebäudes in der Nähe

des Aikido-Zentrums, dem gegenüber ich wohnte.

Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, ernsthaft das Chi Gung im

Stehen zu üben, konzentrierte ich mich etwa zwei Monate lang allein

auf das Stehen, bevor ich begann, andere grundlegende Übungen zur

Entwicklung von Kraft auszuführen. Bei jeder Übungssitzung pflegte ich

dann erst einmal für längere Zeit zu stehen, bevor ich irgendwelche an-

deren grundlegenden Bewegungsübungen zur Entwicklung von Kraft (die

im Chinesischen Ji Ben Gung genannt werden, siehe Seite 152) ausführ-

te. Wird die Stehübung nach Art der inneren Kampfkünste ausgeführt,

dann geht es in der ersten Phase des Stehens erst einmal um zwei Dinge:

die richtige körperliche Abstimmung beizubehalten und alle Stärke und

Spannung vom Körper abfallen zu lassen. Zur nächsten Phase, die ich erst

Jahre später erlernte, gehört, alle inneren Energieblockaden aufzulösen.

Selbst in der grundlegendsten neutralen Standpositur, bei der die Arme

neben dem Körper herabhängen30, wird Ihr Körper wahrscheinlich früher

oder später zu schmerzen beginnen, während Sie eine Erfahrung Ihrer

gewohnheitsmäßigen Verspannungen und blockierten Energien machen.

Bei den Stehübungen kann es sich oft so anfühlen, als laste die Luft

mit einem unglaublichen Gewicht auf Ihren Armen. Wenn Ihr Chi sich

entfaltet und Ihre Energiekanäle von blockierter Energie befreit, dann

verschwinden die Schmerzen und das Maß Ihrer Energie sowie Ihr Wohl-

befinden und ihre innere Kraft nehmen dramatisch zu. Wenn Sie eine

Standpositur mit erhobenen Armen einnehmen, dann werden Sie um so

mehr dadurch gewinnen, je höher Sie Ihre Arme heben und je länger Sie

diese Positur beibehalten. Allerdings sollte das Stehen über längere Zeit-

räume von einem qualifizierten Lehrer überwacht werden.

Für die meisten Menschen ist es sehr viel schwieriger, Energieblockaden

in den Hüften und ßeinen aufzulösen als Blockaden im Rumpf und in den

30 Die I -Chuan-Methode umfass t acht Armposi turen, in denen man die Arme in

der Luft hält , während die ursprüngl iche vol ls tändigere Methode der Daoisten

200 Standposituren kennt.

246

Armen. Ganz gleich wie sehr Ihre Schultern wehtun mögen, Ihre Beine

werden noch mehr wehtun. Ihre Beine mögen über längere oder kürzere

Zeit nicht aufhören zu zittern und schütteln, bis Ihre Spannungen sich

lösen, Ihre Energiekanäle sich öffnen und Ihr.Chi endlich durch Ihre Beine

absinkt, um sich mit dem Boden zu verbinden. Ist Ihre energetische Ver-

wurzelung aber erst einmal komplett hergestellt, dann hört alles Schüt-

teln auf. An seine Stelle tritt die Empfindung, dass Sie sich im ganzen

Körper völlig wohl „in Ihrer Haut" fühlen.31

Erst nachdem ich begonnen hatte, die grundlegenden Übungen in Be-

wegung zur Entwicklung von Kraft, die „Wolkenhände" und die „Drei

Schwungübungen", auszuführen, begann wirklich der Prozess, der es mir

ermöglichte, meine innere Abstimmung beizubehalten.32 In allen Sport-

arten und Kampfkünsten ist es in der Bewegung sehr viel schwieriger

als im Stillstehen, eine gute biomechanische Abstimmung beizubehalten.

Das Aufrechterhalten der Bewegungsabstimmungen setzt voraus, dass es

allmählich zu einer Verbindung und Integration der Arme und Beine mit

den Hüften und der Wirbelsäule kommt. Was das Stehen angeht, so ist die

Integration der Beine der schwierigste Teil.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es mir selbst erging, als ich

lernte, die Wolkenhände auszuführen, noch bevor mein Körper integriert

war. Jahre später konnte ich mich auf höchst koordinierte und entspannte

Art und Weise bewegen und vermochte meine Hüften deutlich mehr als

90 Grad zur Seite verdrehen, und ich konnte eine voll ausgerichtete nied-

rige Standpositur mit meinem Gesäß in Höhe meiner Knie beibehalten.

Als ich anfing, war das jedoch eine völlig andere Geschichte. Ich konnte

aus meiner stehenden Positur nicht mehr als sieben bis zehn Zentimeter

hinuntergehen und vermochte meine Hüften nicht mehr als 15 Grad zu

verdrehen, ohne alle meine Abstimmungen zu unterbrechen. Ich wuss-

te, was ich zu tun hatte, und versuchte auch, es zu tun, nämlich in der

Bewegung mehr oder weniger sowohl die Abstimmungen als auch den

Grad des Chi und der inneren Empfindungen, den ich in der Stehübung

erreicht hatte, aufrechtzuerhalten. Ich brauchte mich nur wenige Zenti-

meter zu bewegen und dachte schon, „Hoppla, da geht die Abstimmung

dahin" oder „Ich spüre, wie die Abstimmung gleich verschwinden wird"

oder auch „Ich fühle diesen oder jener Körperteil weniger oder spüre ihn

gar nicht mehr". An diesem Punkt schrie dann jedes Quäntchen Ungeduld

31 Dasselbe Phänomen tritt gewöhnlich auch bei statischen Posituren im Tai Chi sowie

im San Ti des Hsing-I (siehe Seite 300) auf.

3 2 Anmerkung des Herausgebers: Anle i tungen zur A u s f ü h r u n g der Bewegungen der

„Wolkenhände" und der „Drei Schwungübungen" f inden sich in Bruce Frantzis, Die

Energietore des Körpers öffnen, Ai t rang (Windpferd Verlag) 2002.

247

in mir: „Du Schlappschwanz. Los, beweg dich noch etwas weiter, du bist

doch noch kein alter Mann!" Statt das zu tun, pflegte ich mich nicht

weiter in die Richtung zu bewegen, die ich gerade eingeschlagen hatte,

sondern kehrte die Richtung um und versuchte, die Bewegung, so gut es

mir möglich war, zur anderen Seite hin auszuführen, ob es nun die Wol-

kenhände oder die Drei Schwungübungen waren. Wenn ich spürte, wie

meine inneren Spannungen zunahmen, dann versuchte ich nicht, meine

Bewegungen weiter zu vergrößern und durch die Spannung, die Steifheit

oder die Schmerzen hindurchzustoßen, sondern ich ließ meine Bewegun-

gen wieder kleiner werden, bis mein Körper sich wieder abgestimmt und

integriert anfühlte.

Für mich und für alle Menschen, die ich getroffen habe, war es am schwie-

rigsten, die Beine abzustimmen und die Energie von meinen Hüften durch

die Beine zu den Füßen abzusenken und so eine Verwurzelung zu erzeu-

gen. Meine Muskeln waren aufgrund meines langen Karate- und Judo-

Trainings und all der Fitnessübungen, die ich gemacht hatte (Liegestütze,

tiefe Kniebeugen, Muskelanspannungsübungen und so weiter) ziemlich

angespannt. Bis ich zu dem Punkt gelangte, an dem ich meine Beine und

Hüften innerhalb des gerade gegebenen Bewegungsspielraums auch nur

zwei Zentimeter zu bewegen vermochte, ohne mich dabei anzuspannen,

dauerte es Wochen. Und ich brauchte neun Monate täglichen stunden-

langen Trainings, bis ich die Stabilität meiner inneren Abstimmung auf-

rechterhalten konnte. Während dieser Prozess weiterging und langsam in

meine Tai-Chi-Form integriert wurde, begann ich mich deutlich immer

langsamer zu bewegen. Ich wollte in der Lage sein, in allen Nuancen zu

spüren, wie meine Abstimmungen bei jeder einzelnen Bewegung entwe-

der verloren gingen oder aufrechterhalten wurden, während ich meine

Stärke und meine Spannungen losließ. Indem ich diese unbarmherzige

Disziplin Monat für Monat beibehielt, wurden meine Bewegung allmäh-

lich immer freier von Spannung; ich wurde in der Tat deutlich flüssiger.

Schließlich brauchte ich zwischen einer Stunde und zwei Stunden, um

eine einzige Runde der Tai-Chi-Übung durchzuführen. Das Resultat war,

dass ich schließlich eine wesentlich stärkere Verwurzelung und bessere

innere Verbundenheit erlangte als es mir möglich gewesen wäre, wenn

ich einige Jahre lang nur die Form geübt hätte.

Der grundlegende Prozess bestand darin, die sechs körperlichen Kombi-

nationen (Hüfte mit Schulter, Ellbogen mit Knie und Hand mit Fuß) zu

entspannen, geschmeidiger zu machen und sie nahtlos zu integrieren.

Nachdem völlig offenkundig war, dass alle vorherigen Schritte tatsäch-

lich zu einem Abschluss gebracht waren (ich sie also in den Körper „ein-

gearbeitet" hatte) und dass sie nicht erst halbfertig waren, ging es darum,

248

den Spielraum der Bewegung in winzigen Schritten zu vergrößern, ge-

wöhnlich um weniger als einen Millimeter.

Vorteile des grundlegenden Krafttrainings und der Stehübung

Was ich durch jeden Tag der Stehübung unmittelbar gewann, war eine

konkrete Methode, tatsächlich im mich hinein zu gehen und von innen

her zu erfahren, wie mein Körper und mein Chi funktionierten. Obwohl

diese anfängliche intensive Ausrichtung auf die Stehübung sich verän-

dert hat und mein Ansatz breiter geworden ist, ist das Chi Gung im Ste-

hen doch über mehr als fünfzehn Jahre ein grundlegender Bestandteil

meiner persönlichen Praxis gewesen." Die harte Arbeit, die diese Übung

bedeutete, wurde durch den vielschichtigen Gewinn, den ich daraus zog,

mehr als gerechtfertigt.

Diese Methode der Chi-Entwicklung machte mich nämlich nicht nur ge-

sund und energiegeladen, sondern stärkte auch mein Karate und mein

Aikido. Im Aikido nahm meine Sensibilität in Hinsicht auf die Arbeit mit

dem Ki deutlich zu. Auch meine Geschmeidigkeit nahm viel rascher zu,

als sie das bei meiner Aikido-Übung in Amerika und auch in Japan bei

O-Sensei Ueshiba getan hatte. Bevor ich mit der Stehübung begonnen

hatte, waren meine Hüftdrehungen und die Bewegungen meiner Hände

im Karate nie sehr schnell. Ich arbeitete hauptsächlich mit Tritten und

Würfen, nicht mit Hieben. Die Chi-Arbeit brachte eine radikale Ände-

rung mit sich. Während meine Nerven immer gelöster und entspannter

wurden, begannen meine Hände sich zum ersten Mal in meinem Leben

schnell zu bewegen. Auch wurden meine Hiebe mit der Hand sehr viel

kraftvoller, weil meine Beine sich zu verwurzeln begannen, meine Hüf-

ten viel lockerer und flüssiger wurden und meine Fähigkeit, das Chi ab-

zusenken, immer mehr zunahm. Diese verstärkte Geschwindigkeit und

Kraft in meinen Armen veränderte meinen Kampfstil dahingehend, dass

ich mich jetzt nicht mehr hauptsächlich auf Tritte verließ, sondern eine

ausgewogene Mischung von Fußtritten und Handhieben verwendete. Die

Verwurzelung und die neu erlangte Beweglichkeit in den Hüften erhöhte

auch dramatisch die Geschwindigkeit meiner Tritte sowie deren Timing

und Durchschlagskraft, besonders bei Tritten nach vorn, zur Seite und

im Kreis.

Die Verletzungen, die ich durch meine Aktivitäten im Judo und meine

vielen Sparrings erlitten hatte, waren eine ständige Belastung (wie es

33 So arbeite ich zum Beispiel auch mit Wang Shu Jin (einem Schüler von Wang Xiang

Zai), mit Han Hsing Yuan (einem weiteren Schüler von Wang Xiang Zai) und mit

Huang Hsi I mit der Stehübung, und das zusätzlich zu den vielen Stunden der Übung

für mich allein.

249

bei fast allen Hochleistungssportlern und Athleten mit Körperkontakt der

Fall ist). Die Stehübung half mir ungemein, diese Verletzungen zu heilen.

Vorher war es so gewesen, das ich nach einer Verletzung einfach die

Zähne zusammenbeißen, den Schmerz für Wochen ertragen und damit

weitermachen musste. Die Chi-Praktiken im Stehen gaben mir ein vorher

nicht zugängliches Mittel an die Hand, die blockierte Energie in den Ver-

letzungen zu beseitigen. Das machte es mir oft möglich, mich in einem

Viertel der Zeit, die das normalerweise gebraucht hätte, wieder so weit zu

erholen, dass ich frei von Schmerzen und wieder völlig beweglich war.

Mit der Zeit begannen die Samen dieser Praxis zu sprießen, und während

meine innere und äußere Koordination immer mehr zunahm, wurde of-

fensichtlich, dass sich in mir eine neue Infrastruktur herausbildete. Seit

meiner Pubertät hatte ich immer das Gefühl gehabt, extrem unkoordiniert

zu sein, ganz gleich wie gut andere meine Bewegungen fanden. Das ver-

änderte sich nun, während mein ganzes Nervensystem sich Monat für

Monat immer mehr verwandelte.

Ich konnte spüren, wie meine Arme und Beine sich auf ungebrochene

und flüssige Weise mit meiner Wirbelsäule verbanden. Und bald fühlte

ich auch Schritt für Schritt, wie die Empfindung des Chi in allen Teilen

meines Körpers zunahm. Einige Zeit später begann ich ganz konkret zu

spüren, wie die Bewegung des Chi aus meinem Unteren Dantien aus-

strahlte und wie es zu der treibenden Kraft hinter der Bewegung meiner

Gliedmaßen und meiner Hüfte wurde.

Das Fundament, welches das Chi Gung im Stehen während jener ersten

zwei Jahre legte, gab mir eine feste Basis für alle folgende Arbeit mit

Bewegungen und mit dem Chi, die ich in den inneren Kampfkünsten

leisten sollte. Dieses Potential wurde im Verlauf der folgenden fünfzehn

Jahre dadurch ausgeschöpft, dass ich die Details des sechzehnteiligen

Nei-Gung-Systems lernte, was die Verheißung des Chi zur vollen Blüte

brachte. Alle Ausübenden der inneren Kampfkünste, die ich getroffen

habe und die es in ihrer Kunst zu etwas gebracht haben, haben zu Beginn

ihrer Praxis ein gewisses Etwas gefunden, das die innere Praxis für sie

zu etwas ganz Greifbarem und Unmittelbarem gemacht hat; für mich

war dieses Etwas das Chi Gung im Stehen. Meine späteren Erfolge und

Fähigkeiten sowie das Vermögen, auch angesichts vielfältiger Schwie-

rigkeiten sowohl beim Lernen als auch in der Übung durchzuhalten und

weiterzumachen, basierten auf diesem festen Fundament. Diese Fähigkeit,

„nach innen zu gehen" übertrug sich auf mein gesamtes Training in allen

anderen inneren Kampfkünsten und erwies sich als wesentlich für mein

künftiges Verständnis des Ba Gua und der daoistischen Meditation.

250

Arten des Push Hands Es gibt vier grundlegende Stile des Push Hands:

einhändig, beidhändig, Da Lu, und Free Step. All diese Arten haben unter-

schiedliche Funktionen für die Entwicklung von Kampfkunst-Fertigkeiten,

und sie alle werden zunächst nach einer festgelegten Methode ausgeführt,

die sich dann, wenn der Schüler eine gewisse Kompetenz erlangt hat, hin zu

einem freien Stil entwickelt. Alle Push-Hands-Methoden werden anfänglich

in ziemlich langsamer Bewegung ausgeführt, mit gerader Wirbelsäule, die

entweder aufrecht oder in einem Winkel von 45 Grad nach vorn geneigt

ist. Diese Praxis entwickelt sich allmählich hin zu einer, in der der Körper

hin und her pendelt zwischen gerader Wirbelsäule und einer sich zur Seite,

rückwärts oder vorwärts beugenden Wirbelsäule. Die Bewegungen können

auf einer fortgeschrittenen Ebene äußerst schnell werden.

Festgelegte Methoden und freier Stil Festgelegte Methoden des Push

Hands diktieren bis in alle Einzelheiten, wie jeder Partner seine Hände

und/oder Füße in jedem Teil der Übung zu bewegen oder nicht zu bewe-

-gen hat. Alle festgelegten Methoden beginnen damit, dass sie den Schüler

lehren, wie er seine Hände, Beine und Hüfte in spezifischen Mustern zu

bewegen hat, ohne zu versuchen, einen Gegner in irgendeine Richtung

abzuschütteln. Das Ziel ist hier einfach, dass der Schüler die Bewegungen

in der richtigen Abfolge lernt, zuerst nur die körperlichen Bewegungen,

später unter Einbeziehung der inneren Energien. Das einhändige oder

zweihändige Push Hands arbeitet mit Abwehren, Zurückrollen, Vorwärts-

drängen und Abwärtsdrücken; Da Lu arbeitet mit Abwärtsziehen, Spalten,

Ellbogenhieb und Schulterstoß.

Im zweiten Stadium des festgelegten Push Hands versuchen beide Part-

ner, im Rahmen der festgelegten Hand- und Fußbewegungen nachzuge-

ben und Energie freizusetzen, um den anderen damit entweder aufwärts,

abwärts, seitwärts oder rückwärts zu entwurzeln.

Im Freistil steht es beiden Partnern frei, in Reaktion auf alle möglichen

Techniken jede gewünschte Handbewegung zu verwenden. Das Freistil-

training von Push Hands wird mit feststehenden Füßen ausgeführt, mit

Füßen, die sich nur auf ganz bestimmte Weise bewegen dürfen, oder mit

Füßen, die sich in alle Richtungen bewegen können.

251

Die vier Stile des Push Hands

Auch wenn diese hauptsächlich im Chen-Stil und im Kombinationsstil

angewendet werden, gibt es auch im einhändigen und beidhändigen Push

Hands Praktiken, bei denen die Vorderbeine der beiden Partner einander

gegenüberstehen und die Beine entweder einander ausweichen oder ver-

suchen, einen Beinhebel anzusetzen oder sie gegenseitig Fa Jin anwenden.

Die vier Stile des Push Hands sind:

1. Einhändiges Push Hands Die Hände der Partner berühren sich stän-

dig am Handgelenk und die Handflächen drehen sich, während die Hüfte

sich wendet, ständig aus einer dem Körper zugewandten zu einer dem

Körper abgewandten Positur. Ihr Gewicht verschiebt sich vom Vorderbein

beim Angriff zum hinteren Bein bei der Verteidigung. Die nichtberührende

Hand ist entweder im Raum fixiert, an Ihrer Seite, oder Sie legen sie auf

die Hüfte oder hinter den Rücken, um das Gleichgewicht zu halten und

sicherzustellen, dass sie nicht ins Spiel kommt.

Doppeltes Push Hands des großen Stils, bei dem die Füße derselben Seite (in diesem Fall die rechte Seite) einander gegenüberstehen. Hier ausgeführt in Beijing im Jahre 1981 von Liu Hung Chieh, einem Adepten des Wu-Stils, und seinem Schüler Bruce Frantzis.

252

Diese Methode wird zunächst mit fixierten, sich nicht bewegenden

Füßen ausgeführt. Später kann man dies dahingehend erweitern, dass man

die Füße bewegt, um Notfallsituationen zu simulieren. Nehmen wir an, dass

Ihnen im Kampf ein Arm gebrochen wird. Um zu verhindern, dass Schock-

wellen aus ihrem gesunden Arm in den gebrochenen Arm oder in etwas

Empfindliches, das Sie vielleicht festhalten, weitergeleitet werden, müssen

Sie sich sehr geschickt bewegen, wobei die Koordination zwischen Ihren

Händen, Ihrer Hüfte und den Beinen außerordentlich präzise sein muss.

2. Beidhändiges Push Hands (drei Arten):

a) Mittelweg zwischen einhändigem und beidhändigem Push Hands Das

Handgelenk des einen Partners berührt das Handgelenk des anderen

Partners, während die anderen Hände einander berühren und ver-

suchen, den Ellbogen des Partners zu kontrollieren. Diese Methode

gibt Gelegenheit zu üben, wie man beide Arme gegen einen Gegner

ausbalanciert. Sie lässt Freistilbewegungen zur Lockerung der Taille

zu und beginnt den Prozess des Lernens, Angriffe, die horizontal

aus verschiedenen Richtungen kommen, zu verstehen und dabei

das Gleichgewicht zu behalten. Diese Methode bereitet Sie dann auf

das beidhändige Push Hands vor, bei dem Abwehren, Zurückrollen,

Abwärtsdrücken und Vorwärtsdrängen sowohl horizontal als auch

vertikal gegen Sie angewendet werden.

b) Push Hands in großen Kreisen Wenn Sie Push Hands in großen

Kreisen ausführen, dann machen Ihre Taille und Ihre Arme große

Bewegungen mit sehr weiten Kurven, die weit in den Raum aus-

greifen. Während Sie eine Sequenz von Abwehren, Zurückrollen,

Abwärtsdrücken und Vorwärtsdrängen ausführen, bewegen Ihre

Hände sich vertikal vom Körper weg, bis hinauf zum Kopf oder noch

höher (Abwehren), auf den Körper zu und unter den Solarplexus

hinab (Abwärtsdrücken) und horizontal von Seite zu Seite (Zurück-

rollen) innerhalb einer Distanz von etwas mehr als Schulterbreite

und vorwärts auf den Körper ihres Gegners zu (Vorwärtsdrängen).

Diese Methode bereitet Sie letztlich auf den Kampf auf mittlere

und weite Distanz vor, wo die Hiebe regelmäßig hoch und tief und

ringsum von den Seiten herankommen. Die meisten Stile beginnen

mit dieser Methode, bevor sie auf die nächste Ebene übergehen,

welche die Vorbereitung auf den Nahkampf ist.

253

c) Push Hands in kleinen Kreisen Diese Methode benutzt dieselbe

Sequenz von Abwehren, Zurückrollen, Abwärtsdrücken und Vor-

wärtsdrängen, aber vorwiegend auf einer horizontalen Ebene. Hier

konzentriert man sich auf kleinere Armbewegungen, schnelle und

enge Bewegungen der Taille und das Beugen der Armgelenke. Dies

entwickelt die für den Kampf auf nahe Distanz nötigen Fertigkeiten.

(Im Westen zum Beispiel wird diese Art von Push Hands fast aus-

schließlich im Rahmen der Chen-Man-ching-Methode des Yang-Stil

Tai Chi verwendet.)

In allen dreien dieser Methoden verschiebt sich Ihr Gewicht ständig von

vorderlastig zu rücklastig. Beim einhändigen und beidhändigen Push

Hands sind Ihre Füße und die Ihres Partners gewöhnlich einander zu-

gewandt, wobei Ihr vorderes Bein in der Nähe des hinteren Beins Ihres

Partners ist und umgekehrt. Was die Fußarbeit angeht, so ist die Abfolge

gewöhnlich:

1. Man beginnt mit feststehenden, sich nicht bewegenden Füßen.

2. Man macht normale Schritte nach vorn und nach hinten.

3. Man geht mit Halbschritten nach vorn und nach hinten. Bei einem

Halbschritt bleibt der führende Fuß vorn und ändert seine Positur

nicht, wie man es bei einem normalen Schritt tut.

4. Man wendet sich um 180 Grad um.

5. Man macht Schritte nach einem Vierecksmuster (was lehrt, flüssig

zur Seite zu treten).

3. Da Lu oder Vier-Ecken-Push-Hands Dieser Stil lehrt, wie man sich

in Diagonalen bewegt, sich dreht, in 135-Grad-Winkeln wendet und aus

nichtzentrierten Posituren und ungewöhnlichen Winkeln verteidigt und

angreift. Im Allgemeinen entwickelt Da Lu die Fußarbeit und das Vermögen

des Körpers, sich flüssig in die meisten Richtungen zu bewegen, wenn auch

nicht im gleichen Ausmaß wie das Ba Gua Chang.

4. Push Hands mit Freistilbewegungen Dieser Stil erlaubt die freie Kom-

bination aller Hand-, Taillen- und Schritttechniken des beidhändigen Push

Hands und des Da Lu in Freistilbewegungen. Das Push Hands mit Freistil-

bewegungen bereitet Sie darauf vor, mit dem „schärfen der Krallen" für

den tatsächlichen Kampf zu beginnen.

254

In all diesen Stilen des Push Hands sind auch Hebel und Würfe ein Thema.

Im Allgemeinen erlauben der Yang- und Hao-Stil des Tai Chi zwar Würfe,

aber sie ermutigen nicht dazu, und sie raten aktiv von Hebeln ab, ja ver-

bieten sie manchmal rundweg. Der Chen-Stil und die Kombinationsform

lassen nicht nur Würfe zu, sondern sie erlauben und ermutigen auch Hebel,

die zumeist an Armen und Beinen angesetzt werden. Der Wu-Stil ermutigt

Würfe und hat eine neutrale Einstellung zu Hebeln. Wie auch immer sie

zu Hebeln stehen, trainieren doch alle Tai-Chi-Stile ihre Schüler darauf,

ihre Gelenke äußerst beweglich zu machen und sie so zu beugen, dass ein

Gegner keine Möglichkeit erhält, einen Hebel anzusetzen.

Da Lu Push Hands in Bewegung nach dem Yang-Stil. Ausgeführt von Men Hui

Feng (Hauptlehrer für Tai Chi am Beijinger Institut für körperliche Erziehung)

und seinem Schüler Bruce Frantzis in Beijing im Jahre 1981.

255

Drittes Stadium: Methoden für den Ubergang vom Push Hands zum Sparring

Push Hands ist kein freies Sparring und es ist auch nicht ausreichend zur

Selbstverteidigung. Was das Kämpfen angeht, gibt es drei Tai-Chi-Me-

thoden, die vom Push Hands zum Sparring überleiten. Diese Methoden

sind:

1. Einzelne Kampfanwendungen mit einem Partner üben Diese

Vorgehensweise unterscheidet sich nicht wesentlich vom Sparring

mit festgelegten Schritten im Karate und Tae Kwon Do, wo das Ziel

darin besteht, sich allmählich an immer höhere Grade des Drucks

zu gewöhnen, die Verlangen, dass das Maß unserer Fertigkeiten

zunimmt. Sie beginnen mit feststehenden Füßen. Erst wenn Ihre

Handtechniken, Tritte, Hebel und Würfe einen bestimmten Standard

erreicht haben, beginnt man die Füße in Übereinstimmung mit den

Regeln des Push Hands zu bewegen. Die Rollen der beiden Partner

wechseln in regelmäßigen Abständen nach vorheriger Absprache

oder nach Anweisung durch den Lehrer. In jeder Phase entwickelt

man zuerst seine Yin-Fertigkeiten der Abwehr, bevor man sich auf

die mehr Yang-orientierten Präventivangriffe und Gegenangriffe

konzentriert.

Bei feststehenden Füßen verwendet man folgende Abfolge von Schrit-

ten:

a) Eine Person greift mit einer zuvor abgesprochenen Technik

und einem vereinbarten Winkel an und die andere Person

reagiert mit einer abgesprochenen Verteidigung oder einem

vereinbarten Konter.

b) Der Angriff ist abgesprochen, doch der Verteidiger entscheidet

selber, welche Technik er zur Verteidigung verwendet.

c) Ihre Füße bleiben fixiert. Bei Gebrauch einer abgesprochenen

Technik darf Ihr Gegner seine Füße bewegen und aus jedem

beliebigen Winkel angreifen; Sie dürfen jede beliebige Technik

zur Abwehr verwenden, solange Sie nicht die Füße bewegen.

Mit dieser Methode werden elastische Bewegungen in der

Taille, subtile Gewichtsverlagerungen und rasch wechselnde

Kampfwinkel eingeübt.

256

d) Bei fixierten Füßen können beide Partner auf eine vorher

festgelegte Distanz von fern, mittel oder nah eine festgelegte

Anzahl von Angriffen mit jeder gewünschten Technik vortra-

gen. (Man beginnt gewöhnlich mit einem Angriff und erhöht

die Zahl dann bis auf fünf Angriffe.)

e) Jetzt darf man die Füße bewegen und folgt der gerade be-

schriebenen Abfolge von a bis d. Man arbeitet so jegliche Art

von Fußarbeit in sämtliche Kampftechniken des Tai Chi und

in alle tauglichen Kampfwinkel ein. Dabei beginnt man immer

mit einer abgesprochenen Reaktion auf eine abgesprochene

Vorgehensweise und schreitet zu einer intuitiven Reaktion auf

einen unvorhergesehenen Angriff, eine unerwartete Finte oder

irgendeine Kombination von Techniken fort.

2. Kreisende Hände Bei dieser Übung, die das Tai-Chi-Äquivalent

zum Rou Shou des Ba Gu darstellt, legen Sie und Ihr Partner ihre

Hände am Handgelenk zusammen, wo sie kleben bleiben. Dann

machen Sie große vertikale Kreise, entweder in derselben Richtung

oder in entgegengesetzte Richtungen, wobei jeder Partner versucht,

eine Öffnung zu erzeugen, durch die er den Partner mit einer Tai-

Chi-Handtechnik treffen kann. Das Kreisen wird sowohl mit fixierten

als auch mit beweglichen Füßen ausgeführt. In den fortgeschrittene-

ren Varianten dieser Übung werden zudem noch Tritte, Würfe und

Hebel hinzugefügt. Kreisende Hände ist allerdings nicht so hoch

entwickelt oder so leicht in unabgesprochenen Kampf übertragbar

wie das Rou Shou des Ba Gua (siehe Seite 360). Das liegt daran, dass

das Ba Gua ein größeres Repertoire an Techniken besitzt, besonders

was die Kampfwinkel angeht.

3. Sets für zwei Personen Hierbei greifen zwei Personen immer

wieder in langen, vorher abgesprochenen Sequenzen von Techni-

ken an und verteidigen sich. Ein Set entspricht der individuellen

Ausführung einer Form von beiden Seiten, nur dass man hier mit

einem tatsächlichen menschlichen Wesen konfrontiert ist. Die For-

men werden anfänglich langsam mit wenig oder gar keiner Kraft

ausgeführt, damit die Übenden die Bewegungen memorieren kön-

nen. Manchmal wird ein solches Set in langsamer Bewegung als

„der Tai-Chi-Tanz" bezeichnet. Dann wird die Form immer noch in

257

langsamer Bewegung und mit wenig oder gar keiner Kraft ausge-

führt, aber die Details der Form werden dabei bis in alle Einzelheiten

analysiert. Es geht dabei nicht nur darum, welche Bewegung welche

Bewegung kontert, sondern auch darum, welche Art von innerer

Kraft jede Seite offensiv oder defensiv einsetzt. Allmählich wird die

Geschwindigkeit der Zwei-Personen-Sets erhöht, jedoch nicht die

Kraft. Schließlich wird auch die Kraft schrittweise erhöht, bis beide

Partner die Form mit voller Kraft ausführen. (Genau diese Methode

wird auch in den Zwei-Personen-Sets des Ba Gua und des Hsing-I

angewendet. Die Ausführung eines Zwei-Personen-Sets mit Kraft

und ohne Kraft sind zwei ganz verschiedene Aktivitäten.

In diesen drei Übergangsmethoden konzentriert man sich darauf, die Fä-

higkeit zu erlangen zu erkennen, welche Energien dazu geeignet sind,

bestimmte andere Energien zu besiegen. Die Chinesen sprechen in diesem

Zusammenhang davon, ob irgendeine Technik: a) ein Loch in das Gewebe

des Angriffs-und-Verteidigungs-Hemdes des Gegners zu reißen vermag;

ob sie b) in ihrer Wirkung neutral ist; oder ob sie c) dazu führt, dass das

eigene Gewebe zerrissen wird.

Viertes Stadium: Sparring und tatsächlicher Kampf

Im Sparring muss man mit hundertmal mehr Variablen umgehen als im

Push Hands. Es heißt, dass Yang Lu Chuan sechs Jahre darauf verwendet

hat, nur die Kampf- und Sparringstrategien des Tai Chi zu erlernen. Aber

selbst das Freistilsparring ist noch weit von einem tatsächlichen Kampf auf

Leben oder Tod entfernt. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihr Leben

auf dem Spiel steht, dann reagieren sie ganz anders, als wenn es um die

Belohnung beziehungsweise Beschämung des Gewinnens beziehungsweise

Verlierens in einem Wettkampf geht.

Aus der Sicht des traditionellen Tai Chi ist der Kampf (auf Chinesisch Lan

Tia Hua genannt) Push Hand mit folgenden zusätzlichen Komponenten:

1. Einschätzung der Entfernung.

2. Vermögen, flüssig zwischen kurzen, mittleren und weiten Kampf-

entfernungen hin und her zu wechseln.

3. Kampfwinkel.

258

4. Hiebe, Tritte, Würfe, Hebel sowie die Fähigkeit, Hiebe zu absorbie-

ren.

5. Die Fähigkeit, auf flüssige Weise zu berühren, sich zu lösen und

wieder zu berühren, ohne dass es zu Brüchen kommt.

6. Die Fähigkeit, angesichts von Gefahr zentriert und ruhig zu bleiben,

wobei man versucht, die instinktive hormonelle Kampf-oder-Flucht-

Reaktion zu überwinden.

7. Training, das darauf abzielt, sich gegen hohe und niedrige Angrif-

fe mehrerer Gegner, die aus verschiedenen Winkeln angreifen, zu

verteidigen.

8. Training des Kampfes mit leerer Hand gegen einen bewaffneten

Gegner.

Das klassische Kampftraining gibt es auf zwei Ebenen. Auf der niedrigeren

Ebene geht es darum, ganz pragmatisch zu lernen, wie man einen Gegner

verletzen oder töten kann. Die höchste Ebene, die der berühmte Yang Lu

Chan, den man „Der Unbesiegbare" nannte, erreicht hatte, besteht darin,

dass man seinen Gegnern keine Verletzungen zufügt. Stattdessen benutzt

man ein gewaltloses Fa Jin, womit man die Gegner ein Stück durch die

Luft schleudern kann, ohne sie im geringsten zu verletzten. Ein Gegner,

dem körperlich kein Leid angetan wird, wird oft nicht mehr das Bedürfnis

verspüren, sich zu rächen.

Traditionellerweise wurde dieses Training mit offenen Händen ausge-

führt, was es einem Übenden ermöglichte, die Klebetechniken des Tai Chi

sehr wirksam einzusetzen und außerdem Würfe, Hebel und Fingerhiebe zu

Nervenpunkten zu verwenden. Heute gibt es einen Trend dazu, das Push

Hands mit offenen Händen zu praktizieren und dann die Kampffertigkeiten

des Tai Chi im Sparring zu trainieren, wobei man wie beim Kickboxen

Boxhandschuhe benutzt. Das Karate hat diese Strategie aus denselben

Gründen aufgegriffen und das Kickboxen damit populärer gemacht.

Die Verwendung von Boxhandschuhen vermittelt eine authentische

Erfahrung davon, wie es sich anfühlt zu schlagen und getroffen zu werden,

was helfen kann, die ersten Schritte zur Überwindung des Kampf-oder-

Flucht-Syndroms zu machen. Heutzutage ist das Boxen mit Handschuhen

in der ganzen Welt kulturell akzeptiert. Außerdem ist es leichter für einen

Lehrer, Übungskämpfe mit Handschuhen zwischen seinen Schülern zu

kontrollieren als Kämpfe mit der offenen Hand, bei denen die Grenzen

zwischen erlaubtem und unerlaubtem Kontakt leicht überschritten wer-

259

den. Außerdem werden so eher die bohrenden Fragen beantwortet, wie

realistisch die Angriffe und Verteidigungen denn nun waren. Wenn man

jemanden mit Handschuhen trifft, dann braucht man sich dafür nicht zu

entschuldigen, und es gibt auch keine Diskussionen darüber, ob man nun

getroffen wurde oder nicht. Für hoch motivierte Liebhaber der Kampfkünste

gibt es gewöhnlich eine Boxarena, wo sie echtes Sparring mit Partnern

ausüben können. Diese Aktivitäten gibt es vielleicht nicht in einer Schule,

die von den meisten Schülern aus gesundheitlichen Gründen besucht wird

und wo man nicht so sehr auf den Kampf und auf intensives Sparring

ausgerichtet ist. Im Westen findet man auch viel eher eine Ausbildung im

Bereich des Boxens mit Handschuhen als im Kampftraining des Tai Chi.

Im klassischen Tai Chi lernt man, vom Push Hands zu realistischen

Kampftaktiken überzugehen. Die Übung von Sparring mit Waffen verbes-

sert die Fertigkeiten im Kampf mit der leeren Hand, besonders die Fußarbeit

und die Sensibilität für die körperliche Distanz zwischen den Kämpfenden.

Das Spiel mit Schwertern lässt sich relativ leicht in Selbstverteidigung mit

Stäben und Stöcken übertragen. Alle Fertigkeiten, die man im Sparring

erwirbt, werden dann wider zurück auf die Arbeit mit der Form und dem

Push Hands übertragen.

Im Gung Fu, im Boxen, im Straßenkampf oder auf dem Schlachtfeld

mag man wütend werden, der Geist kann voll sein von allen möglichen

Gedanken - böswilligen, animalischen, pragmatischen, taktischen -, und

man kann trotzdem noch sehr gut kämpfen. In der Tat wird eine solche

Geisteshaltung im Kampf von manchen der Kampfkünste harten Stils

ermutigt, vor allem von jenen, mit einer animalischen Orientierung.

Im Tai Chi ist das anders. Den Geist dazu zu schulen, still zu bleiben,

wenn man angegriffen wird, ist schwierig, aber es ist ein wesentlicher

Teil des Kampftrainings im Tai Chi, denn seine körperlichen Kampftechni-

ken basieren im Wesentlichen auf dieser Fähigkeit. Wenn die animalische

Furcht/Wut-Reaktion sich hoch genug aufschaukelt, tritt der Körper in

einen extremen Stresszustand ein, der dazu führt, dass die Pulsfrequenz

dramatisch zunimmt. Übersteigt die Zahl der Herzschläge eine bestimmte

Anzahl pro Minute, so lässt unser biologisches Erbe die Muskeln steif wer-

den, das Gesichtsfeld verengt sich und die feinmotorische Kontrolle nimmt

ab. Doch alle Berührungstechniken im Tai Chi bedürfen der feinmotori-

schen Kontrolle; verliert man diese, dann verringert das die Wirksamkeit

der meisten Tai-Chi-Techniken. Einen Kern der Stille zu erzeugen, der die

Pulsrate niedrig hält und der das periphere Sehen auf natürliche Weise

260

aufschließt, war ein wichtiges Element in der alten Methodologie des

Tai Chi und des Ba Gua, durch die man lernen sollte, unter realistischen

Bedingungen gut zu kämpfen.

Wenn man sich nicht einen tiefen Restkern an stabilisierter neurologi-

scher Entspannung bewahrt, kann es sein, dass viele der Tai-Chi-Techniken

angesichts tatsächlicher Gewalteinwirkung nicht standhalten. Denn wenn

wir uns nicht zu beherrschen vermögen, kann Gewalt unser biologisch-

animalisches Erbe im Nu aktivieren. Hoch entwickeltes Tai Chi wird oft

mit Meditation verglichen, weil es eine praktische Schulung der Fähigkeit

einschließt, den Geist leer und still zu machen. Diese Eigenschaft des Tai

Chi ist einer der Gründe dafür, dass das Tai Chi von vielen Führungskräften

in der asiatischen Wirtschaft als ein Mittel der Stressreduktion und der

Verbesserung mentaler Hochleistung geschätzt wird. Sie verstehen Tai Chi

als etwas, das Ihnen im Konkurrenzkampf einen Vorteil verschafft.

Wir haben gesehen, dass ein wichtiger Teil des Erlernens von Kampf-

strategien darin besteht, sich auf das Vorhersehbare vorzubereiten. Noch

wichtiger ist jedoch die Fähigkeit, sich durch Unberechenbarkeit nicht

aus der Ruhe bringen zu lassen. Voraussetzung für die Entwicklung die-

ser Eigenschaft ist, dass eine Person, die sich in der Geistesverfassung

des Kämpfens befindet, lernt, keine Erwartungen hinsichtlich dessen zu

haben, was als Nächstes kommen könnte. Erst dann ist der Geist fähig,

ohne jegliches Zögern auf alles, was auftaucht, zu reagieren. In den Tai Chi

Klassikern wird dieser Aspekt in einem kurzen Spruch formuliert: „Vergiss

dich selbst und folge dem anderen."

Hat ein Ausübender der Kampfkunst erst einmal gelernt, sich gut zu

bewegen, dann ist der wesentliche Aspekt, der über Erfolg oder Nieder-

lage unter Druck entscheidet, wie gut er die Wechselwirkung im Kampf

zu durchschauen vermag. Kann er die Information seiner Wahrnehmung

neurologisch verarbeiten, sie interpretieren und darauf reagieren? Be-

denken Sie, dass das Tai Chi drauf beruht, die Energie und die mentale

Intention von Gegnern und nicht so sehr ihre körperlichen Bewegungen

und Muskelzuckungen genau zu lesen. Dieser Ansatz unterscheidet sich

grundlegend von der Konzentration auf die Körperlichkeit des Gegners.

Für jemanden, der das Stadium des tatsächlichen Kämpfens erreicht hat,

gibt es viele Trainingstechniken und Strategien, die sich auf die Fähigkeit

konzentrieren, unter echtem Druck Energie zu interpretieren.

Anders als viele andere äußere/innere Kampfkünste werden im Tai Chi,

Hsing-I und Ba Gua keine Täuschungsmanöver verwendet, um sich den

261

Gegner für eine bestimmte Kombination zurechtzulegen. In diesen Künsten

wird eine Technik entweder tatsächlich ausgeführt, oder man wartet ab.

Diese Art von Training in Kombination mit einem ruhigen Geist befähigt

einen Tai-Chi-Kämpfer dazu, sich von einem Gegner nicht so leicht durch

Finten kontrollieren zu lassen, die ansonsten eine wichtige Kampftechnik

sind. Die „Energie des Lauschens" vermag nämlich zu unterscheiden, ob

hinter einer bedrohlichen Bewegung des Gegners wirkliche Energie steht

oder nicht. Hinter angetäuschten Hieben steckt gewöhnlich keine Energie.

Es ist ein integraler Bestandteil der ganzen Methode des Kämpfens mit

Tai Chi, dass man lernt abzuwarten, bevor man selbst aktiv wird, wenn

ein Gegner die Absicht hat zuzuschlagen oder den Hieb aktiv einleitet.

Manchmal wartet man eine Sekunde, manchmal nur den Bruchteil einer

Sekunde. Ohne die Fähigkeit abzuwarten, kann man zweien der Leitsätze

aus den Tai Chi Klassikern nicht entsprechen, die da lauten: „Ergreife die

Gelegenheit und handle dann" und „Der Gegner leitet den Angriff ein,

aber ich komme früher ans Ziel als er".

Im Stadium des nicht abgesprochenen Kampfes verwenden Ausübende

des Tai Chi viel Mühen darauf zu lernen, wie sie ihr Gewahrsein ausdeh-

nen können, um für das gesamte Energiefeld, das ein Gegner erzeugt,

sensibel zu werden und es zu durchdringen. Die Schulung wird geradezu

„übersinnlich", wenn der Geist so sensibel, ruhig und still wird, dass man

buchstäblich mit der Energie eines Angreifers eins werden kann. Man

schlüpft sozusagen in den geistigen Raum des Gegners hinein, so dass

seine Energie einem sagt, wie man ihn zu besiegen vermag. Es ist dann

die Energie, die Ihnen sagt, wann und wie Sie sich zu bewegen haben,

und nicht Ihre eigenen Vorstellungen davon, was Sie tun oder nicht tun

sollten. Viele der fortgeschrittenen Kampfstrategien des Tai Chi setzen

eine strenge mentale und seelische Schulung voraus. Sie ist nötig, um die

letzten Hürden von Zögern, Trägheit und einer mangelnden Zirkularität

der Technik überwinden zu können.

Verschiedene Arten von Sparr ingpraktiken Auch wenn das Tai Chi

eine volle Bandbreite von Tritten nach vorn, zur Seite im niedrigen Kreis

und von Stampftritten besitzt, tendiert es normalerweise doch zu einer

Bevorzugung von Handtechniken. Seine Tritte werden im Allgemeinen

unterhalb der Höhe des Herzens ausgeführt und gehen nicht zum Nacken

oder zum Kopf. Die Sparringtechniken mit und ohne Waffen werden hier

zuerst mit einem Partner geübt. Später, wenn man darin einiges Können

262

erlangt hat, werden die Techniken auf die Konfrontation mit mehreren

Gegnern ausgeweitet. Beim Sparring mit mehreren Gegnern liegt die Be-

tonung besonders auf der Fußarbeit, die im Tai Chi in der Fußarbeit des

Freistil-Push-Hands angewendet wird, sowie auf der Fähigkeit, sich beim

Abschluss eines jeden Schrittes zu verwurzeln. Beim Tai Chi kommt man

immer zu einem klaren Abschluss mit Verwurzelung und Entladungen,

bevor man weitergeht. Das ist anders als im Ba Gua wo man sozusagen

„im Laufschritt" Energie freisetzen kann. Bei fünfen der ursprünglichen

Posituren des Tai Chi - Schritt vorwärts, Schritt rückwärts, nach links

schauen, nach rechts schauen und zentrales Gleichgewicht - geht es um

die Fußarbeit im Kampf.

Das Training für den Kampf mit einem einzelnen Gegner sowie mit

mehreren Gegnern wird im aufrechten Stand, in extrem niedrigen Standpo-

situren, in der Bodenhocke, im Sitzen und im Liegen ausgeführt. In einem

spezialisierten Training simuliert der Übende bestimmte Behinderungen,

um darauf vorbereitet zu sein, unter den verschiedensten ungünstigen

Umständen effektiv agieren zu können. Beispiele hierfür sind:

1. Man simuliert eine Verwundung am Oberkörper, indem man einen

Arm hinter den Rücken legt, eine Verwundung am Bein, indem

man ein Bein nachzieht oder ein schweres Gewicht an einem Bein

befestigt. Man simuliert ein gebrochenes Bein oder einen Bänderriss,

indem man nur auf einem Bein steht oder hüpft.

2. Man sitzt in einem Stuhl oder auf dem Boden.

3. Man liegt auf dem Boden, wobei weitgehend Fa-Jin-Hiebe und

Nervenhiebe verwendet werden.

4. Man befindet sich im Dunkeln, was simuliert wird, indem man eine

Augenbinde trägt oder, besser noch, indem man in einem völlig

abgedunkelten Raum übt.

5. Man stellt sich einem Gegner so gegenüber, dass einem die Sonne

direkt in die Augen scheint.

6. Man übt mit dem Rücken zur Wand, wobei man nur ganz einge-

schränkte Möglichkeiten der Bewegung hat.

7. Man steht mit dem Rücken an einem Abgrund, so dass ein Sturz

tödlich sein könnte; dies übt man vor allem im Kampf mit mehreren

Gegnern.

8. Man sieht sich einer unüberwindlichen Kraft gegenüber, der man

sich nur entziehen kann, indem man augenblicklich zu einem höhe-

263

ren Ort hinaufspringt. Hier wurde das Ching Gung (siehe Seite 515)

angewendet, die Fähigkeit, sich leicht zu machen (hohe Sprünge

zu vollführen). Dieses Vermögen scheint nach dem Boxeraufstand

aus dem Repertoire des Tai Chi verschwunden zu sein. Jedenfalls

haben Forscher seither keine Tai-Chi-Adepten mehr gefunden, die

ein überzeugendes Ching Gung auszuführen vermochten.

Verschiedene Arten von Tai-Chi-Meistern oder -Lehrern, denen man begegnen mag

Der allergrößte Teil der heute im Westen und in China anzutreffenden

Tai-Chi-Lehrer lehrt das Tai Chi hauptsächlich als: a) eine Methode zur

Verbesserung der Gesundheit; b) eine sehr wirksame Methode der Entspan-

nung; c) eine Art eines sanften Tanzes, bei dem es nicht zu harten Treffern

kommt; oder d) als eine hoch entwickelte Methode der Körperertüchtigung.

Diese Mehrzahl der Lehrer lehrt die Form oft ohne das Push Hands; wenn

solche Lehrer Push Hands lehren, dann ohne jegliche Ausrichtung auf den

Kampf, sondern meist als eine eher psychologisch ausgerichtete Übung

der Zentrierung. Indem sie das Tai Chi auf diese Weise vermitteln, wirken

diese Lehrer zweifelsohne zum Wohl ihrer Schüler, zumeist indem sie ihnen

helfen, mit dem schrecklichen Stress umzugehen, den das moderne Leben

mit sich bringt. Von Lehrern, die das Tai Chi als Kampfkunst lehren, kann

ein Schüler ebenso profitieren, nur dass er zusätzlich noch Fertigkeiten

der Selbstverteidigung erlangt.

Im Folgenden diskutieren wir allein jene Tai-Chi-Lehrer, die das Tai

Chi als Kampfkunst betonen und von denen bekannt ist, dass sie das Tai

Chi selber im Kampf anzuwenden vermögen, was eine unabdingbare Vo-

raussetzung dafür ist, dass sie diesen Aspekt Schülern vermitteln können.

Unter den Lehrern im Westen, die Kampfkunst lehren, gibt es enorme

Qualitätsunterschiede. Manche entsprechen tatsächlich dem, was sie be-

haupten, andere nicht. Manche sind in hohem Maße qualifiziert, andere

sind es nicht. Einige haben eine Persönlichkeit, die Sie als angenehm und

erfreulich empfinden werden, andere sind weniger angenehm. Sie sollten

nicht außer Acht lassen, dass ein Tai-Chi-Lehrer zuerst und vor allem ein

menschliches Wesen ist, ganz gleich was Sie für Vorstellungen darüber

haben, wie ein solcher Lehrer sein oder nicht sein sollte, und dass er deshalb

264

dieselben Eigenschaften und Schwächen haben wird, die nun einmal seit

Adam und Eva zur menschlichen Natur gehören.

Die folgenden drei Punkte sind wichtig für die Beziehung eines Lehrers,

der das Tai Chi als Kampfkunst lehrt, zu seinen Schülern:

1. Lehren und die Arbeit mit der Form Wenn Sie wirklich lernen

wollen zu kämpfen und bereit sind, die dazu nötige Arbeit zu in-

vestieren, dann können Sie dieses Ziel mit dem richtigen Lehrer

auch erreichen. Was das Erlernen der Form angeht, gibt es mehrere

wesentliche Eigenschaften, auf die Sie bei einem Lehrer achten

sollten: Ein Lehrer muss wissen, wie man sich verwurzelt, wie man

den Körper entspannt, er muss die Kampfanwendungen vermitteln

können und er muss in der Lage sein, die Übungen zu lehren, mit

denen die innere Kraft des Nei Gung entwickelt wird. Manche Leh-

rer beherrschen alle diese Aspekte gut, andere keinen davon, und

dazwischen gibt es alle möglichen Kombinationen und Abstufungen

der Kompetenz. Man sollte nicht automatisch davon ausgehen, dass

ein Lehrer oder eine Lehrerin alle diese Aspekte gemeistert hat, nur

weil er oder sie einen davon beherrscht. Es kann sein, dass ein Lehrer

nicht bewusst ein bestimmtes Wissen zurückhält, sondern dass er

oder sie einfach nicht mehr Aspekte des Tai Chi kennt.

Es gibt viele Lehrer, die vereinfachte Anwendungen der Form zu

lehren vermögen, aber jene, die das volle Spektrum der Anwen-

dungen beherrschen, sind relativ selten. Noch seltener sind Lehrer,

die einige der Methoden der Nei-Gung-Schulung kennen, ganz zu

schweigen von solchen, die die meisten der Methoden der Schu-

lung der inneren Kraft beherrschen. Viele der Gung-Fu-Lehrer, die

Tai Chi lehren, können Sie bestimmte Kampfanwendungen lehren,

aber oft gehören diese Anwendungen zu ihrer äußeren Kampfkunst

und nicht zum Tai Chi. Manche Lehrer beherrschen tatsächlich das

Push Hands, doch sie sind nie bis zu der Ebene vorgedrungen, auf

der man das Tai Chi im Sparring anzuwenden vermag. Andere be-

herrschen aus unterschiedlichen Gründen nur einige Methoden des

Push Hands. Allgemein kann man sagen, dass jene, die das Push

Hands mit fixierten Füßen lehren, häufiger sind als jene, die das

Push Hands in der Bewegung beherrschen und lehren können.

265

2. Lehren und Teilhabenlassen Nehmen wir einmal an, dass ein

Lehrer kompetent ist und die Begabung besitzt zu lehren (eine Gabe,

die nicht alle Lehrer in gleichem Ausmaß besitzen), so stellt sich

immer noch die Frage: In welchem Maße ist ein Lehrer bereit, Sie

an seinem Wissen teilhaben zu lassen? Manche Lehrer spielen das

Spiel des „Lehrer-Lieblings": Wenn sie Sie mögen und Sie leicht zu

unterweisen sind, dann bekommen Sie ihre volle Aufmerksamkeit;

mögen sie Sie aber nicht, dann können Sie sich zehnmal so sehr

anstrengen, sie werden Ihnen dennoch bestimmte Informationen

vorenthalten. Manche Lehrer sind sehr fair und belohnen aufrichtige

Anstrengungen immer mit tiefer gehenden Unterweisungen. Manche

Lehrer bemühen sich auch sehr um wenig talentierte Schüler, andere

Lehrer kümmern sich nur um die mittelguten und guten Schüler.

Die nächste Frage lautet: Ist ein Lehrer bereit, selber genügend

Energie in die Aufgabe des Lehrens zu investieren, um sicherzu-

stellen, dass seine Schüler eine gute Chance erhalten, das Material

auch wirklich zu begreifen? Jüngere Lehrer sind oft in der Lage,

die Energie zum Lehren aufzubringen, aber ihre Kenntnisse sind

noch nicht ausgereift. In China heißt es, dass die Mittelalten die

besten Lehrer der Kampfkunst sind, also jene, die schon genügend

Erfahrung besitzen und die der Ungeduld der Jugend entwachsen

sind, die aber noch den Schwung besitzen, zu lehren. Ältere Lehrer

besitzen meist das größte Wissen, aber manchmal verlieren Sie den

Antrieb zu lehren und ergehen sich lieber in Erinnerungen, als die

harte Arbeit des Lehrens zu leisten. Tai Chi zu lehren verlangt einem

Lehrer Sehrt viel ab, wenn er denn wirklich gute Arbeit leistet und

nicht nur oberflächlich bleibt.

Verschiedene Lehrer mögen aus allen möglichen Gründen, über

die ihre Schüler nur spekulieren können, unterschiedliche Dinge

lehren. Manche sind sehr gut darin, intellektuell zu erklären, was

im Training ablaufen sollte, sind aber nicht in der Lage, die prakti-

schen Kampffertigkeiten zu demonstrieren. Manche vermögen die

praktischen Fertigkeiten gut zu demonstrieren, können aber nur

schlecht kommunizieren, wie Sie sie erlernen können, so dass die

weniger intuitiven Schüler es schwer haben, ihnen zu folgen.

3. Unterrichtsstil und Persönlichkeit Weder eine angenehme noch

eine kalte Persönlichkeit sagt etwas über die Qualität der Fertigkei-

266

ten eines Lehrers aus. Die Persönlichkeit des Lehrers schafft jedoch

eine Atmosphäre für den Umgang miteinander, die die Einstellung

eines Schülers zum Leben zu beeinflussen vermag. Sie sollten sich

auf jeden Fall darüber klar werden, was Ihnen mehr wert ist, der

soziale Umgang oder die Erlangung von Fertigkeiten (Gung Fu), und

Sie sollten sich ein realistisches Bild davon machen, was in einer

bestimmten Situation angeboten wird und verfügbar ist.

Unter den Lehrern der inneren Kampfkünste gibt es, was ihre Per-

sönlichkeit und ihren Unterrichtsstil angeht, eine bunte Vielfalt. Sie

neigen im Allgemeinen dazu, äußerst individualistische Typen zu

sein, und viele von ihnen kann man nur als exzentrisch bezeichnen.

Sie vertreten oft auch ziemlich extreme Meinungen, die auszuspre-

chen sie nicht zögern. Manche haben eine sehr positive Einstellung,

andere nicht.

In den Büchern über das Tai Chi findet man oft eine Fülle an inspirie-

renden Geschichten über die Wundertaten früherer Meister. Einige ihrer

Fertigkeiten scheinen verloren gegangen und heutigen und künftigen Ge-

nerationen nicht mehr zugänglich zu sein. Doch diese Fähigkeiten kön-

nen zurückkehren. Wir dürfen nicht nur darüber sprechen, wie hoch die

alten Meister sich aufschwingen konnten, sondern müssen uns auch der

Mühen, die sie investierten, und der Tiefe ihrer Praxis bewusst sein. Viele

dieser Geschichten sind Wegweiser; würden wir ihnen folgen, könnten

auch wir schließlich und endlich erstaunliche Dinge verwirklichen. Die

meisten dieser Geschichten sind wahr. Die Frage ist nur: Sind Sie bereit,

genügend Zeit, Mühen und Kreativität zu investieren, damit sie in Ihnen

selbst lebendig werden können?

Die wunderbare Persönlichkeit eines Tai-Chi-Lehrers

Liang Tung Ts'ai (T. T. Liang) ist ein Beispiel für einen wundervollen

Tai-Chi-Lehrer, mit dem zusammen zu sein eine wahre Freude war. Liang

war ein liebenswerter älterer Herr mit Glatze, der einem stets mit einem

Augenzwinkern und einem verschmitzten „Wer, ich ?"-Lächeln begegnete.

Er besaß das, was die Franzosen joie de vivre oder „Lebensfreude" nennen.

In Taiwan war er einer der Hauptschüler von Chen Man-ching gewe-

267

sen. Er ging nach New York und lehrte am

Sitz der Vereinten Nationen Tai Chi. Später

übergab er diesen Kurs an Chen Man-ching,

zog nach Boston um und lehrte dort einige

Jahre lang.

Liang lehrte eine Variante des Yang-Stil

Tai Chi.34 Ganz gleich, wie kalt das Wetter in

Boston auch war, von Liang hieß es, er habe

immer etwas Herzerwärmendes. Er war ein

Lehrer von tiefer Einsicht und verstand es

großartig, sich mitzuteilen. Für seine Schüler

war es stets eine große Freude, bei ihm zu ler-

nen, ihn in seinem Appartement zu besuchen

oder Spaziergänge mit ihm zu machen.

Liang behandelte das Tai Chi nicht mit

einem feierlichen Ernst, wie es manche der

älteren chinesischen Lehrer tun. Er besaß

nicht nur eine chinesische, sondern auch eine

englische Schulbildung, und er hatte in sei-

ner Jugend viele verschiedene Kampfkünste

kennen und lieben gelernt. In den 1930er und

1940er Jahren war Liang ein Zollbeamter in

Shanghai gewesen. Zu jener Zeit kontrollierte

die chinesische Unterwelt den Hafen. Shang-

hai war damals eine der abenteuerlichsten Städte der Welt und besaß das

wahrscheinlich größte und lebendigste Freudenviertel. Liang liebte es,

seine Schüler mit haarsträubenden Geschichten aus jener Zeit des „Wilden

Ostens" zu unterhalten.

Liang erzählte seinen Schülern, er habe mit dem Tai Chi begonnen, weil

er durch allzu aktive Teilnahme am süßen Leben jener Tage seine Leber

ruiniert habe. Er lernte Tai Chi, um seine Gesundheit wieder herzustellen,

und obwohl er sich unter zwanzig Tai-Chi-Lehrern geschult hatte, betrach-

34 Liang lehrte Chen Man-chings lange Form, die Chen ursprünglich in Taiwan gelehrt

hatte, bevor er dazu überging, seine Kurzform in 37 Bewegungen zu lehren. Im Jahre

1972 lehrte Liang mich über acht oder neun Monate Soloformen für das Tai Chi mit

dem Schwert, dem Breitschwert, dem Doppelbreitschwert und für das Fechten mit

einem Gegner; außerdem lehrte er mich Push Hands sowie seine Version der Form

für zwei Personen, die er den „Partner-Tanz" nannte.

268

T. T. Liang, ein Tai-Chi-

Lehrer des Yang-Stils.

tete er Chen Man-ching als den besten von ihnen, auch wenn die beiden

nicht in allem übereinstimmten.

Die Freizügigkeit Liangs und seine Bereitschaft, immer weiter zu wach-

sen und zu lernen, waren eine große Inspiration für seine Schüler. Als er

bereits in seinen Siebzigern war, begann er in Taiwan noch bei einem

achtzigjährigen Meister aus Shantung den Halbschritt-Gottesanbeterin-

Stil zu erlernen. Dieser Meister namens Wei Shao Tang war stark wie ein

Stier, und er praktizierte das Tai Chi um zu verhindern, dass sein „Gung

Fu" mit dem Alter schwächer wurde. Nicht viele Menschen in Liangs

Alter wären offen genug, irgendeine Fertigkeit noch von der Pieke auf zu

lernen. Liang pflegte zu sagen, dass jemand, der die Kampfkunst wirklich

liebe oder der eine Leidenschaft für irgendeines der wundervollen Dinge,

die das Leben uns zu bieten hat, besitze, sich von dem früher Erreichten

niemals davon abhalten lässt, etwas Neues und Wertvolles zu erlernen.

Aufgrund dieser Einstellung hatte Liang tatsächlich einen Zugang zum

Jungbrunnen gefunden.

Portrait eines Meisters der inneren Kampfkünste

Yang Shao Jung - der Mann mit den magnetischen Händen

Im Jahre 1977 kam ich mit einem Empfehlungsschreiben zu dem Tai-Chi-

Meister Yang Shao Jung, der keine Schüler ohne eine solche Empfehlung

annahm. Yang war der älteste Sohn von Yang Chen Fu, dem Urenkel des

Yang-Stil-Begründers Yang Lu Chan. Seine Schule befand sich in seiner

Wohnung im zweiten Obergeschoß eines Hauses im Wang-Chai-Viertel

von Hongkong. Ein Schild mit einer wunderschönen chinesischen Kalli-

graphie über dem Balkon seiner Wohnung wies darauf hin. Wie in vielen

der älteren Gebäude von Hongkong, war der Treppenaufgang stockfins-

ter.

Zwei bedeutende Tai-Chi-Meister, Yang Chen Fu und Wu Jien Chuan,

waren in den 1930er Jahren, einer Zeit großer Probleme in China, in den

sicheren Hafen der damaligen britischen Kronkolonie geflohen. Ihre äl-

testen Söhne blieben nach dem Zweiten Weltkrieg in Hongkong.

Ich klopfte an Yangs Tür und übergab das Empfehlungsschreiben. Erst als

er es gelesen hatte, erhielt ich Zutritt. Die Wohnung war klein, wie die

meisten Wohnungen in den älteren Wohnhäusern Hongkongs zu jener

Zeit. Auf der rechten Seite des Flurs lagen die privaten Wohnräume der

Familie, auf der linken Seite die Schule. Wenige Schritte von der Tür ent-

269

fernt war ein Wartebereich mit einigen Sitzplätzen. Von diesem Beobach-

tungspunkt aus konnte man mehrere Dinge in der Wohnung beobachten.

Geradeaus, nur wenige Meter entfernt, sah man Yang in dem nächsten

Zimmer, das etwa 20 Quadratmeter groß zu sein schien, Unterricht geben.

In Richtung des Unterrichtsraums sah man über einer Öffnung in der

Wand Bilder von Tung Ying Chieh und Yang in jüngeren Jahren. Tung

war einer der Hauptschüler seines Vaters gewesen; er hatte ebenfalls nach

dem Krieg in Hongkong gelehrt und hatte die Lehren der Yang-Familie in

Südostasien verbreitet. Links davon, nahe der Eingangstür und vor einer

soliden Wand, sah man gewöhnlich ein oder zwei Gruppen, die Push

Hands übten.

Yang war ein Nordchinese von kräftiger Statur; mit seinen 1 Meter 75

war er im Vergleich zu den meisten Chinesen in Hongkong relativ groß

und langgliedrig. Er war ein warmherziger Mann, hatte aber ein sehr

formelles Betragen und eine äußerst gerade Haltung. Soweit ich sehen

konnte, trug er fast immer schwarze Hosen, schwarze Gung-Fu-Schuhe

und ein lose fallendes Hemd. Die Atmosphäre des vorderen Unterrichts-

raumes war ganz funktional, hier gab es keinerlei Möbel. Wo der Unter-

richtsraum aufhörte, begann der Balkon. An den vielen Tagen, an denen

es in Hongkong heiß und extrem schwül war, war jede Brise, die durch

das Fenster zum Balkon hereinkam, eine willkommene Erfrischung. Yang

sprach während der meisten seiner Kurse Kantonesisch, aber er fühlte

sich offensichtlich wohler mit dem Mandarin-Dialekt seiner Heimat, den

er mit einem deutlichen Beijing-Akzent sprach. Er war erfreut darüber,

dass ich Mandarin sprach, und widmete mir oft zusätzlich einige Unter-

richtszeit, einerseits weil ich mir die Mühe gemacht hatte, seine Sprache

zu erlernen, aber auch aus einer ihm eigenen Höflichkeit Besuchern aus

der Ferne gegenüber. Yang gab in seinen Kursen jeweils einem Schüler

Privatunterricht, der etwa zehn bis fünfzehn Minuten dauerte, bis der

nächste Schüler hereingerufen wurde.

In seinem Anfängerunterricht betonte Yang mehrere Dinge. Das erste war

Klarheit. Es gab in seiner Weise zu lehren niemals etwas Vages. Er mach-

te mit äußerster Präzision deutlich, wie jeder Körperteil positioniert sein

sollte, und korrigierte die Haltung bei jeder Bewegung der Form. War

einem bei seiner Demonstration der Bewegung ein wesentliches Detail

entgangen, dann griff er körperlich ein und korrigierte die Stellung der

Gliedmaßen um sicherzustellen, dass man verstand, was er erwartete, und

was notwendig war, um eine Qualitätskontrolle aufrechtzuerhalten. Au-

ßerdem betonte er bei jeder Standpositur eine klare 100-Prozent-zu-0-

Trennung der Gewichtsverteilung. Als ich ihn fragte, warum viele andere

das Tai Chi mit anderen Gewichtsverteilungen lehrten, sagte er nur: „Dies

270

ist die Weise, auf die die Form in meiner Familie seit jeher bis zurück zu

meinem Urgroßvater gelehrt wurde." Drittens betonte er lange Standpo-

situren und legte besonders jüngeren Schülern nahe, tief hinab zu gehen.

Viertens befürwortete er große, ausgreifende Bewegungen, bei denen die

Hände immer ausgestreckt und relativ weit vom Körper entfernt und die

Achselhöhlen extrem offen waren. Er forderte seine Schüler auf, die Arme

von der Wirbelsäule aus auszustrecken und zog ihre Arme oder Ellbogen

oft sanft nach vorn, um ihrem Körper das Gefühl einzuprägen.

Ich kam oft vorzeitig zu seinen Unterrichtsstunden und blieb auch noch

nach meinem Unterricht in der Form, um andere zu beobachten und mehr

zu lernen, was er freundlicherweise gestattete. Manchmal erlaubte er mir

auch großzügigerweise zwischen zwei Schülern, wenn ich eigentlich nicht

an der Reihe war, Fragen zu stellen. Es war überaus lehrreich, die Quelle

beobachten zu können, aus der so viele Formvarianten des Yang-Stil Tai

Chi hervorgegangen sind. So fragte ich ihn zum Beispiel einmal nach der

Ausführung von Stößen in der Form mit nach vorn weisenden Fingern,

wie es manchmal in Taiwan gelehrt wird. Er sagte, so werde das in sei-

ner Familie nicht gemacht, und er bestand darauf, dass die Fingerspitzen

vertikal nach oben zeigen, während die Handfläche nach vorn stößt. Er

empfahl mir auch, das im Buch seines Vaters nachzulesen.

Bei einer anderen Gelegenheit hatten mir mehrere Schüler aus seiner

Schule empfohlen, einen Daoisten aufzusuchen, um dort Meditation zu

erlernen, und ich fragte Yang, ob er auch die Meditation lehre. Er entgeg-

nete, er tue das nicht und die Mitglieder seiner Familie hätten das von

Anfang an nicht getan. Er lehre den auf das Kämpfen ausgerichteten und

den Chi-Gung-Aspekt des Tai Chi, und wenn ich mich für die Meditation

interessiere, müsste ich anderswo danach suchen.35 Bei einer anderen Ge-

legenheit sagte er mir, er lehre die Tai-Chi-Tradition seiner Familie, weil

er sich verpflichtet fühle, diese Linie weiterzuführen. Er bewunderte sei-

nen Urgroßvater für die Liebe und Freude, mit der dieser die Kampfkünste

praktiziert hatte.

Im Allgemeinen waren Yangs Schüler ziemlich gebildet, und einige von ih-

nen sprachen nicht nur Kantonesisch, sondern auch Englisch. Viele seiner

Schüler, mit denen ich in Kontakt kam, waren freundliche und verständ-

nisvolle Menschen, und es machte Spaß, sich mit ihnen zu unterhalten.

35 In der Folge lernte ich die daoistische Meditation bei Liu Hung Chieh, und zwar eine

Form der Meditation, die eine direkte Beziehung zum Tai Chi hatte. Liu betonte jedoch,

er habe diese Meditation von daoistischen Meditationsmeistern gelernt und nicht von

seinem Tai-Chi-Meister Wu Jien Chuan. Wu betete zwar vor einem daoistischen Altar

und praktizierte selber die Meditation, aber er unterwies Liu nicht darin, als dieser

in seinem Heim lebte.

271

Wenn ich zum Unterricht kam, dann übten gewöhnlich mehrere Schüler

vor der Wand in der Nähe der Tür Push Hands. Sie praktizierten eine Form

des statischen Push Hands, bei der die beiden Partner einander in einer

Vorwärtsdrängen-Positur gegenüberstanden, ohne sich zu bewegen oder

auszuweichen. Der jeweils zur Wand gewandte Partner versuchte dann,

mit einer minimalen oder äußerlich nicht sichtbaren Bewegung Energie

freizusetzen, den anderen zu entwurzeln und gegen die Wand zu schleu-

dern. Die Person, die mit dem Rücken zu Wand stand, versuchte dabei die

Kraft des anderen zu absorbieren oder den Gegner nur wenige Zentimeter

zurückzustoßen (wären es mehr gewesen, dann wäre die zurückgestoße-

ne Person auf dem Schoß der in dem kleinen Wartebereich wartenden

Schüler gelandet). Yangs kleine und zierliche Frau liebte es, mit den war-

tenden Schülern Push Hands zu üben, und schleuderte sie dabei mühelos

gegen die Wand. Die Vorstellung, das Push Hands auszuführen, ohne sich

in der Taille zu drehen und der Kraft eines anderen auszuweichen, war

ungewöhnlich und unterschied sich von allem, was ich bisher gelernt

hatte. Dieser Art des Push Hands begegnete ich zugleich mit Skepsis und

mit Neugier. Ich hielt mich jedoch an die Umgangsformen und erwähnte

Yang gegenüber erst nachdem ich die Form eine Zeitlang geübt hatte,

dass ich eine gewisse Erfahrung mit dem Push Hands besäße und gern

verstehen würde, was seine Schüler da an der Wand täten. Daraufhin

erlaubte mir Yang, an einem Samstagnachmittag zum Push-Hands-Un-

terricht zu kommen.

Als ich die Wohnung an jenem Tag betrat, übte Yang mit einigen Schü-

lern im Hauptunterrichtsraum. Er legte seine Hände auf ihre Schultern

und zog sie vertikal in die Höhe, immer mit einem breiten Lächeln auf

dem Gesicht. Anwesend war eine kleine Gruppe von nur sechs bis acht

Schülern. Im Wartebereich fragte ich einen von ihnen, Push Hands mit

mir zu üben. Er zeigte mir die Zwei-Personen-Stoßmethode und erklärte,

man verwende sie, um die Fähigkeit zur Entladung von Kraft zu entwi-

ckeln. Ich war in der Lage, ihn mehr oder weniger zu neutralisieren. Dann

sagte er mir, ich solle jetzt richtig zur Sache kommen. Ich tat das, was

ich gelernt hatte, wich aus, drehte mich in der Taille und warf ihn immer

wieder gegen die Wand.

Als Yang in dem anderen Zimmer damit fertig war, die Leute vertikal in

die Luft zu heben, stellten wir uns alle im Hauptraum in einer Reihe auf

und übten die Technik. Auch dabei gelang es mir wieder, mich zu drehen,

auszuweichen und einen Schüler, der schon etliche Jahre länger als ich

Tai Chi geübt hatte, erfolgreich zu kontern.

Dann war ich an der Reihe, mit Yang Push Hands zu üben. Seine Kraft

war beträchtlich, und er schleuderte mich mit Leichtigkeit zurück, nach-

272

dem ich ausgewichen war. Als ich dann als nächstes wiederum nachzuge-

ben versuchte, hielt er mich allein mit seinen Handflächen fest. Er nahm

mich dabei so fest in die Zange, dass ich nicht mehr auszuweichen oder

meine Glieder beziehungsweise meinen Körper in irgendeine Richtung zu

bewegen vermochte. Ich konnte auch in keiner Weise irgendeine Kraft ge-

gen ihn wenden. Es fühlte sich an, als werde ich von einem starken Mag-

neten festgehalten. Aufgrund von Umständen, auf die ich keinen Einfluss

hatte, musste ich Hongkong unglücklicherweise kurz darauf verlassen.

Die Erfahrung mit Yangs Zwangsjacke bleibt aber für immer in mein

Gedächtnis eingeprägt.

273

Liu Hung Chieh demonstriert die Fünf-Elemente-Kampfanwendung der

Bohrenden Faust des Hsing-1 mit einem Hieb, der zum Kopf des Autors

gerichtet ist.

Hsing-I

Erwägungen für den Kampfund Kampfanwendungen

Hsing-I Chuan als eine Kampfkunst

Wie das Tai Chi ist auch das Hsing-I eine hybride innere Kampfkunst.

Es ist in dem Bereich zwischen den psychologischen Einstellungen und

emotionalen Haltungen der Shaolin-Kampfkünste und den Chi-Methoden

der inneren Kraft der Daoisten anzusiedeln.

Der Name Hsing-I Chuan besteht aus drei Schriftzeichen:

1. Chuan (siehe Seite 205), das mit „Faust" zu übersetzen ist. Das

Wort bezieht sich in allen Zusammensetzungen auf das Siegen über

einen Menschen im körperlichen Kampf.

2. Hsing bedeutet „die Form von etwas". Alles, was sich auf der Ebene

der Energie oder Materie manifestiert, hat auf die eine oder andere

Weise eine Form, eine Gestalt, einen Zusammenhalt, eine Konfigu-

ration. Es gibt die Form einer Tasse, die Form eines Gedankens, die

Formen verschiedener Spezies von Tieren. In einem spezifischeren

Sinne bezieht sich Hsing auf die Form oder Gestalt, die der Körper

während einer Kampfkunst-Positur einnimmt, um einen Gegner zu

schlagen, zu werfen oder zu kontrollieren.

3. / bezieht sich spezifisch in der Zusammensetzung Hsing-I auf die

Fähigkeit des Geistes, eine Idee zu erzeugen und sie in den Körper

zu projizieren, um so eine funktionale körperliche Form zu erzeugen,

also eine Art der Bewegung, eine Kampfstrategie, eine Kampfpositur

oder eine Art von Kraft.

Man kann den Begriff „Hsing-I" aus zwei verschiedenen Perspektiven

betrachten. Einmal meint er jegliche Form, die vom Geist, chinesisch I,

bestimmt wird. Wenn der Geist sich ein Konzept vorstellt, dann erzeugt und

275

5

formt der Körper automatisch eine körperliche Bewegung und eine Form,

die diese Idee praktisch verkörpert. Zweitens kann man sich entsprechend

einer Computeranalogie vorstellen, dass die Form (als Hardware) verschie-

dene Ideen (Software) benutzen kann, weshalb es notwendig ist, all die

Ideen zu kennen und zu entwickeln, die eine Form hervorzubringen vermag.

Hsing-I als ausgezeichnete Brücke zwischen den äußeren Kampfkünsten und den inneren Kampfkünsten

Die Ausübenden des Hsing-I haben einen eher militärischen Ansatz. Sie

marschieren in gerader Linie und sind innerlich stark darauf ausgerichtet,

am Ende einer jeden Technik einen Feind mental oder körperlich zu be-

zwingen. In diesem Sinne ähnelt das Hsing-I den meisten Hieb-und-Tritt-

Kampfkünsten. Die offensichtlichen äußeren Eigenschaften des Stoßens

und Schlagens gehören einfach zum Charakter des Hsing-I. Viele Ausü-

bende einer äußeren Kampfkunst, denen die langsamen Bewegungen des

Tai Chi nicht liegen, können eher etwas mit dem Hsing-I, das in normaler

Geschwindigkeit ausgeführt wird, anfangen.

Allerdings sind in den scheinbar linearen Techniken des Hsing-I eine

ganze Menge an sehr kleinen, fast unsichtbaren kompletten Kreisen ent-

halten, die normalerweise in den äußeren Kampfkünsten nicht vorzufinden

sind. In vieler Hinsicht ist das Hsing-I eine Art von hoch entwickeltem

inneren Karate. Statt seine Kraft durch Wut und Muskelanspannung her-

vorzubringen, konzentriert sich das Hsing-I darauf, Entspannung, Chi und

innere Stille zu benutzen, um das praktische Ziel zu erreichen, in einer

gewalttätigen Situation die Oberhand zu behalten. Das Hsing-I verfolgt

einerseits dieselben oder ähnliche Primärziele wie die meisten anderen

äußeren Kampfkünste wie etwa Karate oder Boxen, es arbeitet aber auch

mit dem Chi, besitzt gesundheitliche Aspekte und man ist fähig, bis in ein

hohes Alter seine Effektivität im Kampf zu bewahren, was in fast allen

äußeren Kampfkünste nicht möglich ist.

Die inneren Techniken des Hsing-I können so subtil und praktisch

unsichtbar sein wie jene des Tai Chi oder Ba Gua. Allerdings konzent-

riert das Hsing-I sich nicht auf die weichen (Yin), sondern auf die harten

(Yang) inneren Energien innerhalb der Taktiken der Stellungsänderung,

276

zum Finden eines effektiven Kampfwinkels und zum Einsatz seiner be-

achtlichen inneren Kraft. Die Technik des Hsing-I fühlt sich nicht weich

an, kann aber bei Berührung aufgrund der extremen Flexibilität und des

Vermögens des Ausübenden, seine Taktik von Augenblick zu Augenblick

zu verändern, weich erscheinen. Ein großer Teil der inneren Arbeit ist

im Hsing-I genau dieselbe wie im Tai Chi. Die Unterschiede bestehen

hauptsächlich darin, dass das Tai Chi im Wesentlichen versucht, die harte

und die weiche Energie miteinander zu verschmelzen, während man im

Hsing-I ausschließlich nach größtmöglicher harter Energie strebt. Die Be-

griffe „hart" und „weich" beziehen sich hier keineswegs auf die Muskeln,

sondern auf die Qualität der inneren Energie. In beiden Kampfkünsten sind

weiche und entspannte Muskulatur eine Voraussetzung, und sie benutzen

niemals Muskelkontraktionen.

Die körperliche Technik des Hsing-I basiert gänzlich auf dem wirksa-

men Einsatz des Systems der inneren Kraft des Nei Gung; darum ist das

Hsing-I eine innere Kampfkunst. Und weil es das ist, vermag es auch die

Schwachen stark und die Kranken gesund zu machen. Dennoch ist seine

grundlegende Geisteshaltung gekennzeichnet von der Aggressivität der

Shaolin-Kampfkünste, des Karate oder des Boxens.

Die Sichtweise des Hsing-I ist, wie bereits erwähnt, eine militaristische:

Man definiert den Kampfeinsatz und tut, was nötig ist, um zu siegen. Man

tut das vorzugsweise, indem man möglichst wenig Schaden anrichtet, aber

auch ohne Skrupel, wenn man dabei so viel Schmerzen und Verletzung

zufügt, wie es in der jeweiligen Situation nötig zu sein scheint. Wie viele

Soldaten, sind auch die Ausübenden des Hsing-I oft stolz auf ihre Kampf-

kraft. In den Geschichten über die Hsing-I-Meister der Vergangenheit

wird oft von Fällen berichtet, in denen sie ihre Gegner nur leicht gestreift

aber dennoch starke Schwellungen oder Quetschungen auf deren Körper

verursacht haben. Wie im Tai Chi und im Ba Gua, gibt es auch im Hsing-I

die Möglichkeit, Fa Jin anzuwenden, ohne dem Gegner Schmerzen, Ver-

letzungen oder seinem Nervensystem einen schweren Schock zuzufügen.

Doch anders als das Tai Chi oder das Ba Gua neigt das Hsing-I nicht dazu,

diese sanftere Seite seiner Kunst einzusetzen.

Die überwiegende Mehrheit der Schulen des Hsing-I verstärkt die kultu-

rell definierte Macho-Einstellung: Löse das Problem auf dem kürzesten und

direktesten Weg, auf dem der Sieg zu erringen ist. Was die körperliche Seite

angeht, läuft diese Haltung auf Folgendes hinaus: Stell dich in Position,

greife an und überwältige den Gegner mit geringstmöglichem Verlust an

277

Energie. Dieser Ansatz unterscheidet sich sehr stark von dem der überwie-

genden Mehrheit der Tai-Chi-Schulen, in denen die Yin-Einstellung des

Nachgebens und Ausweichens gefördert wird und denen es darum geht,

zu kooperieren, um zu gewinnen, ohne - wenn es nur menschenmöglich

ist - irgend jemanden zu verletzen.

Die historischen Ursprünge des Hsing-I

Der Legende nach wurde das Hsing-I ursprünglich von Yue Fei geschaffen,

der vielen Chinesen als der beste General in der chinesischen Geschich-

te gilt. So wird of gemutmaßt, Yue Fei hätte die mongolische Invasion

Chinas verhindert, wäre nicht der damalige chinesische Kaiser dermaßen

eifersüchtig auf sein militärisches Können und seine Popularität gewesen,

dass er ihm schließlich befahl, Selbstmord zu begehen. Der Überlieferung

nach erfand Yue Fei zwei Kampfkünste, die seine Truppen in der Schlacht

anwenden sollten. Für seine Soldaten schuf er das Adlerkrallen-Boxen

und für seine Offiziere das noch machtvollere Hsing-I, welches auf der

Technik der Handhabung des Speers basierte, wodurch sich seine linear

erscheinenden Bewegungen erklären.

Es gibt viele Darstellungen der Geschichte des Hsing-I, die für künftige

Schüler dieser Kampfkunst wichtig sind, weil sie Aufzeichnungen über die

zahlreichen Übertragungslinien des Hsing-I enthalten. Je näher die Hsing-

I-Lehren dem Material der ursprünglichen Linie kommen, desto besser sind

sie für die Schüler. Anders als die Ausübenden des Tai Chi und zu einem

geringeren Grad die des Ba Gua haben die stärkeren Hsing-I-Anhänger

nie versucht und versuchen auch heute nicht, ihre Methoden allein zur

Förderung der Gesundheit zu lehren. Und anders als beim Ba Gua ist das

Hsing-I nicht schön anzusehen. Aufgrund dieses Mangels an Ästhetik,

wegen seines schlechten Rufes was die gesundheitliche Dimension angeht

und seiner starken und kompromisslosen Ausrichtung auf den Kampf zieht

das Hsing-I im Allgemeinen weniger Interessenten an als die anderen

Kampfkünste. Hier wird die Geschichte des Hsing-I nur in groben Zügen

dargestellt, nämlich so weit das für Menschen, die das Hsing-I heute, zu

Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert, praktizieren möchten, von

Nutzen ist. Wir konzentrieren uns dabei auf den Wert des Hsing-I für

die Gesundheit und das Heilen, zur Stressreduktion, Selbstverteidigung

und allgemeinen Förderung einer inneren Ausgeglichenheit in unserer

gehetzten, technologisch geprägten Gesellschaft.

278

Nach Yue Fei verläuft die Überlieferungslinie des Hsing-I über viele

unterschiedliche Menschen. In der Überlieferung finden sich viele lang-

wierige Geschichten darüber, wie der nächste Erbe der Kunst von seinem

Vorgänger dazu gezwungen wird, eine ungeheure Geduld und Entschlos-

senheit unter Beweis zu stellen, indem dieser ihn schwersten Härtetests

und Prüfungen seiner Moralität unterwirft. Erst nachdem der künftige

Erbe der Linie diese Prüfungen bestanden hatte, pflegte der gegenwärtige

Linienhalter dazu bereit zu sein, ihm das Wissen in ersten kleinen Teilen

zu übermitteln. Wenn er sich dessen würdig erwies, übertrug sein Lehrer

ihm dann schließlich das gesamte Wissen des Systems und versetzte ihn

damit in die Lage, die Tradition fortzusetzen.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Nördliche Gottesanbeterin (Praying Mantis)

Die grundlegende Hab-Acht-Standpositur des Gottesan-

beterin-Boxens ähnelt der Weise, auf die das Insekt im

Stillstand seine Vorderbeine hält. Ich erlernte den Stil der

Gottesanbeterin, um eine Antwort darauf zu finden, war-

um so viele Kampfkünstler in China immer wieder sagen:

„Die Gottesanbeterin fürchtet das Hsing-I am meisten." Außerdem wollte

ich versuchen herauszufinden, ob irgendetwas Wahres an der Geschichte

über den „Todesgriff (auf Kantonesisch Dim Mak, im Standardchinesi-

schen Dian Xue) ist, über den sich in Kampfkunstmagazinen so oft Sensa-

tionsgeschichten finden. Es heißt, dass der Gottesanbeterin-Stil in seinen

nördlichen wie in seinen südlichen Schulen sich auf diese Technik speziali-

siert habe. Im Laufe meiner Studien fand ich heraus, dass die sensationellen

Zeitschriftenartikel über dieses Thema zum größten Teil übertrieben sind.

Auch wenn der Stil der Nördlichen Gottesanbeterin und der der Südli-

chen Gottesanbeterin sich sowohl im Erscheinungsbild als auch in der

Technik radikal voneinander unterscheiden, werden sie im Westen doch

oft miteinander verwechselt. Die Südliche Gottesanbeterin konzentriert

sich auf den Kampf auf kurze Distanz, die Nördliche Gottesanbeterin auf

den Kampf auf mittele und weite Distanz. Was beide Schulen (über ihre

extrem aggressive Natur hinaus) gemeinsam haben, ist die Fähigkeit, mit

tödlicher Präzision schnelle multiple Hiebe auf lebenswichtige Punkte des

Gegners auszuführen.

Die Südliche Gottesanbeterin ist eine Kurzarmmethode aus der Provinz

Kanton, bei der die Arme nah beim Körper gehalten werden. Dieser Stil

279

konzentriert sich ausdrücklich auf Praktiken der Armberührung und des

Schlagens nach der Art des Wing Chun. Außerdem betont er die Ate-

marbeit und die Fähigkeit, das innere Öffnen und Schließen jedes ein-

zelnen Gelenks im Körper zu kontrollieren und separat einzusetzen. In

den Formen der Südlichen Gottesanbeterin wird viel Chi-Gung-Arbeit

geleistet, und deshalb ist dies eine echte äußere/innere Kampfkunst. In

dieser Hinsicht ist die Südliche Gottesanbeterin in der Technik mit den

kantonesischen Stilen der Weißen Augenbraue und des Mu Mei verwandt.

Die meisten ihrer Hiebe werden im Nahkampf auf sehr kurze Distanz aus-

geführt. Es gibt hier nur eine minimale Verwendung von Tritten, meist

Vorwärtstritte, die gewöhnlich unterhalb der Gürtellinie treffen.

Die Nördliche Gottesanbeterin ist etwas ganz anderes. Sie stammt aus

der Provinz Shandong und ist ein Kampfstil auf weite Distanz mit lan-

gen, ausgreifenden Standposituren und einem vielfältigen Repertoire an

Hand-, Unterarm- und Tritttechniken auf lange Distanz, die gewöhnlich

auf den Nacken zielen, aber nicht höher. Die Nördliche Gottesanbeterin

ist eine vorwiegend äußere Kampfkunst ohne eine gut entwickelte Chi-

Gung-Methode. Sie besitzt zwar hoch entwickelte Berührungsmethoden,

betont diese jedoch längst nicht so sehr wie die Südliche Gottesanbeterin.

In der Nördlichen Gottesanbeterin gibt es viele verschiedene Stile. Kenner

der Nördlichen Gottesanbeterin sind sich darüber einig, das Sieben Steme

der am wenigsten ausdifferenzierte Stil ist und dass die Sieben Kombina-

tionen Gottesanbeterin den am weitesten entwickelten und effektivsten

Stil darstellt. Ich selbst habe drei Methoden der Nördlichen Gottesanbe-

terin gelernt, zuerst die Halbschritt-Methode, dann Sieben Sterne und

schließlich die Sechs Kombinationen.

Mein Lehrer in der Halbschritt-Methode war ein kräftig gebauter Mann

von über achtzig Jahren, der eine enorme Würde ausstrahlte. Er bevor-

zugte Kraftschläge gegenüber Nadelstichhieben, und seine Schläge mit

dem Unterarm und seine hämmernden Fausthiebe bei den Kampfanwen-

dungen schlugen ein wie ein Bleirohr.

Dem Stil der Nördliche Gottesanbeterin entsprechend, benutzte er gern

die Klammertechnik, bei der eine zangenähnliche Greifhand nach Art der

Gottesanbeterin zuerst die nahende Faust des Angreifers aus der Luft greift

und der Gegner dann mit dem anderen Unterarm aus dem Gleichgewicht

gebracht wird, um die Sache dann mit einem Gegenschlag der ursprüng-

lich greifenden Hand zu beenden. Der Gegner wird zum Teil dadurch aus

dem Gleichgewicht gebracht, dass man zuerst hart auf den Radialis-Nerv

seines Unterarms schlägt, was fürchterliche Schmerzen hervorruft, die

den Gegner daran hindern, sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten.

Dieser Lehrer benutzte auch Fußstampfer, wobei er einen Arm ergriff,

280

einen halben Schritt vorwärts machte und seinen Gegner schockierte, in-

dem er ihn mit einem Treffer in Mark und Bein erschütterte. Ausübende

der Praying Mantis benutzen mehr als in allen anderen Formen des Shao-

lin Techniken des Stampfens mit den Füßen, um das Chi des Stampfenden

in den Boden hinab zu treiben, von wo die Energie dann auf natürliche

Weise zurückprallt und dem darauf folgenden Hieb der Mantis-Exper-

ten enorme Kraft verleiht. Wenn das Chi so in den Boden hinab gesandt

wird, entsteht gleichzeitig eine Schockwelle, die den Körper des Gegners

durchdringt. Eine andere Spezialität der Nördlichen Gottesanbeterin ist

das Shao Wei, eine Art von Beinschere, Fußknöchelfeger oder Tritt, der

direkt auf bestimmte nervlich empfindliche Punkte auf der Wade oder der

Achillessehne gerichtet ist und bezweckt, die Sehne abreißen zu lassen.

Der Lehrer, der mich in die Sieben Sterne Gottesanbeterin einführte, war

ein kleiner drahtiger Mann in den Fünfzigern. Er war Unteroffizier in

der chinesischen Armee gewesen und sprach Mandarin mit einem der-

maßen breiten Shandong-Akzent, dass ich nie ganz sicher war, wirklich

zu verstehen, was er sagte. Von seinen Schülern hörte ich, dass er in den

Kneipenvierteln von Taipei berüchtigt war für seine Fähigkeiten, die er in

mehreren Herausforderungskämpfen unter Beweis gestellt hatte, nach-

dem er mit der Armee vom Festland nach Taiwan herübergekommen war.

Nach dem, was erzählt wurde, war er mit seiner kampferprobten Technik

auch Männern überlegen, die sehr viel größer und stärker waren als er

selbst. Er konnte aus zwei Meter Entfernung von seinem Gegner einen

fliegenden Tritt gegen dessen Brust oder Kopf ausführen. Während seine

Füße dann zum Boden herunterkamen, pflegte er mit mehrfachen Hand-

hieben anzugreifen, und wenn sein Gegner versuchte, sich zu schützen,

vermochte er dessen Arme mitten in der Bewegung abzufangen. Wenn

er gelandet war, pflegte dieser Lehrer der Sieben Sterne Gottesanbeterin

seinen Gegner mit Shao Wei und Fußumkehrung zu Boden zu werfen, so

dass er den geworfenen Gegner dann entweder gegen den Kopf, in die

Leistengegend oder gegen die Knie treten konnte.

Mein Lehrer in der Sechs Kombinationen Gottesanbeterin war auf Hie-

be auf empfindliche Körperpunkte spezialisiert, bei denen er seine Fin-

ger ebenso benutzte wie schneidende Hände und Handflächen. Er war

ein muskulöser fünfzigjähriger Mann mit extrem langen Armen, dessen

Sehnen und Muskeln hervortraten, wenn er seinen Unterarm anwinkelte.

Er lehnte es normalerweise ab, irgendjemanden zu lehren, und unter-

wies mich nur, weil er meinte, einer dritten Person, die mich empfohlen

hatte, etwas schuldig zu sein. Er war ein wohlhabender Mann, und der

Unterricht fand stets privat im großen ummauerten Hof seines Hauses

statt. Sein Unterricht konzentrierte sich auf durch Sparring übermittelte

281

Kampfanwendungen. Er ging seinen Schüler mit großer Selbstverständ-

lichkeit ziemlich hart an und erhöhte während des Sparrings ständig

ganz bewusst die Geschwindigkeit, Kraft und Heftigkeit seiner Angriffe,

um mich zu zwingen, auf eine höhere Ebene der Kampfkompetenz fort-

zuschreiten. Als sein Schüler blieb einem gar nichts anderes übrig, als

Fortschritte zu machen, um Wege zu finden, physisch mit ihm fertig zu

werden. Wenn man es nicht verstand, sich energisch zu verteidigen, dann

traf er einen ziemlich hart auf empfindliche Punkte wie den Hals oder die

Knochen hinter den Ohren.

Wenn man seinen Anforderungen nicht entsprach (was ziemlich schwie-

rig war, wenn man ständig Finger auf die eigenen Augen und die ver-

letzlichsten Punkte an Hals, Nacken und Kopf zukommen sah), dann warf

er einen ziemlich hart mit Shao Wei, und man fand sich auf dem Boden

wieder, wo man sich Gedanken darüber machen konnte, was man nun

wieder falsch gemacht hatte.

Ein Spruch, mit dem die Nördliche Gottesanbeterin oft beschrieben wird,

ist: „Hände der Gottesanbeterin und Füße des Affen." Die Taktik der Gottes-

anbeterin konzentriert sich im Wesentlichen auf Sprünge und Halbschritte

zur Annäherung an den Gegner aus mittlerer oder weiter Kampfdistanz.

Mantis bevorzugt besonders hüpfende Schritte, bei denen der hintere

Fuß den vorderen Fuß durch einen Tritt in Bewegung zu setzen scheint.

Die Nördliche Gottesanbeterin hat mehrere charakteristische Eigenschaf-

ten. Sie benutzt die Spitze des Ellbogens, die wie eine Art Angelpunkt im

Raum fixiert bleibt, um den der Unterarm und die Fingerspitzen rotieren,

um empfindliche Punkte am Körper zu treffen. Von einer Ausgangspositur

aus, in der die Unterarme vertikal aufgerichtet und die in Schnabelform

zusammengelegten Finger direkt vor dem Körper gehalten werden, sto-

ßen die Finger der Gottesanbeterin innerhalb eines Bogens von 180 Grad

und mehr abwärts auf jeden beliebigen Punkt im Inneren Ihres Körpers

zu, oder sie treffen in einem Winkel von bis zu 45 Grad auf die Außen-

seite Ihres Körpers. An jedem Ort können die Mantis-Finger einen Hieb

mit voller Kraft auf einen Vitalpunkt ausführen. Innerhalb einer Sekunde

kann die schnabelförmige Hand dann ihr Ziel ändern und mit multiplen

Fingerhieben entlang einer Achse von 225 Grad und mehr in einen total

anderen Winkel zuschlagen.

Auch schnelle reißende Bewegungen des Handgelenks in allen möglichen

Winkeln, die verschiedene Arten von Fingerknöchelhieben erzeugen, ge-

hören zu den Spezialitäten der Nördlichen Gottesanbeterin. Das Ba Gua

besitzt tatsächlich eine größere Bandbreite von Techniken, aber hier sind

die Hiebe nicht linear und abgehackt wie bei der Gottesanbeterin, sondern

sie werden mit ganz weichen kreis- oder spiralförmigen Bewegungen des

282

Handgelenks ausgeführt, die wie die Bewegung eines Gyroskops aussehen,

wobei nach jeder Drehung um einige Grade eine neue Handwaffe erzeugt

wird. Da die Praying Mantis Hiebe auf bestimmte Vitalpunkte betont, ist

hier die extreme Geschwindigkeit und Präzision der Schläge wichtiger als

die Kraft. Die Effektivität der Gottesanbeterin beruht auf dem Unterarm

und seiner Fähigkeit, einen Gegner mit einer beträchtlichen und erschre-

ckenden Kraft plötzlich zu packen und heranzuziehen. In diesem Stil geht

es um extreme Geschwindigkeit beim Wechsel von einer Handtechnik zur

nächsten. Während eines fortlaufenden Angriffs kann ein Gottesanbe-

terin-Kämpfer fünf- oder sechsmal zuschlagen, wobei er jedes Mal eine

andere hackende Handtechnik und jede davon aus einem anderen Winkel

einsetzt - hoch, niedrig und auf entgegengesetzten Körperseiten.

Die Technik der multiplen Hiebe der Gottesanbeterin war besonders nütz-

lich, um meine Abwehrtechnik in den inneren Kampfkünsten zu verbes-

sern. Es gibt Ba-Gua-Methoden, mit denen man fortlaufende Angriffe

ausführen kann, die noch schneller und vielfältiger sind als bei der Got-

tesanbeterin. Praying Mantis machte mir jedoch deutlich bewusst, wie

notwendig es ist, über einen spektakulär aggressiven und überwältigen-

den Angriff hinaus auch in der Defensive flüssige Kombinationen in un-

terschiedliche Richtungen ausführen zu können. Dadurch, dass ich die

innere Logik des Gottesanbeterin-Stils und seiner Einstellung zur Abwehr

multipler Angriffe kennen lernte, wurde mir klar, dass ich meinen defen-

siven Fertigkeiten in den inneren Kampfkünsten noch zusätzliche Ebenen

hinzufügen musste, die mir ansonsten wahrscheinlich entgangen wären.

Schließlich fand ich auch heraus, dass es zwei Gründe dafür gibt, dass

die Gottesanbeterin das Hsing-I am meisten fürchtet. Zuerst einmal sind

die stets abgesenkten Kraftellbogen des Hsing-I in der Lage, die weniger

kraftvollen Ellbogen der Praying Mantis an bestimmten kritischen Punk-

ten des Übergangs von einer Technik zur nächsten einfach wirkungs-

los zu machen. Und zudem gibt es im Hsing-I, besonders während eines

blitzartig vorgetragenen multiplen Angriffs, aufgrund der ununterbro-

chenen Vorwärtsbewegung nicht die Lücken im Gewahrsein und in der

körperlichen Bewegung, auf die ein Mantis-Kämpfer bei einem Gegner

wartet und die er braucht, damit er ein Loch ausmachen kann, durch dass

er einen ersten und darauf folgende Hiebe ausführen kann.

Alles in allem ist es angesichts der Kampftechniken des Gottesanbeterin-

Stils, die dem des Insekts gleicht, dass seine Beine benutzt um seine Beute

zu zerreißen, kein Wunder, dass dieser Kampfstil für seine Bösartigkeit

berüchtigt ist.

283

Das moderne Hsing-I entstand im neunzehnten Jahrhundert im nordwest-

lichen China. Es begann mit einem Mann namens Li Luo (auch Le Neng

Ran genannt), der das Hsing-I erst in mittlerem Alter mit Erfolg erlernte

und der nicht bereits in seiner Jugend damit begonnen hatte. Li überzeugte

seinen Lehrer Dai Long Ban letztlich nur durch die Fürsprache von Dais

Mutter, ihm sein ganzes Wissen zu übermitteln. Viele der früheren Hsing-

I-Kampfkünstler waren Analphabeten, deren einzige Ausbildung darin

bestanden hatte, eine innere Kraft zu erwerben, die die meisten Angehö-

rigen der gebildeten Oberschicht niemals zu erreichen vermochten. Hsing-

I-Kampfkünstler betrieben oft Begleitschutz-Agenturen, die in der Zeit vor

der Einführung der Feuerwaffen Leibwächter zur Verfügung stellten sowie

Handelsreisenden Schutz vor Räubern und Wegelagerern anboten.

Li Luo Neng ist eine mythische Gründergestalt mit vielen Schülern. Auf

ihn gehen drei klar unterscheidbare Schulen des Hsing-I zurück. Diese

Schulen werden im Folgenden erörtert.

Die drei Hauptschulen des Hsing-I

Die Shanxi-Schule

Nachdem die von dem legendären General Yue Fei aus der mittelalterli-

chen Song-Zeit ausgehende Überlieferung des Hsing-I bei Li Luo Neng im

neunzehnten Jahrhundert angekommen war, machte das Hsing-I eine Reihe

von Wandlungen durch, da Lis Kampfkunsterben das Hsing-1 mit anderen

inneren Praktiken vermischten und dadurch zwei neue Stile schufen.

Die ursprüngliche Schule wird oft die Shanxi-Schule genannt, weil Li

Luo Neng in dieser Provinz lehrte. Es haben zwar viele Schulen in Beijing

behauptet, den Shanxi-Stil zu lehren (weil dies die ursprüngliche Methode

war), doch in Wirklichkeit standen sie dem Hebei-Stil viel näher (siehe den

folgenden Abschnitt). Titel geben nicht immer der Realität Ausdruck.

Im ursprünglichen Shanxi-Stil wurden die Formen der Fünf Elemente und

die Tierformen gleichermaßen betont. Neben der Ausführung der einzelnen

Bewegungen in einer Linie kannte man im ursprünglichen Shanxi Hsing-I

auch kurze Formen oder Katas wie das Lien Huan (verbindende Form), das

Ba Shr (acht Formen) für die Fünf Elemente und das Tsa Jr Chuei (gemischte

oder komplizierte Fäuste) für die Tierformen, die die einzelnen Linienbewe-

284

gungen miteinander kombinierten. Manchmal gab es für eine einzelne Tier-

form auch eine Kurzform, die Grundprinzipien der jeweiligen Tierformen

körperlich nachvollziehen und ihre mentale Ausrichtung vermitteln sollte.

Ursprünglich gab es zwölf Tierformen. Heute werden in manchen Systemen

nicht mehr alle zwölf praktiziert, einige praktizieren weniger als zehn.

Im Westen hilft die Frage, ob eine Hsing-I-Schule nun aus Shanxi

stammt oder nicht, dem Schüler gewöhnlich nicht zu verstehen, was die

Schule tatsächlich tut. In der ursprünglichen Schule wurde das Hsing-I in

drei klar unterscheidbaren fortschreitenden Stadien gelehrt: zuerst San Ti,

dann die Fünf Elemente und ihre kombinierten Formen, und schließlich

die Zwölf Tiere und ihre Formen. Indem die ursprünglichen Schüler des

Hsing-I von Shanxi aus in andere Provinzen gingen, wurden dort andere

Schulen gegründet, die den Namen der Provinz erhielten, in der sie sich

etablierten. Die beiden wichtigsten Provinzen waren Hebei und Honan.

In der Provinz Honan florierte das, was man einen muslimischen Stil

des Hsing-I nannte, weil der Kampfkünstler, der diesen Stil nach Honan

brachte, dem Islam angehörte. Die Hebei-Schule blieb oft nicht beim reinen

Hsing-I, sondern kombinierte es mit dem Ba Gua.

Die Hebei-Schule

Viele der besten Schüler von Li Luo Neng siedelten schließlich in die

Provinz Hebei über, besonders nach Beijing und in die nahe gelegene

Hafenstadt Tianjin. Im selben Zeitraum wurde auch die Ba-Gua-Schule

immer populärer und die beiden Schulen trainierten oft zusammen.

Es gibt viele zutreffende Geschichten über die Beziehungen zwischen

dem Ba Gua und dem Hsing-I. Ein verbreiteter Mythos, der in vielen eng-

lischsprachigen Büchern nacherzählt wird, ist jedoch definitiv unwahr.

Darin geht es um einen angeblichen Kampf zwischen Tung Hai Chuan,

dem Gründer des Ba Gua, und dem berühmten Hsing-I-Meister Guo Yun

Shen. Die Geschichte erzählt, dass dieser Kampf epische Ausmaße hatte

und dass die Anhänger des Ba Gua und des Hsing-I sich als Folge davon

zusammentaten, um ihr Wissen miteinander auszutauschen. Die Geschichte

ist eine nette Legende, aber nicht mehr.36

36 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor hat Nachforschungen darüber angestellt,

inwieweit die Geschichten über die Beziehungen zwischen dem Hsing-I und dem Ba

Gua zutreffen. All seine Forschungen in Beijing weisen daraufhin , dass Guo Yun Shen

und Tung Hai Chuan praktisch keinen Kontakt miteinander hatten.

285

Wahr ist allerdings, dass die Anhänger des Ba Gua und die des Hsing-I

stets miteinander befreundet waren. Tatsächlich gab es Ende des neunzehn-

ten Jahrhunderts in Tianjin ein Haus, in dem sieben Kampfkünstler des

Hsing-I und des Ba Gua als Freunde zusammenlebten. Darunter waren Li

Tsung I, ein führender Hsing-I-Adept, Cheng Ting Hua, der zu den Großen

Vier von Tung (siehe Seite 514) gehörte, sowie Chang Chao Tung, ebenfalls

ein hervorragender Praktizierender der Hsing-1 und des Ba Gua. Sie hatten

sich alle den Kampfkünsten verschrieben und waren alle Lehrer. Statt sich

gegenseitig zu befehden, kooperierten die beiden Lager in ihrem Kampf-

kunst-Training miteinander. Das Resultat dieser Beziehung war, dass die

Hsing-I-Anhänger immer das Ba Gua erlernen wollten, denn sie wurden

regelmäßig von ihren Ba-Gua-Freunden geschlagen, wenn sie mit diesen

zusammen übten. Die Ba-Gua-Anhänger waren neugierig und es machte

ihnen Spaß, auch das Hsing-I zu lernen, aber ihr Interesse am Hsing-I war

nie so groß wie umgekehrt das der Hsing-I-Anhänger am Ba Gua. Die Leh-

rer des Ba Gua sahen, dass es für ihre Schüler im Anfängerstadium nützlich

sein könnte, sich zuerst einmal in einer stärker linear ausgerichteten, aber

deutlich inneren Methode mit den Grundlagen der inneren Kraft vertraut

zu machen. Auf dieser Grundlage aufbauend, konnten sie dann beginnen,

die komplexere Methode des Kreisgehens zu erlernen, die einen anspruchs-

volleren mentalen Mitvollzug verlangt. Aufgrund dieser Freundschaften

und insbesondere der Freundschaft zwischen dem Ba-Gua-Praktizierenden

Cheng Ting Hua und dem Hsing-I-Praktizierenden Li Tsung I, und nicht

etwa wegen eines mythischen Kampfes, kam es zu dem bis heute anhal-

tenden Trend der Vermischung von Ba Gua und Hsing-I.

Es gibt Schulen des Ba Gua, in denen die Techniken ausgeführt werden

wie im Hsing-I, und des gibt Hsing-I-Schulen, in denen die Techniken nach

Manier des Ba Gua ausgeführt werden. Eines der vielen Beispiele hierfür

ist das Hsing-I, wie es in der Tianjin-Schule gelehrt wird. Diese Schule

vermischte die Lehren von Li Tsung 1 und Cheng Ting Hua miteinander

zu einer Methode, die dann durch Chang Chun Feng nach Taiwan und

zu Hung I Hsiang gelangte. Die Formen dieses Stils haben die Bewegun-

gen des klassischen Hsing-I, doch die gesamte Methode enthält viele der

grundlegenden inneren Körperprinzipien und Techniken des Ba Gua, die

sich stark von denen des klassischen Hsing-I unterscheiden. Anderer-

seits praktizieren viele die kreisförmigen Bewegungen des Ba Gua mit der

geistigen Einstellung und der inneren Mechanik des Hsing-I. Ein Beispiel

hierfür ist die Methode von Sun Lu Tang.

286

Indem die Gruppen der Praktizierenden von Hsing-I und Ba Gua sich

miteinander vermischten, entstand eine neue Methode des Hsing-I, die

oft die Hebei-Schule genannt wurde. In dieser stark vom Ba Gua be-

einflussten Schule des Hsing-I sind ein starker Einfluss und eine starke

Betonung der Fünf Elemente erkennbar, und an zweiter Stelle ein Einfluss

der Tierformen. Wenn Lehrer sowohl Ba Gua als auch Hsing-I lehren, dann

konzentrieren sie sich im Bereich des Hsing-I im Allgemeinen auf die Fünf

Elemente. Der Grund hierfür ist, dass es mithilfe der Fünf Elemente leichter

ist, den Schülern eine solide Grundlage im Bereich der inneren Kraft zu

vermitteln als mit dem Kreisgehen des Ba Gua. Hat der Schüler jedoch

erst einmal ein gewisses Maß an innerer Kraft entwickelt, dann sind die

Kreisgang-Methoden des Ba Gua wesentlich besser geeignet, den Schüler

Anpassungsfähigkeit im Kampf und komplexe Kampfwinkel zu lehren, als

die Tierformen des Hsing-I. Deshalb richten die Lehrer ihre Anstrengung

jetzt eher darauf, Ba Gua zu lehren und nicht die Tierformen des Hsing-I.

Wenn die Tierformen in der Hebei-Schule gelehrt werden, dann ähnelt die

innere Komponente eher dem Ba Gua als dem Hsing-I. Man mag dort zwar

einige äußere Bewegungen des Hsing-I-Systems benutzen oder auch völlig

andere Bewegungen, die mit Namen aus dem Hsing-I benannt werden,

aber dies sind nicht die klassischen Hsing-I-Bewegungen.

Die Mehrzahl der Hsing-I-Schulen im Westen hängen der Hebei-Me-

thode an, auch wenn sich diese Schulen vielleicht des Ursprungs des von

ihnen gelehrten Materials bewusst sind.

Die I-Chuan-Schule

Das I Chuan37 ist eine weitere gemischte Schule. Einer der besten Schüler

von Li Luo Neng, dem Gründer der Shanxi-Schule, war ein Mann namens

Guo Yun Shen. Es war dieser Guo Yun Shen, der den „legendären" Kampf

mit Tung Hai Chuan, dem Gründer des Ba Gua, ausfocht. Guo, der für sein

Halbschritt-Beng-Chuan berühmt war, brachte zwei Schüler hervor, die für

die Entwicklung des Hsing-I wichtig wurden. Der erste war Sun Lu Tang,

der einen Stil des Tai Chi kreierte, der Hsing-I, Ba Gua und Tai Chi mit-

einander verschmolz. Er sorgte für eine weite Verbreitung des Gedankens,

37 Der Autor übte während seiner Zeit als Student in Tokio bei Sawai Kenichi das

I Chuan, das dieser Taiki-Ken nannte. Später trainierte er es in Hongkong bei Han

Hsing Yuan.

287

dass alle drei zu derselben Schule der inneren Künste gehören, die Nei Jia

genannt wurde. Als Erwachsener lernte Sun das gesamte Shanxi-Hsing-

I-System direkt von Guo. Die Nachkommen von Sun lehren die reinste

Form der Kunst von Guo.

Der I-Chuan-Zweig des Hsing-I wurde von Wang Hsiang Zai, einem

Schüler von Guo, begründet. Er war der letzte Schüler des bereits betagten

Guo, und er war damals noch ein Teenager. Später vermischte er Wang

Guos Hsing-I mit dem westlichen Boxen, buddhistischem Chi Gung und

Fußbewegungstechniken des Ba Gua, die er später in seinem Leben erlernt

hatte. So schuf er das I Chuan oder das „Boxen geistiger Intention". Als er

älter war, wurde dieser Stil auch Da Cheng Chuan oder das „Boxen von

großer Fertigkeit" genannt.

Das I Chuan konzentrierte sich stark auf das San Ti (siehe Seite 300).

Die Ausübenden praktizieren die Form oft über Jahrzehnte und widmen

häufig die Hälfte jeder Trainingssitzung oder sogar mehr dem San Ti.

Darin unterscheidet sich das I Chuan stark von den Schulen Shanxi und

Hebei, wo das San Ti nach den ersten Übungsjahren zwischen den ein-

zelnen Linien oder am Ende der Formen nur für jeweils einige Minuten

beibehalten wird. Außerdem praktiziert das I Chuan das San Ti anders als

die anderen Schulen. Hier übt man anstelle des Pi Chuan (siehe Seite 295)

acht Standposituren, deren Höhe von oberhalb des Kopfes bis auf Höhe

des Unteren Dantien variiert. Die bekannteste dieser Posituren wird „Einen

Ball halten" oder „Der universale Pfeiler" genannt. Auch die Fußarbeit ist

bei den Standposituren anders, und es gibt zwei Arten der Fußarbeit. Die

erste wird in einer modifizierten Pferd-Standpositur mit parallelen Füßen

ausgeführt, die zweite in einer Katze-Standpositur, die völlig rücklastig

ist, wobei der Ballen des unbelasteten Fußes den Boden berührt und die

Ferse angehoben ist.

Die Fünf-Elemente-Praxis des I Chuan betont eine offene Mittellinie, bei

der die Hände ausgebreitet sind, die Intention aber immer bei der Mittellinie

bleibt. Im Gegensatz dazu betonen die anderen Schulen eine geschlossene

Mittellinie, wobei die Arme oder die Hände physisch vor der Mittellinie

gehalten werden. Die Fünf-Elemente-Praxis der I Chuan benutzt einen

Gang mit regelmäßigen Schritten in Stundenglas-Form (wie man ihn auch

im Karate und in den südchinesischen Kampfkünsten beobachten kann).

Im I Chuan werden gewöhnlich reguläre Schritte und nicht Halbschritte

betont. Während die anderen Stile des Hsing-I viele größere Ideen zu den

winzigen Komponenten der körperlichen Bewegungen des Fünf-Elemente-

288

Stils und der Tier-Stile verdichten, macht die I-Chuan-Schule aus jeder

Minikomponente eine separate äußere Bewegung.

Im I Chuan wird das Einhalten der Standposituren so stark betont, um

Fa Jin zu entwickeln. Das hauptsächliche Zwei-Personen-Training ist im

I Chuan eine Form des Berührungstrainings, wobei die Arme der beiden

Partner sich in Kreisen bewegen. Dahinter steht ein ähnliches Konzept wie

hinter dem Rou Shou des Ba Gua (siehe Seite 360) oder den Kreisenden

Händen des Tai Chi (siehe Seite 257), aber die Technik ist eine andere. Jeder

Partner versucht dabei: (a) Fa Jin anzuwenden, Energie freizusetzen und

den anderen allein durch den Armkontakt zu entwurzeln; (b) die Arme

des anderen gänzlich einzufangen, so dass er keinen Widerstand gegen

Treffer mehr leisten kann; (c) den anderen mit Hieben zu treffen; (d) den

Armkontakt allein dazu zu benutzen, den anderen zu Boden zu werfen,

also ohne Hüft- oder Schulterwürfe einzusetzen. Danach üben die Partner

Sparring, manchmal mit Boxhandschuhen.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Das Taiki-Ken genannte Hsing-I von Sawai Kenichi

Ein Mitglied der Tai-Chi-Schule von Shibuya führte

mich in die Hsing-I-Gruppe von Sawai Kenichi ein, de-

ren Mitglieder geradezu fanatische Anhänger der Ent-

wicklung des Chi durch die Übung des Stehens waren.

Sawai hatte sich zehn Jahre lang in China unter Wang

Hsiang Zai, dem Gründer der I-Chuan-Schule des Hsing-I, geschult. Zu

der Zeit, als ich den Unterricht von Sawai kennen lernte, war ich noch

weitgehend durch meine Lust am Kämpfen motiviert und interessierte

mich weniger für Gesundheit und Fitness. Viele der Teilnehmen an sei-

nem Unterricht waren starke junge Männer aus der wettkampforientierten

Kampfkunst-Szene des Tokio jener Tage, und sie waren dort, weil sie vor

allem das Kämpfen lernen wollten. Viele von ihnen waren Inhaber des

schwarzen Gürtels dritten, vierten und fünften Grades im Karate.38 Wenn

jemand zu Sawai kam und ihm sagte, er wolle Kampfkunst lernen, dann

' Im Japan jener Tage waren die stärksten aktiven Kämpfer mit schwarzem Gürtel

gewöhnlich die des dritten, vierten und fünften Grades. Unter den Schwarzgürteln

dritten bis fünften Grades in Sawais Gruppe waren etliche aus der Kyokoshin Kai

Karateschule von Oyama Mas. Der inzwischen verstorbene Oyama war in Japan dafür

bekannt, dass er mit bloßen Händen einen Stier zu töten vermochte.

289

wurde er gewöhnlich auf die Probe gestellt, um zu beweisen, dass er es

ernst meinte und dass er den nötigen „Kampfgeist" besaß, eine Eigen-

schaft, die in der Kampfkunst-Szene in Japan sehr hoch bewertet wird.

Nachdem ich dem Unterricht längere Zeit nur zugeschaut hatte, musste

ich mich den Formalitäten unterwerfen, die die Voraussetzung für die

Aufnahme in die Schule waren. Dabei musste ich auch offen legen, was

mein bisheriger Kampfkunst-Hintergrund war. Dann musste ich in einem

Sparring unter Beweis stellen, dass ich ein echter Schwarzgürtel-Kämpfer

und nicht nur ein Dilettant war. Mein erster Gegner sah ziemlich Furcht

einflößend aus. Von der Seitenlinie aus hatte jemand erwähnt, ich sei ein

Träger des schwarzen Gürtels im Karate. Also sah Sawai jemanden an, der

mein Sparringspartner sein sollte, und der nahm mich sofort aufs Korn

und heizte mir ganz schön ein. Ehe ich es mich versah, versetzte er mir

einen Tritt zum Herzen (Hiebe zum Herzen waren eine Spezialität dieser

Gruppe). Ich krümmte mich auf dem Boden, gefällt von einem Schmerz,

der so intensiv war, dass ich dachte, mein letztes Stündlein sei gekom-

men. Ich hatte so etwas im Karate noch nie zuvor erlebt. Hinterher fand

ich heraus, dass mein Sparringpartner schon seit Jahren einen schwarzen

Gürtel fünften Grades gehabt hatte, bevor er bei Sawai zu trainieren be-

gann.

Nach ein, zwei Minuten half mir jemand wieder auf die Füße. Es fiel mir

äußerst schwer zu stehen und wieder einigermaßen normal zu atmen.

Nachdem man mir etwas Zeit gelassen hatte, mich zu erholen, wurde

ich aufgefordert, ein weiteres Sparring zu bestehen. Diesmal war mein

Partner ein Schwarzgürtel dritten Grades, was in etwa meinem damaligen

Stand entsprach. In dieser Runde schlug ich mich ganz gut und erwischte

meinen Gegner ziemlich oft mit Rundtritten zum Kopf. Später erklärte

man mir, Sawai habe einfach nur sehen wollen, ob ich meine anfängliche

Furcht würde überwinden und meinen Kampfgeist würde aufrechterhal-

ten können. Nach dieser interessanten Initiation wurde ich in die Klasse

aufgenommen.

Der Unterricht fand im Park des Meiji Jingu statt. Der „Meiji Schrein" ist

ein nationales japanisches Shinto-Heiligtum und der Ort der wichtigsten

der traditionellen Neujahrsfeiern der Japaner. Zum Training versammel-

ten wir uns auf einer von Bäumen umstanden Lichtung. (Jahre später sah

ich, dass diese Lichtung, die einer der seltenen Orte in Zentraltokio war,

wo man noch Natur erfahren konnte, inzwischen im Rahmen der gnaden-

losen industriellen Naturvernichtung in Japan als Parkplatz zementiert

worden war.) Als ich zum ersten Mal zum Unterricht kam, sah ich etliche

Schüler mit vor der Brust erhobenen Armen vor den Bäumen stehen, so

als ob sie einen großen Ball umarmten. Einige standen mit etwa schul-

290

terbreit voneinander entfernten Füßen da und hatten das Körpergewicht

gleichmäßig auf beide Füße verteilt. Andere hatten nur einen Fuß be-

lastet und die Ferse des anderen Fußes war vom Boden gehoben. Dieses

Ritual im Stehen dauerte eine oder zwei Stunden, bevor irgendjemand

sich bewegte. Sawai nahm gewöhnlich daran teil oder ging manchmal zu

einzelnen Schülern hin und korrigierte ihre Positur.

Nach Beendigung der Stehübung begannen die Schüler die Handtechniken

in Bewegung zu trainieren, entweder einzeln oder in Gruppen. Anfangs

dauerte jeder vollständige Schritt etwa dreißig Sekunden. Während sich

das Chi verstärkte, wurde die Bewegung immer mehr verlangsamt, bis ein

einzelner Schritt zusammen mit der dazugehörigen Handtechnik bis zu

zehn Minuten dauerte. Als nächstes begannen die Schüler Push Hands zu

üben, wobei es nicht nur darum ging, den Partner aus dem Gleichgewicht

zu bringen, sondern danach auch einen Hieb zu platzieren oder eine Fa-

Jin-Technik anzuwenden. Anders als beim Fa Jin im Tai Chi war dies ein

Fa Jin, das oft zu einem ziemlich starken körperlichen Schock führte.

Schließlich kamen wir zum freien Sparring, das in Hinsicht auf das Erler-

nen der Abwehr von Tritten und Würfen besonders interessant war, weil

viele der Sparringspartner Schwarzgürtelträger hohen Grades im Judo

oder Karate waren. Sawai selbst war Träger eines schwarzen Gürtels sieb-

ten Grades im Judo gewesen, bevor er nach China ging, um sich dort zu

schulen. Zum Abschluss des Trainings wurde der Kreis vollendet: alle

machten wieder die Stehübung, um das Chi zu stabilisieren, den Geist zu

beruhigen und all das, was sie während des Unterrichts gelernt hatten,

tief in sich einsinken zu lassen.

Sawais Vorliebe für das Kämpfen war geradezu ansteckend. Als früherer

Soldat besaß er die kompromisslose Einstellung eines Samurai zum Tanz

von Leben oder Tod. Er war kein Sadist, aber er tolerierte keinerlei Mangel

an Kampfgeist und Hingabe von jemandem, der das Training nicht wirk-

lich ernst nahm. Er ging davon aus, dass seine Schüler nicht weniger er-

reichen wollten, als das Maximum ihres Kampfpotentials auszuschöpfen.

Sawai konnte eine spielerische Ruppigkeit an den Tag legen, aber wenn

es wirklich zur Sache ging, dann wurde er sehr streng und es gab keine

Spielerei mehr. Machte man im Sparring einen Fehler, dann tadelte er

das sofort, und wenn man dreimal denselben Fehler machte, dann ließ er

einen oft auf sehr schmerzhafte Weise wissen, was ein Gegner tun könnte,

wenn man ihn so dazu einlüde. Diese Vorgehensweise motivierte seine

Schüler enorm dazu, ihre Fehler schnellstmöglich zu korrigieren.

Sawai war ein kleiner, gedrungener Mann, und er liebte besonders das

Pi Chuan (siehe Seite 295) und die Weise des Affen, sich im Hsing-I zu

bewegen, insbesondere seine Methode des Blockens und seine schnelle

291

Fußarbeit, die den Kämpfer rasch an den Gegner heran und wieder außer

Reichweite brachte. Die Angriffstechnik, die er besonders bevorzugte, war

ein Hieb zum Herzen, den er sowohl nach Art des Affen mit der Rück-

seite des Handgelenks ausführte oder mit der Vorderseite der Fingerknö-

chel wie in der Tierform des Pferdes. Diese Fausttechnik mit gebeugtem

Handgelenk ahmt die Bewegung eines kämpfenden Pferdes nach, das

seine Hufe auf seinen Gegner niederschmettert, nachdem es sich auf die

Hinterläufe gestellt hat. Während Sawais Ellbogen sich vertikal abwärts

bewegte, schlug er einem mit den vorstehenden Knöcheln der vier Finger

auf das Herz.

Wenn Sawai die echte und ernsthafte Absicht eines Schülers, die Kampf-

kunst zu erlernen, respektierte, dann ließ er einen früher oder später die

Wirkung dieser Technik so deutlich spüren, dass man glaubte, einen

Herzanfall zu erleiden. Ich kann persönlich bestätigen, dass dies in seinen

Schülern einen bleibenden Eindruck hinterließ und diese Demonstration

der Wirksamkeit des Hsing-I tiefer ging als bloße Worte es jemals ver-

mocht hätten.

Ein Thema das im Zusammenhang mit dem I Chuan oft kontrovers disku-

tiert wird, ist die Trainingstechnik namens Kong Jin oder „Leere Kraft". Mit

dieser Technik bewegen Lehrer ihre Schüler körperlich entweder rückwärts

oder aufwärts in die Luft oder abwärts zu Boden, indem sie aus einiger

Entfernung einfach eine Handbewegung ausführen, ohne sie körperlich

zu berühren. Auch wenn dies mit Schülern durchaus funktioniert, nehmen

unglücklicherweise viele Kampfkunst-Schüler an, man könne dies auch

mit Fremden gegen ihren Willen machen, was, vorsichtig gesagt, äußerst

selten geht. In Beijing ist man in ausführlichen Studien der Frage nach-

gegangen, ob die „Leere Kraft" auch bei Kampfkunstexperten wirksam ist,

die nicht kooperieren - und es hat sich gezeigt, dass dies nicht der Fall ist.

Allerdings lässt sich die Technik der Leeren Kraft durchaus anwenden, um

zu therapeutischen Zwecken das Chi zu bewegen, um Energieblockaden

zu beseitigen.

Leere Kraft ist eine Trainingstechnik, deren Zweck darin besteht, den

Praktizierenden für die Bewegungen des Chi in ihm selbst, in seinen Geg-

nern, im Raum zwischen ihm selbst und seinen Gegnern und in der außer-

sinnlichen Energie, die im Kampf erzeugt wird, zu sensibilisieren. Sie zielt

darauf ab, den Empfänger in die Lage zu versetzen, für das Chi anderer

empfanglich zu werden und angemessen darauf zu reagieren, sei es nun

292

während des körperlichen Kontakts oder ungehindert in der Lücke, bevor

man körperlich von einem Gegner berührt oder von ihm getroffen wird.

Sie setzt voraus, dass Lehrer und Schüler auf der übersinnlichen Ebene

miteinander kooperieren, und das theatralische Getue, das man oft bei einer

Begegnung mit der Leeren Kraft beobachten kann, ist maßlos übertrie-

ben. Diese Übertreibung hat einfach den Zweck, eine gewisse Sensibilität

für Energie zu erzeugen sowie die Fähigkeit zu fördern, aufgrund dieser

Sensibilität in einer Konfrontation augenblicklich auf einen physischen

Stimulus zu reagieren. Es geht also nicht darum, die magische Fähigkeit

zu entwickeln, King Kong mit einer bloßen Handbewegung durch die

Projektion einer unsichtbaren Kraft umzuhauen.

Die Techniken und Trainingspraktiken des Hsing-I

Das Hsing-I von Li Luo Neng hatte drei Komponenten: San Ti, die Fünf

Elemente und verschiedene Tierformen. Es gibt hier Stile im großen, mitt-

leren und kleinen Rahmen (siehe Seite 189). Zu den grundlegenden Eigen-

schaften des Hsing-I als Kampfkunst gehören:

1. Die energetische Intention und Kampfintention wird stärker betont

als die körperlichen Bewegungen der Form.

2. Es geht um die funktionale Kraft in jedem einzelnen Teil einer jeden

Bewegung und nicht nur um die Fähigkeit, sich gut zu bewegen.

3. Die Bewegungen sind ganz und gar auf Wirksamkeit im Kampf

abgestellt. Im Hsing-I gilt jede Bewegung in den Soloformen, in

der Übung mit einem Partner oder im Kampf, die nicht funktional

oder überflüssig ist als eine Kampfkunst-Sünde.

4. Bu hao kan, hen hao yung (der klassische Chinesische Spruch, der

das Hsing-I beschreibt) bedeutet in freier Übersetzung, dass das

Hsing-I nicht schön aussieht, dass es im Kampf aber außerordentlich

wirksam ist.

5. Eine primäre Strategie des Hsing-I beruht auf der Maxime, dass es

keinerlei Rückzug gibt. Der Hsing-I-Kämpfer dringt unablässig in

den Raum der Gegner ein und bedrängt ihre Abwehr, bis sie von

der ständig voranschreitenden Bewegung überwältigt und besiegt

293

sind. Selbst dann, wenn man sich im Hsing-I aus taktischen Gründen

einmal zurückziehen muss, dann tut man das nur, um dem eigenen

Geist eine kurze Ruhepause zu gönnen, damit er sich wieder auf

seine primäre Aufgabe ausrichten kann, die darin besteht, so bald

wie möglich anzugreifen.

6. Eine geistige Einstellung, die ganz und gar zielorientiert ist und auf ei-

nem hohen Grad an Aggressivität basiert. Alle Verteidigungsmanöver

sind nur eine vorübergehende taktische Maßnahme, die so lange ein-

gesetzt wird, bis der Ausübende wieder zum Angriff übergehen kann.

7. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Entwicklung von Yang- und nicht

von Yin-Methoden der inneren Kraft, also auf Härte und nicht auf

Weichheit.

8. Das Äußere des Körpers der Praktizierenden wird dahingehend

entwickelt, dass es sich für jemanden, der es berührt, extrem hart

anfühlt. Gleichzeit ist das subjektive Empfinden des Ausübenden,

dass das Innere seines Körpers sich weich und flexibel anfühlt. Diese

Chi-Gewichtung von Härte im Äußeren und Weichheit im Inneren

ist das genaue Gegenteil der Gewichtung im Tai Chi.

9. Die philosophische Orientierung des Hsing-I betont die Entwick-

lung innerer Stärke und einer unerschütterlichen Ausrichtung der

Intention.

Das Bild, das oft zur Beschreibung der Technik des Hsing-I verwendet

wird, ist das einer Eisenkugel, die den Gegner glatt überrollt. Ob Sie kör-

perlich nun eher schlank oder untersetzt gebaut sind, eines Ihrer inneren

Hauptziele im Hsing-I besteht darin, Ihr Chi abzusenken, so dass Ihr Körper

und Ihre Arme unglaublich schwer werden, so schwer wie Blei. Dennoch

müssen Sie sich die Fähigkeit bewahren, sich mit Sensibilität zu bewegen

und so beweglich zu bleiben wie ein Blatt im Sturm.

Die Arme eines Hsing-I-Praktizierenden werden so schwer und dicht,

dass sie bei einem Angriff die Arme ihres Gegners aus dem Weg räumen

können, als hätten diese keinerlei Substanz. Die Arme des Gegners pral-

len von den schwereren Armen des Hsing-I-Adepten zurück wie eine

Blechbüchse von solidem Blei. Während eines Angriffs benutzen Hsing-

I-Praktizierende diese schweren Arme, um die Arme ihrer Gegner gänzlich

zu kontrollieren und ihre Hände aus dem Weg zu räumen. Die schweren

Arme des Hsing-I-Kämpfers können stets die Verteidigung seiner Gegner

für einen geradlinigen und entscheidenden Angriff aufbrechen.

294

Die Fünf Elemente

Die Fünf Elemente sind in Wirklichkeit fünf Energien, aus denen sich

nach der daoistischen Kosmologie die Energiematrix des Universums zu-

sammensetzt. Nach der Theorie der traditionellen chinesischen Medizin

balancieren diese fünf dynamischen Energien (Feuer, Wasser, Holz, Erde

und Metall) die inneren Organe des menschlichen Körpers aus. Jedes der

Fünf Elemente im Hsing-I, die im Folgenden beschrieben werden, benutzt

eine bestimmte Handtechnik, die die Kraft entlang eines spezifischen Kraft-

vektors bewegt. Jede einzelne Handtechnik der Fünf Elemente tut das auf

etwas unterschiedliche Weise: hoch (zum Herz des Gegners oder darüber),

mittelhoch (zwischen dem Herzen und dem Unteren Dantien) und niedrig

(zu den Hüften, Lenden oder Beinen).

Die Hackende/Spaltende Faust (Pi Chuan) Bei dieser Fünf-Elemente-

Technik geht die körperliche Bewegung von oben nach unten, wobei die

innere Energie des Abwärtsdrückens (siehe Seite 223) eingesetzt wird. Die

abschließende Positur der vollständigen Pi-Chuan-Bewegung ist die im San

Ti beibehaltene Positur. Das Pi Chuan selbst konzentriert sich auf eine sich

vertikal abwärts bewegende Kraft. Der innere Druck, den diese Bewegung

im Körper auslöst, hat über seine grundlegende Chi-Wirkung hinaus einen

direkten und positiven Einfluss auf die Lunge. Das Pi Chuan wird durch

das Metallelement repräsentiert und ist darauf ausgerichtet, eine extrem

starke Wirbelsäule und stahlharte Hände zu erzeugen.

Die grundlegende Bewegung des Pi Chuan ist eine schneidende Akti-

on, die gewöhnlich abwärts mit der Handfläche ausgeführt wird oder, in

manchen Schulen, vorwärts mit der Handkante. In allen Schulen werden

die Kampfanwendungen auch mit verschiedenen Teilen der geschlossenen

Faust ausgeführt. Pi Chuan ist die primäre Hab-Acht-Verteidigungspositur

im Hsing-I. In dieser Positur wird eine Hand hoch gehalten, um die mitt-

leren und oberen Körperpartien abzudecken, und eine Hand wird zur De-

ckung der mittleren und unteren Körperpartien niedrig gehalten. Pi Chuan

wird häufig gegen Angriffe in gerader Linie verwendet. Viele der besten

Praktizierenden des Hsing-I gründen ihre gesamte Angriffsstrategie auf

den alleinigen Gebrauch von Pi Chuan und Beng Chuan (zerschmetternde

Faust), wobei sie sich mit der oberen Hand von Pi Chuan verteidigen und

mit der unteren Hand, die Beng Chuan ausführt, angreifen.

295

Die Bohrende Faust (Tsuan Chuan) Hier geht die körperliche Bewegung

von unten nach oben, und es wird die sich ausdehnende innere Energie

des Abwehrens (siehe Seite 210) eingesetzt. Der innere Druck, den das

Tsuan Chuan während der Ausführung der Technik im Körper auslöst,

hat über seine grundlegende Chi-Wirkung hinaus, einen direkten und

positiven Einfluss auf die Nieren und die gesamte Vitalität des Körpers.

Tsuan Chuan konzentriert sich auf eine sich vertikal aufwärts bewegende

Energie. Es wird durch das Wasserelement repräsentiert und ist darauf

ausgerichtet, die Hände in die Lage zu versetzen, sich um die Arme eines

Gegners herum zu bewegen, wie Wasser um einen Felsblock herum fließt.

Es wird gleichermaßen für den Angriff wie für die Abwehr verwendet. Seine

grundlegende Aktion führt eine Hand entlang Ihrer Mittellinie abwärts,

während die andere Hand sich gleichzeitig in einer Art von bohrendem

Aufwärtshaken Ihre Mittellinie entlang aufwärts bewegt.

Bei der Bohrenden Faust werden der Körper und die Arme kraftvoll

verdreht; sie wird auf drei grundlegende Weisen ausgeführt: Bei der ers-

ten Variante kommt die Hand nach der Aufwärtsbewegung am Ende der

Technik zu völligem Stillstand. Bei der zweiten Variante geht die Hand

zuerst aufwärts, so als durchbohrte sie ihr Ziel (zum Beispiel den Kopf)

und kehrt dann zu einer niedrigeren Positur zurück, um einen möglichen

Gegenangriff abzublocken. Bei diesen beiden Methoden bewegt sich die

schlagende Hand auf einer geraden Linie vom Unteren Dantien entlang

der Mittellinie des Körpers aufwärts. Bei der dritten Methode bewegt sich

die Hand in einer Zickzacklinie oder einer wassergleichen formlosen Art,

die die Bewegung des Wassers imitiert, das um einen Felsen herumströmt.

Die Drehung am Ende des Hiebes wird stets betont.

Zerschmetternde Faust (Beng Chuan) Diese Technik benutzt eine ge-

rade vorwärts gehende körperliche Bewegung mit der inneren Energie

des Vorwärtsdrängens (siehe Seite 222). Beng Chuan ist die bekannteste

Angriffstechnik des Hsing-I. Viele halten es für den kraftvollsten geraden

Hieb in allen chinesischen Kampfkünsten. Der innere Druck, den diese

Bewegung im Körper auslöst, hat über seine grundlegende Chi-Wirkung

hinaus einen direkten und positiven Einfluss auf die Leber. Beng Chuan

wird durch das Holzelement repräsentiert und konzentriert sich darauf, die

Fäuste aus dem Körper „herauswachsen" zu lassen. Es wird oft mit der Kraft

einer Pflanze verglichen, die mit einer beständigen und unerbittlichen Kraft

selbst durch Beton hindurch zum Licht hin wächst und sich ausbreitet.

296

Beng Chuan ist nicht dasselbe wie ein normaler gerader Hieb, dessen

Wirksamkeit weitgehend von der Wucht abhängt, die dahinter liegt. Die

Kraft des Beng Chuan kommt vielmehr mit großer Wahrscheinlichkeit aus

naher Distanz zum Einsatz, etwa dann, wenn Ihr Arm einen Gegner in der

Vorwärtsbewegung eines Angriffs aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Beng Chuan wird oft auch benutzt, um den Angriff von Gegnern abzufan-

gen und ihre Kraft zu „stehlen", wonach man dann mit einem von beiden

Armen angreifen kann. Beng Chuan wird gewöhnlich mit einer Vierteldre-

hung der Faust ausgeführt. Es wird sowohl dann angewendet, wenn man

von oberhalb des Arms eines Gegners herabdrückt, als auch wenn man

von unterhalb seines Arms nach oben drückt. Das Zurückziehen des Arms

in Beng Chuan wird benutzt, um die innere Kraft nach unten zu drücken,

um den Arm und den Körper des Gegners stillstehen zu lassen (das heißt,

ihn nicht weglaufen zu lassen), während der andere Arm zuschlägt. Beng

Chuan benutzt auch eine elliptisch rudernde Aktion, um an den Armen

eines Gegners hinaufzuklettern, sowie kleine zirkuläre Abwehrbewegun-

gen, um sich den Gegner für einen Gegenangriff zurechtzulegen. Das

Beng Chuan ist dafür bekannt, dass man bei rücklastigen Standposituren

kraftvolle Hiebe mit dem zum vorderen Bein gehörenden Arm ausführt.

Beng Chuan neutralisiert oft den Angriff des Gegners mit der ersten Hälfte

des ausgesandten Hiebes und trifft dann mit der abschließenden zweiten

Hälfte der Streckung des Arms.

Die ersten drei Techniken der Fünf Elemente - Pi Chuan, Tsuan Chuan

und Beng Chuan - werden gewöhnlich zuerst nur beim Gehen in einer

geraden Linie geübt. Man geht davon aus, dass sie für die meisten Men-

schen ausreichen, um die grundlegende innere Substanz des Hsing-I zu

begreifen. Wenn man diese drei Techniken gemeistert hat, dann ist es

auch in Hinsicht auf die zum Üben aufgewandte Zeit von Vorteil, wenn

man nun mit den nächsten beiden Techniken arbeitet, um so das ganze

System ausgewogen zu beherrschen. Die nächsten beiden Methoden, das

Pao Chuan und das Heng Chuan, beginnen normalerweise unter Verwen-

dung des Sieben-Sterne-Schrittmusters des Hsing-I. Bei diesen Schritten

bewegt sich der Körper in einem Zickzackmuster miteinander verbundener

45-Grad-Winkel. (Dieser 45-Grad-Winkel bei den Schritten wird auch im

Aikido und im Ninjutsu häufig verwendet.) Dieser diagonale Schritt wird

angewendet, um eine wahrgenommene überlegene Kraft eines linearen

Angriffs zu umgehen oder auch um den Körper eines Angreifers zwischen

sich und andere Angreifer zu bringen, wenn man von mehreren Gegnern

gleichzeitig angegriffen wird.

Hämmernde Faust (Pao Chuan) Beim Pao Chuan geht es um diagonale

körperliche Bewegung, und es benutzt die inneren Energien von Abwehren,

Zurückrollen, Vorwärtsdrängen, Abwärtsdrücken und Abwärtsziehen (siehe

Seite 227). Das Pao Chuan konzentriert sich auf die diagonale Bewegung

von Kraft in alle Richtungen und auf sich explosiv vorwärts bewegen-

de Kraft. Der innere Druck, den diese Bewegung im Körper auslöst, hat

über seine grundlegende Chi-Wirkung hinaus einen direkten und posi-

tiven Einfluss auf das Herz und den Herzbeutel. Pao Chuan wird durch

das Feuerelement repräsentiert und konzentriert sich auf explosive und

schnell oszillierende Freisetzung von Kraft. Im Pao Chuan verteidigt eine

Hand anfänglich und verschiebt das Gleichgewichtszentrum des Gegners.

Sobald die zuschlagende Hand Ihres Gegners durch das Pao Chuan oder

die Hämmernde Faust Ihrer oberen Hand neutralisiert wurde, greift Ihre

andere Hand in einem völlig fließenden Übergang an.

Beim Pao Chuan ist die obere verteidigende Hand der wichtigste Teil

der Technik, und es ist besonders schwierig, diesen Teil zu meistern. Oft

werden die obere Hand, der Unterarm und der Ellbogen dazu benutzt,

den Arm oder das Bein eines Gegners aus dem Weg zu räumen. Durch

die dadurch erzeugte Lücke schlägt man den Gegner dann zum Abschluss

der Bewegung mit der Hämmernden Faust. Wenn der obere Arm abwärts

geht, wird eine Hammerfaust oder Rückwärtsfaust auch dazu benutzt,

sich entweder zu verteidigen oder den Körper des Gegners mit einer dem

Pi Chuan ähnelnden Einwärtsbewegung zu treffen. Ein Teil der Intention

des Pao Chuan besteht darin, fähig zu sein, mit der schlagenden Hand

augenblicklich in schnellen Hieben, die wie ein Feuer die kleinen Löcher

in der Abwehr Ihres Gegners finden, zu explodieren. Diese Hiebe, die

ohne physische Anspannung ausgeführt werden, benutzen oft die innere

Technik der „Seidenarme", bei der die Arme die Richtung so leicht ändern

und sich so geschmeidig bewegen können wie ein im Wind flatterndes

Seidenbanner. Beim Pao Chuan kann die untere Hand entweder vorwärts

oder aufwärts schlagen. Der Hieb ist jedoch nicht derselbe wie beim Beng

Chuan. Er fühlt sich vielmehr leichter an als Beng Chuan und benutzt

eher eine vibrierende als eine sich ausdehnende Kraft, um zum Gegner

durchzudringen und ihn zu Boden zu schlagen.

298

Kreuzende Faust (Heng Chuan) Beim Heng Chuan konzentriert sich die

körperliche Bewegung auf die Innenseite der sich horizontal bewegenden

Faust. Was die Fünf Elemente angeht, ist es am schwierigsten, Heng Chuan

gut auszuführen. Heng Chuan konzentriert sich auf sich horizontal bewe-

gende Energie und führt die Energien und Anwendungen der ersten vier

Elemente (Pi Tsuan, Beng und Pao) zu einer nahtlosen Technik zusammen.

Der innere Druck, den Heng Chuan im Körper auslöst, hat über seine

grundlegende Chi-Wirkung hinaus einen direkten und positiven Einfluss

auf die Milz. Es wird durch das Erdelement repräsentiert und konzentriert

sich darauf, die wechselseitigen Verbindungen zwischen der rechten und

der linken Seite des Inneren der Bauchhöhle zu straffen.

Man sagt, dass viele Ausübende des Hsing-I zehn Jahre bräuchten,

um das Heng Chuan gänzlich zu begreifen. Wenn man nämlich die inne-

re Mechanik der ersten vier Elemente zuvor nicht vollständig begriffen

hat, dann fehlen diesem fünften und letzten Hieb bei der Ausführung

stets wichtige Eigenschaften. Die wechselseitige Beziehung zwischen den

Händen des Heng Chuan ist stark zirkulär, während sie sich in entgegen-

gesetzte Richtungen horizontal über den Körper hinweg bewegen. Wenn

man einen erfahrenen Ausübenden beobachtet, ist dies jedoch nur schwer

wahrnehmbar. Der grundlegende Hieb kombiniert die sich ausdehnende

Aktion eines geraden, dem Beng Chuan ähnelnden Hiebes mit den dre-

henden Seitwärtsbewegungen des Tsuan Chuan und mit einwärts und

auswärts gerichteten Kreuzblockaden. Die beiden Hände machen dabei

Kreise in entgegengesetzter Richtung. Wenn Heng Chuan unvollständig

ist, dann ähnelt seine Formbewegung oft der Karate-Blockade mit der

Daumenseite des Unterarms.

In der Anwendung wird Heng Chuan benutzt, um den Körper von

Gegnern zu umgehen und sie von der Gegenseite zu treffen. So beginnt

zum Beispiel, ohne dass die Füße sich bewegen, Ihre Hand vor der rechten

Hüfte des Angreifers, schlägt ihn jedoch auf seine linke Niere, während

Sie sich in der Taille drehen. Aus der Sicht eines fortgeschrittenen Prak-

tizierenden des Hsing-I ist die blockierende und ziehende Hand des Heng

Chuan schwieriger zu meistern als die angreifende Hand, weil sie letztlich

viele innere Verbindungen aufschließt, die es möglich machen, dass die

Tierformen ihre volle Anpassungsfähigkeit erreichen können. Allein daran,

wie ein Ausübender das Heng Chuan ausführt, kann ein Meister des Hsing-

I oft schon sehen, wie weit der in das System des Hsing-I eingedrungen

ist. Auch wenn Heng Chuan, was die Erzeugung voller Kraft angeht, die

299

am schwierigsten zu beherrschende Technik der Fünf Elemente ist, macht

sie es doch möglich, alle anderen Hsing-I-Techniken zu verbessern, wenn

man sie erst einmal gemeistert hat.

San Ti

Im Zentrum der Kampfpraxis des Hsing-I und seiner Fünf Elemente steht

San Ti, die „Dreifältige Positur". Man führt San Ti aus, indem man mit

erhobenen Armen eine statische Standpositur beibehält. In den klassischen

Schulen des Hsing-I wird die Positur in Pi Chuan beibehalten, dem ersten

der Fünf Elemente. Unter allen Schulen des Hsing-I legt das I Chuan den

größten Wert auf San Ti.

Es gibt eine verbreitete Geschichte über die besten Adepten des Hsing-I,

die besagt, dass sie alle drei bis fünf Jahre lang San Ti üben mussten,

bevor ihnen irgendetwas anderes beigebracht wurde. Oft wird eine solche

Anforderung für eine nutzlose Art der Verschleierung gehalten. Dieser

Prozess des Stehens stellt jedoch das fundamentalste Krafttraining im

Hsing-I dar, und ohne das San Ti kann die Übung der Fünf Elemente und

der Tierformen leicht zu etwas werden, das nicht mehr ist als Bewegungen

nach der Art des Shaolin mit nur sehr geringer innerer Kraft.

Ohne die innere Kraft verliert das Hsing-I seinen legitimen Anspruch,

im Rahmen der Kampfkünste etwas Besonders darzustellen, denn seine

Kampfanwendungen beruhen auf eben dieser Kraft. Ein gutes klassisches

Hsing-I wendet gewöhnlich die Methode an, zuerst ein gutes Maß an

innerer Kraft zu entwickeln, bevor die Kampfanwendungen, mit denen

diese Kraft umgesetzt wird, sehr sorgfältig erlernt werden, während man

die innere Kraft gleichzeitig weiter aufbaut. Die meisten äußeren Kampf-

künste konzentrieren sich zuerst auf die Fähigkeit, sich gut zu bewegen,

und entwickeln dann die Kraft. Im Gegensatz dazu konzentriert sich das

Hsing-I darauf, zuerst die Kraft zu entwickeln und danach zu lernen, sich

gut zu bewegen, wozu auch die Verfeinerung und Anwendung von Kampf-

winkeln gehört. Das Hsing-I hat eine geringere Zahl von Bewegungen als

das Tai Chi oder das Ba Gua (und natürlich auch die meisten Systeme des

Shaolin), aber es legt Wert darauf, dass jede Technik aus seinem begrenzten

Repertoire wirklich zählt.

300

Was das San Ti lehrt

Von seinem Wert für die Kampfkunst einmal abgesehen, lehrt das San Ti

auch den Geist zu beruhigen und ihn von angesammeltem Stress zu befrei-

en. Der Prozess, den das San Ti in Hinsicht auf das innere Gleichgewicht,

die Gesundheit und die Heilung in Gang setzt, wird durch die Übung der

Fünf Elemente ausgeweitet und findet darin seine Erfüllung. Die primäre

energetische Funktion des zum Metallelement gehörenden Pi Chuan ist

zum Beispiel, Energie in die Lunge zu bewegen. So haben das Ausbreiten

der offenen Handfläche und das Ausstrecken der Finger im Pi Chuan den

Effekt, die Lungen zu öffnen, so dass der Rest des Körpers viel Sauerstoff

zugeführt bekommt.

Jede der Energien all Ihrer inneren Organe breitet sich über die in der

Akupunktur benutzten Meridianlinien bis in Ihre Finger und Zehen aus.

Wenn Sie also Ihr Chi kräftig in Ihre Fingerspitzen und Zehen lenken,

dann werden damit gleichzeitig Ihre inneren Organe energetisch stimu-

liert. Damit gewinnen Sie wiederum an Kraft. Wegen dieser Wirkung wird

Pi Chuan die „Mutter der Fünf Elemente" genannt. Es ist der Brunnen,

zu dem die Praktizierenden des Hsing-I immer wieder zurückkehren, um

ihre Kraft aufzufüllen (wie es die Ausübenden des Ba Gua mit der „Ersten

Hand" tun).

Man kann das Pi Chuan oder die Hackende Faust, das erste der Fünf

Elemente, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. In seinem Bewe-

gungsaspekt zum Beispiel stellt es eine vollständige Kampftechnik dar. In

seiner Abschlusspositur jedoch, die oft unbewegt für längere Zeit beibe-

halten wird, wird es San Ti oder „das Pi Chuan halten" genannt. In der

I-Chuan-Schule ist das San Ti jedoch nicht eine Positur, die beibehalten

wird, sondern hat acht verschiedene stehende Posituren, die den Kern

des I-Chuan-Systems bilden. Beim San Ti geht es um das Kultivieren von

fünf wesentlichen Prozessen: 1. Atmung; 2. Beine und Taille; 3. Arme

und die Vereinigung der Prozesse im eigenen Inneren, und zwar sowohl

4. Äußerlich, als auch 5. Innerlich.

Atem Wie beim Hsing-I im Allgemeinen, werden auch beim San Ti die

unterschiedlichsten Atemtechniken verwendet. Die Arbeit mit dem Atem

beginnt mit dem regulären daoistischen Atemtraining, welches das Atmen

aus dem Unterbauch, den Seiten, Nieren, dem Rücken und der Wirbelsäule

betont. Beim regulären daoistischen Atmen dehnt sich der Bauch beim

Einatmen aus und zieht sich beim Ausatmen zusammen. Später wird die

reguläre Atemarbeit durch die Anwendung der geistigen Intention ausge-

weitet, wodurch die Atemenergie in fortschreitend kraftvollen Sequenzen

in bestimmte Körperregionen hineingelenkt und wieder herausgezogen

wird. Jede Ebene der Atemarbeit muss erst einmal stabilisiert werden, be-

vor man zur nächsten übergehen kann. Geschieht das nicht, dann werden

Sie nach einigen weiteren Schritten in der Progression der Atemarbeit

finden, dass es Ihnen sehr schwer fällt zur nächsten Ebene der inneren

Kraft fortzuschreiten, weil Ihr Fortschritt sehr stark durch Begrenzungen

eingeschränkt wird, die sich Ihren Energiekanälen durch die frühere un-

vollständige Praxis eingeprägt haben. Um von einer Form der Atemarbeit

zur nächsten fortschreiten zu können, sollten Sie von einem erfahrenen

Lehrer geführt werden, der selber den gesamten Prozess durchlaufen und

dessen Resultate erfahren hat und der in der Lage ist, die Nuancen der

Entwicklung der inneren Energie in Ihrem Körper zu erkennen.

Zum nächsten Stadium gehört das Erlernen der verschiedenen Ebenen

der Atemumkehrung und der Wirbelsäulenatmung, wozu auch die Ko-

ordinierung des Atems mit Bewegungen innerhalb der Gelenke und der

Wirbelsäule gehört sowie mit der Bewegung der inneren Organe in die

verschiedensten Richtungen. Zum letzten Stadium der Atempraxis ge-

hört das Gefühl, alle Empfindung eines körperlichen Atmens zu verlieren,

obwohl die Atemprozesse sehr stark sind. Sie sind dann nicht mehr des

Einströmens von Luft in Ihr System und des Ausströmens von Luft gewahr,

sondern Ihr Gewahrsein verschiebt sich ganz und gar hin zu der Bewegung

von Chi, zuerst innerhalb Ihres Körpers und dann außerhalb ihres Körpers,

während die Empfindung eines physischen Atems wegfällt.

Beine und Taille Das San Ti entwickelt Ihre Fähigkeit, ihre Energie zu

verwurzeln und Gleichgewicht in Ihren Beinen zu erzeugen und/oder zu

verstärken. Während Sie lernen, das Chi in ihr Unteres Dantien abzusenken,

wird sich Ihr Körper (unabhängig von Ihrer Statur und Ihrem Körperge-

wicht) für jemanden, der Sie berührt, immer schwerer anfühlen. Wenn

Sie das Absenken des Chi und all die anderen Techniken der Erdung erst

einmal beherrschen, wird Ihr Körper allmählich außerordentlich stabil, ob

er nun von vorn, von der Seite oder von hinten getroffen wird. Gegenü-

ber einem Frontalangriff stark und stabil zu werden, ist gewöhnlich der

erste Schritt. Dann kommt die Stärke in die Seiten und schließlich - was

am schwierigsten zu verwirklichen ist - in den Rücken. Ein Teil dessen,

302

was Sie dabei lernen, ist die zusätzliche Fähigkeit, die Kraft eines Sie

treffenden Hiebes oder einer Berührung in den Boden abzuleiten. Beim

Körperkontakt wird ein Teil der Kraft oder die gesamte Kraft des Hiebes

statt Sie zu verletzen über den Körper verteilt und durch ihn hindurch in

den Boden abgeleitet.

Wenn die Flexibilität Ihrer Beine und Hüften zunimmt, ist es Ihnen mög-

lich Ihre Standpositur mühelos zu erhöhen oder abzusenken. Als nächstes

werden dann die inneren Methoden zur Entwicklung von Kraft in den

Beinen angewendet. Danach erlernen Sie Techniken zur Vereinigung Ihrer

Beine, Hüfte und der Wirbelsäule zu einem untrennbaren Ganzen, das in

seiner einheitlichen Kraft keine energetischen Lücken und keine physischen

Schwächen mehr aufweist.

Schließlich werden Ihre Beine und Ihre Hüfte darauf hin trainiert, sich

horizontal wie ein gut geöltes Rad verdrehen und rotieren zu können,

wobei die Kraft der einen Komponente die der anderen verstärkt. Wenn

alles vollständig „gut geölt" ist, dann können Sie sich extrem schnell in

der Hüfte nach rechts wie nach links drehen, ob Sie nun vorder- oder

rücklastig sind.

Arme Wenn Ihre Beine und Ihre Hüfte erst einmal stabilisiert sind, so

dass Sie eine feste Grundlage haben, auf der Sie stehen können, dann

besteht die nächste Phase darin, Ihren Armen von den Schultern bis zu

den Fingerspitzen sowohl angriffsorientierte als auch defensive Kraft ein-

zuflößen. Dabei werden anfänglich die Ellbogen, die Unterarme und die

Hände besonders beachtet. Um diese Art von Kraft zu trainieren, lernen

Sie zuerst, Ihre Arme zu entspannen und all die weichen Gewebe in Ihrem

Körper, von der Wirbelsäule bis zu Ihren Armen, zu verlängern. In diesem

Prozess ist das Beugen der Ellbogen mit entspannter Stärke wesentlich

für den letztendlichen Erfolg. Als nächstes muss der Energiefluss aus der

Wirbelsäule in Ihre Fingerspitzen kontinuierlich und lückenlos werden.

Dieser Fluss muss so stark werden, dass das Chi in Ihren Handflächen

und Fingerspitzen voll und extrem greifbar wird, was auch eine starke

Durchblutung mit sich bringt. Je stärker die Durchblutung Ihrer Finger ist,

desto weicher und voller sollten sich Ihre Hände anfühlen.

Im nächsten Stadium konzentrieren Sie sich darauf, vertikal abwärts

gerichtete Kraft in Ihre Ellbogen zu bringen. Indem dieses Training fort-

schreitet, werden Ihre Arme schwer, äußerst lebendig und fähig, auf äußere

Reize zu reagieren. Hat die Stärke der Ellbogen zugenommen und Ihre Arme

303

sind schwer geworden, dann verschiebt sich die Aufmerksamkeit hin zur

Entwicklung der Fähigkeit Ihrer Hände, Energie zu absorbieren und zurück

in Ihre Wirbelsäule zu lenken. Im Verlauf dieses Prozesses konzentrieren

Sie sich darauf, den klauenartigen Griff des Hsing-I zu perfektionieren.

Ist all dies erst einmal erreicht, dann verschiebt sich Ihre Intention

erneut, und zwar jetzt darauf, die Haut Ihrer Arme extrem sensibel für

subtilste Luftbewegungen zu machen. Diese Sensibilität ist ein Vorläufer

der Fähigkeit, während der Kampfanwendungen die Arme und den Kör-

per Ihres Gegners zu spüren. Schließlich lernen Sie, durch verschiedene

Formen der Ausrichtung Ihres Geistes, Kraft mit Ihren Händen Kraft zu

absorbieren und zu projizieren, indem Sie verschiedene innere Techniken

wie das Öffnen und Schließen und bestimmte Drehungen anwenden.

Die äußerlichen körperlichen Verbindungen vereinen Ein anderes we-

sentliches Ziel des San Ti ist, Ihren physischen Körper zu einem einheit-

lichen Ganzen zu verbinden. Eine solche Vereinigung macht es möglich,

dass die Bewegung jedes kleinen Teils Ihrer Arme oder Beine voll und

ganz vom gesamten Körper unterstützt wird, so dass die Kraft der kleinen

Körperteile beträchtlich verstärkt wird. Zum Erreichen dieses Ziels werden

verschiedene Methoden benutzt. Die erste davon beinhaltet, dass Sie all Ihre

Ausrichtungen durch das Innere des Körpers hindurch miteinander ver-

binden. Dazu gehört die Fähigkeit, die verschiedenen weichen Gewebe, die

Gelenke und die Knochen so aufeinander abzustimmen, dass sie wechsel-

seitig miteinander verbunden werden und sich gegenseitig verstärken. Auf

diese Weise erhöhen Sie die Fähigkeit Ihres Körpers, Kraft zu absorbieren

und zu projizieren. Diese Ausrichtungen werden übrigens gleichermaßen

in den inneren Kampfkünsten Tai Chi und Ba Gua benutzt.

Das Hsing-I konzentriert sich besonders auf die sechs äußeren Koor-

dinationen oder Kombinationen des Körpers, die im Chinesischen Liu He

genannt werden. Diese sechs sind Schulter und Hüfte, Ellbogen und Knie

sowie Hand und Fuß. Die meisten Menschen, die über das Hsing-I lesen

oder es sogar praktizieren sind der Ansicht, diese sechs Kombinationen

seien grobe anatomische Verbindungen. Tatsächlich jedoch verbindet sich

jeder kleine Abschnitt des Arms oder des Beins mit jedem anderen kleinen

Abschnitt des korrespondierenden Beins oder Arms oder mit korrespon-

dierenden Teilen des Rumpfes sowie korrespondierenden Teilen des Unter-

arms/der Wade beziehungsweise des Oberarms/Oberschenkels des Übenden.

Diese Körperteile müssen so fein aufeinander abgestimmt werden, dass

304

dann, wenn sich eines davon um Bruchteile eines Zentimeters bewegt,

der damit korrespondiere Körperteil sich um genau dieselbe proportionale

Distanz bewegt. Jeder Druck, der auf irgendeine Stelle des Körpers ausgeübt

wird, wird dann augenblicklich von dem korrespondierenden Körperteil

gekontert und verstärkt.

Über die inneren Ausrichtungen und die sechs Kombinationen hin-

aus hat das Hsing-1 auch noch verschiedene Hebungen, Senkungen und

Krümmungen des Körpers mit dem Tai Chi und Ba Gua gemeinsam. Da

die Bewegungen im Hsing-I jedoch relativ linear ausgerichtet sind, kommt

diese Geradlinigkeit im Hsing-I stärker zum Ausdruck als in den Kampf-

künsten des Tai Chi und Ba Gua, die kreisförmige oder spiralige Bewe-

gungen stärker betonen.

Hebungen des Körpers beziehen sich auf folgende Bereiche: die Ober-

seite der Hüften, die Rückseite der Knie, das Zwerchfell, die Wirbelsäule,

die Oberseite der Unterarme, den Nacken und den Scheitel des Kopfes. Im

Hsing-I wird der Nacken auf stärker betonte Weise und mit offensichtli-

cherer Kraft angehoben als im Tai Chi und Ba Gua. Dieses Anheben ist

ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung der Kraft des Abwehrens (siehe

Seite 210) im Hsing-I. Das Absenken des Körpers geht von den Schultern

zu den Hüften, den Ellbogen zu den Knien, den Handgelenken zu den

Fußgelenken, der Brust zum Unteren Dantien, den Rippen zu den Hüften,

dem Steißbein zum Punkt „Sprudelnde Quelle" im Fußballen und von dort

in den Boden und von den Füßen bis zum Ende des ätherischen Körpers

unter den Füßen.

Diese Absenkungen sind integraler Bestandteil der Entwicklung der

Energie des Abwärtsdrückens (siehe Seite 223) im Hsing-I. Zu den Krüm-

mungen des Körpers gehören: die Schultern vorwärts und rückwärts, die

weichen Gewebe von der Wirbelsäule bis zur vorderen Mittellinie des

Körpers in beiden Richtungen, die Schultern zur Mittellinie des Körpers,

die Rippen zum Brustbein, die Oberschenkel und Waden leicht nach innen,

die Handflächen leicht nach vorn, gleichzeitig die Innenseite des Daumens

und des kleinen Fingers aufeinander zu und die Außenseite der Nägel

voneinander weg.

Den Blick benutzen um die inneren Verbindungen zu vereinen Zum

nächsten Stadium des San Ti gehört die Vereinigung des Geistes mit dem

Blick der Augen und dem Gewahrsein. Dabei geht es darum, dass Sie

Ihre physische Kraft, Ihr Chi, Ihren Geist und Ihre Wahrnehmungen zu

305

einer einheitlichen Ganzheit vereinen. Das wird trainiert, indem Sie Ihren

Blick auf den Zeigefinger oder Mittelfinger Ihrer Führungshand fixieren.

Sie können entweder in weite Ferne starren oder in mittlere Distanz bis

zu einer Entfernung von zehn bis zwölf Meter. Während Sie so starren,

atmen Sie ein. Beim Einatmen ziehen Sie Energie mit Ihrer Intention aus

der Entfernung zu Ihrem Zeigefinger hin und dann durch den Zeigefinger

zu ihrer Nase, in den Rachen und den Zentralkanal hinab (siehe Seite 527)

in Ihr Unteres Dantien. Beim Ausatmen kehren Sie den Pfad Ihres Atems

um. Die Übung hat mehrere Wirkungen.

Wenn Sie Ihren Blick in Koordination mit Ihrem Atem schulen, dann

lernen Sie, die Lücken im Gewahrsein auszuräumen, zu denen es oft kommt,

wenn Sie einen Gegner ansehen oder ein Schlachtfeld, auf dem Sie kämp-

fen, betrachten. Diese Lücken erzeugen die mentalen Zustände, in denen Sie

abgelenkt werden, zögern oder von Finten oder plötzlichen Bewegungen

Ihres Gegners in die Irre geführt werden könnten. Durch diesen Prozess

wird Ihr Blick mit Ihrem Atem verknüpft. Dadurch erlangen Sie allmählich

die Fähigkeit, gleichzeitig das Chi Ihres Körpers und die Energie, die sich

in Ihrem Unteren Dantien befindet, zu spüren. Wenn die vier Qualitäten

von Atem, Chi, Fühlen und Sehen als einheitliches Ganzes fungieren, dann

werden Ihr Gewahrsein und Ihre Kraft automatisch überall dorthin folgen,

wohin Sie Ihren Blick richten.

Die Übung mit dem Blick öffnet auch Ihre periphere Wahrnehmung und

verstärkt diese. Durch die Form der Übung werden Sie schließlich in der

Lage sein, mit völlig entspanntem und ausdruckslosem Gesicht geradeaus

einen Gegner anzusehen, während sich Ihr Blickfeld vom Boden bis weit

über Ihre Kopfhöhe und so weit nach beiden Seiten, wie physisch irgend

möglich, erstreckt. Diese Ausdehnung der peripheren Wahrnehmung ist

wesentlich für den Kampf mit mehreren Gegner. Wäre Ihr Blick durch

Anspannung verengt, dann würde das Ihr Vermögen einschränken, sich

augenblicklich auf neue taktische Umstände einzustellen, die entweder in

Ihrer Umgebung oder aus Aktionen Ihrer Gegner entstehen.

Diese Technik des Blickens sensibilisiert den Geist und macht ihn le-

bendig und ruhig, voller entspannter Konzentration, wie es auch von der

Tradak genannten Übung des Anstarrens einer brennenden Kerze im Yoga

erreicht wird. Wird diese Technik hinreichend praktiziert, dann führt sie

zu einer Erweiterung des Bewusstseins, so dass dieses sich direkt mit dem

zentralen Nervensystem verbinden kann, was Ihnen erlaubt, das Chi Ihres

Körpers mit größerer Klarheit zu fühlen.

306

Meine Reise durch die Kampfkünste

Blicken

Ich erlebte die Auswirkungen der Methode des Blickens

zum ersten Mal im Jahre 1974, als ich in der Schule von

Hung I Hsiang in Taipei trainierte. Zu jener Zeit fand

der Unterricht auf dem Zementfußboden der Turnhalle

einer Volksschule statt. Ich kam oft schon eine Stunde,

bevor der Unterricht begann, um dort im Lichte einer einzelnen Glühbirne

barfuss San Ti zu üben, bevor die anderen ankamen.

Eines Tages, nachdem ich bereits länger als eine halbe Stunde durch mei-

nen Zeigefinger geatmet hatte, schien meine gesamte Aufmerksamkeit

unwillkürlich zu dem Raum vor mir, in den ich hineingestarrt hatte, hin-

gezogen zu werden. Der Raum begann sich zu verändern. Bald begann

meine visuelle Sinneswahrnehmung des Raums zu verschwinden, und

kurz darauf begannen auch mein Zeigefinger, meine Hand und schließ-

lich mein ganzer Körper zu verschwinden, während mein Bewusstsein

sich dramatisch ausweitete. Ich fühlte mich, als hätte mein Geist keinerlei

Grenzen mehr, nur ein kristallklares Gewahrsein. Alls nächstes begann

das Innere meines Körpers sich anzufühlen, als sei es ohne jegliche Sub-

stanz. Auch dies veränderte sich. Während ich mich jeder körperlichen

Empfindung entleert fühlte, erfuhr ich das Innere meines Körpers gleich-

zeitig als bloße lebendige Energie, die direkt mit meinen Händen und der

Ausdehnung meines Inneren verbunden war. Als nächstes wurde alles

leer von jeglicher irgendwie gearteten Empfindung, wobei mein Geist sich

völlig wohl fühlte und völlig einverstanden war mit dem Ort, an dem er

sich befand: Ich verspürte keinerlei Bedürfnisse mehr und nicht den ge-

ringsten Wunsch, irgendwohin zu gehen.

Plötzlich kehrte mein Geist zu seinem normalen Gewahrsein zurück. Nach

dieser Erfahrung begann mein Körper immer mehr dessen gewahr zu wer-

den, wie mühelos die Chi-Energie durch meinen Körper zirkulierte, wenn

ich San Ti (oder irgendeine andere Hsing-I-Bewegung) übte. Einige Jahre

späterer berichtete ich meinem Kundalini-Yoga-Lehrer in Indien von die-

ser Erfahrung und fragte ihn, was da geschehen sei. Hatte diese Erfahrung

irgendetwas mit Meditation zu tun? Er sah mich eine Weile an und erklär-

te dann, dies sei eine Erfahrung der ersten Stufe von Samadhi gewesen,

der transzendentalen Versenkung in das Absolute, wie es im Tantra und

im Yoga beschrieben wird.

307

Wenn die erste Phase der Arbeit mit dem San Ti abgeschlossen ist, kann

der ernsthafte Schüler beginnen, die Kampftechniken des Hsing-I Chuan

zu erlernen. Doch ganz gleich wie lange jemand bereits Hsing-I praktiziert,

er sollte die Praxis des San Ti niemals aufgeben.

Die Tierformen

Es gibt zwölf grundlegende Tierformen; allerdings mögen einige Schulen

des Hsing-I einige Formen mehr oder weniger benutzen. Oft kommt es

vor, dass dieselbe Tierform in verschiedenen Schulen verschiedene Namen

hat.39 Die Tierformen werden alle aus den Fünf Elementen erzeugt; sie sind

Ausdruck der ganzen Vielfalt an physischen Möglichkeiten, die in den

Fünf Elementen enthalten sind. Zum Beispiel:

1. Das Schlagen oder Hacken mit einer Hand könnte in den Formen

des Tigers und des mythischen Tai-Vogels zu einem doppelten Hieb

oder einem doppelten Hieb mit der Handfläche werden.

2. Schläge oder Handflächenhiebe, bei denen normalerweise beide

Hände vor dem Körper sind, könnten mit einer Hand auf der Seite

des Körpers oder hinter dem Körper ausgeführt werden, wie es bei

der Schwalbe und dem Drachen der Fall ist.

3. Der Pao-Chuan-Hieb, der normalerweise vom hinteren Bein aus

ausgeführt wird, wird auf dem vorderen Bein ausgeführt wie in

einigen Pferd- und Spatz-Formen.

4. Die grundlegende hackende Aktion des Pi Chuan wird beim Drachen

im Sprung ausgeführt.

Die Prinzipien der Fünf Elemente werden in unterschiedlichen Standposi-

turen und mit unterschiedlicher Fußarbeit ausgeführt. Zum Beispiel:

1. In hockender Standposituren in der Schlange.

2. Beim In-die-Luft-Springen und Herumwirbeln im Affen.

3. Mit vom Boden abgehobener hinterer Ferse im Adler.

4. Beim Zum-Boden-Sinken in der Schwalbe und im Drachen.

5. Während man auf einem Bein steht und das andere Bein hoch in

die Luft erhoben hat, wie in einigen Formen der Schwalbe oder des

Kranichs.

39 Zu den Tierformen im Hsing-I gehören Tiger, Pferd, Bär, Affe, Schlange, Wasserläufer,

Huhn, Auster, Falke, Spatz, Kranich, Adler, Drache, Tai-Vogel und Einhorn, doch dies

sind nicht alle Formen.

308

Die hier abgebildete Hsing-I-Drachen-

form verwendet die grundlegende

Fünf-Elemente-Technik deT Hacken-

den Faust, die sowohl bei einem

Sprung als auch in der Bodenhocke

ausgeführt wird. Der Drachen wird

sehr oft in den Bodenkampftechniken

des Hsing-1 verwendet.

Beim Hsing-I-Training für An-

fänger lernen alle Schüler zuerst

einmal die Tierformen, um damit

ihr Wissen um die Fünf Elemente

zu vertiefen und auszubalancieren,

um ihr Repertoire an Kampftech-

niken zu erweitern und um die

Fähigkeit zu erlangen, körperliche

Bewegung aus der bloßen mentalen

Intention heraus zu erzeugen. Das

mentale Training ist in den Tier-

formen besonders wichtig, sowohl

was die Entwicklung der Intention

und grundsätzlicher Kampfstrate-

gien angeht als auch in Hinsicht

auf einen Bewegungsstil, der den

ganzen Körper einbezieht.

Auch wenn die Schüler zuerst

alle Tierformen erlernen, finden

die meisten von ihnen im nächsten

Stadium, das es ihnen mehr bringt,

wenn sie sich auf einige wenige

dieser Formen konzentrieren, die

ihrer Veranlagung, ihrem Körperbau oder ihrem natürlichen mentalen oder

emotionalen Temperament entsprechen. Diese Formen werden dann so

lange geübt, bis sie in das Nervensystem des Übenden eingeprägt sind.

Mehr über die Fünf Elemente und die Tierformen In der grundlegenden

Hsing-I-Praxis werden alle Handtechniken der Fünf Elemente anfänglich

auf einer Höhe ausgeführt, gewöhnlich auf der Höhe des Kopfes oder mitt-

lerer Rumpfhöhe. Später jedoch werden alle diese Handtechniken sowohl

in den Formbewegungen als auch in den Kampfanwendungen auch in

der oberen, mittleren unteren Höhe des eigenen Körpers und des Körpers

des Gegners ausgeführt. Alle Bewegungen des Hsing-I, sowohl in den

Fünf Elementen als auch in den Tierformen, haben gewisse Eigenschaften

gemeinsam.

Alle Techniken sind zur Mittellinie des Körpers orientiert, sowohl im

Angriff als auch in der Verteidigung, und alle benutzen sowohl regelmä-

309

ßige als auch gebrochene Rhythmen. In den Methoden mit regelmäßigem

Rhythmus werden die Körper- und Handbewegungen in sich ständig be-

schleunigenden trommelnden Kadenzen ausgeführt, so dass der Gegner, der

einfach nicht mehr mitzuhalten vermag, auf diese Weise überwältigt und

besiegt wird. Gleichmäßige Rhythmen werden gewöhnlich angewendet,

wenn der Gegner sich zurückzieht.

Methoden des gebrochenen Rhythmus werden im Gegensatz dazu im

Hsing-I sehr viel häufiger angewendet. Beim gebrochenen Rhythmus wird

dasselbe Muster nicht zweimal angewendet. So nehmen Sie dem Gegner die

Möglichkeit, Ihre Bewegungen vorauszusehen und deshalb auf Basis der

innerhalb des jeweiligen Rhythmus als nächstes zu erwartenden Bewegung

eine entsprechende Verteidigung aufzubauen. Wenn Ihr Gegner nicht weiß,

was als Nächstes kommt, sei es nun im Angriff oder in der Verteidigung,

dann gewinnen Sie damit einen strategischen Vorteil. Im Hsing-I (und nicht

nur dort, sondern auch in allen anderen inneren Kampfkünsten) gehört es

zum grundlegenden Mechanismus des Timings, dass der Ausübende sich

auf den „stillen" Raum zwischen den Taktschlägen der Bewegungen und in

Die grundlegende Fünf-

Elemente-Technik Heng

Chuan oder Kreuzende

Faust.

310

der Intention des Gegners konzentriert. Es geht also nicht so sehr darum,

sich auf den Rhythmus des Angriffs oder der Verteidigung des Gegners

selbst zu konzentrieren.

Diese wichtige Frage des Timings ist ein weiterer Grund dafür, dass die

Stille des Geistes in den inneren Kampfkünsten so hoch geschätzt wird.

Diese Stille ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass man sich heimlich

und wirkungsvoll in diese Lücken zwischen den Taktschlägen einschlei-

chen kann. Die Methode des gebrochenen Rhythmus im Hsing-I macht es

nötig, dass der Geist und das zentrale Nervensystem eine Mikrosekunde

zu warten vermögen, bevor sie aktiv werden, um den Rhythmus der je-

weiligen Kampfhandlung zu unterbrechen. Der Ausübende einer inneren

Kampfkunst wird es dem Gegner oft erlauben, zuerst anzugreifen, damit

er den richtigen Kampfwinkel für einen Gegenangriff einnehmen kann.

Das verlangt eine große Gelassenheit mitten im Kampf, eine Eigenschaft,

die durch die Übung des San Ti entwickelt wird.

In den Formen und Kampfanwendungen des Hsing-I bleiben Ihre Hände

stets ganz lebendig, indem die mentale Intention und das Gewahrsein in

beiden aufrechtet erhalten wird. Eine Hand macht keinerlei überflüssige

Bewegung, sei es um einfach die Biomechanik der anderen Hand zu kom-

plettieren, sei es in einer automatischen Bewegung des Zurückweichens.

Die Handtechniken verwenden selten peitschende Aktionen, bei denen die

Hände vorschnellen und dann in ihre ursprüngliche Positur zurückschnel-

len. Es ist vielmehr so, dass jede Handtechnik unerbittlich Zentimeter für

Zentimeter weiter vorangeht und in den Raum des Gegners eindringt.

Im Hsing-I werden Techniken des Zurückziehens ganz spezifisch dazu

benutzt, um einen nahenden Angriff zu neutralisieren, um einen Gegner

heranzuziehen oder an seiner Haut zu reißen. Jede Armpositur ist darauf

abgestellt, an jedem Punkt innerhalb des Bewegungsablaufs stabil sein

zu können, so dass es für Ihren Gegner schwierig oder unmöglich wird,

Ihre Arme zu bewegen, wenn Sie sie nicht bewegen wollen. Diese Technik

ist in der zu den Fünf Elementen gehörenden Hsing-I-Technik des Beng

Chuan oder der Zerschmetternden Faust wohl bekannt. Dieser Punkt der

Stabilität erlaubt es Ihnen auch, Ihre jeweilige Stellung zu behaupten.

Indem Ihre Arme im Raum fixiert bleiben, sind Sie in der Lage, die Arme

des Gegners physisch in eine von Ihnen gewünschte Position zu bringen;

Sie können die nahende Kraft eines Angriffs umlenken und Angreifer in

ihrer Bewegung zum Erstarren bringen, bevor sie ihren Angriff zu starten

vermögen.

311

In allen Handtechniken der Hsing-I-Form geht die Hand physisch von

einem Bereich in der Nähe des Unteren Dantien aus, wobei in jedem Mi-

krozentimeter der Bewegung eine starke Drehung des Arms angewendet

wird und die Drehung des gesamten Körpers im Moment des Einschlags

besonders beschleunigt wird. Die Hand kehrt dann dorthin zurück, von wo

sie ausgegangen war, nachdem die Füße sich über eine Entfernung von

einem halben Schritt bis hin zu mehreren Schritten bewegt haben. Alle

Handtechniken sind darauf angelegt, volle Kraft zu übertragen, entweder

aus dem totalen Stillstand oder aus einer Entfernung von weniger als zwei

Zentimeter vom Körper des Gegners. In all den spezialisierten Handtech-

niken sind die Ellbogen immer sehr wichtig, weil ihre Kraft dazu benutzt

wird, in das Vermögen Ihres Gegners, Kraft zu erzeugen, einzudringen und

es zu verringern (das nennt man in der Hsing-I-Terminologie „die Kraft des

Gegners abschneiden"). Die Kraft Ihres gesamten Körpers sammelt sich in

Ihren Händen; dieses Prinzip findet Ausdruck in dem bekannten Hsing-I-

Spruch: „Du trittst den Gegner mit deiner Hand." Bei einem fortgeschrit-

tenen Ausübenden des Hsing-I weitet sich diese Fähigkeit dahingehend

aus, dass er die vereinte Kraft seines ganzen Körpers in einem bestimmten

Körperteil seiner Wahl zu sammeln vermag.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Das Affenboxen

Ich wurde auf der High School zum ersten Mal von ei-

nem älteren Jungen aus Hongkong in die Technik des

Affen eingeführt. Ich half ihm, seine Prüfungen zu be-

stehen, und er revanchierte sich damit, dass er mir an-

bot, mich seine Kampfkunst zu lehren, und mir dann

auf dem Rasen des Central Parks unter Anwendung des Affen und des

Kantonesischen Weißen Kranich beinahe die Seele aus dem Leib prügelte.

Meine ersten Erfahrungen mit dem Affen ermöglichten mir, eine neue

Ebene des Abrollens, Fallens und der Bodentechniken im Judo, Jiu Jitsu,

Aikido und der Techniken für den Bodenkampf im Karate zu erreichen.

Später setzte ich mein Training des Affen zu verschiedenen Zeiten in

Taiwan fort.

Ich kann mich noch sehr lebhaft an die Affenboxer erinnern, die eines

grauen Nachmittags auf dem Rasen eines Parks in Taiwan trainierten.

Ein kleiner Mann mittleren Alters, der später mein Lehrer werden sollte,

312

sprang aus einer tiefen Hocke auf dem Boden hin und her, machte mit

geöffneten Händen vor seinem Gesicht Geräusche wie ein Schimpanse,

wobei er alle möglichen Grimassen schnitt und mit den Augen rollte. Sein

Gegner stand da, starrte ihn konzentriert an und machte sich bereit, ihn

gegen den Kopf zu treten. Als er gerade zum Tritt ansetzte, stellte der klei-

ne Mann auf dem Boden Augenkontakt zu ihm her und lenkte ihn durch

eine komische Grimasse ab. Während des Sekundenbruchteils der daraus

resultierenden Lücke in der Aufmerksamkeit des Angreifers, sprang der

kleine Mann auf ihn zu und machte einen Salto. Mit dem Kopf nach un-

ten ergriff er die Oberschenkel des Angreifers und trat ihm gleichzeitig

gegen den Kopf, was ihn völlig aus der Fassung brachte. Unmittelbar

darauf benutzte der Affenboxer die Beine, mit denen er getreten hatte,

um den Nacken seines Gegners zu würgen. Indem er den Nacken seines

Gegners fest umklammerte, beugte der Affenboxer dann mit einem hämi-

schen Lächeln seine Knie, zog seinen Bauch ein und warf seinen Gegner,

indem er dessen Kopf verbog. Beide Männer landeten hart auf dem Bo-

den, der Affenboxer über seinem Gegner und mit den Händen dazu bereit,

entweder die Leisten oder die Beinsehnen seines Gegners herauszureißen.

Wie in allen anderen Shaolin-Kampfkünsten gibt es auch beim Affen

nördliche und südliche Schulen. Ich hatte hauptsächlich mit dem nördli-

chen Stil zu tun, in dem es auch einige Chi-Gung-Techniken gibt. Einmal

abgesehen davon, dass der Affe sehr wirkungsvoll ist, war es vom Stand-

punkt der bloßen Freude an der Bewegung ein großer Spaß, diese Technik

zu lernen und zu praktizieren. Der Affe ist eine ziemlich paradoxe Kampf-

kunst: Einerseits hat er eine äußerst spielerische Seite, andererseits erhebt

er die Bösartigkeit zu einer geradezu teuflischen Kunstform.

Zu den brutalsten Techniken des Affen gehören Hiebe in die Augen, zum

Hals und in die Leiste, das Ausreißen der Arterien oder Sehnen des Geg-

ners mit den Zähnen oder Fingernägeln, spitze Hiebe und Risse mit den

Fingerknöcheln oder der Spitze des Ellbogens, Hiebe mit dem Handgelenk

und Schläge auf die Gelenke, insbesondere beim Kampf am Boden. Was

die spielerischere Seite angeht, bleiben die Praktizierenden des Affen stets

in Bewegung. Um den Gegner zu täuschen, kugeln sie geschmeidig über

den Boden, springen und ändern blitzschnell die Höhe der Kampfebene,

von der tiefen Hocke bis zum aufrechten Stand und zu Luftsprüngen. Zur

Methode des Affen gehört, sich in einer Art Versteckspiel ständig auf den

Gegner zu und wieder von ihm weg zu bewegen, was es schwierig macht,

den Affenkämpfer zu fassen zu kriegen, der die ganze Zeit emotionale

Tricks und ablenkende Grimassen benutzt.

Zu den Techniken des Affen gehören sowohl die Techniken auf längere

Distanz des klobigen Gorillas, dessen Hände bis unterhalb seiner Knie

313

herabhängen, als auch die Nahkampftechniken der kleineren Affen. In

dieser Kampfkunst werden Sprünge ebenso benutzt wie das Über-den-Bo-

den-Kugeln, im Angriff, um aus der Distanz an den Gegner heranzukom-

men, in der Verteidigung, um ihm zu entgehen. Hiebe und Tritte werden

sowohl bei der Annäherung an den Gegner als auch beim Rückzug ver-

wendet. Affenboxer lieben es auch, buchstäblich am Körper des Gegners

hinaufzuklettern. Nachdem sie sich an Ihren Körper angeklammert haben,

auf Ihren Schultern oder Ihrem oberen Rücken stehen, werden Affen-

kämpfer Ihren Kopf kontrollieren, Sie zu Boden werfen und dann rasch

den Angriff abschließen.

Meine Erfahrung mit dem Lernen der Technik des Affen war insofern be-

sonders hilfreich, weil sie mich immer wieder daran erinnerte, nie etwas

Bestimmtes zu erwarten; das unerwartete Moment ist ein wesentlicher

Bestandteil der Affentechnik, der stets bestrebt ist, seinen Gegner zu täu-

schen. Beim Erlernen des Affen wurde mir auch klar, wie effektiv man

Bisse und krallende Griffe oder Kratzen mit spitzen Nägeln anwenden

kann, besonders an verletzlichen Körperstellen. Als ich dann die inneren

Kampfkünste erlernte, achtete ich mehr darauf, wie ich mich defensiv auf

bestimmte Gefahren einstellen konnte, von denen viele Kampfkünstler

nichts wissen, und war mir bewusst, dass ich in meiner Wachsamkeit

nie nachlassen durfte. Der Affenstil zwang mich dazu, Gegenmaßnahmen

gegen Angriffe mit Bissen und reißenden Fingernägeln zu entwickeln.

Außerdem motivierte er mich dazu, weiter das Push Hands des Tai Chi

zu üben, und ließ mich darüber nachdenken, wie ich meine Bewegun-

gen so anpassen könnte, dass ich mich gegen Verletzungen durch üble

Tricks in Nahkampfsituationen schützen konnte. Da mir bewusst wurde,

wie geschmeidig Affenkämpfer sich aus allen Richtungen annähern und

wieder entfernen können, musste ich meine ganze Sichtweise erweitern

und konzentrierte ich mich im Training auf die absolute Notwendigkeit,

jemandem blitzschnell zu folgen, während ich bestimmte Techniken aus

dem Tai Chi oder Hsing-I anwendete.

Mir wurde auch deutlich, wie leicht ein Affenkämpfer in die Hocke gehen

oder sich rasch aufwärts und abwärts bewegen kann, so dass mir klar

wurde, wie wichtig es ist, die vertikalen Aktionen im Ba Gua zu entwi-

ckeln. Ich begann auch Tai-Chi-Techniken wie Schritt und Abwärtshieb

zu schätzen, weil man einen Affenboxer mit dieser speziellen Tai-Chi-

Technik zu Boden zwingen kann. Außerdem hilft sie einem, sich gegen

andere hervorragende Bodenkämpfer und Ringer zu verteidigen, die ei-

nen zu Boden ziehen und einem dort den Rest geben wollen.

Auch das Ba Gua kennt Techniken, sich gegen die Bösartigkeit des Affen

zu verteidigen. So können zum Beispiel die Fußarbeit des Ba Gua und

314

sein Vermögen, die Richtung zu wechseln, die extremen Bewegungen und

Täuschungsmanöver der Affenboxers neutralisieren. Das Ba Qua vermag

sich einfach noch schneller und in mehr Richtungen zu bewegen als der

Affe. Nachdem ich den Affen praktiziert hatte, war mit klar, dass ich

diese Techniken des Ba Gua brauchen würde, und ich übte sie deshalb

entsprechend eifrig. Das Training des Affenstils erinnerte mich daran, die

Techniken der vertikalen Bewegungen im Ba Gua nicht zu vernachlässi-

gen, und verbesserte meine Fähigkeit, schnell umzuschalten. Auf diese

Weise wurde, wie ich glaube, meine Kompetenz im Ba Gua insgesamt

verbessert.

Das Affenboxen umfasst auch großartige Bodenkampftechniken, die gute

Abwehrwaffen zum Kontern der Bodentechniken des Judo und des Rin-

gens darstellen. Außerdem war das Affenboxen ein guter Hintergrund

für meine spätere Beschäftigung mit den Acht trunkenen Unsterblichen

(siehe Seite 351).

Alle Handtechniken des Hsing-I werden mit verschiedenen Arten der Fuß-

arbeit, von der ganz schnellen bis zur ganz langsamen, ausgeführt. Dazu

gehören:

1. Wurmgehen Hier wird derselbe Fuß immer in der vorwärts gerich-

teten Position gehalten. Wenn man den vorderen Fuß bewegt, dann

bewegt sich auch der hintere Fuß, um genau den Platz einzunehmen,

an dem zuvor der andere Fuß stand. Das Wurmgehen wird im Zu-

sammenhang mit Schritten nach vorn, nach hinten, zur Seite und

in der Diagonale angewendet.

2. Reguläre Schritte Hierbei verändern der rechte Fuß und der linke

Fuß ihre Position vorwärts oder rückwärts mit jedem Schritt. Diese

Schritte können mit vorderlastigen oder rücklastigen Beinen aus-

geführt werden.

3. Halbschritte Halbschritte sind eine Art von Wurmgang, und sie

werden oft dazu benutzt, rasch zur Position eines Gegners voranzu-

gehen. Es gibt viele Arten von Halbschritten. Bei kurzen Halbschrit-

ten beträgt die zurückgelegte Distanz von nur wenigen Zentimetern

bis zu nicht mehr als sechzig Zentimeter. Bei langen Halbschritten

kann man mit einem einzigen Halbschritt bis zu zwei Meter oder

mehr zurücklegen. Bei beiden Varianten ist stets ein Fuß in Kontakt

mit dem Boden.

315

Springende Halbschritte Hierbei kann der Körper bis zu drei Meter

mit einem einzigen Halbschritt zurücklegen. Dabei scheinen die Füße

während des Sprungs ganz leicht gegeneinander zu treten, was den

Körper sehr weit in den Raum vorantreibt.

Fliegende Halbschritte Bei dieser Bewegung springt der Praktizie-

rende in die Luft und kommt in einer größeren Entfernung wieder

herunter. Diese Technik wird benutzt, um einem Gegner zu folgen,

der entweder in die Luft springt oder wegzulaufen versucht. Die

Technik wird sehr häufig mit Beng Chuan, einer der Techniken der

Fünf Elemente benutzt. (Im Allgemeinen benutzt das Hsing-I sehr

viel häufiger Halbschritt-Techniken als den regulären Schritt, oder

es vermischt beide Arten von Schritten bei der Anwendung einer

einzelnen Technik miteinander.)

Sieben-Sterne-Schritt Hier bewegen sich die Füße in einer Dia-

gonalen von 45 Grad in Relation zum Gegner, entweder vorwärts

oder rückwärts.

Rückwärtsschritte Rückwärtsschritte werden so ausgeführt, dass sie

einen vorwärtsgerichteten Angriff mit voller Kraft einleiten, sobald

der zurückgehende Fuß den Boden berührt.

Seitwärtsschritte in einem Winkel von 90 Grad Direkte Schritte zur

Seite können ausgeführt werden, um sich entweder zur Innenseite

oder zur Außenseite des Körpers eines Angreifers zu stellen. Man

kann entweder aus dem Stand zur Seite gehen oder nachdem man

zuerst leicht nach vorn oder nach hinten gegangen ist.

316

Portrait eines Meisters der inneren Kampfkunst

Hung I Hsiang - erstaunlich subtile Körperbewegungen

Als ich bei dem inzwischen verstorbenen Hung I

Hsiang trainierte, war der in seinen Fünfzigern.

Er sprach mit heiserer Stimme, die oft etwas

Derbes zu haben schien, aber in Wirklichkeit

war Hung intelligent, feinfühlig, gut erzogen

und vermochte sich sehr gut auszudrücken.

Wenn man ihn dabei beobachtete, wie er das

Ba Gua ausführte, sah man eine unglaubliche

Präzision in seinen kleinen Bewegungen.

Hung hatte bereits eine Menge Kämpfe hinter

sich. In Taiwan konnte man leicht in einen Kampf

geraten, wenn man den Kampf suchte. Anfang und Mitte des zwanzigsten

Jahrhunderts kämpften Männer auf der ganzen Welt aus der bloßen Freu-

de am Kampf miteinander. Solche Kämpfe fanden oft an gesellschaftlich

dafür bestimmten Orten statt, zum Beispiel in Kneipen. In Taipei fanden

die Kämpfe gewöhnlich in der Nähe des Freudenviertels statt. Häufig war

es so, dass die Leute in einem Unterwelt-Milieu miteinander tranken, und

meist blieb nach solchen Kämpfen keinerlei Groll bei den Kämpfern zu-

rück. So wurden manche Kämpfer berüchtigt und Gerüchte über ihre Fä-

higkeiten machten die Runde: „Soundso benutzt diese oder jene Technik."

Es war auch üblich, dass Kriminelle, Soldaten und brave Bürger sich zum

Spaß rauften, wobei die Zuschauer auf den Ausgang des Kampfes wette-

ten, wie es auch heute noch in manchen Kneipen in der westlichen Welt

üblich ist. Hung war weithin bekannt und wurde aufgrund seiner Reputa-

tion oft herausgefordert. Wer Hung herausforderte, der musste dann auch

die Konsequenzen tragen. Hung war ein grimmiger Kämpfer, dessen Kön-

nen und dessen Härte viele Herausforderer ihre Dummheit bereuen ließ.

Hung war körperlich sehr locker und flexibel, und er vermochte sehr gut

winzige Kampfkunst-Bewegungen sowie die technischen Fertigkeiten des

Kämpfens zu lehren. Hungs Rou Shou (siehe Seite 360) war phantastisch.

Er besaß eine unglaubliche Beweglichkeit. Ich hatte nie zuvor einen Men-

schen seiner Größe gesehen, der seinen Körper so in alle Richtungen ver-

biegen und sich bewegen konnte, als hätte er keine Knochen. Hung hatte

den Drachenkörper40 so weit entwickelt, wie das nur möglich ist. Man

' Beim Drachenkörper können sich der obere, mittlere und untere Teil des Rumpfes in

verschiedene Richtungen bewegen, während diese Teile gleichzeitig innerlich total

miteinander verbunden bleiben.

317

musste gesehen haben, wie er seinen Körper zu biegen, zu verdrehen und

zu krümmen vermochte, um es glauben zu können. Und dazu waren seine

Hände unglaublich sensibel. Er konnte die winzigsten Verschiebungen in

der Energie eines Gegners fühlen und augenblicklich einen Gegenangriff

starten. Es war so, als hätten seine Hände Augen.

Hungs Spezialität war der Gebrauch von sehr kleinen Kampfwinkeln, die

auf dem Dreieck, dem Viereck und dem Achteck basierten. Zwar benutzen

die meisten fortgeschrittenen Kampfkünstler diese Winkel, aber sie brau-

chen gewöhnlich ein Dutzend oder mehrere Dutzend Zentimeter Raum,

um sie anwenden zu können. Hung jedoch vermochte diese Winkel auch

dann anzuwenden, wenn er nur einen Zentimeter oder weniger Raum

hatte. Er liebte es, den Gebrauch von kleinen Kreisen oder Angriffswin-

keln zu analysieren. Er war ein wirklich kreativer Kampfkünstler, der das

Wissen, das er erlangt hatte, weiter auslotete und erweiterte.

Nach drei oder vier Stunden Unterricht pflegte Hung noch mit den eif-

rigsten seiner Schüler an Tischen, die auf dem Bürgersteig in der Nähe

unserer Übungshalle im Freien aufgestellt waren, Tee zu trinken, Wasser-

melonensamen zu kauen und über Ba Gua und Kampfwinkel zu sprechen.

Hungs tiefes Verständnis und sein Gebrauch von kleinen Kreisen und

Kampfwinkeln machte jedes Sparring mit ihm faszinierend, verwirrend,

erschreckend und zugleich zu einer reinen Freude.

Hung war ein ausgezeichneter Lehrer technischer Kampfanwendungen.

Er pflegte zu mir zu sagen: „Ich kann dich nicht lehren, das Chi zu entwi-

ckeln, aber ich kann dir zeigen, wie du es anzuwenden vermagst." Hung

betonte immer, dass es wichtig sei, die unterschiedlichen Eigenschaften

der Kampfkünste zu unterscheiden. Es komme nur allzu häufig vor, dass

Menschen, die verschiedene Kampfkünste trainierten, sie alle mit dersel-

ben Qualität der inneren Bewegung und des Chi ausführten.

Hung wies immer wieder darauf hin, dass Hsing-I, Ba Gua und Tai Chi

sich stark voneinander unterscheiden. Als ich 1974 und 1975 die ersten

Male bei Hung trainierte, begriff ich diesen Gedanken der Verschiedenheit

der inneren Kampfkünste nicht wirklich, denn all dieser „innere Kram"

war für mich damals einfach nur „anders" als Karate und Shaolin. In

jenem Stadium meiner Beschäftigung mit dem Hsing-I und dem Ba Gua

bedeutete das Wort „innere" einfach „weich", und Hungs Kraft war här-

ter und stärker als alles, was ich im Karate und Shaolin erlebt hatte. Er

selbst war weich, aber nicht so weich wie die Tai-Chi-Meister, die ich

getroffen und bei denen ich trainiert hatte. Und doch war Hung auf eine

für mich rätselhafte Weise genauso sensibel und fähig, augenblicklich

zu reagieren, wie die besten Tai-Chi-Lehrer, bei denen ich trainiert hatte,

einschließlich Yang Shou Jung (der älteste Sohn von Yang Cheng Fu). Das

318

Hsing-I und das Ba Gua von Hung waren deutlich besser als sein Tai Chi.

Der Stil des Tai Chi, den sowohl Wang Shu Jin als auch Hung I Hsiang

praktizierten, war eine Art Kombinationsstil aus Tai Chi, Hsing-I und Ba

Gua, den Chen Pan Ling entwickelt hatte. In diesem Stil waren auch die

wesentlichen Elemente des Tai Chi Chuan der Stile Yang, Wu und Chen

inkorporiert.41

Die Sache wurde dadurch noch weiter kompliziert, dass das Hsing-I, das

Hung lehrte, ein Hebei-Kombinationsstil war, der mit Hsing-I-Bewegun-

gen arbeitete, aber die Körperbewegungen und die spiraligen Handtech-

niken des Drachen aus dem Ba Gua benutzte. Die innere Qualität des Ba

Gua von Hung unterschied sich nur geringfügig von der seines Hsing-I,

auch wenn sie etwas stärker Wellendes hatte. All dies ergab sich aus der

Tastsache, dass sein Hsing-I und sein Ba Gua miteinander verschmolzen

waren. Es war also äußerst schwierig, die Natur der inneren Bewegungen

in beiden Formen voneinander zu unterscheiden. Noch schwieriger war

es, die jeweiligen Arten des Chi klar zu unterscheiden. All dies war sehr

verwirrend, da Hung mir und all seinen chinesischen Schülern gegenüber

ständig betonte, wir müssten das Shaolin und die drei Hauptformen der

inneren Kampfkünste klar voneinander unterscheiden. Man solle sie klar

und von einander getrennt ausführen, so dass die deutlich unterschied-

liche Qualität jeder einzelnen Kampfkunst sichtbar würde. Ich lernte erst

bei Bai Hua und später bei Liu Hung Chieh die Fähigkeit, die drei ver-

schiedenen Arten des Chi klar von einander zu unterscheiden. Hung hatte

uns zwar immer und immer wieder darauf hingewiesen, aber in jenen

frühen Tagen lag dieses Vermögen noch außerhalb meiner Reichweite.

In den 1970er Jahren hatte Hung I Hsiang etwa ein Dutzend außerge-

wöhnlich begabte Schüler. Etliche seiner Schüler dominierten die Voll-

kontakt-Wettkämpfe in Taiwan. Einer von ihnen, er hieß Weng Hsien

Ming, gewann bereits als Teenager dreimal hintereinander die Vollkon-

takt-Meisterschaft. Er ging dann zur Armee und trainierte volle drei Jah-

re lang nicht mehr. Nach seiner Rückkehr in das Leben des Zivilisten

brauchte er nur wenige Wochen zu trainieren um dann gleich wieder den

41 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor hat auch die Tai-Chi-Chuan-Form von Chen

Pan Ling praktiziert und erforscht, in der es neun klar unterscheidbare Ebenen des

Könnens gibt. Er begann seine Forschungen im Jahre 1968 in Tokio bei Wang Shu Jins

Schüler Chang 1 Chung und setzte sie 1987 bei Wang, Hung 1 Hsiang und Huang Hsi I

sowie mit anderen Schülern von Chen Pan Ling in Taichung und Taiwan sowie mit

Lehrern in Festland-China fort. Um diese Forschung abzuschließen und die Wurzeln

dieses Stil zu verstehen, musste der Autor die folgenden Tai-Chi-Formen tiefergehend

erforschen: die des Chen-Dorfes, was er bei Feng Zhi Qiang in Beijing tat, sowie das

Wu-Stil Tai Chi bei Liu Hung Chieh und das Yang-Stil Tai Chi bei T. T. Liang, Yang

Shou Jung Bai Hua und Lin Du Ying.

319

zweiten Platz zu belegen. Ein weiterer Schüler Hungs namens Huang Hsi

gewann bei seiner Teilnahme an den Vollkontakt-Wettkämpfen Taiwans

gewöhnlich durch Knockout. Huang wurde in der Folge zu einem der bes-

ten Chi-Gung-Tui-Na-Ärzte in Taiwan. Sein jüngster Schüler war Lo Te

Hsiu, der für seinen Fersentritt zum Solarplexus bekannt wurde. Mit der

Zeit studierte er Lo Hungs nachgeburtliches Ba-Gua-System und wurde

sehr kompetent darin.

Bei Hung I Hsiang lag die Betonung nicht so sehr auf der Maximierung

der inneren Kraft und der Entwicklung des Chi. Er konzentrierte sich

stattdessen auf die Feinheiten des effektiven Einsatzes der Kraft sowie

darauf, wie man schnell und reibungslos von einer Technik zur nächs-

ten übergehen kann. Er tat dies, indem er zeigte, wie man tief in allen

Körperhöhlungen winzige Kreise machen und wie man die inneren Aus-

richtungen des Körpers mit großer Geschwindigkeit verändern kann. Er

verwendete viel Zeit darauf zu zeigen, wie winzige Verschiebungen des

Körpergewichts ungewöhnliche Kraftvektoren erzeugen können. Er ließ

seine Schüler auch seine Kraft spüren, und zwar nicht nur was seine

Hiebe anging, sondern auch indem er demonstrierte, wie Veränderungen

in subtilen Körperbewegungen zu den erwünschen Ergebnissen bei An-

wendungen zur Verteidigung und zum Angriff führen können. Er lehrte

seine Schüler, wie man sich augenblicklich von schlechten inneren Aus-

richtungen, die den Körper normalerweise erstarren lassen, zu befreien

vermag, um wieder zum Angriff überzugehen - etwa so, wie man bei

einem Auto mit Gangschaltung reibungslos die Gänge wechselt. Bei Hung

ging es darum zu lernen, wie kleine Veränderungen der Körperbewegung

oder des Chi-Flusses überlegene Kampftechniken hervorbringen und die

gesamte athletische Leistungsfähigkeit erhöhen können.

320

6 BaGua

Erwägungen für den Kampfund Kampfanwendungen

Das Ba Gua als Kampfkunst

Viele gelehrte Kampfkünstler im Westen sind einigermaßen über die drei

großen inneren Kampfkünste Chinas informiert - das Tai Chi Chuan, das

Hsing-I und das Ba Gua Chang. Von diesen dreien ist das Tai Chi Chuan

in der westlichen Welt am bekanntesten, und das Ba Gua Chang ist wohl

am wenigsten bekannt. Es gibt allerdings in den USA und in Europa ein

wachsendes Bewusstsein dafür, dass das Ba Gua Chang eine lebhaftere

Alternative zum Tai Chi Chuan darstellt.

Das Ba Gua Chang, die „Handfläche der acht Trigramme", oft kurz Ba

Gua genannt, ist eine einzigartige daoistische Kunst, die auf dem uralten

chinesischen Klassiker 1 Ging, dem „Buch der Wandlungen", basiert. Das

flüssige, zirkuläre Ba Gua legt ebenso viel Wert auf Langlebigkeit, die Ent-

wicklung innerer Energie, Heilen und Meditation wie das Tai Chi Chuan.

Deshalb ist ein Wissen um das Ba Gua für alle Schüler des Tai Chi Chuan

und alle, die sich für praktische Wege zur Kultivierung und zum Gebrauch

des persönlichen Chi interessieren, außerordentlich wertvoll. Das Ba Gua

gilt allerdings in Hinsicht auf die Selbstverteidigung, besonders gegen

mehrere Gegner, als wirksamer als das Tai Chi Chuan.

Jede einigermaßen vollständige Erklärung der faszinierenden und

komplexen Kunst des Ba Gua würde viele umfangreiche Bände füllen.

Dieses Kapitel soll nur eine knappe Einführung in diese bemerkenswerte

daoistische Chi-Praxis geben. Es versucht, nur kurze Einblicke in ihre

Entwicklung und ihre wechselseitig miteinander verknüpften Bestandteile

zu vermitteln. (Eine kurze Geschichte des Ba Gua findet sich in Anhang B,

ab Seite 511.)

321

Eine Ba-Gua-Kampfanwendung. Liu Hung Chieh (rechts) verteidigt sich gegen

einen hohen und niedrigen Angriff seines Schülers Bruce Frantzis. Nachdem

er beide Hände seines Gegners unter Kontrolle hat, ist Liu in der Lage, einen

Handhieb anzubringen.

Die sagenumwobenen Ursprünge des Ba Gua

Der geheimnisvolle Tung Hai Chuan

Die tatsächlichen Ursprünge des Ba Gua liegen im Dunkeln, und es gibt in

China alle möglichen populären Geschichten über diese komplexe Kampf-

kunst. Das Ba Gua soll mal hier, mal dort entstanden sein, aber keine

dieser Darstellungen ist genügend belegt, um als historische Wahrheit

gelten zu können. Liu Hung Chieh (1905- 1986), der Ba-Gua-Lehrer des

Autors, schulte sich unter einem Mann namens Ma Shr Ching (auch be-

kannt als Ma Gui), der mit einem gewissen Tung Hai Chuan (1798- 1879)

zusammengelebt und sich unter ihm geschult hatte. Tung war die Person,

die das Ba Gua aus der totalen Verborgenheit herausholte. Tung hat nie

davon gesprochen, woher seine Kunst kam. Gegen Ende seines Lebens

wohnte er in Mas Haus, aber in all den vielen Gesprächen, die die beiden

Männer miteinander geführt haben, ist es Ma niemals gelungen, Tung das

Geheimnis des Ursprungs des Ba Gua zu entlocken. Andere ältere Adepten

des Ba Gua, die weitere ehemalige Mitglieder der Ba-Gua-Schule kannten,

haben bestätigt, dass Tung in dieser Frage hartnäckig geschwiegen hat.

Angesichts der zirkulären Natur des Ba Gua ist es kein Wunder, dass

Tung auch im Kreis gehende Antworten auf hartnäckige Fragen nach dem

Ursprung des Ba Gua gab, wie etwa in dem folgenden Dialog:

Frage: Wo habt Ihr das gelernt?

Antwort: Ich habe es in den Bergen gelernt.

Frage: Von wem habt Ihr es gelernt?

Antwort: Ich habe es von einem Daoisten gelernt.

Frage: Wie war sein Name?

Antwort: Er war ein sehr alter Mann.

Frage: Wo kam er her?

Antwort: Er lebte in den Bergen.

Der Hintergrund von Tung Hai Chuan selbst ist fast ebenso geheimnisvoll

wie der Ursprung des Ba Gua. Man weiß, dass er in seiner Jungend viele

Kampfkünste studiert hat. Es gibt jedoch viele widersprüchliche Geschich-

323

ten über die Zeit zwischen seiner Jugend und seiner Ankunft in Beijing.

Einige Geschichten haben ihn als einen Straßenräuber beschrieben, andere

als einen Mörder, Dieb, Eunuchen oder Zuhälter, während es wieder andere

gibt, die ihn als eine positivere Gestalt beschreiben. Wie immer auch sein

Charakter gewesen sein mag, er scheint vor seiner Ankunft in Beijing eine

schwere Verletzung erlitten zu haben. Es heißt, er habe einen Daoisten

getroffen, der ihm half, seine Gesundheit wieder herzustellen und der ihn

das Ba Gua lehrte. Letztlich ist jedoch alles, was man mit Sicherheit über

ihn zu wissen scheint, dass er eines Tages in Beijing auftauchte, für seine

Fertigkeiten im Kampf berühmt wurde und dass er sein Ba Gua an eine

relativ kleine Anzahl von Schülern weitergab, von denen zweiundsiebzig

offiziell auf seinem Grabstein genannt werden.

Die einzigartigen Kampfkunsteigenschaften des Ba Gua

Viele Legenden erzählen von der Wirksamkeit des Ba Gua als Kampfkunst.

Zu diesen Legenden gehören auch Darstellungen von Kampfkunstaben-

teuern von Tung Hai Chuan und seinen Schülern. Auch wenn Tung die

Ursprünge seines Ba Gua Chang bewusst im Dunkeln hielt, wurde die

Kampfkunst doch wegen ihrer großen Wirksamkeit im Kampf schnell in

ganz China berühmt. Ein Hinweis auf ihre Wirksamkeit ist die Tastsache,

dass die Kaiserinwitwe Tzu Hsi, als sie nach dem Zusammenbruch des

chinesischen Boxeraufstands im Jahre 1908 aus Beijing floh, sich nur von

einem einzigen Leibwächter beschützen ließ - einem Meisterschüler von

Tung namens Yin Fu.

Es gibt praktisch kein anderes System oder keinen anderen Stil der

Kampfkunst, sei es nun der äußeren oder der inneren Kampfkunst, der

das gesamte Repertoire der Kampfkunsttechniken so wirksam zu einem

einzigen Paket verschnürt hat, wie es das Ba Gua getan hat. Im Ba Gua

kann man eine Person mit der offenen Hand, der Faust oder einem Stoß

treffen. Man kann mit der Hand, dem Kopf, der Schulter oder jedem an-

deren Körperteil zustoßen. Man kann einen Hieb gerade ausführen, rund

oder aus jedem erdenklichen Winkel. Man kann einen Gegner werfen,

ohne seinen Körper festzuhalten, indem man ihn einfach nur durch eine

geschickte Stellung der eigenen Füße zum Stolpern bringt oder indem

324

man ihn durch Kontrolle seiner Arme und Hände aus dem Gleichgewicht

bringt. Man kann Fußfeger und Beinscheren benutzen. Außerdem kann

man einen Angreifer über den Kopf heben und ihn auf den Rücken, auf

das Gesicht oder den Kopf werfen. Es gibt auch Würgegriffe, Hebel oder

Chin-Na-Techniken sowie Greiftechniken, bei denen man sich in die Haut

des Gegners krallt und versucht, sie ihm vom Leibe zu reißen. Das Ba

Gua kennt auch eine ganze Bandbreite von Tritten, hohe und niedrige,

Kniestöße und Stampftechniken, und es arbeitet mit dem vollen Arsenal

der traditionellen Waffen.

Gegen acht Gegner gleichzeitig kämpfen

Das Ba Gua war für den Kampf mit bis zu acht Gegnern gleichzeitig an-

gelegt. Dieses Konzept beruhte auf der Tatsache, dass nicht mehr als acht

Personen eine einzelne Person angreifen können, ohne sich gegenseitig ins

Gehege zu kommen (es sei denn, sie wären mit langen Speeren bewaffnet).

Wenn er sich mit mehreren Gegnern konfrontiert sieht, dann fließt der

Ba-Gua-Kämpfer durch die Gruppe der Angreifer, wobei er sich ständig

windet, dreht und die Richtung wechselt. Dies verringert, vom Standpunkt

der Verteidigung gesehen, die Notwendigkeit, Angriffe abzublocken, weil

man als Ziel ständig in Bewegung ist und schon nicht mehr an dem ur-

sprünglichen Platz anzutreffen ist, wenn ein Hieb eintrifft. Indem der Ba-

Gua-Kämpfer nie länger als den Bruchteil einer Sekunde an einem Punkt

verweilt, versucht er einen Gegner außer Gefecht zu setzen oder zumindest

zu umgehen und sich den nächsten Gegner vorzunehmen, bevor der erste

Gegner sich neu positioniert hat. Dies wirksam zu tun, setzt voraus, dass

man Täuschungen und Kampfwinkel verwendet, die in den meisten anderen

Kampfkünsten nicht verwendet werden.

Als Ba-Gua-Kämpfer, der es mit mehreren Gegnern zu tun hat, konzen-

trieren Sie sich nur momentan auf einen Gegner, und dann geht Ihre Auf-

merksamkeit bereits zum nächsten weiter. Damit können Sie verhindern,

von hinten getroffen zu werden, was leicht geschehen kann, wenn Sie sich

länger als einen Augenblick mit einem Mitglied der Gruppe beschäftigen.

Auch wenn Sie dabei gerade einen Gegner ansehen, sollte Ihr Gesichtskreis

doch immer mehrere Gegner umfassen.

Das Training für den simultanen Kampf mit mehreren Gegnern beginnt

mit nur einem Gegner. Macht man Fortschritte, dann werden schrittwei-

se weitere Gegner hinzugefügt. Die Ausübenden des Ba Gua halten es

325

für unabdingbar, zur Entwicklung von Kampffertigkeit mit wirklichen

menschlichen Wesen, deren Reaktionen während des Kampfes im Grunde

unvorhersehbar sind, zu trainieren. Dennoch sind die Soloform und das

Kreisgehen die Grundlage des Trainings und die Quelle ihres Energiekörpers

und ihrer körperlichen Koordination. Außerdem helfen sie, ihren Geist zu

befreien, so dass er sich spontan bewegen und auf Angriffe reagieren kann.

Die Bewegungen, die in den Formen des Ba Gua praktiziert werden, sind

genau dieselben, die man auch im Kampf anwendet. Viele Kampfkünste

kennen hunderte von Bewegungen, aber wenn es zum Kampf mit der leeren

Hand kommt, dann wenden sie nur einige wenige dieser Bewegungen an.

Der Rest dient nur zur Entwicklung der körperlichen Koordination. Im Ba

Gua hat jede Bewegung praktische und benutzbare Kampfanwendungen.

In den traditionellen Schulen des Ba Gua lernen die Schuler eine große

Bandbreite an Anwendungen, damit ihr Körper/Geist beweglicher wird

und sie sich besser auf unerwartete Veränderungen im Kampf einzustel-

len vermögen. Es geht dabei also nicht nur darum, sich ein Repertoire an

spezifischen Techniken anzueignen, mit denen man auf spezifische Formen

der Verteidigung oder des Angriffs reagieren kann.

Vorgeburtliches und nachgeburtliches Chi

Das Kultivieren der Energie und die Kampfanwendungen basieren im Ba

Gua auf zwei unterschiedlichen Übungsmethoden. Die erste Methode, die

von Tung Hai Chuan gelehrt wurde, benutzt ausschließlich Techniken des

Kreisgehens und wird als die vorgeburtliche Methode (oder auf Chinesisch

Hsien Tien) bezeichnet. Die vorgeburtlichen Kreisgang-Methoden kön-

nen - je nachdem, was für einen Lehrer man hat - als eine energetische

Bewegungskunst gelehrt werden, die allein auf Gesundheit und Meditation

gerichtet ist, oder in Zusammenhang mit den Kampfanwendungen des

Ba Gua.

Die zweite Methode, die als nachgeburtliche Methode (oder auf Chi-

nesisch Hou Tien) bezeichnet wird, betont die Kampfanwendungen des

Ba Gua und nicht seine gesundheitlichen und meditativen Aspekte. Die

nachgeburtliche Methode wird in geraden Linien ausgeführt und nicht

beim Kreisgehen. In diesen Methoden, die von Tungs Schülern kreiert

wurden, wird jedes Trigramm des I Ging von acht Abteilungen offensicht-

326

licher Kampfkunstbewegungen (mit Anwendungen) repräsentiert, die nach

Kampftechniken wie Handflächen, Fäuste, Tritte, Würfe, Hebel und so

weiter kategorisiert werden. Jede Bewegung beinhaltet sowohl spezifische

Kampftechniken als auch allgemeine taktische Prinzipien, die kreativ an-

zuwenden sind, wobei oft verschiedene körperliche Waffen (Handflächen,

Tritte usw.) aus der Formbewegung angewendet werden.

Das Ba Gua ist deshalb einzigartig, weil seine grundlegendsten Prakti-

ken zur Kultivierung der Energie, die vom Nei Gung stammen, alle in sein

vorgeburtliches Kreisgehen inkorporiert sind, welches in keiner anderen

Kampfkunst Anwendung findet. Die Daoisten sagen, die Art und Weise,

wie ein Menschenwesen im Mutterleib (dem vorgeburtlichen Zustand)

seine Energie empfängt, sei verschieden von der Art und Weise, wie es

nach seinem Eintritt in die Welt (im nachgeburtlichen Zustand) seine

Energie aufnimmt. Nach der Geburt gewinnen Menschen ihre Energie

durch Körperertüchtigung, Atmen, Essen und Ruhen. Im Mutterleib j e -

doch sind es nach dem Verständnis der Daoisten die kosmischen Kräfte,

die den Fötus etwa so aufladen, wie eine Batterie aufgeladen wird. Ein

großer Teil der Ladung, die man vor der Geburt empfangen hat, wird im

Verlauf des späteren Lebens aufgebraucht, und die Menge der Energie, die

in der „Batterie" gespeichert ist, ist ausschlaggebend für die allgemeine

Konstitution und die Lebensspanne eines Menschen. Die vorgeburtlichen

Praktiken (einschließlich des Ba Gua) versuchen, wieder eine Verbindung

zu den ursprünglichen kosmischen Kräften herzustellen, um die „Batterie"

so aufzuladen, wie es im Mutterleib geschehen ist, was zu einer deutli-

chen Verbesserung der grundlegenden Konstitution eines Menschen führen

kann. Die nachgeburtlichen Chi-Praktiken sind grundsätzlich darauf be-

schränkt, das zu optimieren, was von dem ursprünglichen vorgeburtlichen

Chi einer Person noch übrig ist.

Der einfache Akt des Kreisgehens erzeugt einen Wirbel, der es dem Prak-

tizierenden erlaubt, die natürlichen Energien, die aus der Erde aufsteigen

und von oben herabsteigen, zu verstärken, miteinander zu vermischen und

zu kontrollieren. Die schraubenden Aktionen des Ba Gua erzeugen nach

dem Willen des Ausübenden Spiralen aus diesen Energien. Diese spiraligen

Energien vermögen den Körper des Praktizierenden auch unwillkürlich zu

beeinflussen. In einem späteren Stadium der Praxis werden Sie fähig, ener-

getische Wirbel zu erzeugen, die sich spiralförmig gleichzeitig hinauf zum

Himmel und hinab in die Erde schrauben. Diese Energieflüsse werden auch

dazu benutzt, extrem machtvolle Kampfanwendungen zu erzeugen.

327

Die Philosophie des Kampfkunsttrainings in der vorgeburtlichen und der nachgeburtlichen Methode des Ba Gua

In den traditionellen Schulen des Tai Chi und des Hsing-I lernen die neuen

Schüler - und da gibt es keine Abweichungen - zuerst die Aufwärmübun-

gen des Chi Gung und/oder die Bewegungen der „Form". Die von Tung Hai

Chuan begründete Tradition basierte jedoch nicht auf irgendeiner bestimm-

ten Form. Den Schülern des Ba Gua wurde jener Aspekt der Kunst beige-

bracht, der ihren persönlichen Bedürfnissen und individuellen Interessen

am besten entsprach. Übten sie das Ba Gua aus gesundheitlichen Gründen,

dann brachte man ihnen die speziellen Methoden bei, mit denen sie ihren

Körper außerordentlich stark und gesund machen konnten. Praktizierten sie

Ba Gua um zu kämpfen oder zu meditieren, dann lehrte man sie vor allem

die entsprechenden Methoden. Die Einstellung zur Kampfkunst ist in der

Ba-Gua-Schule und in den daoistischen Kampfkünsten im Allgemeinen,

dass sie zuerst und vor allem gut für den Körper und förderlich für unser

mentales und emotionales Wohlergehen sein muss. Er wenn Ihr Körper und

Ihr Charakter stark genug geworden sind, können Sie wirklich lernen, wie

man die Kunst für den Kampf verwendet. Die Kampffertigkeiten blieben

immer ein sekundäres, wenn auch wichtiges Anliegen. Die Anhänger des

Ba Gua sind der Ansicht, dass ein Kampfkünstler ein Held und kein Feig-

ling sein muss, und dass dieses Heldentum aus echter innerer Zentrierung,

Selbstvertrauen und Können entspringen muss und nicht aus Wagemut,

roher körperlicher Begabung, einem gewalttätigen Geist oder einer bloßen

Vorstellung von der Kunst.

Das erste Ziel des Ba Gua ist, den Körper aufzuschließen und dadurch

Gesundheit und Kraft zu erzeugen. Während diese Aspekte weiterverfolgt

werden, konzentriert man sich auf den mittleren und fortgeschrittenen

Ebenen der Übung entweder auf die kämpferischen, therapeutischen oder

spirituellen Aspekte des Ba Gua. Tung lehrte verschiedene Schüler auf

verschiedene Art und Weise unterschiedliche Aspekte der Kunst. Da Tung

zumeist in privatem Einzelunterricht oder in kleinen Gruppen von drei oder

vier Schülern lehrte, konnte er seine Unterweisungen auf das Individuum

abstimmen. Die meisten Schüler lehrte er nur die Kampfanwendungen

des Ba Gua und ließ die Möglichkeit offen, sie später vielleicht auch die

spirituellen Aspekte zu lehren. Andere lehrte er die spirituellen Aspekte als

einen Weg, zu jener Kraft Zugang zu finden, die für die Kampfkunst nötig

328

ist. Tung nahm Kampfkünstler mit den unterschiedlichsten Hintergründen

als Schüler an. Seine Unterweisung folgte dem Weg des geringsten Wi-

derstandes für den jeweiligen Schüler, und zwar unter Berücksichtigung

seines Hintergrundes und seiner früheren Erfahrungen.

Das vorgeburtliche Training

Das traditionelle Kreisgehen des Ba Gua arbeitet daran, das Innere des

Körpers zu verändern, um Wirkung auf das Äußere zu erzielen (auf ihre

äußeren Bewegungen und Anwendungen). Die vorgeburtliche Kampf-

kunstmethode mit ihrer geringen Zahl an äußeren Bewegungen und ihrem

großen Maß an innerem Gehalt könnte für viele Menschen im Westen, die

Ba Gua erlernen möchten, eine echte Herausforderung darstellen. Unsere

computergesteuerte Kultur erzeugt ein unablässiges Streben nach mehr

Information in immer weniger Zeit; echtes Wissen oder gar Weisheit stehen

nicht so hoch im Kurs. Doch wo es darum geht, echten inneren Gewinn

zu erzielen, ist Information ohne Weisheit wertlos. Angesichts unseres

hektischen Alltags, der den Menschen gewöhnlich sehr viel weniger Zeit

übrig lässt, als zu einem optimalen Training nötig wäre, ist es für jeman-

den, der die unter seinen Bedingungen optimalen Resultate erzielen will,

wahrscheinlich klüger und befriedigender, wenn er eine geringere Zahl von

Bewegungen, diese dafür aber mehr in die Tiefe gehend praktiziert.

In der Geschichte des Ba Gua haben die meisten der besten Ba-Gua-

Kämpfer nur eine kleine Zahl von Kampftechniken benutzt, die sie aller-

dings mit so viel Kraft und Können einsetzten, dass nicht mehr nötig war.

Im vorgeburtlichen Ba Gua lehrt man die Schüler die inneren Komponenten

zuerst durch die Erste Hand (Single Palm Change). Später lernen sie, diese

Komponenten auszuweiten, um andere körperliche Bewegungen zu lenken

und zu energetisieren. Auf der anfänglichen Ebene des Trainings kommen

die Hsing, das heißt die Formen der Bewegung, aus dem Kreisgehen. Die

Schüler üben üblicherweise mehrere Jahre lang das Kreisgehen. Dabei

fügen sie schrittweise immer mehr Nei-Gung-Elemente hinzu, während sie

die Energiekanäle des Körpers mit spezifischen statischen Armhaltungen

und mit der Ersten Hand öffnen. Wenn die einzelnen inneren Komponenten

sich dann stabilisieren, bemerken die Schüler, dass alle Anwendungen, die

sie beherrschen, mit Kraft gefüllt werden.

Durch diesen Prozess wird der Körper sehr stark. Der Schüler beginnt

zu erkennen, wie sich die Energie in seinem Inneren mit der Energie in der

329

Außenwelt verbindet, dass die Yin- und die Yang-Energien im Inneren der

Sonne und dem Mond am Himmel entsprechen und das Mikrokosmos und

Makrokosmos miteinander verknüpft sind. Ist dieses Fundament einmal

sorgfältig gelegt, dann kann der Schüler als nächstes damit beginnen, die

Bewegungen der Acht Mutterhände (Ba Mu Chang) zu lernen, die dann,

wenn sie unter Einsatz der acht Energien des I Ging ausgeführt werden,

die Acht inneren Hände (Nei Ba Chang) g e n a n n t werden .

Nachgeburtliches Training

Die alternative Methode war das Erlernen des nachgeburtlichen Ba Gua.

Diese Methode arbeitet von außen nach innen und verlangt, dass man eine

enorme Zahl äußerer Bewegungsformen erlernt, wobei jede einige spezifi-

sche Kampfanwendungen besitzt. Wenn der Schüler nach etlichen Jahren

der Übung die äußeren Formen hineichend gut beherrschte, führte man ihn

in die Entwicklung der inneren Kraft ein. Die linearen nachgeburtlichen

Methoden des Ba Gua machen keinen Gebrauch von dem vorgeburtlichen

Kreisgehen als die primäre Soloübung. Stattdessen führen die Übenden

Techniken aus und gehen dabei in gerader Linie oder in zickzackförmigen

Bewegungsmustern, auf eine Weise, die dem Sieben-Sterne-Bewegungs-

muster des Hsing-I (siehe Seite 316) ähnelt. Wenn diese nachgeburtlichen

Bewegungsmuster erlernt wurden, werden die vorgeburtlichen Methoden

des Kreisgehens in das System inkorporiert.

Die nachgeburtliche Methode hatte im Allgemeinen keine Beziehung

zu den meditativen Praktiken des Ba Gua. Yin Fu und seine Schüler (siehe

Seite 511 f.) benutzten zum ersten Mal eine nachgeburtliche Methode des

Lehrens einer großen Zahl von Bewegungen, um Soldaten der Armee zu

unterrichten. Für Soldaten waren diese einfachen und sehr effektiven

linearen Methoden leichter zu lernen als die komplexeren Methoden des

Kreisgehens. Eine nachgeburtliche Methode wurde später von den Schü-

lern von Gao I Sheng aus Tianjin an Schüler in Hongkong und Taiwan

weitergegeben; Hung I Hsiang gehörter auch dazu. Cheng Ting Hua hatte

auch eine Methode der 64 Hände, die beim Kreisgehen ausgeführt wurde.

Diese Methode unterscheidet sich durch spezifische Kampfanwendungen

und Wurftechniken.

Ohne das primäre vorgeburtliche Krafttraining, besteht immer die Ge-

fahr, dass das Ba Gua auf eine Ebene absinkt, auf der der Ausübende äußere

Ba-Gua-Bewegungen (Hsing oder Form) einigermaßen gut ausführt, denen

330

es jedoch an genügend echter, flexibler und flüssiger Kraft mangelt. Die

vorgeburtliche Methode wurde benutzt, um die Schüler in den meisten

inneren Aspekten des Ba Gua zu schulen. Der Gründer des Ba Gua, Tung

Hai Chuan, benutzte jedoch beide Methoden. Wenn die Schüler einen

Hintergrund in den äußeren Kampfkünsten besaßen und eine große Zahl

von Bewegungen (Formen oder Hsing) kannten, dann lehrte er sie zuerst

die äußeren Formen. Mit der Zeit nahm Tung dann zusätzlich zu den

Fertigkeiten, die seine Schüler bereits besaßen, das innere Krafttraining

hinzu, um die Bewegungen lebendig werden zu lassen. Besaß ein anderer

Schüler bereits eine gute Grundlage in Entwicklung der inneren Kraft, dann

lehrte Tung ihn gewöhnlich zuerst die Methoden des Krafttrainings und

erst später die Kampftechniken.42 Doch ganz gleich, auf welche Weise das

Ba Gua gelehrt wurde, das innere Krafttraining blieb immer das Wichtigste

und die Anwendungen waren zweitrangig.

Die zentrale vorgeburtliche Methode des Kreisgehens entwickelt die Befä-

higung zur optimalen Kultivierung des Chi und zur Meditation. Dies ist der

Aspekt des Ba Gua, der für die Allgemeinheit aus gesundheitlichen Gründen

am interessantesten ist. Für den Kampfkünstler stellt das Chi, das durch die

vorgeburtliche Methode entwickelt wird, so viel Energie zur Verfügung,

dass Techniken, die zuvor vielleicht leer und ohne Funktion waren, auf

einmal mit Kraft gefüllt sind. Auch wenn man die Anwendung irgendeiner

Ba-Gua-Bewegung im Kampf oder für die Heilung kennt, nützt einem

das ziemlich wenig, solange man nicht genügend Kraft besitzt, um sie bei

Bedarf wirksam anzuwenden. Technik allein vermag keine spontanen und

kraftvollen Anwendungen für unbekannte Situationen hervorzubringen,

die man nicht erwartet hat und sich vorher nicht vorstellen konnte. Das

fortgeschrittenere Training der vorgeburtlichen Methode konzentriert sich

darauf, Zugang zur Matrix des I Ging zu gewinnen, um spontan entstehen-

des Chi manifestieren zu können. Dies befähigt den Praktizierenden, mit

dem völlig Unvorhersehbaren umgehen zu können und langsam den Geist

des Wei Wu Wei („Tuns ohne zu tun") zu kultivieren, der die Quintessenz

aller daoistischen Praktiken für Körper und Geist darstellt.

42 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor wurde zuerst von Wang Shu J in und später

von Liu Hung Chieh mit dieser Methode geschult. Was die f rüheren Lehrer des Autors

(Hung I Hsiang, Huang Hsi I und Bai Hua) ihn bereits gelehrt ha t ten , stellte über

die nachgeburtl ichen Kampf- und Heilungstechniken h inaus eine hinreichend gute

Grundlage hinsichtlich der inneren Kraft dar. Lius pr imäres Anliegen war es also,

den Autor die energetischen vorgeburt l ichen Praktiken zu lehren, aus deren Kraft die

Anwendungen und Bewegungen ja an fangs entsprungen waren.

331

Portrait eines Meisters der innere Kampfkunst

Bai Hua - Klarheit und Präzision

Bai Hua, ein Schüler von Liu Hung Chieh, erhielt seine

hatte, ebenso wie Huang Hsi (siehe Seite 437), einen

Ausbildung in Beijing. Ich traf Bai Hua in Hongkong

und schätzte mich glücklich, dass er ein solch her-

vorragendes Mandarin sprach, die Nationalsprache

von China, und nicht das Kantonesische, das die

Hauptsprache von Hongkong darstellt. Ich teilte

eine Zeitlang eine Wohnung mit Bai Hua, und er

sehr starken Einfluss auf mich, besonders was die Deh-

nung der Körpergewebe und das Öffnen und Schließen der Gelenke und

Körperhöhlungen angeht. Bai Huas Lehrmethode bestand darin, sich auf

die allerwesentlichsten Informationen zu beschränken. Er betonte beson-

ders die Erzeugung von Chi und der inneren Yang-Kraft. Als Teenager

war er ein General der Roten Garden gewesen, und sein Ansatz für die

Kampfkunst bestand darin, Techniken zu kreieren, die nur einen oder

höchstens zwei Treffer benötigten, um einen Gegner völlig außer Gefecht

zu setzen. Bai Hua schulte sich nicht nur unter Liu Hung Chieh, sondern

auch unter anderen Lehrern.

Bai Hua begann im Alter von sechs Jahren Chi Gung zu lernen, um sich

von einer schweren Hepatitis zu heilen. Man hatte ihn in ein Dorf auf

dem Lande geschickt, das so arm war, dass es dort keine Kräuter oder

Akupunkturnadeln gab. Darum lehrte ihn der chinesische Arzt des Dorfes

das Chi Gung als Mittel zum Überleben. Von jener Zeit an bis zum Alter

von dreizehn Jahren, als er Liu traf, hatte er Chi Gung, Nördliches Shao-

lin und das Boxen der Acht trunkenen Unsterblichen (eine innere/äußere

Form der Kampfkunst) gelernt.

Bai Hua erzähle oft von den schweren Kämpfen zwischen linksgerichte-

ten und rechtsgerichteten Fraktionen der Roten Garden in den Straßen

von Beijing. Dabei wurde er Zeuge, wie junge Ba-Gua-Kämpfer der Roten

Garden ihre Rivalen hochhoben und sie töteten, indem sie sie auf den

Kopf warfen. Mit der Zeit eskalierten diese Kämpfe weiter, und es wurden

auch Schwerter und Speere benutzt. In diesen schweren Straßenkämpfen

lernte Bai Hua das Ba Gua als eine überlegene Kampfkunst zu schätzen,

besonders was den Kampf mit mehreren Gegnern in einer Situation an-

ging, in der es um Leben oder Tod ging.

Bai Huas Klarheit in Hinsicht auf das innere Chi und seine Meisterung

der Bewegung körperlichen Gewebes unter der Haut waren ebenso er-

332

staunlich wie präzise. Alles, was Bai Hua tat, war rein daoistisch; es gab

bei ihm keine buddhistischen Anklänge. Er betonte die Feuermethode

des Daoismus, (die Liu ihn lehrte, während er mich die Wassermethode

lehrte), und er war sehr gut in der inneren Alchimie geschult. Sein Wissen

um die Chi-Gung-Tradition vom Hua Shan und den alten Yang-Stil des

Tai Chi Chuan, den er von Lin Du Ying gelernt hatte, erwiesen sich als

überaus hilfreich für mich in meinem Bemühen, die Grundlagen des Chi

Gung zu verstehen.

Bai Hua betonte die Praktiken des Chi Chu Dzuo (siehe Seite 138). Wie

Huang Hsi I und Liu Hung Chieh, legte er den größten Wert auf die per-

sönliche Praxis. Ohne Huang Hsi I und Bai Hua hätte ich niemals den Hin-

tergrund sowie das Gung Fu gewonnen, die mich schließlich dafür quali-

fizierten, ein Schüler von Liu Hung Chieh zu werden, und ich wäre nicht

in der Lage gewesen, die Arbeit und die Übertragungen Lius zu begreifen.

Wie Bai Hua lehrte

Bai Hua war ein Adept des klassischen Daoismus, insbesondere des I Ging.

Für ihn waren alle Chi-Prozesse des Tai Chi und des Ba Gua nichts als

praktische Anwendungen des I Ging. Deshalb achtete er stets darauf, was

das Ziel einen Menschen war, welche Bedingungen notewendig waren,

um dieses Ziel zu erreichen, welcher spezifischen Techniken es bedurfte,

um das Ziel effektiv zu verwirklichen und was das Erreichen des Zieles

forderte oder vereitelte. Er erklärte die Rahmenbedingungen eines jeden

Problems in Begriffen des I Ging und der verschiedenen chinesischen

Klassiker, einschließlich der Tai Chi Klassiker. Es gehörte zu seiner Lehr-

methode, den Schülern zuerst ein klares Verständnis der philosophischen

Prinzipien und Theorien zu vermitteln. Als nächstes konzentrierte er sich

darauf zu zeigen, wie man diese Theorien bewusst zu praktischen An-

wendungen für die inneren Körperbewegungen machen konnte (das heißt

für die Bewegung des Chi im Inneren des Körpers und die spezifischem

mentalen Zustände, die den erwünschten Chi-Fluss erzeugen). Bai Hua

betonte große Kraftbewegungen nach der Art von Wang Shu Jin und

nicht die kleinen Bewegungen und Wandlungen wie Hung I Hsiang und

Huang Hsi I.

Im Juni des Jahres 1981 besuchte ich Bai Hua in Hongkong. Ich war da-

mals auf dem Weg nach Beijing, da ich die Einladung erhalten hatte, an

Chinas wichtigstem „Institut für körperliche Erziehung" Tai Chi zu studie-

ren.43 Ich fragte Bai Hua, ob ich während meines Aufenthalts in Beijing

43 Zum Abschluss dieser Ausbildung erhielt der Autor als erster aus dem Westen von

diesem Institut das Diplom für das komplette vereinfachte Tai-Chi-System einschließ-

lich der Form, des Push Hands und der Übung mit Waffen.

333

bei seinem Lehrer trainieren dürfe. Er sagte mir, er hoffe, dass das möglich

sei. Liu Hung Chieh lebe nämlich mitten in der Stadt wie ein Einsiedler,

und er würde nur selten jemanden unterrichten. Er fügte hinzu, dass es

völlig unvorhersehbar wäre, ob Liu mich unterrichten würde oder nicht,

selbst wenn er, Bai Hua, mich empfehlen würde. Liu habe seine ganz

eigenen Maßstäbe und er lehnte es oft ab, Menschen zu unterrichten; dar-

unter seien auch in China sehr bekannte Kampfkünstler gewesen, die ihn

aufgesucht hätten. Bai setzte dann ein formelles Empfehlungsschreiben

für mich auf. Wie ich später herausfand, hatte Liu kurz bevor ich bei ihm

vorsprach einen Traum gehabt, in dem er einen Ausländer unterrichtete,

der mir ähnlich sah, und deshalb nahm er mich als Schüler an.

Die Übung des Ba Gua

Die Stadien des Kreisgehens

Die Eigenart, die das Ba Gua kennzeichnet, ist seine zentrale Trainingme-

thode des Kreisgehens. Das gilt sowohl für seine kämpferischen als auch

für seine energetischen und meditativen Aspekte. Während der Übung

des Kreisgehens geht der Übende immer wieder auf einer Kreisbahn her-

Ein einsamer Praktizierender, der in einem Park von Beijing das Kreisgehen des

Ba Gua übt, hinterlässt eine kreisförmige Spur im Schnee.

334

um, wobei er regelmäßig die

Richtung wechselt (im Uhr-

zeigersinn oder gegen den

Uhrzeigersinn) und dabei alle

möglichen regelmäßigen und

spezialisierten Schrittmuster

benutzt, während er gleich-

zeitig spiralförmige Arm und

Hüftbewegungen ausführt.

Das Kreisgehen besteht aus

mehreren Stadien, die jeweils

progressiv aufeinander auf-

bauen. Das eine ist das Kreis-

gehen mit statischen Arm-

haltungen. Dies ist, wie die

Standposituren im I Chuan

(siehe Seite 287), eine Metho-

de des grundlegenden Kraft-

trainings. Das zweite Stadium

des Kreisgehens basiert auf

einer Meditat ionsmethode,

die schon vor Tausenden von

Jahren in daoistischen Klös-

tern geübt wurde: der „Ersten Hand" (Single Palm Change), die dem ersten

Trigramm des I Ging entspricht, das „Himmel" (oder auf Chinesisch Chien)

genannt wird. Sie konzentriert sich auf den Gebrauch von Kraft in jeweils

einer Handfläche, steht für die Essenz der Yang-Energie und ist die primäre

Methode zur Erzeugung von Chi im Ba Gua.

Das dritte Stadium besteht aus der Zweiten Hand (Double Palm Change),

die das zweite Trigramm des I Ging repräsentiert, das „Erde" (oder auch

Chinesisch Kun) genannt wird. Sie steht für die Essenz der Yin-Energie und

ist die primäre Methode des Ba Gua zur Erzeugung der Yin-Energie oder

weichen Energie. Die Technik konzentriert sich darauf, beide Handflächen

zusammen zu benutzen. Sie werden solange miteinander koordiniert, bis

sie wie eins sind und sie die Qualität der Energie zwischen ihnen flüssig

und kraftvoll verändern können. Das vierte Stadium macht Gebrauch

von den grundlegenden acht Mutterhänden, wobei jede dieser Hände die

Energie, die besonderen Eigenarten, die Strategien und die subtilen Qua-

335

Die Zweite Hand (Double Palm Change)

des Ba Gua.

litäten eines der acht Trigramme des I Ging repräsentiert. In manchen

Systemen des Ba Gua konzentriert man sich nicht auf die Energien des

I Ging selbst, sondern auf die Eigenschaften der mit den jeweiligen Tri-

grammen assoziierten Tiere. Im fünften Stadium des Kreisgehens wird das

Repertoire auf 64 Techniken oder Hände ausgeweitet, wobei jede dieser

Hände versucht, die Vielfalt der Eigenschaften der 64 Hexagramme des

I Ging zum Ausdruck zu bringen.

Charakteristika des Kreisgehens Auch wenn die Meditation in Bewegung

und die Kultivierung von Energie die Essenz des Ba Gua Chang darstellen,

geht es im anfänglichen Training nicht um solche esoterischen Belan-

ge. Die Methode des Kreisgehens im Ba Gua betont vielmehr zuerst die

Körpermechanik. Der Übende geht in einem Kreis, der gewöhnlich einen

Durchmesser von zwei bis drei Meter hat, auch wenn einige Schulen emp-

fehlen, Anfänger sollten einen Kreis verwenden, dessen Umfang acht oder

zwölf Schritte lang ist. Dieses Gehen wird mit drei grundlegenden Schritten

vollzogen: 1. Ein gerader Schritt, der direkt nach vorn geht; 2. ein „Zehen

einwärts"-Schritt, bei dem das Bein und der Fuß in einer Kurve einwärts auf

die Wirbelsäule zu vorangetrieben werden und der äußere Fuß gegen das

Zentrum des Kreises hin bewegt wird; 3. ein „Zehen auswärts"-Schritt, der

Sie vom Zentrum des Kreises wegtreibt. (Zu den weiteren Schritten gehören

Schritte nach hinten, zur Seite, drehende, springende, zickzackförmige,

hüpfende Schritte, Kreuzschritte und Halbschritte.) Wird das Gehen richtig

ausgeführt, dann öffnen sich die Energiekanäle des Körpers auf natürliche

Weise und der Körper wird gesund und stark.

In China ist das Ba Gua - sowohl als Kampfkunst als auch als Kunst der

Energiekultivierung - dafür bekannt, dass es auf der Fußarbeit basiert. Es

ist nicht selten, dass Ba-Gua-Praktizierende eine Drehung von 270 Grad

machen, wobei ein Fuß fest auf dem Boden stehen bleibt und der andere

(der „Zehen auswärts"-Fuß) im Bogen herum schwingt. Diese Art von

Schritt vermag man nur auszuführen, wenn die Hüften und der Rest des

Körpers nach langer Übung offen und entspannt sind und die drehende

Bewegung der tiefsten Körpermuskeln sehr stark geworden ist.

Die Hände des Ba Gua werden üblicherweise nicht im Zeitlupentempo

ausgeführt. Dies steht in direktem Gegensatz zur grundlegenden Methode

des Tai Chi, wo man sich in den Soloformen im Zeitlupentempo bewegt.

Auch wenn die Übung anfänglich in einer langsamen Gangart ausgeführt

wird, wird die Geschwindigkeit im Laufe von ein bis zwei Jahren der Übung

336

auf die Ganggeschwindigkeit der modernen Sportart des „Gehens" erhöht,

wobei es blitzschnelle Bewegungen in der Taille und der Arme sowie Dre-

hungen und dauernde Richtungswechsel gibt. Das anfangliche langsame

Tempo der Übung ist nicht obligatorisch, wie im Tai Chi, sondern wird

nur gebraucht, damit der Übende zuerst einmal die vielen unabdingbaren

technischen Erfordernisse zu stabilisieren vermag. Die Grundprinzipien

des Ba Gua müssen erst einmal in Fleisch und Blut übergehen. In den

Anfangsstadien der Übung des Ba Gua ist es praktisch unmöglich, schnell

zu gehen, ohne gegen einige dieser Prinzipien zu verstoßen. Eines der

wichtigsten dieser Prinzipien ist das Verdrehen des Körpers, insbesondere

der Beine und der Taille.

Im Ba Gua wendet und dreht sich der Körper ständig. Keine Aktion

im Ba Gua wird in einer geraden Linie ausgeführt, selbst bei den relativ

linearen Übungsmethoden nicht. Selbst scheinbar geradlinige Techniken

werden sich bei näherem Hinsehen als ganz leicht gekrümmt erweisen.

Eine der einzigartigen Eigenschaften dieser Kunst ist, dass viele ihrer Be-

wegungen vollkommen sphärisch sind. Die totale Flexibilität des Körpers

ist im Ba Gua ganz wesentlich, und in der Tat bildet das Ba-Gua-Training

im Vergleich zu allen anderen Kampfkünsten die kontinuierlichste Kör-

perbiegsamkeit heran.

Zusätzlich zur Drehung des Körpers und der Geschmeidigkeit, mit der

er im Ba Gua dahinfließen kann, gibt es noch viele spezifische körperliche

Prinzipien, die man selbst dann berücksichtigen muss, wenn man nur die

grundlegendste Form des Kreisgehens ausfuhrt. Dazu gehört das Prinzip der

Beherrschung der Körperausrichtungen, welches die folgenden Attribute

hat: a) das Gewicht wird in die Beine abgesenkt; b) die Wirbelsäule und der

Kopf sind aufrecht; c) der ganze Körper ist entspannt, aber zum Zentrum

des Kreises hin gewunden; d) das Steißbein zeigt nach vorn; und e) die

beiden Arme können sich entweder in Koordination miteinander bewegen

oder voneinander völlig unabhängig Bewegungen ausführen.

Die körperlichen Eigenschaften des Kreisgehens

Um es noch einmal zu wiederholen: Das Ba-Gua-Training konzentriert

sich zu Anfang darauf, den Körper gesund, flexibel und stark zu machen.

Dies ist der unmittelbarste Nutzen, den der Anfänger aus der Übung des Ba

Gua zieht. Viele Menschen in Chinas üben das Ba Gua allein aus diesem

Grunde und sind mit den Resultaten sehr zufrieden. Anfänglich ist das

337

Ba Gua jedoch nicht für Menschen zu empfehlen, die an einer Verletzung

des Rückens oder der Gelenke leiden. Wenn das Gehen im Ba Gua in einer

lebhaften Trainingssitzung schnell ausgeführt wird, belastet es den Rü-

cken und die Gelenke. Diese Belastung kann ein unverletzter Körper gut

verkraften, doch sie kann alte Verletzungen verschlimmern. Leidet man

unter Verletzungen des Rückens oder der Gelenke, so ist es am besten,

diese zuerst durch die Übung von Chi Gung oder Tai Chi zu heilen. Hat

sich der Zustand deutlich verbessert, kann man dann mit der Übung des

Ba Gua beginnen.

Lassen wir für den Moment einmal das Thema des Chi beiseite (das

von absoluter Wichtigkeit für das Ba Gua ist), so ist das, was den Körper

physisch stark macht, die für das Ba Gua typische dauernde Dehnung des

weichen Gewebes, das Öffnen und Schließen der Gelenke und Körperhöh-

lungen und das Drehen der Muskeln, Faszien und Bänder. Die Bewegun-

gen des Ba Gua beanspruchen den Körper stark. Für einen ungeschulten

Beobachter mag es so aussehen, als ginge eine Person nur sinnlos im

Kreise herum, doch das Drehen und Wenden beim Kreisgehen übt einen

massiven Druck auf die inneren Organe und das System von Knochen

und Muskeln aus.

Das Kreisgehen an sich wird schon zu einer Öffnung und Stärkung

des Unterkörpers führen. Damit sich dieser Prozess fortsetzt und auch die

Öffnung und Stärkung des Rumpfes und der Arme bewirkt, sind Dutzende

von Stellungen mit ausgestreckten Armen für den Oberkörper entwickelt

worden, die beim Kreisgehen angewendet werden. Sie sind speziell dazu

gedacht, die Gewebe und Gelenke des oberen Rückens, des Nackens, des

Brustkorbs und der Arme zu öffnen und den Körper physisch und energe-

tisch auszubalancieren. Das Öffnen des Körpers vollzieht sich allmählich

über Wochen, Monate und Jahre des Kreisgehens. Indem der Körper sich

streckt und stärker wird und mehr Energie zu zirkulieren beginnt, wird der

Körper allmählich immer vitaler und zugleich entspannter.

Die energetischen Eigenschaften des Kreisgehens

Das Ba Gua ist zuerst und vor allem eine Kunst der inneren Energiebewe-

gung. Wie schon erwähnt, besteht das grundlegende Training der inneren

Energie im Ba Gua aus den acht „Händen" (Palm Changes). Auf den fort-

geschritteneren Ebenen des Ba Gua benutzt jede dieser Hände im Kampf

direkt die Energie, die den Trigrammen des I Ging innewohnt. Wenn wir

338

auf diese Ebenen fortschreiten, dann mag es sein, dass die Bewegungen

anfanglich ganz bestimmte energetische Krafteigenschaften annehmen.

Sie könnten zum Beispiel etwas Leichtes oder Durchdringendes für das

Trigramm, das den Himmel repräsentiert, annehmen, oder etwas Schwe-

res, Abwärtsdrückendes oder Amorphes für das Trigramm, das die Erde

repräsentiert. Vielleicht nehmen sie für die anderen Trigramme auch etwas

von plötzlichem, abruptem Schock an, von Vibration, Wirbeln, Einsaugen

und Nach-außen-Drehen und so weiter. Im Laufe vieler Jahre werden die

acht Hände in das Kreisgehen integriert. Das macht es uns möglich, uns

Techniken der Selbstverteidigung anzueignen, den Unterkörper weiter zu

stärken und zu öffnen und der acht primären Energien des I Ging gewahr

zu werden. Nach Ansicht der Daoisten sind die acht Energien, die den acht

Körpern des Menschen entsprechen, die folgenden: der physische Körper,

der ätherische oder Chi-Körper, der emotionale Körper, der mentale Kör-

per, der Körper übersinnlicher Energie, der Kausalkörper und der Körper

des Dao. Jeder dieser Körper besitzt eine unterschiedliche energetische

Schwingungsebene.

In Übereinstimmung mit dem l Ging kombiniert das Ba Gua die acht

primären Energien ständig miteinander und transformiert sie. Zu Beginn

des Trainings werden Metaphern, die auf die acht Energien verweisen, in

Bewegungen von Körper und Chi übersetzt. Der Zweck des Trainings auf

dieser frühen Stufe ist, den Körper zu koordinieren, den Geist zu beruhigen

und den absichtslosen Bewusstseinszustand, denn die Daoisten Wu Wei

nennen, hervortreten zu lassen.

Die Energien des I Ging -Der Beginn des fortgeschrittenen Ba Gua

Ist man erst einmal in der Lage, beim Kreisgehen die grundlegenden Prin-

zipien zu beachten, dann beginnt man den Kreis in gemäßigtem und

schließlich immer schnellerem Tempo zu gehen, wobei man Drehungen

und Armbewegungen mit ständigen Richtungswechseln verbindet. Mit

der Zeit entwickeln sich das schnelle Kreisgehen und die Hände (Palm

Changes) zu einem Wirbelsturm mit extrem schnellen Spiralbewegungen

des Körpers und augenblicklichen Richtungswechseln.

339

Sobald Sie den Zustand der „Absichtslosigkeit" erreicht haben, beginnen

zuerst Ihr Bewusstsein und dann Ihr Körper erste Einblicke in die tatsäch-

liche lebendige Realität der acht Energien zu erhaschen, diese allmählich

deutlicher zu erfahren und sie in Ihr Dasein zu integrieren. Dieses Begreifen

der acht Energien basiert auf Erfahrung und lässt sich unmöglich zutreffend

in Worte fassen. Direkte Übertragungen von Herz-Geist zu Herz-Geist sind

für den Prozess der Lehre ganz wesentlich. Auch wenn die klassischen Me-

taphern des Daoismus dem begrifflichen Denken entgegenkommen, muss

man die Realität dieser Energien doch in den Zellen des eigenen Körpers

erfahren. Dann beginnt man unmittelbar wahrzunehmen, wie diese acht

Energien sich sowohl innerlich als auch in der sich ständig im Äußeren

manifestierenden Welt auf Ebenen ständig zunehmender Komplexität ma-

nifestieren. Dieser Prozess wird im Ba Gua durch ein reibungsloses und

ununterbrochenes Fließen durch die acht Hände zum Ausdruck gebracht.

Dieses Fließen ist ganz wesentlich für die meditativen und heilenden As-

pekte des Ba Gua. Es ist auch die Grundlage für die Wirksamkeit des Ba

Gua im Kampf, da der andauernde Ortswechsel und der Wechsel von

Richtungen und Kampfwinkeln die Gegner verwirrt.

Die acht Mutterhände

Jede der acht Hände ist so konzipiert, dass sie die Fähigkeit eines Menschen,

die damit korrespondierende Energie anzuwenden, erhöht. Allerdings wird

jede Hand auch in unterschiedlichem Ausmaß von den Energien der sieben

anderen Hände beeinflusst. In der ursprünglichen Schule des Ba Gua übten

viele der besten Praktizierenden jahrelang die Erste Hand, bevor sie weitere

Hände erlernten. So übte zum Beispiel Shi Liu, der mit Tung Hai Chuan

zusammenlebte und einer seiner besseren Schüler war, für die ersten sechs

Jahre seiner Schulung die Erste Hand. Das war alles, was er tat, und doch

waren seine Anwendungen ausgezeichnet, weil seine Bemühungen auf

eine Sache konzentriert und nicht auf viele verschiedene Formen aufgeteilt

waren. Ein zeitgenössisches Beispiel für eine solche Zerstreuung der Energie

findet man in manchen Schulen, die alle 64 Hände für das Kampfkunst-

training verwenden. Die Schüler dieser Schule sind oft nicht in der Lage,

die Handtechniken wirksam einzusetzen, was ein Hinweis darauf ist, dass

hier zuviel Information gegeben wird, aber zuwenig wahres Verständnis

und echte Verkörperung der Kunst vorhanden ist.

340

Es gibt - je nach der Linie (siehe Seite 511 f.), in der man sich schult, und

nach deren Entwicklung über die Generationen hinweg - viele verschiedene

Versionen der acht Mutterhände. Es gibt jedoch nur zwei Kategorien der

verschiedenen Sets von Mutterhänden, nämlich jene, die der vorgeburt-

lichen, und jene, die der nachgeburtlichen Methode entsprechen. Zu den

nachgeburtlichen Sets gehört, dass man all die Bewegungen erlernt und die

Formen oder Hsing die sie enthalten in Hinsicht auf ihre Anwendung im

Kampf zu unterscheiden. Diese Methode ist eine Annäherung, die von au-

ßen nach innen fortschreitet und die eher äußerliche Trainingsmethode der

Acht äußeren Hände verwendet. Die Wai-Ba-Chang-Bewegung wird mehr

oder weniger wie die Hsing in der Form mit wenig Variation angewendet.

Im Gegensatz dazu, geht die vorgeburtliche Methode alles von innen nach

außen an und benutzt das Training der Acht inneren Hände. Bei der vor-

geburtlichen Methode internalisiert man das, was man tut, dergestalt, dass

eine ganz kleine Mikrobewegung alle energetischen Aspekte, die inneren

Körpermechanismen und die Kampfanwendungen einer Form enthalten

kann. Auch wenn dabei innerlich sehr viel geschehen mag, wird das für

das ungeschulte Auge möglicherweise nicht sichtbar. Traditionellerweise

werden sieben der acht Hände mit der offenen Handfläche ausgeführt

und nur zu einer der acht gehört der Gebrauch der geschlossenen Faust.

Im Allgemeinen ist die Methode der Acht inneren Hände wirkungsvoller,

weil ihre kleineren Bewegungen es Ihnen ermöglichen, die Wandlungen

schneller zu vollziehen. Die Kenntnis einer großen Anzahl von Hsing oder

Formen vergrößert nicht unbedingt Ihr Vermögen, die Wandlungen ohne

jegliche Trägheit schneller zu vollziehen. Die Frage der Wandlungsfähigkeit

ist jedoch die wesentlichste für die Anwendung dieser Kunst im Kampf

oder als spirituelle Methode. Als Faustregel kann man sagen: Je mehr

man äußerlich sieht, desto weniger geschieht innerlich. Umgekehrt ist es

auch richtig: Je mehr im Inneren geschieht, desto weniger sieht man das

äußerlich. Dies trifft vor allem für die Besten unter den Ausübenden des Ba

Gua zu. Wenn sie Solobewegungen praktizieren, erscheint das, was sie tun,

außerordentlich simpel zu sein. Wenn sie es jedoch im Kampf anwenden,

wird die Sache außerordentlich komplex. Genau das Gegenteil trifft oft bei

Praktizierenden zu, die komplexe äußere Formen beherrschen. Wenn sie

ihre Kunst im Kampf anwenden wollen, erweisen sich ihre Anwendungen

als allzu simpel und unwirksam, weil es ihnen an Wandlungsfähigkeit

mangelt und sie sich unter dem Druck des körperlichen Kontakts im Kampf

nicht gut genug auf Veränderungen einzustellen vermögen.

341

Shi Liu und die kondensierte Erste Hand

Für Shi Liu und andere nahm Tung die Acht inneren Hände und konden-

sierte sie noch weiter zur Ersten Hand. In die Erste Hand und die Zweite

Hand wurden winzige Bewegungen inkorporiert, die sämtliche Prinzipien,

Energien und Anwendungen des ganzen Systems der Acht Hände enthal-

ten. Diese Erste Hand war so vollständig, weil sie innerhalb des Geistes

voll entwickelt wurde. Es waren keine zusätzlichen Formen nötig, weil

das „I" oder die Intention, woraus alle Gedanken von Shi Liu entspran-

gen, ein komplettes Verständnis der Natur der Wandlungen umfasste und

augenblicklich jede physische Bewegung zu manifestieren vermochte,

die in der jeweiligen Situation vonnöten war. Hierin besteht eine große

Ähnlichkeit zu den auf Intention basierenden Schulen des Hsing-I. Wenn

der Geist sich hier eine körperliche Bewegung vorstellen konnte und das

Chi durch die entsprechenden Energiebahnen zu lenken vermochte, dann

konnte der Körper dies augenblicklich mit voller Geschwindigkeit und

Kraft in körperliche Bewegung übersetzen. Diese Methode der Konden-

sierung des gesamten Energiesystems des Ba Gua in die Erste Hand war

die traditionelle in den Klöstern geübte Methode des Ba Gua. Hier ging es

nicht um Kampfkunst, sondern allein um die innere Alchimie, daoistische

Meditation und Praktiken zur Förderung der Gesundheit.

Für Tungs Schüler Shi Liu wurden winzige Bewegungen innerhalb der

Ersten Hand zum Mittel der Kultivierung seiner Energie. Es mag nur eine

Bewegung eines Fingers zu einer neuen Gestalt der Handfläche gewesen

sein, die tief in seinem Geist die Energiekanäle und die Psyche miteinander

verband und ihm die Fähigkeit verlieh, dies in eine Kampfanwendung zu

transformieren. Ein anderer Praktizierender des Ba Gua mochte vielleicht

zwei oder drei ausgreifende Bewegungen benötigen, um dasselbe Resultat

zu erzielen. Shi Lius Bewegung war auf der körperlichen Ebene vielleicht

nur ein Hundertstel so groß, doch sie war tatsächlich gleich wirksam oder

sogar wirksamer, sowohl in Hinsicht auf die Lenkung des Chi durch den

Körper als auch zum Zweck des Kämpfens.

Bei einer solch differenzierten Ausrichtung auf die Erste Hand gab es

verschiedene Ebenen des Trainings, die jeweils einen unterschiedlichen

Zweck verfolgten. Der Zweck einiger Trainingsmethoden besteht darin,

die inneren Aspekte Ihres Körpers zu stärken. Man kann zum Beispiel den

Kreis gehen und sich dabei auf einen spezifischen inneren Prozess kon-

zentrieren wie etwa das Pulsieren der inneren Organe. Zu einem anderen

342

Zeitpunkt konzentrieren Sie sich vielleicht auf einen anderen Prozess, etwa

das Variieren des inneren Drucks der zerebro-spinalen Flüssigkeit, oder sie

konzentrieren sich auf mehrere Prozesse gleichzeitig. Diese selektive Aus-

richtung auf einen individuellen Prozess wird üblicherweise eine Zeitlang

aufrechterhalten, bis einem diese Abläufe in Körper und Geist eingeprägt

sind. Ein Beobachter würde nur sehen, wie dieselbe äußere Bewegung

wieder und wieder wiederholt wird, und hätte keine Ahnung von den

unterschiedlichen inneren Prozessen, die dabei eingeübt werden.

Tung war der einzige, von dem es heißt, dass er vollständigen Gebrauch

von allen acht Händen machen konnte. Seit der dritten Generation der

ursprünglichen von Tung begründeten Ba-Gua-Schule vermochte nur

selten jemand das volle Potential aller acht Mutterhände auszuschöpfen.

Die meisten der Ba-Gua-Praktizierenden - und selbst die besten unter

ihnen - benutzten nur drei oder vier der Hände, weil es schon Jahre dau-

ern konnte, nur eine der Hände (Palm Changes) zu begreifen. Ein wahres

Begreifen einer Hand setzt voraus, dass man die inneren Mechanismen

dieser Hand bis in alle Einzelheiten versteht, nicht nur die äußeren Be-

wegungen. Für die Ba-Gua-Adepten sind die äußeren Bewegungen nicht

mehr als die „Verpackung" des inneren Gehalts. In westlichen Geschäften

findet man heute viele Nah-

rungsmittel , die eigentl ich

nur einige Gramm wiegen, die

aber aufgrund einer voluminö-

sen Verpackung nach „mehr"

aussehen sollen. Essbar sind

allerdings nur die paar Gramm

Nahrung, nicht das Verpa-

ckungsmaterial . Einige der

Ba-Gua-Adepten lernten, ihre

Bewegungen komprimiert zu

halten. Andere, wie zum Bei-

spiel Cheng Ting Hua und Yin

Fu, dehnten ihre Bewegungen

aus. Wie auch immer - man

geht üblicherweise davon aus,

dass die Essenz des Ba Gua in

der Ersten Hand und der Zwei-

ten Hand enthalten ist.

343

Liu Hung Chieh lehrt den Autor die Erste

Hand (Single Palm Change).

Spontane Bewegungen

Wenn sich Ihre Ba-Gua-Praxis innerlich und äußerlich immer mehr ent-

wickelt, mag es zu Momenten oder gar Zeitabschnitten der spontanen

Bewegung kommen. In der Sprache des Ba Gua nennt man dies „Der

Drache kommt aus seiner Höhle hervor". Spontane Bewegungen können

auftreten, während Sie die Form üben. Sie mögen auch spontan beginnen,

Energie auf sehr machtvolle Weise freizusetzen und Fa-Jin-Bewegungen

auszuführen, die Ihnen niemand breigebracht hat. Es kann auch sein, dass

Sie alle möglichen übersinnlichen Erfahrungen machen.

Bien Hua und die Kunst des Wandels nach dem I Ging

Im I Ging, dem „Buch der Wandlungen", geht es darum, wie eine Energie,

ein Ereignis, eine Situation oder ein Ding sich in ein anderes verwandelt.

Benutzt man das I Ging zum Orakelnehmen, dann wirft man die Schaf-

garbenstängel oder die Münzen, um eine bewegte Linie zu erhalten, die

dann wiederum ein neues Hexagramm hervorbringt, und dieses neue He-

xagramm ist ein Bien Hua oder eine „Wandlung". Eines der wesentlichen

Ziele der Praxis des Ba Gua ist, die inneren Chi-Regeln des Wandels aus

dem Bauch heraus und nicht nur rein intellektuell zu verstehen. Wenn

Sie persönlich zu verstehen beginnen, wie sich das Chi innerhalb Ihres

eigenen Körper/Geistes wandelt, dann beginnen Sie auch zu begreifen,

wie das Chi funktioniert, welches Ereignisse und Situationen bestimmt.

Das Ba Gua, die persönliche Praxis des I Ging, zeigt Ihnen dann, wie Sie

beginnen können, das I Ging vierundzwanzig Stunden am Tag in Ihrem

Leben anzuwenden. Sie tun dies, indem Sie lernen, die verschiedenen Ar-

ten von Chi und die energetischen Prozesse unmittelbar in Ihrem Körper

wahrzunehmen, jene Prozesse, die: 1. Wandel einleiten; 2. das tragende

Element und die Stütze für einen Wandel sind; 3. verhindern, dass ein Wan-

del sich auf natürliche Weise entfalten kann, weil Sie ihn durch Trägheit

oder unsichtbaren inneren Widerstand bremsen; und die 4. auf natürliche

oder unnatürliche Weise einen Wandel zum Stillstand bringen. Es geht

dabei nicht allein darum, die tiefere Bedeutung des I Ging intellektuell zu

verstehen, sondern diese Bedeutung für das persönliche Leben relevant

344

und im Alltag anwendbar zu machen. Dazu braucht man eine regelmäßige

persönliche Übung. Und zu eben diesem Zweck wurde das Ba Gua von

den alten Daoisten entwickelt.

Ob das Ba Gua nun als Kampfkunst oder aus gesundheitlichen oder

spirituellen Gründen praktiziert wird, auf jeden Fall gehört die Natur des

Wandels zu seinen wichtigsten Studienobjekten. In den meisten Formen

der Kampfkunst wie auch in vielen anderen Bereichen des Lebens geht man

davon aus, dass es eine „richtige" und eine „falsche" Weise gibt, die Dinge

zu tun. So gibt es zum Beispiel in den äußeren Kampfkünsten eine richtige

Weise, einen bestimmten Hieb auszuführen. Möchte man den Angriffs-

winkel verändern, so muss man eine andere äußere Form anwenden, die

den entsprechenden Winkel besitzt. Doch das Ba Gua funktioniert anders.

Der Ba-Gua-Praktizierende verwandelt den inneren Widerstand im Körper,

so dass der Körper sich den Umständen anpassen und augenblicklich mit

dem neuen Winkel anzugreifen oder zu verteidigen vermag, ohne eine

neue äußere Form anzunehmen.

Die Anwendung des Bien Hua ist ganz wesentlich für die Kampfan-

wendungen im Ba Gua. Es heißt, dass die Erste Hand die zehntausend

Energie- und Kampf-Strategien/Techniken des I Ging enthält. (Die Zahl

„Zehntausend" bedeutet im Chinesischen üblicherweise „nie endend", „My-

riaden" oder „unendlich viele".) Die Erste Hand verändert sich in dem Maße,

in dem das Können des Praktizierenden zunimmt, so wie sich auch unser

Verständnis der inneren Bedeutung des I Ging verändert, je länger man

damit arbeitet. Die Art und Weise, auf die die Praktizierenden ihr Inneres

bewegen, ihre Aufmerksamkeit sammeln und die Energie innerhalb ihres

Körpers verändern, all das hat eine Auswirkung auf die möglichen Winkel

des Angriffs und der Verteidigung mit der Ersten Hand.

So wie Tung Hai Chuan es lehrte, gibt es jedoch nur etwa zehn bis

fünfzehn grundlegende Formbewegungen, die alle formell die Erste Hand

genannt werden. Tung passte die Erste Hand dem einzigartigen Körper und

Geist und der einzigartigen Energie jedes Schülers an. Er überlieferte eine

physische Form, die es vielen verschiedenen individuellen Chi-Strukturen

erlaubte, Bien Hua oder eine Wandlung durchzumachen.

Traurigerweise wurden diese Variationen über einzelne Hände im Pro-

zess der Überlieferung über einige Generationen hinweg zu äußerst starren

Formen festgeschrieben. Manche Schulen des Ba Gua gehen sogar so weit

zu sagen, es gäbe nur eine korrekte Weise, die Erste Hand auszuführen.

Die besseren Schüler von Tung jedoch überlieferten, wie man diese Wand-

345

lungen hervorbringen und abwandeln kann, und sie brachten wiederum

ihre eigenen Formen hervor, die dann ihr eigenes ihnen innewohnendes

Bien Hua hervorbrachten, und so weiter. Es ist dieser Aspekt, der aus

dem Ba Gua eine sich entwickelnde Kunst macht. Das ist mit einem sich

selbst generierenden Computerprogramm mit sehr vielen Permutationen

vergleichbar, das fähig ist, aus seinen eigenen Fehlern zu lernen. Darin

unterscheidet sich das Ba Gua deutlich von den äußeren Kampfkünsten,

wo die Formen oft nicht flexibel sind, weil ihr Zweck darin besteht, eine

bestimmte äußere Wirkung zu erzielen.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Der Drache kommt aus seiner Höhle hervor

Bevor ich meinem Lehrer Liu Hung Chieh begegnete,

hatte ich im Kontext des Ba Gua Chang niemals wirk-

lich spontane Bewegungen erlebt. Wenn ich mich mit

fortgeschrittenen Ba-Gua-Adepten in Beijing unterhielt,

hörte ich von ihnen, dass nur Praktizierende der Ba-

Gua-Meditation diese Art von Erfahrungen machten. Meine erste Begeg-

nung mit den spontanen Bewegungen hatte ich im Jahr 1981 in Lius

Heim in Beijing. Die Erfahrung hielt nur einige Wochen an. Eine Person,

die das ganze beobachtete, beschrieb es als „der Drache schüttelt den

Schwanz", weil mein Rücken und meine Wirbelsäule dabei so stark vi-

brierten, dass es aussah, als käme ein Schwanz aus meiner Wirbelsäule

hervor. Die Quelle dieser unglaublich schnellen und doch fließenden Be-

wegungen ist die Freisetzung des inneren Bewusstseins eines Menschen.

In diesem Prozess beginnt Ihre Energie sich mit der Energie in der Umwelt

zu vermischen, so dass sie Zugang zu den ursprünglichen Energien erhal-

ten, aus denen die Ba-Gua-Linie hervorgegangen ist.

Die Metapher des Drachen ist durchaus angemessen für die spontanen

Ba-Gua-Bewegungen. Im chinesischen Denken hat der Drache sehr viele

Bedeutungsebenen. Er ist das Symbol des Kaisers, so wie der Phönix das

Symbol der Kaiserin ist. Der Drache ist ein Glückssymbol und ein Sym-

bol des Strebens nach dem Höheren und der Spiritualität. Die spontanen

Bewegungen, die ich erlebte, ähneln dem, was man in der Tradition der

Shaktipat-Meditation des indischen Kundalini-Yoga Kriya oder sponta-

ne Handlungen nennt. Der einzige Unterschied ist, dass diese spontanen

Bewegungen eine Form annahmen, die dem Ba Gua und der Kampfkunst

346

angemessen ist, und sich nicht als eine emotionale oder kathartische Ent-

ladung äußerten.44

So wie sie sich in diesen spontanen Bewegungen manifestiert, wird die

Energie des Universums im Daoismus der „Drache", von den Kundalini-

Adepten in Indien die „Kundalini" genannt. Es geht bei den spontanen

Bewegungen nicht darum, dass man sich einfach frei bewegen darf, so

wie in manchen Formen des Tanzes, der Psychotherapie oder einigen Chi-

Gung-Praktiken, oder dass man zuvor gelernte Bewegungen in einer Art

Improvisation, die der des improvisierenden Jazzmusikers gleicht, mitein-

ander kombiniert, sondern um etwas Tieferes und Machtvolleres. Eine le-

bendige Energie steigt zugleich aus der Erde auf und vom Himmel herab.

Wenn diese Energien sich innerhalb Ihres Körpers vermischen, werden sie

zu einer lebendigen Kraft, die Ihren Körper zu bewegen beginnt. Es gibt

hier gewisse Parallelen zu der Besessenheit des Schamanen, zu den spon-

tanen Bewegungen der Kundalini-Energie oder der Bewegung des Heili-

gen Geistes im Christentum, aber das ganze hat doch eine andere Qualität

und fühlt sich anders an. Dabei werden auch spontan Fertigkeiten in der

Kampfkunst und Chi-Flüsse hervorgebracht, die durch das gewöhnlich

Kampfkunsttraining im Ba Gua, soviel Mühe man sich dabei auch geben

mag, nur äußerst schwer zu erreichen wären.

Der Drache ergreift buchstäblich Ihren Körper/Geist und beginnt Sie

zu bewegen und Sie zu lehren, was Sie tun sollen. Dies nennt man die

„himmlische Unterweisung des Ba Gua". Es sind dies Lehren, die wir direkt

vom Himmel empfangen. Es ist nicht so, dass Sie eine Bewegung ausfiih-

ren; Sie werden vielmehr bewegt, manchmal auf ziemlich heftige Weise.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie es war, als mir das in Lius

kleinem Zimmer passierte: Ich hätte auf einer kleinen Münze herumwir-

beln können, wo ich normalerweise irgendetwas umgestoßen hätte. Die

spontane Bewegung enthielt einen Grad an körperlicher Koordination,

der selbst nach zwanzig Jahren der Praxis in den Kampfkünsten jenseits

meiner normalen Fertigkeiten lag. Und doch tat ich all das. Mein Körper

machte unmögliche Luftsprünge, Sprünge, die ich zuvor nie für möglich

gehalten hätte. Ich erlebte die Anfänge des Ching Gung, der Leichtigkeit

der körperlichen Fertigkeiten, die historisch gesehen eine Spezialität des

44 Jahre später erlebte ich in Taiwan wieder eine mildere Form dieser spontanen Bewegungen in einer Gruppe von Schülern von Huang Hsi I, die in Zentral-Taiwan spontanes Chi Gung praktizierten. Ich sah dort, wie Menschen, die zuvor nie etwas mit Kampfkunst zu tun gehabt hatten, spontan alle möglichen Kampfkunstformen hervorbrachten. Sowohl bei Liu als auch bei Huang wurde diese Methode durch rein energetische Übertragung gelehrt, ohne jegliche verbale oder psychologische Hinweise.

347

Ba Gua ist. Doch da war keine besondere Technik im Spiel, es geschah mir

einfach ganz plötzlich. Nachdem diese Periode der spontanen Bewegung

zu Ende gegangen war, kamen die spontanen Bewegungen niemals in

vollem Ausmaß wieder. Ich fragte mich, ob vielleicht all die Arbeit mit

der Kundalini, die ich während meines zweijährigen Aufenthalts in Indien

geleistet (und danach noch über Jahre weitergeführt) hatte, jetzt im Ba

Gua zum Ausdruck kam.

Ich fragte Liu danach. Er sagte, er habe die spontanen Bewegungen zum

ersten Mal erfahren, als er sich in den Bergen von Sichuan aufhielt, und

sie seien eine grundlegende Komponente der daoistischen Meditation. Er

sei allerdings erstaunt, dass sie bei mir in einem so frühen Stadium der

Schulung aufträten. Als ich ihm von meiner früheren Übung mit den

Kriya des Kundalini-Yoga erzählte, meinte Liu, dieser Hintergrund habe

mich schon früher mit diesen Energien in Berührung gebracht, und des-

halb sei ich vielleicht schon in diesem frühen Stadium meiner Schulung

im Ba Gua für solche Erfahrungen offen.

Die spontanen Bewegungen gelten als Teil der spirituellen Seite des Ba

Gua. Sie setzen blockierte Emotionen frei und geben uns die Möglichkeit,

die Energie in einem Ausmaß umzuwandeln, wie das mit der gewöhn-

lichen kontrollierten Übung des Ba Gua nicht möglich ist. Wenn diese

Dinge zu geschehen beginnen, gewinnt man Einblick in die Wurzeln des-

sen, was „Wandlung" im Ba Gua bedeutet. Die spontanen Bewegungen

halten typischerweise nur für einen begrenzten Zeitraum an, nicht länger

als einige Jahre, und man vermag nicht permanent auf den Ebenen des

Gewahrseins, die man dabei erreicht, zu bleiben, bis der Geist hinreichend

offen, stabil und ausgeglichen ist.

Zur Thematik des Bien Hua gehört auch die Frage, auf welche Weise Le-

bewesen, einschließlich des Menschen, sich im Laufe der Zeit verändern

und wandeln. Manchmal vollzieht sich die Wandlung in Hinsicht auf die

Formarbeit über einen Zeitraum von Wochen, Monaten oder Jahren, aber

es kann auch während einer Kampfanwendung zu zehn Wandlungen in

einer halben Sekunde kommen. Das Studium des Bien Hua ist etwas, das

in den meisten Ba-Gua-Schulen im Westen fehlt. In den guten Ba-Gua-

Schulen in China spricht man von der gesamten Schulung in Begriffen

des Bien Hua, und alles Training wird in Hinsicht auf Bien Hua durch-

geführt. Bien Hua oder Wandlung ist das Herz und die Seele des I Ging.

Hsing oder die Form ist die Weise, auf die Ihr Körper sich bewegt, und die

spezifischen äußeren Haltungen, die er annimmt, und so ist Hsing das,

348

worauf die äußeren Kunstformen sich konzentrieren. Beim Bien Hua geht

es auch darum, wie ihre innerliche Chi-Gestalt und Körperbeschaffenheit

sich verändert, wenn etwa in Ihrem Körper eine neue Situation entsteht,

wo das Chi von einer niederen Ebene der Befähigung auf eine höhere

Ebene springt, oder wie sie sich bei einer Kampftechnik verändert, wenn

Sie zum Beispiel von einem Hieb mit der Handfläche zu einem Hieb mit

dem Unterarm oder mit der Schulter übergehen. In Hinsicht auf den spi-

rituellen Aspekt des Ba Gua geht es beim Bien Hua darum, wie Sie bei der

Übung der inneren Alchimie von einer Ebene des Bewusstseins auf eine

andere zu springen vermögen.

Im Kampf kann Bien Hua darin zum Ausdruck kommen, wie Sie eine

bestimmte Bewegung abwandeln und sie ausführen. Die Kraft kann sich

nur geringfügig oder auch dramatisch verändern, je nachdem, wie ein

Angreifer seine Kraft oder seinen Angriffswinkel verändert hat, und Ihre

Körperpositur kann von Angriff zu Verteidigung oder von Verteidigung

zu Angriff wandeln, vielleicht sogar viele Male in einer Sekunde.

Wandel der Energie und der Kampfanwendungen

Es gibt für Ba-Gua-Praktizierende drei hauptsächliche Methoden, mit

denen sie die Fähigkeit entwickeln können, Energiewandlungen für die

Kampfkunst zu nutzen. Zuerst und vor allem müssen sie üben, eine Technik

anzuwenden, wobei der Körper lernt, den Energien der Umwelt, den eige-

nen Energien und denen des Gegners eine Form zu geben. Als Kampfkunst

und spirituelle Kunst macht das Ba Gua aktiven Gebrauch vom Chi der

Umgebung und bezieht Energie vom Himmel und der Erde. Das Ba Gua gilt

eher als eine „himmlische" denn als eine irdische Kunst, weil Praktizierende

des Ba Gua buchstäblich Energie von den Planeten und Sternen beziehen.

Indem sie übersinnliche Verbindungen zu diesen natürlichen Kräften her-

stellen, machen Ba-Gua-Übende Gebrauch von diesen Energien, während

sie die Aura des Übenden durchdringen und damit in Wechselwirkung

treten. Energien, die ständig aus der Erde aufsteigen und vom Himmel

absteigen, vermischen sich mit der lokalen Energie der näheren Umgebung.

Wenn Sie zum Beispiel in der Nähe von Bergen oder des Meeres leben,

dann nimmt Ihr Körper die Energien dieser Umweltphänomene ebenso auf

wie die des Windes und der Bäume.

Ihr Körper nimmt auch von einem Gegner, der Sie angreift, Energie

auf. Die Kombination all dieser Energien ruft eine genau angemessene

349

energetische Reaktion hervor, die zu der Kampfanwendung wird. In den

äußeren Kampikünsten basieren die Kampftechniken auf der Maxime: „Er

tut dies und ich tue jenes." (Er schlägt zu und ich wende daraufhin eine

von vielen möglichen reflexartigen Anwendungen aus.) Im Ba Gua benutzt

man jedoch keine Reflexe, um auf einen Angriff zu reagieren. Ihr Geist

bleibt immer gegenwärtig und still, und Sie bewegen sich, wie schon an-

gedeutet, spontan in Reaktion nicht nur auf Ihre eigenen Energien und die

des Angreifers, sondern auch auf die Energien Ihrer Umwelt. Die meisten

Kampfkünste betonen nur, man solle der Energie oder der körperlichen

Bewegung des Gegners gewahr sein.

Zweitens gibt es Übungen, bei denen eine Person angreift und eine

Person sich entweder spontan oder nach abgesprochenen Regeln vertei-

digt. Jene Schulen des Ba Gua, die abgesprochene Muster für den Kampf

zwischen zwei Personen verwenden, werden als Schulen angesehen, die

außerhalb des Tores des traditionellen Ba Gua stehen. Die wahren Methoden

der Wandlung lernt man nur, wenn zwei Personen frei miteinander üben

und einander angreifen, wie es ihnen gefallt. Das kann man üben, wäh-

rend beide Personen zusammen den Kreis gehen oder sich auf irgendeinen

anderen spontanen Austausch mit möglichst wenig Regeln einlassen (so

kann der Angreifer zum Beispiel nur bestimmte Körperregionen mit einer

beliebigen Technik angreifen, oder er benutzt nur einen ganz bestimmten

Hieb).

Die dritte Methode zu lernen, wie man bei Kampfanwendungen die En-

ergie und die Winkel verändert, ist das Rou Shou (siehe Seite 360). Dies ist

eine Trainingsmethode, die dem Push Hands des Tai Chi ähnelt. Allerdings

darf man beim Rou Shou schlagen, werfen, treten und Hebel anwenden.

In der Anfangsphase schlägt man nur leicht zu, so dass man niemandem

weh tut oder ihn verletzt, aber immerhin hart genug, dass der Schlag

zu spüren ist. Es ist nicht wie beim Karate oder Shaolin, wo man einen

Hieb im letzten Moment zurückzieht, sondern eher wie bei einem leichten

Sparring im Boxen. Hat man erst einmal gelernt, Hiebe so weitgehend zu

absorbieren, dass man auch starke Hiebe leicht verkraften kann, beginnen

die Partner im Sparring immer heftiger zuzuschlagen.

Die unsichtbare Umwandlung der Energie, die Ihrem Herz-Geist ent-

springt, ist eine wesentliche Komponente des Ba Gua sowohl als Kampf-

kunst als auch als spirituelle Kunst. Voraussetzung dafür ist, dass Sie in

der Lage sind, innerhalb des Hsing oder der Form zu variieren und sich

an die Veränderung der eigenen Energie oder die Ihres Gegners anzupas-

350

sen, ohne an ihre äußere Formbewegung gebunden zu sein. Im Ba Gua

kann man eine einige körperliche Bewegung auf hundert unterschiedliche

Weisen ausführen, von denen jede als eine Wandlung (Bien Hua) gilt. Jede

Wandlung beschreibt eine unterschiedliche Weise, auf die das Chi an einen

bestimmten Ort in Ihrem Körper gelangt oder auf die das Chi eine bestimm-

te Energieebene erreicht und sich dann in etwas anderes verwandelt. Der

Wandel beruht darauf, dass ständig Energie zusammenkommt und sich

wieder trennt. Diese Verschmelzung und Aufspaltung setzt unglaublich

viel Energie frei und eröffnet unendlich viele Möglichkeiten. Der Punkt, an

dem diese potentielle Verschmelzung oder Spaltung geschieht, bestimmt,

welche Form die Energie als nächstes annehmen wird. Im Ba Gua ist alles

immer drauf abgestellt, dass es zu dieser plötzlichen Freisetzung oder

Absorption von Energie kommen kann und dass man diese intensiven

sich wandelnden Energien fruchtbar zu nutzen vermag.

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Acht trunkene Unsterbliche

In einem Park in Taipei beobachtete ich eines Nachmit-

tags eine Gruppe von acht Personen, die unter einem

Baum eine ungewöhnliche Kampfkunst praktizierten.

Die Gruppe wurde angeführt von einem alten Mann, der

sich bewegte wie ein Teenager. Ich sah eine Weile zu,

und schon bald entwickelte sich ein Gespräch zwischen mir und dem

Lehrer. Er war überrascht zu hören, dass ich Chinesisch sprach und den

Daoismus liebte. Er erzählte mir, seine Methode nenne sich Acht trunkene

Unsterbliche und gehöre zu einer daoistischen Überlieferungslinie und sei

kein Teil der Methode des Shaolin. Er fragte mich, ob ich sie lernen wollte.

Als ich ihn fragte, wo ich mich zum Training einfinden sollte, antworte

er, wenn er lehre, dann tue er das auf dem Rasen unter diesem Baum, und

zwar an jedem Spätnachmittag von Montag bis Donnerstag. Alle meine

Versuche, ihm oder seinen Schülern zu entlocken, ob es noch anderswo

ein ähnliches Training gäbe, blieben erfolglos. Die Situation blieb immer

die gleiche. Ich kam zu diesem Baum und trainierte dort einige Jahre

lang ziemlich regelmäßig. Dann war die Gruppe eines Tages ohne jedes

vorherige Anzeichen verschwunden. Niemand wusste zu sagen, wohin sie

gegangen waren oder wer genau dazugehört hatte. Ich sah keinen von

ihnen je wieder.

351

Die trunkenen Boxer brechen ständig zusammen und springen dann

plötzlich wieder auf wie ein Kastenteufel. Sie scheinen total das Gleich-

gewicht zu verlieren und/oder auf dem Boden herumzurollen, und sie

beherrschen die unglaublichsten Falltechniken (breakfalls) und springen

dann plötzlich wieder auf, um anzugreifen. Wenn sie aufrecht stehen,

scheint ihr Körper oft nicht die geringste Festigkeit zu besitzen. Sie sehen

total verletzlich aus und scheinen völlig ungeschützt zu sein, doch wenn

ein Gegner glaubt, das ausnutzen zu können, findet er sich plötzlich in

einem Würgegriff, ohne zu wissen, wie und warum ihm das widerfahren

ist. Alles in allem ist dies die spielerischste Kampfkunst die ich jemals

praktiziert habe.

Es gibt zwei Schulen des Acht trunkene Unsterbliche. Die erste entstand

aus der Ti Tang genannten Shaolin-Linie des Erdboxens, die sich auf

Techniken für den Bodenkampf spezialisiert hat. Wenn Ausübende des

Erdboxens zu Boden fallen, dann schlagen sie ihre Gegner vielleicht auf

dem Weg nach unten und/oder ziehen sie mit sich hinab. Wenn sie erst

einmal auf dem Boden liegen, dann benutzen Praktizierende des Acht

trunkene Unsterbliche sehr hoch entwickelte Bodentechniken, insbeson-

dere Tritte, Nervenhiebe, Würgegriffe und Hebel. Sie wenden diese gegen

einen Gegner an, den sie bereits zu Boden geworfen haben oder der noch

steht und versucht, sie zu treten. Die zweite Schule ist rein daoistischen

Ursprungs. Sie pflegt eine Kampfkunst, die die Daoisten ihren Kindern

und Jugendlichen beigebracht haben, um ihren physischen Körper und

ihr Chi zu entwickeln, solange sie noch zu jung waren, sich der strengen

Disziplin zu unterwerfen, die nötig ist, um die inneren Kampfkünste mit

Erfolg zu praktizieren.

Acht trunkene Unsterbliche trainiert auf ganz ausgezeichnete Art und

Weise die grundlegendsten Prinzipien der inneren Kampfkünste. Diese

Kampfkunst verlässt sich allerdings mehr auf eine kreative Manifestation

dieser Prinzipien und haftet nicht so sehr an der Form. Sie besitzt ein

ausgezeichnetes Chi-Gung-System und entwickelt einige Elemente des

sechzehnteiligen Nei-Gung-Systems sehr gut, wenn auch nicht das ganze

System und nicht bis zu der Ebene der Präzision, die man in den inneren

Kampfkünsten findet. Zu diesem System gehört ein tiefes Verständnis

dafür, wie das Körpergewicht und Schwungkraft sich auswirken, und die

Praktizierenden können diese Elemente im Körper manipulieren, während

sie sich im Raum bewegen.

In mancher Hinsicht, würde ich sagen, hat Acht trunkene Unsterbliche

die Flexibilität des Affenboxens, dessen Geschicklichkeit beim Fallen und

dessen besondere Fähigkeit, sich in alle Richtungen zu bewegen, einen

Schritt weiter entwickelt. An die Stelle der Bösartigkeit des Affen hat es

352

jedoch etwas Spielerisches sowie einen Sinn guter Kameradschaft gesetzt

- sowohl in der Art und Weise, wie Gegner besiegt werden, als auch in

seiner allgemeinen philosophischen Geisteshaltung. In seiner Weichheit

ähnelt das Acht trunkene Unsterbliche am ehesten dem Tai Chi. In sei-

ner Weise anzugreifen, stellt es eine Mischung von Tai Chi und Ba Gua

dar, mit einigen ganz eigentümlichen Techniken. In seiner Fußarbeit, den

Prinzipien des Ausweichens und seiner Betonung der Wandlung und des

Unvorhersehbaren kommt es dem Ba Gua am nächsten.

Acht trunkene Unsterbliche betont mehrere ungewöhnliche Kampfkunst-

qualitäten. Es verkörpert mehr Techniken des Einknickens der Gelenke

und des Körpers als jede andere äußere und innere/äußere Kampfkunst.

Man erlangt dadurch die Fähigkeit, den Körper wie eine Stoffpuppe zu-

sammenzufalten, so dass der Praktizierende mit jedem Teil des Körpers,

einschließlich des Hinterns und des Rückens, aus völlig unvorhersehbaren

Winkeln zu blockieren und anzugreifen vermag. Die extreme Geschick-

lichkeit der trunkenen Boxer beim Einfalten des Körpers macht es prak-

tisch unmöglich, einen Hebel bei ihnen anzusetzen. Auch wenn manch-

mal angenommen wird, dass trunkene Boxer ihre Gelenke auskugeln,

um sich gegen Hebel zu verteidigen, ist dies nicht der Fall. Es sind die

außerordentlich feinen Bewegungen der Schulter und der Gegend unter

den Rippen, welche diese Illusion erzeugen. Acht trunkene Unsterbliche

ist weder ein „dies"- noch ein „das"-Stil, und es benutzt gleichermaßen

Schläge, Hand- und Fingerhiebe und ein breites Repertoire an gewöhn-

lichen und ungewöhnlichen Tritten aus seltsamen Winkeln, Hebel und

alle möglichen Würfe, die sowohl aus einer kauernden Position als auch

im Stehen ausgeführt werden, und es macht auf dem Boden ausgiebigen

Gebrauch von den Beinen.

Auch wenn Acht trunkene Unsterbliche fortgeschrittene Energiearbeit

umfasst, betont es hinsichtlich der Kraft und der Bewegung hauptsächlich

die Verlagerung des Körpergewichts und nicht so sehr die reine Energie-

arbeit, die um Erfolg zu haben, keiner Schwungkraft durch Gewichts-

verlagerung bedarf. Darum erlernt ein solcher Kampfkünstler die exakte

Wissenschaft der körperlichen Schwungkraft aus jedem nur möglichen

Winkel der Körperbewegung: stehend, im Sprung und auf dem Boden.

Er ist besonders gut darin, die Richtung des Körperschwungs auf ganz

geringem Raum umzukehren. Dieses spezifische Interesse treibt die Aus-

übenden des Acht trunkene Unsterbliche dazu zu üben, bis sie außeror-

dentliche Kontrolle über die Bewegung ihres Körpergewichts im Raum er-

langen, sowohl bei Projektionen wie dem Vorwärtsrollen, als auch wenn

sie vorwärts, rückwärts oder seitwärts taumeln. Diese Bewegungen und

andere, wie etwa das Wachsen und Schrumpfen, werden in Hinsicht dar-

353

auf untersucht, wie Verschiebungen der Schwungkraft des Ausübenden

dementsprechend die Schwungkraft und das körperliche Gleichgewicht

des Gegners beeinflussen können.

Diese präzise Kontrolle des eigenen Raumes und des Raumes des Geg-

ners erlaubt es den trunkenen Boxern, optische Täuschungen zu erzeugen

und solche Täuschungsmanöver sehr effektiv zu ihrem eigenen Vorteil

einzusetzen. Ein anderer wichtiger Punkt der Gewichtsverlagerung ist

die Fähigkeit, jeden Punkt am Körper - sagen wir einmal die Spitze ei-

nes Ellbogens, den Kopf, das Dantien oder ein Knie - zum Angelpunkt

der Balance und der Bewegung zu machen und willkürlich rasch von

irgendeinem von vielen Angelpunkten zum nächsten überzugehen. Sol-

che Manöver erlauben es den trunkenen Boxern auszusehen, als seien sie

völlig aus dem Gleichgewicht, während ihre Balance doch vollkommen

ist. Auf diese Weise wird der Gegner in alle möglichen Fallen gelockt.

Auf fortgeschritteneren Ebenen der Praxis ermöglicht diese Fähigkeit den

trunkenen Boxern, ihren Körper reibungslos in sich separat bewegende

Teile, die doch durch einen gemeinsamen Faden des Gleichgewichts mit-

einander verbunden sind, aufzuteilen. Das läuft letztlich auf die Fähigkeit

hinaus, die gesamte Kraft oder das Gewicht des ganzen Körpers in einen

einzigen Teil des Körpers wie etwa eine Schulter oder einen Unterarm zu

legen, oder sogar, was noch besser ist, in einen winzigen einzelnen Punkt

wie etwa eine Fingerspitze. Diese Methode wird in den inneren Kampf-

künsten häufig angewendet, allerdings sehr viel unsichtbarer und mit viel

mehr innerer Kraft.

In Acht trunkene Unsterbliche gibt es eine ganze Bandbreite von Chi-

Techniken, die sowohl in getrennten Chi-Übungen als auch in Formbe-

wegungen entwickelt werden. Am Anfang ist der trunkene Boxer bemüht,

willentlich universelle göttliche Energie vom Himmel herab in seinen

Körper zu ziehen. In der daoistischen Methode des Acht trunkene Un-

sterbliche ist es eben dieses universelle Chi, das durch die Bewegungen

der Praktizierenden fließt, welches sie „trunken" macht. Dabei spielen

weder echte Gefühle noch Schauspielerei eine Rolle. Ein Teil des Trai-

nings ist darauf ausgerichtet, diese universelle Energie in jedes der drei

Dantien des Körpers hineinzuziehen, sie zwischen den Dantien wie eine

lebendige Kraft fließen zu lassen und sie dann aus jedem der Dantien in

einen spezifischen Teil des Körpers zu schicken, wo sie eine bestimmte

Wirkung haben soll.

Die Chi-Arbeit der trunkenen Boxer lässt ihren Körper sehr leicht oder

sehr schwer werden, und zwar allmählich oder augenblicklich. Abstei-

gende Energie wird benutzt, um das Chi abzusenken, was die Hände des

Praktizierenden sinken lässt, um durch die seines Gegners hindurch zu

354

schlagen. Diese Schwere macht Verteidigungstechniken möglich, die den

Angriff eines Gegners abwürgen, und sie legt unter Verwendung der Zen-

trifugalkraft enorme Kraft in das Ende eines Hiebes. Bei dieser Technik

vergrößert die Leichtigkeit der Arme und des Körpers die Geschwindig-

keit, während der trunkene Boxer seinen Hieb verstärkt, indem er die

Hand am Schluss sehr schwer werden lässt. Die Kontrolle der Energie im

Inneren des Körpers macht es dem Ausübenden möglich, sich schnell und

eindrucksvoll auf und ab zu bewegen, vor und zurück, nach links und

nach rechts und außerdem zu schrumpfen und zu einer Kugel zusam-

menzufallen, um dann wieder zu wachsen und wie ein Blitz nach außen

zu schnellen.

Die Wandlung von Angriffswinkeln: Kreise, Spiralen, Dreirecke und Vierecke

Wie schon angedeutet, können die Wandlungen, die als Bien Hua Aus-

druck finden, sich sowohl auf Veränderungen körperlicher Angriffswinkel

beziehen als auch auf Veränderungen in Ihrer eigenen Energie oder der

des Gegners. Die technisch am weitesten entwickelten äußeren/inneren

Kampfkünste in China aber auch in Indonesien und Japan benutzen die

Techniken von Kreis, Spirale, Dreieck und Viereck. Gewöhnlich werden

diese Techniken dort jedoch nur in großen Bewegungen angewendet, die

mehrere Zentimeter oder Dezimeter Raum zu ihrer erfolgreichen Ausfüh-

rung voraussetzen. Im Gegensatz dazu ist das Ba Gua aufgrund seiner

Fähigkeit, das Innere des Körpers einzufalten und umzuformen, im Allge-

meinen in der Lage, diese Winkel innerhalb kürzester Distanz anzuwenden.

Diese Ba-Gua-Techniken könnten eine überaus nützliche Ergänzung etwa

zum Aikido sein.

Beim Ba Gua geht es um die acht grundlegenden Winkel der Annähe-

rung an eine Person: von vorn, von hinten, von links und rechts (sowohl

oberhalb als auch unterhalb der Taille), und aus den vier Diagonalen.

Die Veränderung der Winkel ist eines der wichtigsten Anliegen. Wenn

ein versierter Praktizierender des Ba Gua mit seinen Gegnern in Kontakt

kommt, dann verändert er einen Winkel vielleicht nur geringfügig, ent-

weder indem er geht oder indem er den Drachenkörper wendet oder das

Handgelenk, den Ellbogen oder die Schultergelenke einklappt, so dass es

aussieht, als bewegte er sich in drei Richtungen gleichzeitig. Mitten in

355

Liu Hung Chieh und der Autor beginnen mit der Sparringpraxis des Ba-Gua-

Kreisgehens.

all diesen Richtungswechseln wird der Gegner getroffen, ohne dass er

wüsste, wie und von wo. Die rasche Veränderung der Winkel lässt einen

Ba-Gua-Adepten plötzlich verschwinden und wieder auftauchen, was viele

Menschen in China dazu veranlasst hat, das Ba Gua mit den Aktionen

eines Gespensts zu vergleichen.

Das Ba Gua Chang als Kampfkunst unterteilt den horizontalen Raum in

acht Richtungswinkel, die man sich als persönliche (nicht geographische)

Kardinalpunkte vorstellen kann, wobei Norden immer die Richtung ist, in

die man schaut. Die acht Punkte bestehen aus den vier Hauptrichtungen

(Norden, Süden, Osten, Westen) und ihren Diagonalen (Nordost, Südost,

Südwest, Nordwest). Beim Kreisgehen kann man die Anwendung dieser

verschiedenen Winkel in der Kampfkunst einüben. Zuerst entwickelt man

dabei ein Bewusstsein dieser Winkel. Als nächstes lernt man, wie man sich

356

mit einem fest verwurzelten Bein nach hinreichender Übung mit voller

Geschwindigkeit und Kraft von einem dieser Kardinalpunkte in die sieben

anderen Richtungen drehen kann.

Die schnellen Richtungswechsel im Ba Gua sind möglich, weil jeder

neue Schritt acht weitere mögliche Winkel der Bewegung eröffnet. Dieses

Konzept mag sich einfach anhören, es zu praktizieren ist allerdings nicht

so leicht. Nachdem man durch das Kreisgehen ein Verständnis für die

horizontalen Winkel erreicht hat, trainiert man durch die acht Hände ein

Gespür für die Vertikale. Mit diesen verwendet der Übende beim Kreisgehen

vertikale auf und ab Bewegungen und entwickelt damit sein Verständnis

von Höhe und Tiefe. Indem er diese Dimensionen in seine Praxis inkorpo-

riert, werden die Kampfwinkel im horizontalen kreisförmigen Raum des Ba

Gua Chang ganz beträchtlich in die drei Dimensionen einer Kugel hinein

ausgeweitet. Die Ba-Gua-Kämpfer erreichen besonders mit den vorgeburt-

lichen Praktiken ein kugelförmiges 360 Grad Rundumgewahrsein des sie

umgebenden Raumes und sind auch in der Lage, das Chi über ihnen und

im Boden unter ihnen wahrzunehmen.

Kreise und Spiralen

In allen Kampfkünsten sind Kampfwinkel mehr oder weniger wichtig.

Die meisten Kampfkünste benutzen jedoch Winkel, die nur auf einer oder

zwei Ebenen liegen. Dass man im Ba Gua mit Winkeln im dreidimensi-

onalen Raum arbeitet, macht es möglich, die spiralförmige Energie, die

durch das Kreisgehen entwickelt wird, voll und ganz zur Anwendung zu

bringen. Im Ba Gua Chang hat jeder Winkel eine Krümmung, auch wenn

diese sehr geringfügig sein mag. Indem man diese spiralige Energie be-

nutzt, kann man kraftvoll aus Winkeln angreifen, die Praktizierende der

anderen Kampfkünste meist nicht zu kontern wissen oder aus denen sie

keinen Konter erwarten.

Es mag so aussehen, als würden die Angriffstechniken des Ba Gua

ebenso wie seine Verteidigungstechniken nicht nur in einer gekrümmten,

kreisförmigen, spiraligen oder schlängelnden Linie, sondern auch in ge-

rader Linie ausgeführt. Doch im Ba Gua folgen die Bewegungen ebenso

wie im Tai Chi fast nie einer geraden Linie. Sie sind zumindest geringfügig

gekrümmt, auch wenn sie gerade aussehen. Was wie eine gerade Angriffs-

linie aussieht, wird in Wirklichkeit von unsichtbaren inneren Spiralen her-

vorgebracht, die vom Chi einer Person und der Verwindung ihres weichen

OC7 JDI

Körpergewebes - der Muskeln, Bänder, Sehen und Faszien - verursacht

werden. Außerdem kann eine spiralige und/oder kreisförmige körperliche

Bewegung durchaus gerade Linien der Projektion von Kraft hervorbringen.

Eine hackende oder schneidende Aktion kann entsprechend der subtilen

Bewegungen relativ gerade, gekrümmt oder spiralig sein. Ein Aufwärtshieb

mit der Handfläche kann folgendermaßen aussehen: a) gerade; b) ge-

krümmt; c) gerade aus einem kleinen Kreis hervorkommend; d) gekrümmt

aus einem kleinen Kreis hervorkommend; und e) spiralig. Scheinbar ge-

radlinige Angriffe können auch die Übertragung von Kraft in eine der

Bahn des Angriffs entgegengesetzte Richtung enthalten. Kreise, Spiralen

und gerade Linien können miteinander wechselwirken und innerlich wie

äußerlich miteinander kombiniert werden.

Dreiecke und Vierecke

Der nächste wichtige Aspekt der Bewegungen und der Strategie im Ba Gua

ist die Verwendung von Dreiecken und Vierecken. Ebenso wie gerade Linien

mit Kreisen und Spiralen wechselwirken und mit diesen kombiniert werden

können, können auch die geradlinigen Komponenten eines Dreiecks oder

Vierecks diese kreisförmigen oder spiraligen Eigenschaften besitzen. Das

Dreieck wird hauptsächlich dazu benutzt, die Kraft aus zwei Punkten des

Körpers auf einen dritten Punkt auszurichten oder um einen Kraftvektor

zu erzeugen. So kann zum Beispiel Kraft, die ihren Ursprung in den Punk-

ten A und B hat, in einen Punkt C zusammengeführt werden, oder sie kann

eine Kraftlinie von Punkt C zu Punkt D erzeugen. Diese Dreiecksgestalt

kann verschiedene Formen annehmen: a) die Kraft Ihres Gegners trifft

Ihren linken Arm und wird auf einer dreieckigen Bahn in Ihren rechtren

Arm umgelenkt; b) Sie führen Kraft aus Ihren linken hinteren Bein und

Ihrer rechten Hand dreiecksförmig zusammen; oder c) Sie führen Kraft

aus Ihrem rechten vorderen Bein und Ihrer rechten oder linken Führhand

dreiecksförmig zusammen. In einem solchen Fall werden Angriff oder

Verteidigung mit den Armen und Beinen in einem Winkel zwischen 30

und 75 Grad ausgeführt. Winkel von 45 Grad sind dabei am häufigsten,

30 oder 60 Grad sind die zweithäufigsten.

Das Viereck wird angewendet, wenn man sich in Zickzackmanier be-

wegt, zur Seite, dann vorwärts und dann wieder zur Seite. Dabei können

Sie mit Ihrem Gegner in Kontakt bleiben oder sich ganz von ihm lösen und

sich zur Seite bewegen, wo die Kraftlinien Ihres Gegners Ihre Bewegungs-

358

freiheit nicht beeinträchtigen oder Sie sich für einen sofortigen Gegenan-

griff in Stellung bringen können. Von diesem unbehinderten Raum aus

können Sie dann den Gegenangriff starten. Die Dreiecksmethoden zielen

im Allgemeinen daraufhin, die Kraftlinie eines Gegners zu durchkreuzen,

sie zu stoppen und dann zu kontern. Die Viereckmethoden sind gewöhn-

lich dazu gedacht, den Kraftlinien eines Gegners oder einem drohenden

Angriff aus dem Weg zu gehen und dann in einem Winkel von 90 Grad

anzugreifen. Üblicherweise wechselt man andauernd zwischen Dreieck

und Viereck hin und her, oft auf einem Raum von weniger als einem

Viertelmillimeter45, so dass diese ständigen Veränderungen den Gegner

total verwirren. Diese Verschiebungen werden mit schnellen Drehungen

in der Taille, dem Einknicken von Gelenken und schneller Fußarbeit mit

Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen sowie mit schnellem Absenken und

Anheben des Körpers kombiniert. Wenn man all dies in Betracht zieht, dann

fällt es leicht, sich vorzustellen, wie das Ba Gua einen Gegner durch seine

Unvorhersehbarkeit und seine Fähigkeit, Kraft aus unerwarteten Winkeln

zu projizieren (was zu seinen Spezialitäten gehört), verwirren kann.

Sparringübungen

Wie im Tai Chi und im Hsing-I entwickelt man auch im Ba Gua seine

Kampffertigkeiten durch eine methodische Abfolge von Soloübungen und

Übungen mit Partnern. Wie schon erwähnt, ist im Ba Gua das Kreisgehen

unter Ausübung der 16 grundlegenden Energiepraktiken des Nei Gung die

wichtigste aller Übungen zur Entwicklung der Kraft für die Kampfkunst.

Wird dies mit dem Halten von Posituren, Soloübungen und der Übung der

Hände (Palm Changes) kombiniert, dann lässt sich das Ba Gua damit als

körperliche, energetische und spirituelle Kunst voll verwirklichen. Auch

wenn die Soloübungen allein schon zu einer gewissen Kompetenz als

Kämpfer führen können, ist es doch für jemanden, der das Ba Gua als

Kampfkunst voll ausschöpfen möchte, unerlässlich, diese Soloübungen

durch ganz spezifische Übungen mit einem Partner zu ergänzen. Es gibt

einfach keinerlei Ersatz für die Arbeit mit einer anderen Person. Zu den

Techniken der Einübungen von Anwendungen für zwei Personen gehören:

1. Rou Shou; 2. Kreisgehen mit zusammengelegten Handflächen, wobei

45 Auf dieser Ebene des Könnens sind Sensibilität für Berührung, Zentrierung, die Fähigkeit,

an den Armen des Gegners zu kleben und schnelle, geschmeidige Hüftbewegungen

wesentliche Voraussetzungen.

359

man sowohl abgesprochene als auch spontane Angriffe und Verteidigungen

einübt; 3. Angriffe und Verteidigungen aus naher, mittlerer und weiter Dis-

tanz (sowohl abgesprochen als auch spontan); und 4. Freistil-Sparring.

Rou Shou, die „weichen Hände"

Eine der wichtigen Kampfkunstpraktiken im Ba Gua ist das Rou Shou, was

„weiche Hände" bedeutet. In den verschiedenen Schulen des Ba Gua wird

das Rou Shou in unterschiedlichen Formen verwendet. Die wichtigsten

Ziele der Übung des Rou Shou sind:

1. Schulung der Sensibilität und Lebendigkeit der Berührung;

2. Überwindung der Tendenz, während des Kampfes zu erstarren oder

überzureagieren;

3. (wie im Push Hands des f a i Chi) Entwicklung der Fähigkeit, die

Taille und die Armgelenke a) zu verwurzeln, b) einzuknicken und

zu verdrehen, und c) die Federung in den Beinen für die vertikale

und horizontale Bewegung zu entwickeln;

4. einen sicheren und praktischen Rahmen zur Verfügung zu stellen,

in dem, ohne dass es zum tatsächlichen Kampf kommt, realistische

Kampftechniken und KampfWinkel entwickelt werden können.

Das Rou Shou könnte für Ausübende des Tai Chi von unschätzbarem Wert

sein, weil es eine natürliche Brücke zwischen dem Push Hands (das an

sich für die praktische Selbstverteidigung nicht ausreichend ist) und dem

Sparring darstellt. Diese sichere Methode des Übergangs fehlt bedauerli-

cherweise in den meisten heutigen Schulen des Tai Chi. In der Vergangen-

heit war das Rou Shou bei den Ba-Gua-Schulen in Tianjin sehr beliebt,

während es von den Schulen in Beijing weniger geübt wurde. Wie das Push

Hands des Tai Chi, das Randori im Judo und Aikido und die klebenden

Händen im Wing Chun46 sowie allen Formen des Ringens, wird das Rou

Shou mit einem Partner ausgeführt. Wie auch das Push Hands des Tai Chi,

entwickelt das Rou Shou Ihr Vermögen, sich zu verwurzeln, während Sie

4 6 Zu den anderen bekann ten Kampfkuns t -Übungen für zwei Personen gehören:

1. Übungen mit zusammengelegten Händen im Penchat/Silat; das Kaki Te des Goju-

Karate; die Übungen mit zusammengelegten Händen in den meisten südchinesischen

Kung-Fu-Systemen der kurzen und mittleren Hand sowie den nordchinesischen

Systemen der langen Hand. Hinzuzählen müsste man alle Systeme, in denen man

durch die körperliche Berührung der Arme in die Lage versetzt wird, einen Gegner zu

kontrollieren und zu besiegen.

360

versuchen, die andere Person aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aller-

dings unterscheidet sich das Rou Shou insofern vom Push Hands, als man

dabei versucht, den Partner zu schlagen und ihn nicht nur zu stoßen oder

zu drücken (engl.: push). Wenn man möchte, kann man natürlich stoßen,

aber dies ist nicht das primäre Ziel. Das Stoßen ist vielmehr nur eine unter

vielen Möglichkeiten, wozu auch Hebel, Hiebe mit der leeren Hand, Würfe,

Beinfeger und schließlich auch das „Zeigen" auf den Körper (d. h. das Dian

Xue oder Dim Mak) gehören. Das Rou Shou gleicht den klebenden Händen

des Wing Chun insofern, als es in beiden Praktiken darum geht zu schlagen,

aber darüber hinaus sind die Unterschiede beträchtlich. Die Angriffswinkel

des Wing Chun sind ziemlich linear, während das Rou Shou kreisförmig

und sphärisch ist. Außerdem sind die Hände im Rou Shou gewöhnlich

geöffnet, während in den klebenden Händen Fausthiebe vorwiegen.

Diese Praxis wird deshalb „weiche Hände" genannt, weil man dabei

ganz bewusst die Handgelenke entspannt und die Hände weich hält. Das

gestattet es, den Partner kräftig zu schlagen, ohne ihn zu verletzen. Den-

ken Sie stets daran, dass die Sicherheit Ihres Partners höchste Priorität

besitzt.47 Wird ein Partner verletzt, so kann er vielleicht nicht weiter mit

Ihnen üben. Wenn sie ihm wehtun, dann werden außerdem unnötige Hass-

gefühle geweckt. In unserer heutigen Gesellschaft sollte man auch deshalb

Verletzungen vermeiden, weil man am nächsten Tag zur Arbeit gehen und

seinen Lebensunterhalt verdienen muss.

Die Abfolge des Trainings

Rou Shou steht in der Mitte zwischen dem Ba Gua als Soloübung und

dem Ba Gua als Kampfkunst. Beim Rou Shou schreitet man von einer sehr

strukturierten und sanften Interaktion mit dem Partner zu einer frei flie-

ßenden kontrollierten Gewaltanwendung fort (bei der keine Verletzungen

zugefügt werden). Die Praxis des Rou Shou schreitet ganz methodisch

voran, wobei eine Ebene des Könnens auf der anderen aufbaut. Haben

Sie es also nicht zu eilig damit, zur nächsten Ebene voranzuschreiten. Es

ist wie beim Bau eines Hauses: Das Fundament muss fest sein, damit der

ganze Bau stabil ist. Andererseits sollten Sie aber auch nicht für mehrere

47 Professionelle Kampfkünstler, Wachpersonal, Leibwächter, Polizisten, Gangster und

Soldaten trainieren gewöhnlich mit größerer Härte, weil sie mit dem Kämpfen ih-

ren Lebensunterhalt verdienen und mangelhaftes Können sich als tödlich erweisen

kann.

361

Jahre auf einer Ebene der Übung stecken bleiben. Das Rou Shou ist (ebenso

wie das Push Hands im Tai Chi) ein Mittel zum Zweck (der Fähigkeit, sich

selbst zu verteidigen) und kein Selbstzweck.

Wenn Sie mit dem Rou Shou beginnen, sollten Sie Ihre Füße nicht

bewegen. Verlagern Sie Ihr Gewicht unter Verwendung einer Bogen-Stand-

positur hin und her von einem Bein auf das andere. Halten Sie Ihre Arme

in einem großen vertikalen Kreis vor Ihrem Körper. Dann bewegen Sie

Ihre Arme kreisförmig, um ein Gefühl für Ihren Körper als Kugel zu be-

kommen. Lockern Sie den Körper, während Sie das Körpergewicht vor und

zurück verlagern. Verdrehen Sie die Taille und die Beine, während Sie sich

bewegen. Sie und Ihr Partner können nun die Handgelenke zusammenle-

gen, während sie sie weiter in großen Kreisen bewegen. Übernehmen sie

beide dabei abwechselnd die Führung, wobei der Folgende leicht an den

Handgelenken des Führenden klebt. Machen Sie all Ihre Bewegungen leicht

und kreisförmig. Vermeiden Sie jegliche Unterbrechung Ihrer Bewegung,

während Ihre Arme mit der Zeit immer mehr beginnen, sich spiralig um

den Unterarm Ihres Partners herumzuwinden wie ein Korkenzieher.

Das Rou Shou hat einen völlig anderen Charakter als das Push Hands.

Es besitzt eine sehr deutliche Yang-Qualität. Es macht einen soliden und

zupackenden Eindruck. Doch die im Tai Chi erlernten Fertigkeiten (Fa Jin,

Verwurzeln, Nachgeben, Kreisförmigkeit der Bewegungen, Einknicken der

Gelenke und Biegsamkeit des Körpers) sind eine ausgezeichnete Grundlage

für die Praxis des Rou Shou. Andererseits wird das Rou Shou Ihr Tai Chi

deutlich verbessern und dem Push Hands des Tai Chi interessante und

lehrreiche neue Dimensionen hinzufügen. Auch für Ausübende des Aikido,

die ihr Chi stärken und ihre Fertigkeiten im Aikido auf der groben wie

der subtilen Ebene verbessern möchten, kann das Rou Shou sehr wertvoll

sein. Wenn sie richtig ausgeführt werden, können die schlangenartigen

Bewegungen des Rou Shou unglaublich schön anzusehen sein.

Versuchen Sie in der Anfangsphase des Rou Shou nicht anzugreifen oder

zu verteidigen. Erst wenn Sie diese erste Phase lange Zeit geübt haben,

können Sie mit ganz behutsamen Angriffen und Verteidigungen begin-

nen. Bewegen Sie Ihre Arme dabei weiterhin spiralförmig, kleben sie am

Handgelenk Ihres Partners und verlagern Sie das Gewicht vor und zurück.

Fühlen Sie, wie Ihre eigene Energie und die Ihres Partners fließt, wie sie

anschwillt und abebbt. Wo kommt die bei Ihnen ankommende Energie Ihres

Partners her? Auf welchen Bahnen bewegt sie sich? Wohin zielt sie? Wie

können Sie diese Energie umlenken, sie verändern, sie absorbieren oder sie

362

(3) Der Autor dreht sich erneut in

der Taille, um mit einem Hieb zum

Nacken anzugreifen; die Bewegung

könnte sich zu einem Wurf

fortsetzen.

(2) Während der Angreifer versucht,

rückwärts zu entkommen, drängt

der Autor die Arme des Angreifers

auseinander und kontrolliert sie, indem er

einen Arm nach oben und den anderen

zur Seite drückt.

ROD SHOl)

(1) Der Autor (rechts) dreht sich in der

Taille und verteidigt sich, indem er den

Angreifer aus dem Gleichgewicht bringt

und ihn nach vom lenkt. Beachten Sie,

dass die untere Hand des Autors bereit

ist, den Angreifer gegen die Rippen zu

schlagen. Dieser Hieb würde durch eine

weitere Drehung in der Taille erzeugt.

363

umgehen? Und was machen Sie mit Ihrer eigenen Energie, um mit Ihrem

Partner in Kontakt zu kommen? Wie verändern Sie Ihre Energie, um auf

die Verteidigung des Partners zu reagieren? Welche Winkel funktionieren

und welche nicht? Bei welchen Winkeln ist Ihre wirkende Kraft stark,

schwach oder neutral? Kommt der Angriff/die Verteidigung schwach oder

mit starker Energie an? Welche Abfolge von Aktionen und Reaktionen

fuhrt zu einer Bresche? Ba-Gua-Praktizierende versuchen nicht, gewaltsam

durch die Arme eines Gegners hindurchzubrechen. Der Schlüssel zu einem

erfolgreichen Angriff ist für sie, eine deutliche Bresche in der Verteidigung

des Gegners zu erzeugen - so etwas wie ein Loch in einem Hemd, das es

einer Mücke erlaubt zuzustechen. Im Falle des Ba Gua lässt bereits eine

Lücke von der Größe eines Moskitos einen Tiger zum Biss kommen.

Für den Schüler auf einer mittleren Ebene des Trainings ist der wichtigs-

te Punkt, dass er seine Techniken immer rund hält, so dass er ohne Pausen,

die durch Trägheit, emotionales Erstarren oder körperliche Spannung ver-

ursacht werden, flüssig von einer Technik zur nächsten übergehen kann.

So entwickelt man die Fähigkeit, ruhig zu bleiben und unter Druck nicht

zu erstarren. Da man einen Gegner letztlich berühren muss, damit eine

Kampftechnik wirksam ist, beginnt im Rou Shou der Prozess der Wand-

lung an dem Punkt, an dem Ihr Körper den Ihres Gegners berührt - also

gewöhnlich irgendwo an einem Arm. Das Rou Shou stellt eine Brücke dar

zwischen dem Wahren einer Distanz und dem Schock aufeinander pral-

lender Körper, dem Werfen und Hebeln. Rou Shou ist insofern eine sehr

praxisorientierte Übung, als es Ihnen erlaubt, Ihren Partner oder Gegner

mit Geschwindigkeit und Kraft zu schlagen. Es kann Ihren Körper auch

an den Schock gewöhnen, geschlagen oder abgeblockt zu werden. Wenn

Sie sich nicht daran gewöhnen, kann es sein, dass sie in einem wirklichen

Kampf plötzlich erstarren wie ein Kaninchen bei Nacht im Scheinwerfer-

licht eines Autos.

Die Übung des Rou Shou entwickelt Ihr Vermögen, sich zu bewegen

und schließlich auch zu kämpfen. Während Sie Ihren Körper drehen und

wenden, sollten Sie auch Ihre Wirbelsäule und Ihre Gelenke sowie die

Höhlungen Ihres Körpers öffnen und schließen. Ebenso wie im Tai Chi und

im Hsing-I, macht dieses Öffnen und Schließen es Ihrem Körper möglich,

wie eine kräftige Sprungfeder zu agieren, die Energie zu absorbieren und

sie wieder freizusetzen. Es erlaubt Ihnen auch, sich mit großer Leichtigkeit

auf und ab zu bewegen, was für Angriff und Verteidigung von entschei-

dender Wichtigkeit ist. Das Drehen und Wenden von Armen, Beinen und

364

Körper ist notwendig, um eine auf uns zu kommende Kraft abzulenken.

Oft scheinen die Hände und die Taille sich in verschiedene Richtungen

zu bewegen, was zu täuschenden Angriffswinkeln führt, die die meisten

Menschen nicht für möglich halten würden.

Mit der Zeit sollten Sie die Grenzen Ihrer Rou-Shou-Praxis immer weiter

ausdehnen. Üben Sie mit so vielen verschiedenen Partnern wie möglich Rou

Shou. Jede einzelne Person wird ganz individuelle körperliche, energeti-

sche und emotionale Eigenschaften aufweisen. Bei jeder Form der Übung

können Sie und Ihr Partner sich darauf einigen, welche Art von Rou Shou

sie zusammen üben wollen. Sie können zum Beispiel die Geschwindigkeit

ihrer Bewegungen oder die Kraft ihrer Hiebe variieren. Haben Sie Spaß

dabei! Stellen Sie einfach nur sicher, dass jede Eskalation langsam und

in Einklang mit der Entwicklung Ihrer Fähigkeiten und der Ihres Partners

vollzogen wird, denn in einem unkontrollierten Sparring kann man ernst-

hafte Verletzungen erleiden. Es ist nicht gerade eine weise Strategie, sich

beim Erlernen von Selbstverteidigung bleibende Verletzungen zuzuziehen.

Aus diesem Grunde wurden die Übungen für zwei Personen entwickelt.

Rou Shou braucht nicht „schwächlich" und ohne körperliche Kraft zu sein.

Sie können sich dabei durchaus blaue Flecken zuziehen, aber natürlich

wollen Sie nicht üben, Ihr Chi zu stärken und Ihre Gesundheit, Kraft und

Ihre Kampffertigkeiten zu verbessern, indem Sie sich und Ihrem Gegner

Verletzungen zufügen.

Es stellt bereits eine beträchtliche Eskalation des Rou Shou dar, wenn

Sie Ihren Füßen erlauben, sich zu bewegen. Auf diese Weise beginnen Sie

Ihre Fußarbeit zu trainieren und die Koordination von Füßen, Händen und

Körper einzuüben. Eine weitere Eskalation besteht darin, dass Sie die Kraft

Ihrer Hiebe vergrößern, so dass Ihr Partner heftigere Treffer einstecken

muss. Wenn Ihre Techniken die Fähigkeit einschließen, sich in der Hüfte

zu biegen, dann gibt Ihnen das nicht nur die nötige Flexibilität für Hiebe

mit der Handfläche, sondern auch die Möglichkeit, den Körper Ihres Part-

ners ziemlich heftig zu treffen, ohne ihm jedoch Verletzungen zuzufügen.

Abhängig davon, ob Ihr Handgelenk und Ihre Handfläche weich oder

hart sind, kann derselbe Hieb entweder „unangenehm", sehr schmerzhaft,

potentiell verletzend oder gar tödlich sein. „Unangenehm" ist aber völlig

ausreichend, damit Sie und Ihr Partner einen Treffer verzeichnen können.

Alles, was unter dieser Schwelle liegt, mag die Frage offen lassen, was

wirklich geschehen ist, und Sie lernen dabei nicht, auf realistische Weise

zu agieren und zu reagieren. Wenn Sie die Härte eskalieren, kann es leicht

365

dazu kommen, dass negative Gefühle entstehen. Dies ist ein realistischer

Testfall dafür, ob Sie wirklich einen stillen, meditativen Geist besitzen.

Wenn Sie lernen, auch bei zunehmender Härte weiterhin entspannt zu

bleiben, so ist das auch von unschätzbarem Wert für die Entwicklung der

Fähigkeit, mit dem Stress umzugehen, der durch eine Aggression oder

einfach den Zeitdruck in unserem gehetzten Alltag entsteht.

Solange Sie nicht eine fortgeschrittene Ebene der Praxis erreicht haben,

sollten Sie dem Rou Shou keine Tritte hinzufügen. Ihre Verwurzelung muss

dazu sehr gut entwickelt sein. Haben Sie keine gute Verbindung zur Wur-

zel, dann geraten Sie körperlich und energetisch aus dem Gleichgewicht,

wenn Sie treten. Statt durch die Ausführung einer neuen Tritttechnik

etwas hinzuzugewinnen, werden Sie etwas verlieren, weil Sie ein Haus

ohne stabiles Fundament bauen. Das wird es Ihrem Partner leicht machen,

Sie umzuwerfen.

Das Rou Shou entwickelt Ihre Fähigkeit, sich in Reaktion auf die Aktio-

nen Ihres Partners blitzschnell zu verändern. Wenn Sie mit dem Rou Shou

beginnen, mögen Ihr Gewahrsein des eigenen Chi und Ihre Sensibilität für

die Energie Ihres Partners noch ziemlich begrenzt sein. Machen Sie sich

keine Gedanken deshalb und haben Sie Geduld. Mit der Zeit werden Ihr

Gewahrsein und Ihr Vermögen, die Bewegungen Ihres Partners zu erspüren,

zunehmen. Wenn Sie das Rou Shou üben, wird das Ihre Fähigkeit vergrö-

ßern, das Chi in Ihrem Körper zu lenken und es zum Zweck des Kampfes

einzusetzen. In den Anfangsphasen des Rou Shou sind Sie in ständigem

Kontakt mit Ihrem Partner. Das macht es Ihnen möglich, den Körper und

die Energie des Partners direkt zu fühlen. Nachdem Sie jedoch eine Zeit-

lang Rou Shou praktiziert haben, können Sie Abstand von Ihrem Partner

nehmen, so dass Sie auf Distanz ein Verständnis oder ein Gefühl für die

Energie Ihres Partners entwickeln können, ohne ihn zu berühren.

Damit beginnen Sie, eine Brücke zwischen dem Rou Shou und dem

praktischen Kämpfen herzustellen. Sie werden herausfinden, dass die Ent-

fernung zwischen Ihnen und Ihrem Gegner mit zunehmender Sensibilität

keine große Rolle mehr spielt. Sie weiten Ihren Geist aus und können nun

den Körper einer anderen Person spüren und sich dementsprechend be-

wegen. In diesem Stadium ist es wichtig, dass Sie beginnen, Angriff und

Verteidigung auf nahe, mittlere und weite Distanz zu üben. Hier beginnen

Sie nicht mehr mit der Berührung, sondern überbrücken die Distanz mit

einer der aus den Formbewegungen abgeleiteten praktischen Methoden.

Auf den höheren Ebenen des Schulung im Ba Gua gibt es sehr ausgefeilte

366

Angriffe und Verteidigungen, welche Ihre Fähigkeit entwickeln, in die

Angriffs- und Verteidigungsaktionen Ihres Gegners einzugreifen, indem

Sie Fähigkeiten und Sensibilitäten ins Spiel bringen, die Sie durch das

Rou Shou erlangt haben.

Portrait eines Meisters der innere Kampfkunst

Liu Hung Chieh - die Kunst in höchster Vollkommenheit

Mein letzter Lehrer in Chi-

na, Liu Hung Chieh, war ein

Meister des Ba Gua, des Tai

Chi und des Hsing-I sowie

der daoistischen Meditation.

Außerdem war er ein Meis-

terkalligraph und klassischer

chinesischer Gelehrter, der

zudem das volle Wissen der

Theorie der chinesischen

Medizin besaß. Wenn ich

das Kreisgehen übte, dann

war Liu in der Lage, auf

der geistigen Ebene einen

Kontakt mit meinem Körper

herzustellen und mich durch

die Kontrolle der Energie in

meinem Körper buchstäblich

durch den Raum zu bewe-

gen. Er vermochte dies zu

tun, wenn er entweder mit

mir übte, wenn er in Medita-

tion saß oder, am kraftvolls-

ten, wenn er Kalligraphie

übte, was er jeden Tag tat.

Wenn er schrieb, war das wie

in den Geschichten über die alten Daoisten, die durch das Schreiben von

Talismanen mystische Geschehnisse bewirken konnten.

Manchmal, wenn er mich mit seinem Chi bewegte, war mir, als senkte

sich ein Nebel vom Himmel auf mich herab, seltsamerweise ein Nebel, der

schwer zu wiegen schien. Ich hatte zuerst das Gefühl, dass dieser Nebel

367

mich ganz ausfüllte, und dann bewegte mich etwas durch den Raum.

Bei anderen Gelegenheiten hatte ich das Gefühl, als versuchte ich durch

eine dicke Wand aus Schlamm hindurchzugehen. Es war unglaublich.

Durch die Kalligraphie wurde Lius Kraft wie mit einer Linse fokussiert.

Liu erzählte mir, dass sein Lehrer Ma Shr Ching mit Schwertern oder mit

der leeren Hand zu üben pflegte, während Tung Hai Chuan in Meditation

saß. Tung korrigierte Ma dann mit geschlossenen Augen und sagte ihm,

was er tun solle. Wenn Liu das mit mir machte, konnte ich fühlen, wie

seine Energie in meinem System aufwallte. Er brauchte nichts zu sagen,

seine Energie kam einfach bei mir an. Zu seiner Lehrmethode gehörten

auch einige körperliche Korrekturen und Unterweisungen, aber er arbei-

tete hauptsächlich mit solchen Chi-Übertragungen. Da ich bereits solch

umfangreiche Erfahrungen mit körperlichen Bewegungen und den Tech-

niken der Kampfkünste gesammelt hatte, konzentrierte Liu sich darauf,

mir zu zeigen, wie meine innere Energie fließen sollte, indem er seine

eigene Energie anwendete und sie in meinen Körper übertrug, während

ich Soloübungen machte. Er trainierte mich auch in den freien Kampf-

kunst-Handtechniken sowie in der Heilmethoden der Chi-Gung-Therapie

des Ba Gua und im Tui Na, einer Form von Körperarbeit (siehe Seite 422).

Wang Shu Jin, Hung I Hsiang und Liu Hung Chieh besaßen alle eine

unglaubliche Kraft. Alle drei waren fähig, Energie freizusetzen (Fa Jin),

mit der sie einen Gegner mühelos und schmerzlos entwurzeln und selbst

die stärksten Männer mehrere Meter in jede gewünschte Richtung davon-

schleudern konnten. Sie besaßen auch die Fähigkeit, einen Gegner ohne

offensichtliche Kraftanstrengung zu berühren und ihre Energie in seinen

Körper zu projizieren, um dort, wenn es nötig war, Schmerzen auszulösen

oder eine Verletzung zuzufügen. Liu besaß darüber hinaus auch die Fä-

higkeit, mit derselben leichten Fa-Jin-Berührung zu heilen.

Liu besaß die meiste Kraft von den dreien. Es mag schwer fallen, das zu

glauben, denn Liu wog weniger als 50 Kilo, während Hung über 100 Kilo

wog und Wang sogar um die 130 Kilo.

An einem meiner ersten Tage bei Liu fragte Liu mich nach meinem

Kampfkunsthintergrund. Er meinte, ich sähe groß und stark aus, was auch

stimmte, da ich über 90 Kilo wog. Er machte einen kleinen Test mit mir:

Er stand auf, nahm mit der Hand die Positur der Ersten Hand (Single Palm

Change) ein und forderte mich auf, seine Hand zu bewegen. Ich war nicht

dazu fähig. Auch unter Aufwendung all meiner Kraft und trotz al der Fä-

higkeiten und Kräfte, die ich in zwanzig Jahren des Kampfkunsttrainings

erworben hatte, vermochte ich nicht einmal einen seiner Finger zu bewe-

gen. Genau wie Wang gesagt hatte, meinte auch Liu, es sei wichtiger, Chi

zu besitzen, als über Größe, Jugend oder Kraft zu verfügen.

368

Liu kam aus einer reichen Familie. Er war ursprünglich ein eher schwäch-

licher junger Mann gewesen, der sich auf das Studium des Konfuzianis-

mus konzentrierte. Er promovierte sogar an der Universität von Beijing,

was zu seiner Zeit für einen künftigen Meister der Kampfkunst eher un-

gewöhnlich war.48 Da er in seiner Jugend so zart besaitet war, sagte Liu

sich, er könne in seinem späteren Leben leicht gesundheitliche Probleme

bekommen, wenn er nichts zur Stärkung seines Körpers täte. Anders als

viele andere künftige Meister der Kampfkunst, kam er nicht vom Lande

oder aus der Arbeiterklasse, wo man seinen Körper durch harte körper-

liche Arbeit kräftigte. Da er genauso stark sein wollte wie die meisten

seiner männlichen Altersgenossen und da er ein begeisterter Leser der

Kampfkunstromane jener Zeit war, bat er seine Eltern um Erlaubnis, die

Kampfkunst zu studieren.

Liu kam aus einer Familie, die schon seit vielen Generationen Ärzte der

traditionellen chinesischen Medizin hervorgebracht hatte. Deshalb woll-

ten seine Eltern, dass Liu sein Chi und sein Blut stärkte und aus eigener

körperlicher Erfahrung die Grundlagen der chinesischen Medizin kennen

lernte. Außerdem meinten sie, dass es in ihrer politisch instabilen Zeit

durchaus nützlich sein könnte, sich gegen physische Gewalt verteidigen

zu können. Deshalb erfüllte seine Familie ihm seinen Wunsch, als Liu

elf Jahre alt war. Sie brachten ihn zum Training zu einem angesehenen

Meister des Systems der Kampfkunst des Sechs-Kombinationen-Stils des

Nördlichen Shaolin. Lius Situation ähnelte damals der der meisten heu-

tigen amerikanischen oder europäischen Stadtbewohner aus der Mittel-

schicht oder Oberschicht, die eine Kampfkunst erlernen möchten. Er wid-

mete sich der Kampfkunst mit großem Enthusiasmus und machte schnell

Fortschritte, da er sehr eifrig übte. Bald war sein Meister der Ansicht, er

habe die Grundlagen der Kunst trefflich erlernt. Er meinte auch die Ver-

antwortung zu haben, einen talentierten Schüler wie Liu an einen Meister

mit größeren Fähigkeiten weiterzugeben, bei dem Liu eher sein volles

Potential ausschöpfen könnte.

Also brachte Lius Shaolin-Lehrer ihn zu der letzten intakten Schule der

ursprünglichen Ba-Gua-Tradition Beijings. Dies war die Schule von Cheng

Ting Hua in Chang Wen Men Wai Hua Shi, wo es die größte Versammlung

von Ba-Gua-Praktizierenden in Beijing gab. Liu wurde von Cheng Ting

Huas Sohn You Lung formell in die Linie eingeführt.

48 In den späten Tagen der Ching-Dynastie und in der frühen Zeit der chinesischen

Republik waren die meisten der allgemein bekannten Meister der inneren Kampfkünste

Menschen von minimaler formeller Erziehung; einige von ihnen waren sogar

Analphabeten.

369

Mit seinen vierzehn Jahren war Liu die letzte Person, die zu der ursprüng-

lichen Ba-Gua-Schule zugelassen wurde. Der nächstjüngste Schüler war

30 Jahre alt. Hier kamen nicht nur die Schüler zusammen, die sich im

Cheng-Stil schulten, sondern auch Praktizierende aller anderen Stile des

Ba Gua, um miteinander zu üben. Die jüngeren Schüler wurden von älte-

ren Praktizierenden unterrichtet, die manchmal dreißig oder vierzig Jahre

älter waren und schon seit Jahrzehnten Ba Gua praktiziert hatten. Liu

lernte nicht nur den Cheng-Ting-Hua-Drachenstil, sondern auch den Yin-

Fu-Weidenblatthand-Stil.

In einer großen Trainingshalle nahmen sich die einzelnen älteren Schü-

ler jeden Abend einen jüngeren Schüler vor, um mit ihm zwei bis drei

Stunden lang die Technik des Gehens zu trainieren. Von jedem Schüler

erwartete man, dass er am Vormittag allein für sich das übte, was er am

Abend zuvor gelernt hatte, und Liu tat genau das. Nach der Soloarbeit

machte Liu Übungen mit einem Partner, sowohl mit der leeren Hand als

auch mit Waffen, und praktizierte zudem Sparring. Jeden Abend ging Liu

nach Beendigung seiner Schularbeiten in die Kampfkunstschule. Das ging

zweieinhalb Jahre so weiter, bis die Schule aufgelöst wurde. Liu verbeugte

sich formell vor Cheng You Lung und Cheng unterwies ihn. Da Liu jünger

war als alle anderen Besucher der Schule, wurde er zu deren Maskottchen.

Chinas erster nationaler Vollkontakt-Kampfkunst-Wettbewerb in Nanjing im Jahre 1921

370

Er bekam von vielen der älteren Schüler Einsichten und Übungsmethoden

übermittelt. So wurde er auch in das Hsing-I Chuan eingeführt und be-

gann es zu üben. Diese Schule war in der Tat eine Arena, in der sich die

besten Ba-Gua-Praktizierenden aus ganz Beijing trafen.

Nachdem die Schule aufgelöst worden war, lernte Liu noch für ein weite-

res Jahrzehnt bei den Praktizierenden, die er in der Schule getroffen hatte.

Ju Wen Bao unterrichtete Liu anfangs in den Meditationstechniken des

Ba Gua. Die Person, von der Liu nach eigener Aussage jedoch das meiste

über die Meditation und die Chi-Übungen des Ba Gua lernte, war Ma Gui

(Ma Shr Ching). Ma war einer der besten vier Schüler von Tung Hai Chun

und nahm offiziell keine Schüler an. Doch Ma mochte Liu und führte ihn

deshalb in die Energiearbeit auf höherer Ebene ein, die er bei Tung gelernt

hatte. Ma war damals bereits ziemlich alt und liebte es zu trinken, und

er meinte, es sei ein Jammer, dass er Liu nicht schon in jüngeren Jah-

ren begegnet sei. Liu sagte stets, seine Ba-Gua-Bewegungen seien zwar

grundsätzlich die der Cheng-Schule, er habe die meisten Aspekte seiner

inneren Chi-Arbeit aber bei Ma Gui gelernt.

Liu erzählte mir, es habe vor 1928 eine sehr aktive Kampfkunstgemein-

schaft in Beijing gegeben, die aus Menschen bestand, die das Gung Fu

wirklich verstanden und die die Kampfkunst tatsächlich anzuwenden

Der Pfeil zeigt auf Liu Hung Chieh.

371

wussten. Er meinte, es habe auch viele gegeben, die nur herumspielten

und die kein Gung Fu besaßen, aber er habe etwa 200 Praktizierende

gekannt, die es tatsächlich „hatten". Das waren diejenigen, um die sich

Legenden rankten, und jeder von ihnen vermochte das Potential seines

Gung-Fu-Systems zu manifestieren. Heutzutage findet man eine solche

Masse an Können nicht mehr an einem einzigen Ort konzentriert. Ähnlich

wie es im Paris der 1920er Jahre einen Boom der Künstler und Literaten

gab, war diese Ära das Goldene Zeitalter der Kampfkünste in Beijing.

1928 fand das erste moderne Turnier der Kampfkünstler auf nationaler

Ebene in China statt. Liu Hung Chieh war bei diesem Turnier der Vertreter

seiner Pekinger Schule. Damals war außer Hieben in die Leistengegend,

die Augen und gegen die Kehle alles erlaubt. Die Wettkämpfe waren au-

ßerordentlich brutal und mussten nach zwei Tagen abgebrochen werden,

da man fürchte, es würde zu viele Tote und Verkrüppelte geben. Es gab so

viel Gewalt, dass man bereits nach der Hälfte des Turniers den Gewinner

einfach durch Abstimmung bestimmte. Die Entscheidung fiel zugunsten

der Hsing-I-Schule. Obwohl die Ausübenden der Ba-Gua-Schule genauso

viel Schaden hätten anrichten können wie die Hsing-I-Leute, waren sie

nicht bereit, leichthin die Option der größten Gewaltanwendung zu wäh-

len, nur um zu gewinnen. Liu gewann alle seine Kämpfe, jedoch mit einer

interessanten Wendung. Die Eltern des jungen Mannes, der sein letzter

Gegner sein sollte, flehten Liu an, ihren Sohn nicht zu verletzen oder zu

verstümmeln. Dies war in den meisten Kämpfen das übliche Verhalten,

weil der Überlegene keinen Zweifel daran lassen wollte, wer wirklich ge-

wonnen hatte. Die Eltern sagten Liu, sie würden sehr zu leiden haben,

wenn ihr Sohn nicht in der Lage sein würde, sie im Alter zu versorgen. Zu

jener Zeit war Liu ein ergebener Anhänger der konfuzianischen Tradition,

und ihm war klar, wie dringlich ihr Anliegen sein musste, denn dadurch,

dass sie ihn anbettelten, verloren sie ihr Gesicht. Als Akt des Mitgefühls

berücksichtigte er die Bitte der Eltern: Nachdem er seine Überlegenheit

genügend deutlich demonstriert hatte, um den Kampf zu gewinnen, hielt

er sich von dem jungen Mann fern, statt die endgültige Konfrontation zu

suchen, wie er das ursprünglich geplant hatte. An jenem Turnier nahmen

übrigens auch Lius Freund Wang Lai Sheng teil, ebenso wie Wu Tu Nan,

ein Schüler von Wu Jien Chuan, der drei oder vier Jahre älter war als

Liu.

Es war vor allem Lius Abschneiden bei diesem Turnier, weshalb er von

1932 bis 1934 zum Hauptlehrer der Kampfkunst-Akademie der Zentralre-

gierung der Provinz Hunan in Changsha ernannt wurde. Während dieser

Zeit waren Wu Jien Chuans Söhne Wu Gong I und Wu Gong Zao Assis-

tenzlehrer unter Liu. Wu Jien Chuan und sein Vater Chuan You begründe-

372

ten gemeinsam den Wu-Stil des Tai Chi Chuan, der nach dem Yang-Stil,

aus dem er hervorging, zum zweitpopulärsten Stil des Tai Chi in China

wurde. Obwohl die beiden Wus nicht stark genug waren, um Liu physisch

von den Qualitäten des Tai Chi zu überzeugen, erregten ihre langen Ge-

spräche über die Philosophie des Tai Chi, die das Weiche und das Nach-

geben betont, doch sein Interesse. Diese Beziehung führte letztlich dazu,

dass Liu im Haus von Wu Jien Chuan in Hongkong lebte und zu seinem

Schüler wurde.

Nachdem Liu Tan Hsiu Fa Shr, einen erleuchteten Meister der Tien-Tai-

Schule getroffen hatte, begann er sich für den Buddhismus und seine spi-

rituelle Lebensweise zu interessieren. Tan Hsiu lud ihn ein, in sein Kloster

zu kommen und von ihm zu lernen. Liu wollte allerdings nicht wie ein

Mönch leben. Doch sein Meister verlangte nicht von Liu, ein Mönch zu

werden, sondern nur, sich in seinem Kloster zu schulen. Wieder erwies Liu

sich als besonders talentierter Schüler, und Tan Hsiu begann ihn privat

zu unterweisen. Nach relativ kurzer Zeit bestätigte Tan Hsiu, dass Liu die

Natur der Leere begriffen habe; dies ist das wichtigste Ziel der spirituellen

Praxis des Mahayana-Buddhismus, das, was im Westen oft als Erleuch-

tung bezeichnet wird. Nachdem er unter der Führung von Tan Hsiu Fa

Shr die spirituellen Lehren des Tien-Tai-Buddhismus verwirklicht hatte,

verbrachte Liu zehn Jahre allein in den Bergen von Westchina, wo er

sich unter verschiedenen daoistischen Meistern schulte, von denen er die

Methoden der daoistischen inneren Alchimie erlernte.

Seine erste Begegnung mit dem Daoismus hatte er im Alter von zehn

Jahren gehabt, als der Tempel der Weißen Wolken in Beijing zu Neujahr

für die Allgemeinheit geöffnet war. Der Tempel war für den Jungen ein

magischer Ort, und das, was ihn am meisten beeindruckt hatte, war eine

Gruppe von Adepten gewesen, die über eine Woche lang vierundzwanzig

Stunden am Tag bewegungslos in Meditation saßen.

Im westlichen China schulte Liu sich bei einzelnen daoistischen Adepten

und umging so den Weg des Klosterlebens, den er im Buddhismus kennen

gelernt hatte. In seinen Gesprächen mit mir konzentrierte Liu, der von

Natur aus nicht gerade gesprächig war, sich auf die Übungen und ließ

nicht viel über seine Lehijahre in der Vergangenheit verlauten. Er sagte,

er habe bei jenen daoistischen Adepten seine Studien über das Chi ab-

geschlossen und dort die Wurzeln des I Ging und deren Manifestationen

begriffen. In der Folge verlagerte Liu den Schwerpunkt seiner Aktivitäten

von der Kampfkunst hin zum Daoismus, wozu auch die Totalität des Ba

Gua gehörte. Während der folgenden siebenunddreißig Jahre in Beijing

arbeitete Liu vor allem für das spirituelle Wohl der Menschheit, da er zum

Oberhaupt der nördlichen Linie des Daoismus ernannt worden war.

373

Während er mich unterwies, gab es ein ständiges Hin und Her zwischen

unterschiedlichen Themen, mit deren Hilfe Liu mir seine daoistischen

Lehren vermittelte. Er meinte, es sei ein glücklicher Umstand, dass wir

viele Interessen gemeinsam hätten - Chi Gung, die inneren Kampfkünste,

Meditation und die innere Alchimie. Er hätte mich gern mit den Mitteln

der Literatur und der Kalligraphie geschult, aber da ich das klassische

Chinesisch dazu nicht hinreichend beherrschte, unterwies Liu mich durch

direkt erfahrbare Chi-Übertragungen und nicht mit Hilfe der intellektuel-

len literarischen Tradition.

Noch am Tag bevor er starb, sagte mir Liu, wie schon einige Male zuvor,

er habe all sein Wissen in mein Bewusstsein übertragen, so dass weitere

Übung dafür sorgen könne, diese Samen zu Bäumen heranwachsen zu

lassen. Da ich nur ein gewöhnlicher Sterblicher bin, wachsen diese Samen

in mir nur langsam, aber Liu ist für mich immer noch eine Quelle nie en-

dender Inspiration in Hinsicht auf die Möglichkeiten des Geistes.

Am letzten Tag seines Lebens lehrte Liu mich die inneren Aspekte der letz-

ten Hand des Ba Gua und den letzten Teil der transformierenden Chi-Ar-

beit des Wu-Stil Tai Chi. Dies war die intensivste energetische Arbeit, die

ich je erfahren habe. Als ich Liu das sagte, meinte er, für ihn sei das ganze

noch viel anstrengender. Er verbrachte an jenem Tag viel Zeit damit, sein

Wissen mit mir zu teilen und noch offene Fragen zu beantworten. Am

nächsten Tag starb Liu nur eine Stunde vor Beginn unseres gewöhnlichen

Unterrichts. Drei Tage später war sein Körper noch immer weich und bieg-

sam - ein Zeichen dafür, dass hier ein Adept gestorben war. Sein Leichnam

wurde verbrannt. Ich war lange Zeit sehr traurig über seinen Abschied.

Der Unterrichtsstil von Liu

Liu benutzte sämtliche Lehrmethoden von Wang, Hung, Huang und Bai

Hua und band einzelne Stränge ihrer Lehren zu einem kohärenten Gan-

zen zusammen. Er ging aber auch über ihre Lehren hinaus in völlig neue

Bereiche. In der Kampfkunst bevorzugte er die großen Bewegungen von

Wang und Bai Hua, weil sie forderlicher für die Gesundheit des Körpers

waren und man damit die rohe körperliche Kraft am besten entwickeln

konnte. Er nahm dann all die inneren Komponenten kleiner Bewegungen

und kombinierte sie innerlich zu großen Bewegungen. Wenn Liu also

einen Hieb ausführte, veränderte er den inneren Druck seines Hiebes (mit

demselben Grad an Präzision, wie es Hung und Huang bei ihren kleinen

Bewegung und ihrer Verlagerung der Körpermechanik taten), ohne dass

sich seine äußere Form im Geringsten veränderte.

Liu besaß auch einen Gesamtüberblick über das Netzwerk des Chi Gung

und verstand dieses zu kommunizieren. Diese Erfahrung war etwas ganz

374

anderes als das, was ich mit meinen anderen Lehrern erlebt habe. Sie

waren Adepten spezieller Bereiche des Chi Gung, aber sie vermochten

nicht die unterschiedlichen Stränge im Gesamtgewebe des Chi Gung zu-

sammenzufassen. Liu war auch sehr gut darin, zu erklären, wie die ver-

schiedenen Techniken der Kampfkunst, wenn man sie separat oder in un-

terschiedlichen Kombinationen ausführt, das Chi des Körpers in medizi-

nischer Hinsicht verändern. Er wusste zudem, welche Chi-Kombinationen

gut zusammenpassen, und welche sich in ihrer Wirkung neutralisieren

oder unverträglich sind. Er äußerte sich auch sehr detailliert darüber, wie

die Kampfkunsttechniken des Ba Gua, Tai Chi und zu einem geringen

Grad des Hsing-I in der daoistischen Meditation direkt angewendet wer-

den können, so dass eine echte spirituelle Praxis daraus wird.

Lius moralische Lehren

Liu ließ keinen Zweifel am spirituellen Wert der daoistischen Moralität,

die viel mit den Werten der normalen chinesischen Kampfkünste oder

der jüdisch-christlichen Moralität gemeinsam hat, sich oft aber auch sehr

von diesen unterscheidet. Zu den grundlegenden moralischen Werten des

Daoismus gehört die Regel, nicht in das natürliche Chi oder die Freiheit

eines anderen Individuums oder in ein spontan entstehendes Ereignis

einzugreifen oder diese zu manipulieren, wenn das nicht ausdrücklich

gewünscht wird. Pragmatismus und Integrität basieren im Daoismus auf

innerem Gewahrsein und Geistesklarheit und nicht auf Eigeninteresse

oder spezifischen äußeren Formen und Regeln, die uns von der Gesell-

schaft auferlegt werden. Hier erwartet man, dass jemand das tut, was er

sagt, und nur sagt, was er wirklich zu tun beabsichtigt und willens ist

zu tun. Die Goldene Regel des Daoismus besagt: „Tue für andere, was

du dir wünscht, das sie es für dich tun" sowie „Was du nicht willst, das

man dir tu, das füg auch keinem andern zu". Man sollte im Rahmen der

eigenen Fähigkeiten und Einsichten immer das Bestmögliche versuchen,

um Gleichgewicht und Harmonie in alle Situationen, die uns widerfahren,

zu bringen.

375

Geschwindigkeit kann in jeder Kampfkunst wesentlich sein. Während eines

Karate-Sparrings wird hier ein Rundum-Rückwärtstritt verwendet, um sich

gegen einen geraden Hieb zu verteidigen. Dabei sind die Geschwindigkeit und

das Timing des Tritts von entscheidender Bedeutung.

Geschwindigkeit

Das Wesen der Geschwindigkeit

in allen Stilen der Kampfkunst

Wie man die vier grundlegenden Arten der Geschwindigkeit erreicht

Wo in den Kampfkünsten Körper mit Körper zusammenprallt, ist die Ge-

schwindigkeit eine ganz wesentliche Komponente. In den Kampfkünsten

gibt es vier verschiedene Arten von Geschwindigkeit, jede wiederum mit

klar unterscheidbaren Schattierungen. Wenn zwei Gegner in allen anderen

Aspekten gleichrangig sind, dann gewinnt gewöhnlich deijenige, der über

eine Art von Geschwindigkeit verfügt, an der es dem anderen mangelt.

Verschiedene Schulen der Kampfkunst pflegen sich auf bestimmte Arten

von Geschwindigkeit zu konzentrieren, wobei sie viele wichtige Typen

der Geschwindigkeit vernachlässigen, die nicht Teil ihres grundlegenden

philosophischen Systems oder ihres Arsenals an Techniken sind.

Oft mag eine Art von Geschwindigkeit einer anderen sehr ähnlich sehen,

obwohl sie sich tatsächlich radikal unterscheiden. Weil viele Praktizie-

rende glauben, ihre Geschwindigkeit müsse sich in allen Bereichen ihrer

Praxis bemerkbar machen, bleibt es ihnen ein Rätsel, warum sie nicht

in all diesen Bereichen wirkliche Geschwindigkeit erreichen. Manchmal

können Ausübende der Kampfkunst allein schon durch die Beachtung der

simplen Tatsache, dass es verschiedene Arten von Geschwindigkeit gibt,

ihre Fertigkeiten im Bereich der Geschwindigkeit ausbauen und dadurch zu

einer Wertschätzung von Dingen gelangen, die sie zuvor belächelt haben,

weil sie „anders" waren.

Die vier Arten von Geschwindigkeiten der Kampfkunst gibt es in allen

Stilen, seien diese nun äußerlich, äußerlich/innerlich oder rein innerlich.

377

7

Typ I: Geschwindigkeit von Punkt A zu Punkt B

Bei diesem Typ von Geschwindigkeit, der sich in Meter pro Sekunde messen

lässt, geht es darum, wie schnell sich Ihr Körper oder verschiedene Teile

davon durch unverstellten Raum oder durch Wasser von Punkt A nach

Punkt B bewegen können.

Geschwindigkeit von Händen und Armen Die Geschwindigkeit von

Händen und Armen ist in den meisten Kampfkünsten von wesentlicher

Bedeutung. Wo es darum geht, Ihren Gegner zu schlagen, ist die Notwen-

digkeit von Geschwindigkeit offensichtlich. Auch Ringer brauchen schnelle

Hände, wenn sie ihren Gegner zu fassen bekommen wollen, insbesondere

in empfindlichen Gegenden wie an den Geschlechtsteilen, Ohren, Haaren

oder an der Kehle. Wenn Sie mit Waffen kämpfen, dann bewegen diese

sich umso schneller, je schneller Ihre Hand und Ihr Arm sich bewegen.

Oft reicht das Gewicht, die Spitze oder die Schneide der Waffe aus, um

die erforderliche Verletzung zuzufügen, so dass die Geschwindigkeit und

nicht die Kraft das entscheidende Moment ist.

Bewegung des Arms Abhängig davon, welche Handpositur Sie ver-

wenden, können Sie mit genau derselben Armbewegung unterschiedlich

schnell zuschlagen. Vergessen Sie nicht, dass es zu den herausfordernden

Grundsätzen der Kampfkünste gehört, dass man die Hände im Kampf

weder zu locker, noch extrem angespannt halten darf. Wenn Ihr Arm sich

bewegt, um einen Hieb auszuführen, kann Ihre Hand unterschiedliche

Formen annehmen:

1. Verschiedene Arten von Fäusten - flache Faust, vertikale Faust,

Aufwärtshaken, Hammerhand, Daumen seitlich der geschlossenen

Faust, Vorstehen verschiedener Fingerknöchel.

2. Peitschenschläge mit den Fingern, der Handfläche oder dem Rücken

der offenen oder zur Faust geschlossenen Hand.

3. Schneidende Bewegung mit den Fingerknöcheln, dem Handballen

oder der Handkante der offenen Hand.

4. Fingerhiebe und Krallen.

5. Hiebe mit der offenen Hand - mit der Handkante, dem Handballen,

dem Handgelenk und der Mitte der Handfläche.

378

Schnelle Bewegung der Arme in alle Richtungen Bei einer bestimmten

Armbewegung werden vielleicht andere Muskeln benutzt als bei einer

anderen. Dieselben Muskeln können auch in unterschiedlicher Abfolge

benutzt werden, wobei jeder Muskel unterschiedlich belastet wird. Da-

bei sind die jeweiligen neuromuskulären Veränderungen abgeschlossen,

wenn man von einer Armbewegung zu einer anderen Annbewegung in

eine andere Richtung übergeht. Die grundlegenden Annbewegungen, die

separat trainiert werden müssen, damit man Geschwindigkeit erlangt, sind

vorwärts, rückwärts, seitlich, auf derselben Körperseite (der rechte Arm

bewegt sich auf der rechten Seite des Körpers) und schräg über den Körper.

Rückwärts, seitlich und schräg über den Körper sind am schwierigsten.

Was den Kampf angeht, so ist es gewöhnlich leichter, die Arme vorwärts

zu bewegen als sie mit Geschwindigkeit rückwärts zu bewegen.

Die Geschwindigkeit verschiedener Handposi turen Es gibt mehrere

Faktoren, die ebenso zutreffen, wenn Hände sich berühren; sie sind für die

unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei unterschiedlichen Handposituren

verantwortlich:

1. Handpositur und weiches Gewebe In unterschiedlichen Sequenzen

bringen verschiedenen Handposituren gleichartige weiche Gewebe

- das heißt Muskeln, Sehnen und Bänder - in Ihrer Hand ins Spiel.

Abhängig von der spezifischen Abfolge, in der die weichen Gewebe

aktiviert werden, kann Ihre Hand sich schneller oder langsamer ver-

formen. Zu diesen Unterschieden kann es kommen, weil einige der

weichen Gewebe vielleicht unterentwickelt sind, es ihnen an Tonus

mangelt, sie zu angespannt sind oder sie Muskelfasern haben, die

übermäßig gedehnt oder verkürzt sind. Je mehr Spannung es in der

Hand gibt, desto langsamer werden sich Arm und Hand zusammen

bewegen, wenn Sie eine schnelle Technik ausführen wollen.

2. Wechselwirkungen zwischen weichen Geweben Wenn Sie einen

Hieb ausführen, bringen die von der jeweiligen Handpositur be-

anspruchten weichen Gewebe andere weiche Gewebe bis in den

Arm und die Schulter hinauf ins Spiel und je nachdem, wie lo-

cker oder angespannt Sie sind, sogar bis in die Brust, den Rü-

cken, die Hüften oder sogar bis hinab in die Füße. Einige dieser

Muskeln in Ihrem Arm oder sonst wo mögen mehr oder weniger

gestreckt (lockerer oder angespannter) sein. Deshalb werden sich

379

einige schneller oder langsamer bewegen als andere. Manche die-

ser Gewebe mögen sogar nur eingeschränkt funktionsfähig sein.

Wenn Sie eine Handpositur benutzen, die schlecht funktionieren-

de Gewebe weiter oben im Arm oder in Ihrem Körper mit ein-

bezieht, dann wird Ihre Hand sich langsamer bewegen als sonst.

Sagen wir zum Beispiel Sie führen mit größter Geschwindigkeit

drei verschiedene Hiebe mit der Hand aus (Faust, offene Handfläche

und Handkante), wobei Sie dieselbe Bewegung mit ausgestreck-

tem geradem Arm machen. Das Resultat ist: Die vertikale Faust

geht sehr schnell, die vertikale Handfläche geht mäßig schnell, und

eine Handfläche zur Seite geht noch langsamer. Warum? Der ver-

tikale Fausthieb benutzt übliche Muskelpfade, die bei den meisten

Menschen einigermaßen offen und frei von Hindernissen sind. Der

vertikale Hieb mit der Hand bedient sich natürlicherweise einiger

Muskeln an der Oberseite und im Inneren der Schulter, die bei den

meisten von uns normalerweise angespannter sind, wenn wir sie

nicht speziell gedehnt und trainiert haben. Der seitliche Handflä-

chenhieb benutzt nicht nur die normalerweise gespannten Muskeln

an der Oberseite und innerhalb der Schulter, sondern setzt auch

voraus, dass die Latissimus-dorsi-Muskeln stark gedehnt sind (was

sie normalerweise nicht sind), weil sie sonst die Geschwindigkeit der

Handbewegung hemmen. Um solche Probleme mit der Geschwin-

digkeit zu überwinden, was Kampfkünstler, die Höchstleistungen

erbringen wollen, erreichen müssen, werden in den Kampfkünsten

eine Reihe ausgeklügelter Trainingsmethoden angewendet.

Bei den meisten von uns werden diese weichen Gewebe entweder

dadurch entwickelt, dass sie an natürlichen Bewegungen beteiligt

sind (bei Stadtbewohnern wahrscheinlich weniger intensiv), oder

sie werden durch spezifische Körperertüchtigungen trainiert (Sport,

Klettern auf Bäume etc.). Betätigt man sich nicht auf eine Weise,

die normalerweise die weichen Gewebe trainiert, die an Hieben mit

der Hand beteiligt sind, dann braucht man spezielle Übungen oder

Aktivitäten, die inneren Abläufe in den benutzten weichen Gewe-

ben verändern. Sonst werden Ihre Handhiebe auch nach Jahren

des Trainings immer noch relativ langsam sein. Auch wenn Sie die

langsame Technik immer wieder allein üben, ist das wahrscheinlich

keine große Hilfe zu Überwindung des Mangels an Geschwindig-

keit.

380

3. Zustand der Bindegewebe Verklebtes Bindegewebe (Faszien) wird

Muskeln und Bänder miteinander verbinden, die sich normalerweise

frei bewegen können, und wird damit deren Vermögen, sich flüssig

und schnell zu bewegen, hemmen. Um diese Situation zu beheben,

muss man die Faszien strecken und voneinander trennen. Wenn

man das nicht tut, werden die straffen Faszien nicht zulassen, dass

sich die mit ihnen verklebten Muskeln und Bänder frei bewegen

können. Methoden zur Lockerung der Faszien in der Bewegung sind

eine Spezialität der inneren Kampfkünste Chinas. Wer eine äußere

Kampfkunst praktiziert, für den werden Tiefenmassage der Faszien,

Yoga-artige Streckübungen und Tai Chi besonders hilfreich sein.

4. Nervensignale Es kann auf der neurologischen Ebene deutlich stär-

kere Signale zu bestimmten ausgewählten Muskelgruppen geben

als zu anderen. Im Körper gibt es viele Energiebahnen. Wenn diese

Energiebahnen ganz oder teilweise blockiert sind, dann hemmen sie

die Geschwindigkeit, mit der Signale sich durch die Nerven bewegen.

5. Kreislauf Ein schlechter Blutkreislauf kann ebenfalls alle mögli-

chen Arten körperlicher Geschwindigkeit behindern, besonders die

Geschwindigkeit der Hände.

Geschwindigkeit der Beine und Füße

Tritte Tritte sind ein notwendiger Bestandteil der Kampfkünste, weil wir

nie wissen können, ob unsere Hände nicht gebunden oder anderweitig

beschäftigt sein werden. Einige Kampfkünste haben sich auf Tritte, ins-

besondere hohe Tritte, spezialisiert. Es kann sein, dass Sie bei bestimmten

Tritten Geschwindigkeit erreichen, bei anderen aber nicht. Sie können zum

Beispiel Geschwindigkeit bei hohen, mittelhohen oder niedrigen Tritten be-

sitzen, bei Tritten während Sie auf dem Boden sitzen oder liegen, während

Sie auf einem Stuhl sitzen oder in die Luft springen. Die Geschwindigkeit

eines Trittes kann variieren, je nachdem, von welcher Position Sie dabei

ausgehen. Derselbe Tritt mag schneller oder langsamer sein, je nachdem,

ob Sie in einer starken Standpositur die Füße flach auf dem Boden haben

oder ob Sie auf der Ferse stehen. Die Trittgeschwindigkeit ist normaler-

weise höher, wenn Ihr Körpergewicht gut verteilt ist. Können Sie jedoch

auch dann Ihre Geschwindigkeit aufrechterhalten, wenn Sie sich nicht im

Gleichgewicht befinden? Der Faktor Gleichgewicht kann in einem echten

Kampf über Leben oder Tod entscheiden.

381

Fußarbeit Testen Sie sich selbst, um herauszufinden, ob Sie ein gewisses

Maß an Geschwindigkeit bei verschiedenen Arten der Fußarbeit besitzen.

Gibt es eine bestimmte Fußarbeit, die Sie besonders schnell ausführen

können? Gibt es welche, bei der Sie besonders langsam sind? Gibt es eine

Fußarbeit, die Sie überhaupt nicht beherrschen? Können Ihre Füße sich

über kurze Distanz schnell, aber über lange Distanz nur langsam bewegen,

oder umgekehrt? Sind Sie sehr gut darin, Ihren Standpunkt beizubehal-

ten und Ihr Gewicht zu verlagern, aber sind Sie langsam, wenn Sie Ihre

Füße in irgendeine Richtung bewegen müssen? Können Sie Ihr Gewicht

schnell verlagern? Wie steht es mit Ihrer Geschwindigkeit bei linearen

Fußbewegungen nach vorn oder zurück oder zur Seite? Die meisten Men-

schen können sich schneller bewegen, wenn sie einen Schritt nach vorn

machen, als wenn sie nach hinten oder zur Seite gehen. Dann gib es ja

noch Halbschritte, hüpfende Schritte, springende Schritte, und das Rück-

wärtstreten - sind Sie dabei schnell oder langsam?

Die Frage der Geschwindigkeit stellt sich auch dann, wenn Sie sich in

unterschiedlichen ungewöhnlichen Winkeln nach vorn oder zurück bewe-

gen, etwa im Winkel von 30, 45, 60 oder 135 Grad. Dann gibt es zirkuläres

Schreiten, Stundenglasschritte und Schritte mit Zehen einwärts oder Zehen

auswärts, wie sie in den Schwerttechniken, den inneren Kampfkünsten,

im Aikido, Ninjutsu, Judo und vielen anderen Kampfkünsten, in denen

die Würfe wichtig sind, verwendet werden.

Prüfen Sie sich selbst! Haben Sie bei allen Arten der Fußarbeit die

gleiche Geschwindigkeit, oder sind Sie bei manchen Arten schneller als

bei anderen?

Hüf t - und Körperdrehungen Die Drehungen von Körper und Taille sind

in allen Stilen der Kampfkunst eines der grundlegenden Mittel zur Erzeu-

gung von Kraft. Viele Menschen, die ihre Hände der Füße schnell bewegen

können, vermögen das nicht zu tun, wenn sie ihren Körper drehen oder sich

in der Taille drehen. In allen Kampfkünsten - den äußeren, den äußeren/

inneren und in den rein inneren - ist es ideal, wenn Sie Ihre Arme, Füße

und Taille auf koordinierte Weise mit derselben Geschwindigkeit bewegen

können. Die verschiedenen Variablen in Hinsicht auf die Geschwindigkeit,

die ins Spiel kommen, wenn Sie sich in der Hüfte und im Körper drehen,

sind die folgenden:

382

1. Sie benutze eine oder beide Hände, um zu schlagen, zu greifen, zu

ziehen oder um den Gegner zu lenken.

2. Sie treten entweder mit dem vorderen oder dem hinteren Bein.

3. Sie treten und schlagen entweder simultan oder hintereinander.

4. Sie heben den Körper an oder senken ihn ab.

5. Die Füße sind fixiert und stehen flach auf dem Boden.

6. Die Füße sind fixiert und eine Ferse oder beide Fersen sind ange-

hoben.

7. Der vordere Fuß ist fixiert, während der hintere Fuß sich dreht,

entweder flach auf dem Boden oder mit angehobener Ferse.

8. Beide Füße drehen sich und bewegen sich simultan oder in Sequenz,

während die Hände sich bewegen oder nicht bewegen.

Jede dieser Variablen setzt die Meisterung verschiedener Arten von Bein-

geschwindigkeit voraus, wobei manche leichter, andere schwieriger zu

beherrschen sind.

Typ II: Geschwindigkeit in der Berührung

Die Geschwindigkeit eines Objekts, das sich von A nach B bewegt, ist

relativ leicht zu beurteilen. Man kann sie sehen und sie messen - sie ist

bei einem sich bewegenden Fuß, einer Hand oder eine Taille in Bewegung

leicht zu erkennen. Im Gegensatz dazu ist die Geschwindigkeit in einer

Berührung nicht so offensichtlich. Man kann sie nicht so einfach auf ob-

jektive Weise messen, aber man kann sie subjektiv fühlen. Zu ihr gehört

Sensibilität ebenso wie die reine athletische Befähigung. Diese Faktoren

sind im Spiel, weil es in der Berührung, über den Druck und die Kraft

hinaus, die sich zwischen zwei Gegnern bewegen, noch den zusätzlichen

Faktor eines Individuum gibt, das versucht, jede Bewegung, die ein anderer

macht, innerhalb von Sekundenbruchteilen zu kontern.

Viele hervorragende Ringer und Praktizierende von Judo und Aikido

können sich in der Berührung unglaublich schnell bewegen, sind aber

relativ langsam bei der Ausführung von Hieben und Tritten. Andererseits

sind viele, die schnell treten und schlagen können, in der Berührung relativ

langsam, so dass sie in Schwierigkeiten geraten, wenn man nah an sie

herankommt und sie zu fassen bekommt, weil sie sich dann nicht schnell

383

genug zu bewegen vermögen. Die meisten Kampfkünste, die sehr stark mit

Geschwindigkeit in der Berührung arbeiten, pflegen sich fast ausschließlich

entweder auf Schläge oder auf Würfe zu konzentrieren. So konzentrieren

sich zum Beispiel unter den Kampfkünsten, die im Westen gut bekannt

sind, Wing Chun und Hsing-I vor allem auf das Schlagen und machen

nur minimalen Gebrauch von Wurftechniken. Judo, Jiu Jitsu und Aikido

konzentrieren sich hauptsächlich auf Würfe und Hebel. In manchen sind

beide Aspekte berücksichtigt, etwa im Ninjutsu, Tai Chi und Ba Gua.

Wenn wir zwei Kämpfer in Aktion sehen, können wir gewöhnlich Kon-

takte von Armen, Beinen, Hüften und sogar den Rücken beobachten. Wir

sehen vielleicht, wie Gliedmaßen sich schnell berühren, jedoch nicht auf

dieselbe dramatische Weise wie Arme, Beine oder Hüften sich schnell durch

den unverstellten Raum bewegen. Was für den uneingeweihten Beobachter

nicht offensichtlich ist, ist die Tatsache, dass die Geschwindigkeit der Bewe-

gung von Gliedmaßen von der Geschwindigkeit kleiner Muskelbewegungen

innerhalb des Torsos abhängt, Bewegungen, die unsichtbar erscheinen,

die jedoch wesentlich dafür sind, den Armen, Beinen und Hüften in der

Berührung Geschwindigkeit zu verleihen.

Es gibt unterschiedliche Grundtypen der Geschwindigkeit in der Berüh-

rung; sie alle müssen separat und ausgiebig trainiert werden, damit man

sie erfolgreich einsetzen kann. Wenn man in einer dieser Arten schnell ist,

bedeutet das noch lange nicht, dass die Geschwindigkeit sich auch auf die

anderen Arten überträgt. Die grundlegenden Arten von Geschwindigkeit

in der Berührung sind:

1. Hand und Arm zu Hand und Arm In der Berührung ist die Ge-

schwindigkeit von Handflächen, Fingern, Rückseiten der Hände

und Handgelenken ganz etwas anderes als Geschwindigkeit in den

Unterarmen, Ellbogen, Oberarmen, Schultern und Schulterblättern.

Viele Ausübende haben Geschwindigkeit in den Händen, aber nicht

in den Armen, oder aber sie haben schnelle Arme und langsame

Hände. Es kann auch sein, dass eine Person in verschiedenen Teilen

Geschwindigkeit besitzt, sie diese Teile jedoch nicht alle zusammen

auf koordinierte Weise einzusetzen vermag. Eines der Kennzeichen

eines wirklich erstklassigen Kampfkunstmeisters ist, dass bei ihm alle

Körperteile nahtlos, schnell und sensibel zusammenarbeiten.

2. Bein zu Bein Diesen Kontakt sieht man in Würfen, Fußfegern,

Hebeln des Knies, Fußgelenks und unteren Rückens und bei Hieben

384

zu Akupunkturpunkten mit dem Knie, während man das Bein des

Gegners mit dem Fußgelenk an seinem Fußgelenkt fixiert hat. Wenn

zwei Beine sich berühren, gibt es zwei Arten der Geschwindigkeit.

Eine davon wird benötigt, um die Bewegungen und Gegenbewegun-

gen eines Angreifers zu kontern. Die andere ist die Geschwindigkeit,

die nötig ist, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen,

ihn zu entwurzeln und verschiedene seiner Stärken zu überwinden,

um sich ihn für einen Wurf oder einen Beinhebel zurechtzulegen

oder sein Bein mit Ihrem Bein zu treffen oder um seinen gesamten

Körper aus dem Gleichgewicht zu bringen, während Ihre Hände ihn

schlagen oder etwas anderes tun.

3. Hüfte zu Hüfte Die Geschwindigkeit der Hüftdrehung und Berüh-

rungssensibilität in der Hüfte sind für die Ausführung von Würfen

ebenso wichtig wie für das Kontern eines Versuchs des Gegners,

Sie zu werfen, sowie für die Destabilisierung der Balance des Geg-

ners, bevor Sie schlagen oder treten. Diese Geschwindigkeit in der

Berührung ist für alle Arten des Bodenkampfs wichtig, aber auch

dann, wenn unser Rücken gegen eine Wand gedrückt wird.

In allen oben genannten Fällen ist die Geschwindigkeit bei der Bewegung

der Füße anders als wenn die Füße stillstehen. Im Allgemeinen ist es leich-

ter, Geschwindigkeit in der Berührung aufrecht zu erhalten, wenn die Füße

still stehen. Viele Menschen sind effektiv, wenn die Füße flach auf dem

Boden stehen, verlieren jedoch an Wirksamkeit, wenn sie einen Schritt

machen. Es verlangt eine völlig andere Art von Ruhe und Kontrolle, die

Geschwindigkeit in der Berührung aufrecht zu erhalten, wenn man sich

durch den Raum bewegt.

Die Geschwindigkeit in Ihren Händen und Füßen ist davon abhängig,

ob sich Ihre Taille bewegt oder nicht. Mangelndes Gleichgewicht beein-

trächtigt die Geschwindigkeit. Es ist schwieriger, die innere Balance zu

behalten, wenn die Taille in Bewegung ist als wenn sie in Ruhe ist. In den

meisten Fällen ist es anfangs einfacher, Geschwindigkeit in Händen und

Füßen zu erzeugen, wenn die Taille sich nicht bewegt. Doch wenn Sie in

der Lage sind, Ihre Bewegung in der Taille mit der von Beinen und Füßen

zu koordinieren, dann erreicht die Geschwindigkeit von Händen und Füßen

ihr Maximum. Dies trifft auch dann zu, wenn Ihre Hände sich durch die

Luft bewegen und Sie noch nicht in Kontakt mit dem Gegner sind.

385

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Nördliches Shaolin

Die andauernde Anspannung am Ende jedes Schlages

und Tritts des Karate, das ich in meiner Jugend prakti-

ziert habe, hinterließ einen beträchtlichen Eindruck in

meinem Körper, meinen Gefühlen und meinem zentra-

len Nervensystem. Ich habe meine gesamte Teenager-

zeit hindurch intensiv Karate geübt, so dass mir während einer wichtigen

Phase meiner Entwicklung in meine ganze Daseinsweise eingeprägt wur-

de, dass man sich körperlich und emotional anspannen muss, um ein Ziel

zu erreichen.

Wenn ich heute zurückschaue, scheint mir, dass diese Gewohnheit der

Anspannung sich bis weit in meine Dreißiger hinein auf alle Aspekte mei-

nes Lebens übertragen hat. Das brachte viel Stress mit sich und machte

es mir schwierig, mich in die Praxis der inneren Kampfkünste hinein zu

entspannen. Der Katalysator, der diese Gewohnheit veränderte, war aus-

gerechnet ein Stil des Nördlichen Shaolin. Ich lernte das Sechs-Kombi-

nationen-Boxen des Nördlichen Shaolin in Hongkong von Bai Hua, kurz

bevor ich nach Beijing zurückkehrte, um mich unter Liu Hung Chieh zu

schulen.

Zwischen dem Shotokan Karate (der in Japan populärste Stil und der

Stil, den ich so lange geübt hatte) und dem Nördlichen Shaolin gibt es

viele Parallelen. Beides sind grundsätzlich Stile der mittleren und wei-

ten Reichweite, die Kraft und Aggressivität betonen. Beide verwenden

niedrige Standposituren, lange ausgreifende Handtechniken, schnelle und

starke Drehungen in der Taille und Tritte sowohl aus dem Stand als auch

aus dem Sprung, besonders den hohen Tritt nach vorn, den Rundum-

tritt, den Rückwärts- und den Seitwärts-Tritt. In beiden Praktiken werden

die Formen in einem schnellen Kampftempo geübt. Es gibt jedoch einen

bedeutsamen Unterschied zwischen diesen beiden Kampfkunstarten: Im

Nördlichen Shaolin werden die Muskeln niemals angespannt, sie bleiben

immer entspannt, während die Muskeln im Shotokan Karate am Ende

einer Technik immer angespannt werden, um Kraft zu erzeugen. Trotzdem

ist das Nördliche Shaolin in der Lage, ohne Muskelanspannung ebenso

viel Schlagkraft zu erzeugen wie das Karate. Es ist dazu fähig, indem es

zwei Komponenten des sechzehnteiligen Nei-Gung-Systems (siehe Sei-

te 121) anwendet. Die eine Komponente arbeitet mit Atemtechniken und

die andere mit der schnellen Auswärtsstreckung der weichen Gewebe ent-

386

lang der Muskeln, die mit den Yang-Akupunkturmeridianen verbunden

sind, und der Einwärtsstreckung enüang der Muskeln, die mit den Yin-

Akupunkturmeridianen verbunden sind. Die Auswärtsstreckung erzeugt

Projektionskraft für einen durchdringenden Hieb zum Gegner, die Ein-

wärtsbewegung der weichen Gewebe erzeugt Ziehbewegungen, Kraftblo-

ckaden, Paraden und schneidende Bewegungen. Im Nördlichen Shaolin

entsteht die Stärke eines Hiebes aus der Geschwindigkeit, mit der die

weichen Gewebe sich bewegen, nicht aus der Anspannung der Muskeln

am Ende der Technik.

Die allgemeine Geisteshaltung bei der Ausführung einer Form des Nördli-

chen Shaolin ist fast dieselbe wie bei der Ausführung einer Karate-Form:

Nach der anfänglichen Verteidigung schlägt oder tritt man zu und erle-

digt den Gegner mit einem klaren Treffer. Die grundlegenden Prinzipen

der beiden Kampfkünste sind jedoch geradezu entgegengesetzt. Im Nörd-

lichen Shaolin projizieren Sie am Ende Ihrer Technik, wenn Sie den Geg-

ner erledigen, unendlich hinaus in den Raum, ohne sich geistig auf einen

spezifischen Ort im Raum vor Ihnen zu fixieren. An dem Punkt, wo Sie

Ihren Hieb fokussieren, kontrahieren Sie nicht Ihre großen Muskeln, den

Bauch, das Gesicht und den Kiefer, wie Sie das im Karate tun. Sie öffnen

und entspannen diese Muskeln vielmehr in einem kurzen und explosi-

ven Ausbruch wie beim Feuern einer Laserkanone. Im Karate dagegen

konzentriert man an dem Punkt, wo man einen Gegner erledigt, seine

Aufmerksamkeit auf den Körper des Gegners oder auf eine Visualisation

des Körpers, man spannt den Körper an, schreit49 und wird wild.

Da die Bewegungen dieser beiden Kampfkünste so ähnlich sind, spannte

ich mich zu Anfang meiner Übung der Form des Nördlichen Shaolin am

Ende eines Hiebes immer offensichtlich oder unterschwellig an. Indem

ich mich mental immer und immer wieder daran erinnerte, mich zu ent-

spannen und loszulassen, war es mir nach einer Weile jedoch möglich, die

Anspannung zu vermeiden, und ich vermochte allein die Gewebsverlän-

gerungsmethode des Nei Gung zu benutzen. Anfangs vermochte ich das

nur über ein oder zwei Bewegungen hintereinander aufrecht zu erhalten,

doch nach einigen Wochen war es mir möglich, dies über den gesamten

Verlauf einer Form hinweg zu tun.

Indem ich die Spannung auflöste, während ich eine Form nach der an-

deren trainierte, begann meine Geschwindigkeit allmählich zuzunehmen.

Die allgemeine Absicht - das Ziel, den Gegner zu erledigen - war immer

noch vorhanden, aber sie war nicht begleitet von der inneren mentalen

49 Der Schrei, der in Japan Kiai genann t wird, kann hörbar und laut sein oder subtil und

praktisch unhörbar. Die Funktion dieses Schreis ist, die innere Kraft des Ausübenden

zu fokussieren.

387

Kontraktion, die mit dem Bestreben einhergeht, einen spezifischen Feind,

auf den man sich konzentriert, zu zerstören, und auch nicht von der Ego-

Aufladung, die einer solchen Geisteshaltung zumeist folgt wie ein dunkler

Schatten. Eines Tages dann erhöhte sich während dreier aufeinander fol-

gender Sets meine Geschwindigkeit dramatisch, als liefe alles von selbst

ab. Jedes Mal, wenn ich mit voller Absicht einen Hieb ausführte, konnte

ich spüren, wie etwas von der tiefen unterschwelligen Spannung aus mei-

ner Karate-Zeit verschwand. Schließlich, am Ende der dritten Form, war

die unterschwellige Spannung total verschwunden und kehrte auch nie

mehr zurück. Dieser Wandel half mir, ungehindert in die Tiefen der inne-

ren Kampfkünste vorzudringen. Mir wurde aus dem Bauch heraus klar,

dass aus der Entspannung heraus ebensoviel Kraft, Stärke und Effektivität

im Kampf zu gewinnen ist, wie aus der Anspannung, die ich in meiner

Jugend für den einzigen Weg zu einer solchen Leistung gehalten hatte.

Geschwindigkeit in dem Zwischenraum zwischen der Berührung und

dem Zurückziehen In jeder Kampfsituation gibt es gewöhnlich eine

Zeitverzögerung in dem Zwischenraum zwischen Angriff und Rückzug.

Während dieses Zwischenraums ist der Praktizierende besonders verletzlich

und vielleicht nicht in der Lage, einen Vorteil, den er sich gerade verschafft

hat, wirklich auszunutzen. Besonders Anfanger neigen dazu, in den Zwi-

schenräumen zwischen Treffen und Greifen, Berühren und Schlagen und

so weiter zu erstarren oder dramatisch langsamer zu werden. Während

dieser Intervalle, misst man die Zeit gewöhnlich in Sekundenbruchteilen.

Es ist nicht so leicht, sich in diesen Momenten ganz natürlich zu erholen

und flüssig und ohne Verlust von Geschwindigkeit umzuschalten. Um

Geschwindigkeit in diesen Zwischenräumen zu entwickeln, muss man wäh-

rend des Trainings ganz bewusst auf die verschiedenen inneren Mechanis-

men achten, die ablaufen, wenn man einfriert oder sich versteift, und muss

sich Methoden erarbeiten, den Körper und den Geist in diesen schwierigen

Übergangssituationen zu entspannen. Anspannung, Furcht oder Angst sind

gewöhnlich die Quelle einer solchen zeitweiligen Lähmung.

Eine Anmerkung zur Geschwindigkeit bei Berührung und Nichtberüh-

rung Zum Erlangen aller Arten von Geschwindigkeit in der Berührung ist

eine feine motorische Kontrolle vonnöten. Wenn die Herzschlagfrequenz

dramatisch zunimmt (gewöhnlich aufgrund von Furcht oder mangelnder

innerer Ruhe des Ausübenden) geschehen zwei Dinge: Zuerst einmal be-

388

ginnt die bewusste Kontrolle der feinen motorischen Vorgänge abzuneh-

men, was es dem Kämpfer schwerer macht zu fühlen oder zu reagieren.

Zweitens verengt sich das Blickfeld zunehmend. Deshalb ist es notwendig

sicherzustellen, dass Ihre schnellen Reaktionen in der Berührung genügend

eingeübt sind, so dass sie Ihrem Unterbewusstsein dermaßen eingeprägt

sind, dass sie automatisch ablaufen, also wie ein Reflex und ohne die

Notwendigkeit, zu denken. Ebenso wichtig für die Meisterung tatsächlicher

Kampftechniken ist es, durch das Training Ruhe und Stille des Geistes

zu erreichen, so dass Ihr Geist unter starkem Druck ruhig bleibt und Ihre

Pulsfrequenz nicht dramatisch ansteigt.

Wer hauptsächlich eine Berührungskampfkunst praktiziert und sie auch

zu pragmatischer Selbstverteidigung benutzen will, für den ist es außerdem

ungemein nützlich, als Rückendeckung einige simple Handhiebe und Tritte

zu erlernen, die minimale feinmotorische Koordination verlangen.

Typ III: Geschwindigkeit unter wechselnden Bedingungen

Nachführung (Tracking) und Timing - die Richtung mitten in der Be-

wegung ändern Bei allen Arten von Berührungs- und Niehtberührungs-

Techniken ist die körperliche Geschwindigkeit eng mit dem Timing ver-

bunden. Zum Timing gehört, dem Körper zu signalisieren, wann und wie

schnell oder wie langsam er sich bewegen soll. Man kann einen Kampf

nicht nur dann gewinnen, wenn man sich schneller bewegt als der Gegner,

sondern auch dann, wenn man gleich schnell, oder sogar langsamer ist als

der Gegner, sich aber im rechten Moment und/oder mit dem richtigen Win-

kel zu bewegen weiß. Timing ist im Wesentlichen die Verbindung zwischen

der Fähigkeit Ihres Körpers, sich schnell zu bewegen, und dem mentalen

Vermögen wahrzunehmen, wann und wie Sie sich am besten bewegen soll-

ten. Die wesentlichste Komponente dieses Vermögens - das koordinierende

Verbindungsglied - ist das Vermögen des zentralen Nervensystems, diese

beiden Aspekte miteinander zu verbinden. Die Flüssigkeit Ihrer Bewegung

und Ihr Vermögen, Techniken schnell abzuwechseln werden von der Ge-

schwindigkeit bestimmt, mit der Signale sich über sämtliche Nerven und

Energiekanäle des Körpers einschließlich der Bahnen im Oberen Dantien,

in der Haut, im Rückenmark und im Gehirn ausbreiten.

Wenn Sie die Reaktionszeit Ihres Nervensystems verbessern wollen, müs-

sen Sie Ihr Timing verbessern und es Ihrem Unterbewusstsein einprägen.

389

Je dünner die Barriere zwischen Ihrem bewussten und Ihrem unbewussten

Geist wird, desto leichter wird es, Geschwindigkeit und Timing miteinander

zu koordinieren. Was heißt das? Die Empfindung der Zeitlupenbewegung

oder der Dehnung der Zeit (wenn die Dinge in einem surreal erscheinend

langsamen Tempo abzulaufen scheinen), die viele Athleten erleben, wenn

sie sich mit Spitzengeschwindigkeit bewegen, kommt zum Teil daher, weil

das Unterbewusstsein keine Empfindung eines linearen Zeitablaufs hat.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass die Dinge langsamer ablaufen, muss das

nicht unbedingt heißen, dass der äußere Ablauf tatsächlich verlangsamt

ist. Es könnte auch sein, dass die Geschwindigkeit Ihres zentralen Ner-

vensystems sich dramatisch erhöht hat und es sich sehr viel schneller mit

Ihrem Unbewussten verbindet, als Sie es gewohnt sind. („Ehe ich wusste,

was ich tat, war es schon vorbei.") Nehmen wir an, dass Sie sich mit ho-

her Geschwindigkeit bewegen, und dieses Mal wird der Schleier zwischen

Ihrem bewussten und Ihrem unbewussten Geist ganz dünn. Die Erfahrung,

die Sie dabei machen, ist die einer totalen Entspannung; Sie scheinen alle

Zeit der Welt zur Verfügung zu haben, ohne jedoch gleichzeitig das Gefühl

einer surrealen Verlangsamung der Zeit zu haben. Dieser Timing-Effekt

kann die folgenden Implikationen haben:

1. Geschwindigkeit, die eine fixe oder sich konstant beschleunigende

Laufbahn hat (wie die aus einem Gewehr abgeschossene Kugel)

unterscheidet sich von Geschwindigkeit, die an jedem Punkt in der

Bewegung die Richtung wechseln kann (wie eine Rakete mit Hitze-

suchkopf, die im Zickzack einem ausweichenden Kämpfet folgt).

Bewegung entlang einer fixen Laufbahn bedarf nur eines einzigen

klaren Signals vom zentralen Nervensystem. Bewegung, die dauernd

die Richtung wechselt, bedarf innerhalb kurzer Zeit vieler Reakti-

onen des Nervensystems. Geschwindigkeit, die ständig die Rich-

tung wechselt, ist eine Spezialität der inneren Kampfkünste sowie

derjenigen, die mit Schwertern oder Messern mit Doppelschneide

kämpfen.

2. Die Geschwindigkeit ist eine andere, je nachdem ob sie eine Kampf-

kunsttechnik aus der Bewegungslosigkeit heraus ausführen oder ob

Ihr Körper bereits in Bewegung ist. Kämpfer verwenden oft Finten,

um sich zu größerer Geschwindigkeit anzustacheln, bevor sie einen

wirklichen Angriff starten. Wenn Sie andererseits in einem Kampf

bemerken, wie Ihr Gegner sein Nervensystem in Fahrt bringt, dann

390

können Sie verschiedene Methoden anwenden, um seine Muster zu

durchbrechen und ihn zu verwirren, so dass Sie die Situation zu

Ihrem taktischen Vorteil ausnutzen können.

3. Die Geschwindigkeit in dem Zwischenraum (wie groß er auch sein

mag) zwischen dem Abschluss einer Technik und dem Beginn einer

neuen Technik innerhalb desselben Mediums von Berührung oder

der freien Bewegung durch die Lust hängt direkt von Ihrem Gefühl

für das Timing ab.

4. Geschwindigkeit bei der Umkehrung der Links-nach-rechts-Drehung

in der Taille ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der Meisterung

einer Kampfkunst.

Lineare und zirkuläre Techniken Zirkuläre Techniken sind ihrer Natur

nach komplexer als lineare Technikern und sind deshalb schwieriger zu

erlernen. Allgemein gesagt, ist es anfänglich leichter, in einer linearen

Technik außergewöhnliche Geschwindigkeit zu erreichen, wenn sich Ihre

Hand, Ihr Fuß oder Ihr Körper also in einer einfachen geraden Linie von

hier nach dort bewegt. Letztlich haben jedoch die zirkulären Techniken

den eingebauten Geschwindigkeitsvorteil, die Trägheit zur verringern.

Unbeweglichkeit hemmt die Geschwindigkeit und kann dazu führen, dass

das Nervensystem verlangsamt wird und Sie erstarren. Zirkuläre Techniken

reduzieren die Trägheit stärker als lineare Techniken, weil es damit leichter

ist, sowohl die Muskeln zu entspannen als auch die geschwindigkeitser-

zeugende Kraft der Zentrifugalkraft einzusetzen.

Typ IV: Geschwindigkeit in Relation zur Kraft

Geschwindigkeit mit minimaler, mittelgroßer und maximaler Kraft Ei-

ne der Eigenschaften, die einen erstklassigen Kampfkünstler auszeichnen,

sei er nun spindeldürr oder von massivem Körperbau, besteht darin, dass

in seinen Bewegungen gleichermaßen Geschwindigkeit, Anmut und Kraft

zum Ausdruck kommen. Diese Kombination ist ideal, sie ist allerdings

nicht so leicht zu verwirklichen. Es kann Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte

intensiven Training brauchen, bevor man sie meistert.

Es ist in den Kampfkünsten nichts Ungewöhnliches, einen Praktizie-

renden beobachten zu können, der sich sehr schön oder mit erstaunlicher

Geschwindigkeit bewegen kann, der jedoch keine Kraft besitzt. Wie kommt

391

das? Man muss ein gewisses Maß an Geschwindigkeit unter der Haut tief

innerhalb des Körpers anwenden, um den Körper innerlich zu verbinden,

damit man Kraft zu jemand anderem hin projizieren kann oder die Kraft

eines anderen zu absorbieren vermag, ohne umgeworfen zu werden. Wenn

Teile des Körpers schlaff oder unverbunden sind, dann können sie einander

nicht unterstützen oder gegenseitig ihre Kraft verstärken. Je schneller die

Verbindungen hergestellt werden, desto stärker ist schließlich die Fähigkeit,

Kraft zu projizieren oder sie zu absorbieren. Die innere Geschwindigkeit,

die nötig ist, um innerliche physische Kohäsion zu erzeugen, unterscheidet

sich von der Geschwindigkeit der Bewegung von Körperteilen durch den

Raum. Wahre Geschwindigkeit bedeutet, dass Sie Ihre inneren Verbin-

dungen aufrechterhalten und gleichzeitig Ihren Körper schnell durch den

Raum bewegen können.

Einer der Freuden, die der Besitz eines physischen Körpers mit sich

bringt, besteht darin, ihn flüssig und schnell bewegen zu können, was

zu den Eigenarten einer Reihe von Kampfkünsten und Tanzstilen gehört.

Wenn Sie jedoch auch nur den geringsten Ehrgeiz besitzen, die Kunst des

Kämpfens zu beherrschen, dann ist es notwendig, dass Sie wissen, welche

Ebenen von Geschwindigkeit Sie realistisch zusammen mit unterschied-

lichen Ebenen der Kraft erreichen können. Um jemandem auf den Hoden

oder in die Augen zu schlagen oder um jemandem auszuweichen, wenn

es noch nicht zum Körperkontakt gekommen ist, braucht man keine Kraft,

nur Geschwindigkeit. Es ist gut zu lernen, wie man mit einem Minimum

an Kraft ein Maximum an Geschwindigkeit erzeugen kann.

Natürlich ist es ebenfalls nützlich zu lernen, wie Sie auf der Ebene wirk-

sam sein können, auf der sowohl Ihre Kraft als auch Ihre Geschwindigkeit

irgendwo im mittleren Bereich Ihres Vermögens zum Einsatz kommen.

Vielleicht wollen Sie bei einem Aufeinandertreffen, das nicht lebensbe-

drohend ist, nur jemanden kontrollieren und weder den anderen noch sich

selbst verletzen. Hier ist das Ausweichen von einiger Wichtigkeit, aber es

mag auch notwendig sein, dass Sie einen Hieb als eine Art Warnschuss

platzieren, damit die Situation nicht bis zu dem Punkt eskaliert, wo Sie

den Angreifer wirklich verletzen müssen, um ihn aufzuhalten.

Es ist auch nützlich, sich dessen bewusst zu sein, was die schnellste

Geschwindigkeit ist, die man unter Einsatz von maximaler Kraft erzeugen

kann und daran zu arbeiten, diese Geschwindigkeit Schritt für Schritt zu

erhöhen. Das Training für diese Ebene der Beherrschung von Geschwin-

digkeit ist besonders aufwendig und verlangt den größten Einsatz.

392

Auch hier müssen Sie wiederum das Verhältnis von Geschwindigkeit zu

Kraft in Ihren Hand- und Fußtechniken trainieren. Üben Sie mit fixierten

Füßen und Drehung in der Taille oder keiner Drehung in der Taille sowie

mit Bewegung der Füße und mit oder ohne Drehung in der Taille.

Das Schnell-langsam-Paradoxon der inneren Kampfkünste

Die inneren Kampfkünste, insbesondere das Tai Chi, werden oft in sehr

langsamem Tempo praktiziert. Viele Menschen, die Schlüsse aus der Beob-

achtung dieser langsamen Formbewegungen ziehen, glauben, die inneren

Kampfkünste seien zu langsam zum Kämpfen. Das ist sogar zum Thema

von Witzen geworden, wie der folgende, den ich einmal in San Francisco

gehört habe: „Es war zwölf Uhr mittags und ich war auf dem Weg zu ei-

nem Restaurant. Da sah ich, wie dieser Tai-Chi-Typ überfallen wurde. Er

schlug so wunderschön zu, dass ich stehen blieb, um zuzusehen. Allerdings

musste ich um ein Uhr wieder auf der Arbeit sein, deshalb habe ich leider

nicht gesehen, ob der Hieb auch getroffen hat."

Genauso wie mit den äußeren Kampfkünsten, kann man mit den inneren

Kampfkünsten jedoch sehr wohl kämpfen und sich im Kampf blitzschnell

bewegen, sowohl in der Berührung als auch von Punkt A zu Punkt B. Von

ihrer Vorgehensweise funktionieren sie jedoch anders als die meisten äu-

ßeren Kampfkünste. Die Leistungsfähigkeit dieser von innen angetriebenen

Geschwindigkeitstechniken setzt zwar ebenfalls einen guten Muskeltonus

voraus, aber das Wichtigste dabei ist ein wirksames und nichtblockiertes

Nervensystem.

Jede der drei inneren Kampfkünste besitzt auch ihre spezialisierten

Trainingsmethoden und Kampftechniken zur Erzeugung äußerlich sicht-

barer Geschwindigkeit für die Bewegung im Raum von A nach B. Im Tai

Chi sind die deutlichsten Beispiele die Seidenarme, die Hiebe in mehrere

Richtungen und die geradlinigen Hiebe, die schnelles Öffnen und Schließen

benutzen. Bei den Seidenarmen bewegen sich die Fäuste sehr schnell und

bearbeiten beide Seiten des Körpers des Gegners von oben nach unten,

wobei sie flüssig zwischen geraden Hieben, seitwärts schneidenden Hieben

und Haken abwechseln wie die Spitze eines Seidentuches, das im Wind

flattert. Das macht es möglich, dass die Hiebe sehr schnell die Richtung

393

wechseln - es kann bis zu zehn Hiebe auf kurze, mittlere oder lange

Distanz in drei Sekunden geben, wobei die Vorderseite der Faust und

der Hammerteil der geschlossenen Hand zum Schlagen benutzt werden.

Während dies geschieht, scheinen die Arme und Ellbogen keine Knochen

zu haben, da sie sich nahtlos krümmen und beugen wie ein Stück Stoff.

Das Ba Gua hat eine ähnliche Technik, nur dass der Hieb sich hier nicht

seidenartig sondern spiralig bewegt, im Zickzack über den Körper des

Gegners, wobei mit allen Teilen der Faust aus jedem erdenklichen Win-

kel gleichermaßen zugeschlagen wird, kratzend, bohrend und schneidend

sowie mit direkten Treffern.

Im Hsing-I kann das Chi, das die untere explodierende Hand des Feu-

erelements (Pao Chuan) manifestiert, klar als schneller Hieb ausgeführt

werden, oder es kann der äußeren Geschwindigkeit in jedem Hieb mit der

Hand angepasst werden. Bei bestimmten Arten der Formarbeit im Ba Gua

sowie im Chen-Stil des Tai Chi ist die Geschwindigkeit sowohl der Körper-

bewegung als auch der Handhiebe ganz offensichtlich und kein bisschen

verborgen. In den inneren Kampfkünsten kann jeder Hieb von Punkt A

nach B wie eine hitzesuchende Rakete fungieren, die ein ausweichendes

Ziel im Zickzack verfolgt und dann trifft, oder er kann wie eine Kugel

einer fixierten Bahn folgen. Auch wenn in den inneren Kampfkünsten die

Geschwindigkeit von A nach B ohne Berührung sehr wohl vorhanden ist,

wird sie weniger betont als die Geschwindigkeit in Berührung.

Hier werden das Timing und die Geschwindigkeit in der Berührung stär-

ker betont, sowohl auf der körperlichen als auch auf der mentalen Ebene,

besonders die Geschwindigkeit, mit der man günstige Kampfwinkel erkennt

und sie einzunehmen vermag. Es gibt in den inneren Kampfkünsten zwei

wichtige strukturelle Aspekte, die diese Ausrichtung erklären: der erste ist die

Methode der Erzeugung von Kraft, der zweite ist die Betonung der nichtkör-

perlichen Aspekte des Kampfes gegenüber den bloß physischen Aspekten.

Beim Trommeln gibt es den Beat, dann einen Zwischenraum, und dann

einen weiteren Beat. Was die Methode der Erzeugung von Kraft angeht, so

arbeiten die inneren Kampfkünste, was die Geschwindigkeit angeht, mehr

mit dem Zwischenraum zwischen den Beats als mit den Beats selbst, wie

es eher in den äußeren Kampfkünsten üblich ist. Das geschieht in Über-

einstimmung mit einem in den Tai-Chi-Klassikern deutlich formulierten

Leitsatz: „Von Positur zu Positur bleibt die innere Kraft ununterbrochen."

Dies bedeutet, dass jederzeit durchgehende innere Kraft aufrechterhalten

wird. Aus einer anderen Perspektive gesehen, ist es so, dass Ihre Glied-

394

maßen oder Ihr Körper zu keiner Zeit während einer Bewegung schlaff

und ohne Kraft sind. Nehmen wir einmal an, dass man Ihren Output von

Kraft mit dem Schlagen einer Trommel (Beat) gleichsetzt. In den inneren

Kampfkünsten wird die Kraft ohne Unterscheidung durchgängig während

der Beats sowie zwischen den Beats aufrechterhalten. Am Einschlagpunkt

wird die Kraft verstärkt, und zwar indem man die Geschwindigkeit der

inneren Bewegung unter der Haut vergrößert (ein Prozess, der für das

nackte Auge unsichtbar bleibt), nicht durch eine Anspannung der Mus-

keln. In den äußeren Kampfkünsten wird die Kraft gewöhnlich während

der Beats ausgeübt, nicht unbedingt indem man den Schwung der Aktion

vergrößert, sondern indem man Muskelkontraktionen verwendet, die die

Geschwindigkeit der Aktion sogar möglicherweise verlangsamen. Nach

diesen Muskelkontraktionen gibt es gewöhnlich eine kurze Lücke, in der

keine Kraft vorhanden ist und die es dem Körper erlaubt, sich wieder

aufzuladen, bevor erneut Kraft angewendet wird.

Dieses Prinzip der Beschleunigung oder Verlangsamung der inneren

Geschwindigkeit, um den Output von Kraft an irgendeinem Punkt des

Körperkontakts zu verstärken oder abzuschwächen, wird gleichermaßen

in der Berührung verwendet wie bei der Bewegung von A nach B. So mag

sich zum Beispiel die Hand eines Praktizierenden der inneren Kampfkunst

bei einem Hieb, was die Bewegung von A nach B angeht, nicht schnel-

ler bewegen, doch je nachdem, ob die innere Geschwindigkeit zunimmt

oder abnimmt, wenn die Hand sich dem Ziel nähert, wird die Kraft am

Einschlagpunkt größer oder kleiner sein. Diese Zunahme der inneren Ge-

schwindigkeit kann mit irgendeiner der Chi-Bewegungen des sechzehn-

teiligen Nei-Gung-Systems (siehe Seite 121) in Zusammenhang stehen

und/oder von dieser hervorgebracht werden. Dazu gehören: die Geschwin-

digkeit des Öffnens und Schließens der Gelenke und der Wirbelsäule, die

Freisetzung von Energie aus dem Unteren Dantien in die Hand sowie die

Verlängerung der weichen Gewebe entlang der inneren (Yin) oder äußeren

(Yang) Oberflächen des Körpers (siehe Seite 211).

Was das Schlagen angeht, ist der Einsatz von Geschwindigkeit in den

äußeren Kampfkünsten, insbesondere im Karate (welches das Bild, das die

breite Öffentlichkeit von den äußeren Kampfkünsten hat, stark geprägt hat),

ganz anders geartet. Das allgemeine äußere Prinzip von Geschwindigkeit

und Kraft folgt stets demselben, sich ständig wiederholenden Muster:

explodieren, entspannen und ausruhen, sich für die nächste Explosion

aufputschen. Das heißt mit anderen Worten:

395

1. Die Kraft wird angefacht und explodiert, gewöhnlich unter Anspan-

nung der Muskeln,50 was in den Techniken der inneren Kampfkünste

an keinem Punkt geschieht.

2. Es gibt einen kurzen Moment des Ausruhens, in dem die Muskeln

und Nerven sich entspannen und regenerieren. Die Lücke stellt einen

notwendigen Raum zur Verfügung, in dem man sich wieder aufladen

kann, so wie ein Gewichtheber sich zwischen einzelnen Sets des

Gewichthebens erholt. Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass es

physische Grenzen gibt für den Zeitraum, während dessen Muskeln

angespannt bleiben können, bevor es zu Ermüdung kommt oder die

Nerven, die den Muskeln das Signal zur Anspannung geben, nicht

mehr mit maximaler Effizienz funktionieren.

3. Die Muskeln und Nerven weder wieder angestachelt, um sie auf den

nächsten Angriff oder die nächste Verteidigung vorzubereiten.

Die körperliche Geschwindigkeit der Bewegung von Punkt A nach B oder

auch die Geschwindigkeit in der Berührung lässt sich zu einem bestimm-

ten Grad quantifizieren. Die Geschwindigkeit in Berührung und die Ge-

schwindigkeit des Timings sind auf die nichtphysischen Eigenschaften von

Geschwindigkeit ausgerichtet, die nicht so leicht äußerlich quantifizierbar

sind, auch wenn diese Eigenschaften für die Wirksamkeit der Kampfanwen-

dungen der inneren Kampfkünste von wesentlicher Bedeutung sind. Diese

Methode wird gleichermaßen für Angriff und Verteidigung verwendet. Sie

konzentriert sich auf die innere Geschwindigkeit der Wahrnehmung, die

in Aktion übertragen werden kann und die es erlaubt, unter Druck schnell

durch folgenden Phasen hindurchzugehen: die Synchronisierung mit der

Energie des Gegners, das Interpretieren dieser Energie, das Auffinden von

Schwachpunkten, das mentale Eindringen in die Lücken, in denen der

Gegner unachtsam ist oder den Schwung seiner körperlichen Bewegung

nicht zu verändern vermag, und die Anwendung der angemessenen Technik

oder der Gebrauch eines Kampfwinkels, der zum Erfolg führt (oder durch

den Sie wenigstens unverletzt bleiben, so dass Sie eine weitere Chance

haben). Sie können diesen Prozess erfolgreich abschließen, ob Sie sich

nun schneller bewegen als Ihr Gegner, mit gleicher Geschwindigkeit wie

ihr Gegner oder langsamer als er. Die körperliche Geschwindigkeit als

50 Siehe erstes Kapitel, Seite 41 f.) „Das Animalische, das Humane und das Spirituelle.

Drei Ansätze für die Kampfkünste".

396

solche ist ein Nebenprodukt, nicht das hauptsächliche Ziel. Das, was in

den inneren Kampfkünsten dem Finden des „Heiligen Grals" entspricht,

ist in der Tat die Fähigkeit, sich langsamer zu bewegen als der Gegner

und trotzdem zu gewinnen.

Geringere Geschwindigkeit, die trotzdem gewinnt, setzt voraus, dass

drei Arten von Geschwindigkeit gleichzeitig zusammenkommen: 1. Timing;

2. die Signale, die notwendig sind, um eine Ebene durchgängiger Kraft

aufrechtzuerhalten (ansonsten könnte die Kraft Ihres Gegners Ihrem Kör-

per einen Schock versetzen und Ihre Aufmerksamkeit unterbrechen); und

3. die Fähigkeit, die inneren Räderwerke des Körpers freizusetzen, die

dann, wenn sie einfrieren, auch eine momentane mentale Lücke erzeugen

können, durch die die Verbindung zwischen Ihnen und Ihrem Gegner

unterbrochen wird.

Diese Methode wird in den Tai-Chi-Klassikern in der Form einer Frage

formuliert: „Wie ist es möglich, das ein alter Mann eine Gruppe junger

Männer zu besiegen vermag?" Zweifellos verfügen ältere Männer, auch

wenn sie außerordentlich talentiert sind, physisch einfach nicht über die

Geschwindigkeit junger Männer. Es gehört praktisch zur Definition des

älteren Menschen, dass er sich langsamer bewegt, und doch sind jene

„alten Männer" - die Meister der inneren Kampfkünste - zu Recht dafür

bekannt, dass sie jüngere und schnelle Männer zu besiegen wissen, weil

sie in die Lücken einzudringen vermögen.

Gemeinsame Eigenschaften

In allen zuvor erwähnten Arten von Geschwindigkeit, die in den inneren

Kampfkünsten mit oder ohne Berührung verwendet werden, gibt es auch

gemeinsame Elemente. Ihr Geist muss sich spürbar sowohl mit Ihrem

Körper als auch durch ihn hindurchbewegen können, und er muss ein

konkretes Gefühl für die Luft haben, die Sie umgibt. Wenn Ihr Geist diese

subjektiven aber sehr realen Empfindungen zu entwickeln vermag, dann

wird Ihr Chi beginnen zu folgen.

Wenn Ihr Geist durch Ihren Körper reist oder auch in den Körper ei-

nes Angreifers, um Verbindung zu seiner Energie und seiner Intention

herzustellen, dann muss er das flüssig und lückenlos tun. Es geht darum,

innerlich vollkommen verbunden zu sein und allmählich jene Stellen zu

verkleinern, an denen Ihr Gewahrsein aussetzt, bis es keine Lücken mehr

gibt. Diese Fähigkeit setzt extreme Entspannung und die Entwicklung ei-

397

nes sehr feinen Gespürs für den inneren Fluss des Nervensystems voraus.

Die Schaffung eines reibungslos und flüssig funktionierenden Nerven-

systems ist notwendig für das Entwickeln von Geschwindigkeit in den

inneren Kampfkünsten. Diese Errungenschaft führt auch dazu, dass es dem

Körper im Allgemeinen besser geht, und sie ist eine starke Komponente

der Stressreduktion und der Entwicklung von Ausdauer in den inneren

Kampfkünsten.

Wenn Ihr Nervensystem erst einmal reibungslos und ohne Lücken zu

erfahren arbeitet, dann können Sie das Geschwindigkeitskontinuum Ihrer

Bewegungen oder Kampfanwendungen augenblicklich vergrößern oder

verringern, indem Sie Ihren Geist sich einfach nur schneller oder langsamer

durch Ihren Körper bewegen lassen. Ein Grundprinzip besteht darin, dass

der Geist das Chi bewegt und das Chi den Körper bewegt. Je schneller sich

Ihr Geist und Ihr Chi auf entspannte Weise in Ihrem Köper-Geist bewegen,

desto schneller kann Ihr Körper sich bewegen. Wo das Chi blockiert ist

oder wo seine Bewegung bewusst verlangsamt wird, wird auch der Körper

langsamer. Je mehr Ihr Geist und Ihr Chi sich in Ihrem Körper wohl fühlen

und sich in seinem Inneren mühelos und unbehindert bewegen können,

desto schneller kann sich Ihr Körper äußerlich im Raum bewegen oder

von einer Technik zu einer anderen übergehen, ohne zu erstarren oder

sich ausruhen und wieder aufladen zu müssen.

Über das Medium Ihres Chi und Ihrer Nerven wird Ihr Geist zu dem

Kontrollknopf des elektrischen Dimmers, mit dem Sie mühelos die Stärke

der neurologischen Signale an Ihre Muskeln verändern können. Drehen Sie

den Geist in eine Richtung, und Sie können augenblicklich beschleunigen

und Trägheit überwinden. Drehen Sie den Geist in die andere Richtung, und

Sie können sofort innehalten oder die Geschwindigkeit ihres Abbremsens

kontrollieren.

Eines der vorrangigen Ziele in der Übung der Form oder in Kampfan-

wendungen besteht darin, dass der Körper sich als eine innerlich vollkom-

men verbundene und integrierte Einheit bewegt, und zwar aus einem von

zwei Zentren heraus: aus dem Unteren Dantien oder aus dem zentralen

Energiekanal. (Siehe Anhang C, Seite 527) Auch die talentiertesten Schü-

ler der Kampfkünste brauchen einige Zeit, bis sie dieses Ziel verwirklicht

haben. Besonders in den Kampfanwendungen entsteht die Geschwindigkeit

und die Kraft der Bewegungen hintereinander aus verschiedenen Teilen

Ihres Körpers, bis die Verbundenheit des Körpers, seine Geschwindigkeit

und seine Kraft nach langer Zeit disziplinierten Trainings schließlich ver-

398

eint werden können. Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, wo

im Körper der Ursprungsort der Kraft liegt. Entwickelt sie sich aus den

Schultern, dem Rücken, der Brust, den Armen, der Taille, dem Oberkörper,

den Beinen oder irgendeiner Kombination dieser Elemente? Genauso kann

man erkennen, wo im Körper von jemandem die Geschwindigkeit ihren

Ursprung hat, zum Beispiel in den Armen, Hüften oder Beinen. Es kann

auch zu beobachten sein, dass der Fluss der Geschwindigkeit in der Kör-

perbewegung eines Menschen in einigen Körperteilen erheblich schneller

oder langsamer ist als in anderen Körperteilen.

Während der Kampfanwendungen befindet sich der Ursprung der Ge-

schwindigkeit bei Anfängern der inneren Kampfkünste gewöhnlich in

einem Teil ihrer Arme oder ihrer Brust. Sie spüren zum Beispiel einen

Oberarm, oder einen Muskel in der Schulter oder der Brust, und die Ge-

schwindigkeit, mit der sich dieser Muskel bewegt, bestimmt die allgemeine

Tendenz und motiviert den Rest des Körpers, sich diesem Muskel folgend

zu bewegen. Auch wenn Anfänger sich vielleicht wünschen, ihre Ge-

schwindigkeit möge, wie es das Ideal ist, in ihrer Taille und ihren Beinen

entstehen, liegt der tatsächliche Ursprungsort der Geschwindigkeit in ihrem

Körper gewöhnlich anderswo. Eine gute Strategie zur Überwindung dieses

Mangels an körperlicher Einheit wäre folgende:

1. Beobachten Sie sorgfältig und realistisch, wo in Ihrem Körper die

Geschwindigkeit entsteht.

2. Geben Sie sich einige Zeit, bis Sie sich sowohl mental als auch

neurologisch an diesem Ort wohl fühlen, so dass Sie sich ohne

Selbstbeobachtung aus diesem Ursprungsort der Geschwindigkeit

heraus bewegen können, ob er sich nun in Ihrer Hand, Ihrem Fuß,

Ihrer Hüfte, Ihrem Torso oder sonst wo befindet.

3. Konzentrieren Sie sich zuerst auf einzelne Techniken. Arbeiten Sie

bewusst daran, den Ursprungsort der Geschwindigkeit in geeignetere

Gegenden zu verlagern - etwa aus dem Ellbogen in die Schulter oder

aus der Brust in die Hüfte usw. Jedes Mal, wenn sie einen neuen

und geeigneteren Punkt erreicht haben, müssen Sie das Erreichte

auf diesem Trainingsplateau stabilisieren und sich damit vertraut

machen, bevor Sie zum nächstbesseren Punkt übergehen. Andern-

falls mag es Ihnen später bei Ihrem Aufwärtsklettern schwer fallen,

Ihr maximales Geschwindigkeitspotential auszuschöpfen. Wenn Sie

eine größere Geschwindigkeit von Arm oder Hand erreichen wol-

399

len, dann bewegen Sie Ihre Aufmerksamkeit schrittweise von der

Schulter abwärts in Ihr Schulterblatt, von dort in den oberen Rücken

(aber nicht in Ihre Brust oder Ihren Solarplexus), dann weiter in den

unteren Rücken, den Bauch, das Untere Dantien, die Hüften und

Gesäßbacken, von dort weiter in den unteren Bereich der Beine oder

in die Füße, bis Sie schließlich das Gefühl haben, dass die Geschwin-

digkeit Ihrer Hand der Erde selbst entspringt. Dadurch sollten sowohl

Ihre Geschwindigkeit als auch Ihre Kraft zunehmen. Wenn Sie dann

einen Hieb mit der Hand ausführen, haben Sie das Gefühl, dass Sie

jemanden mit der Hand treten. Vor einer Fußbewegung verschieben

Sie bei allen Schritt- oder anderen nichttretenden Aktionen den

Ursprungsort der Bewegung vom Fuß aufwärts in den Körper, ins

Untere Dantien und dann in die Wirbelsäule. Für das Treten und

für Fußfeger sollten Sie vom tretenden Fuß in das Untere Dantien

und die Wirbelsäule fortschreiten und von dort durch das tragende

Bein hinab in den Fuß und in die Erde. Bei Bewegungen des Torsos

- zum Beispiel bei Würfen - sollte die Abfolge der Verlagerung

von Ihren oberen und unteren Extremitäten schrittweise zu Ihren

Hüften, dem Unteren Dantien und schließlich bis in Ihren zentralen

Energiekanal fortschreiten.

4. Konzentrieren Sie sich als nächstes auf die Übergänge von einer

Technik zur nächsten Technik, indem Sie genau dieselben soeben

beschriebenen Prozeduren benutzen. Es ist leichter, die Geschwin-

digkeit zu erreichen, die für eine einzelne Technik nötig ist, als

die Geschwindigkeit zu verwirklichen, die für das ununterbrochene

Wechseln zwischen mehreren Techniken notwendig ist. Der beste

Punkt für die Lokalisierung des Ursprungsorts dieser Übergangs-

geschwindigkeit ist das Untere Dantien und/oder der zentrale En-

ergiekanal. Welche Methoden des Trainings jeweils betont werden,

unterscheidet sich von Schule zu Schule.

SpezialisierteStrategien

Alle inneren Kampfkünste haben gewisse Geschwindigkeits-Trainings-

methoden zu einem gewissen Grad gemeinsam, auch wenn jede Kunst

ihre bevorzugten Methoden hat. Die Trainingsstrategie des Hsing-I zur

Vergrößerung der Geschwindigkeit schreitet über zwei Pfade fort. Der

erste besteht darin, dass Sie Ihren Geist stark darauf konzentrieren, den

400

Raum vor Ihnen auszufüllen, wobei Sie entweder eine Positur halten oder

sich langsam bewegen. Sie ergreifen buchstäblich von dem Raum und

aller Energie, die sich darin befindet, Besitz. Je langsamer Ihre körperliche

Bewegung ist, desto schneller und totaler füllt Ihr Geist diesen Raum aus.

Der zweite Pfad besteht darin, dass Sie Ihre neurologische Geschwindig-

keit dadurch erhöhen, dass Sie über lange Distanzen Linien gehen, bei

denen Sie die Fünf Elemente (siehe Seite 295) ausführen. Je schneller und

vollständiger Ihr Geist dabei von dem Raum um Sie herum Besitz ergreift,

desto schneller wird der Körper bei ausreichendem Training folgen und

sich durch diesen Raum bewegen.

Das Tai Chi benutzt hauptsächlich drei Strategien, um in den Kampf-

anwendungen Geschwindigkeit zu erzeugen. Die erste Strategie, mit der

die meisten vertraut sind, ist das Trainieren der schnellen Formen des Tai

Chi. In diesen schnellen Formen gibt es in einem wiederholten Muster

ein ständiges Hin und Her zwischen langsamen Bewegungen und dann

schnellen Ausbrüchen, explosiven Bewegungen, in denen Fa Jin freigesetzt

wird, und wieder zurück zu langsamen Bewegungen.

Die zweite Strategie besteht darin, sich extrem langsam zu bewegen,

wobei man trainiert, seinen Geist in den Körper eingehen zu lassen, bis man

die eigene Geschwindigkeit mit einer Art innerem Dimmer zu kontrollieren

vermag. Während eine Langform des Tai Chi normalerweise etwa zwanzig

bis fünfundzwanzig Minuten benötigt, braucht dieselbe Form bei Anwen-

dung dieser Methode mindestens eine Stunde. Wenn man so vorgeht, dann

erhält man spezifische Instruktionen, welche genauen mentalen und phy-

sischen Prozesse dabei ablaufen sollen, damit man diesen inneren Dimmer

möglicht effektiv aufbauen und verdrahten kann. Um ein Gefühl hierfür

zu erhalten versuchen Sie es einmal mit folgendem Experiment, wobei Sie

irgendein verlässliches Instrument zur Zeitmessung verwenden: Beginnen

Sie mit beiden Händen an Ihrer Seite und messen Sie, wie lange Sie brau-

chen, um aus der völligen Ruhe mit Ihrer höchsten Geschwindigkeit einen

Punkt hoch an einer Wand zu treffen. Ruhen Sie ein wenig aus und versu-

chen Sie es erneut, und dann das ganze noch einmal. Mit drei Versuchen

sollten Sie zu einer ziemlich genauen Einschätzung der Geschwindigkeit

Ihrer Hand gelangen. Wenn Sie sich völlig ausgeruht fühlen, wiederholen

Sie dieselbe Aktion, wobei Sie sich diesmal in extremem Zeitlupentempo

bewegen, so dass es fünf Minuten dauert, um dieselbe Aktion abzuschlie-

ßen. Ruhen Sie sich aus und messen Sie dann wiederum die Ausführung

derselben Aktion bei höchster Geschwindigkeit. Wahrscheinlich werden

401

Sie finden, dass Ihre Geschwindigkeit zugenommen hat. Paradoxerweise ist

die Bewegung mit extrem langsamer Geschwindigkeit ein sehr machtvolles

Hilfsmittel zur Erhöhung der Geschwindigkeit.

Die dritte Methode hat mit der technischen Natur des Zurückrollens

(siehe Seite 212) zu tun. Das Zurückrollen hängt bei der Berührung nicht

von physischer Geschwindigkeit ab, sondern von der Fähigkeit, das Ziehen

so zu timen, dass man den Gegner dorthin ziehen kann, wohin er nicht

gehen will. In jenem kritischen Moment, in dem der Gegner seine Zen-

trierung verliert, gibt es oft einen winzigen Zeitraum, in dem der Gegner

nicht gewahr ist, wohin er sich bewegt. Indem der Tai-Chi-Praktizierende

diesen blinden Fleck im Geist des Gegner ausnutzt und eine kleine Ver-

änderung des Winkels verwendet, schlüpft er in den Gegner hinein, noch

bevor dieser weiß, wie ihm geschieht. Auch wenn der Eindruck entsteht,

der Tai-Chi-Praktizierende habe sich dabei sehr schnell bewegt, ist das

nicht der Fall. Er hat vielmehr einfach mit großer Wirksamkeit Subtilität

und Präzision eingesetzt.

Das Ba Gua verwendet die meisten, wenn nicht alle Strategien des

Hsing-I und des Tai Chi. Sein einzigartiges Material, das in den anderen

beiden Künsten nicht vorhanden ist, ergibt sich aus dem Kreisgehen und

aus der ständigen Projektion von Energie aus den Füßen heraus. Diese

Aktivität erzeugt nicht nur Fußgeschwindigkeit, sondern macht auch Ge-

schwindigkeit der Hände möglich, indem sie das zentrale Nervensystem und

das Chi einer Person abstimmt. Nachdem die Knoten in den Nervenbahnen

und Energiekanälen aufgelöst wurden, beginnen die Arme energetisch mit

dem Torso zu verschmelzen und die Hände können fliegen. Die zweite

Strategie basiert auf der Geschwindigkeit, die aus der zentrifugalen Kraft

des Kreiseins und der Drehung in der Taille entsteht. Welches Ergebnis

in Hinsicht auf die Geschwindigkeit letztlich erzielt werden kann, hängt

von den Nei-Gung-Techniken zur Mobilisierung der Kraft des zentralen

Energiekanals ab.

402

Portraits von Meistern der innere Kampfkunst

Ein Vergleich von fünf Meistern und ihrer verschiedenen Arten von

Geschwindigkeit

Wang Shu Jin

Als ich ihn kennen lernte, war Wang ein sehr beleibter Mann und über 65

Jahre alt. Er war in der Lage, sich ziemlich schnell über kurze Distanzen

von ein bis eineinhalb Meter zu bewegen. Was an seiner Geschwindigkeit

so erstaunlich war, war die Tatsache, dass er sich in seinem Alter und mit

seiner Leibesfülle überhaupt noch schnell bewegen konnte. Wang war

zwar nicht blitzschnell, aber nach allen Maßstäben der Kampfkunst doch

schnell zu nennen, und für einen alternden Dickwanst tatsächlich außer-

ordentlich schnell.

Seine Kraft war überwältigend. Und Wang verfügte noch über einen wei-

teren Vorteil; es machte ihm nämlich nichts aus, wenn man ihn traf, weil

er praktisch jeden Hieb ohne Mühe zu absorbieren vermochte. Da er volle

Tritte zu den Knien und Schienbeinen verkraften und seine Hoden in den

Körper zurückziehen konnte, konnte man ihm nicht wirklich wehtun. Der

einzige Körperteil, den man bei ihm mit einiger Wirkung treffen konnte,

war der Kopf. Ich habe das jedoch nie versucht, denn ich war mir bewusst,

wie wichtig es für Chinesen ist, das „Gesicht" zu wahren. Ein solcher

Angriff hätte leicht als eine Herausforderung verstanden werden können,

auf die ich mich lieber nicht einlassen wollte. Das war der Grund, warum

ich es nie versuchte.

Außerdem war Wang in der Lage, seinen Kopf beinahe perfekt zu decken.

Er mochte vielleicht eine Lücke zu seinem Körper offen lassen, aber nie-

mals eine Lücke, die einen Hieb zu seinem Kopf zugelassen hätte. Wang

war zwar schnell genug, um die meisten direkten Hiebe abzublocken, aber

meist machte er sich gar nicht erst die Mühe, so wie Sie sich vielleicht

nicht die Mühe machen würden, eine winzige Mücke daran zu hindern,

Sie zu stechen.

Auch wenn Wangs Geschwindigkeit beim Push Hands und Rou Shou

nicht außergewöhnlich war, besaß er doch ein geradezu unheimliches

Vermögen, sehr schnell hinter einen Gegner zu gelangen. Die Geschwin-

digkeit, die der dabei benutzte, ergab sich nicht aus ungemein schnellen

Schritten, sondern daraus, dass er in Lücken des Gewahrseins eines Geg-

ners hineinzuschlüpfen vermochte. Wenn er also mit jemandem kämpfte,

der extrem schnell war, dann war er schnell genug (und auch sensibel

genug um den Raum zu spüren, den der Geist des Gegners einnahm), um

403

durch die Lücken schlüpfen zu können. Und bei der Kraft, die er besaß,

reichte es aus, wenn er nur einmal hindurchschlüpfte.

Hung I Hsiang

Hung I Hsiang besaß eine bemerkenswerte Geschwindigkeit in der Hand-

berührung, und er war sehr sensibel. Er vermochte seine Hände an der

Innenseite und Außenseite der Arme eines Gegners hinauf und hinab zu

bewegen, wobei jeder seiner fünf Finger unabhängig operierte und er die

Arme und/oder den Körper des Gegners in verschiedene Richtungen be-

wegte. Seine Finger änderten ihre Richtung mit der Geschwindigkeit eines

Konzertpianisten. Die verschiedenen Teile seiner Hand bewegten sich wie

eine sich schnell windende Schlange und vermochten Druck auf den Arm

oder die Hand des Gegners auszuüben, wobei sich der Kraftvektor zehn-

mal in der Sekunde veränderte.

Was die Geschwindigkeit durch den Raum von Punkt A nach B angeht,

war Hung nicht besonders schnell. Doch die Geschwindigkeit, mit der

Hung in Koordination mit der Berührung seine Gelenke beugen und im

Bauch und den Beinen einknicken konnte, war erstaunlich. Hung war

auch sehr schnell, wenn es darum ging, in die Bewegung eines Gegners

hineinzuschlüpfen, besonders in Hinsicht auf Kampfwinkel und die Fä-

higkeit auszuweichen. Diese Fertigkeit war mehr als ausreichend, um sein

Unvermögen, sich außergewöhnlich schnell durch den physischen Raum

zu bewegen, auszugleichen.

Hung betonte stets die Geschwindigkeit, die nötig ist, um die Winkel der

Hand und der Taille rasch mit den Winkeln des Kreises, der Spirale, des

Dreiecks und des Vierecks zu koordinieren.

Bai Hua

Bai Huas Spezialität war das unglaublich schnelle Öffnen und Schließen

und die lineare Geschwindigkeit von Punkt A nach B. Er war in der Tat

ein Schwergewicht, das sich außerordentlich schnell im Raum zu bewe-

gen vermochte. Bei jeder Art von Push Hands oder der Übung von Be-

rührungs-Kampfanwendungen ergab sich Bai Huas Geschwindigkeit aus

seiner Fähigkeit, flüssig von einer Technik zur nächsten überzugehen.

Obwohl er bei Berührungsanwendungen schneller war als Wang (er war

ja auch beträchtlich jünger), war er offensichtlich nicht so schnell wie

einige der anderen Meister. Bei Berührungspraktiken betonte Bai Hua

mehr die Kraft als die Geschwindigkeit. Er betonte allerdings sehr die Ge-

schwindigkeit beim Öffnen und Schließen des Körpers. Statt sich auf die

Geschwindigkeit auf dem Weg zum Ziel zu konzentrieren, betonte er die

404

Geschwindigkeit des Durchbrechens durch die Verteidigung, wenn man

erst einmal dort angekommen war.

Bai Hua besaß außerordentliche Ellbogenkontrolle, und in all seinen Be-

rührungs- und Nichtberührungspraktiken betonte er die Elastizität der

Ellbogen und die Erhöhung ihrer Hiebgeschwindigkeit. Bai Hua war be-

sonders schnell beim Gebrauch von Waffen, insbesondere des Speers und

des geraden Schwerts, das er physisch deutlich schneller zu fuhren ver-

mochte als alle anderen Meister.

Huang Hsi I

Huang besaß außerordentlich lange Gliedmaßen und große Hände, de-

ren Form sich blitzschnell verändern konnte. Was Berührungspraktiken

anging, betonte er stets die Fähigkeit, schnell zwischen Abwandlungen

einer bestimmten Technik hin und her zu wechseln. Obwohl er über ein

enormes technisches Repertoire verfügte, benutzte er immer dann, wenn

ein Gegner seine Taktik veränderte, nicht etwa eine andere Technik, son-

dern er wechselte lieber schnell Wechsel zu einer Variante jener Technik

über, die er gerade verwendete, um deren Fluss nicht zu unterbrechen.

Beim Rou Shou betonte Huang die Kraft mehr als die Geschwindigkeit. Es

bezwang einen Gegner immer in genau dem Augenblick, wo es zu einem

umstrittenen Kampfwinkel kam. Er war in der Lage, die Kraft eines Geg-

ners zu stoppen, um dann seine Gelenke zu umgehen und ihn zu treffen.

Beim Sparring hatte Huang eine interessante Art von Geschwindigkeit.

Auch wenn seine liebste Technik darin bestand, durch die Lücken eines

Gegners hindurchzuschlüpfen, war er auch in solchen Momenten außer-

ordentlich gut, in denen er einen vorteilhaften Kampfwinkel erreichte. Er

konnte dann außerordentlich schnell herantreten und seinen Gegner mit

einer einzigen Hsing-I-Technik zu Boden schicken. Er verwendete häufig

auch die Methode, seine Aktion mitten in der Bewegung wie mit einem

Dimmer radikal abzubremsen, abzuwarten und dann, wenn sein Gegner

auf diese Falle hereinfiel, seinen inneren Schalter wieder auf volle Atta-

cke umzuschalten. Er vermochte diese außerordentliche Fertigkeit mitten

in einem Angriff oder einer Verteidigung anzuwenden. Für seinen Gegner

schien diese Aktion ungemein schnell zu sein, auch wenn Huang sich

dabei physisch nicht sonderlich schnell bewegte.

Liu Hung Chieh

Liu hatte die physische Geschwindigkeit in der Kampfkunst transzendiert.

Er war in den letzten Jahren seines Lebens, in denen ich ihm begegnete,

physisch nicht besonders schnell, aber er hatte den „Heiligen Gral" der

Geschwindigkeit in den inneren Kampfkünsten gefunden. Ganz gleich,

405

mit welcher Geschwindigkeit er sich bewegte und wie langsam er auch

sein mochte, er vermochte seinen Gegner doch immer zu besiegen. Dazu

war er aufgrund seiner kompletten Beherrschung der Energie im Stande.

Er meisterte sowohl seine eigene Energie als auch die des Gegners in Hin-

sicht auf Geschwindigkeit, Subtilität, Richtung und Kraft.

In Lius Verteidigung gab es keine Lücken, und es war so, als wüsste er

bereits, was man tun würde, bevor man selbst es wusste. Bei Nichtberüh-

rungspraktiken war er ein Angehöriger der minimalistischen Schule der

Bewegung. Ganz gleich, welche Art von Angriff ich gegen ihn vortrug,

er bewegte seine Hände oft nicht mehr als fünf bis acht Zentimeter. Im

Allgemeinen war seine Kraft so groß, dass ich ihn, wenn er meine Hand

erst einmal berührt hatte, nicht mehr zu bewegen vermochte, wenn er

sich nicht bewegen wollte. Je mehr ich es versuchte, desto größer wurden

die Löcher in meiner Verteidigung und er konnte hindurchschlüpfen, wie

es ihm beliebte, und mich schlagen oder eine andere Technik der inneren

Kampfkunst anwenden.

Wann immer ich versuchte, in der Berührung Kraft gegen ihn anzuwen-

den, gab es da einfach nichts mehr, wogegen ich die Kraft wenden konn-

te, so dass ich leicht aus meinem Winkel geriet, ganz gleich wie schnell

ich den Winkel anpasste. Natürlich war er in der Lage, augenblicklich Fa

Jin anzuwenden, gleich in welcher Positur, oder er konnte meine Arme

aus dem Weg räumen und mich dann mit Leichtigkeit berühren, nachdem

er eine von keinem Hindernis verstellte Autobahn zu irgendeinem Ziel

an meinem Körper geöffnet hatte. Liu betonte nicht die Geschwindigkeit,

sondern vielmehr die Fähigkeit, in die Bewegung einer Person hineinzu-

schlüpfen oder in jedem umstrittenen Kampfwinkel einen leichten aber

unwiderstehlichen Druck auszuüben, der einen Gegner stets ins Hinter-

treffen brachte. Liu war der einzige Mensch, dem ich je begegnet bin, der

sich deutlich langsamer bewegen konnte als ich und der dennoch immer

leicht die Oberhand behielt.

406

Die Verwendung von Energie zur Heilung

Die Gesundheitsaspekte der Kampßtünste

Die inneren Kampfkünste als System der Energieheilung

Die heilenden, meditativen und kämpferischen Aspekte der inneren Kampf-

künste, insbesondere des Ba Gua und des Tai Chi, sind eng miteinander

verknüpft. Dieses Kapitel schließt einen Kreis, da wir nun von den kämp-

ferischen zu den heilenden Aspekten der inneren Kampfkünste kommen,

deren Kraft dazu genutzt werden kann, Krankheiten zu bekämpfen. In

der Tat sind die inneren Kampfkünste bei den meisten Menschen nicht

aufgrund ihrer hervorragenden Kampffertigkeiten berühmt, sondern we-

gen ihrer großartigen Fähigkeiten, Krankheiten zu behandeln, die andere

Methoden nicht behandeln können, sowie die Wirkung anderer Heilme-

thoden zu verstärken. Die Praxis der inneren Kampfkünste ermöglicht

lebenslange Vitalität und Geschmeidigkeit, besonders in hohem Alter, und

kann deshalb als eine Ergänzung jedes anderen Programms der Lebens-

verlängerung dienen. Von den drei inneren Kampfkünsten, auf die dieses

Buch sich konzentriert, ist das Tai Chi die populärste. Diese Popularität

verdankt sich zu großen Teilen der relativen Leichtigkeit, mit der auch

Anfänger sie praktizieren können, sowie der Tatsache, dass sie aufgrund

der Verfügbarkeit vieler aktiver Tai-Chi-Lehrer gut zugänglich ist. Doch das

Ba Gua und das Hsing-I besitzen die gleichen Fähigkeiten, auch wenn sie

andere Methoden anwenden. In ganz China wenden sich viele Menschen

dem Tai Chi und dem Chi Gung zu, um sich selbst von allen möglichen

Arten von Krankheiten und Verletzungen zu heilen.51

51 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor selbst benutzte das Wu-Stil Tai Chi, das er

von Liu Hung Chieh erlernte, um sich von einer ernsten Wirbelsäulenverletzung zu

erholen, die er sich bei einem Autounfall zugezogen hatte.

407

8

Alle inneren Kampfkünste werden in China therapeutisch eingesetzt,

etwa zur Senkung des Blutdrucks, zur Verbesserung der Nervenfunktio-

nen, zur Regulierung des Verdauungssystems und zur Behandlung dessen,

was man im Westen als chronisches Erschöpfungssyndrom oder Burnout

bezeichnet. Die inneren Kampfkünste sind auch dafür bekannt, dass sie

bei der Rehabilitation von traumatischen Verletzungen der Gelenke, der

Muskeln und der Wirbelsäule helfen. Der therapeutische Aspekt der in-

neren Kampfkünste besitzt ebensoviel Tiefe, Breite und Komplexität der

Fertigkeiten wie der Kampfkunst-Aspekt. Die heilenden Techniken basieren

im Wesentlichen auf der Chi-Gung-Therapie.

Der Unterschied zwischen Gesundheit und Fitness aus der Perspektive der inneren Energiearbeit

Für viele Praktizierende einer der harten äußeren Kampfkünste sowie die

meisten Wettkampfsportler bedeutet Gesundheit, einen extremen Zustand

körperlicher Fitness zu erzeugen. Wenn Sie sich irgendeinen Hochleistungs-

Chinesen unterschiedlichen Alters üben in einem Park von Beijing aus gesundheitlichen Gründen Tai Chi.

sport, mit oder ohne Körperkontakt, ansehen, werden Sie finden, dass man

dort hauptsächlich ein Maximum an Leistung in Hinsicht auf Geschwin-

digkeit, Kraft, Stärke und Beweglichkeit anstrebt. Im Daoismus wird Ge-

sundheit jedoch weniger in Begriffen von Höchstleistung definiert, sondern

vielmehr als ein Zustand umfassenden Wohlseins, in dem Ihr Geist klar

ist, Ihre Emotionen ausgeglichen sind (d. h. dass Sie geistig gesund sind)

und Ihr Körper frei ist von organischen Krankheiten und Verletzungen, so

dass Sie eine starke Vitalität besitzen und sich in Ihrer Haut wohlfühlen.

Im Westen mag eine Person, die als fit gilt, mehr als 100 Liegestütze

ausführen oder einen Marathon laufen können sowie einen schönen, mus-

kulösen Körperbau besitzen - und sie mag trotzdem innerlich nicht gesund

sein. Sie könnte Rückenprobleme, beschädigte Gelenke oder Leberprobleme

haben, ihre Emotionen könnten aus dem Gleichgewicht geraten sein, sie

mag nicht in der Lage sein, mit Stress umzugehen; sie kann eine sexuelle

Schwäche haben oder impotent sein. Andererseits kann eine innerlich

gesunde Person zerbrechlich aussehen, wenig ausgeprägte Muskeln haben

oder fett sein; sie kann vielleicht nur wenige Hundert Meter rennen und

es mag ihr an körperlicher Stärke mangeln. Trotzdem kann diese Person

einen starken und gesunden Rücken haben, gute Gelenke und einen starken

Kreislauf besitzen, sie kann emotional ausgeglichen sein und keine Pro-

bleme mit den inneren Organen oder dem zentralen Nervensystem haben,

und sie mag in der Lage sein, all den normalen alltäglichen Aktivitäten

mit Schwung nachzugehen. Sie mag ein erfülltes Sexualleben haben und

in der Lage sein, mit Stress auf entspannte Weise umzugehen.

So gesehen, kann es also leicht sein, dass jemand als gesund, aber

nicht fit, oder als fit, aber nicht gesund anzusehen ist. In den daoistischen

Künsten der Pflege des Chi ist das erste Ziel, eine Person gesund zu ma-

chen, ein Ziel das zugleich nützlich und jedermann zugänglich ist. Um

diese Ebene der Chi-Entwicklung zu erreichen, braucht es weniger Arbeit

als zum Erreichen von „Fitness". Um ein erstklassiger Kampfkünstler oder

Athlet werden zu können, muss man zuerst gesund werden, und danach

muss man hart an sich arbeiten, um Fitness, umfassendes Können und

Höchstleistung zu erzielen.

Wenn es Ihr Hauptziel ist, gesund zu sein, dann ist es vor allem wich-

tig, sich darauf zu konzentrieren, den Zustand herbeizuführen, den die

Chinesen Tong nennen. Dies bedeutet, dass das Chi in der Lage ist, ohne

Blockaden durch den gesamten Körper zu zirkulieren. Eine wesentliche

Voraussetzung für das Erlangen eines flüssigen Chi-Kreislaufs ist, dass

409

man das grundlegende sechzehnteilige Nei-Gung-Programm der Daoisten

erlernt. Um über das bloße Freisein von Krankheit hinauszugelangen und

überragende mentale und physische Fertigkeiten zu erlangen, muss man

sich schon mehr bemühen. Gewöhnlich schreitet man von den einfacheren

Gesundheitsübungen zu genereller Fitness und von dort zu aufwendigeren

Trainingsformen fort, mit denen man maximale körperliche Geschwindig-

keit, Kraft, Vitalität und geistige Klarheit anstrebt.

Persönliche Gresundheit: Jack Pao und die Natur von Grenzen

Ba Gua war zweifellos eine der Leidenschaften von Jack Pao. Er kam damit

zuerst in seiner Kindheit durch einen Privatlehrer in Berührung, den seine

Familie zu seiner Schulung engagiert hatte. Jack hatte einen verschrobenen

und stillen Sinn für Humor und eine Gemütsverfassung, die man im Wes-

ten wohl „sanftmütig" nennen würde.52 Er war ein sehr in sich gekehrter

Mensch in seinen späten Vierzigern, etwa 1,68 Meter groß und sehr dünn,

der nicht gerne über sich und sein früheres Leben in China sprach. Jack

war ein sehr freundlicher Mensch mit einer Vorliebe für russisches Essen,

und er arbeitete für einen Kürschner. Anders als die meisten Menschen in

der Wirtschaftsmetropole Hongkong, schien er nicht sonderlich an Geld

interessiert zu sein. Nach seinem Betragen, seiner Sprache und der offen-

sichtlichen Erziehung in Englisch und Chinesisch zu urteilen, schien er aus

einer Mittel- oder Oberklassenfamilie in Beijing zu stammen.

Wenn wir zusammen Sparring übten, pflegte Jack spontan anzugreifen

und sich zu verteidigen. Während unserer Unterhaltungen teilte er großzü-

gig sein Wissen um die Solo-Hände des Ba Gua und um das Für und Wider

bestimmter Praktiken zur Wiederherstellung der Gesundheit mit mir.

Jack litt an einem erblich bedingten akuten Rheumatismus. Wenn er gut

und vernünftig trainierte, dann pflegten seine Schmerzen zu verschwinden,

doch wenn er nicht übte, dann schlug sein Gesundheitszustand um und

seine Kraft in den Kampfanwendungen nahm deutlich ab. Man konnte bei

ihm über einen Monat, eine Woche, einen Tag, ja sogar über eine Stunde

hinweg, deutliche Unterschiede erkennen. Da er flüssig Englisch sprach,

52 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor traf Jack Pao im Jahre 1974, als er im

Kowloon-Park in Hongkong trainierte. Während dieses und des nächsten Jahres übten

die beiden gemeinsam die Kampfanwendung des Ba-Gua-Kreisgehens.

410

war er oft bereit und in der Lage, über seine Erfahrungen zu sprechen. Er

vermittelte mir wertvolle Einsichten in die Art und Weise, wie jemand mit

einem Körper in mittlerem Alter zur Erhaltung bester Gesundheit mit dem

Chi arbeiten kann, besonders welche Auswirkung ein Zuviel oder Zuwenig

an Übung darauf haben kann, ob eine Krankheit sich verschärft, ob sie

gleich bleibt oder zurückgeht.

Jack Pao spezialisierte sich auf eine „Schlag zu und lauf weg"-Kampf-

weise. Da er klein war, hatte er eine geringere Reichweite und weniger

Kraft als größere Kämpfer und deshalb konzentrierte er sich auf Ausweich-

manöver und schnelle Hin-und-zurück-Gegenangriffe. Jack Pao war ein

gutes Beispiel dafür, dass selbst ein Mensch mit Behinderungen, seien diese

nun angeboren oder nicht, in der Lage ist, sich zu verteidigen, wenn er

nur genügend Zeit und Mühe investiert.

Muss man Selbstverteidigung erlernen, um gesundheitlich von einer inneren Kampfkunst profitieren zu können?

Viele Menschen, die im Westen die inneren Kampfkünste studieren, sind

nur an einigen der fünf Aspekte der Praxis interessiert. Diese Aspekte sind

persönliche Gesundheit, Hochleistung, Heilung anderer, Selbstverteidigung

und Meditation. In China lernt man das, was der eigene Lehrer lehrt. Wenn

einem ein Aspekt dessen, was gelehrt wird, nicht zusagt, dann ignoriert

man diesen Aspekt einfach und tut der Höflichkeit halber so, als sei man

daran interessiert. Einem chinesischen Schüler der Kampfkunst ist klar,

dass einzelne Lehrer ähnliche oder verschiedenartige Teilbereiche der Ge-

samtheit der Welt der Kampfkünste übermitteln.

Im Westen haben die Schüler oft unrealistische Vorstellungen von dem,

was ein Lehrer anzubieten hat, anbieten sollte oder bereit ist, anzubieten.

Eine Frage, die oft gestellt wird, ist: „Wenn ich Tai Chi oder Ba Gua prak-

tizieren will, muss ich dann lernen zu kämpfen, zu heilen, zu meditieren

usw.? Ich will eigentlich nur ..." Die Wahrheit ist: Wenn Sie nicht wollen,

müssen Sie nicht. Es empfiehlt sich jedoch, diese Dinge mit Ihrem Lehrer

zu besprechen, denn es könnte sein, dass er oder sie nur zu lehren weiß,

indem er/sie auch die Dinge mit einschließt, die Sie nicht mögen. Selbst

wenn ein Lehrer in der Lage ist, die Teile auszulassen, die Sie nicht mögen,

wäre es doch klug, sich auch über diese Teile zu informieren und sich

411

anzuhören, was Ihr Lehrer über deren potentiellen Wert in Hinsicht auf

Ihre langfristigen Fortschritte zu sagen hat.

Da sich einem Schüler der Kampfkünste so viele verwirrende Fragen

stellen, ist es angebracht, darüber zu sprechen, wie Sie am besten auf eine

ausgeglichene und intelligente Weise vorgehen sollten, um Ihre Ziele zu

erreichen. Ein bestimmter Mensch mag zum Beispiel denken: „Mir geht es

darum, gesund zu werden, und mir gefällt das angenehme Körpergefühl,

das die Chi-Praktiken mir vermitteln. Mit dem ganzen Kampfkram weiß

ich nichts anzufangen und Heilen und Meditation interessieren mich auch

nicht besonders." Eine andere Person ist vielleicht ein Sportler und möchte

die inneren Künste der Daoisten dazu benutzen, seine Leistung in einer

bestimmten Sportart zu verbessern, während sie absolut kein Interesse

an der Meditation oder anderen Elementen hat. Ein Heiler ist vielleicht

nicht an dem kämpferischen Aspekt interessiert, und ein Kämpfer hat

vielleicht nicht das geringste Interesse daran, andere zu heilen, während

beide vielleicht etwas für die Meditation übrig haben oder nicht. Jemand,

der gern meditiert, ist vielleicht auch an Hochleistung, Selbstverteidigung

oder Heilen interessiert, vielleicht auch nicht.

Um die Früchte eines der fünf Aspekte der persönlichen Übungen des

Daoismus ernten zu können, werden Sie die Methoden und Strategien

betonen müssen, die bestimmte Ergebnisse zeitigen. Es gibt sowohl be-

trächtliche Überschneidungen als auch deutliche Unterschiede zwischen

den einzelnen Trainingsmethoden und in Hinsicht darauf, wie Ihr Geist

dabei funktioniert und worauf Sie Ihre Mühen richten sollten. Um inneren

Frieden zu finden oder das Dao zu erkennen, brauchen Sie kein großer

Kämpfer zu werden - und umgekehrt. Es ist auch möglich, dass Sie Ihre

Persönlichkeit transzendieren und trotzdem wenig Befähigung besitzen,

die körperliche Krankheit eines anderen Menschen zu heilen. Anderseits

können Sie auch ein großer Heiler des Körpers werden oder ein guter

Kampfkünstler und trotzdem in emotionaler oder psychischer Qual und

Unausgeglichenheit leben.

Es stellt sich also die Frage, wie viel Gewichtung Sie jedem Aspekt

Ihrer persönlichen Praxis zu einem gegebenen Zeitpunkt widmen sollten.

Was möchten Sie im Moment aus Ihrer Praxis gewinnen? Wo liegen Ihre

Interessen zurzeit? Die Gewichtung mag sich bei Ihnen im Zeitraum von

Jahren, Monaten, Wochen oder Tagen der Übung verschieben, ja sogar

innerhalb einer einzigen Übungssitzung. Es liegt in der Natur der inneren

Kampfkünste, dass durch die Entwicklung des Chi, welche ganz von selbst

412

gute Gesundheit mit sich bringt, für die grundlegenden gesundheitlichen

Bedürfnisse gesorgt ist. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen

einem Mindestmaß an Gesundheit (das heißt, dass Sie nicht offenkundig

krank sind) und einem Zustand bester Gesundheit und Vitalität. Es mag

Ihnen nicht darum gehen, als professioneller Heiler zu wirken, aber wenn

ein geliebter Mensch, ein Verwandter oder ein Freund krank wird, dann

entwickeln Sie vielleicht plötzlich ein Interesse an der Heilung anderer.

Andererseits sind Sie vielleicht auch nicht an der Fertigkeit des Kämpfens

interessiert, bis Sie sich plötzlich einmal mit Gewalt konfrontiert sehen.

Meditierende mögen nach Jahren beginnen, sich dafür zu interessieren, ihre

physischen Ängste und Begrenzungen zu überwinden. Gestandene Kämp-

fer interessieren sich eines Tages vielleicht dafür, ihre nicht-physischen

Ängste zu überwinden und die Kraft ihrer Hiebe in die Kraft von Frieden

und Freundlichkeit umzuwandeln. Was den Kontext des gesamten Systems

angeht, können Sie den fünf hilfreichen Komponenten von Ba Gua, Tai

Chi und allen inneren Künsten jeweils eine unterschiedliche Gewichtung

geben. Je nach Ihren spezifischen Interessen und den Fortschritten, die Sie

in Ihrer persönlichen Übung gemacht haben, sollten Sie abwägen, wie viel

Aufmerksamkeit Sie Ihren Zielen und Bestrebungen widmen wollen.

Die folgende Tabelle enthält Vorschläge, wie viel Zeit Sie in Hinsicht auf

Ihre spezifischen Interessen jedem Aspekt der Praxis widmen sollten.

Vorgeschlagene Proportionen der Übungszeit

Durch-schnittliche Person (% der Zeit)

Meditieren-der

(o/o der Zeit)

Ältere Person (% der Zeit)

Kämpfer (% der Zeit)

Heiler (% der Zeit)

Allgemeine 60 20 20 20 15 Gesundheit

Verjüngung 20 20 50 10 15

Kämpfen 10 - - 60 -

Heilen - - 10 - 50

Meditation 10 60 20 10 20

Diese Zahlen können sich mit der Zeit verändern, wenn Ihr Interesse oder

Ihr Können in einem Bereich zunimmt oder es nötig wird, eine Schwäche

auszugleichen, um Ihre Fertigkeiten in Ihrem Hauptinteressengebiet zu

maximieren und/oder auszugleichen. So könnte es zum Beispiel nötig

sein, dass ein Meditierender mit seiner physischen Angst vor dem Kämp-

413

fen arbeitet, um mit seiner Meditation voranzukommen, oder dass ein

Heiler mit Hilfe der Meditation an seinem persönlichen unausgeglichenen

psychischen oder emotionalem Chi arbeitet, um seinen Patienten besser

dienen zu können.

Vergessen Sie nicht: Wenn Sie in einen Supermarkt der inneren Kampf-

kunst gehen, dann nehmen Sie normalerweise erst einmal die Grundnah-

rungsmittel mit, ganz gleich, was Sie sonst noch kaufen wollen. Danach

wenden Sie sich spezielleren Waren zu (Kämpfen, Meditation, Langlebig-

keit, Heilen). Je größer die Zahl Ihrer Sonderwünsche ist, desto höher wird

der Preis (was Einsatz, Trainingszeit, Studien usw. angeht) sein, aber desto

größer wird auch die Freude und Befriedigung über Ihren Einkauf sein. Es

ist nicht selten, dass jemand nach einiger Zeit mehr von einer bestimmten

Sorte seiner speziellen Waren bekommt oder mehr von einzelnen Waren

(spezifische Techniken) erhält. Es liegt in der Verantwortung des Indivi-

duums, sich für das, was es haben will, zu entscheiden und sich darüber

klar zu werden, wie viel es dafür auszugeben bereit ist. Man bekommt das,

wofür man bezahlt - bei einer echten inneren Praxis gibt es nichts umsonst.

Wahre Meister des Ba Gua oder Tai Chi gleichen ein wenig den Inhabern

von Delikatessgeschäften. Sie haben kleine Läden mit wenigen Waren von

hoher Qualität (ein oder zwei Kategorien). Manche Lehrer haben große

Supermärkte mit allen fünf Kategorien, aber mit einer Mischung von Wa-

ren hoher und minderer Qualität. Die Läden, in denen alle Waren nur von

höchster Qualität sind, sind außerordentlich selten. Die Herausforderung

für einen Meister des Ba Gua oder Tai Chi besteht darin, mit den in seinem

Lager vorhandenen Mitteln die Schüler auf systematisch fortschreitende

Weise, und auf den einzelnen zugeschnitten, das zu lehren, was sie wollen

und was zu verwirklichen sie in der Lage sind. Dabei muss er stets darauf

achten, dass die Entwicklung der Schüler sich in Körper und Geist auf

ausgeglichene und integrierte Weise vollzieht.

Gesundheit und Fitness in den inneren Kampfkünsten

Wenn man Ba Gua, Tai Chi oder Hsing-I aus gesundheitlichen Gründen

praktiziert, dann haben sie drei grundlegende Aspekte: körperliche Be-

wegung, die Entwicklung von Chi und die Befreiung der Nerven und des

Geistes von Stress. Im Ba Gua erreicht man sowohl Gesundheit als auch

Fitness durch die körperlichen Bewegungen des Kreisgehens und die Tech-

414

niken der Wandlung, die den Körper in Aktion halten. Diese allein reichen

schon aus, um Menschen, die eine sitzende Tätigkeit ausüben, gesund zu

erhalten. Die Chi-Arbeit wird die Energie Ihres Körpers ausbalancieren. Die

Meditationstechnik der Beruhigung des Geistes wird von enormer Hilfe

beim Ausbalancieren Ihrer Emotionen sein. Ba-Gua-Praktizierende, die

Fitness erreichen wollen, versuchen, höchste Balance, Geschwindigkeit und

Stärke zu erzeugen, während sie die Funktion ihrer inneren Organe, Drü-

sen und Gelenke verbessern, um höchste Vitalität und mentale Wachheit

zu erlangen. All das muss mit einem entspannten, ruhigen und flexiblen

zentralen Nervensystem kombiniert werden.

Im Ba Gua ist die zentrale Technik zur inneren Entwicklung die Erste

Hand (Single Palm Change, siehe Seite 335). Sie wird in daoistischen

Klöstern schon seit mindestens 1500 Jahren ohne jede Kampfan wendung

praktiziert." Man hat sie dort ausschließlich zum Zweck der Verbesserung

der Gesundheit, Fitness, geistigen Klarheit und der Meditationspraxis geübt.

Es ist also nicht notwendig, dass Sie aktiv den Selbstverteidigungsaspek-

ten des Ba Gua nachgehen, um diese Dinge zu verwirklichen. Auf der

anfänglichen Ebene des Trainings zur Verbesserung der Gesundheit wird

eine nicht zu verbissene Herangehensweise an die Praxis die Zirkulation

des Chi so weit vorantreiben, dass Sie mit geringstmöglichem Aufwand

mit den alltäglichen kleinen körperlichen Unpässlichkeiten umzugehen

vermögen. Wenn Sie mehr von der Praxis gewinnen wollen, dann werden

Sie auch einen höheren Preis in puncto Trainingszeit und Einsatz zahlen

müssen. Der Nutzen der Praxis nimmt proportional zur Intensität des

Trainings zu.

Möchte man dem Ganzen dann auch noch Kampfanwendungen hinzu-

fügen, so reichen Formen, die langsam oder mit mittlerer Geschwindig-

keit ausgeführt werden, aus, um die Gesundheit zu fördern, während ein

schneller Wechsel von Angriff und Verteidigung nötig ist, um Fitness zu

erreichen. Für die persönliche Gesundheit und Fitness sind die Soloübungen

ausreichend und man benötigt weder die Kampfanwendungen noch die

Übungen für die therapeutische Arbeit mit anderen. Die Anfangsebene der

spirituellen Meditationsarbeit ist hilfreich zur Beruhigung des Geistes und

zur Förderung einer besseren Zirkulation des Chi, doch die Daoistische

Meditation und innere Alchimie der mittleren und fortgeschrittenen Ebene

sind keine Vorbedingung für die Gesunderhaltung von Körper und Geist.

53 Bai Hua hat die Mönche des Drachentor-Klosters im Jahre 1985 ausführlich befragt,

um diese Geschichte zu verifizieren.

415

Wenn man es nur erreicht, das Chi in das Untere Dantien abzusenken und

den Geist zu sammeln, zu beruhigen und zu entspannen, dann ist das

ausreichend für die Förderung von Gesundheit und Fitness.

TABELLE 1 Parameter für die Übung der Ersten Hand zur Förderung von Gesundheit und Fitness

Aspekt der Hand für die Gesundheit für die Fitness

Gehgeschwindigkeit Langsame oder mittle-re Geschwindigkeit ist ausreichend

Sie müssen fähig sein, mit hoher Geschwin-digkeit zu gehen und blitzschnelle Schritte, Taillendrehungen und Armbewegungen auszu-führen

Ausdauer Erbringt anfänglich nur geringe bis mittle-re Ausdauer

Sie müssen beträchtliche Ausdauer entwickeln, um echte Hochleistung erbringen zu können

Standposituren Allein hohe oder mittelhohe Standpo-situren

Niedrige oder kauernde Standposituren sind notwendig

Verwinden der Seh-nen, Muskeln und Faszien

50 bis 60 Prozent der Kapazität sind ausrei-chend

70 bis 90 Prozent der Kapazität sind notwen-dig

Beinstärke Mittlere Stärke ist aus-reichend

Größte Beinstärke ist notwendig

Atem Muss tief und langsam sein

Muss tief, langsam und außerordentlich langge-zogen sein

Schwere Objekte Gewichte oder Waffen sind nicht notwendig

Training mit Eisenku-geln oder gewichtigen Waffen ist zu empfehlen

Bewegung Techniken in der Luft sind nicht notwendig

Techniken in der Luft (Sprünge, Tritte, Krei-seln) sind notwendig

Größe des Kreises Große oder mittel-große Kreise; mittlere Verwindung der Or-gane

Kleine Kreise zur maxi-malen Verwindung der Organe und Muskeln

Mindestzeitaufwand 20 bis 30 Minuten 30 bis 60 Minuten

416

TABELLE 2 Parameter für die Übung der Soloform des Tai Chi zur Förderung von Gesundheit und Fitness

Tai-Chi-Soloform für die Gesundheit für die Fitness

Übungsgeschwindig-keit

Langsam bis mittel-schnell

Extrem langsam bis extrem schnell

Ausdauer Erbringt anfänglich nur geringe bis mitt-lere Ausdauer

Sie müssen zu be-trächtlicher Ausdauer fähig sein

Standposituren Hohe oder mittelhohe Posituren

Niedrige oder mittelho-he Posituren

Verwindungen 40 bis 50 Prozent der Kapazität sind ausrei-chend

70 bis 80 Prozent der Kapazität sind ausrei-chend

Beinstärke Mittlere Beinstärke ist ausreichend

Größte Beinstärke ist notwendig

Atem Muss tief und lang-sam sein

Muss tief, langsam und außerordentlich lang-gezogen sein

Waffentraining Ist nicht notwendig Training mit regulären und besonders ge-wichtigen Waffen ist zu empfehlen (gerades Schwert, Breitschwert, Speer)

Bewegung Tritte nur in Knie-oder Leistenhöhe

Tritte zum Solarplexus oder höher

Posituren Unter Anwendung des 16-teiligen Nei-Gung-Systems auf innerlich sanfte Weise auszuführen

Unter Anwendung des 16-teiligen Nei-Gung-Systems zur Erzeugung stahlharter innerer Kompressionen auszu-führen

Dauer der Posituren Maximal 5 Minuten 15 Minuten und länger

Tägliche Übungszeit 20 bis 30 Minuten 30 bis 60 Minuten

417

TABELLE 3 Parameter für das Üben der Fünf Elemente des Hsing-I zur Förderung von Gesundheit und Fitness

Fünf-Elemente-Form für die Gesundheit für die Fitness

Übungsgeschwin-digkeit

Normale Gehgeschwin-digkeit

Extrem langsam oder extrem schnell

Ausdauer Erbringt anfänglich nur geringe bis mittlere Ausdauer

Sie müssen zu beträcht-licher Ausdauer fähig sein

Standposituren Mittelhohe bis hohe Posituren

Mittelhohe bis niedrige Posituren

Verwindungen 50 bis 60 Prozent der Kapazität sind ausrei-chend

70 bis 80 Prozent der Kapazität sind ausrei-chend

Beinstärke Mittlere Beinstärke ist ausreichend

Größte Beinstärke ist notwendig

Atem Muss tief und langsam sein

Muss tief, langsam und außerordentlich langge-zogen sein

Training mit ge-wichtigen Waffen

Nicht notwendig Vorzugsweise mit dem Breitschwert oder Speer, je schwerer, desto besser

Bewegung Tritte über Leistenhöhe oder Luftsprünge sind nicht notwendig

Tritte zum Solarplexus und Techniken im Luft-sprung

Posituren Unter Anwendung des 16-teiligen Nei-Gung-Systems zur Erzeugung mäßig starker stahlhar-ter innerer Kompressi-onen auszuführen

Unter Anwendung des 16-teiligen Nei-Gung-Systems zur Erzeugung äußerst stahlharter inne-rer Kompressionen und innerer Stärke auszu-führen

Dauer der Posituren 5 Minuten für das San Ti, höchstens jeweils 1 Minute für die anderen Posituren

Die Fähigkeit, San Ti 30 bis 60 Minuten lang auszuführen ist nötig

Tägliche Übungszeit

100 Meter Hsing-I-Schritte, 20 bis 30 Minuten

30 bis 60 Minuten oder mindestens 1 Kilometer Hsing-I-Schritte

418

Wie die inneren Kampfkünste und Chi Gung Gesundheit herbeiführen

Nach der in China populärsten und am weitesten verbreiteten Sichtweise

der inneren Kampfkünste, sind diese vor allem hoch entwickelte Chi-Gung-

Systeme, welche das Chi des Körpers zum Zweck der Heilung manipulieren.

In der Frage, wie man die Heilung fordern und das menschliche Leiden

verringern kann, haben die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und

die westliche Schulmedizin unterschiedliche Ansichten. Die chinesische

Medizin sucht den Körper dadurch zu heilen, dass sie den Energiefluss

im Inneren ausbalanciert, indem sie das stärkt, was zu schwach ist, und

das reduziert, was übermäßig ist. Zu den Therapieformen, die zur Beein-

flussung von energetischem Ungleichgewicht verwendet werden, gehören

Kräutermedizin, Akupunktur, therapeutische Bewegungen (einschließlich

der des Chi Gung und der inneren Kampfkünste) und therapeutische Mas-

sage. Diese chinesischen Therapien haben gewöhnlich nicht die invasive

Eigenschaft und die schädlichen Nebenwirkungen, die manchmal mit den

starken Medikamenten und den chirurgischen Eingriffen der westlichen

Schulmedizin einhergehen.

Die chinesische und die westliche Medizin unterscheiden sich auch

hinsichtlich der Diagnosemethoden. Die westliche Medizin sucht mit Hilfe

einer Reihe von klinischen biochemischen und biophysischen Untersu-

chungsmethoden, die zum Teil technologisch hoch entwickelte Apparate

benötigen, nach materiellen Veränderungen im Körper. Die chinesische

Medizin untersucht, inwiefern der Chi-Fluss im Körper aus dem Gleichge-

wicht ist. Sie benutzt dazu hoch entwickelte Beobachtungsmethoden, zu

denen Puls- und Zungendiagnose, Palpation (Betasten) und Aura-Analyse

gehören können und die die emotionalen und spirituellen Chi-Muster

des Patienten berücksichtigen. Eine konsequente Übung der chinesischen

Diagnosemethoden kann dem Praktizierenden schließlich eine extreme

Sensibilität für die bewusste Wahrnehmung des inneren Chi verleihen.

Man kann sich diese Sensibilität aneignen und sie dann mit Hilfe spezifi-

scher Chi-Gung-Heiltechniken zur Selbstheilung und zur Heilung anderer

einsetzen.

Die Methoden, mit denen man seinen eigenen Gesundheitszustand

verbessern oder anderen Menschen helfen kann, sind innerhalb des sech-

zehnteiligen Nei-Gung-Systems (siehe Seite 121) zu finden. Diese Me-

419

thoden können von kompetenten Lehrern der inneren Kampfkünste mit

unterschiedlichen Graden der Kompetenz und der Kommunikationsfähig-

keit gelehrt werden. Doch alle drei Systeme der inneren Kampfkunst sind

dermaßen hoch entwickelt, dass ihre Heiltechniken selbst in verwässerten

Versionen immer noch wunderbar funktionieren. Zu den Aspekten, die

zu den Heilkräften der Arbeit mit der Soloform beitragen, gehören die

physische und energetische Ausbalancierung der linken und der rechten

Seite des Körpers, die Entspannung der Nerven und das Absenken des Chi.

Bein- und Hüftverletzungen sowie Verletzungen des unteren Rückens und

andere chronische Probleme lassen sich oft durch die richtige Ausrichtung

des Körpers lindern. Lernt man, die Gelenke zu öffnen und zu schließen,

so kann das Arthritis verhindern oder lindern. Die Stimulation der äußeren

Aura des Körpers sowie die systematische Streckung der Muskeln und Fas-

zien können die Akupunkturmeridiane eines Praktizierenden stimulieren.

All dies passiert einfach durch Bewegungsübungen, deren Hauptziel

die systematische Lenkung des Chi des menschlichen Körpers und die

Ausbalancierung dieses Chi ist. Für die Mehrheit derer, die die inneren

Künste praktizieren, sind die machtvollsten Selbstverteidigungstechniken

der inneren Kampfkünste jene, mit denen sie sich gegen Krankheiten und

die Heimsuchungen des Alters verteidigen können. Dies ist der Grund,

warum zahllose Chinesen jeden Tag die inneren Kampfkünste und/oder

das Chi Gung praktizieren.

Es gibt zwei Hauptaspekte der Energiebewegungen der inneren Kampf-

künste, die man zur Förderung der Gesundheit ausführt. Zuerst einmal

ist die Frage, wie man eine spezifische Bewegung oder eine Abfolge von

Bewegungen als ein therapeutisches Ganzes ausführt. Der zweite Aspekt

ist, wie sie bei Betonung jeder einzelnen Nei-Gung-Komponente als Ganzes

ausgeführt werden. Dies setzt ein detailliertes Wissen darüber voraus, wie

man die ganze Form vielleicht anpassen oder nicht anpassen muss, damit

sie eine oder mehrere zusätzliche Serien von Nei-Gung-Komponenten

aufnehmen kann. Jemand, der eine Form nur als Ganzes kennt, ist sich

normalerweise nicht der genauen Energiequalitäten und Energieumwand-

lungen bewusst, die für jede einzelne Bewegung spezifisch sind.

Verstörtes Chi in Ordnung bringen

Ein guter Energielehrer vermittelt einem Schüler unter anderem, wie man

das Chi sanft und ohne Nebenwirkungen entwickelt. Unglücklicherweise

420

gibt es unrichtige Chi-Gung-Praktiken, die das Chi und/oder das Ner-

vensystem eines Praktizierenden schädigen können.54 Die Popularität des

Chi Gung nahm in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Taiwan und

Festland-China explosionsartig zu. Auf einer internationalen Chi-Gung-

Konferenz, die 1994 in San Francisco stattfand, berichteten professionelle

Chi-Gung-Praktizierende, dass die falsche Ausführung von Chi-Gung-

Praktiken in ganz Ostasien und vor allem in der Volksrepublik China ein

zunehmendes Problem ist.

Die auf dem I Ging basierenden Heiltechniken des Ba Gua sind beson-

ders geeignet, um die negativen Auswirkungen von falsch geübtem Chi

Gung zu reparieren. Leider gibt es selbst in China nur sehr wenige, die

mit diesen Techniken umzugehen wissen. Die Nei-Gung-Techniken zur

Absenkung der Energie und die Auflösungspraktiken55 stehen gewöhnlich

am Beginn dieser Praktiken. In vielen Fällen sind sie ausreichend, um die

Probleme in den Griff zu bekommen, die durch falsche Chi-Gung-Praxis

entstanden sind. Wenn Sie auf diesem Gebiet Hilfe brauchen, dann suchen

Sie einen erfahrenen Energie-Praktizierenden auf, der mit den chinesischen

Methoden vertraut und bereits ist, Ihnen zu helfen. Ausübende des Tui

Na Chi Gung besitzen gewöhnlich die nötigen Kenntnisse. Das Ba-Gua-

Heilsystem zum Beispiel benutzt speziell die acht primären Energien des

I Ging zusammen mit Techniken der Diagnose der drei Dantien, um das zu

behandeln, was aufgrund falsch geübter energetischer Praktiken mit dem

Körper physisch, emotional, psychisch und spirituell schief gegangen ist.

Dieses Pulsnehmen der drei Dantien ist eine hoch entwickelte Technologie,

die ebenfalls eine Spezialität der Daoisten darstellt. Die Buddhisten und die

Praktizierenden des medizinischen Chi Gung haben alternative Methoden

um solche Probleme anzugehen.

54 Anmerkung des Herausgebers: Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie in

Bruce Kumar Frantzis, Die Energietore des Körpers öffnen: Chi Gungßtr Lebenslange Gesundheit, Aitrang (Windpferd) 2006 (komplett bearbeitete und stark erweiterte

Neuausgabe), Anhang C, „Die Wichtigkeit einer korrekten Chi-Gung-Praxis". 55 Anmerkung des Herausgebers: Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie in

Bruce Kumar Frantzis, Die Energietore des Körpers öffnen: Chi Gung für Lebenslange Gesundheit, Aitrang (Windpferd) 2006 (komplett bearbeitete und stark erweiterte

Neuausgabe), 3. Kapitel.

Die inneren Kampfkünste als natürlicher Weg, zu einem Heiler durch Handauflegen zu werden Die inneren Kampfkünste, zusammen mit den sie begleitenden Methoden

des Chi Gung, waren in China schon immer ein Trainingsfeld, auf dem die

energetischen Heiler sich Kraft geholt haben. Alle inneren Kampfkünste

und Chi-Gung-Techniken und -Bewegungen (ebenso wie die Techniken

der daoistischen Meditation) können Ihnen das Wissen und die Befähigung

vermitteln, das Chi zu Heilzwecken zu bewegen. Die praktischen Techniken

des Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua zur Heilung sind alle aus dem Chi Gung

abgeleitet. Sie werden verallgemeinernd Tui Na oder, genauer gesagt, Chi

Gung Tui Na genannt (tui bedeutet „drücken", na bedeutet „greifen" oder

„ziehen"). Unter Chi Gung Tui Na kann man sich eine energetische thera-

peutische Energiearbeit oder Massage vorstellen.

Jede der inneren Kampfkünste hat ihre eigenen energetischen thera-

peutischen Massagemethoden, die direkt mit dieser Kampfkunst in Ver-

bindung stehen. Auch wenn die drei Systeme Hsing-I, Tai Chi und Ba

Gua viele Techniken gemeinsam haben, hat doch jede von ihnen eine

ihr eigentümliche Spezialität der medizinisch-energetischen Körperarbeit.

Die Künste an sich enthalten diese Spezialitäten, aber es kann sein, dass

nicht alle, die diese Kampfkünste praktizieren, sie auch gelernt haben. Die

Hsing-I-Adepten sind im Allgemeinen dafür bekannt, dass sie Knochen

zurechtrücken, mit dem tiefen Körpergewebe arbeiten können und auch

schwere traumatische Verletzungen des Körpers zu heilen vermögen. Die-

se Arbeit wird auf Chinesisch Die Da genannt. Das Tai Chi umfasst sehr

hoch entwickelte Techniken zur Arbeit mit dem Yin-Aspekt des Chi; diese

Techniken sind besonders wirksam bei der Behandlung von Erkrankungen

der inneren Organe und von Krebs. Die Ba-Gua-Adepten sind ebenfalls

in der Behandlung all dieser Dinge bewandert und haben darüber hinaus

noch spezialisierte Fertigkeiten56 für die Arbeit mit der Wirbelsäule, dem

zentralen Nervensystem und Nervenschäden.

In China ist nur ein kleiner Teil der Ausübenden der inneren Kampf-

künste daran interessiert, die energetischen Heilmethoden der einzelnen

56 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor zum Beispiel hat sein spezialisiertes Training

in den Heilmethoden des Ba Gua und des Tai Chi (die er über einen Zeitraum von zehn

Jahren in China studiert hat) dazu benutzt, ein umfassendes Chi-Gung-Programm zur

Förderung der Gesundheit zu entwickeln (siehe Anhang G, Seite 565 f.).

422

Systeme teilweise oder in ihrer Gänze zu erlernen. Hung I Hsiang (siehe

Seite 317) war einer davon. Er war äußerst bewandert in der „Treffer-

Medizin", einer Therapie, die angewendet wurde, wenn Menschen durch

einen Unfall, beim Sport oder im Kampf schwere Verletzungen erlitten

hatten. Der verstorbene Han Hsing Yuan (aus der I-Chuan-Schule) arbei-

tete auch als Chi-Gung-Tui-Na-Praktizierender in Hongkong, so wie es

Huang Hsi (siehe Seite 437) heute noch tut. Vom Ansatz der traditionellen

chinesischen Medizin ausgehend, lernt ein Heiler den Schatten des Chi

indirekt zu beobachten, indem er den Puls am Handgelenk fühlt, die Zunge

betrachtet, eine Urinanalyse macht und dem Patienten Fragen stellt. Wer

sich in der Chi-Gung-Tui-Na-Methode der inneren Kampfkünste schult,

der lernt im Gegensatz dazu, das ausgeglichene oder unausgeglichene Chi

im Körper direkt zu fühlen und zu sehen. Indem er direkt wahrnimmt, wie

die 16 Komponenten des Nei-Gung-Systems im Körper arbeiten, kann der

Praktizierende herausfinden, wie ein bestimmtes Chi sich mit den ande-

ren Energien im Körper vermischt und diese verändert. Vielleicht liest

er auch die Energie der äußeren Aura oder der primären Energiekanäle

des Körpers (linker und rechter Kanal sowie Zentralkanal) oder auch der

vielen tausend sekundären Energiekanäle im Körper, einschließlich der

Akupunkturmeridiane.

Damit man die Methoden der Energietherapien der inneren Kampfkünste

praktizieren kann, braucht es beträchtliches Training zur Kultivierung

des eigenen Chi. Grundsätzlich sollte ein Praktizierender in der Lage sein,

das Chi in seinem eigenen Körper zu spüren, bevor er oder sie sich an

die schwierigere Aufgabe heranwagt, das Chi im Körper eines anderen

Menschen zu fühlen. Um die gewöhnliche Tui-Na-Massage ausführen zu

können, ist es allerdings nicht notwendig, dass der Praktizierende das Chi

fühlt, mit dem im Chi Gung Tui Na direkt gearbeitet wird. Das gewöhnliche

Tui Na verlässt sich auf die indirekten Methoden der Diagnose und auf

Behandlungsmethoden, die auf physischen, nicht energetischen Methoden

basieren, wie es auch die chinesische Akupunktur und Akupressur tun oder

andere Methoden, die Gemeinsamkeiten mit der Chiropraktik, der struk-

turellen Arbeit an den tiefen Geweben oder der gewöhnlichen Massage,

wie sie im Westen praktiziert werden, besitzen. Aus diesen Gründen muss

jemand, der die Chi-Gung-Therapie oder -Körperarbeit anwenden möchte,

zuerst einen soliden Hintergrund in der persönlichen Chi-Praxis haben,

bevor er oder sie in der Lage ist, die Chi-Gung-Therapie kompetent zu

erlernen. Das gewöhnliche Tui Na kann jedoch jedermann lernen.

423

Die Verbindung zwischen den inneren Kampfkünsten und dem Heilen

Der Legende nach wurde Tung Hai Chuan von Daoisten verletzt in den

Bergen aufgefunden; sie heilten ihn und lehrten ihn dann das Ba Gua,

um seinen Heilungsprozess zu vervollständigen. Was immer an den vie-

len Legenden über Tung wahr sein mag, auf jeden Fall illustriert diese

Geschichte, dass im Daoismus eine Verbindung zwischen den Heilkünsten

und den Kampfkünsten besteht. Es ist in der Tat durchaus üblich, dass

fortgeschrittene Daoisten im Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua geschult sind,

die ja alle die Fähigkeit kultivieren, Chi zu projizieren. Diese Fähigkeit

kann nicht nur dazu benutzt werden, Menschen im Kampf zu verletzen,

sondern man kann damit auch heilen. In den Händen eines erfahrenen

Chi-Gung-Arztes kann die Fähigkeit, einen gewalttätigen Angreifer durch

die Projektion von Chi zu verwunden oder zu töten, zu einem wertvollen

Werkzeug werden, das zum Beispiel dazu benutzt werden kann, um Krebs-

zellen abzutöten oder einen Tumor zum Schrumpfen zu bringen. Dies ist

eine Spezialität einiger der besten und erfahrensten Chi-Gung-Heiler in

China. Verletzen und Heilen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Die Heilsysteme der drei inneren Kampfkünste sind sehr hoch entwi-

ckelt und außerordentlich wirksam. Sie entstanden anfangs wahrschein-

lich aus der Notwendigkeit, Verletzungen zu heilen, die man sich bei der

Praxis der Kampfkunst zugezogen hatte, und entwickelten sich mit der

Zeit hin zur Heilung von Krankheiten. Zu den fortgeschritteneren Tech-

niken aus dem Bereich des Ba Gua gehört zum Beispiel das Anheben des

Schwingungsniveaus im Körper eines Menschen, welches durch spezifische

Mantra-artige Töne erreicht wird, welche schlummernde oder zu wenig

genutzte Fähigkeiten wecken und/oder die energetischen Funktionen eines

jeden der acht Energiekörper beeinflussen sollen. Verschiedene oszillie-

rende chinesische Mantras und Töne werden mit Vibrationen des Körpers

und der Energiekanäle kombiniert. Dieses komplexe System geht über die

grundlegenden „sechs heilenden Klänge" hinaus, die manche Menschen

im Westen kennen.

Unter Anwendung derselben Prinzipien von Diagnose und Behandlung

des Chi wird ein Chi-Gung-Therapeut, der keine direkte Körperarbeit mit

Berührung macht, versuchen, zu denselben Resultaten zu gelangen, indem

er spezifische Chi-Gung-Übungen entwirft (oder verschreibt), die man im

Stehen, in der Bewegung, im Sitzen oder im Liegen ausführt. Diese Übun-

424

gen funktionieren so, dass sie sowohl die Gewebe des Körpers als auch sein

Chi beeinflussen. Der Patient bekommt gezeigt, wo, warum, wann und wie

er sein Chi im Körper bewegen soll und welche spezifische Wirkung das

hat. Der Patient bekommt ebenfalls gezeigt, womit er arbeiten und was er

vermeiden soll und wie er positive und negative Wirkungen unterscheiden

kann. Außerdem wird der Heiler dem Patienten zeigen, wie er die inneren

Muskeln, die Gelenke, die Wirbelsäule und die inneren Organe des Körpers

umerziehen kann, um seine motorischen Funktionen zu maximieren und

Schmerzen zu lindern. Ebenso wie die fortschrittlichen Methoden der Kör-

pertherapie, die im Westen in den vergangenen Jahrzehnten entdeckt und

entwickelt wurden, wussten die alten Chinesen sehr wohl, dass die besten

therapeutischen Resultate erzielt werden, wenn man gleichzeitig mit dem

Körpergewebe, dem Geist und dem zentralen Nervensystem arbeitet.

Die Bedeutung einer persönlichen Praxis von Chi Gung und inneren Kampfkünsten für westliche Heiler

Energetisierung der Hände Die Praxis des Chi Gung und der inneren

Kampfkünste, sowohl in ihren Soloformen als auch in ihren Push-Hands-

und Rou-Shou-Praktiken, kann die Berührungssensibilität aller Arten von

Körpertherapeuten deutlich verbessern und energetisieren. In den ver-

schiedenen Schulen der Körperarbeit, die es im Westen gibt, verbringen

die Praktizierenden oft viele Jahre damit, eine Reihe von Techniken der

Manipulation und der somatischen Körperarbeit zu erlernen, wobei sie

im Laufe der Zeit eine Unmenge an technischem Wissen über Anatomie,

Akupressur- und Reflexpunkte, Physiologie und so weiter lernen. Doch

wenn sie nicht die „Hände, die intuitiv und präzise fühlen können" besit-

zen, dann wird es ihnen mehr als schwer fallen, das ganze angesammelte

und hart erarbeitete Buchwissen auch wirklich wirksam und angemessen

auf ein menschliches Wesen anzuwenden. Es ist ganz wesentlich für einen

Körpertherapeuten zu wissen, wie man den Druck variieren kann, um her-

auszufinden, ob der Körper hier gegen seinen Willen zu etwas gezwungen

wird (was Widerstand und Schädigung hervorrufen kann), oder ob der

Körper sein Einverständnis für die Fortsetzung der Prozedur signalisiert.

Sensibilisierte Hände ermöglichen es dem Therapeuten, wesentliche In-

formationen zu gewinnen, die für „tote" Hände unzugänglich sind. Eine

425

hervorragende Sensibilität der Hände macht es dem Körpertherapeuten

möglich, dem Chi im Körper des Patienten nachzuspüren. Mit dieser Art

von Wissen ist es möglich, die Techniken augenblicklich so abzuwandeln,

wie es der Situation angemessen und für die bestmögliche therapeutische

Intervention notwendig ist.

Die präzise systematische Entwicklung der Fähigkeit, das Chi im Körper

zu fühlen, ist ein sehr nützliches Hilfsmittel, das in den westlichen kör-

pertherapeutischen Methoden im Allgemeinen fehlt. Würde sie entwickelt,

so könnte das für den sich zügig entfaltenden Bereich der westlichen

Körperarbeit der nächste große Entwicklungssprung sein.

Die Verhinderung beziehungsweise Erholung von Burnout Chronische

Erschöpfung, Burnout, Epstein-Barr-Syndrom und nervöse Erschöpfung

sind westliche Begriffe für etwas, das in der chinesischen Medizin als Shenti

Swai Rou (Erschöpfung der körperlichen Konstitution) oder Shenjing Swai

Rou (Erschöpfung des Körpers und seines Nervensystems sowie seiner

Energiekanäle) bezeichnet wird.

Die inneren Kampfkünste und das Chi Gung sind sehr hilfreich zur

Behebung dieses Problems der energetischen Erschöpfung. Sie bauen die

Energiekanäle des Körpers, die entleert wurden oder irgendwie aus dem

Gleichgewicht geraten sind, wieder auf. Gestärktes und wiederausgegli-

chenes Chi führt dazu, dass die Nerven nicht mehr ständig erregt werden,

sich wahrhaft ausruhen und mit der Zeit regenerieren können. Wenn die

Nerven sich regenerieren, dann beginnen die inneren Organe auch wieder,

sich energetisch aufzuladen, und der Körper kommt langsam aus seiner

Erstarrung heraus.

Burnout ist gerade in den Heilberufen bei Psychologen, Gesundheits-

beratern, Krankenpflegern, Ärzten, Körpertherapeuten, Akupunkteuren,

Chiropraktikern und anderen im Gesundheitswesen Tätigen häufig anzu-

treffen. In China wie im Westen können die Patienten einen Heiler ener-

getisch aussaugen. Wenn der Patient verzweifelt nach Lebenskraft sucht

oder neurotische Fixierungen hat, dann wird er das Chi buchstäblich aus

dem Körper/Geist des Therapeuten heraussaugen. Über längere Zeiträume

kann dieser Prozess den Fürsorgenden erschöpfen und dies ist ein Grund

dafür, dass viele talentierte Praktizierende ihren Beruf aufgeben.

Es ist deshalb unerlässlich, dass Heiler lernen, wie sie diesen energe-

tischen systematischen Burnout verhindern können. Die Fertigkeiten, die

Chi-Experten in China für besonders notwendig für aktive Therapeuten

426

halten, sind: 1. die Fähigkeit, sich als Heiler dagegen zu schützen, dass

die Patienten einem Energie absaugen; 2. die Verwendung von Chi-Gung-

Übungen zur Regenerierung von aufgebrauchtem Chi im eigenen System;

3. das Wissen darum, wie man vermeidet, die Chi-Muster des eigenen

Körpers nach den Chi-Mustern des Patienten umzustrukturieren. Die letzte

der drei Fertigkeiten ist besonders für Heiler vonnöten, die von Natur aus

sehr intuitiv sind. Solche Heiler verschmelzen oft psychisch mit der Ener-

gie des Patienten. Der Heiler macht das, um in seinem eigenen Körper

zu spüren, wo der Patient Probleme hat, und um aus dem Bauch heraus

zu erkennen, wie er diese Probleme beheben kann. Ist der Heiler nicht in

der Lage, sich ganz klar vom Zustand des Patienten abzugrenzen, dann

besteht die Gefahr, dass die Muster der Probleme des Patienten in sein

eigenes System übergehen oder dass seine energetischen Reserven dadurch

einfach erschöpft werden.

Zu den energetischen Techniken, die angewendet werden, um diese drei

Ziele zu erreichen, gehören:

1. das Versiegeln des eigenen Chi, damit es nicht aus dem Körper

herausgezogen werden kann;

2. das Übertragen von Energie aus der äußeren Umgebung in den Kör-

per des Patienten, so dass man nicht seine eigene Energie benutzt

und damit seine eigenen Reserven erschöpft;

3. sich bewusst machen, wie tief und wie stark die eigenen energe-

tischen Reserven zu einem bestimmten Zeitpunkt sind. Man muss

lernen, spezifische Techniken aus den 16 grundlegenden Kompo-

nenten des daoistischen Nei-Gung-Systems anzuwenden, um die

eigenen Reserven wieder aufzufüllen, wenn man seine Reserven in

einem bedenklichen Ausmaß erschöpft hat;

4. sich das Chi wieder aneignen, das man in den Körper eines Patienten

projiziert hat, um sein gestörtes Chi umzustrukturieren;

5. die emotionalen und psychischen Einflüsse, die man während der

Therapie von den eigenen Patienten aufgenommen hat, wieder aus

dem Körper/Geist-System ausscheiden;

6. sich während des Tages in regelmäßigen Abständen daraufhin über-

prüfen, ob noch unterschwellige Reste der energetischen Beeinflus-

sung durch die Patienten vorhanden sind. Man tut dies, um gege-

benenfalls mit Chi-Gung-Techniken Gegenmaßnahmen ergreifen zu

können, so dass man die negativen Einflüsse noch am selben Tag

beseitigen kann, damit sie sich nicht ansammeln. Man muss dazu

427

sozusagen sein eigener Geigerzähler werden. Es sind nämlich genau

diese allmählichen Ansammlungen emotionaler/psychischer Über-

reste, die den Heiler mit der Zeit auslaugen und die zu emotionalem

Burnout führen können.

Der Wert des Erlernens der inneren Künste für ältere Kampfkünstler

Es ist typisch, dass man unter den aktiven Sportlern (mit Ausnahme der

Golfspieler) praktisch nur junge Menschen antrifft. In den Schulen für

Karate und Tae Kwon Do sind fast die Hälfte aller Teilnehmer in den Klas-

sen für Kinder und Jugendliche zu finden. Wenn die Leute älter werden,

praktizieren immer weniger ihrer Altersgenossen aktiv eine Kampfkunst;

sie sind nur noch Zuschauer. Die inneren Kampfkünste dagegen sind kein

Zuschauersport und man kann sie ein Leben lang praktizieren. Ein ganz

gewöhnlicher Praktizierender kann auf diese Weise ebenso wie ein enga-

gierter Kampfkünstler mit Vitalität und Anmut altern. Wie es bei großen

Rotweinen der Fall ist, werden auch Ausübende der inneren Kampfkünste

mit zunehmendem Alter immer besser. Es gibt gute Gründe dafür, dass es

zu dieser Art von „Reifung" kommt.

Die meisten äußeren Sportarten beanspruchen und belasten den Kör-

per so stark, dass er überstrapaziert werden kann. Solange wir noch jung

sind, heilen Verletzungen schneller, unser Körper dehnt sich schneller

und bereitwilliger, unsere Nerven erholen sich schneller von Ermüdung

und unser Blutkreislauf ist effizienter. Doch bei den meisten Menschen

nehmen diese Qualitäten mit zunehmendem Alter ab, wenn sie sich nicht

auf die Praxis von Chi Gung spezialisiert haben. Bei allen strapaziösen

äußeren Praktiken, von den Kampfkünsten bis zum Sport, erfährt man im

Alterungsprozess immer mehr Schmerzen. In der westlichen Welt haben

sehr viele Menschen Rückenprobleme, und allein schon dieses Problem

lichtet dramatisch die Reihen der Kampfkünstler über Vierzig, vor allem

in den Kampfkünsten, die Sprünge, Würfe und das Fallen betonen.

In China wird vor allem das Tai Chi zur Ergänzung des Trainings von

Wettkampfsportlern aller Art verwendet. Mit dem Tai-Chi-Training werden

die Reaktionszeit des Sportlers und seine Reflexe verbessert und das Tempo

der Heilung bei Verletzungen beschleunigt. Außerdem werden die Gelenke

geschmeidiger gemacht, die Bewegungsfreiheit vergrößert und, was wohl

428

das Wichtigste ist, die Zeit verlängert, in der der Sportler in Wettkämpfen

aktiv sein kann. Im Westen beginnt man heutzutage auch allmählich, sich

diesen Ansatz zu Eigen zu machen, und wahrscheinlich werden früher

oder später Sportmannschaften sowie Individuen im Westen ein solches

Zusatztraining übernehmen.

Sowohl im Osten wie im Westen sind jenseits eines Alters von fünfzig

Jahren noch aktive Leichtathleten, Boxer und Ausübende von Karate, Tae

Kwon Do, dem äußeren Kung Fu und dem Aikido ziemlich selten. Und es

gibt praktisch niemanden mehr, der diese Aktivitäten noch in einem Alter

von über fünfundsechzig Jahren praktiziert. Was das tatsächliche Kämpfen

angeht, wo keine milden Gaben gegeben oder angenommen werden, ist

sehr fraglich, ob viele der älteren Kampfkünstler noch jüngere und viel

stärkere Kampfkünstler besiegen könnten. Ein Großvater oder eine Groß-

mutter mit grauen Haaren, die mit dem Training von Karate beginnen und

gut darin werden, sind wohl allzu selten, als dass man sie in einer TV-Show

auftreten sähe oder in den Nachrichten etwas über sie hörte.

Ganz anders sieht die Situation im Bereich der inneren Kampfkünste

aus: Hier sind die Hälfte der Ausübenden in China über Fünfzig, und hier

kommt es nicht selten vor, dass ein bereits betagter Praktizierender der

inneren Kampfkunst einen viel jüngeren und stärkeren Kampfkünstler be-

siegt. Auf der Ebene der Meister ist so etwas sogar ganz normal. In dieser

Hinsicht ist das Golf das westliche Äquivalent der inneren Kampfkünste.

Tatsächlich haben diese beiden Aktivitäten manche Parallelen. In beiden

gibt es einen gleichmäßigen und durchgehenden Fluss und beide werden

traditionellerweise im Freien in einer parkähnlichen Umgebung geübt.

Beide sind wenig strapaziöse Sportarten, bei denen es mehr auf das Kön-

nen ankommt als auf pure Kraft und genetische Veranlagung als Athlet.

Darum werden beide häufig auch von Personen in mittlerem oder höhe-

rem Alter aufgegriffen, nicht nur von jungen Menschen, und die nötigen

Fertigkeiten lassen sich in jedem Alter erwerben. Sowohl Golfspieler als

auch Ausübende der inneren Kampfkünste werden viele Stunden hinterein-

ander üben, um die Klarheit des „perfekten Schlags" zu erfahren, bei dem

Körper und Geist eins werden, ohne zu erwarten, dass das augenblicklich

oder bei jedem Schlag geschieht. In beiden Bereichen gibt es einen hohen

Prozentsatz von gebildeten und erfolgreichen Menschen, die zu schätzen

wissen, welche Ebene der Kompetenz und der Beharrlichkeit dazu gehört,

unter herausfordernden Bedingungen Mühelosigkeit und Subtilität an den

Tag zu legen.

429

Wer sollte die inneren Kampfkünste noch jenseits der Dreißig praktizieren?

Es gibt im Wesentlichen drei Gruppen von Menschen - von Experten der

Kampfkünste bis hin zu völligen Neulingen die nach dem Alter von

dreißig Jahren noch aktiv die inneren Kampfkünste praktizieren sollten.

Die erste Kategorie besteht aus Menschen über Dreißig, die zurzeit ein

äußeres System praktizieren und die es gerne sähen, wenn die Ebene ihrer

körperlichen Fähigkeiten erhalten bliebe oder ihre Fähigkeiten idealerweise

sogar noch zunähmen statt abzunehmen. Da die inneren Kampfkünste eine

Entspannung betonen, die tief in die Nerven und Muskeln des Ausübenden

vordringt, werden die Geschwindigkeit und die Reflexe von Praktizieren-

den der äußeren Kampfkünste durch die Übung der inneren Kampfkünste

verbessert. So lässt zum Beispiel H. Kanazawa, ein angesehener Meister

des Shotokan Karate, seine Schwarzgürtel-Schüler Tai Chi lernen, damit sie

ihr Karate besser ausführen können. Je mehr ein Individuum es nämlich

lernt, seinen Körper zu entspannen, desto kraftvoller kann es ihn auch

anspannen, wenn es das tun möchte. Das Gegenteil ist allerdings nicht

wahr. Körper, die Anspannung gewohnt sind, können sich oft nicht gut

entspannen. In der Jugend führt solche Anspannung zu Steifheit und

Langsamkeit, und diese nehmen mit fortschreitendem Alter immer mehr

zu. Sich kraftvoll und ohne Steifheit bewegen zu können, ist jedoch das,

was den überragenden Kampfkünstler von einem mittelmäßigen Kampf-

künstler unterscheidet. Die Techniken der inneren Kampfkünste machen

die Gelenke und Muskeln deutlich flexibler und sie lockern steife Ellbogen,

Knie, Hüften und Schultern. Wenn man diese Techniken praktiziert, nimmt

zudem die Kraft und die Geschwindigkeit der Drehung in der Taille zu, die

in allen Kampfkünsten und in vielen Sportarten nötig sind. Wenn ältere

Kampfkünstler die inneren Kampfkünste und Chi Gung erlernen, dann

können sie die äußeren Techniken, die sie bis zu diesem Zeitpunkt gelernt

haben, gewöhnlich mit größerer Geschwindigkeit ausführen.

Zur zweiten Kategorie gehören all jene älteren Kampfkünstler, die die

Bandbreite der Techniken, die sie bereits beherrschen, ausdehnen möchten.

Das eigene Wissen zu erweitern kann faszinierend und sehr inspirierend

sein, weil die Einbeziehung von neuem Material die Kunst, die man bereits

beherrscht, lebendiger machen kann. Erlernt man die inneren Kampfkünste,

so gewinnt man dadurch immer auch Einsichten in die Praxis der äußeren

Kampfkünste. Und es ist immer wertvoll, über die Grenzen der einzelnen

430

Meine persönliche Reise durch die Kampfkünste

Kampfiiunst und Alterung

Ich bin heute kein junger Mann mehr. In der Jugend

erlebte ich die feurige Begeisterung, mit der ein junger

Mensch die Kampfkünste praktiziert, und hatte meinen

Spaß daran. Die meisten meiner Freunde, die damals

hingebungsvoll übten, praktizieren die Kampfkünste

heute aufgrund der normalen Folgen des Alterns nicht mehr und ich fand

es traurig, mit ansehen zu müssen, wie sie auf das, woran sie einmal

große Freude gehabt hatten, verzichten mussten. In Übereinstimmung mit

dem was in China Millionen von Menschen sagen, kann ich nur mit voller

Aufrichtigkeit betonen, dass es nicht so weit kommen muss, wenn man

die inneren Kampfkünste und Chi Gung praktiziert. Ich sage dies als ein

Insider der Kampfkünste, der zu der Zeit, da ich dieses Buch schreibe,

nicht mehr weit von den Fünfzigern entfernt ist, und als jemand, der

die äußeren, äußeren/inneren und die inneren Kampfkünste geliebt und

geübt hat, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergingen.

Der therapeutische und gesundheitliche Aspekt der inneren Kampfkünste

ist eine ebenso profunde Wissenschaft wie ihr Kampfaspekt. Auch wenn

ich mich persönlich neben den Kampftechniken während der 1970er Jah-

re auch auf die gesundheitliche Seite der inneren Kampfkünste spezia-

lisiert habe, habe ich doch erst durch meine Arbeit mit Liu Hung Chieh

in Peking gelernt, wie tiefgründig und wohltuend dieser andere, lebens-

rettende Aspekt der inneren Kampfkünste sein kann. Im Laufe der Jahre

ging Liu mit mir mit großer Geduld langsam und sorgfältig immer wieder

alle Bewegungen durch, und wir betrachteten sie aus einer energetischen

und therapeutischen Perspektive, genauso, wie wir sie vom Standpunkt

des Kämpfens, der daoistischen Meditation und der inneren Alchimie un-

tersuchten. Wir analysierten ständig die Auswirkungen der Bewegungen

der inneren Kampfkünste auf alle Arten von Chi-Bewegungen und auf

die Gesundheit, wobei wir sowohl Menschen berücksichtigten, die gesund

waren und es bleiben wollten, als auch Menschen, die Hilfe bei gesund-

heitlichen Problemen suchten.

In Japan, Amerika und Europa wird die Bevölkerung im Durchschnitt

immer älter und die Gesundheit und Vitalität, die man aus den inneren

Kampfkünsten gewinnen kann, werden für diese Menschen deshalb im-

mer wichtiger. Alle alternden Menschen, seien sie nun Kampfkünstler

oder nicht, können sehr davon profitieren, wenn sie einige der inneren

431

Methoden erlernen, die jedem Menschen in jedem Alter mehr Vitalität

bringen können. Die Lebensqualität ist für die älteren Menschen zu einem

wichtigen Thema geworden. Ich möchte behaupten, dass die Praxis der

Techniken des Chi Gung und des Nei Gung für viele ein außerordentlich

hilfreicher Weg sein könnte, ihre Lebensqualität im Alter zu verbessern.

Schulen hinaus zu forschen, wie es zum Beispiel solch hochrangige Kampf-

künstler wie Ueshiba Morihei, der Gründer des Aikido, und der Filmstar

Bruce Lee demonstriert haben.

Die in den inneren Kampfkünsten erworbenen Fertigkeiten können

eine beträchtliche Hilfe sein, wenn man viele der Schwierigkeiten lindern

möchte, die daraus entstehen können, dass ein alternder Körper uns im

Stich lässt. Das trifft auf Ausübende zu, die noch nicht die Ebene des

schwarzen Gürtels erreicht haben und die herausfinden wollen, was eine

Kampftechnik praktisch oder nicht praktisch macht. Es trifft auch auf jün-

gere und ältere Inhaber des schwarzen Gürtels (sowie deren Äquivalente in

anderen Kampfkünsten) zu, die noch zu Lebzeiten die höchste Ebene des

für sie erreichbaren Könnens verwirklichen wollen. Wenn Sie hauptsächlich

daran interessiert sind, jene Aspekte der inneren Kampfkünste zu erlernen,

die das Innere des Körpers entspannen und geschmeidiger machen, dann

müssen Sie nicht unbedingt einen Meister der inneren Kampfkünste finden,

der auch im Kampf ein Meister ist (wie man sie im Westen sowieso nur

selten findet). Wenn Sie jedoch in der Kunst in Hinsicht auf die Praxis

des Kämpfens so weit kommen möchten, wie nur möglich, dann müssen

Sie einen Lehrer finden, der die inneren Kampfmethoden auch tatsächlich

anzuwenden und der nicht nur darüber zu reden weiß.

Die dritte Kategorie besteht aus Menschen über Dreißig, die Kampf-

künste praktiziert sowie davon profitiert haben und die sie auch gern

weiter geübt hätten, die aber damit aufhören mussten, weil sie zu arbeiten

und sich um eine Familie zu kümmern hatten. Viele haben Karate oder

Tae Kwon Do praktiziert und irgendwann aufgehört. Jetzt im mittleren

oder höheren Alter möchten sie zur Kampfkunst zurückkehren und etwas

finden, womit sie ihre Gesundheit verbessern oder aufrechterhalten und

ihre alten Verletzungen heilen können und was es ihnen ermöglicht, die

Ausdauer zu entwickeln, die sie brauchen, um in ihrem jeweiligen Beruf

erfolgreich zu sein. Da es in den Schulen der inneren Kampfkünste, in

denen tatsächlich gekämpft wird, weniger Fallen und einen exzessiven

432

Einsatz von Hieben gibt und auch wesentlich weniger Kontaktsparring,

ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ältere Ausübende sich hier Ver-

letzungen zuziehen, die sie bei ihrer Arbeit behindern könnten. Man kann

mit den inneren Kampfkünsten alt werden und muss nicht damit aufhören,

wenn man die Blüte seiner Jahre hinter sich hat. Dies ist der Grund dafür,

dass heute viele Schulen des äußeren Karate und Gung Fu Ba Gua oder

Tai Chi in ihr Repertoire aufnehmen.

Die inneren Kampfkünste und geistige Gesundheit

Innere Kampfkunst für Teenager

Einige der inneren Kampfkünste können Menschen helfen, die psychi-

sche Probleme haben, besonders in ihrer Jugend. Wir leben zurzeit und

wahrscheinlich auch in Zukunft in einem Zeitalter der Überbevölkerung.

Eines der Probleme, die diese mit sich bringt, ist, dass es viel Gewalt un-

ter Jugendlichen gibt, besonders in den städtischen Ballungszentren der

westlichen Welt. Der Aspekt der daoistischen Meditation im Ba Gua, mit

dessen Hilfe man lernen kann, innere Konflikte aufzulösen, ohne auf jenes

gewalttätige Verhalten zurückzugreifen, das Bestandteil anderer aggressi-

verer Kampfkünste ist, verleiht den inneren Kampfkünsten das Potential,

jungen Leuten zu helfen, das „wilde Tier in ihrem Inneren" zu bändigen.

Unter der Gewalttätigkeit der Teenager und jungen Männer in ihren frühen

Zwanzigern liegt sehr viel Apathie, Verweigerung, Hoffnungslosigkeit und

Furcht vor den dunklen, unbewussten Bereichen in unserer Gesellschaft

und im eigenen Körper/Geist verborgen. Man könnte eine der Hauptquellen

von Gewaltverbrechen und menschlichem Fehlverhalten - einschließlich

der Drogensucht - entschärfen, wenn man neue Methoden entwickeln

würde, diese dunklen Seiten ans Licht zu bringen, bevor aus dem verhal-

tensgestörten Teenager ein selbstzerstörerischer Erwachsener wird.

Die wahllose Gewalttätigkeit der Jungendlichen zerfrisst das Gewebe

der Gesellschaft. Jungendliche mit einem starken, klaren und positiven

Selbstbild sind wesentlich weniger gefährdet, sich selbst und anderen

Schaden zuzufügen. Gewalttätige Teenager brauchen oft eine Struktur, an

die sie glauben können. Eine solche Struktur findet sich in den Kampf-

433

künsten. Zu ihren Elementen gehören Systeme der Rangordnung, die auf

Können basieren und die Individualität fördern sowie dazu motivieren, eine

Führungsrolle zu übernehmen. Außerdem gehören dazu die Entwicklung

von körperlicher Stärke und Koordination sowie eine stark interaktive

Gruppe, der das Individuum angehören und mit der es sich auf positive

Weise identifizieren kann.

Was die inneren Kampfkünste für die geistige Gesundheit leisten

In diesem Buch schließt sich nun ein Kreis und wir kommen zum Thema des

ersten Kapitels zurück: dem animalischen, dem humanen und dem spiritu-

ellen Ansatz in den Kampfkünsten. Tiere reagieren auf instinktive Triebe,

die sie nicht zu kontrollieren vermögen und die ihr äußeres Verhalten

bestimmen. Menschen besitzen die Fähigkeit, zu erkennen, wann sie von

ihren animalischen Instinkten in Besitz genommen sind. Oft besitzen sie

allerdings nicht die Geduld oder die psychische Ausgeglichenheit, um dann

einen Schritt zurück zu machen, sich einzugestehen, dass sie von ihren

animalischen Instinkten überwältig wurden, und sich zu entscheiden, ob sie

sich wie Tiere verhalten oder den Weg der Humanität einschlagen wollen.

Durch die fortgesetzte Übung der inneren Kampfkünste können Men-

schen ihre Fähigkeit trainieren, ihre Emotionen zu beobachten und den

kritischen Moment abzupassen, in dem sie sich dazu entschließen können,

sich über den Modus operandi ihrer animalischen Instinkte hinwegzuset-

zen. Dieses Vermögen, abzuwarten und eine bewusste Entscheidung zu tref-

fen, bevor man handelt, wird immer dann trainiert, wenn ein Ausübender

eine Soloform oder eine Kampfanwendung übt. In den Solobewegungen

geschieht dies während des Wartens auf den entscheidenden Sekunden-

bruchteil, der benötigt wird, um den Geist zu mobilisieren, bevor das Chi

folgt und dem Körper signalisiert, dass er handeln soll. In den Kampfan-

wendungen geschieht dies, wenn der Praktizierende abwartet und zuerst die

Absichten des Gegners beobachtet und dabei abwägt, welche Folgerungen

eine bestimmte Aktion (möglicher Angriff, Verteidigung oder Gegenangriff)

haben könnte, bevor er in eine Lücke hineinschlüpft und die Kampfsitua-

tion zu seinen Gunsten ausnutzt. Menschen sind in der Lage, abzuwarten

und sich selbst zu beobachten, bevor sie aktiv werden; Tiere tun das oft

nicht, da sie instinktiv auf einer hormonellen Ebene reagieren.

434

In psychologischer Hinsicht werden „Yang"-Emotionen wie Angst, Wut,

grenzenloses Begehren und die damit verbundene Frustration durch die

Übung der inneren Kampfkünste allmählich reduziert. Verschiedene innere

Praktiken tragen zur Reduzierung dieser nur allzu menschlichen Gefühle

bei, die die Lebensfreude verringern. Zu diesen Praktiken gehören zuerst

einmal die Atemübungen, die den Geist zu beruhigen pflegen und die die

psychische Neigung, zu explodieren und um sich zu schlagen, abschwä-

chen. Als nächstes ist da die Beruhigung des Geistes, die das grundlegende

Ziel aller Soloübungen in den inneren Kampfkünsten und eine fundamen-

tale Komponente ihrer Kampfanwendungen ist. Wenn diese mentale und

emotionale Stille im Nervensystem Platz greift und „verkörpert" wird, dann

bringt sie die Physiologie ins Gleichgewicht, beruhigt und verändert sie,

so dass viele der unbewussten Auslöser beseitigt werden, die die Neigung

zu Frustration und Zorn hormonell aufrechterhalten.

Die inneren Kampfkünste entwickeln Geduld. Die Entwicklung von

Geduld erzeugt wiederum ein Gefühl der inneren Gelassenheit und führt

dazu, dass wir das Leben mit all seinen oft unkontrollierbaren Umständen

anzunehmen vermögen. Das führt zu einem verstärkten Gefühl innerer

Ausgeglichenheit und der Fähigkeit, sich in seiner Haut wohl zu fühlen.

Geistige Gesundheit setzt auf einer bestimmten Ebene die Fähigkeit voraus,

sich auf realistische Weise sowohl mit äußeren Ereignissen zu arrangieren,

die wir nicht zu kontrollieren vermögen (so sehr wir uns auch wünschen

mögen, alles unter Kontrolle zu halten) sowie unsere Grenzen zu kennen

(etwa wenn wir eine Bewegung ausführen möchten, lange bevor wir sie

ausreichend geübt haben). All das braucht Zeit und Geduld, bis es eini-

germaßen glatt funktioniert.

„Yin"-Emotionen des Mangels an Selbstwertgefühl (die als Kompensa-

tion wiederum zu allen möglichen negativen „Yang"-Emotionen führen

können), selbstzerstörerische Neigungen, Apathie, Mangel an Durchhal-

tevermögen und Depressionen werden ebenfalls durch die Übung innerer

Kampfkünste positiv beeinflusst. Alles, was die Energie einer Person in

Bewegung setzt, ist potentiell dazu fähig, die physiologischen Vorausset-

zungen, die die Disposition zu allen möglichen Depressionen erzeugen,

zu verändern. Die hochenergetischen Übungen mit schnellen Bewegungen

(wie etwas das schnelle Kreisgehen im Ba Gua oder die Übung schneller

Hiebe oder schneller Formen im Tai Chi und Hsing-I) können besonders

hilfreich sein, wo es darum geht, die Energie eines Menschen aus einem

deprimierten Zustand herauszuführen.

435

Wenn jemand immer mehr Fertigkeiten in den inneren Kampfkünsten

erlangt, kann das sein Selbstvertrauen allmählich und in vieler Hinsicht

vergrößern. Indem ein Mensch tatsächliche Kompetenz in etwas erlangt,

das von Natur aus nicht einfach ist, entwickelt er Konsequenz und reali-

siert, was sich im Leben alles erreichen lässt. Das erzeugt ein realistisches

Gegengewicht gegen frühere Neigungen, sich Gefühlen des Versagens

und der Wertlosigkeit hinzugeben. Außerdem wird man sich durch die

Praxis der inneren Kampfkünste bewusst, dass man über längere Zeit mit

seinem eigenen Inneren in Kontakt sein kann, ohne sich dabei unwohl zu

fühlen. Je mehr sich ein Mensch in die spirituellen Praktiken der Kampf-

künste vertieft, desto klarer und großmütiger wird das von ihm selbst

wahrgenommene innere Milieu. Sobald das geschieht, nimmt der Hang zu

selbstzerstörerischem Verhalten, das von unbewussten Motiven angetrieben

wird, ganz von selbst ab.

Wenn man herausfindet, dass positive Aktivitäten zu echter innerer

Bereicherung und Kompetenz führen, dann entzieht das allmählich auch

der Apathie den Boden, in dem sie wurzelt und aus dem sie erwächst. Diese

Bewegung über die Apathie hinaus in eine positivere Richtung in unserem

Leben gehört zum Kern aller spirituellen Praktiken der Kampfkünste.

Wenn ein Ausübender auf die spirituelle Ebene der Praxis der Kampf-

kunst fortschreitet, dann strebt er oder sie ganz bewusst danach, all das

aufzulösen, was das volle Erblühen von Liebe, Mitgefühl, Gleichmut, Ver-

gebung, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Weisheit verhindert. Diese Eigen-

schaften tragen zu einem gesunden psychischen Umfeld bei und besitzen

das Potential, alle psychischen Begrenzungen zu transzendieren." Auf

diese Weise kann ein Mensch seine eigene „niedere Natur" bezwingen und

damit einen „Sieg" davontragen, der ihn zur Verwirklichung des Potentials

befähigt, mit dem alle Menschen geboren werden.

57 Ganz gleich, welche positiven Wirkungen die inneren Kampfkünste auf die geistige

Gesundheit haben mögen, sollte man sich doch dessen bewusst sein, dass sie kein

Ersatz für eine Psychotherapie sein können. Wer also unter emotionalen und mentalen

Problemen leidet, sollte einen qualifizierten Psychotherapeuten aufsuchen.

436

Portrait eines Meisters der inneren Künste

Andere Mensehen heilen - Huang Hsi I und das therapeutische Chi

Der kräftig gebaute Huang Hsi I hatte etwa dieselbe

Körpergröße wie ein durchschnittlicher amerikani-

scher Mann, war damit jedoch für taiwanesische

Verhältnisse ziemlich groß. Seine Kraft und seine

Überfülle an Chi (sowohl an natürlichem als auch

an antrainiertem Chi) und seine großen, ungemein

sensiblen Hände machten ihn zu einem großartigen

Heiler auf dem Gebiet der chinesischen therapeuti-

schen Körperarbeit mit Chi Gung sowie der Osteopathie.

Wie viele Heiler in Taiwan, kam er aus einem ländlichen Milieu und hatte

deshalb eine starke innere Beziehung zu allem Lebendigen, einschließlich

der Pflanzen und Kräuter. Er liebte es, für andere zu kochen und er war

einer der wenigen Menschen, die ich je getroffen haben, welche es ver-

standen, so mit medizinischen Kräutern zu kochen, dass die Gerichte auch

gut schmeckten. Huang war körperlich sehr geschmeidig und besaß die

liebenswerte Angewohnheit, mit den flachen Fußsohlen auf der Sitzfläche

auf einem kleinen Hocker zu kauern, während er telefonierte.

Auch wenn Huang sich nach moderner westlicher Manier kleidete, war

er doch ein sehr altmodischer, konservativer Chinese mit einem Herz aus

Gold. Selbst nach chinesischen Maßstäben war er ziemlich exzentrisch.

Während der Jahre, in denen wir einen Wohnraum miteinander teilten, leb-

te er entsprechend den Jahreszeiten nach einer ländlichen inneren Uhr. Er

kümmerte sich wenig um die von Uhren angezeigte Zeit, was für mich und

viele andere seiner Bekannten außerordentlich frustrierend war. Schließ-

lich stellten wir uns alle auf Huangs Gefühl für den natürlichen Fluss der

Dinge ein und verabschiedeten uns von unseren eigenen Terminplänen und

Erwartungen. Als ich mit Huang zusammenlebte, lernte er, dessen Mut-

tersprache Taiwanesisch war, gerade Mandarin zu sprechen. Auch wenn

sein Mandarin schließlich ganz gut wurde, führte es zu jener Zeit doch

aus sprachlichen und kulturellen Gründen zu vielen komischen Irrtümern.

Diese Kommunikationsprobleme hätten die ganze Situation unerträglich

machen können, wenn wir nicht eine solch natürliche Zuneigung zuein-

ander empfunden hätten und ich nicht eine solch große Hochachtung vor

seinen Fertigkeiten gehabt hätte. Außerdem gefiel mir sein Sinn für Hu-

mor. Huang war nicht nur ein herausragender Adept der inneren Kampf-

kunst, sondern auch einer der begabtesten Chi-Gung-Heiler und Körper-

therapeuten, die ich während all meiner Jahre im Osten getroffen habe.

437

Ich lebte in den Jahren 1978 und 1979 mit Huang Hsi I zusammen und

studierte bei ihm. Zu jener Zeit war er einer der kraftvollsten Hsing-I-

Schüler von Hung I Hsiang. Vor, während und nach seiner Zeit bei Hung

schulte Huang sich in aller Stille bei einigen der besten alten Meister

der inneren Kampfkünste, die vom Festland nach Taiwan gekommen wa-

ren. Während jener Zeit, in der wir Zimmergenossen waren, beherrschte

Huang unter allen Schülern von Hung das Rou Shou eindeutig mit der

größten Finesse und Subtilität.

Huang führte mich in die Wirbelsäulenübungen des Chi Gung ein und

nahm entscheidenden Einfluss auf mein Training im Chi Gung Tui Na.

Während meines zweiten längeren Aufenthalts in Taiwan trainierte ich

weniger regelmäßig bei Hung I Hsiang (siehe Seite 316) und konnte viele

der entstandenen Lücken mit Hilfe von Huang füllen. Huang behandelte

mich wie einen jüngeren Bruder und so umgingen wir einen großen Teil

Der Autor in Beijing, China, bei der Ausübung von Chi Gung Tui Na,

einer medizinischen Spezialität Chinas, die Chi-Techniken mit manueller

Körperarbeit verbindet. Hier projiziert er Chi aus seinen Fingern durch

die Achselhöhle des Patienten in seinen Körper, um mit dem Herzen zu

arbeiten.

Der Autor hält den Kopf des Patienten in seinen Händen und benutzt die

Fingern und Handflächen, um Chi-Blockaden im Kopf und Nacken des

Patienten zu beseitigen.

438

der seltsamen konfuzianischen Bräuche in Hinsicht auf ein Meister-Schü-

ler-Verhältnis, die das Leben neben ihm für mich als Ausländer sonst

überaus kompliziert gemacht hätten. Huangs Fertigkeiten im Hsing-I und

Ba Gua waren beeindruckend und seine Beherrschung des inneren daois-

tischen Chi Gung war für einen jungen Mann ganz außerordentlich.

Was seine Lehrmethoden anging, gehörte Huang zur alten Schule: Er ließ

seine Schüler darum ringen, den wesentlichen Sinn einer inneren Technik

ausgehend von angedeuteten, aber nie wirklich ausgesprochenen Infor-

mationen selber herauszufinden. Huang besaß ein großes Talent, Unter-

weisungen zu geben, ohne die Dinge direkt auszusprechen, was zu den

klassischen Lehrmethoden der Daoisten gehört.

Vieles von dem, was Hung I Hsiang lehrte, vermochte ich erst durch die

Unterweisungen Huangs ganz und gar zu verstehen. Huang war auch der

erste, der mich begreifen ließ, wie wichtig die daoistische Methode der

Arbeit mit den einzelnen Wirbeln der Wirbelsäule und dem gesamten

zerebro-spinalen System ist. Es war die persönliche Anwendung vieler

der von ihm gelernten Techniken, die es mir ermöglichte, nach einem

Autounfall im Jahre 1982, bei dem ich schwere Rückenverletzungen er-

litt (Wirbelbrüche und Risse des weichen Gewebes), den Heilungsprozess

einzuleiten. Ohne die das Leben nährenden Unterweisungen über das

Wirbelsäulen-Chi-Gung, die ich von Huang Hsi I, Liu Hung Chieh und

einigen anderen daoistischen Meistern erhalten habe, hätte ich nach je-

nem Unfall wohl nie wieder laufen können und wäre wahrscheinlich bei

diesem Unfall selbst ums Leben gekommen. Hungs Methoden halfen mir

enorm, mit den andauernden Schmerzen umzugehen, unter denen ich

unmittelbar nach dem Umfall litt. Später half mir das von Lin Du Ying

gelehrte Tai Chi des Alten Yang-Stils meinen oberen Rücken und meinen

Nacken zu heilen, und schließlich heilte ich mit dem von Liu gelehrten

Wu-Stil Tai Chi auch meinen unteren Rücken.

Huang war ein Spezialist in den Standposituren des daoistischen Chi

Gung, in der Chi-Arbeit des Hsing-I und den Methoden der Manifestation

von Licht im Körper durch die Chi-Gung-Übungen des Stehens und der

spontanen Bewegungen. Huang benutzte sein Wissen um das Chi, die

Arbeit mit Handbewegungen des Ba Gua und die inneren Kampfküns-

te, um diese Techniken direkt im Bereich der Therapie und des Heilens

anzuwenden. Er baute mit der Zeit eine sehr erfolgreiche Praxis als Chi-

Gung-Arzt auf.

439

Bruce Frantzis mit seinem Hauptlehrer, dem taoistischen Linienhalter

Meister Liu Hung Chieh, der ihn dazu ermächtigte, die Wasser-Methode der

taoistischen Meditation zu lehren.

Das Dao der spirituellen Kampfkünste

Eine Brücke zur daoistischen Meditation

Was ist eine spirituelle Kampfkunst?

Wenn, einfach formuliert, „Kampfkunst" die Kunst des Kämpfens bedeutet

und „Spiritualität" die Kunst ist, Erleuchtung zu erlangen, dann ist „spi-

rituelle Kampfkunst" die Kunst der nahtlosen Verbindung dieser beiden.

Das sie kennzeichnende Charakteristikum ist die Betonung von Meditation

und Spiritualität sowie eine unerschütterliche Verpflichtung zur Praxis

beider.

In diesem Kontext gehen die Kampfkünstler über den bloßen Erwerb

und die Ausübung von Techniken zur körperlichen Selbstverteidigung und

für den Kampf hinaus. Sie lernen nun, welchen Einfluss ihr Denken und

ihr Geist während des Kämpfens auf ihre innere Welt haben. Bildlich aus-

gedrückt, wird das Training in den inneren Kampfkünsten zu der äußeren

Form oder dem Gefäß, welches das Wasser der spirituellen Erkundung und

des Erwachens aufnimmt.

Hilfsmittel für den Kampf stehen sowohl auf der körperlichen Ebene als

auch in den begleitenden mentalen Strategien bereit. Die Hilfsmittel der

Spiritualität finden sich im Herzen des Kampfkünstlers, in seinem Denken

und seinem Geist, in den Energien, die es ihm erlauben, zu funktionieren

und sich mit anderen zu verbinden, sowie in der Weise, wie er sein Ge-

wahrsein und seine Intention ausrichtet.

Statt mit äußeren Feinden zu kämpfen und sie zu besiegen, setzen

sich Kampfkünstler auf dem spirituellen Pfad mit ihren eigenen inneren,

spirituellen Feinden auseinander, die in der Tiefe ihrer Seele leben. Dabei

nehmen sie die größte Herausforderung der menschlichen Existenz an:

441

9

in der tiefsten Tiefe ihres Kerns zu einem entspannten, ausgeglichenen,

mitfühlenden und freien Menschen zu werden. Wenn ihnen dabei Erfolg

beschieden ist, dann führt das dazu, dass sie für immer unmittelbar mit

allen Erfahrungen des Lebens verbunden und nicht von diesen getrennt

sind.

Die spirituellen Kampfkünste können den Kampfkünstlem jene Fähig-

keiten vermitteln, die sie brauchen, um Spiritualität wahrhaft auffinden

und verkörpern zu können, bis sie erwachen und aus einem durchgängigen

Gewahrsein des Bewusstseins, das sie mit der das Universum durchdrin-

genden Chi-Energie verbindet, heraus leben und auf das hinarbeiten, was

man im Osten das DAO der Erleuchtung nennt.

Der spirituelle Pfad ist in den Kampfkünsten eine zusätzliche Option.

Gewöhnliche Kampfkünstler können zu großartigen Kämpfern werden,

auch ohne sich der Spiritualität zu widmen. Sie können, während sie den

Kampf kontemplieren oder in einen Kampf verwickelt sind, selbstbewusst,

entspannt, locker und kompetent sein.

Spirituelle Praxis entwickelt das Potential eines Kampfkünstlers, der

dadurch zu einem großen spirituellen Krieger auf dem Schlachtfeld des

Lebens werden kann.

Den meisten Ausübenden der inneren und äußeren Kampfkunst mangelt

es an direkter praktischer Erfahrung mit der daoistischen Spiritualität. Der

Abschnitt „Der spirituelle Ansatz" im ersten Kapitel dieses Buches gab eine

kurze Einführung in das Thema. Dieses Schlusskapitel wird nun erkunden,

auf welche Weise die spirituellen Kampfkünste die Trainingsmethoden der

inneren Kampfkünste nahtlos mit der daoistischen Meditation verbinden.

Ich werde darstellen, welches die hauptsächlichen Ziele der spirituellen

Kampfkünste sind und wie die Schulung im Allgemeinen fortschreitet.

Der Autor hat sich ganz bewusst dafür entschieden, hier keine spezifi-

schen Techniken vorzustellen, und zwar aus folgenden drei Gründen:

Zuerst einmal, und das ist der wichtigste Grund, geht es darum, künftige

Generationen vor möglichen Missverständnissen und dem Missbrauch

daoistischer Praktiken zu schützen. Jemand, der nur teilweise in den Tech-

niken der spirituellen Kampfkunst geschult ist, könnte nämlich nicht genau

verstehen, wie sie funktionieren, und könnte, was noch schlimmer wäre,

mit sich selbst oder unwissenden Schülern herumexperimentieren und

damit möglicherweise großen Schaden anrichten. Solche Techniken zu

vermitteln, könnte etwa so sein, als gäbe man einem kleinen Kind eine

geladene Pistole in die Hände.

442

Da es zudem so viele spezifische Techniken gibt, wäre ein eigenes Buch,

das noch umfangreicher ist als das vorliegende, notwendig, um sie alle

im Detail zu beschreiben.

Und drittens, das ist die zugrunde liegende Botschaft dieses Kapitels,

sollte jemand, der die spirituellen Kampfkünste wirklich erlernen und mit

Erfolg praktizieren will, einen echten Meister aufsuchen und sich nicht

primär auf Bücher verlassen.

Spirituelle Kampfkünste sind nichts für Feiglinge

Die spirituellen Kampfkünste sind ein schneller, aber auch etwas Furcht

einflößender spiritueller Pfad. Warum? Das Sparring ist intensiv. Die spi-

rituellen Kampfkünste verwenden die Furcht erregende, krasse Qualität

des Kampfes, um es dem Kampfkünstler zu ermöglichen, die vielen Arten

von geistigen Kinkerlitzchen, die er vielleicht in seiner Seele mit sich

herumträgt, rasch ans Licht zu bringen und zu erkennen. Indem sich die

Schüler ganz bewusst der Gefahr und kritischen Situationen aussetzen,

leiten ihre Lehrer sie dazu an, sich den ganzen geistigen Mist und Moder,

der ihre Seele verkrustet hat und gefangen hält, bewusst zu machen. Das

hilft, die Neigung von Kampfkünstlern, sich nicht mit ihren inneren Dä-

monen zu konfrontieren, zu umgehen - eine Konfrontation, der sie unter

weniger Druck oder außerhalb des Kampfgeschehens sonst leicht aus dem

Weg gehen könnten.

Den spirituellen Kampfkünstlern wird dann beigebracht, in allen Mo-

dalitäten der Praxis (stehend, sitzend, in Bewegung, im Liegen und in

der Beziehung zu anderen) sozusagen „Hausputz" zu machen. Das ge-

schieht mit deutlich größerem Tempo, als dies in der relativ passiven

Vorgehensweise der meisten Meditationsmethoden der Fall ist. Man kann

den Prozess mit der Entstehung eines Diamanten (spirituelles Erwachen)

aus einem Stück Kohle (geistige Dunkelheit) vergleichen. Die spirituellen

Kampfkünste benutzen Sparring und Kampftechniken, um den Diamanten

innerhalb eines Lebens oder einiger weniger Inkarnationen zu erzeugen,

indem sie das Stück Kohle, bildlich gesprochen, einem höchst intensiven

Druck aussetzen. Was die spirituellen Kampfkünste zu einem echten be-

schleunigten Pfad der spirituellen Entwicklung macht, ist die Tatsache,

dass der Praktizierende sehr schnell mit seinen schrecklichsten inneren

Dämonen konfrontiert wird. Dies ist weit entfernt von dem klassischen

Reinigungsprozess, der sich über 10.000 Inkarnationen erstreckt.

443

Das Bittere essen

In den Kampfkünsten wird oft der Ausdruck „das Bittere essen" verwendet.

Er bezieht sich im Allgemeinen auf die Schwierigkeiten und Härten, denen

Kampfkünstler im Verlauf des ständig zu wiederholenden und manchmal

schmerzhaften körperlichen Trainings begegnen.

Die spirituellen Kampfkünste sind eine noch wesentlich schmerzlichere

Weise, das Bittere zu essen.

Wenn es so leicht wäre, ein spiritueller Mensch zu werden und Er-

leuchtung zu erlangen, dann wäre jedermann bereits erleuchtet. Doch

offensichtlich sind das die meisten Menschen nicht. Ein alter Leitsatz der

inneren Kampfkünste trifft im spirituellen Bereich noch mehr zu: „Kleine

Bemühung bringt kleinen Gewinn, große Bemühung bringt großen Ge-

winn."

Im Allgemeinen setzen die spirituellen Kampfkünste mehr Mumm vo-

raus. Sie verlangen ein stärkeres und tieferes inneres Engagement als die

gewöhnlichen Kampfkünste. Die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die nötig

sind, um das innere Gewahrsein zu entwickeln, verlangen nach Möglichkeit

jede Minute des Lebens eines spirituellen Kampfkünstlers. Die schwierigen

Phasen innerhalb des harten und zeitaufwendigen körperlichen Trainings

werden hier im Kleinen wie im Großen noch sehr viel schwieriger sein,

da es hier auf immer subtileren Ebenen um die Natur der innersten emo-

tionalen, mentalen, seelischen und karmischen Defekte und Verletzungen

des Kampfkünstlers geht.

Viele Praktizierende betrügen sich selbst und hegen wundervolle Phan-

tasien darüber, wie leicht sie zu einem Weltmeister werden, außerordentli-

che Bewusstseinszustände erreichen oder „Erleuchtung" erlangen können.

Die Menschen haben ein geradezu unglaubliches Talent, über ihren eigenen

inneren Müll, ihre persönlichen Dämonen und andere spirituelle Feinde

hinwegzusehen und sie zu leugnen. Es kommt ein Punkt, an dem der

Praktizierende sich entscheiden muss, ob er oder sie seine Suche aufgeben

oder sich weiterhin mit dem auseinandersetzen will, was er oder sie tief

in sich selbst vorfindet.

444

Wann ist ein Pfad „spirituell" -die daoistische Perspektive

An Spiritualität zu glauben, ist leicht. Ob man jedoch über reine Lippen-

bekenntnisse hinausgeht, zeigt sich daran, ob man im Alltag wahrhaftig

spirituelle Qualitäten verkörpert. Den Pfad der Spiritualität zu beschreiten,

bedeutet in den spirituellen Kampfkünsten wenigstens drei Dinge:

Zuerst einmal muss die Spiritualität die innerste Natur oder den We-

senskern des Daseins eines Praktizierenden erwecken, so dass er in seinem

Innersten ganz und gar wach und lebendig und nicht etwa halb schlafend

ist. Wenn eine Person erwacht ist, dann kann ihre eigene innerste Essenz

oder ihre Seele eine direkte persönliche Beziehung zu den natürlichen

Kräften und Energien, die das Bewusstsein des Universums durchdringen,

herstellen.

Schlaglicht auf ein spezielles Thema

Was das Wort „Dao" bedeutet

Die spirituellen Kampfkünste, die in diesem Kapitel diskutiert werden,

kommen aus der Wasser-Linie oder Wasser-Tradition des Daoismus. Diese

gründet einerseits auf den im Daodejing (Tao-te-king, wörtlich „Der Weg

und seine Wirkkraft") niedergelegten Lehren des Laozi (Laotse) sowie an-

dererseits auf dem Yijing (I Ging, „Buch der Wandlungen"), das im Dao-

ismus selbst weithin als dessen Bibel angesehen wird.

In westliche Terminologie übersetzt hat das Wort „Dao" drei Bedeutun-

gen: Zuerst einmal ist Dao die „Weise", auf die etwas getan oder prakti-

ziert wird, sei es nun eine weltliche Verrichtung, eine Kampfkunst oder

eine Meditationsübung. Zweitens bezeichnet Dao den Pfad oder „Weg",

den jemand in seinem Leben beschreitet. Und drittens bezieht Dao sich

auf die Philosophie und religiöse Praxis, die vor vielen Jahrtausenden

in China entwickelt wurde; sie ist als vitale Tradition in China bis heute

lebendig geblieben.

Der Name vieler japanischer und koreanischer Kampfkünste endet mit

der Silbe „do" (z. B. Budo, Judo, Tae Kwon Do), was im Japanischen und

Koreanischen eine Übersetzung von Dao ist. Das bedeutet im Allgemei-

nen jedoch nicht, dass hier auch eine engere Beziehung zu dem besteht,

was der Daoismus oder die daoistische Meditation in spiritueller Hinsicht

implizieren. Es bedeutet vielmehr, dass diese Kampfkünste Kampftechni-

445

ken mit Methoden der Charakterbildung sowie etwas Moralphilosophie

(meist Konfuzianischen Ursprungs mit buddhistischen Einsprengseln und

einer Prise einer lokalen Religion wie dem Shinto) verbinden. So ist zum

Beispiel das japanische Wort für Kampfkunst „bu" (Krieger). Fügt man

die Silbe „do" hinzu, so heißt Budo der „Weg des Kriegers". Das Wort

„do" wird hier als ein Umgangssprachliches Äquivalent des Wortes Dao

verwendet.

Im vorliegenden Kapitel geht es um die ursprüngliche Bedeutung dieser

Budo-Terminologie. Sie basiert auf dem kompletten spirituellen Kontext

des Daoismus, einer Tradition, deren Wurzeln Jahrtausende zurückrei-

chen.

Zweitens muss Spiritualität die innerste Identität eines Kampfkünstlers

grundlegend dahingehend verändern, dass er oder sie sich mit universeller

Liebe und Mitgefühl auf das Wohlergehen des Ganzen konzentriert, statt in

erster Linie mit seinem eigenen Interesse und seinem eigenen Wohlergehen

und dem seines jeweiligen Volkes beschäftigt zu sein.

Von einem östlichen Standpunkt gesehen, ist ein Pfad dann nicht spi-

rituell, wenn seine Praxis oder das damit verbundene Glaubenssystem

daraufhinausläuft , eine persönliche Identität zu erzeugen, die im Grunde

auf Abgrenzung, dem Ego, Eigeninteresse oder einer ethnischen Identität

basiert. Und ein Pfad ist auch dann nicht spirituell, wenn er eine Person

hervorbringt, die geistig verwirrt und hauptsächlich darauf fixiert ist,

übersinnliche, parapsychologische und mediale Kräfte zu erlangen und

zu benutzen.

Schließlich muss Spiritualität den Kampfkünstler auf authentische Weise

moralisch machen - zu einem Menschen mit einem ehrlichen, entwickelten

und starken moralischen Bewusstsein, das auf natürliche Weise seinem

Innersten entspringt und nicht nur eine oberflächliche Zurschaustellung

guten Benehmens ist.

Ein moralisches Bewusstsein entwickeln

Ein starkes moralisches Bewusstsein setzt in einer multikulturellen Welt, in

der es die unterschiedlichsten „Wahrheiten" gibt, eine ernsthafte Selbster-

forschung und Hinterfragung der eigenen Person voraus. Wollen spirituelle

Kampfkünstler diese Voraussetzung erfüllen, müssen sie über die bloße

Befolgung von außen auferlegter Regeln und Gebote irgendeines Volkes,

446

einer Religion und so weiter hinausgehen. Sonntags zur Kirche zu gehen

und seine Sünden zu beichten, während man den Rest der Woche korrupt,

bösartig oder teilnahmslos bleibt, reicht dann nicht mehr aus.

Nach tiefen moralischen Prinzipien zu leben heißt, die Regeln, nach

denen man leben möchte, tief zu hinterfragen, sie zu verstehen und mit

ihnen übereinzustimmen. Es bedeutet zu erkennen, was für den inneren

Prozess der Entscheidungsfindung wirklich wesentlich und wertvoll ist.

Und es bedeutet, die menschliche Torheit dort, wo wir ihr begegnen, als

solche zu erkennen.

Eine echte Moralität und eine empfindsame Intelligenz ermöglichen

es einem Menschen, in einem Leben voller komplizierter und unvorher-

sehbarer Situationen, die Klippen komplexer und oft widersprüchlicher

moralischer Vieldeutigkeiten sicher zu umschiffen. Ohne ein solches mo-

ralisches Bewusstsein werden Verblendung, tiefes spirituelles Unbehagen

und spirituelle Lähmung - die der Fluch unserer modernen Welt sind - für

immer unaufgelöst bleiben.

Identifikation mit dem Universalen

Über die ethnische Identität hinauszugehen bedeutet, eher von universalen

als von persönlichen, sozialen oder völkischen Prinzipien motiviert zu sein.

Spirituelle Kampfkünstler lernen, jeden Menschen so gut wie nur möglich

zu behandeln, ganz gleich, ob er ein Bekannter oder ein Fremder ist oder

welche Gefühle man gegenüber dieser Person hegt. Sie lassen bestimmten

Menschen nicht nur deshalb eine Vorzugsbehandlung zukommen, weil sie

Mitglieder ihres Stammes, ihrer Familie, Religion, Rasse und so weiter sind.

Und sie rechtfertigen die schlechte Behandlung anderer auch nicht damit,

dass diese nicht zu ihrem eigenen Stamm gehören. Je tiefer die Menschen

aus spiritueller Sicht in Schlaf versunken sind, desto wahrscheinlicher ist,

dass ihr Leben von engstirnigen ethnischen Belangen bestimmt ist.

Das von den Daoisten erfundene Yin-Yang-Symbol symbolisiert

Ausgeglichenheit. Es repräsentiert die daoistische Religion, so wie das Kreuz

das Christentum und der Davidsstern das Judentum symbolisiert.

447

Spirituelle Wesen leben aus einer Vision spirituellen Gewahrseins her-

aus, die im innersten Zentrum ihrer Seele lebendig ist. Sie vermögen die

Gemeinsamkeiten zu entdecken, die die Menschen miteinander verbinden,

anstatt in der sichtbaren und der unsichtbaren Welt Barrieren der eth-

nischen Identität zwischen „ich", „wir" und „die anderen" aufzubauen.

Diese Sichtweise ist vielen Religionen gemeinsam, auch wenn sie mit

unterschiedlichen Worten formuliert wird. „Liebe deinen Nächsten wie

dich selbst" ist eines der christlichen Ideale. Universales Mitgefühl, das

Ideal des Bodhisattva, ist das Ziel des Buddhismus. „Alles ist forderlich"

ist ein im Yijing ständig wiederkehrender Refrain.

Ausgeglichenheit und Mitgefühl erlangen: Der buddhistische und der daoistische Ansatz

Im täglichen Leben Ausgeglichenheit und Mitgefühl zu erlangen ist das

erste Ziel der spirituellen Kampfkünste. Obwohl diese beiden Eigenschaften

sich oberflächlich zu unterscheiden scheinen, stellen sie in Wirklichkeit

nur die beiden Seiten einer Medaille dar.

Ausgeglichenheit zu erlagen ist eine echte Herausforderung. Auf der

ganz und gar weltlichen Ebene besteht die Aufgabe darin, im alltäglichen

Leben so viel Gleichgewicht wie nur möglich zu erzeugen. Dazu gehört,

dass man die oft widerstreitenden Anforderungen einer spirituellen Praxis,

einer Familie, der persönlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Ver-

pflichtungen, des Engagements für andere, des Geldverdienens und eines

befriedigenden Lebensstils miteinander in Einklang bringt. Der Mangel an

Gleichgewicht in der heutigen, von Anforderungen überfrachteten Welt

macht viele Menschen verrückt. Er vernichtet die Lebensfreude und erzeugt

ein hohes Niveau an Stress, der das Leben der Menschen zerfrisst.

Im spirituellen Bereich besteht die Herausforderung darin, die verschie-

denen Ebenen von Gipfelerfahrungen oder überbewussten Zuständen (die

im Yoga „Samadhi" und im Buddhismus und Daoismus „Leere" genannt

werden) ins Gleichgewicht zu bringen und zu integrieren. Während der

Kampfkünstler immer tiefere Erfahrungen von Gewahrsein und Leere

macht, dringt er immer tiefer in seine eigene Essenz ein, bis wahres Gleich-

gewicht schließlich zu spiritueller Klarheit, Weisheit und Geschmeidigkeit

in allen Dingen, den sichtbaren wie den unsichtbaren, führt.

Mitgefühl umfasst für Daoisten auch die Bereitschaft, für die Förde-

rung der Allgemeinheit (die uns selbst umfasst) zu arbeiten. Sie bemühen

448

sich unablässig darum, Güte, Großzügigkeit, Toleranz und echte Demut

zu kultivieren. Sie sind bereit, alles und jeden unvoreingenommen zu

lieben und mit positiver Energie zu versehen. Sie können allem im Leben

vergeben, einschließlich sich selbst, und zwar für alles, was geschehen ist

und was noch geschehen mag. Vergebung zu üben und Groll loszulassen

ist für Kämpfer sehr schwer, seien sie nun gewöhnliche Kämpfer oder

spirituelle Kämpfer.

Die Daoisten glauben, dass der Same echten Mitgefühls ohne das Was-

ser des Ausgleichs nicht keimen und wachsen kann. Da den Menschen

das Gefühl für Stammeszugehörigkeit angeboren ist, gehen die Daoisten

davon aus, dass für die meisten Menschen echte selbstlose Liebe und ech-

tes Mitgefühl anfänglich außer Reichweite ist - außer als wohlmeinende

Bestrebung, als Hoffnung oder Wunsch. Deshalb meinen die Daoisten,

der Pfad des geringsten Widerstandes zur Verwirklichung von echtem

Mitgefühl bestünde darin, zuerst einmal das Fundament einer Praxis, die

zu Ausgeglichenheit führt, zu legen.

In den spirituellen Kampfkünsten geht man ständig zwischen Ausge-

glichenheit und Mitgefühl hin und her. Ist das Gleichgewicht erst einmal

erreicht und stabilisiert, dann verschiebt sich die Richtung und Betonung

der Übung hin zum Mitgefühl. Das Ziel besteht für den einzelnen darin,

sowohl Ausgeglichenheit als auch Mitgefühl zu verkörpern.

Im Buddhismus, insbesondere im Mahayana-Buddhismus, geht man

davon aus, dass Mitgefühl der Ausgeglichenheit vorausgehen muss und das

Fundament aller meditativen spirituellen Praxis sein sollte. Für die Bud-

dhisten ist Mitgefühl das geheime Mittel, das das Segelboot der mensch-

lichen Seele wie der Wind am schnellsten zum Ufer der Erleuchtung vo-

rantreiben kann. Sie glauben, dass es ohne Mitgefühl außerordentlich

schwierig ist, wirkliche Ausgeglichenheit zu erreichen und tief genug in

die Leere einzudringen und Weisheit zu erlangen.

Die Buddhisten beziehen diesen Standpunkt, weil sie glauben, dass

Mitgefühl oder Liebe so stark sind, dass sie alle negativen Gefühle - Zorn,

Hass, Neid und so weiter - in Schach halten oder bezwingen können, ganz

gleich wie tief diese eingeprägt sein mögen. Mitgefühl, Güte und Liebe

können der Tendenz vorbeugen oder entgegenwirken, dass die Neigung

eines Menschen zu einer negativen Kraft oder einem Dämon wird, was

leicht geschehen kann, wenn die spirituelle Praxis zur Entwicklung über-

sinnlicher Fähigkeiten führt.

449

Andere Wege der Umsetzung von Spiritualität in den Kampfkünsten

Wenn man eine echte Kampfkunst oder die Meditation über lange Zeit

regelmäßig praktiziert, so ist das ein ernstzunehmendes Engagement. Die

meisten Kampfkünstler pflegen das eine weitgehend auf Kosten des an-

deren. Und manche haben überhaupt keine Beziehung zu den spirituellen

Kampfkünsten. Für sie sind Formen und der Kampf selbst genug.

Bei Kampfkünstlern, die sich für Spiritualität interessieren, gibt es vier

verschiedene Weisen an die Spiritualität heranzugehen:

Sie können sich direkt mit den spirituellen Inneren Kampfkünsten be-

fassen. Vor Tausenden von Jahren haben die Daoisten herausgefunden, wie

sie den Kern ihrer Kampfkünste nahtlos mit ihren meditativen Traditionen

verbinden konnten. Sobald sich ein Kampfkünstler auf den spirituellen

Pfad begibt, wird er unter der Führung eines daoistischen Meisters oder

mehrerer daoistischer Meister, die sowohl die Kampfkunst als auch die

Meditation beherrschen, gleichzeitig in Meditation und der Kampfkunst

geschult.*

Andere können die Kampfkünste in einer Tradition erlernen und dann

anderswo hingehen, um sich auf einem Meditationsweg zu schulen, der

eine Verbindung zu ihrer spezifischen Kampfkunst-Tradition haben mag

oder nicht. Allerdings sind einige Kampfkünste kulturell mit spirituellen

Traditionen verbunden. So haben zum Beispiel die Kampfkünste Japans

und die Shaolin-Schulen Chinas eine Beziehung zum Zen; südostasiatische

Kampfkünste wie das Thai-Boxen oder Bando haben eine Beziehung zum

Vipassana. Obwohl diese spirituellen Traditionen sich mit den Kampfkunst-

Traditionen verbunden haben, betrachten die meisten Ausübenden der

Kampfkunst diese spirituellen Traditionen doch als etwas Zweitrangiges

und praktizieren sie getrennt von ihrer Kampfkunst. So hielt es auch der

* Die Tradition der buddhistischen spirituellen Kampfkünste wurde von Mönchen ent-

wickelt, die in Chinas altem Shaolin-Kloster sowohl die Kampfkunst als auch den

Chan-Buddhismus (der später zum Zen wurde) praktizierten. Traurigerweise existiert

die ursprüngliche Tradition der spirituellen Shaolin-Kampfkünste heute nicht mehr,

außer als Phantasieprodukt in Film und Fernsehen. Die reine Kampfkunst-Tradition

des Shaolin ist allerdings noch lebendig. Die Tradition der spirituellen Kampfkunst

des Shaolin begann zu verschwinden, als das Shaolin-Kloster im 16. Jahrhundert

zerstört wurde. Sämtliche Überreste dieser Tradition wurden schließlich von Mao

Zedongs Kulturrevolution (1966-1976), die darauf abzielte, alle alten Traditionen,

die die Entwicklung Chinas nach Maos Ansicht seit Jahrhunderten behindert hatten,

endgültig ausgelöscht.

450

Autor dieses Buches während seiner Teenager-Jahre. Er ging zum Karate-

oder Aikido-Training in ein Dojo und dann in ein Zendo, um Zen-Meditati-

on zu üben. Andersherum kann es sein, dass Buddhisten etwas Karate oder

Thai-Boxen als Ergänzung zu ihrer Hauptpraxis der Meditation üben.

Manche Kampfkünstler können eine spirituelle Tradition und eine

Kampfkunst-Tradition miteinander verschmelzen und eine neue Kampf-

kunst mit ausgesprochen spirituellen Zielen erschaffen. Ein Beispiel dafür

ist Morihei Ueshiba, der nach einer persönlichen Durchbruchserfahrung

zwei Traditionen auf schöpferische Art und Weise miteinander verband -

nämlich das Aikijitsu und die esoterische Omoto-Religion -, um daraus das

Aikido zu erschaffen, eine neue Kampfkunst, die heute noch existiert.*

Wieder andere können Kampfkünste und Meditation getrennt von-

einander praktizieren und sie in ihrem eigenen Inneren miteinander ver-

schmelzen, ohne jedoch eine neue spirituelle Schule der Kampfkunst zu

begründen. In dieser Hinsicht ist die Lebensgeschichte von Musashi Miya-

moto sehr aufschlussreich.

* Ueshiba schulte sich während seiner Zeit in China auch in den Kampfkunst-Aspekten

des Ba Gua, nicht j edoch in dessen spirituellen Tradi t ionen. (Siehe dazu auch

Seite 199 f.)

451

Schlaglicht auf ein spezielles Thema

Musashi Miyamoto

Musashi (1584 bis etwa

1645) war wahrscheinlich

der größte japanische Sa-

murai und einer der besten

Schwertmeister Japans. Der

Legende nach brachte ein

sehr mutiger und mitfühlen-

der buddhistischer Mönch

ihn, der er bereits zu einem

überragenden Schwertfech-

ter und Killer geworden war,

mit einem Trick dazu, die

buddhistischen Schriften zu

studieren.

Indem er den Respekt vor

Religion, den Musashi von

seiner Kultur mitbekommen

hatte, ausnutzte, brachte

der Mönch Musashi dazu,

sein Schwert zurückzulassen

und einen ausbruchsiche-

ren Raum zu betreten. Dort

schloss er Musashi ein, wohl wissend, dass er sein Leben damit aufs Spiel

setzte. Er war sich darüber im Klaren, dass Musashi sich, sobald er wieder

freikam, wahrscheinlich für den Gesichtsverlust, den er durch seine Ge-

fangennahme erlitten hatte, rächen und ihn töten würde.

Doch der Mönch riskierte sein Leben, weil er in Musashi einen Menschen

von großer Entschlossenheit und Begabung erkannt hatte, der das Poten-

tial besaß, in den tiefsten Kern menschlicher Befähigung vorzudringen.

Der Mönch sah auch jemanden, der unglücklicherweise zu einem Mörder-

Dämon geworden war, weil ein ungezügeltes Ego sich wie ein wildes Biest

seiner bemächtigt hatte.

Indem er Musashi zusammen mit einem Stapel buddhistischer Schriften

einschloss, hoffte der Mönch, dieses wilde Biest umzuwandeln und das

potentiell freie erleuchtete Wesen, das in ihm eingekerkert war, zu be-

freien. Nach Monaten der Lektüre und der Kontemplation dessen, was er

gelesen hatte und mit Hilfe von Gesprächen mit dem Mönch und Medi-

Der berühmte Ronin Musashi Miyamoto

tötet einen riesigen Nue, ein Fabelwesen

der japanischen Volklore.

452

tationsanweisungen, die er von ihm erhielt, beruhigte sich der psychische

Dämon in Musashi und löste sich auf. Während seine Seele allmählich

freier wurde, begann Musashi den Sinn der Leere zu verstehen und diese

zu erfahren. Nach einiger Zeit erwachte er aus seinem langen spirituellen

Schlaf.

Musashi bestätigte später, dass das, was während dieser Zeit geschehen

war, ihn nicht nur zu einem menschlichen Wesen gemacht hatte, sondern

dass es ihm auch ermöglichte, über die reine Schwerttechnik hinauszuge-

hen und sich die sublimen Möglichkeiten dessen zu erschließen, was ein

Schwert in der Hand eines Menschen sein kann. Er erreichte damit das

höchste Ziel eines jeden echten japanischen Samurai.

Drei Ebenen der spirituellen Kampfkünste

Im ersten Kapitel dieses Buches werden zwar der animalische, der mensch-

liche und der spirituelle Aspekt der Kampfkünste angesprochen, doch der

größte Teil des Buches beschäftigt sich damit, wie die Kraft der Inneren

Kampfkünste starke physische Krieger hervorbringen kann. Das achte Kapi-

tel, „Die Verwendung von Energie zur Heilung", diskutiert dann auch, wie

dieses Training Kampfkünstlern helfen kann, die persönliche Gesundheit

zu fördern und andere zu heilen.

Dieses Buch beschreibt auch, wie das Training im Nei Gung Kampfkünst-

lern die Befähigung verleiht, ihr Chi zu fühlen, es in Bewegung zu setzen

und zu kontrollieren. Haben sie erst einmal gelernt, in den Wassern des

Chi zu schwimmen, dann besitzen sie einen Hintergrund, der es ihnen er-

möglicht, auch die spirituellen Kampfkünste mit Erfolg zu praktizieren.

Die spirituellen Kampfkünste bauen auf der Progression von der ani-

malischen zur menschlichen und zur spirituellen Ebene der Schulung

auf: Werde zuerst ein kompetenter Kämpfer; werde als nächstes zu einem

guten Menschen; und werde zuletzt zu einem spirituellen Kampfkünstler.

All diese Ebenen hängen zunehmend von der Entwicklung der Chi-Kraft

des Nei Gung ab. Die zweite und die dritte Ebene werden schließlich ganz

mit den Techniken der daoistischen Meditation verschmolzen.

Die daoistische Meditation allein kann Menschen helfen, ihre Gesund-

heit zu fördern und zu erhalten. Auch wenn die von nicht die Kampfkunst

Praktizierenden ausgeübte daoistische Meditation gewisse Bewegungen

aus dem Bereich des Tai Chi und des Ba Gua enthalten kann, umfasst ihre

453

Übung im Allgemeinen nicht die meisten der geistigen Techniken und der

wesentlichen körperlichen Übungen, die jemanden in die Lage versetzen,

die Kunst des tatsächlichen körperlichen Kampfes zu beherrschen.

Die Ausübenden der spirituellen Kampfkünste üben körperliches Spar-

ring und kämpfen miteinander, während die Ausübenden der daoistischen

Meditation dies nicht tun. Wer eine spirituelle Kampfkunst praktiziert, muss

sich sowohl den Inneren Kampfkünsten als auch der Meditation widmen.

Ohne den ersten Grad des Trainings abgeschlossen zu haben, kann

der Kampfkünstler nicht auf die nächste Ebene fortschreiten. Und ohne

die erste und zweite Ebene des Trainings gemeistert zu haben, kann der

Kampfkünstler nicht mit den Übungen beginnen, die notwendig sind, um

ein spiritueller Krieger zu werden.

Ebene 1: Ein kompetenter Kämpfer werden

Auf der ersten Ebene des Trainings, der animalischen, lernt der Kampf-

künstler, zu einem kompetenten Kämpfer zu werden; außerdem fördert er

seine Gesundheit und erlangt eine gewisse innere Stabilität.

Die Ausübenden lernen, ihre Aufmerksamkeit und ihr Gewahrsein stark

zu konzentrieren. Sie vermögen zumindest zu kämpfen, ohne sich vor dem

Kampf zu fürchten. Dies sind Konstanten, die sowohl für die gewöhnlichen

inneren als auch für alle äußeren Stile von zentraler Bedeutung sind.

Die Praktizierenden lernen die wichtigen und wesentlichen Techniken

zum Öffnen und Schließen (Pulsieren), komplexe Atemmethoden, genaue

körperliche Ausrichtungen (damit ihr Chi nicht blockiert oder zerstreut

wird) und die äußere Auflösung (siehe Seite 131). Diese Übungen wer-

den helfen, destruktive Emotionen zu besänftigen und auszugleichen, so

dass sich gewalttätige Emotionen eher weniger als mehr manifestieren.

In dieser Trainingsphase lernen die Kampfkünstler zu begreifen, wie

schwer oder wie leicht es ihnen fällt, über längere Zeit zu trainieren. Sie

verstehen, dass das Auf und Ab des Trainings zwischen begeisternden

Gipfelerfahrungen und äußerst frustrierenden oder sogar langweiligen

Plateaus hin und her geht. Sie lernen, wie bedeutsam und wertvoll Geduld,

Disziplin und Beharrlichkeit sind. Sie erlangen mit der Zeit ein Verständnis

der Natur der inneren Reise und lernen, dass die Reise selbst ein integraler

Bestandteil des letzten Zieles ist.

Da Kampfkünste die Fähigkeit und sogar den Wunsch erzeugen können,

Gewalt auszuüben, müssen Grenzen gezogen werden, damit die Kampf-

454

künstler den Menschen, mit denen sie zusammenleben, keine Gewalt antun.

Diese Kampfkunst-Moralität wird in China „Wu De" genannt. Damit ist

gemeint, dass die Kampfkünstler einen Sinn für die Grundregeln guten

Betragens sowie Respekt besitzen und dass sie verstehen, wie notwendig

moralische Regeln sind, die das Stehlen, Lügen und Vergewaltigen ver-

bieten.

Ebene 2: Ein guter Mensch werden

In der humanen Phase des Trainings lernen die Kampfkünstler zuerst, ei-

nige der emotionalen, mentalen und psychischen Feinde in ihrem Inneren

zu besiegen. Dazu gehören jene psychischen Kräfte, denen die Menschen

im Alltag ständig unterliegen, wie zum Beispiel mangelnde Selbstkont-

rolle und destruktive Emotionen. Was diese Eigenschaften angeht, kann

es zu keiner drastischen Besserung kommen, solange die Kampfkünstler

nicht viele, die meisten oder alle ihrer inneren Dämonen überwinden.

Der Prozess, der hier abläuft, wird auf der dritten Ebene des Trainings

vollendet.

Doch auch wenn ein guter Mensch zu werden ein Fortschritt gegenü-

ber der niederen animalischen Seite des menschlichen Daseins ist, führt

dies noch nicht unbedingt dazu, dass ein Kampfkünstler auch spirituell

erwacht.

Während sie auf dieser Ebene fortschreiten, müssen die Kampfkünstler

gewisse innere Eigenschaften erreichen und stabilisieren; sie dürfen sich

zum Beispiel nicht mehr abtrennen, die Bodenhaftung verlieren oder sich

ablenken lassen. Sie müssen in der Lage sein, ihren Geist zu stabilisieren

und auf die vorliegende Aufgabe auszurichten. Sie müssen emotionale

und mentale Verschwommenheit überwinden, so dass ihre Intelligenz sich

sammeln und punktgenau konzentrieren kann statt sich zu zerstreuen. Sie

müssen ihren Affengeist zur Ruhe bringen.

Kampfkünstler müssen in der Lage sein, eine moralische Mitte aufrecht-

zuerhalten statt ihre Integrität aufzugeben. Sie müssen während der Übung

und in ihrem täglichen Leben ein starkes andauerndes Gefühl der körper-

lichen, emotionalen und mentalen Entspannung und Ausgeglichenheit

erreichen. Außerdem müssen sie Wege finden, wie sie die heilenden Kräfte

in der Gesellschaft fördern können - sei es in persönlichen Beziehungen,

in der Politik oder in Geschäftsbeziehungen. Alle diese Eigenschaften

müssen verwirklicht werden, während sie sich an die 70-Prozent-Regel

455

der Mäßigung halten, die sie dazu befähigt, sich voll einzusetzen, ohne

sich zu überfordern.

Ebene 3: Ein spiritueller Kampfkünstler werden

Auf dieser Ebene müssen die Kampfkünstler ihre tiefsten inneren Feinde

besiegen und transzendieren. Auf dieser Ebene kommt es in Hinsicht auf

das Training zu einer Art Quantensprung: In Relation zu denen, die die

humanen Kampfkünste praktizieren, sind die spirituellen Kampfkünstler

Millionäre oder Milliardäre.

Dies setzt voraus, dass die Kampfkünstler ...

• die Wurzeln dessen abschneiden, was es den inneren Dämonen

ermöglicht, die Herrschaft zu übernehmen.

• nicht mehr den Erscheinungen weltlicher oder spiritueller Illusionen

verhaftet sind.

• in den Kern ihrer eigenen Seele Einblick gewinnen und diesen be-

freien.

Indem sie das Chi durch Nei Gung noch umfassender kultivieren als zu-

vor, müssen die spirituellen Kampfkünstler in spe mehrere wesentliche

Eigenschaften inkorporieren. Sie müssen ihre tiefsten störenden Emotionen

und Verhaftungen besiegen. Und sie müssen im Bereich ihrer inneren fünf

Sinne ein hohes Maß an Klarheit erreichen.

Sie müssen über längere Zeit eine entspannte, durchgehende und un-

unterbrochene Aufmerksamkeit aufrecht erhalten können, ohne sich zu

verspannen, abgelenkt oder zerstreut zu werden, auch nicht für den kleins-

ten Bruchteil einer Sekunde. Zwei östliche Parabeln verdeutlichen die Art

von Aufmerksamkeit und Ausrichtung, die nötig sind.

Nach Ansicht der Buddhisten kann man Erleuchtung erlangen, wenn es

einem möglich ist, nur für den Zeitraum völlig gewahr und konzentriert

zu bleiben, den es braucht, bis eine Ameise von der Nasenwurzel bis zur

Nasenspitze einer Buddhastatue gelaufen ist.

Die Daoisten sagen, dass ein Mensch sich für seine innerste Essenz

oder sein wahres Wesen öffnen kann, wenn er so lange völlig entspannt

und durchgehend gewahr zu bleiben vermag, wie es braucht, bis ein Blatt,

das sich vom Ast eines Baumes gelöst hat, sanft abwärts gesegelt und zu

Boden gefallen ist.

456

In wessen Hintern wird bei den Kampfkünsten getreten?

Die Kampfkünste werden manchmal auch „die edle Kunst, jemanden in

den Hintern zu treten" genannt. Unter den vielen Millionen Menschen, die

eine Kampfkunst praktizieren, gibt es etliche, die in einem körperlichen

Kampf hervorragend einen Tritt in den Hintern auszuteilen vermögen.

Viele andere praktizieren die Kampfkünste jedoch nicht nur, weil sie in

der Lage sein wollen, andere zu verprügeln; sie wollen die Grundlagen

der Selbstverteidigung erlernen, körperliche Gesundheit erlangen oder sich

selbst zu besseren Menschen und spirituellen Wesen machen. Viele dieser

Menschen hegen keine Illusionen darüber oder träumen nicht davon, zu

einem Kampfkunst-Superhelden oder dem todbringendsten aller Kampf-

kunst-Meister zu werden. Sie wollen nur eine reelle Chance haben, sich

gegen Leute zu verteidigen, die ihnen in den Hintern treten möchten.

Wer oder was ist der Feind?

Wenn ein Tritt in den Hintern für das Spiel der Kampfkünste wesentlich

ist, dann sollte man sich fragen: „Wem muss hier in den Hintern getreten

werden? Wer oder was ist der Feind?"

Wenn der Feind jemand ist, der tatsächlich droht, uns physisch zu

verletzen, zu vergewaltigen oder zu töten, dann ist es gewiss notwendig,

dieser Person mit Selbstverteidigungstechniken in den Hintern treten zu

können. Und wenn Krieg herrscht, dann ermöglicht die Kampfkunst es

jenen, die sie praktizieren, auf äußere Feinde zu reagieren - ob das eigene

Land nun angegriffen wird oder selbst der Angreifer ist.

Aber es ist vielleicht an der Zeit, dass wir uns dessen bewusst werden,

dass es noch einen weiteren sehr üblen und mächtigen Feind gibt. Stress

und Krankheit können unsere Gesundheit zerstören, uns schweren Schaden

zufügen und uns sogar umbringen. Die Förderung der Gesundheit ist ein

Ziel aller Inneren Kampfkünste.

Auch dunkle psychische Kräfte, die in der Tiefe eines Menschen lauern,

können unser Feind sein. Sie können selbstzerstörerische Gefühle ansta-

cheln, unsere Kreativität einschränken oder ganz zerstören und einen

Menschen moralisch zerrütten. Spirituelle Feinde können in jedermann

Hindernisse erzeugen und einen Menschen daran hindern, völlig wach

und sich der ihm innewohnenden spirituellen Eigenschaften sowie des

457

universellen Bewusstseins, das das gesamte Universum durchdringt, gewahr

zu werden. Dies sind die Feinde, die in den spirituellen Kampfkünsten

letztlich besiegt werden müssen. Sie sind der Hintern, in den ein spiritu-

eller Kampfkünstler treten muss, wenn er wirklich zu einem spirituellen

Krieger werden will.

Um Pogo, die berühmte Comic-Strip-Figur zu zitieren: „Wir haben den

Feind getroffen, und wir sind es selbst."

Die Schattenseiten der spirituellen Kampfkunst

Die Kampfkünste haben potentiell auch eine Schattenseite. Sie können die

Fähigkeit eines Ausübenden, Gewalt anzuwenden und den Adrenalin-Kick

zu erfahren, der damit einhergeht, vergrößern. Die negativen Gefühle, die

so gepflegt werden, können das tägliche Leben eines solchen Menschen

prägen. Außerdem können körperlich gesunde und mental starke Kampf-

künstler durchaus an emotionalen Störungen leiden und einen Hang zu

heftigen Stimmungsschwankungen oder selbstzerstörerischen Gedanken

und Verhaltensweisen haben. Tiefsitzende Ängste, ein überzogenes Gefühl

von Macht, posttraumatischer Stress und destruktive Emotionen können

auf dem Schlachtfeld, aber auch im Alltag, machtvoll zu Tage treten und

außer Kontrolle geraten. Kampfkünstler können gesunde und starke Tiere

sein, in deren Inneren sich ein Dämon verbirgt.

Für Jahrtausende haben Krieger und Soldaten die Kampfkünste nicht

als ein Hobby, sondern als Mittel zum Überleben gesehen. Tatsächliches

Kampfgeschehen im Krieg kann in vielen Kriegern nicht nur schreckliche

innere Gespenster hinterlassen, sondern auch eine Freude am Kämpfen

erzeugen, die Zivilisten nicht verstehen können, die Kampfkünstlern aber

nicht fremd ist.

Viele Krieger, die vom Schlachtfeld zurückgekehrt sind, haben später

die Inneren Kampfkünste als Therapie benutzt, um die seelischen Wun-

den zu heilen, die der Krieg in ihnen hinterlassen hatte. Einige von ihnen

haben schließlich erkannt, dass eine wirkliche Heilung dieser psychischen

Verletzungen nur durch die ernsthafte Praxis der Meditation oder der

spirituellen Kampfkünste möglich ist.

Wie Musashi herausfand, genügen schiere Kraft und Technik allein

nicht, um das Beste in einem gewöhnlichen oder auch spirituellen Krieger

ans Licht zu bringen. An einem bestimmten Punkt machen negative Emoti-

onen die Technik weniger wirksam. Und da viele der im Westen trainierten

458

Kampfkünstler sich nur selten in der Situation eines Vollkontakt-Kampfes

mit potentiell tödlichem Ausgang finden, wird ihnen vielleicht nie die

Notwendigkeit, ihre niederen Emotionen und andere spirituelle Mängel

auszuräumen, bewusst.

Ein Kampfkünstler, der sich auf den spirituellen Pfad begeben und seine

spirituellen Mängel überwinden will, sieht sich mit mehreren Herausfor-

derungen konfrontiert.

Innere Dämonen besiegen und auflösen

Die spirituellen Kampfkünste verlangen von den Ausübenden, dass sie

wirklich von einer Position jenseits der Konditionierung aus handeln, die

zu gewohnheitsmäßigen Spannungen, Zusammenbrüchen und Ausrastern

führen und durch geringste Anlässe ausgelöst werden kann. Es sind dies

Reaktionen, die gleich unter der Oberfläche wohnen und von tief im In-

neren bewahrten persönlichen Traumata und Fixierungen hervorgebracht

werden - Dinge, die Familien, Rollenmodelle und traumatische Erfah-

rungen in uns einpflanzen können. Emotionale, mentale, psychische und

karmische innere Gespenster und Dämonen erhalten Selbstbezogenheit, die

Identifizierung mit einem Volk und die Schattenseiten des menschlichen

Charakters aufrecht. Sie verhindern, dass ein Kampfkünstler (und nicht nur

dieser, sondern jedermann) innerlich frei werden und spirituell reifen kann.

Die Dämonen bringen Menschen, die sich dessen oft nicht bewusst sind

und die solche Einflüsse leugnen, dazu, Dinge zu tun, die allem widerspre-

chen, was ihr Verstand für vernünftig oder zulässig hält. Und die besten

und intelligentesten Menschen können von diesen inneren Gespenstern

und Dämonen ebenso geblendet werden wie die am wenigsten begabten.

In den spirituellen Kampfkünsten muss man in der Lage sein, die Tech-

niken zur Auflösung innerer Gespenster und Dämonen, die man erlernt

hat, jederzeit und an jedem Ort anzuwenden, auch mitten im heftigsten

Sparring oder in einem Kampf auf Leben und Tod.

Sparring und Kampf machen die spirituelle Suche weniger sicher als das Sitzen auf einem Mediationskissen

Die spirituellen Kampfkünste können für spirituelle Krieger eine doppelte

Herausforderung darstellen, weil während des Sparrings und des Kampfes

eine physische Gefahr gegeben ist, während man sich gleichzeitig mit den

459

inneren Dämonen, die zum Vorschein kommen, konfrontiert sieht. Während

des Sparrings projizieren die Gegner oft mit äußerst dramatischer Geste so

viel negative Energie wie möglich. Das kann dazu führen, dass die Bilder

verborgener innerer Dämonen aktiviert werden und diese aufwachen, so

dass Kräfte, die zuvor unbewusst waren und mit denen man sich noch

nicht auseinandergesetzt hat, plötzlich bewusst werden und den Krieger mit

Furcht und Schrecken erfüllen. Auf einer unterschwelligen Ebene können

die mit diesen Bildern verbundenen Emotionen die Kontrolle übernehmen

und einen plötzlichen Schock oder gar eine Lähmung verursachen.

Dies kann eine „Lücke" in der Aufmerksamkeit des Kampfkünstlers

erzeugen, die dem Gegner eine möglicherweise tödliche Bresche zum Zu-

schlagen eröffnet. Wenn man vom Gegner getroffen oder geworfen wird,

kann auch das im Inneren zu einem schwächeren oder stärkeren Schock

führen. Verursacht dieser Schock eine Lähmung, von der sich der Kampf-

künstler nicht augenblicklich erholt, kann dies sein Schicksal besiegeln.

Während eines Kampfes oder eines Sparrings sind die Gegner nicht

gerade in der Geistesverfassung des spirituellen Kriegers, wie sie es in der

sitzenden Meditation sein mögen. Ein Gegner kann körperliche Verletzun-

gen zufügen und respektiert oft das Verlangen des spirituellen Kriegers

nach psychischer Sicherheit und Kontrolle nicht. Im Kontext eines Kampfes

kann man nicht einfach weggehen, den Kampf unterbrechen oder eine

Pause machen, weil man sich gerade überwältigt fühlt.

Gegner, die eine unglaublich starke Energie besitzen, können das Blut

des spirituellen Kriegers gefrieren lassen. Das Problem ist in einem solchen

Fall jedoch nicht die projizierte Energie. Es ist vielmehr die Auswirkung

der inneren Bilder oder inneren Dämonen, die im unbewussten Geist des

Kriegers erweckt werden.

Nehmen wir zum Beispiel an, dass ein Kampfkünstler in seiner Kindheit

missbraucht oder geschlagen wurde oder mit ansehen musste, wie jemand

anderem Gewalt angetan wurde. Das kann eine Reihe unbewusster, tief in

sein Inneres eingebetteter Bilder in ihm hinterlassen haben, die während

des Sparrings oder zu irgendeiner anderen Zeit im täglichen Leben auf der

zellulären Ebene zu einem Gefühl der Furcht, gekoppelt mit einem Gefühl

der Machtlosigkeit, führen können. Solche Ängste können in der inneren

Welt dieser Person wieder und immer wieder durchlebt werden, im Sparring

wie im normalen Alltag, und die Seele auf allen Ebenen schädigen.

Die spirituellen Kampfkünste und die daoistische Meditation stellen

Mittel zur Verfügung, mit denen sich spirituelle Krieger von inneren Dä-

460

monen und tief verwurzelten Ängsten befreien können. Das macht es

ihnen möglich, über Probleme hinauszugehen, die auf der Matte, in echten

Kampfsituationen oder im alltäglichen Leben auftauchen mögen.

Selbsttäuschung überwinden

Eine authentische spirituelle Reise kann starke spirituelle Gipfelerfahrungen

mit sich bringen. Kampfkünstler können von Mini-Erleuchtungen und Er-

fahrungen der Glückseligkeit, der Ekstase und des erweiterten Bewusstseins

geradezu „high" werden. Solche scheinbar übersinnlichen Erfahrungen

können eine Aufblähung ihres Egos verursachen und sie dazu bringen zu

glauben, sie befänden sich bereits am Ende der Suche nach Erleuchtung.

Die spirituellen Gipfelerlebnisse bieten auch eine willkommene Erho-

lung von der enorm intensiven und herzzerreißenden Seelenarbeit, die im

Umgang mit den inneren Dämonen zu leisten ist. Wenn der Kampfkünstler

nicht begreift, dass dies vielleicht nur vorübergehende Aussetzer des von

seinen inneren Blockaden erzeugten Drucks sind, dann mag er oder sie sich

der Selbsttäuschung hingeben zu glauben, er oder sie habe die Erleuchtung

bereits erreicht. Es ist so, als gewönne jemand, der lange Zeit verloren hat,

beim Glücksspiel plötzlich einmal und glaubte nun zu wissen, wie er das

System schlagen kann.

Für die meisten Praktizierenden braucht es viele Jahre, wenn nicht

gar Jahrzehnte, bis die Distanz zwischen den ersten Verheißungen echten

spirituellen Erwachens und deren tatsächlicher Erfüllung überwunden ist.

Für die allermeisten Menschen kommt der Fortschritt in kleinen Schritten.

Das Voranschreiten auf die nächste Ebene kann manchmal entsetzlich

langsam erscheinen, besonders wenn man schon einmal Gipfelerfahrungen

und tiefe Aha-Erlebnisse gehabt hat.

Die Selbsttäuschung kann sich auf dem Weg der spirituellen Entwick-

lung als mächtiger und gefährlicher Trickster erweisen.

Die Verwechslung übersinnlicher Kräfte mit Spiritualität

Übersinnliche Einsichten und Fähigkeiten können sich auf dem spirituel-

len Pfad einstellen, entweder weil man sie bewusst gesucht hat, oder als

eher zufällige Nebenprodukte der spirituellen Entwicklung. Wenn es dazu

kommt, kann es sein, dass Kampfkünstler diese übersinnlichen Kräfte mit

spiritueller Kraft verwechseln. Warum?

461

Es ist nun einmal, zum Guten oder zum Schlechten, eine Nebenwirkung

der Erschließung des übersinnlichen Chi, dass man die Fähigkeit erlangt,

andere zu manipulieren. Es ist für Kampfkünstler nur ein kleiner Schritt

hin zur Selbsttäuschung zu glauben, dass die von ihnen ausstrahlenden

übersinnlichen Kräfte spiritueller Natur sind, vor allem, wenn diese Täu-

schung noch von anderen bestätigt wird. Es kann auch sein, dass ein

Kampfkünstler es liebt, solche Kräfte zu besitzen und sie zu benutzen, um

andere zum Guten oder zum Schlechten zu manipulieren. Darum haben

viele spirituelle Führer, die „übersinnliche Kräfte" ausstrahlen, eine solch

große Anhängerschaft, obwohl es für jedermann besser wäre, wenn dies

nicht der Fall wäre.

Bedenken Sie folgendes: Ein echter spiritueller Meister und ein wasch-

echter Dämon können beide übersinnliche Kraft projizieren, die ihnen

selbst und anderen wie spirituelle Kraft vorkommen mag. Darum heißt es

auch, der Teufel könne im Gewand eines Engels auftreten.

Zwischen echter und falscher oder leerer Kraft unterscheiden

Die Daoisten sind der Ansicht, dass Kampfkünstler auf einem echten spi-

rituellen Pfad lernen müssen, die Sucht nach falscher oder leerer Kraft -

übersinnlicher oder anderer Natur - fallen zu lassen. Da die Entwicklung

der Kraft des Chi ein ausdrückliches Ziel und ein natürliches Nebenprodukt

des Trainings in den Inneren Kampfkünsten ist, ist es leichter gesagt als

getan, das übliche menschliche Streben nach leerer Kraft „aus dem Bauch

heraus" zu erkennen und davon abzulassen.

Was ist nun genau der Unterschied zwischen wahrer und falscher oder

leerer Kraft?

Wahre Kraft wird benötigt, um echte Leistungen zu vollbringen. Der

Körper braucht Kraft, um gesund und stark zu sein. Geschmeidige und star-

ke Muskeln sind nötig, um arbeiten, kämpfen und Werkzeuge gebrauchen

zu können. Die Menschen müssen physiologisch richtig atmen, Nahrung

verdauen und Blut pumpen. Sie müssen klar denken, mit Kreativität und

andauernder Vitalität, damit sie in der Welt positive und nützliche Dinge

tun können. Echtes Chi und wahre physische Kraft sind notwendig, wenn

man etwas bewirken und mit dem eigenen Schicksal zufrieden sein will.

Die gewöhnlichen Kampfkünste entwickeln eine solche Chi-Kraft.

462

Doch wenn man ständig nach immer mehr Kraft verlangt und danach

strebt, weil man emotional, mental, psychisch oder karmisch süchtig nach

Kraft ist, so besteht eigentlich keinerlei Notwendigkeit dafür. Dieses irr-

tümlich wahrgenommene, leere Bedürfnis zielt nur darauf ab, andere zu

kontrollieren und zu beherrschen. Letztlich dient es nur dazu, ein Ego, das

außer Kontrolle geraten ist, zu stärken und ihm zu helfen, zu überleben.

Dieses Streben nach falscher oder leerer Macht mag für einen dominanten

Kampfkünstler natürlich erscheinen, obwohl es spirituell völlig unnötig ist.

Eine solche beschränkte Einstellung muss überwunden werden. Geschieht

dies nicht, dann wird jemand, der durch die Inneren Kampfkünste Chi

ansammelt, eher von der Spiritualität abirren als zu ihr hinfinden.

Die dunklen Nächte der Seele

Auch wenn der Gedanke, ein spiritueller Krieger zu werden, sehr inspi-

rierend erscheint, ist die spirituelle Kampfkunst nur einem ganz geringen

Prozentsatz der praktizierenden Kampfkünstler so wichtig, dass sie sich

tatsächlich auf diesen Pfad begeben. Ich habe meinen Meister Liu einmal

gefragt: „Warum lehren Sie nicht mehr Menschen die spirituellen Kampf-

künste und die Meditation?" Seine Antwort fiel kurz aus: „Nur wenige

wollen lernen oder haben die Geduld und Ausdauer zu lernen."

Das war eine wahre Aussage, wenn auch keine sehr tröstliche. Wenn

man sie fragt, sagen vielleicht viele, dass sie die Schulung gern weiterfüh-

ren möchten. Wer möchte schließlich kein spirituelleres Menschenwesen

werden? Doch hier ist es wie mit dem Training, das nötig ist, um ein

effektiver Kämpfer zu werden: Darüber nachdenken und es wirklich tun,

sind zwei Paar Stiefel. Davon, wie hart der Pfad des spirituellen Kriegers

ist, wird selten in aller Offenheit und ohne Zuckerguss gesprochen.

Wenn Kampfkünstler beginnen, sich mit ihren persönlichen inneren

Gespenstern und Dämonen auseinanderzusetzen, machen sie Bekanntschaft

mit den dunkelsten Nächten ihrer Seele. Sie begegnen den brennenden

Begierden ihres Herzens, ihres Geistes, ihrer Emotionen und ihrer Psyche -

psychischem Hunger und Durst, die plötzlich sehr offensichtlich werden

und die wie wilde Tiere an ihrem Inneren nagen. Ist ein innerer Dämon

besiegt, dann tritt oft ein noch wilderer dunklerer an seine Stelle.

Wird man in den tiefsten Teilen der eigenen Seele herumgestoßen und

brutal behandelt, so kann dies viel schmerzlicher sein als ein physischer

Knochenbruch. Darum ist es die größte Herausforderung für jemanden,

463

der ein spiritueller Krieger werden möchte, den Mut zum Voranschreiten

zu besitzen, um immer tieferen inneren Dämonen zu begegnen und diese

dunklen Nächte der Seele zu erfahren.*

Daoistische Meditation und das innere Auflösen

Die verschiedenen Schulen der Meditation haben ihre charakteristischen

Methoden, wie zum Beispiel die Beobachtung des Atems, die Rezitation

von Mantras oder Gebeten, Visualisierungen und so weiter. Die Wasser-

Schule des Daoismus hat ebenfalls eine solche charakteristische Methode.

Die Daoisten nennen sie das innere Auflösen von blockierter Chi-Energie.

Ihrer Ansicht nach ist dies die direkteste und wirksamste Methode der

Befreiung eines Individuums von allen spirituellen Blockaden und inneren

Feinden, durch die das Individuum schließlich den 7. energetischen Körper,

den „Körper der Individualität", erreicht.**

Das innere Auflösen wird angewendet, um die energetischen Kräfte,

die innerlich festsitzen, freizusetzen und aufzulösen. Es ermöglich dem

spirituellen Kampfkünstler, seine inneren Blockaden sowohl während sei-

ner Einzelübungen als auch im Sparring oder im Kampf erfolgreich zu

bekämpfen. Das innere Auflösen wird auch verwendet, wenn man prüfen

will, inwieweit man seine spirituellen Feinde bereits besiegt hat.

* Anmerkung des Herausgebers: Siehe dazu „Ruding: Die Angst vor dem Tod des Ego"

im 8. Kapitel von Im Tao sein - Entspannung und Achtsamkeit von Bruce Frantzis

(Schneelöwe 2006), S. 201-207; siehe auch den Abschnit t über Schocks im 5. Kapitel

von The Great Stillness von Bruce Frantzis (North Atlantic Books 2001), S. 139-141.

** Anmerkung des Herausgebers: Zum Erreichen des 8. energetischen Körpers, des Körpers

des Dao, werden die Methoden der Inneren Alchimie angewendet . Mehr Informatio-

nen zu diesem Thema und die verschiedenen Ansichten der Feuer-Tradition und der

Wasser-Tradition der Inneren Alchimie im Daoismus f inden sich im 8. Kapitel von

Im Tao sein - Entspannung und Achtsamkeit, a.a.O.

464

465

Als ich 19 Jahre alt war fuhr ich zu den japanischen

Universitätsmeisterschaften im Karate nach Kyoto. Auf

dieser Reise besuchte ich Nara, wo es viele historische

Stätten zu besichtigen gibt, darunter einige der ältesten

buddhistischen Tempel Japans. Ich besuchte dort auch

den Zoo, wo sich ein ziemlich großer Tiger in seinem Käfig räkelte.

Als ich vor seinem Käfig stand, fielen mir die vielen Karate-Tiger-Ge-

schichten ein, die ich in meiner High-School-Zeit in New York gehört

hatte: dass der Tiger das Symbol des Shotokan-Karate sei und dass des-

sen Praktizierende stark wie Tiger sein sollten; dass man im Goju-Ka-

rate einen Blick haben sollte, der wilder ist als der eines Tigers, eine

Eigenschaft von der eine Geschichte über Yamaguchi Gogen berichtet,

der damals das Oberhaupt der Goju-Schule des Karate war. Er sah aus

wie ein Shinto-Priester oder ein Samurai aus einem Kurosawa-Film, mit

wildem langem Haar und einem durchdringenden Blick. Während des

2. Weltkriegs wurde Yamaguchi von den Chinesen gefangen genommen,

die diesen japanischen Kampfkünstler dadurch erniedrigen wollten, dass

sie ihn mit einem Tiger in einen Käfig sperrten. Doch Yamaguchi starrte

den Tiger so lange an, bis dieser regelrecht gelähmt war, und tötete ihn

dann mit bloßen Händen.

Fragen Sie mich nicht warum, aber plötzlich ging mir ein Gedanke durch

den Kopf. „Wollen wir doch mal sehen, wie stark mein Geist ist." Kann ich

es mit diesem Tiger aufnehmen und ihn ebenso mit meinem Blick bannen

wie Yamaguchi? Natürlich wollte ich nicht zu ihm in den Käfig, ich wollte

ihn nur aufreizen und ihn dann mit meinem Blick bannen.

Es war mir möglich, den Wärter des Zoos auf meine Seite zu bringen, so

dass er nicht die Polizei rufen würde. Ich sprach genügend Japanisch, um

ihm erklären zu können, was ich vorhatte. Ich sagte ihm, mein Sensei

habe mir gesagt, ich solle versuchen, einen Tiger mit dem Blick zu ban-

nen, um den Samurai-Geist zu verstehen. Zum Glück gehörte der Wärter

offenbar zur alten Schule, denn er ließ an seinen Gesten und in seiner

Körpersprache erkennen, dass er etwas für Samurai und für gehorsame

Schüler übrig hatte. Er gab mir also ein paar Hinweise auf die Reichweite

des Tigers und tat sein Bestes, die wenigen Besucher des Zoos in andere

Bereiche des Zoos umzulenken.

Ich ging also zurück zum Tigerkäfig und stellte mich in einer Entfer-

nung davon auf, in der der Tiger mich nicht mit seinen Pranken erreichen

Meine Reise durch die spirituellen Kampfkünste

Auge in Auge mit dem Tiger

konnte, falls er angreifen sollte. Ich verwurzelte meine Füße im Boden

und hoffte das Beste. Ich begann dem Tiger in die Augen zu starren, bis er

mich schließlich ansah. Zuerst war sein Blick total unbeteiligt: „Lass mich

doch in Ruhe, ich will schlafen." Ich starrte ihm weiter in die Augen.

Bald waren wir in einen animalischen Showdown verwickelt und ver-

suchten beide, den anderen zu dominieren, indem wir in den Geist des

anderen eindrangen. Der Tiger wurde immer erregter. Er hielt den Blick-

kontakt aufrecht und begann im Käfig hin und her zu laufen, zu knurren

und zu fauchen, während er immer wütender wurde. Dann griff er plötz-

lich mehrere Male hintereinander mit einer unfassbaren Geschwindigkeit

an. Er sprang auf mich zu und seine Pranken mit den ausgefahrenen

Krallen peitschten durch die Gitterstäbe. Ich war froh, dass ich die Distanz

richtig eingeschätzt hatte, denn bei der Geschwindigkeit seines Angriffs

hätte ich sonst keine Chance gehabt, seinen Krallen zu entgehen.

Ich war total außer mir. Ich spürte reine, animalische Furcht, und mein

ganzer Körper vibrierte unter einem Ansturm von Adrenalin. Trotzdem

starrte ich den Tiger weiter an, während er mich weiter mit seiner Kraft

und Energie psychisch zu überwältigen suchte. Mein Herz hämmerte und

mein Blick verengte sich, aber ich starrte weiter, während der Tiger wei-

ter angriff. Mit inneren Bildern konfrontiert, stiegen viele Gedanken und

Gefühle in mir auf. „Wer hat hier die Kontrolle", fragte ich mich, „Mensch

oder Tier? Bin ich schwächer als das Tier? Ist mein Geist nicht stärker als

seiner? Bin ich nicht der Herr des Universums? Kann ich meine Furcht

nicht besiegen und die Oberhand behalten? Warum flippe ich dermaßen

aus? Woher kommt diese ganze Furcht?"

Das Anstarren ging immer weiter. Es war reine Intensität, ein Kampf des

Willens um die Vorherrschaft. Schließlich hörte der Tiger auf anzugreifen

und ging in die Mitte des Käfigs, von wo aus er mich nur noch anstarrte,

um mich mit seinem bloßen Willen zu überwältigen. Plötzlich dämmerte

mir, dass nicht die Furcht das Problem war, sondern das, was der Tiger

tatsächlich tat.

Deshalb starrte ich jetzt noch intensiver, entschlossen, den Willen des

Tigers zu brechen, und mir war, als dränge ich durch seine Augen in ihn

ein. Nach einer Weile, die mir vorkam wie eine Ewigkeit, zog der Tiger

sich langsam, in den hinteren Teil des Käfigs zurück, von wo aus er mit

einem verstörten Blick weiterhin still meinem Blick standhielt. Auch dies

ging eine ganze Weile so weiter, bis der Tiger schließlich aufgab und sich

in einer Ecke des Käfigs zusammenkauerte.

An diesem Punkt holte mich der freundliche alte Zoowärter und brach-

te mich schnell zu einem Taxi. Er schien mir sagen zu wollen, dass die

Polizei im Anrücken sei, und offenbar wollte er, ganz in traditioneller ja-

466

panischer Manier, eine peinliche Situation mit langwierigen Befragungen

vermeiden, die ihn vielleicht sogar seinen Job gekostet hätte.

Von diesem Moment an konnte mich im Sparring keiner meiner Gegner

mehr psychisch fertigmachen, auch wenn ich manchmal Treffer einste-

cken musste und Kämpfe verlor.

Viele Jahre später erzählte ich Liu die Geschichte. Er fragte mich: „Was

willst du?" Ich antwortete: „Mehr Chi." Daraufhin meinte er, ich hätte

bereits viel Chi und was ich wirklich bräuchte sei, den Herz-Geist zu

kennen. Dann sagte er: „Die Begegnung mit deiner Furcht bei dem Ver-

such, den Tiger mit dem Blick zu bannen, ist nichts im Vergleich zu dem,

was dir auf dem Weg zum Begreifen und zur Befreiung des Herz-Geistes

begegnen wird.

Das Auflösen blockierter Chi-Energie mit dem inneren und äußeren Auf-

lösen ist zentraler Bestandteil aller daoistischen Energiearbeit - des Chi

Gung, der gewöhnlichen und der spirituellen Kampfkünste, der Heilarbeit

und der Meditation.

Energieblockaden

Aus der Sicht des Daoismus sind die inneren Dämonen als Blockaden von

Energie erfahrbar, die tief im Inneren des Körpers festsitzen. Alle Übungen

mit dem Chi können solche gespeicherte Energie auf eine Art und Weise

aktivieren, wie es mit normalen Körperübungen nicht möglich ist. Wenn

dies geschieht, werden auch etwaige unterschwellige Erinnerungen, die

mit diesen Blockaden verbunden sind, aktiviert. Statt unterdrückt und

relativ unbemerkt zu bleiben, drängen diese Energien ins Bewusstsein

und manifestieren sich dort ziemlich laut. Kampfkünstler lernen, diese

Erfahrungen zu nutzen, um innere Blockaden bewusst zu erkennen und

sie aufzulösen und sich damit von ihnen zu befreien.

Können die tiefsten Energien innerhalb eines Menschen nicht auf ge-

sunde, reibungslose und positive Weise fließen, dann fließen sie auf un-

gesunde, blockierte und destruktive Weise. Das menschliche Chi folgt,

wie das Wasser, dem Weg des geringsten Widerstandes. Wird die Energie

blockiert, dann geht die Bewegung zum Negativen hin. Eine Freisetzung

von blockierten Energien, die letztlich destruktive, nichtspirituelle Muster

erzeugen - emotionale, mentale, psychische und karmische -, hilft, die

Gespenster und Dämonen, die sich leicht am Grund des unbewussten

467

Die spirituellen Aspekte der Kampfkünste können dazu führen, dass ein

Mensch sich lebendiger und freudvoller fühlt.

Geistes verbergen können und sich so mit unserem Karma verbinden,

aufzudecken und zu befreien.

Ist die Energie andererseits offen, flüssig und uneingeschränkt, dann

wird sie zum Kreativen und Positiven hin fließen.

Blockaden gibt es in allen acht Energiekörpern

Alle spirituellen Praktiken des Daoismus arbeiten mit der vollen Auflösung

von Blockaden in dem, was die Daoisten die acht Energiekörper nennen.*

Genau betrachtet umfassen diese Energiekörper alle möglichen Aspekte

der menschlichen Erfahrung, unabhängig von Zeit, Ort und Umständen.

Sie sind im Grunde Landkarten des Bewusstseins, die dem Kampfkünstler

praktisch helfen, spirituelle Klarheit und Ausgeglichenheit zu erlangen. Die

acht Energiekörper sind: 1. das Fleisch des physischen Körpers; 2. das Chi,

das dem physischen Körper Kraft gibt;** 3. das Chi das zur Manifestation

von Gefühlen führt; 4. das Chi, das das mentale Denken funktionieren

" Anmerkung des Herausgebers: Mehr Information über die acht Energiekörper finden

Sie im 2. Kapitel von Im Tao sein - Entspannung und Achtsamkeit, a.a.O. ** Der zweite Energiekörper wird auch die Aura oder der Ätherkörper genannt.

468

lässt; 5. das Chi, das übersinnliche Wahrnehmung konkret werden lässt;

6. das Chi, das das Karma fließen lässt; 7. das Chi, das zur Bildung der

Individualität führt; 8. das Chi, das zur Verwirklichung des Dao oder der

Erkenntnis des gesamten Universums führt.

Die gewöhnlichen Äußeren und Inneren Kampfkünste gehen haupt-

sächlich mit dem ersten und dem zweiten Energiekörper um; sie benutzen

Methoden wie das Absenken des Chi und die äußere sowie innere Auflö-

sung. Die äußere Auflösung setzt blockierte Energie aus dem Inneren des

physischen Körpers nach außen frei, bis sie sich an der Grenze des eigenen

ätherischen Körpers oder der Aura komplettiert (siehe die Diagramme zur

Energieanatomie in Anhang C). Diese Praktiken öffnen die Energietore

des Körpers, die sich auf die primären Energiekanäle des Körpers, die ihm

Kraft geben, auswirken und die den Akupunkturmeridianen übergeordnet

und jenseits von diesen sind.

Die Auflösung von Blockaden in den ersten beiden Energiekörpern

hilft einer Person, ihre Gesundheit zu fordern, Stress aufzulösen und die

Leistungsfähigkeit des physischen Körpers zu erhöhen. Bei der äußeren

Auflösung geht es auch darum, welchen Einfluss das Chi einer Person

auf deren Gefühle wirkt, aber hier gelangt man nicht bis an die tieferen

Wurzeln dieser Gefühle. Dazu kommt man durch die innere Auflösung.

Auf den höheren Ebenen der gewöhnlichen Inneren Kampfkünste hat

man es mit dem dritten, vierten und fünften Energiekörper zu tun.

Die Spirituellen Kampfkünste basieren auf dem Gebrauch der inneren

Auflösung zur Freisetzung blockierter Energie, die tief im Inneren einer

Person angesiedelt ist. Sie ist die Haupttechnik, die zur Auflösung, Zer-

streuung und Beseitigung der tiefer in den ersten beiden Energiekörpern

blockierten Energie und der Energieblockaden in den folgenden fünf En-

ergiekörpern benutzt wird.

Auflösung emotionaler Blockaden

Um die Auflösung zu verstehen, wollen wir betrachten, wie sie bei blockier-

ter emotionaler Energie funktioniert. Dies ist relativ leicht zu verstehen. Die

Auflösung von Blockaden auf der mentalen, psychischen und karmischen

Ebene ist beträchtlich komplexer und ihre Diskussion würde den Rahmen

dieses Kapitels sprengen. Emotionale Blockaden werden durch die Funk-

tionsweise der Energiekanäle des Körpers an Ort und Stelle gehalten und

sind an deren Funktion gebunden. Diese Energiekanäle wirken sich wie-

469

derum auf die menschliche Anatomie und Physiologie aus, besonders auf

die inneren Organe und Drüsen. Wenn man die energetischen Bindungen

des Körpers ansprechen und lösen kann, wird dies die damit verbundenen

emotionalen Blockaden auflösen.

Bei den Menschen gibt es ein breites Spektrum von emotionalen Farben

und Schattierungen. Gefühle entstehen so natürlich wie die unterschied-

lichen Formen des Wetters, wie etwa Sonnenschein, Schnee, Sturm und

sanfte Brisen. Es ist nicht nur natürlich, sondern auch nützlich und gesund,

wenn man von Zeit zu Zeit alle möglichen Gefühle, einschließlich des Zorns

und extremer Traurigkeit sowie Freude, Freundlichkeit und Ruhe erfährt.

Es ist jedoch weder gesund noch natürlich, auf ein Gefühl fixiert zu

bleiben und für lange Zeit nicht über eine negative Emotion hinausgehen

zu können. Wenn man in sich wiederholenden kurz- oder langfristigen ne-

gativen emotionalen Ausdrucksformen stecken bleibt, dann wird die diese

Gefühle treibende Energie blockiert. Sie kann nicht natürlich fließen, da

sie feststeckt oder stagniert. Das Ergebnis ist eine emotionale Blockade.

Aus daoistischer Sicht muss man gleichzeitig mit vier miteinander ver-

bundenen Faktoren arbeiten und diese ausbalancieren, wenn man inneren

Aufruhr und menschliche Fixierungen in innere Harmonie, Kreativität und

Spiritualität umwandeln will. Alle vier müssen beteiligt sein, wenn man

zu tief greifenden Veränderungen kommen und diese stabilisieren will.

Alle vier lassen sich mit der inneren Auflösung angehen.

Gewohnhe i t en des Gehirns müssen ve rände r t werden

Als Teil der Beseitigung von emotionalen Blockaden zielt das mentale

Training und Energietraining in den spirituellen Inneren Kampfkünsten

darauf ab, das Gehirn flexibler und weniger anfällig für emotionale Fixie-

rungen zu machen. Das macht es den Kampfkünstlern nicht nur möglich,

sich von ihnen zu befreien, sondern schließlich auch positive Gefühle und

Gedanken an ihre Stelle zu setzen. Oft werden die nicht offensichtlichen

tiefen physiologischen Prozesse (die Chemie des Gehirns, Neurotransmitter

usw.), die im Gehirn gewohnheitsmäßig reproduziert werden, zu kondi-

tionierten, zwanghaften Gewohnheiten. Die meisten Menschen leben in

Hinsicht darauf, wie die Gehirnfunktionen und die endlos miteinander

verknüpften Zyklen der Vorgänge im Gehirn den Körper reagieren lassen,

in fröhlicher Unbewusstheit. Genauso können sie nicht verstehen, wie von

der Physiologie des Körpers ausgelöste Gefühle das Gehirn dazu bringen,

auf diesen Reiz zu reagieren.

470

Sich bewusst werden, wie Emotionen im Körper gefühlt werden Körpergefühle müssen als das erkannt werden, was sie sind, und sollten

weder übertrieben noch geleugnet werden. Wenn das geschieht, kann

man Gefühle annehmen und bändigen. Dies zu erreichen verlangt, dass

der Kampfkünstler ...

• die subtilen Eigenschaften physischer Empfindungen (die mögli-

cherweise durch Nervenbewegung, Neurotransmitter aus dem Ge-

hirn, innere Organe oder Drüsen verursacht werden) erkennt und

zu differenzieren vermag.

• echte Gefühle erkennt und sich nicht von Phantomgefühlen irre-

führen lässt, die von allen möglichen blockierten Energien oder

überschießenden Neurotransmittern verursacht werden.

• es vermeidet, Gefühle auszusperren oder zu ignorieren und über-

mäßige mentale Kontrolle auszuüben, die jegliche Spontaneität zer-

stören und dazu führen kann, dass man zu einem gleichgültigen,

gefühllosen Roboter und im schlimmsten Fall zu einem Monstrum

wird.

Sich des Flusses emotionaler Energie zwischen allen acht Energiekörpern bewusst werden, ihn ausgleichen, verbinden und reibungslos machen Wenn Praktizierende nicht erkennen, wo das Chi in ihren Gefühlen blo-

ckiert ist, werden sie auch nicht in der Lage sein zu erkennen, wie die

blockierte Energie mit ihren anderen Energiekörpern in Verbindung steht

oder ob die Energie verzerrt ist. Alle acht Energiekörper sind ganz und gar

miteinander verknüpft. Indem sie ihr blockiertes emotionales Chi erken-

nen, können Kampfkünstler verhindern, dass diese negative energetische

Konsequenzen nach sich ziehen, und können so ihre emotionale Energie

reibungslos über alle acht Körper hinweg integrieren.

Sich des Gewahrseins im unbewussten Geist bewusst werden Das Gewahrsein muss sich verschieben, bis die Schranke zwischen dem

bewussten Denken und den Vorgängen im unbewussten Geist sich auflösen

und immer durchlässiger werden. Dies ist notwendig, damit ein Mensch

außerordentlich hartnäckige und besonders stark konditionierte Gefühle

und Geisteszustände transformieren kann.

471

Der Prozess des spirituellen Erwachens

In den Spirituellen Kampfkünsten wird das Nei-Gung-Training ausgeweitet,

so dass es sein volles Potential zum Erkennen, der Entwicklung und dem

Ausgleich des Chi eines Praktizierenden in allen acht Energiekörpern ent-

faltet. Dies verlangt beträchtlich mehr Training und Kontrolle der subtilen

Geist-Energie als dies in den gewöhnlichen Inneren Kampfkünsten üblich

ist. Der Unterschied ist so groß wie zwischen jemandem, der seinen Zeh ins

Wasser steckt, und jemandem, der ganz ins Wasser hineinspringt.

In den Spirituellen Kampfkünsten ist es der Herz-Geist oder das Ge-

wahrsein des Gewahrseins selbst, was der höchst konzentrierten Absicht

erlaubt, sich zu manifestieren. Das ausgeweitete Chi-Training macht es

den Kampfkünstlern möglich, viele wertvolle Eigenschaften zu erkennen

und zu verwirklichen.

Zuerst einmal wird innerhalb all der energetischen Techniken des Nei

Gung ein breites Spektrum an Körper-Geist- und Yin-Yang-Interaktionen

integriert. Das entwickelt normalerweise eine schärfere Wahrnehmung

und klareres Denken.

Zweitens kann diese Chi-Entwicklung alle emotionalen, mentalen, psy-

chischen und karmischen Dämonen ausräumen. Das macht es den Prak-

tizierenden möglich zu verstehen, wo ihre tiefsten und oft verborgenen

Motivationen liegen, und die spirituellen Eigenschaften des Mitgefühls

und der Ausgeglichenheit zu kultivieren.

Drittens lernen die Kampfkünstler sich mit der spirituellen Energie in

ihrem Inneren zu verbinden, statt sich von ihr abzutrennen und sie zu

ignorieren. Dies gibt ihnen die Kraft, die spirituelle Essenz des „Wer bin

ich?", die jenseits ihrer Persönlichkeit und jenseits von allen Details und

der Geschichte ihres Lebens ist, zu entdecken.

Viertens erlangen sie die spirituelle Stärke, über lange Zeit hinweg aus-

dauernd zu sein. Das ist ganz wesentlich, wenn man besonders schwierige

und hartnäckige Blockaden überwinden will - ob diese Hindernisse nun

aus dem Geist oder den Emotionen kommen, ob sie von der spirituellen

Praxis oder den sich wandelnden Umständen des täglichen Lebens ver-

ursacht werden.

Fünftens bewegen sich ihre psychischen Fähigkeiten mehr in Richtung

auf eine spirituellere Lebensweise und weg von niederen Motivationen wie

dem Streben nach Macht oder Manipulation.

Und sechstens wird ihr Karma willentlich aufgelöst.

472

Die inneren Sinne wecken und benutzen

Nach den Vorstellungen des östlichen Denkens haben Menschen zwei

verschiedene Arten von Sinnen - äußere und innere. Jedermann kennt die

äußeren Sinne: Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen.

Doch die meisten Menschen sind sich der subtileren Fähigkeit der ent-

sprechenden inneren oder „übersinnlichen" Sinne, die es ihnen ermögli-

chen, die subtileren Eigenschaften des Chi zu bemerken und zu nutzen,

nicht bewusst. Das ist vergleichbar mit der Situation eines Blinden oder

Tauben, der nichts von den magischen Qualitäten eines Gemäldes oder

Liedes weiß, außer durch Hörensagen oder als abstrakte Theorie, die er

jedoch nicht durch eigene Erfahrung zu verifizieren vermag.

Alle echten Formen des chinesischen, indischen oder tibetischen Yoga

sowie die Inneren Kampfkünste der höheren Ebene trainieren die diese

Disziplinen Ausübenden darin, die Wahrnehmung der inneren Sinne zu

schärfen.

Werden die inneren Sinne nicht erweckt, dann können Kampfkünstler

nicht weit in die Welt des Chi eindringen oder auf den energetischen Pfaden

zur Spiritualität voranschreiten. Die Spirituellen Kampfkünste trainieren

die Kampfkünstler darin, ein konkretes Bauchgefühl des Chi zu erfahren

und zu benutzen, um zum Kern des spirituellen Erwachens vorzudringen.

Um derart für das Chi sensibel zu sein, muss man die inneren Sinne er-

wecken; dann kann man sie mit großem Gewinn einsetzen und damit in

Bereiche vordringen, die man mit dem intellektuellen Begreifen niemals

erreicht.

Die Entwicklung der inneren Sinne kann zu folgenden Erfahrungen

führen:

• Man sieht den Fluss der Energie in der äußeren Aura von Lebewesen.

• Man hat ohne sich anzustrengen Visionen (indem man einfach etwas

denkt), auch solche, die eine vibrierende, dreidimensionale Qualität

haben.

• Hellsichtigkeit.

• Man ist der Schwingungsqualitäten des Chi im eigenen physischen

Körper oder in dem eines anderen gewahr oder kann diese „hö-

ren".

• Man erlangt ein Gefühl der inneren Berührung, wobei man den

Chi-Austausch im eigenen Körper oder zwischen einem selbst und

anderen konkret spüren und sich nicht nur vorstellen kann.

473

Das Gewahrsein der inneren Sinne kann den Kampfkünstler mit der Zeit in

die Lage versetzen, bewusst immer subtilere Formen des Chi in sich selbst

und außerhalb von sich selbst zu erkennen. Dazu können gehören:

• die Energiekanäle und Energiepunkte, die es dem physischen Körper

ermöglichen zu funktionieren.

• die subtilen Gefühle und Gedanken, die in den verborgenen Tiefen des

Unbewussten leben und die noch als bewusste Gefühle und Gedanken

ins Bewusstsein aufsteigen müssen.

• die Energiekanäle normalerweise unsichtbarer Welten, in denen psy-

chische Wahrnehmung und Karma fließen.

• alternative Wirklichkeiten und überbewusste Bewusstseinszustände.

Schlaglicht auf ein spezielles Thema

Die Ähnlichkeit der Methoden zum Erwecken der inneren Sinne im

Daoismus und im Yoga

genannten Yoga Sutras, einem Text, der von dem alten indischen Weisen

Patanjali geschrieben wurde.

Die ersten vier Glieder sind äußere Stadien der Praxis, die bloß als Grund-

lage der Spiritualität und als Vorbereitung darauf angesehen werden. Die

restlichen vier Glieder, die mit dem Erwecken der inneren Sinne begin-

nen, gelten als die Essenz des Prozederes, das zur Erleuchtung führt.

Bei den beiden ersten äußeren Gliedern, Yama und Niyama, geht es um

Moralität. Das dritte Glied ist Stellungen oder Asana, das vierte Atem-

oder Energiekontrolle, Pranayama. Die spezifischen Techniken dieser vier

Anfangsstadien der äußeren Yoga-Praxis unterscheiden sich sehr deut-

lich von denen des Daoismus. Doch die Grundprinzipien sind dieselben

wie in den Spirituellen Kampfkünsten des Daoismus, nämlich daoistische

Sowohl im Yoga als auch in den

daoistischen Traditionen ist das

Erwecken der inneren Sinne ein

zentraler Bestandteil des spi-

rituellen Pfades. Eine in deut-

scher Sprache erhältliche Dis-

kussion der Unterschiede in der

Natur der acht primären Stadien

(genannt die „acht Glieder") der

äußeren und inneren spirituel-

len Praxis findet sich in den so

474

Moralprinzipien, körperliche Bewegungen (Stellungen) der Kampfkünste

und des Chi Gung sowie die Chi-Praktiken der 16 Komponenten des Nei

Gung.

Was die Grundlagen der inneren Stadien angeht, sind die Yogis und die

spirituellen Kampfkünstler einer Meinung. Wenn man das fünfte Stadium

nicht erreicht, sind die restlichen inneren Stadien (das sechste, siebte und

achte) unmöglich zu verwirklichen, außer vielleicht in Wunschvorstellun-

gen. Die inneren Stadien des Yoga (die Glieder fünf bis acht) sind Paralle-

len zu den Chi-Praktiken der Spirituellen Kampfkünste des Daoismus. Die

vier inneren Stadien des Yoga sind:

Fünftes Glied Pratyahara oder die Zurückziehung der Sinne entspricht

in den daoistischen spirituellen Praktiken der Erweckung der inneren Sin-

ne. Die menschliche Energie muss irgendwohin gehen, wenn nicht nach

außen, dann nach innen. Indem man seine Aufmerksamkeit nach innen

richtet und sie von den gewöhnlichen äußeren fünf Sinnen abzieht, be-

gegnete man den inneren Sinnen und kann sie erwecken. Das hilft uns,

die Geheimnisse der acht Körper zu lüften. Der Zweck der Zurückziehung

der äußeren Sinne ist also, die inneren Sinne zu erwecken und zu nutzen.

Sechstes Glied Dharana wird gewöhnlich als „Konzentration" übersetzt.

Dies ist nicht die gewöhnliche Art von Konzentration oder mentaler Fo-

kussierung, wie man sie für die Lösung eines mathematischen Problems

braucht. Es ist vielmehr die Fähigkeit, sich auf die subtilen Eigenschaften

dessen, was die inneren Sinne gefunden haben, zu konzentrieren. Dies

lässt sich in diesem Stadium nur zeitweilig, für wenige Sekunden oder

gar Minuten erreichen.

Siebtes Glied Dhyana wird im Allgemeinen als „Meditation" übersetzt.

Hier wird die zeitweilige Konzentration des Dharana auf die nächste Ebe-

ne gehoben. Die Konzentration wird durchgängig und kann für längere

Zeit bei dem verweilen, was unsere inneren Sinne wahrnehmen.

Die Eigenschaften von Dharana und Dhyana sind Parallelen zu den An-

fangsphase des inneren Auflösens in der daoistischen Meditation. Wird

Dhyana für längere Zeit auf eine Eigenschaft der Energie angewandt, so

ist dies eine Vorbereitung auf das achte Stadium, Samadhi.

Achtes Glied Samadhi hat mehrere fortschreitend komplettere Formen.

In Übersetzungen wird es oft als ein Zustand des Überbewusstseins oder

Gipfelerfahrungen von veränderten Bewusstseinszuständen bezeichnet.

Die Eigenschaften des Samadhi entsprechen der Tiefe und den Eigen-

schaften der Leere im Buddhismus und im Daoismus. Diese Eigenschaften

sind wesentlich für das Auflösen von Blockaden in den ersten sieben

Energiekörpern des Praktizierenden mit Hilfe des inneren Auflösens.

475

Das Gewahrsein der inneren Sinne beginnt Schritt für Schritt zu dämmern

und aktiv zu werden, während die inneren Blockaden und Hindernisse im

spirituellen Kern des Kampfkünstlers allmählich aufgelöst werden.

Schritt 1: Das bewusste Gewahrsein im physischen Körper fokussieren Kampfkünstler dazu zu schulen, ihr bewusstes Gewahrsein tief in ihrem

physischen Körper zu fokussieren, ist ein wesentlicher und riesiger erster

Schritt in den spirituellen Kampfkünsten. Diese Konzentration erlaubt

es dem bewussten Gewahrsein des Kampfkünstlers, tief in die Hülle des

Körpers einzudringen, unter die Haut und die Muskeln. Damit vergrößert

sich auch das Vermögen, die subtilen Empfindungen in all den Körper-

flüssigkeiten und physischen Geweben des Körpers zu wecken und zu

spüren - in Muskeln, Bändern, inneren Organen, Drüsen, dem Blut und

anderen Bewegungen von Flüssigkeit.

Diese Fähigkeiten sind im Westen nicht ganz unbekannt. Am häufigs-

ten werden sie von Heilem eingesetzt, um energetisch zu spüren, was im

Körper eines anderen Menschen vor sich geht. So kann zum Beispiel ein

Cranio-Sacral-Therapeut nicht nur die Bewegung der Membrane, die das

Rückenmark und das Gehirn umhüllt, fühlen und sie ausgleichen, sondern

auch die Bewegung der cerebro-spinalen Flüssigkeit, die deren Funktion

beeinflusst. Osteopatische Therapeuten, die sich auf die Manipulation der

Eingeweide spezialisiert haben, können die Bewegung von Flüssigkeiten

im Körper eines Patienten spüren, innerhalb der Gelenke und zwischen

den Gelenken, in der Wirbelsäule, den inneren Organen und den weichen

Bindegeweben des Körpers. Der freie, natürliche Fluss dieser Flüssigkeiten

fordert die Gesundheit, ein eingeschränkter Fluss verursacht Probleme.

Allein durch den Gebrauch ihres bewussten Gewahrseins können sowohl

gewöhnliche Ausübende der Inneren Kampfkünste als auch Ausübende

der spirituellen Kampfkünste lernen, das zu spüren und zu regulieren, was

in ihrem eigenen Körper auf sehr tiefen Ebenen vor sich geht. Wie gut sie

das zu tun vermögen, hängt von dem Ausmaß ab, in dem sie ihrer inneren

Sinne gewahr sind und diese benutzen können.

In den spirituellen Kampfkünsten wird dies auf zweierlei Weise er-

reicht:

1. Kampfkünstler werden dazu geschult, das Chi des Körpers zuerst

bewusst wahrzunehmen und es dann zu lenken. Das Chi erzeugt

dann die körperlichen Bewegungen.

476

2. Als Alternative und Brücke zu diesem bewussten Erkennen des Chi

werden die Ausübenden dazu geschult, die Eigenschaften des inne-

ren Drucks innerhalb des Körpers zu fühlen und zu verändern, was

indirekt zur mechanischen Ausführung körperlicher Bewegungen

führt.

Schritt 2: Gewahrsein in das Chi aller acht Energiekörper einbringen Für die meisten Kampfkünstler ist das Erwecken der inneren Sinne zu den

Empfindungen ihres physischen Körpers eine echte Herausforderung. Dies

ist jedoch noch eine der Anfangsebene entsprechende, relativ leicht zu

erreichende Zugangsweise; schwieriger ist es, der subtileren Eigenschaften

des Chi in den restlichen sieben Energiekörpern direkt gewahr zu wer-

den - jener Eigenschaften, die ihre Energiekanäle, Gefühle, Gedanken,

außersinnlichen Wahrnehmungen und ihr Karma konstituieren. Dieses

Training als solches ist nur der Beginn des ganzen Prozesses.

Die spirituellen Kampfkünste verlangen, dass die Ausübenden zur Tota-

lität ihrer Kapazität zu Gewahrsein erwachen. Anfänglich wird dies als ein

Mittel zu verschiedenen spirituellen Zwecken verwendet, bis es schließlich

zu einem Selbstzweck wird. Das Ziel ist, einer Sache gewahr zu werden, die

mit vielen Namen benannt wird - persönliche Essenz, persönliches Dasein

oder persönliche Seele und in sehr wenigen Fällen schließlich sogar

darüber hinaus des Bewusstseins, das das gesamte Universum durchdringt,

gewahr zu werden und in Einklang damit zu kommen.

Der Herz-Geist, oder des Gewahrseins des Gewahrseins selbst gewahr werden

Das Gewahrsein muss sich verlagern, bis sich die Schranken zwischen

dem bewussten Denken und dem, was im unbewussten Geist vor sich

geht, auflösen und immer transparenter werden. Des Gewahrseins des

Gewahrseins selbst gewahr zu werden, hilf einem Menschen, besonders

hartnäckige und höchst konditionierte Gefühle und Bewusstseinszustände

zu transformieren. In unterschiedlichen spirituellen Traditionen hat das

Gewahrsein des Gewahrseins selbst unterschiedliche Namen, etwa Herz-

Geist, Geist, Essenz oder Bewusstsein. Was ist es also genau?

Jedermann ist dessen gewahr, wessen er oder sie gewahr ist. Das gilt,

ob es den Sinnen nun als Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Inter-

477

pretationen oder Urteile erscheint. Ich kann zum Beispiel sehen, hören,

betasten, riechen oder schmecken. Ich mag mich glücklich, traurig, zornig,

ängstlich oder liebevoll fühlen. Wasser ist weich; Fels ist hart. Ich mag

dieses oder verabscheue jenes; eine Sache ist relativ besser oder schlechter

als eine andere.

Es ist allerdings schwieriger, die all dem zugrunde liegende Ursache

direkt zu erkennen, also die spezifische Gewahrseins-Qualität unserer Seele

oder unseres Geistes, die es überhaupt erst möglich macht, irgendeiner Sa-

che gewahr zu sein. Dies ist der Punkt, an dem das Herz oder das spirituelle

Bewusstsein und das Denken des rationalen Geistes zusammenkommen.

Dies ist die Wurzel, der neutrale Grund innerhalb eines Menschenwesens,

aus dem die Wahrnehmungsfähigkeit aufsteigt und der jeglicher Yin-Yang-

Beziehung des rationalen Denkens oder der Gefühle vorausgeht, der aber

selbst von diesen in keiner Weise beeinflusst wird.

Diese Herz-Geist-Qualität - das Gewahrsein des Gewahrseins selbst - fehlt

normalerweise in den Trainingsmethoden der meisten gewöhnlichen

Kampfkünste. Darum wird sie auch von den meisten Kampfkünstlern nicht

erkannt und sie sind sich ihrer Existenz nicht bewusst.

Innerhalb der entweder klaren oder trüben Wasser des Herz-Geistes

lebt der ultimative Kontext der Spiritualität, der allem vorangeht. Ohne

seine Aktivierung können sich sämtliche Tatsachen, Meinungen, Inter-

pretationen, Urteile und so weiter nicht manifestieren oder als bewusste

Gedanken erscheinen. Nur der Herz-Geist kann wahren inneren Frieden,

Ausgeglichenheit und Mitgefühl erzeugen - einen Frieden der dauerhaft

und klar anstatt vorübergehend und trübe ist.

Warum das Gewahrsein des Gewahrseins selbst wichtig ist Der Gebrauch des Herz-Geistes ist ein machtvoller, allerdings verborgener

Bestandteil der östlichen spirituellen Schulungswege. Wenn man in den

Kampfkünsten ausgiebig Gebrauch von ihm macht, so vergrößert das un-

ser Vermögen, das Chi und die Art und Weise, wie es auf all den subtilen

Ebenen unseres Daseins, von der physischen bis zur karmischen, blockiert

wird, zu erkennen. Es erhöht auch beträchtlich die Geschwindigkeit, mit

der ein Kampfkünstler das innere Auflösen anwenden kann, um Blockaden

des Chi innerhalb der acht Energiekörper in die Leere hinein aufzulösen.

Aus daoistischer Sicht ist der Herz-Geist oder das Gewahrsein des Ge-

wahrseins selbst, der einzig wahre innere spirituelle Testmechanismus, den

wir Menschen haben. Mit den normalen emotionalen oder intellektuellen

478

Mitteln allein, ist der Mensch darauf beschränkt, lediglich erkennen zu

können, ob Symptome und Umstände sich verändern. Er ist nicht in der

Lage, die energetischen Ursachen zu erkennen, die es den Symptomen

spirituellen Fehlverhaltens ermöglicht, einfach ihre Form zu verändern

und zu einem späteren Zeitpunkt wiederum als eine Variation desselben

zugrunde liegenden Musters aufzutauchen.

Die verschiedenen Formen der Chi-Energie, von der physischen bis zur

karmischen, sind alle in den Wassern des Herz-Geistes zuhause. Wenn das

Licht des Herz-Geistes sie nicht erhellt, bleiben die spirituellen Störungen

in einem Menschen fixiert und können nicht wirklich verändert wer-

den. Man kann das mit der Situation vergleichen, dass ein Kampfkünstler

während des Kampfes seine Verteidigung vernachlässigt. Die spirituellen

Schwachpunkte eines solchen Menschen machen ihn ständig verwundbar

für spirituelle K.O. Schläge, so dass es ihnen nicht möglich ist, regelmäßig

zur nächsten Ebene der spirituellen Evolution fortzuschreiten.

Der Herz-Geist verleiht dem Kampfkünstler Kraft und setzt seine subtilen

Wahrnehmungen frei. Sie werden dadurch unendlich viel sensibler für die

konkrete Wahrnehmung, wie und wo sie energetisch für den Schmutz, der

ihre Seele gefangen hält, blind sind. Das macht es ihnen möglich, bewusst

zu erkennen, ob die Energie in ihrem Inneren frei fließt oder nicht, und

aus dem Bauch heraus zu begreifen, wie dieser Fluss auf natürliche Weise

zu Freude und Frieden in ihrem innersten Kern führen kann.

Der Prozess, durch den man des Gewahrseins gewahr wird, vollzieht sich

schrittweise. Eine klassische Metapher weist daraufhin, wie dieser Prozess

vom teilweisen zum vollen Gewahrsein des Gewahrseins fortschreitet.

In dieser Metapher ist das Glas das, wofür Sie sich halten - die fortlau-

fende Yin-Yang-Erfahrung Ihres Körper-Geistes, die in jeder Sekunde Ihres

Lebens vorhanden ist. Das Glas ist der spirituelle Boxkampf des Lebens,

in dem es normalerweise keinerlei Pausen zwischen den einzelnen Run-

den und zwischen Siegen und Niederlagen gibt. Der Schmutz oder „rote

Staub" repräsentiert die spirituellen Blockaden in ihren unterschiedlichen

Chi-Formen innerhalb der ersten sieben Energiekörper - vom physischen

Körper zum Körper der Individualität -, die im Wasser des Herz-Geistes

leben und dort herumschwimmen. Das Wasser ist der reine Zustand des

Herz-Geistes.

Zuerst wird das Glas mit allem möglichen Schmutz oder rotem Staub

gefüllt, der in dem Wasser herumwirbelt. Wenn der Rote Staub aufhört

herumzuwirbeln und sich auflöst, verwandelt sich der rote Staub in das

479

klare Wasser des Herz-Geistes oder das Gewahrsein des Gewahrseins selbst,

die einzige Quelle, die es einem Menschen ermöglichen kann, wirklich

herauszufinden wer er ist. Bevor jedoch die inneren Sinne eines Menschen

erwachen, sind da nur das Glas und der Schmutz, aber kein bewusstes

Erkennen des Wassers, das sich aus dem roten Staub absetzen kann.

Während Kampfkünstler immer länger daran arbeiten, mit ihrem Chi in

Kontakt zu kommen und es zu benutzen, erwachen sie früher oder später

zu der Empfindung des Chi in ihrem Körper. Damit das geschehen kann,

muss irgendein Teil des Ausübenden notwendig eines kleinen Schimmers

des Herz-Geistes gewahr werden. Ansonsten könnten die inneren Sinne

gar nicht erst aktiviert werden. Wenn es so weit ist, dann ist, in den un-

sterblichen Worten von Sherlock Holmes, „das Spiel eröffnet".

Gewahrsein des Herz-Geistes beschleunigt den Pfad der spirituellen Entwicklung Um uns einem spirituellen Feind stellen und ihn besiegen zu können, müssen

wir erst einmal wissen, wo und was er ist. Wenn wir innerlich zum Herz-Geist

erwachen und dazu Zugang gewinnen, ermächtigt uns das dazu, die Ener-

gien im Körper (besonders das Karma) ganz konkret zu erfahren und, was

noch wichtiger ist, zu spüren, ob sie blockiert sind oder frei fließen können.

Sind die inneren Feinde erst einmal erkannt, dann können wir dar-

an arbeiten, sie zu besiegen, indem wir die verschiedenen Meditations-

methoden anwenden, um die emotionalen, mentalen, psychischen und

karmischen Drachen zu besiegen. Diese Techniken werden von der Kraft

des Herz-Geistes dergestalt überlagert, dass sie sich auf das fokussieren,

was zu einem gegebenen Zeitpunkt blockiert ist. Auf diese Weise kann

man die Blockaden deutlich schneller auflösen und freisetzen, als es mit

gewöhnlichen intellektuellen Methoden möglich wäre. Dieser Prozess wird

idealerweise fortgesetzt, bis alles blockierte Chi in den Wassern des Herz-

Geistes völlig frei fließend wird.

An diesem Punkt wird das Wasser des Herz-Geistes (das Chi des sieb-

ten Energiekörpers) völlig offensichtlich, und zwar nicht als flüchtige

Erfahrungen, sondern als ein dauerhafter, stabiler, pulsierender und be-

wusster Zustand. Ist der siebte Energiekörper stabilisiert, dann ist in der

daoistischen Wasser-Tradition die Bühne für die Anwendung der Inneren

Alchimie bereitet und man kann als Abschluss der spirituellen Schulung

damit beginnen, die Natur des Gewahrseins zu erkunden, das das gesamte

Universum durchdringt.

480

Mit dem Ausgleichen und den Eigenschaften von Yin und Yang arbeiten

Die Beziehungen von Yin und Yang sind unendlich. Sowohl die gewöhn-

lichen als auch die spirituellen Inneren Kampfkünste erforschen sie in die

Tiefe gehend. Das Erkennen der augenscheinlich gegensätzlichen Eigen-

schaften von Yin und Yang und deren effizienter Gebrauch innerhalb der

spirituellen Kampfkünste verstärken sowohl die körperlichen als auch die

geistigen Fähigkeiten. Wenn man lernt, wie Yin und Yang funktionieren,

beginnt man mit dem physischen Körper und weitet die Übung schließlich

auf alle acht Energiekörper aus. Jeder Energiekörper hat ganz bestimmte

Bereiche, in denen sich die Aspekte von Yin und Yang zeigen und unter-

schiedlich manifestieren.

Von einem schlichten körperlichen Standpunkt betrachtet, kann es zum

Beispiel darum gehen, wie die Arme oder Beine sich strecken oder sich

vom Körper weg bewegen (Yang), oder wie sie sich zusammenziehen und

zum Körper hin bewegen (Yin). Aus einer einfachen körperlichen Chi-

Perspektive könnte man betrachten, wie Chi-Bewegungen offensiv (Yang)

oder defensiv (Yin) wirken können. Man könnte abwechselnd Chi aus dem

Körper projizieren (Yang) oder es absorbieren (Yin), und zwar mit densel-

ben oder mit verschiedenen Körperteilen. Eine andere Möglichkeit wäre,

gleichzeitig mit verschiedener Stärke und aus verschiedenen Richtungen

mit denselben oder mit verschiedenen Körperteilen Energie zu projizieren

und zu absorbieren, zum Beispiel aus der sich streckenden Hand und von

hinten in die Wirbelsäule.

Wenn wir die Details einer jeden der vielen Yin-Yang-Beziehungen

verstehen, kann der Fluss zwischen ihnen optimal und ohne inneren Wider-

stand ablaufen und ausgeglichen werden, so dass man dem anderen nicht

schadet. Das Potenzial von Yin und Yang wird gänzlich verwirklicht, wäh-

rend die Kampfkünstler die Fähigkeit erlangen, flüssig von einem Zustand

zum anderen oder von einer Einstellung zur anderen überzugehen, statt

in ihren Emotionen, Gedanken, außersinnlichen Intuitionen, karmischen

Strömungen und in ihrer individuellen Essenz oder Seele eingekapselt

oder eingefroren zu beleiben.

Zu den emotionalen Yin-Yang-Eigenschaften (die Yang-Eigenschaften

werden im Folgenden zuerst genannt) gehören zum Beispiel: Zorn-Furcht,

Hoffnung-Verzweiflung, Begeisterung-Lähmung, Freude-Depression. Zu

den mentalen und vom Geist angetriebenen Yin-Yang-Eigenschaften ge-

481

hören Stabilität-Fluss, Zeit-Raum, Machen-Zulassen sowie augenblicklich

ohne Überlegung reagieren und verstehen, was vor sich geht.

Der Herz-Geist und das Auflösen von Yin-Yang-Fixierungen Kampfkünstler können leicht an einem der beiden Extreme jeder Yin-

Yang-Qualität stecken bleiben oder polarisiert werden. Statt dass es zu

einem reibungslosen Fließen zwischen einer Yin- und einer Yang-Eigen-

schaft kommt, haben wir eine Polarisierung von Yang-Eigenschaft kontra

Yin-Eigenschaft, wobei die eine „gut" oder richtig, die andere „schlecht"

oder falsch ist. Wenn Ausübende durch vergangene Einflüsse in ihrem

Leben hinreichend konditioniert sind, können sie die Fähigkeit verlieren,

sich reibungslos zu wandeln, wenn es nötig ist. Sie mögen zwar wissen,

dass sie zwanghaft in derselben emotionalen, mentalen, psychischen oder

karmischen Wagenspur verharren, und „sündigen" doch weiterhin. Selbst

wenn sie ernsthaft damit aufhören möchten, schaffen sie es nicht, so sehr

sie es auch versuchen.

Die Heilung der spirituellen Krankheit einer solchen Fixierung liegt nicht

nur in einer besseren Fertigkeit im flüssigen Umgang mit den Eigenschaften

einander entsprechenden Yin-und-Yang-Polaritäten. Zur Heilung gehört

auch, dass man Zugang zu der Quelle gewinnt, aus der diese Fixierungen

entstehen - also zum Herz-Geist oder dem Gewahrsein des Gewahrseins

selbst. Wenn ihnen dies gelingt, sind Kampfkünstler in der Lage, die spezi-

fische energetische Yin- oder Yang-Polarisierung aufzulösen, die Energien

wieder in den Kern ihrer Energiematrix zu absorbieren und ohne Fixierung

oder energetische Aufladung wieder daraus hervorzutreten.

Neben dem Herz-Geist haben die Chinesen und Daoisten noch einen

anderen Ausdruck für das, was das Yin-Yang in Erscheinung treten lässt,

nämlich „Tai Chi", so etwa in der Formel: „Tai Chi gebiert das Liang Yi."

In Hinsicht auf Yin-Yang ist die Energie des Tai Chi neutral. Sie ist all-

umfassend und nicht polarisiert. Damit ein Mensch sie benutzen kann,

muss er Zugang zum Herz-Geist (dem Gewahrsein des Gewahrseins selbst)

erlangen und die Energie des spezifischen Yin oder Yang in die Leere hinein

freisetzen, so dass sie in Zukunft alles Mögliche werden kann, ohne Ver-

pflichtung oder Neigung dazu, irgendeine spezifische Form anzunehmen.

Da dieses Tai Chi das Yin-Yang und zugleich nicht das Yin-Yang ist, ist dies

der Punkt, den Kampfkünstler erreichen müssen, wenn sie eine Blockade

erfolgreich mit dem inneren Auflösen beseitigen wollen. Wird der Herz-

Geist als ein Werkzeug zur Fokussierung auf die Auflösung spezifischer

482

Yin-Yang-Fixierungen benutzt, so erlaubt dies der Methode des inneren

Auflösens, die anstehende Arbeit wesentlich schneller zu erledigen, als

dies mit praktisch jeder anderen Methode möglich wäre. Der Herz-Geist

kann die tiefsten psychischen und karmischen Wunden aus der Seele eines

Kampfkünstlers entfernen.

Die Beziehung des Sparring zu den fünf Arten der Übung

Sowohl die Inneren Kampfkünste als auch die daoistische Meditation er-

reichen ihr Ziel auf allen Ebenen, indem sie zwischen fünf Arten der

Übung abwechseln, von denen vier ohne jeglichen Kontakt mit anderen

Ausübenden praktiziert werden.

In den spirituellen Kampfkünsten geschieht dies auf zweierlei Weise.

Die erste Methode wird vor und nach dem Sparring angewendet. Die

zweite wird im Sparring in genau dem Moment angewendet, wo die Dä-

monen des Kampfkünstlers in Erscheinung treten. Der Lehrer friert dann

den Sparringvorgang ein oder lenkt ihn, selbst mitten im Fluss. Dies ist

der Punkt, an dem der Kampfkünstler schwere Fälle von blockierten Chi

am leichtesten erkennen und damit umgehen kann. Den Feind in seiner

gefährlichsten Form zu erkennen, bietet eine ideale Gelegenheit, wirksam

mit ihm umzugehen. Der Lehrer wird den Kampfkünstler dann sofort

oder unmittelbar nach dem Sparring auffordern, bestimmte Soloübungen

aus dem Bereich der ersten vier Arten der Übung auszuführen, um das

blockierte Chi aufzulösen. Diese sind:

1. Stillstehen, wobei die Arme eine bestimmte Positur beibehalten, wie

es im Chi Gung, Tai Chi und der anfänglichen San-Ti-Übung des

Hsing-I praktiziert wird.

2. Bewegungen, wie in den meisten Chi-Gung- und allen Tai-Chi-

Formen, in den Fünf Elementen des Hsing-I und in den Kreisgang-

Techniken des Ba Gua.

3. Sitzen, die Standardposition der daoistischen Meditation und eine

fortgeschrittenere Methode innerhalb der gewöhnlichen Inneren

Kampfkünste.

4. Liegen, eine fortgeschrittenere Methode sowohl in den Kampfküns-

ten als auch in der daoistischen Meditation.

483

5. Interaktive Praktiken, bei denen der Kampfkünstler es mit etwas

außerhalb seiner selbst zu tun hat. Das können Partnerübungen sein,

das Push Hands des Tai Chi, das Rou Shou (weiche Hände) des Ba

Gua und natürlich nicht abgesprochenes Sparring.

Zur daoistischen Meditation gehören auch noch andere spirituelle Prak-

tiken, von denen einige mit (einem) Partner(n) ausgeführt werden. Dazu

gehören sexuelle Praktiken mit einem Partner des anderen Geschlechts, der

Umgang mit den Fünf Elementen in der Natur, Beziehungen zu Geistwesen

und Interaktionen mit dem vollen Spektrum der Energien in den ersten

sieben Energiekörpern anderer zu verschiedenen Zwecken.

Abschluss: Die Spiritualität ins tägliche Leben integrieren

Es ist für Kampfkünstler eine relativ leichte Aufgabe, lediglich mit dem

umzugehen, was innerhalb ihrer eigenen spirituellen Welt geschieht. Die

spirituelle Praxis wird jedoch komplizierter, wenn man auch effektiv mit

dem unvorhersehbaren Verhalten anderer Menschen umgehen muss sowie

mit dem, was bei uns in Reaktion auf diese Unvorhersehbarkeit aktiviert

wird. Eine klassische östliche Geschichte illustriert diese Situation, die

auch in dem alten daoistischen Spruch „Der am tiefsten erleuchtete da-

oistische Weise lebt in der Stadt und nicht in einer Einsiedelei auf dem

Lande" formuliert ist:

Nach vielen, vielen Jahren der Praxis sitzt ein heiliger Mann (der die

ersten vier Arten der Soloübungen praktiziert) in Meditation auf dem

Gipfel eines Berges. Er scheint erleuchtet zu sein, da nichts seinen Geis-

tesfrieden stört.

Also entschließt er sich, seinen Berg zu verlassen und in der Stadt zu

leben. Er möchte auf die Probe stellen, ob seine meditative Stabilität echt

ist oder nur ein vorübergehendes Nebenprodukt seines Lebensstils. Er sagt

sich, dass er in der Lage sein wird, geschickt mit dem hektischen Alltags-

leben in der Stadt umzugehen, wenn sein Geist wirklich stabil und klar ist.

Vielleicht macht er dort ein Geschäft auf oder wird zu einem Arbeiter, der

es mit einem Boss und Mitarbeitern zu tun bekommt oder mit Menschen,

die hinter seinem Rücken Klatsch und Lügen über ihn verbreiten, oder er

lernt eine Frau kennen und so weiter. Schon nach kurzer Zeit wird der

heilige Mann sehr nervös und rastet schließlich aus, weil er es mit all diesen

484

widerspenstigen Menschen sowie mit unvorhersehbaren und chaotischen

Situationen zu tun bekommt.

Vom Standpunkt der spirituellen Kampfkünste gesehen, ist dieser

„heilige Mann" ein authentischer Suchender nach Spiritualität, der auch

im täglichen Leben Erfolg haben möchte. Er erkennt, dass die spirituelle

Stabilität, die er zu besitzen glaubte, nicht echt ist. Sie ist eine schöne

Selbsttäuschung - nichts als eine Illusion. Aber er sieht auch, was seine

spirituellen Feinde wirklich sind. Also geht er zurück auf seinen Berg,

um sie zu besiegen. Wenn er meint, nun einen stabilen Geist zu besitzen,

geht er zurück in die Stadt, um diesen zu testen. Aber ach, neue Probleme

tauchen auf, und so muss er wieder und wieder auf seinen Berg zurück-

kehren, um sie zu überwinden. Er weiß, das er sieh schulen muss, bis sein

Geist im alltäglichen Leben in der Stadt klar und offen bleibt, einem Leben

mit allen Höhen und Tiefen der unendlichen Vielfalt innerer Erfahrungen

und äußerer Ereignisse, die der Fluss des Lebens eines jeden Menschen

so mit sich bringt.

Schlaglicht auf ein spezielles Thema

Meister der spirituellen Kampßtünste

Wenn ein Ausübender der Inneren Kampfkünste das Potential zur großen

spirituellen Transformation besitzt, ist es äußerst wichtig, dass er oder sie

sich unter einem Meister sowohl der Inneren Kampfkünste als auch der

daoistischen Meditation schult. Es kann gefährlich sein, mit jemandem

zu arbeiten, der kein Meister ist, da die emotionale, mentale, psychische

und karmische Gesundheit des Schülers auf dem Spiel steht und man

nicht leichtsinnig mit dieser herumspielen sollte. Mit der psychischen

und karmischen Gesundheit der Seele eines Menschen umzugehen, ist ein

sehr viel ernsthafteres Geschäft als das Lehren körperlicher Selbstvertei-

digungstechniken.

Meister wissen, was vor der kritischen Situation des Kampfes, während

des Kampfes und danach emotional, mental und psychisch in einem

Praktizierenden ausgelöst wird. Als erfahrene Meditierende beherrschen

Meister die Kunst der Überwindung innerer Dämonen. Sie wissen, wie

sie einem Schüler, der ausgerastet ist, weiterhelfen können. Sie sehen,

wie es mit der Praxis eines Schülers läuft, in all ihren Höhen, Tiefen und

Plateaus. Ein Meister weiß, wie die vielen Meditationsmethoden funktio-

485

nieren und wie sie sich wahrscheinlich kurzfristig wie langfristig auswir-

ken und wie er sie unter unterschiedlichen Umständen auf die jeweiligen

inneren Bedürfnisse des Schülers abstimmen kann.

Meister vermögen effektiv das Nei Gung in seiner Beziehung zu den acht

Energiekörpern lehren. Sie verstehen die Energie eines Schülers auf vielen

Ebenen gleichzeitig zu lesen und richtig zu interpretieren. Dies verlangt

ein tiefes persönliches Wissen, das dadurch entstanden ist, dass sie das

Chi über lange Zeit hinweg erkannt und benutzt haben.

Meister wissen, wie sie spezifische Nei-Gung-Methoden so anpassen kön-

nen, dass sie gut zusammenpassen und es einen glatten Fluss zwischen

den Kampf- und Meditationstechniken der spirituellen Kampfkünste gibt.

Während in einem ständigen Fortschreiten aus der einen oder der ande-

ren Richtung immer machtvollere Techniken vermittelt werden, hebt ein

jeder der beiden Aspekte den anderen auf eine höhere Ebene. Auf diesem

Niveau wird das Kämpfen zu einer Weise der Entwicklung der Spirituali-

tät, und es setzt die acht Energiekörper des Schülers frei. Ebenso kann der

Umgang mit den acht Energiekörpern in der Meditation benutzt werden,

um die Fertigkeiten im Kampf zu vergrößern.

Auch wenn manche Lehrer vielleicht versucht sein mögen, zu experi-

mentieren und das spirituelle Rad neu zu erfinden, sollte man sich doch

daran erinnern, dass die Traditionen der spirituellen Kampfkunst sich

über Jahrhunderte wenn nicht gar Jahrtausende entwickelt haben. Dies

machte eine Ausformung der metaphysischen Erforschung und Entwick-

lung möglich, während der es genügend Zeit gab, um die oft verborgenen

und manchmal geheimnisvollen „Macken" herauszuarbeiten, die in jedem

spirituellen System vorhanden sind. Hätte man solche Defekte nicht be-

hoben, dann hätten sie zu Versagen oder im schlimmsten Fall zum Verfall

der Schüler führen können.

Die Reise des heiligen Mannes zwischen Berg und Stadt ähnelt dem Hin und

Her des Kampfkünstlers zwischen Soloübung, Meditation und Sparring,

wobei er seine inneren Blockaden und Dämonen aufspürt, sie auflöst und

dann im täglichen Leben unter den Menschen auf die Probe stellt, ob er

damit Erfolg gehabt hat. In diesem Prozess wird man die Vielzahl von in-

tensiven emotionalen, mentalen, psychischen und karmischen Erfahrungen

machen, die im Sparring auftauchen können. Die spirituellen Blockaden,

auf die man stößt, sind wie ein innerer Druck, der oft unbemerkt bleibt,

bis es zu einer Art innerer Krise kommt, die aber auch durch das Sparring

provoziert und offenbart werden kann.

486

Der körperliche Kampf ist vor allem dort, wo die Möglichkeit besteht,

dass man sein Leben verliert, ultimativer Ausdruck sowohl des animali-

schen als auch des menschlichen Triebes nach Macht und Herrschaft. Ganz

gleich, wie brutal sie sein mögen, sind Sport, Geschäft und Machtpolitik

doch nur Sublimierungen, die in Hinsicht auf diesen primären Trieb sekun-

därer Natur sind. Da dieser Trieb ein so tief verwurzelter Bestandteil aller

nicht-spirituellen Aspekte der menschlichen Natur ist, stellt seine Aktivie-

rung in seiner ursprünglichsten hormonalen und unmittelbaren Form im

Sparring dem spirituellen Kampfkünstler eine Abkürzung zur Verfügung,

die seine spirituelle Reise beschleunigt. Das Ziel ist, den Kampfkünstler

in die Lage zu versetzen, sämtliche spirituellen Feinde zu besiegen, ob sie

nun im Kampf oder im täglichen Leben auf sie treffen.

Am Ende ihrer spirituellen Reise müssen Kampfkünstler das Gewahrs-

ein des Gewahrseins selbst in ihr alltägliches Leben einbringen und in all

ihren Beziehungen spirituelle Qualitäten verkörpern. Sie müssen werden

wie der heilige Mann, der lernt, in der Stadt ebenso frei und spirituell zu

leben wie auf seinem einsamen Berggipfel.

Sich voll und ganz dem Herz-Geist zu überlassen, befreit die Menschen

von ihren inneren Gespenstern und Dämonen und erlaubt es ihnen, in

der Menschenwelt größere Freude und Freiheit zu erfahren. Sie werden

zu spirituellen Wesen, die die Eigenschaften von Universalität, Ausgegli-

chenheit und Mitgefühl verkörpern. Dies mag als ein fast unmögliches

Ziel erscheinen, das nur wenige erreichen. Doch der Kampfkünstler, der

auch nur kleine Schritte in diese Richtung macht, wird nicht nur in seinen

Fertigkeiten im Kampf, sondern auch in seiner spirituellen Entwicklung

einen Quantensprung machen.

487

Anhang A: Die verschiedenen Stile des Tai Chi

Eine kurze Geschichte

Der Ursprung der verschiedenen Stile des Tai Chi

Viele Menschen haben behauptet, den genauen Ursprung des Tai Chi zu

kennen. Einige dieser Behauptungen scheinen einigermaßen berechtigt zu

sein, andere sind eindeutig fragwürdig, und wieder andere scheinen aus

reinem Eigeninteresse geboren zu sein. Über die Ursprünge des Tai Chi

wurden dermaßen viele Bücher geschrieben - sowohl auf Chinesisch als

auch in anderen Sprachen -, dass seine Geschichte hier nur in Umrissen

skizziert wird. In dieser kurzen Geschichte werden Punkte behandelt, die

für Menschen, die das Tai Chi in der hoch technologisierten Umwelt zu

Beginn des 21. Jahrhunderts lernen und davon profitieren wollen, von

Bedeutung sind. Alle inneren Kampfkünste einschließlich des Tai Chi ver-

mitteln nicht nur Fertigkeiten für den Kampf, sondern sind von großem

Wert für Gesundheit und Heilung sowie für den Umgang mit Stress und

die Stressreduktion. Außerdem verleihen sie dem Praktizierenden im all-

täglichen Leben das Gefühl eines dringend benötigten Gleichgewichts.

Wo die Ursprünge des Tai Chi vor seiner Ankunft im Dorf Chen liegen,

ist umstritten, und es wäre wohl mehr als schwierig, eine über jeden

Zweifel erhabene historische Antwort auf diese Frage zu geben. Eines

jedoch lässt sich mit Sicherheit sagen: Was die Moderne angeht, liegt die

Quelle dessen, was allgemein als erstklassiges Tai Chi anerkannt ist, im

Dorf Chen in Zentralchina.58

58 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor studierte den Chen-Stil des Tai Chi Mitte

der 1980er Jahre bei Feng Zhi Qiang, einem Schüler von Chen Fa Ke aus dem Dorf

Chen.

489

Um die Ursprünge eines spezifischen Stils oder einer bestimmten Schule

wirklich verstehen zu können, ist es sehr viel erhellender, sich anzuse-

hen, was dort heute geschieht, als die frühe Geschichte dieser Richtung

zu studieren. Auf diese Weise kann man herausfinden, welche Art von

Gung-Fu-Fertigkeiten ihre Lehrer heute besitzen und ihre Schüler erlernen.

Will man zwischen Legende und Wunschdenken einerseits und wahrer

Substanz andererseits unterscheiden, dann braucht man sich nur die Natur

der äußeren Kampfbewegungen, die eine Schule lehrt, sowie die vermit-

telte innere Arbeit und die am stärksten betonten Direktiven der Gruppe

anzusehen, etwa: „Entspanne dich!" - „Steißbein nach unten!" - „Senke

dein Chi ab!" - „Öffne und schließe deine Gelenke und deine Wirbelsäule!"

Kurz gesagt: Konzentrieren Sie sich auf die tatsächliche Struktur dessen,

was die Ausübenden tun, denn das ist letztlich all das, womit ein Schü-

ler es hier zu tun bekommt. Der historische Bericht über die Entstehung

eines Kochrezepts mag faszinierend sein, aber er ist gewöhnlich weniger

wohlschmeckend als das heute gekochte Gericht.

Das ursprüngliche Tai Chi aus dem Dorf der Chen-Familie

Es gibt vier hauptsächliche Theorien darüber, wie das Tai Chi erstmals in

das Dorf Chen gelangte (wo der Ursprung des Tai Chi Chuan liegt). Die

erste Theorie besagt, dass der berühmte daoistische Unsterbliche Chang

San Feng einst beobachtete, wie ein Kranich mit einer Schlange kämpfte.

Basierend auf seinen Beobachtungen, kreierte er eine neue sanfte innere

Kampfkunst, die sich von dem äußeren Gung Fu aus dem Shaolin-Kloster

unterschied und in die er alle Weisheit, alle militärischen Strategien und

Methoden der Lebensverlängerung des Daoismus einfließen ließ. Dieses

Wissen wurde Wang Tsung Yueh überliefert, der eines Tages im Dorf der

Chen-Familie in Zentralchina auftauchte. Dieses abgelegene Dorf lag etwa

sieben Tagesritte vom Shaolin-Kloster entfernt. Die zweite Theorie besagt,

dass Wang Tsung Yueh das Tai Chi von einer von sieben dafür in Frage

kommenden Linien, deren Quellen nicht eindeutig zu bestimmen sind,

erlernte, möglicherweise der Linie von Chang San Feng oder von Linien,

die Hunderte von Jahren älter sind. In diesem Punkt stimmen die erste

und die zweite Theorie überein.

Eines Abends tauchte Wang in der Taverne des Dorfes der Chen-Familie,

in dem fast alle Bewohner Blutsverwandte oder durch Heirat miteinander

490

verbunden waren, auf. In den Gesprächen, die sich ergaben, verunglimpfte

Wang die Kampfkunst des Dorfes, auf die die Chens sehr stolz waren und

die sie benötigten, um sich gegen Banditen und Kriegsherren zu vertei-

digen. Schließlich platzte den Dorfbewohnern, die sich beleidigt fühlten,

die Hutschnur und sie griffen Wang an. Er nahm die Herausforderung an

und schlug die Angreifer auf sehr überzeugende Weise windelweich. Am

nächsten Tag baten die Dorfbewohner Wang, sie seine erstaunliche Kampf-

kunst zu lehren. Er willigte ein. Da er jedoch nicht genügend Zeit hatte,

sie die körperlichen Bewegungen seiner Kampfkunst zu lehren, passte er

die Prinzipien seiner daoistischen Kampfkunst dem von den Chen-Dörflern

praktizierten äußeren Shaolin-Stil der Kanonenfaust an.

Nach der dritten Theorie wurde das Tai Chi Chuan von einem gewissen

Chen Wan Ting aus dem Chen-Dorf kreiert, der ein kampferprobter Oberst

in der Armee von Chi Chi Guang, Chinas berühmtestem General jener Epo-

che, gewesen war. Als Oberst erwartete man von Chen, dass er die Kunst

des Kämpfens besser beherrschte als die Soldaten, die er anführte, und er

musste jederzeit bereit sein, diese seine Überlegenheit jedem Herausforderer

gegenüber unter Beweis zu stellen.59 Es heißt, dass Chen Wan Ting die

Prinzipien der chinesischen medizinischen Theorie und des Meridiansys-

tems der Akupunktur mit den Kampfkunst-Methoden von Chi kombinierte.

Neunundzwanzig der zweiunddreißig grundlegenden Techniken des Chen

Stil Tai Chi sind mehr oder weniger mit den Methoden identisch, die sich

in dem von Chi Chi Guang für seine Soldaten verfassten Handbuch der

militärischen Ausbildung finden. Chis Methode basierte ganz eindeutig

auf der Shaolin-Kampfkunst.

Die vierte Theorie besagt, dass das Tai Chi von einem Mann namens

Jiang Fa, der aus nicht genannten Gründen auf der Flucht war, in das

Chen-Dorf gebracht wurde. Der General Chen Wang Ting gewährte Jiang

politisches Asyl und Protektion unter der Bedingung, dass er ihn und sei-

nen Clan das Tai Chi lehre. Nach dieser Theorie kannte Jiang Fa sowohl

59 Die militärischen Strukturen sahen in China etwas anders aus als im Westen, wo ein

General sich weit von den Kampflinien entfernt in seinem Sessel zurücklehnt und

die Schlacht lenkt. Wenn sich im alten China zwei Armeen gegenüberstanden, dann

war es manchmal so, dass von jeder Seite ein hervorragender Heeresführer allein

vorpreschte und die beiden sich vor den Augen der beiden Heere im Kampf Mann

gegen Mann miteinander maßen. Diese Generäle trainierten ihre Truppen, und die

Soldaten benutzten ihre Kampfmethoden. Wenn einer der Generäle in diesem Kampf

verlor, dann verstanden seine Soldaten das als Beweis dafür, dass die andere Seite

eine überlegene militärische Technologie (d.h. Kampfkunst) besaß, und es kam vor

dass die Seite des Verlierer sich dann ergab oder die Flucht antrat.

491

Wang Tsuan Yuehs System der inneren Kraft als auch die Kampfmethoden

des Chi Chi Guang. Chi nannte diese Methoden, die im Grunde eine Zu-

sammenfassung der besten Shaolin-Kampftechniken des 16. Jahrhunderts

darstellten, Chang Chuan.

Wie Jiang Fa all dieses Wissen erworben haben soll, wird von dieser

Theorie nicht näher erklärt. Auch nach dieser vierten Theorie war Chen

Wang Ting ein Oberst, jedoch nicht unter Chi Chi Guang, sondern unter

einem anderen General der Ming-Dynastie. Nachdem Jiang Fa Chen Wan

Ting das Material gelehrt hatte, das schließlich zur ersten Tai-Chi-Form

des Chen-Dorfes wurde,60 kreierte Chen Wan Ting selbständig das, was

schließlich zum zweiten Satz des Chen-Stil Tai Chi wurde, die so genannte

Kanonenfaust.

Nach Ansicht des Autors kann man nur zwei Dinge mit einiger Sicher-

heit annehmen: Zuerst einmal, dass der Stil des Tai Chi der Chen-Familie

sich direkt aus dem Militärhandbuch des Chi Chi Guang herleitet oder

einen beiden gemeinsamen Vorläufer hat. Zweitens ist es so, dass der

Chen-Stil zwar deutlich Akupunkturpunkte und die Theorie der Meridian-

linien benutzt, dass er aber besonders auf der mittleren und der höheren

Ebene der Schulung mit den vollständigeren Methoden der daoistischen

Nei-Gung-Methode vereinbar ist, von der das Meridiansystem nur ein

kleiner Teil ist.

Das Tai Chi Chuan verlässt das Chen-Dorf und wird zum Yang- und dann zum Hao-Stil

Der Chen-Stil bringt den Yang-Stil des Tai Chi hervor

Während des folgenden Jahrhunderts entwickelte das Chen-Dorf diese

innere Kampfkunst bis auf ein sehr hohes Niveau weiter. Die Dorfbewoh-

ner wurden reich, indem sie Kräuter anbauten und verkauften, und sie

waren auch deshalb erfolgreich, weil sie die Transportwege ihrer wertvol-

len Produkte zu schützen vermochten. Im 19. Jahrhundert lebte Yang Lu

60 Der Chen-Stil des Tai Chi besaß ursprünglich sechs Formen, die mit der Zeit zu zwei

Formen kondensiert wurden - dem Ersten Satz und der Kanonenfaust.

492

Chan (1799- 1872). Er war ein talentierter und motivierter junger Mann,

der die Kampfkünste liebte. Eines Tages erklärte ihm sein Lehrer, ein sehr

anständiger Mann von großer Integrität, dass er ihn nichts mehr zu lehren

hätte. Doch die Kampfkunst des Chen-Dorfes entspräche dem hohen Ni-

veau der Begabung Yangs, und es sei für ihn der ideale Ort, um sich weiter

zu schulen. Allerdings seien die Lehren dieser erstaunlichen Kampfkunst

geheim und es sei verboten, sie an jemanden weiterzugeben, der nicht zur

Chen-Familie gehörte.

Getrieben von dem brennenden Verlangen, die Kunst zu erlernen,

schmiedete Yang ein Plan, wie er in das Dorf der Chen-Familie hineingelan-

gen konnte, das für Außenseiter verboten war. Er spielte überzeugend einen

Tauben und brachte es so fertig, als Diener der Familie des Kampfkunst-

Anführers des Clans angestellt zu werden. Yang arbeitete hart, erledigte

seine Aufgaben mit großer Zuverlässigkeit und gewann auf diese Weise

allmählich das volle Vertrauen der Familie, so dass man ihm schließlich

die Schlüssel zu allen Räumen des Hauses anvertraute. Das ermöglichte

es ihm, aus einem Versteck das innere Training zu beobachten, das hinter

verschlossenen Türen stattfand. Wenn das Training vorüber war, übte Yang

bis spät in die Nacht eifrig, was er beobachtet hatte, und stand dann wieder

sehr früh auf, um seiner Rolle als vertrauenswürdiger Diener gerecht zu

werden. Dieser heimliche Prozess zog sich über etliche Jahre hin.

Eines Tages wurde Yang erwischt. Einige der Übenden verlangten, dass er

sofort aus dem Dorf verstoßen würde, andere wollten ihn in Stücke reißen.

Der oberste Lehrer erlaubte Yang die Bewegungen zu demonstrieren, die er

durch das heimliche Zuschauen gelernt hatte. Als nächstes gestattete man

Yang, die Herausforderung durch die Kampfkunst-Lehrlinge anzunehmen,

und er besiegte sie alle gründlich. Da sagte sich der Clan-Älteste: „Wenn

dieser junge Mann schon ohne richtige Unterweisung so weit gekommen

ist, was könnte er wohl mit Anleitung erreichen?" Chen war beeindruckt

von dem guten Charakter Yangs und er bewunderte die große Geduld, die er

bewiesen hatte, um die Gelegenheit zu lernen zu bekommen. So beschloss

Chen schließlich, dass man das offensichtliche Talent, die Ausdauer und

die Kompetenz Yangs nicht ignorieren dürfe, und er gab ihm eine letz-

te Einweihung, wobei er seine Ernsthaftigkeit und seinen traditionellen

konfuzianischen Respekt für den Lehrer auf die Probe stellte. Yang be-

stand die Prüfung mit Bravour und wurde bald zu Chens Lieblingsschüler.

Während der ersten sechs Jahre von Yangs Schulung konzentrierte

Chen sich darauf, ihn die innere Kraftarbeit der Form zu lehren, und zwar

493

bis ins kleinste Detail so präzise wie nur möglich. Während der folgenden

sechs Jahre lag die Betonung auf der Verfeinerung seiner Fähigkeit, auf

die Energie zu lauschen, sie zu interpretieren und sie in großem Maße

freizusetzen, was durch die Übung von Push Hands und das Training

mit und ohne Waffen erreicht wurde. Während der letzten sechs Jahre

seiner Ausbildung lernte Yang die Kampftechniken und Strategien, die

man - sowohl mit der leeren Hand als auch mit Waffen - im Kampf auf

Leben oder Tod mit motivierten Gegnern anwendet.

Als Yangs Schulung beendet war, verließ er das Dorf mit den besten

Wünschen seines Lehrers und der Erlaubnis, das Tai Chi außerhalb des

Dorfes an von ihm selbst ausgewählte Schüler weiterzugeben. Yang reis-

te durch ganz China und forderte alle hochangesehenen Kämpfer und

Kampfkunstmeister sowohl mit der leeren Hand als auch mit seiner Lieb-

lingswaffe, dem Speer, der als der „König der chinesischen Waffen" gilt,

heraus, um seine Kunst auf die Probe zu stellen.

Wohin Yang auch kam, besiegte er alle Kampfkünstler, ohne sie zu

verletzen - auch jene, die versuchten ihn zu verstümmeln oder zu töten.

Dies war eine so überragende Ebene des Könnens, dass er überall als ein

Kampfkünstler von höchster Verwirklichung anerkannt wurde.61 Mit dem

Bestehen der vielen Herausforderungskämpfe verdiente er sich den Beina-

men „der Unbesiegbare". Aufgrund seines Könnens erhielt er schließlich den

Posten des Kampfkunstlehrers des Leibwächters des Kaisers, eine Position,

die dem erwiesenermaßen besten Kampfkünstler in ganz China vorbehalten

war. Mit der Zeit wurde das von ihm gelehrte System als das Tai Chi der

Yang-Familie oder einfach das Yang-Stil Tai Chi bekannt.

61 Es gibt zahllose Geschichten über Yang Lu Chan, der verdientermaßen zu einer mythi-

schen Figur in den chinesischen Kampfkünsten wurde. Der Legende nach hat er nach

seinem Abschied aus dem Chen-Dorf nie einen seiner vielen Kämpfe verloren. Viele

Bücher über das Yang-Stil Tai Chi auf Chinesisch und in westlichen Sprachen enthalten

wundervolle und inspirierende Geschichten über seine Heldentaten als Kampfkünstler

und über die seiner Söhne. Diese Geschichten illustrieren die Fertigkeiten, die man

im Tai Chi erlangen kann, aber es fehlen darin oft hinreichend detaillierte Angaben

darüber, wie man diese Fertigkeiten erlangt. Viele dieser Fertigkeiten existieren noch

heute, während andere für spätere Generationen verloren gegangen zu sein scheinen.

494

Der Yang-Stil und der kleine Chen-Stil bringen den Hao/Wu-Stil hervor

Während Yang weiterhin die kaiserliche Elite lehrte, unterrichtete er auch

gewöhnliche Bürger in Beijing. Einer von Yangs ersten Schülern war ein

Mann namens Wu Yu Hsiang. Nach seiner anfänglichen Schulung unter

Yang beschloss Wu, in das Dorf Chen zu gehen, um eine breitere Grundlage

in dieser wunderbaren Kunst zu bekommen. Als er Yangs Meister aufsu-

chen wollte, wurde er stattdessen einem hervorragenden Chen-Stil Meister

der Methode der kleinen Bewegungen vorgestellt. Wu studierte bei ihm

und lernte den kleinen Stil sehr gut. In einem Winkel eines Salzladens in

der Nähe des Chen-Dorfs entdeckte Wu, vielleicht zusammen mit seinen

Brüdern, die Tai Chi Klassiker, welche die philosophischen und praktischen

Grundlagen der innere Kampfkunst der Chen-Familie beschrieben. Etwa zu

dieser Zeit wurde in Beijing auf der Grundlage philosophischer Prinzipien

des Daoismus der Name Tai Chi Chuan geprägt. Dieser Name wird heute

noch verwendet. Wus Kunst konzentrierte sich auf des Aspekt des kleinen

Rahmens des Tai Chi (siehe Seite 189), den man heute nur noch selten

in seiner reinen Form vorfindet. Im 20. Jahrhundert benannte sich der

Wu-Yu-Hsiang-Stil neu und wurde schließlich als der Hao-Stil bekannt,

der nach Hao Wei Zhen benannt wurde. Er verschmolz schließlich mit

den Hsing-I- und Ba-Gua-Praktiken von Sun Lu Tang und wurde zum

Sun-Stil Tai Chi.

Der Alte Yang-Stil wird zum Neuen Yang-Stil

Vor dem 20.Jahrhundert basierten der wirtschaftliche Erfolg und die Repu-

tation der professionellen Praktizierenden der Kampfkunst Tai Chi haupt-

sächlich auf ihrem Vermögen, die Leute davon zu überzeugen, dass sie in

tatsächlichen Konfrontationen, in denen es im Kampf mit der Waffe oder

mit leerer Hand um Leben oder Tod gehen konnte, überlegen waren. Außer-

dem mussten sie in der Lage sein, ihr Kampfkunst-Wissen auf eine Weise

weiterzugeben, die es auch ihren Schülern ermöglichte, außerordentliches

Können zu erwerben. Die Kampfkünste wurden in China von Anfang an

oft als etwas Übernatürliches oder Göttliches angesehen. Automatische

Feuerwaffen waren noch nicht weit verbreitet, und der Gebrauch der re-

lativ überlegenen Macht des Gewehrs, des „großen Gleichmachers", war

noch nicht mit dem konservativen konfuzianischen Denken vereinbar. Die

495

Situation änderte sich jedoch abrupt mit dem Boxeraufstand im Jahre 1900.

Damals wurden Kampfkünstler - von der westlichen Presse die „Boxer"

genannt - von der niedergehenden Ching-Dynastie rekrutiert, um gegen

die westlichen Mächte zu kämpfen und sie aus Beijing zu vertreiben. Die

Boxer wurden besiegt - und das hatte verheerende Konsequenzen.

Durch den Boxeraufstand wurde China mit einem Schock und mit

Maschinengewehrfeuer in die Neuzeit katapultiert. Beijing wurde von den

westlichen Mächten und dem erst unlängst industrialisierten Japan be-

siegt. Die Fremden brannten die Katastrophe dieses Sieges in das Bewusst-

sein der Chinesen ein, indem sie China in „Konzessionen" oder Kolonien

aufspalteten. Vor dieser Niederlage hatten die Chinesen an die geradezu

übernatürliche Macht der Kampfkünste geglaubt, und viele von ihnen

waren keineswegs davon überzeugt, dass Feuerwaffen den Kampfkünsten

überlegen seien. Jetzt aber waren sie eines Besseren belehrt. Auch wenn die

inneren Kampfkünste den äußeren Kampfkünsten deutlich überlegen wa-

ren, konnten sie es doch nicht mit halbautomatischen und automatischen

Feuerwaffen aufnehmen. Das zum Kämpfen bestimmte Tai Chi des Yang

Lu Chan richtete sich nach dem Boxeraufstand, während dessen man den

Chinesen deutlich demonstriert hatte, was Gewehre ausrichten können,

neu aus, und Feuerwaffen waren fortan nicht mehr aus der chinesischen

Gesellschaft wegzudenken.

Der Alte Yang-Stil

Vor dem Boxeraufstand lag die Betonung in Yangs Methode auf den

Kampftechniken. Das Training konzentrierte sich auf die Erzeugung in-

nerer Kraft sowie drauf, wie man diese Kraft im Kampf auf Leben oder Tod

effektiv anzuwenden vermochte.62 Zu Lebzeiten von Yang Lu Chan, seines

Sohns Pan Hou und seines Enkels Shao Hou sowie von Wu Lien Chuan

galt das Push Hands nicht als Kampftraining. Die Bewegungen des Peng,

Lu, Ji und An (siehe Seite 210-223) wurden vor dem Boxeraufstand sehr

6 2 In den j a p a n i s c h e n K a m p f k ü n s t e n kam es a u s a n d e r e n G r ü n d e n zu derselben

Veränderung. Nach der Meij i-Restauration durf ten die Samurai keine Schwerter mehr

t ragen, und Duelle auf Leben oder Tod waren verboten. Die Kampfkünste, die sich

dezidiert auf prakt ische Techniken fü r den Kampf auf Leben oder Tod spezialisiert

hat ten, wurde Jitsu oder Jiu Jitsu genannt . Jene Kampfkünste, die sich vor allem auf

die körperliche Er tücht igung sowie die spirituellen und charakterbildenden Aspekte

der Kampfküns t e konzentr ier ten, wurden Do (Chinesisch.: Tao) genannt , wie etwa

das Judo.

496

viel stärker betont. Die Schüler dieser Generation lehrte man das Tai Chi

als eine wirklich zum Kämpfen gedachte Kampfkunst, und die Formen, die

sie übten, wurden der Alte Yang-Stil genannt.63 Die Übung der Formen und

des Push Hands wurde in erster Linie als eine nützliche Form des vorbe-

reitenden Trainings angesehen, als Schritte auf dem Weg zur praktischen

Fähigkeit, die erlernten Kampfanwendungen in einem wirklichen Kampf

erfolgreich einzusetzen. Vielen der Schüler jener Generationen wurden

Kampffertigkeiten des Tai Chi ziemlich direkt beigebracht. Auch wenn

diese Kampflehren heute in der Minderzahl sind, existieren sie doch noch

und werden bis auf den heutigen Tag gelehrt.

Der Neue Yang-Stil

Der größte Teil des heute praktizierten Yang-Stils geht auf Yangs anderen

Enkel, auf Yang Cheng Fu zurück, der erst nach dem Boxeraufstand seine

eigene Richtung begründete. Als Yang Cheng Fu noch jung war, führte

er ein liederliches Leben; er trank, lebte in den Freudenvierteln und be-

endete seine klassische Kampfausbildung nicht. Er war jedoch sehr gut

im Push Hands.64 Zu seiner Zeit, in den 1920er und 1930er Jahren, waren

die Kampfkunstschüler vor allem daran interessiert, gesund und stark

zu werden, was durch die Übung des Push Hands zu erreichen ist.65 Sie

begeisterten sich allerdings nicht sonderlich für die nächste Ebene der

Kampfkunstkompetenz, die zu erreichen oft mehr Einsatz verlangte, als

sie zu erbringen bereit waren.

63 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor studierte den Alten Yang-Stil bei Lin Du Ying

nicht lange vor Lins Tod in Xiamen in der Provinz Fujian (Fukien) im Jahre 1983. Lin

hatte diese Kunst ursprünglich in Beijing und Shanghai erlernt. Seine Lehrer waren

Tien Chau Ling und Wu Hui Chuan, die Schüler von Yang Pan Hou gewesen waren

und zu den besten Tai-Chi-Kämpfern in Nordchina gehörten.

" Man erzählt, Yang Cheng Fu sei von seinem Onkel mehrere Jahre in einen Raum

eingesperrt worden und habe diesen erst wieder verlassen dürfen, als der junge Mann

seinen Onkel im Push Hands zu schlagen vermochte. In China gibt es eine weitere

mündlich überlieferte Geschichte, die mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr ist. Danach

wurde Cheng Fu sich nach dem Tod seines Vaters und seines Onkels seiner familiären

Verantwortung bewusst und ließ sich hauptsächlich von seinem älteren Bruder Shao

Hou, aber auch von anderen älteren Mitgliedern der Schule, die eine direkte Verbindung

mit den Yang hatten (wie etwa Wu Jien Chuan) schulen. 6S Im Menschen existieren zwei miteinander verwobene Aspekte gleichzeitig: einerseits

das psychische Bedürfnis, im Recht zu sein und sich siegreich zu fühlen, und ande-

rerseits die biologische Notwendigkeit zu überleben. Push Hands sorgt für das erste,

aber nicht für das zweite.

497

Heute ist es ebenso schwierig, jemanden zu finden, der den Kampf-

aspekt der Kampfkunst zu lehren vermag, aber auch Schüler zu finden,

die bereit sind, genügend Zeit und Mühen zu invertieren, um diesen zu

meistern. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wird in den meisten

Tai-Chi-Schulen nicht einmal mehr ernsthaft das Push Hands geübt, und

immer weniger Schüler erreichen jemals die Ebene der Kampfanwendun-

gen. Dennoch kann man durch das Erlernen von Push Hands und der

Kampfanwendungen des Tai Chi in Hinsicht auf Ruhe und Klarheit anstelle

von hormonell angetriebenen animalischen Reaktionen sehr viel für sich

persönlich gewinnen.

Der Yang-Stil bringt den Wu-Stil hervor

Während der Zeit, in der Yang Lu Chan die Leibwächter der Kaisers trai-

nierte, hatte er drei herausragende Schüler: Wang Chun, der besonders

die harte Energie beherrschte, Liang Shan, der der Beste im Gebrauch der

weichen Energie war, und Chuan You, der es am besten verstand, Energie

zu transformieren, was die höchste Ebene der Tai-Chi-Fertigkeit darstellt.

Nach dem Fall der mandschurischen Ching-Dynastie änderte Chuan Yous

Familie ihren mandschurischen Namen in den Chinesischen Namen Wu,

um damit besser in die neue politische Landschaft zu passen. Chuan Yous

Methode des Tai Chi wird heute noch in Beijing gelehrt;66 sie ist allerdings

nicht sehr verbreitet, da Chuan You vor allem ein professioneller Kämpfer

und kein Lehrer der Kampfkunst war.

Chuan You gab sein gesamtes Wissen an seinen Sohn Wu Jien Chuan

weiter, der sich auch unter Yang Lu Chans Sohn Pan Hou schulte, der der

Lehrer vieler der besseren Tai-Chi-Kämpfer war, die zu Anfang des 20.

Jahrhunderts auftraten. Wu Jien Chuan lehrte zusammen mit den Famili-

enmitgliedern der Yang-Familie in ihrem gemeinsam gegründeten Verband

in Beijing, bevor er und Yang Cheng Fu Beijing verließen, um das Tai Chi

nach Shanghai und ins südliche China zu tragen. Wu war allerdings fast

zwanzig Jahre älter als Yang Cheng Fu und stärker auf die kämpferische

Tradition des Alten Yang-Stils eingestellt. Bei vielen Gelegenheiten zeigten

Wu und Yang Cheng Fu ihre Tai-Chi-Formen gemeinsam in Vorführungen

der Kampfkunst, und es heißt, dass Wu Yang Cheng Fus Fertigkeiten im

Push Hands verbesserte, als sie beide in Shanghai waren. Wu Jien Chuan

66 Siehe Wu Style Taijiquan, von Wang Peisheng und Zeng Weiqi, Verlag Zhaohua,

Beijing 1982.

498

widmete sich in der Folge jedoch stärker dem Tai Chi der kleinen Bewe-

gungen im Gegensatz zur Methode der mittleren und großen Bewegungen

von Yang Cheng Fu. Die Formbewegungen, die Wu selbst lehrte, sind im

Grunde dieselben wie in der modernen Yang-Cheng-Fu-Form, da die bei-

den zusammengearbeitet haben. Da diese Form jedoch zu einem Stil der

kleinen Bewegungen gehört, sind ihre Bewegungen kompakter, und da sie

aus dem Alten Yang-Stil kommt, enthielt sie eine Menge des alten Wissens

um die Kampfanwendungen mit einer starken Betonung von Wurftech-

niken.67 Wu Jien Chuan war ein sehr produktiver Lehrer, der sein Tai Chi

in Südchina ebenso weit verbreite wie Yang Cheng Fu das seine, wenn

nicht sogar noch weiter. Was die Verbreitung des traditionellen Tai Chi

angeht, ist der Wu-Stil der zweitpopulärste in China, wohl auch deshalb,

weil die Yang-Familie und ihre Schüler dem Wu-Stil um eine Generation

voraus waren. In der nächsten Generation veränderten Wus Söhne die

Form, indem sie höhere Standposituren und weniger Zirkularität als die

Form ihres Vaters betonten und sich, ähnlich wie Yang Cheng Fu, mehr zu

einem nicht so kampfbetonten Stil hin orientierten. Der Wu-Stil hat drei

Hauptlinien: die von Wus Vater Chuan You, die hauptsächlich in Beijing

beheimatet ist und die die geringste Zahl von Anhängern hat, die Linie

der Schüler von Wu selbst, die die vorherrschende ist, und die auf seine

Söhne zurückgehende Linie, deren Anhängerzahl etwa zwischen der der

beiden erstgenannten liegt.

Die Denkweise der traditionellen Kampfkünste

Vor dem Boxeraufstand lernten Menschen, die eine bestimmte Art von

Kampfkunst übten, nicht auch bei Ausübenden einer anderen Kampfkunst.

Wenn jemand eine authentische Schulung in einer chinesischen Kampf-

kunst erhalten wollte, musste er zuerst in einer formellen Einweihung als

Schüler angenommen werden. Während dieser Zeremonie mussten die

Schüler viele Eide ablegen und viele Kotaus ausführen, wobei sie sich

niederwerfen und mit dem Kopf auf den Boden schlagen mussten - oft

mit ziemlicher Heftigkeit um ihre Ernsthaftigkeit zu demonstrieren. Der

Lehrer wurde zu einem Ersatzvater und als Schüler wurde man zu einem

Ersatzsohn. Der stark konfuzianisch geprägte Charakter der Zeremonie

67 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor lernte diese Methode von seinem Lehrer Liu

Hung Chieh, der mit Wu Jien Chuan zusammengelebt und sich unter ihm geschult

hat.

499

stellte eine starke Bindung an den Lehrer und die Mitschüler her, die nun

die neue Kampfkunstfamilie des Schülers darstellten. Es war den Schülern

verboten, außerhalb ihres Systems zu studieren, wenn sie nicht die aus-

drückliche Erlaubnis dazu erhalten hatten. Wer diese Regel nicht befolgte,

der wurde von seinen Kollegen kaltgestellt, und es konnte sogar sein, dass

er von einem Mitglied seiner Schule zum Kampf herausgefordert wurde,

wobei allen klar war, dass dahinter die Absicht stand, ihn zu töten.

Gutherzige Lehrer verspürten in Hinsicht auf die Ausbildung ihrer

Schüler dieselbe Verantwortung, die ein Vater für die Erziehung seines

Sohnes empfindet. Ein guter Lehrer entließ einen Schüler nur dann zum

Studium mit einem anderen, zweiten Lehrer, wenn er der Ansicht war,

dass: a) der Schüler das System seines ersten Lehrers vollständig erlernt

hatte und in der Lage war, ihm alle Ehre zu machen, und dass der Schüler

von dem neuen Wissen würde profitieren und seine Fertigkeiten damit

würde vergrößern können; b) wenn in der Ausbildung des Schülers etwas

fehlte, das ein anderer, besonders spezialisierter Lehrer, dessen Integrität

der ursprüngliche Lehrer schätzte, besser zu lehren vermochte. Solche

Schulungen unter verschiedenen Lehrern waren jedoch ziemlich selten,

weil die Lehrinhalte der machtvolleren Systeme der Kampfkunst als mili-

tärische Geheimnisse galten, die über Leben oder Tod entscheiden konnten.

Deshalb wollten die Lehrer nicht zulassen, dass das Material ihrer eigenen

Schule in die Hände von Rivalen geriet.

So konnte zum Beispiel Wu Yu Hsiang nur das Chen-Stil Tai Chi des

kleinen Rahmens studieren, weil er bereits ein „Familienmitglied" war, da

er zuvor Schüler von Yang Lu Chan gewesen war, der die Tür für andere

Außenseiter in späteren Generationen öffnete. Überreste dieser Denkweise

sind bis heute in Systemen der „verschlossenen Tür" vorherrschend. Diese

Einstellung ist auch heute noch für die „Mein Stil ist besser als deiner"-

Mentalität und die „Du bist ein Verräter, wenn du außerhalb deines eigenen

Systems studierst"-Mentalität verantwortlich. Solche Ansichten sind auch

in der modernen Kampfkunstszene durchaus nicht selten. So ist diese alte

feudalistische Geisteshaltung ein beliebtes Thema in den Kampfkunst-

filmen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Hongkong und

Taiwan gedreht wurden. Alte Gewohnheiten sterben leider nur langsam.

Die konfuzianische Gesellschaftsstruktur verehrt die Vergangenheit und

verlangt strikte Konformität mit den genauen Formen ihrer Tradition - in

einem Ausmaß, das für die meisten Amerikaner und Europäer nur schwer

verständlich ist. Als Begründung für ihr Verhalten im Kontext heutiger

500

Ereignisse zitieren Chinesen sowohl in ihrer Rede als auch in Büchern gern

Ereignisse, die sich vor Tausenden von Jahren abgespielt haben, so als

seien diese längst vergangenen Dinge gerade mal vor einer Woche passiert.

Dabei wird von dem Schüler verlangt, dass er die winzigsten Nuancen der

Implikationen dieser historischen Geschichten, die in die Unterhaltung

einfließen, versteht und angemessen darauf reagiert. Mit all diesen vom

Konfuzianismus eingeschärften Erwartungen verbinden sieht Sanktio-

nen, wenn man ihnen nicht gerecht wird. In China war die Tradition der

Kampfkünste besonders orthodox. Da die westlichen Schüler von heute

kein Verständnis für diese „implizierten konfuzianistischen Erwartungen"

haben, finden sie die Situation oft verwirrend und haben Schwierigkeiten,

von chinesischen Meistern der Kampfkünste zu lernen. Es gibt eine breite

kulturelle Kluft zu überwinden, besonders wenn beide Seiten in sozialer

und psychologischer Hinsicht und für das Verhalten von ihrer Kultur völlig

verschiedene Grenzen gewohnt sind. Oft sind einige wenige Verneigungen

und Handschläge nicht genug, um das auszubügeln, was falsch interpre-

tierte Erwartungen, die von einer Seite stillschweigend impliziert aber nie

offen und kohärent ausgesprochen werden, angerichtet haben. Oft fühlen

sich beide Seiten von der jeweils anderen Seite ausgenutzt.

Vor dem Boxeraufstand teilten Praktizierende eines Stils der inneren

Kampfkünste ihr Wissen normalerweise nicht mit Menschen, die einen

anderen Stil erlernten, so wie die Amerikaner und die Russen während

des Kalten Krieges ihre militärische Technologie nicht offen miteinander

teilten. Doch die Existenz von Feuerwaffen machte einen großen Teil der

pragmatischen Notwendigkeit solcher Abgrenzungen überflüssig. Darum

waren die Lehrer nach dem Boxeraufstand eher bereit, auch jene zu un-

terrichten, die andere Stile praktiziert hatten. Diese Tendenz zeigte sich

bereits kurz vor dem Boxeraufstand in den Schulen des Hsing-I und des

Ba Gua, und sie erfasste während des folgenden Jahrzehnts auch die

Schulen des Tai Chi. In den 1920er Jahren richtete die Zentralregierung

dann Kampfkunstschulen ein, in denen viele Stile unter einem Dach gelehrt

wurden, zum Teil von den führenden Vertretern der jeweiligen Schulen,

darunter auch die Tai-Chi-Lehrer Yang Cheng Fu und Wu Jien Chuan. Seit

dieser Zeit wurden die inneren Kampfkünste auch immer häufiger von den

gebildeteren Mitgliedern der Gesellschaft praktiziert, ein Trend, der sich

bis heute fortgesetzt hat.

501

Kombinationsstile

Vor dem Boxeraufstand war das Leben in China einigermaßen stabil; die

Menschen reisten nicht viel umher. Doch nach dem Aufstand wurde die

chinesische Bevölkerung extrem mobil: Eisenbahnlinien wurden gebaut,

es begann eine Zeit der Kriegsherren, das Land erlebte eine Invasion der

Japaner, und die kommunistische Revolution führte zu einem Bürgerkrieg.

Durch all das wurden Unmengen von Menschen vertrieben und umge-

siedelt. Das führte auch dazu, dass die Kampfkunststile in einem Maße

miteinander vermischt wurden, wie das in der chinesischen Geschichte

noch nie zuvor der Fall gewesen war.

Das Tai Chi begann sich hauptsächlich auf dreierlei Weisen mit ande-

ren Stilen zu vermischen: Zuerst einmal wurde der Hao-Stil (von Wu Yu

Hsiang) der kleinen Bewegungen im Jahre 1914 von Hao Wei Zhen an den

berühmten Hsing-I-Meister Sun Lu Tang übermittelt, nachdem Sun ihm

in Beijing etwas Gutes getan hatte. Wie viele Praktizierende des Hsing-I

und des Ba Gua nach ihm, war Sun von der Idee des Weichen im Tai Chi

fasziniert. Sun kombinierte die Tai-Chi-Methode des weichen Körpers mit

den Verwurzelungs- und Dantien-Techniken des Hsing-I und den Gehme-

thoden des Ba Gua. In der Folge schrieb er eine Reihe von Büchern über

die innere Kampfkunst, in denen er behauptete, die drei inneren Kampf-

künste gehörten zu einer Familie. Seine Vereinigung wurde zum ersten

der Kombinationsstile des Tai Chi und zum einzigen weit verbreiteten Stil,

der auf dem Stil der kleinen Bewegungen basiert.

Zweitens gibt es eine Anzahl von Tai Chi/Ba Gua Kombinationsstilen,

die direkt dem Yang-Stil des großen oder mittleren Rahmens nachgebildet

sind. In einigen dieser Stile herrscht das Hsing-I oder das Ba Gua vor, in

anderen das Tai Chi des Yang-Stils. Tai Chi, Hsing-I und Ba Gua haben

eine unglaubliche Zahl von verbindenden Techniken gemeinsam. Was diese

Techniken angeht, führt jede der drei Künste im Grunde dieselben Kampf-

anwendungen aus, doch jede tut dies auf ihre charakteristische Weise.

Diese Stile verwenden gewöhnlich die grundlegenden Formabfolgen des

Yang-Stils, inkorporieren in zahlreichen spezifischen Bewegungen jedoch

offensichtlich oder auf verborgene Weise Elemente des Hsing-I oder Ba

Gua wie zum Beispiel:

1. Sie ersetzen eine bestimmte Tai-Chi-Bewegung durch eine Hsing-I-

oder Ba-Gua-Arm/Handbewegung. So kann man zum Beispiel eine

runde horizontale Abwehren-Bewegung des Tai Chi in etwas ver-

502

wandeln, das mehr einer vertikal orientierten aufsteigenden und

bohrenden Hsing-I/Ba-Gua-Bewegung gleicht, die jedoch mit der

Weichheit des Tai Chi ausgeführt wird. Die Tai-Chi-Bewegung „Die

schöne Frau bewegt das Webschiffchen" wird zu etwas, das mehr der

Hämmernden Faust des Hsing-I ähnelt. Solche Ersetzungen gibt es

in allen Kombinationsstilen. Im Grunde wird hier eine Hsing-I/Ba-

Gua-Technik auf die Weise des Tai Chi ausgeführt.

2. Die Fußarbeit des Tai Chi wird oft durch die des Ba Gua ersetzt. Das

wird besonders offensichtlich bei dem „Zehen auswärts"-Schritt des

Ba Gua, der benutzt wird, um die Richtung zu wechseln oder den

Körper herumzudrehen, denn diese Bewegung existiert im traditi-

onellen Tai Chi nicht.

3. Bewegungen der Tierformen des Hsing-I tauchen innerhalb der Tai-

Chi-Form auf.

4. Die Handfläche wird gehalten, wie man es im Hsing-I und Ba Gua

tut, und nicht nach Art des Tai Chi.

5. Im Hsing-I ist das Heben des Nackens offensichtlich, was im Tai Chi

normalerweise nicht der Fall ist.

6. Standposituren, die eine 60/40-Gewichtsverteilung auf die beiden

Füße verwenden, kommen anstelle der 100/0 Verteilung des Yang-

Stils ins Spiel.

Eine der - vom Kämpferischen her gesehen - kompletteste dieser Kombina-

tionsformen ist der von Chen Pan Ling im Auftrag des Kampfkunstinstituts

der Zentralregierung kreierte Stil.68 Diese Form wurde zur Zeit der Invasion

durch die Japaner geschaffen, um die Kampfkünste zu bewahren. Zu jener

Zeit war Chinas Zukunft ungewiss, und man wusste nicht, welcher der

großen Meister getötet werden würde - und mit ihm ein großer Teil seines

Wissens. Chen Pan Ling, von Beruf Ingenieur, war der Vorsitzende des

Komitees des Kampfkunst-Instituts. Er war ein offizieller Schüler in Linien

des Ba Gua und des Hsing-I, hatte im Chen-Dorf trainiert und sich unter

Yang Shao Hou im Alten Yang-Stil und unter Wu Jien Chuan im Wu-Stil

geschult. Andere Stile, die zu dieser Art von Kombination gehören und

68 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor studierte diesen Stil in den späten 1960er,

den 1970er und den 1980er Jahren in Japan und Taiwan. Sowohl Wang Shu Jin

als auch Hung I Hsiang praktizierten diesen Stil des Tai Chi, der neun Ebenen der

Unterweisung besitzt.

503

die ihren Weg in den Westen gefunden haben, sind der Fu-Stil des Fu Jien

Sung sowie der Kuan-Ping-Stil des Guo Lien Ying.

Die dritte der hauptsächlichen Weisen, auf die das Tai Chi sich mit

anderen Stilen vermischt hat, besteht darin, dass eine Person, die eine

spezielle Kampfkunst des Shaolin beherrscht, den äußeren Bewegungen

der Tai-Chi-Form die Färbung dieser Shaolin-Techniken gibt. (Etwas Ähn-

liches gibt es auch im Ba Gua Chang, siehe Seite 520.) Durch diese Art

von Kombination kommen Kampfkünstler des Shaolin in den Genuss der

körperlichen und gesundheitlichen Vorteile des Tai Chi und werten ihr

ursprüngliches „Shaolin Gung Fu" mit neuen, nützlichen Techniken aus

dem Tai Chi auf. Gleichzeitig bleiben sie jedoch auf ihre eigene Kampfkunst

ausgerichtet. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Tai-Chi-Form von Chang

Tung Shen, dem hochangesehenen Adepten des chinesischen Ringens aus

Taiwan.69 Chang hatte sich unter Yang Shao Hou geschult; das wurde in

seinem Tai Chi ganz offensichtlich, wenn er Wurftechniken ausführte, die

ganz und gar von dieser Form durchdrungen waren. Chang sagte einmal,

er habe das Tai Chi um so mehr schätzen gelernt, je älter er wurde, und er

habe mit zunehmendem Alter immer mehr daraus gewonnen, insbesondere

die Fähigkeit, seine Kampfkunstkarriere bis in seine späteren Jahre hinein

zu verlängern. Eine solche Bewertung des Tai Chi hört man von vielen der

führenden Meister der Kampfkunst aller Richtungen in China.

Andere Stile des Tai Chi: Familientraditionen, geheime und verlorengegangene Linien

Oft wird behauptet, diese oder jene Form des Tai Chi beruhe auf einer ver-

lorenen uralten oder geheimen Tradition. Viele dieser Behauptungen, einer

besonderen historischen Linie zu entstammen, sind fragwürdig. Der Tenor

dieser Behauptungen bezieht sich im Allgemeinen auf verloren gegangene

Linien, die der Tradition des Chen-Dorfes vorausgegangen seien (etwa

solche des Chang San Feng oder des Wang Tsung Yueh), auf Familien-

Stile oder auf geheime Stile, die auf heimlichen Unterweisungen der Erben

regulärer Linien basieren sollen. Einige dieser Stile sind eindeutig Variati-

onen der Hauptstile; einige besitzen Material von hoher Qualität, während

andere äußerst verwässert sind. Einige dieser „Linien" sind offensichtlich

69 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor studierte in den 1970er Jahren kurze Zeit

bei Chang Tung Shen.

504

hauptsächlich Shaolin, das im Zeitlupentempo des Tai Chi ausgeführt wird

und in das einige wenige Tai-Chi-Bewegungen inkorporiert wurden. Diese

Linien stammen hauptsächlich aus dem Jangtse-Tal.

Wie kam es zur Schaffung neuer Stile?

Neu und verbessert oder verwässert? Als das Tai Chi zu neuen Stilen

mutierte - der Chen-Stil zum Yang-Stil, dieser zum Hao- und zum Wu-Stil

und weiter zu den Kombinationsstilen -, veränderte jeder neue Stil seine

Formbewegungen geringfügig oder beträchtlich. Bei diesen Veränderungen

ging es im Wesentlichen nicht um eine Vergrößerung des gesundheitlichen

Gewinns für die Allgemeinheit, sondern darum, wie man die Kampfkunst-

fertigkeiten des ursprünglichen Lehrers am besten an die nächste Gene-

ration übermitteln konnte. In Hinsicht auf die effektiven Resultate dieser

Veränderungen gibt es zwei gegensätzliche und einander widersprechende

und Partei ergreifende Standpunkte. Nach Ansicht des ersten enthält der

frühere Stil das gesamte ursprüngliche Material der Schule und der spätere

Stil stellt nur eine verwässerte Form des früheren dar. Nach Ansicht des

gegensätzlichen Standpunkts hat das neue Modell das alte verbessert und

es zu neuen Höhen geführt, indem es neues Material aufgenommen und

das tote Holz der ursprünglichen Form aussortiert hat.

Je nachdem, um welche der überlebenden Linien es im Einzelnen geht,

mag der eine oder der andere Standpunkt eher berechtigt sein. So unter-

scheiden sich zum Beispiel die Bewegungen der ursprünglichen Chen-

und der Yang-Form beträchtlich voneinander. Wenn keine von beiden

fortgeschrittener oder vollständiger ist als die andere, wie sind dann die

Veränderungen zu erklären? In ihren Methoden sind zwei grundlegende

Unterschiede offensichtlich:

1. Standposituren Anders als der Yang-Stil verwendet der Chen-Stil

Standposituren, bei denen nicht beide Füße in etwa in dieselbe Rich-

tung zeigen. Außerdem benutzt der Chen-Stil oft Vorwärts-Stand-

posituren mit einer Gewichtsverteilung auf die Beine von 55/45

Prozent. Der klassische Yang-Stil verwendet eine Gewichtsverteilung

von 100/0 Prozent (das heißt, 100 Prozent Ihres Gewichts liegt auf

dem vorderen Bein, 0 Prozent auf dem hinteren Bein) und nur eine

vorwärtsgebeugte Standpositur.

505

Der Chen-Stil entstand aus militärischen Bewegungen auf dem

Schlachtfeld, wo die Kämpfenden eine mittelalterliche Körperrüs-

tung trugen, die kompensiert werden musste. Die Standposituren des

Chen-Stils, um die es hier geht, waren spezifisch dafür bestimmt,

diese Kompensation zu erreichen und eine praktikable Position ein-

zunehmen, aus der heraus man eine realistische Chance hatte, einen

Gegner mit Rüstung zu werfen. Als Yang nach Beijing kam, hatten

sich die Zeiten inzwischen geändert. Mit der Ankunft von Feuer-

waffen war die alte Rüstung für das Schlachtfeld überholt; deshalb

bestand auch kein Bedarf mehr an Techniken für den Umgang mit

Rüstung tragenden Gegnern. Yang und seine Schüler hatten es mehr

mit Situationen zu tun, in denen die Fertigkeit eines Leibwächters

gefragt war, nicht mit der Situation auf einem Schlachtfeld.

Yang lehrte außerdem Menschen, die bereits eine Schulung im Nörd-

lichen Shaolin gehabt hatten, wo man gebeugte Standposituren ver-

wendet. Indem Yang das benutzte, was diese Schüler bereits kannten,

hat sich Yang nach Ansicht mancher Leute einfach den Bedürfnissen

seiner neuen Umgebung angepasst. Die 100/0 Bogenstandpositur

ist auch eine exzellente Weise, mit der grundlegenden technischen

„leer und voll"-Anforderung des Tai Chi zu arbeiten (ein Bein ist

voller Gewicht, aber leer von innerer Kraft, und umgekehrt), für die

es äußerst gute praktische Gründe gibt.

2. Armbewegungen Der Chen-Stil betont offensichtliche Bewegun-

gen des „Seidewickeins". Dabei bewegt sich die Ellbogenspitze wäh-

rend der Einwärts- und Auswärtswindungen der weichen Gewebe

des Körpers ständig zwischen zwei Polen (der Unterarm parallel zum

Boden und der um 90 Grad abgewinkelte Ellbogen und der Unterarm

lotrecht zum Boden, wobei der Ellbogen zum Boden weist). Der

Yang-Stil betont die Technik des „Ziehens der Seide". Dabei wird

die Energie direkt aus der Wirbelsäule in die Gelenke gezogen und

die Verwindungen der weichen Gewebe des Körpers sind deutlich

präsent, jedoch in subtilen Körperbewegungen verborgen. Die Spitze

des Ellbogens ist irgendwo zwischen einer zum Boden weisenden

und einer um 45 Grad zur Seite weisenden Position fixiert. Die Ell-

bogenspitze wird niemals bis zu 90 Grad zur Seite hin angehoben

oder bewegt sich zwischen einer zum Boden weisenden und einer

um 90 Grad zur Seite gedrehten Position hin und her, wie das im

Chen-Stil der Fall ist.

506

Wann genau Yang seine Form veränderte, wusste wohl nur er selbst

wirklich. Die Standardversion der Geschichte besagt jedoch, dass er

den Chen-Stil wahrscheinlich aus mehreren grundlegenden Gründen

veränderte. Viele der Chan-Sz-Jin-Bewegungen, bei denen die Ell-

bogenspitzen bewegt werden, waren dazu gedacht, Ausbuchtungen

am Körper zu umgehen, die durch eine Rüstung entstanden. Diese

Bewegungen waren besonders geeignet, einen bewaffneten oder

unbewaffneten Gegner mit Rüstung zu werfen oder einen Hebel

bei ihm anzusetzen.70 (Einen Gegner, der Körperrüstung trägt, zu

werfen oder zu hebeln, ist viel praktischer als ihn zu schlagen.) Die

Chen-Methode funktionierte gleichermaßen bei Gegnern, die keine

Rüstung tragen. Als jedoch keine Notwendigkeit mehr bestand, die

Wölbungen und den Schutz zu umgehen, der von einer Rüstung

erzeugt wird, war es auch nicht mehr notwendig, den Ellbogen zu

bewegen. Yang passte seine Technik entsprechend an, um die opti-

male Zeitausnutzung beim Training zu gewährleisten.

Gründe für Variationen innerhalb desselben Stils

Innerhalb desselben Tai-Chi-Stils änderten sich die Bewegungen aus vielen

Gründen. Der Yang-Stil ist ein gutes Beispiel dafür, einfach deshalb, weil er

der populärste Stil ist und die größte Zahl von Praktizierenden hervorge-

bracht hat, und nicht etwa, weil er der „beste Stil" wäre." (In den anderen

Stilen des Tai Chi kommt es gewöhnlichen aus denselben Gründen wie im

Yang-Stil zu Veränderungen.) Allein in der westlichen Welt gibt es heute

mindestens zwanzig klar unterscheidbare Varianten des „Yang-Stils". Diese

betonen in einigen, jedoch nicht in allen Fällen dieselben Prinzipien. In

diesen Formen gibt es zwischen 28 und 128 Bewegungen, die alle zusam-

® Diese Notwendigkeit bestand auch für die Samurai in Japan, die das Jiu Jitsu in die

gleiche Richtung entwickelten; es sollte unter allen Bedingungen wirksam sein, für

einen bewaffneten oder unbewaffneten Samurai im Kampf mit einem Gegner mit

oder ohne Körperrüstung.

71 Anmerkung des Herausgebers: Der Autor hat in den 1980er Jahren in der Volksrepublik

China Nachforschungen über die relative Popularität der einzelnen Stile des Tai Chi

angestellt. Damals gehörten dem Yang- und dem Wu-Stil (im Grunde eine Variante

des Yang-Stils) fast 90 Prozent der Praktizierenden an und den Kombinationsstilen

der größte Teil der restlichen Praktizierenden. Der Chen-Stil machte nur einen kleinen

Teil dieses Restes aus, erlebte damals jedoch eine Renaissance, und der Hao-Stil war

extrem selten.

507

men der „Yang-Stil" genannt werden. Darum sagt der Name „Yang-Stil"

allein nicht wirklich präzise etwas darüber aus, was irgendeine Schule des

Yang-Stils tatsächlich praktiziert. Die Gründe für diese Veränderungen

innerhalb des Yang-Stils sind:

1. Das Bedürfnis eines Lehrers oder einer Gruppe, dem, was sie tun, ei-

nen Markennamen zu geben und ihre spezielle Philosophie oder ihre

Trainingsmethoden von dem abzuheben, was andere im Yang-Stil-

Universum praktizieren. Oft kann man feststellen, das eine Gruppe

ihr Material von Variationen einer anderen Gruppe unterscheide

möchte, die ihrer Meinung nach von minderer Qualität ist oder aus

einer „unreinen" Linie stammen. In Amerika gibt es zum Beispiel den

Stil derTung-Familie und den Stil von Cheng Man-ching, die beide

entweder eine völlig andere Form oder verschiedene Bewegungen

innerhalb einer Form haben, die für diesen Stil charakteristisch sind.

Die Tungs haben mehrere einzigartige Bewegungen innerhalb ihrer

langsamen Form sowie eine modifizierte schnelle Form,72 und das

entspricht nicht genau der Weise, auf die ihr Lehrer Yang Cheng Fu

das Tai Chi ausübte. Dann gibt es noch die modifizierte Kurzform mit

37 Bewegungen von Cheng Man-ching, die ebenfalls nicht genau

dem entspricht, was die Yang-Familie praktizierte.

2. Individuelle Variationen, die von einem Lehrer persönlich bevor-

zugt werden, werden offiziell in die Form übernommen. Ein gutes

Beispiel hierfür ist die Handpositur der Schönen Frau in Cheng

Man-chings Yang-Stil-Form. Diese Haltung war eindeutig nicht in

den klassischen Formen der Yang-Familie vorhanden.

3. Die Tai-Chi-Lehrer selbst haben nur Bruchteile und nicht vollstän-

dige Formen gelernt und geben ihr unvollständiges Wissen dann

an ihre Nachfolger weiter. So setzen ihre Schüler über Generationen

die verwässerte Form fort oder verwässern diese noch mehr.

4. Ein Schüler hat zwar gut bei seinem Lehrer oder seiner Lehrerin

gelernt, hat aber bestimmte Bewegungen verändert, weil er eine

72 Die Yang-Familie praktizierte sowohl langsame als auch schnelle Formen, die sich

aus den beiden ursprünglichen Formen des Tai Chi der Chen-Familie herleiteten. Die

erste konzentrierte sich hauptsächlich auf langsame Bewegungen, in die sporadisch

einige schnelle Bewegungen eingestreut wurden, um Fa Jin zu praktizieren. In der

zweiten Form lag die Betonung stärker auf den schnellen als auf den langsamen

Bewegungen.

508

andere, persönliche Vorstellung davon hatte, was im Tai Chi von

Wert ist. Solche Veränderungen werden dann institutionalisiert.

5. Eine Zweiglinie konzentriert sich ausschließlich auf einen Teil oder

auf nur wenige Teile des vollständigen sechzehnteiligen Systems

des Nei Gung und bildet die Form so um, dass sie dem von ihr

ausgewählten Aspekt der Energiearbeit des Tai Chi entspricht, wo-

bei andere wichtige Aspekte unberücksichtigt bleiben. Allmählich

nehmen die körperlichen Bewegungen die Form an, die der partiellen

Energiearbeit entspricht und diese zum Ausdruck bringt.

6. Je nachdem, welche Prinzipien ein Lehrer für die Herbvorbringung

von Kampfanwendungen besonders schätzt, können die Bewegun-

gen sehr unterschiedlich aussehen.

7. Die ursprünglichen Überlieferungen der Yang-Familie in Hinsicht

auf die inneren Techniken des Tai Chi wurden nur unvollständig

aufgenommen, so dass Prinzipien anderer Kampfkünste hinzuge-

zogen werden, um die Unterschiede auszugleichen. Die dadurch

entstehenden hybriden Formen sind eine Art Mixgetränk aus einem

Teil Yang Tai Chi und zwei oder drei Teilen von etwas anderem. So

etwas geschah im Festland-China häufig unter Heranziehung des

Nördlichen Shaolin und in Taiwan unter Hinzufügung des Fukien

Weißer Kranich. Die „Geheimnisse" dieser Stile basieren oft auf dem

Shaolin und nicht auf Methoden des Tai Chi. Vergessen Sie nicht,

dass Lehrer nur das lehren können, was sie wissen. Doch nach drei

Generationen weiß ein Schüler, der ein unvollständiges System er-

lernt hat, nur noch, dass dies „mein Stil" ist. Solche Schüler sind sich

weder der Möglichkeiten noch der Defizite ihrer Formen bewusst.

8. Es werden Maßnahmen ergriffen, um das Tai Chi leichter erlernbar

zu machen. So werden Formen verkürzt, Bewegungen ausgelassen,

die Präzision bestimmter Bewegungen verschwimmt - alles unter

dem Banner der Reduzierung der Frustration der Lernenden, die

sich mit herausforderndem Material konfrontiert sehen. Zu dieser

„Verflachung" des Tai Chi kommt es entweder, weil man seine ge-

sundheitsfördernde Wirkung einem „breiteren Publikum" zugänglich

machen will („Ein wenig ist schließlich besser als gar nichts"), oder

weil man mehr zahlende Schüler anlocken will. Wo es zu solchen

Vereinfachungen kommt, leidet manchmal der kämpferische und

energetische Inhalt der Form darunter - er wird entweder stark

reduziert oder fällt ganz weg.

509

9. Viele Lehrer verlieren auf ihre alten Tage die Motivation, noch die

Mühe und die Sorgfalt aufzubringen, die nötig wären, um die Form

zu bewahren und/oder sie in allen Einzelheiten weiterzugeben.

Bedenkt man all das oben Gesagte, dann ist leicht zu verstehen, wie es zu

Veränderungen kommen kann. Dieser Prozess wird sich wahrscheinlich

auch in Zukunft weiter fortsetzen.

510

Anhang B: Der Hintergrund des Ba Gua

Eine kurze Geschichte

Die Grundlagen der Ba-Gua-Schule in der Moderne

Über Tung Hai Chuan (1798-1879), den geheimnisvollen Gründer des

modernen Ba Gua, lassen sich einige Dinge mit Sicherheit sagen. Zum

einen war seine Methode zu lehren insofern einzigartig, als er niemanden

lehrte, der nicht bereits ein Experte der Kampfkunst war. Jemand, der sein

Schüler werden wollte, musste schon seit vielen Jahren die Kampfkünste

praktiziert haben, bevor Tung auch nur bereit war, mit ihm zu reden. Das

Ba Gua war also eine Art Universität für Kampfkünstler, keine Grundschule,

keine Mittelschule und auch keine höhere Schule. Es wurde als eine äußerst

hoch entwickelte Kampfkunst angesehen, und wer von Tung unterwiesen

werden wollte, musste zuvor seinen Willen, ernsthaft zu trainieren, un-

ter Beweis gestellt haben. Seine Schüler mussten sich ganz und gar der

Kampfkunst hingeben, sie mussten bereits fünf oder zehn Jahre Training

hinter sich haben und die Praxis der Kampfkunst als ihre Lebensaufgabe

ansehen. Einige der Hauptschüler Tungs wurden zum Rückgrat der mo-

dernen Ba-Gua-Schule und lehrten später selber viele Menschen. Darunter

waren jedoch vier spezielle Schüler, deren Fertigkeit oder Gung Fu das der

anderen übertraf; sie wurden die Großen Vier genannt:

Die vier Hauptschüler von Tung Hai Chuan

Yin Fu (1842 - 1911) Tungs bester Schüler war Yin Fu; er war so schlank,

dass er den Spitznamen „Der dünne Yin" erhielt. Liu Hung Chieh, der Leh-

rer des Autors, bewahrte in einem alten staubigen Photoalbum in seinem

511

Zimmer Photos von Yin Fu auf, wie er mit dem Breitschwert übte. Das

Schwert war deutlich größer als Yin. Trotz seiner zierlichen Gestalt war

Yin Fu für seine unglaubliche Kraft bekannt. Seine Kampftechniken, bei

denen er die Weidenblatt-Handfläche benutzte, basierten auf einer direk-

ten Durchdringung des Arms eines Gegners, um dessen Körper zu treffen.

Yin Fu verdiente seinen Lebensunterhalt als professioneller Leibwächter,

aber er lehrte auch viele Menschen, während er sich in Beijing aufhielt

und auch als er älter war und in der Provinz Shandong lebte. Er hatte

eine Reihe berühmter Schüler. Unglücklicherweise stammen viele, die von

sich behaupten, aus der Schule von Yin Fu zu kommen, nicht aus seiner

Linie. Beim Kreisgehen (einer grundlegenden Trainingsmethode des Ba

Gua, siehe Seite 334) zeigten die Finger von Yin Fus Schülern horizontal

zur Mitte des Kreises statt aufwärts zum Himmel, was die übliche Art ist,

diese Bewegung auszuführen. Sie waren dafür bekannt, dass sie mit dieser

Art des Gehens trainierten, und auch für ihre Fähigkeit, den Körper ihrer

Gegner mit den Fingern zu durchdringen.

Yin Fu hatte bereits das Lohan Chuan, eine zum System des Nördli-

chen Shaolin gehörende Art des Boxens, gemeistert, bevor er sich unter

Tung schulte. Yin Fu entwickelte eine völlig neue Methode, das Ba Gu zu

lehren - eine Methode, die lineare statt zirkuläre Techniken benutzte

indem er sein Lohan-Boxen in das Ba Gua von Tung inkorporierte. Das

Ba Gua ist im Grunde eine Kampfkunst der kreisenden Bewegungen, die

das kultiviert, was Hsien-Tien- oder „vorgeburtliches" Chi genannt wird.

Yin Fus lineare Methoden entwickeln dagegen das Hou-Tien- oder „nach-

geburtliche" Chi. Mit der Entwicklung dieser linearen Methoden verfolgte

Yin Fu das Ziel, zuerst die grundlegenden Methoden der Selbstverteidigung

und die Körpermechanik des Ba Gua zu lehren, bevor er seine Schüler

in das Kreisgehen einführte. Das Kreisgehen mag für Anfänger nämlich

ziemlich abstrakt erscheinen.

In Beijing und Tianjin kursierte das Gerücht, Yin Fus Schüler hätten

die Truppen der chinesischen Armee diese geradlinigen Methoden gelehrt.

Vielleicht kam dieser geradlinige Ansitz nicht gänzlich von Yin Fu her.

Es steht außer Frage, dass die linearen Methoden des Ba Gua auch von

der großen Zahl von Ausübenden des Hsing-I, die das Ba Gua studierten,

beeinflusst wurde, wenn auch nicht klar ist, in welchem Ausmaß. Yin Fus

lineare Methode wurde von einigen seiner Schüler in die Stadt Tianjin

getragen, die Schwesterstadt von Beijing, die nur etwa 50 Kilometer von

Beijing entfernt liegt. Tianjin ist eine Hafenstadt, und es war üblich, dass

512

Meister der Kampfkunst aus Beijing auch dort lehrten. Die lineare Methode

wurde von Gao I Sheng, der nach Beijing kam, um bei Yin Fu zu studieren,

von Cheng Ting Hua und vielleicht noch anderen Meistern erlernt.73 In

diesen geradlinigen Methoden geht es vor allem um die Projektion von

Kraft zum Zweck des Kämpfens und sie haben keine erkennbaren An-

wendungsmöglichkeiten für die daoistische Meditation. Zu Anfang seines

Ba-Gua-Trainings studierte Liu Hung Chieh auch Yin Fus Methode des

Gehens. Er trainierte mit einigen Schülern von Yin, die sich zur Übung in

der Ba-Gua-Schule von Cheng You Long trafen. Zu jener Zeit war das Ba

Gua noch eine Schule ohne Zweiglinien. Die verschiedenen Stile trennten

sich erst später voneinander.

Cheng Ting Hua (1848 -1900) Ein weiterer der berühmten Schüler Tungs

war Cheng Ting Hua. Aus seiner Schule stammen mehr der heute Ba

Gua praktizierenden Kampfkünstler als aus jeder anderen Schule. Cheng

Ting Hua hatte als junger Mann das Shuai Jiao, das chinesische Ringen,

studiert. Da Tung stets den Weg des geringsten Widerstandes ging, lehrte

er Cheng mehr der Wurfmethoden des Ba Gua als jeden anderen seiner

Schüler. Cheng war für seine Fertigkeit im Werfen bekannt. Er war klein

und untersetzt, von ähnlichem Körperbau wie Tung selbst, und sehr stark.

Cheng Ting Hua entwickelte eine Methode von 64 Wandlungen, die nur

beim Kreisgehen ausgeführt werden. Während Yin Fus Methode für ihre

geraden, durchdringenden Bewegungen, die mit enormer Kraft ausgeführt

werden, bekannt ist, ist das Ba Gua von Cheng Ting Hua für seine extrem

schnellen und komplizierten schlängelnden Richtungswechsel bekannt, die

den Gegner völlig verwirren und damit leicht besiegbar machen.

Ma Shr alias Ma Gui (1853-1940) Ma Shr Ching (auch bekannt als

Ma Gui) studierte in den ersten Jahren seines Ba-Gua-Trainings bei Yin

Fu und danach bei Tung in dessen Haus. Der Autor hat von Liu Hung

Chieh aus erster Hand viel über die Geschichte des Ba Gua erfahren, was

dieser von Ma Shr Ching gehört hatte, als er dessen persönlicher Schüler

war. Ma nahm offiziell keine Schüler an und lehrte Liu erst, als er bereits

73 Yin Fus Methode des linearen Ba Gua wurde in Tianjin sehr bekannt, ebenso wie die

linearen Methoden einer Reihe anderer Lehrer, darunter Wu Meng Sha. Gai I Shengs

lineare Ba-Gua-Methoden (die möglicherweise von Cheng Ting Hua hergekommen wa-

ren) gelangten schließlich durch Chang Chun Feng nach Taiwan und wurden von ihm

an Hung I Min und Hung I Hsiang weitergegeben (bei denen der Autor studiert hat).

513

älter war. Ma lehrte nicht gem. Er handelte sehr erfolgreich mit Bauholz

und verdiente dabei so viel Geld, dass er es nicht nötig hatte, seinen

Lebensunterhalt als professioneller Ba-Gua-Lehrer zu verdienen. Ma Wei

Chi, der ebenfalls zu den Großen Vier gehörte, besaß einen erfolgreichen

Kohlenhandel. Man nannte die beiden auch in einem Atemzug die „Mei

(Kohle) und Mu (Bauholz) Mas".

Ma Shr Ching erzählte Liu wie Tung gelehrt hatte. Tung saß oft mit

geschlossenen Augen da, beschrieb jede Bewegung, die Ma unterdessen

ausführte, und sagte ihm, was er verbessern sollte. Tung pflegte täglich

mehrere Stunden im Sitzen zu meditieren. Nach Ansicht von Ma stammte

die Kampfkraft von Tung mindestens zu gleichen Teilen aus seiner Übung

des Sitzens, der reinen daoistischen Meditation, wie aus seinen Kampf-

kunsttechniken.

Eine der bekannten Geschichten über Ma Shr Ching ist die folgende:

Yang Lu Chan, der berühmte Tai-Chi-Meister aus der Yang-Familie, hatte

drei Schüler, die als seine besten Schüler galten. Da war einmal Chuan You

(der zusammen mit seinem Sohn Wu Jien Chuan das Tai Chi des Wu-Stils

begründete), der für seine transformierende Energie, die höchste Ebene der

Energie im Tai Chi Chuan, bekannt war. Außerdem Ling Shan, der für seine

weiche Energie bekannt war, sowie Wang Chun, der für seine harte Energie

und seine geradlinige, solide Kraft bekannt war. Bei einer Gelegenheit kam

es zu einem Kampf zwischen Wang Chun und Ma Shr Ching. Wang Chung

flog dabei zweimal zur Tür hinaus, das zweite Mal mitsamt der Tür. Dieser

Zwischenfall ist wahrscheinlich die einzige überlieferte Geschichte über

einen Kampf zwischen hochrangigen Kämpfern des Tai Chi und des Ba Gua.

Zwischen Vertretern des Ba Gua und des Tai Chi hat es üblicherweise kein

böses Blut gegeben, wie das manchmal zwischen verschiedenen Systemen

des Shaolin Gung Fu der Fall war. Das Tai Chi Chuan und das Ba Gua

Chang haben die meisten Grundprinzipien gemeinsam. Sie unterscheiden

sich nur in der spezifischen Art der Anwendung dieser Prinzipien.

Ma Wei Chi (1851 - 1880) Das vierte Mitglied der Großen Vier war

Ma Wei Chi. Liu konnte viele Geschichten über Ma Wei Chi erzählen, der

als sehr stark und gewalttätig galt. Sein Spitzname war „Zehn Tage Ma",

denn wenn er bei jemandem im Kampf einen Treffer gelandet hatte, starb

dieser Mensch gewöhnlich nach zehn Tagen. Es war nicht so, dass es zehn

Tage brauchte, bis die Verletzungen eines Getroffenen ihn schließlich um-

brachten. Ma hätte einen Gegner leicht auf der Stelle töten können, und

514

zwar zumeist mit einem einzigen Hieb. Es war vielmehr so, dass die Hiebe

von Ma so angelegt waren, dass sie einen schleichenden inneren Schaden

anrichteten, der erst nach zehn Tagen zum Tod führte. Das verhinderte,

dass man die Konfrontation mit Ma Wei juristisch als Ursache des Todes

ansehen konnte, und so bekam Ma keinen Ärger mit den Behörden. Es

gibt zwei Geschichten über Mas frühen Tod. Die erste, die mir Liu Hung

Chieh erzählte, besagt, dass die Familie eines Herausforderers von Ma,

der die Zehn-Tage-Behandlung erhalten hatte, sich auf feige Art an ihm

rächte, indem sie ihn vergiften ließ. Nach der zweiten Geschichte, die Jang

Jie aus Beijing erzählte, wurde Ma in einem Herausforderungskampf von

einem buddhistischen Mönch getötet, der ein Kampfkunstmeister war. Er

soll Ma umgebracht haben, um seinem extrem gewalttätigen Treiben ein

Ende zu machen.

Ma Wei Chi war für seine Fausttechniken bekannt, die im Ba Gua nicht

so häufig sind wie Handflächenhiebe. Er war auch berühmt für sein Vermö-

gen, um einen Gegner zu kreisen und dabei seine Unterarme und Fäuste mit

verheerender Wirkung einzusetzen, sowie für seinen geradlinigen Einsatz

der Handfläche. Im Allgemeinen werden die meisten von Mas Schülern

nicht als besonders gute Kampfkünstler angesehen, was wahrscheinlich an

seinem unglaublich gewalttätigen Charakter lag. Er liebte es zu beweisen,

dass das, was er praktizierte, eine Wirkung hatte. Unglücklicherweise führte

diese Neigung dazu, dass auch seine Schüler oft körperlich verletzt wurden.

Deshalb beendeten sie ihre Schulung unter ihm oft nicht.

Keine Adepten mit Ching Gung in der Moderne

Ob sie nun wahr sind oder nicht, es gibt Unmengen von Geschichten

über Tung Hai Chuan. Wollte man sie alle sammeln, könnte man ein di-

ckes Buch damit füllen. Manche dieser Geschichten erzählen von Tungs

Fähigkeit, sehr hoch in die Luft zu springen (angeblich bis zu 7 Meter

hoch). Diese Fähigkeit nennen die Chinesen Ching Gung, den Körper sehr

leicht machen. Tung war bekannt dafür, dass er in die Höhe springen und

sich nur mit den Fingerspitzen festhaltend von sehr hohen Objekten wie

etwa Deckenbalken herabhängen konnte. Es sieht jedoch so aus, als habe

er diese Fähigkeit des Ching Gung an niemanden weitergegeben. Keiner

seiner Schüler vermochte es ihm nachzumachen.

Es heißt, Tung habe nur eine Person das Ching Gung gelehrt, während

er noch auf Wanderschaft war und bevor er nach Beijing kam. Er lehrte

515

diese Person das Ching Gung über zwei oder drei Jahre, während er selber

noch das vervollkommnete, was er in den Bergen gelernt hatte. Tung hatte

Mitleid mit diesem Mann, der sehr arm war und der ihm geholfen hatte. Ei-

nige Jahre später tauchte dieser Mann als Fassadenkletterer in Beijing auf.

Er benutzte seine Ching-Gung-Fähigkeiten, um über Zäune und Mauern zu

springen. Es heißt, Tung habe davon gehört und habe dem Dieb gedroht,

er solle aus Beijing verschwinden, weil er ihn sonst wegen unmoralischen

Gebrauchs seiner Lehren umbringen werde. Unglücklicherweise scheint die-

se schlechte Erfahrung Tung davon abgehalten zu haben, diese besondere

Fähigkeit zu lehren. Zwar können viele Praktizierende des Ba Gua recht

hoch springen, aber die tatsächliche Methode des Ching Gung wurde nicht

überliefert. Trotz vieler Nachforschungen konnte in der Moderne niemand

in Ba-Gua-Kreisen gefunden werden, der diese Fähigkeit besaß.

Die Ausbreitung des Ba Gua außerhalb von Beijing

Das Ba Gua wurde ursprünglich hauptsächlich in der Gegend von Beijing

und Tianjin praktiziert, da Tung und seine Schüler dort lehrten. Als Tung

1879 im Alter von 81 Jahren starb, verließen einige seiner Schüler Beijing

und ließen sich in anderen Gegenden Nordchinas nieder, wobei sie das

Ba Gua mitnahmen. Yin Fu ging nach Norden in die Provinz Shandong,

wo er 1909 im Alter von 69 Jahren starb. Yin Fus Linie wurde durch viele

Praktizierende übermittelt, darunter auch Kung Pao Tien, der ebenfalls nach

Norden in die Provinz Shandong ging. Cheng Ting Hua starb jung, und

einige seiner besseren Schüler ließen sich ebenfalls in Nordchina nieder,

während seine beiden Söhne weiter in Beijing lehrten. Bis in die 1920er und

1930er Jahre war das stärkste Ba Gua ohne Zweifel weiterhin in Beijing und

Tianjin zu finden. Dann führten zwei Dinge zu großen Umwälzungen in

China: der chinesische Bürgerkrieg und der Krieg mit Japan. In dieser Zeit

kam es zu massiven Migrationsbewegungen von Nordchina nach Südchina

und von China nach Hongkong und Taiwan, und zu den Auswanderern

gehörten natürlich auch Meister und Praktizierende des Ba Gua.

Die Ereignisse der 1920er, 1930er und 1940er Jahre - der Bürgerkrieg

zwischen den Kuomintang (Nationalisten) und den Kommunisten in Süd-

und Westchina sowie der Krieg mit Japan in Nord- und Ostchina - brachten

516

die Umsiedlung einer großen Zahl von Zivilisten, aber auch von Verwal-

tungspersonal und Militärs mit sich. Es standen immer mehr moderne

Transportmittel zur Verfügung, und für eine Reise, die früher Wochen

oder gar Monate gedauert hätte, brauchte man jetzt nur noch einige Tage.

Viele Kampfkünstler aus dem Norden, darunter auch Praktizierende des

Ba Gua, siedelten in den Süden um. Etliche Praktizierende des Ba Gua

landeten schließlich in Shanghai, einer Stadt, die zu einem großen Wirt-

schaftszentrum geworden war. Aus diesem Grunde war Shanghai attrak-

tiv für professionelle Lehrer der Kampfkunst. Außerdem gehörten etliche

Praktizierende des Ba Gua zu Geheimgesellschaften, und diese folgten

ebenfalls den wirtschaftlichen Aktivitäten nach Shanghai. Andere, die

als hohe Beamte oder Mitglieder der Oberschicht der Gesellschaft den

Nationalisten verbunden waren, blieben mit dem Regierungssitz verbun-

den, der aufgrund der Kämpfe zuerst nach Nanjing im Süden, dann nach

Chongqing im Westen und schließlich nach Taiwan verlegt werden musste.

Viele Praktizierende des Ba Gua schlossen sich der Armee an und kamen

in den Kriegen um.

Das Tai Chi kam vor allem als Resultat dieser Migration in den Westen.

Yang Chen Fu (der Lehrer des Yang-Stil Tai Chi), sein Sohn Yang Shou

Jung, sein Schüler Tung Ying Chieh sowie Wu Jien Chuan (der Begründer

des Wu-Stil Tai Chi) landeten alle schließlich in Hongkong und wurden

dort sehr bekannt, während Meister wie Cheng Man-ching nach Taiwan

gingen. Von Hongkong und Taiwan aus kam das Tai Chi in den Westen.

Viele der Ba-Gua-Praktizierenden, die auswanderten, gehörten in Bei-

j ing nicht zu den oberen Rängen; deshalb besaßen sie in Beijing nicht

viel „Gesicht". Natürlich waren die Leute in Beijing und Tianjin ziemlich

konservativ. Wenn sie lehrten, dann gingen sie gern in die Tiefe. Sie lehn-

ten alles ab, was nicht wirklich „ernsthaftes" Training war. Nur extrem

engagierte Praktizierende beschäftigten sich in Beijing und Tianjin mit dem

Ba Gua. Zu einer ersten Migrationswelle kam es Ende der 1920er Jahre.

Damals ging eine Gruppe von fünf berühmten Kampfkünstlern, darunter

Repräsentanten der Ba-Gua- und der Hsing-I-Schule (Fu Chen Sung und

Gui I Jai), in den Süden. Sie wurden die Fünf Tiger genannt und waren von

den Militärs im Norden nach Kanton in den Süden geschickt worden.

Liu Hung Chieh war ein Freund von Wang Lai Sheng, einem der be-

rühmten Fünf Tiger, und er studierte für kurze Zeit bei Tu Hsing Wu,

Wangs Lehrer im Boxen des natürlichen Tors. Liu und Wang hatten beide

denselben Lehrer im Shaolin-Boxen der Sechs Kombinationen. Nachdem

517

Liu Wan in einem freundschaftlichen Wettkampf besiegt hatte, führte Wan

Liu bei Tu ein, der ihn als Schüler annahm. Liu trainierte kurze Zeit bei

Tu Hsing Wu, hörte jedoch wieder auf, als Tu von ihm verlangte, er solle

mit der Übung beginnen, barfuss gegen dicke Holzbalken zu treten. Liu

setzte stattdessen sein Ba-Gua-Training fort.

Im Großen und Ganzen hat sich das Ba Gua nicht wirklich im Süden

etabliert. Die meisten der Praktizierenden, die nach dem Bürgerkrieg nach

Süden gewandert waren, landeten entweder in Hongkong oder in Taiwan,

von wo aus sich das Ba Gua dann in den Rest der Welt ausbreitete. Trotz

der Verbreitung des Ba Gua, zuerst nach Südostasien und später nach

Nordamerika und Europa, blieben Beijing und Tianjin doch die Zentren

des Ba-Gua-Universums.

Ba Gua in Hongkong

Als der chinesische Bürgerkrieg wieder aufflammte, nachdem die Japaner

1945 besiegt waren, und auch durch die Machtübernahme der Kommu-

nisten im Jahr 1949 verbreitete sich das Ba Gua noch weiter. Während der

1940er und 1950er Jahre flohen viele Menschen aus Festland-China nach

Taiwan und Hongkong. Einige hochkarätige Praktizierende des Ba Gua

gingen nach Hongkong, darunter Shun Hsi Kun (der gegen Ende seines

Lebens nach Taiwan ging). Im Allgemeinen nahmen die meisten derer, die

in Hongkong landeten, jedoch keine Schüler an. Jack Pao (siehe Seite 410),

ein Kollege des Autors, ist ein Beispiel hierfür. Jack litt an schwerem

Rheuma und praktizierte das Ba Gua hauptsächlich, um den Verfall seines

Körpers aufzuhalten. Er hatte noch in Beijing Ba Gua studiert, weil seine

reiche Familie einen Lehrer für ihn angeheuert hatte. Da er zuvor schon

gute Beziehungen zur Ba-Gua-Szene gehabt hatte, konnte er einige der

Ba-Gua-Praktizierenden in Hongkong dazu bringen, ihn weiter zu lehren,

bevor sie zu alt wurden. Ohne seinen Hintergrund und seine früheren gu-

ten Beziehungen wäre er wahrscheinlich nicht als Schüler angenommen

worden. Zu jener Zeit war es extrem schwierig, in die Schule des Ba Gua

initiiert zu werden. Wenn man jedoch bereits mit einem anderen Lehrer in

das Tor eingetreten war, dann war es leichter, einen Lehrer zu überzeugen,

einem zu helfen, seine Studien fortzusetzen.

Diese Vorgehensweise ist vergleichbar mit der westlichen Tradition

mancher Clubs: Es ist nicht leicht, als Mitglied aufgenommen zu werden,

aber wenn man erst einmal ein Mitglied ist, dann sind andere Clubmit-

518

glieder eher bereit, einem weiterzuhelfen. Voraussetzung dafür, dass man

von einem der Älteren in den chinesischen Ba-Gua-Club aufgenommen

wurde, war allerdings, dass das, was der Schüler gelernt hatte, zu dem

„echten" Ba Gua gehörte und keine verwässerte Form darstellte, für die die

Alten keine Verantwortung übernahmen. Traditionellerweise nahmen die

Praktizierenden des Ba Gua es sehr genau mit Leuten, die sie unterrichte-

ten. In Hongkong und Taiwan wurde diese Tendenz noch verstärkt durch

die tiefsitzenden Vorurteile der Menschen aus dem Norden gegenüber den

Südchinesen, die sie für leichtfertig hielten.

Allgemein gesagt war es so, dass die Ba-Gua-Szene in Hongkong von

1974 bis heute ziemlich unauffällig war. Schüler von Fu Chen Sung aus

Kanton und Gao I Sheng aus Tianjin lehrten in kleinem Rahmen öffentlich,

doch im Großen und Ganzen verbreitete sich das Ba Gua nicht sehr stark

in der früheren Kronkolonie. Beim Hsing-I sah das jedoch anders aus.

In den 1970er Jahren war der in der Öffentlichkeit am besten bekannte

Hsing-l-Lehrer der inzwischen verstorbene Han Hsing Yuan, der zu den

vier Hauptschülern von Wang Xiang Zhai in der I-Chuan-Schule gehörte.

Diese Schule des Hsing-I (siehe Seite 287) konzentrierte sich auf die Ste-

hübung und nicht auf Übungen in der Bewegung. Han praktizierte auch

etwas Ba Gua, aber es gehörte nicht zu seinen Hauptinteressen. Es gab

eine Reihe anderer Top-Praktizierender des Hsing-I in Hongkong, darunter

Chen I Ren und Liang Jr Pang, und eine größere Zahl von Praktizierenden

auf der mittleren Ebene.

Ba Gua in Taiwan

Von den hochkarätigen Ba-Gua-Praktizierenden gingen mehr nach Tai-

wan als nach Hongkong. Aber auch in Taiwan nahmen die hochkarätigen

Ba-Gua-Praktizierenden nicht mehr als einige wenige Schüler an. Es gab

in Taiwan auch etliche gute Hsing-I-Praktizierende, aber in den Haupt-

regionen von Taiwan lehrten jeweils nur einige wenige. In Taipei gab es

Chang Chen Feng und später die Hung-Brüder (Hung I Hsiang und Hung

I Mien) sowie Chao Lien Fang, der ein sehr guter Hsing-I-Kämpfer war,

sein Wissen aber nicht weitergab. In Taichung gab es Chen Pan Ling und

Wang Shu Jin sowie viele andere kleine Hsing-I-Schulen, die nur wenige

Schüler annahmen.

Viele der Leute, die in den Parks von Taiwan öffentlich Ba Gua lehr-

ten, waren nicht sehr gut. Sie pflegten chinesische Schriftzeichen in den

519

Staub zu schreiben und zu sagen: „Das ist es, was wir raeinen" ... aber

dann konnten sie nur wenig davon wirklich praktizieren. So gab es viele

Menschen in Taiwan, die zwar das Ba Gua praktizierten, die jedoch nicht

zum Ba Gua Men, also der Übertragungslinie gehörten. Es gab über die

Insel verstreut schon einige, die wirkliche Fertigkeiten besaßen, aber diese

blieben eher im Verborgenen.

Ein anderes Problem mit dem Ba Gua in Taiwan war die Tatsache, dass

die Leute vom Festland, von den Einheimischen Wai Sheng Ren oder „Leute

von außerhalb der Provinz" genannt, auf die Taiwanesen herabsahen und

sie für sozial und rassisch minderwertig hielten - für hinterwäldlerische

Bauern. Im Allgemeinen mochten die Leute aus Festland-China keine Tai-

wanesen lehren - sie hielten das für unter ihrer Würde. Chang Chen Feng

erzürnte viele Festland-Chinesen, weil er Leute von Taiwan unterrichtete.

Wenn man Taiwanese war (wie etwa Hung I Hsiang) oder wenn man einen

taiwanesischen Lehrer hatte, dann galt zudem bei den Festland-Chinesen

alles, was man machte, als minderwertig, gleich ob man gut war oder nicht.

Mit der Zeit hat sich diese Situation etwas verändert, zum Teil weil viele

Taiwanesen im Ba Gua besser geworden sind als die Kinder der Leute vom

Festland, und zum Teil weil die Leute vom Festland und die einheimischen

Taiwanesen inzwischen sozial stärker integriert sind.

In der Regel hatten die meisten wirklich guten Ba-Gua-Lehrer nur we-

nige Schüler, die aus ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis stammten.

Wollte man einen Lehrer dazu bringen, einen als Schüler anzunehmen,

dann brauchte das oft Jahre, in denen man immer wieder versuchte, ihm

zu begegnen, und in denen man ihm Geschenke brachte und immer wieder

versuchte, ihn zu überzeugen. Viele, die die Kunst praktizieren wollten,

schätzten sich bereits glücklich, wenn sie nur mit einem hochkarätigen

Lehrer zusammentreffen und mit ihm reden konnten; doch dass dann

auch jemand als Schüler angenommen wurde, war wirklich selten. Das

traditionelle Training, das die Ba-Gua-Lehrer verlangten, war schwierig

und streng. Es war etwas ganz anderes als das leichtere Training, das man

heute in der Körperertüchtigungsvariante in der Volksrepublik China fin-

det oder auch in dem eher verwässerten Ba Gua, das in den öffentlichen

Parks gelehrt wird.

In Taiwan musste man lange suchen, bis man die qualifizierten Lehrer

des Ba Gua ausfindig gemacht hatte, und dann musste man sehr hartnäckig

sein, wenn man sie überzeugen wollte, einen zu lehren. In Taichung fand

man Wang Shi Jin sowie Chen Pan Ling. Chen Pan Ling war unglückli-

520

cherweise durch einen Autounfall, den er in seinen späteren Jahren erlitten

hatte, geschwächt, aber er blieb ein ausgezeichneter Lehrer. Auch in den

südtaiwanesischen Städten Chiayi, Tsainan und Kaohsiung konnte man

Ba-Gua-Lehrer treffen. Es gab schlechte Lehrer, die bereit waren, praktisch

jedermann zu unterrichten, und gute Lehrer, die praktisch niemanden

unterrichteten. Diese Situation führte in der Ba-Gua-Szene Taiwans zu

ziemlicher Verwirrung.

Das traditionelle Ba Gua und das Wu Shu Ba Gua in der heutigen Volksrepublik China

Als die Volksrepublik China sich in den 1970er und 1980er Jahren für

den Westen zu öffnen begann und die Kommunikation zwischen den

Ba-Gua-Praktizierenden in der Volksrepublik, in Hongkong und in Tai-

wan besser wurde, wurde ihren klar, dass ihre kostbare Kunst inzwischen

ziemlich verwässert war. Die Fertigkeiten der Leute vom Festland, die sich

in den 1920er und 1930er Jahren geschult hatten, waren deutlich besser

als die Fertigkeiten derer, die in den 1950er und 1960er Jahren trainiert

hatten. Dieser Unterschied war nicht nur auf die Länge der Trainingszeit

zurückzuführen, sondern auch auf die Reinheit des erlernten Ba Gua. Und

der Unterschied war keineswegs geringfügig - es war ein Unterschied

wie zwischen Tag und Nacht. Die Kunst schien zu sterben, da jede neue

Generation ein schlechteres Ba Gua vorzuweisen hatte. Das Gleiche galt

für die Traditionen von Hsing-I und Tai Chi Chuan.

Einige Menschen in Taiwan gaben sich größte Mühe und investierten

sehr viel Zeit, um Ba Gua zu lernen, und sie gaben auf der Suche nach

authentischen Ba-Gua-Lehrern ein Vermögen aus. Mittlerweilen wurden

die Meister des Ba Gua alt und verstarben, und ihr Wissen wurde oft nicht

vollständig an die nächste Generation weitergegeben. Die ganze Situation

wurde noch dadurch verschlimmert, dass das minderwertige Ba Gua sehr

viel mehr Glaubwürdigkeit gewonnen hatte, vor allem wenn es mit äußeren

Gung-Fu-Künsten vermischt war.

Als das Ba Gua aus Beijing nach Südchina kam und sich von dort aus

nach Taiwan, Hongkong und in den Rest der Welt ausbreitete, wurde es

mit verschiedenen südlichen und auch nördlichen Schulen der Kampfkunst

vermischt. Als die unzureichend geschulten Ba-Gua-Praktizierenden Bei-

521

j ing verließen, nahmen sie vielleicht nur 10 bis 20 Prozent der gesamten

Kunst mit sich, und die Vermischung dieses partiellen Ba Gua mit anderen

Kampfkünsten führte zu einer starken Verwässerung und Verunreinigung

des reinen Ba Gua. Häufig war es so, dass jemand ein wenig Ba Gua von

hier, etwas Hsing-I von dort, ein bisschen chinesisches Ringen von sonst

wo und vielleicht irgendeine andere Kampfkunst oder etwas Chi Gung

von wer weiß wem gelernt hatte und dann begann, seine eigene hybride

Variante zu lehren. Selbst die besseren dieser Mischungen bestanden viel-

leicht nur zu 30 Prozent aus Ba Gua, mit 20 Prozent Hsing-I, 30 Prozent

Tai Chi und weiteren 20 Prozent der unterschiedlichsten Künste. Es kam

allerdings nicht in allen Fällen zu dieser Entwicklung hybrider Formen,

und viele hochkarätige Ba-Gua-Praktizierende suchten sich ihre Schüler

weiterhin sehr sorgfältig aus und blieben in ihren Lehrmethoden tradi-

tionell. Es ist jedoch richtig zu sagen, dass die Qualität des Ba Gua im

Zuge seiner Ausbreitung abnahm und dass die klaren Überlieferungen aus

der ursprünglichen Schule des Ba Gua nur sehr selten aufzufinden sind.

Eine ähnliche Situation findet sich auch beim Tai Chi; auch hier war die

Mehrzahl der Lehrer, die Festland-China verließen, um nach Taiwan zu

gehen, nicht sonderlich gut geschult.

Viele Faktoren führten in der Zeit nach 1949 zu einer Unterbrechung

der Überlieferung des Ba Gua. Zuerst einmal wurde China im Jahre 1949

politisch in zwei Teile zerrissen. Viele Menschen, denen als Nationalsten

die Exekution oder lange Gefängnisstrafen drohten, flohen nach Hong-

kong, Taiwan oder Südostasien. Und für diejenigen, die in Festland-China

blieben, war es ziemlich riskant, erkennen zu lassen, dass sie Ba Gua be-

herrschten. So konnten sie leicht auf eine Liste von „zu Überwachenden"

geraten, was potentiell äußerst gefährlich war. Viele Ba-Gua-Praktizierende

flohen in entlegene Gegenden Chinas und „stellten ihr Licht unter den

Scheffel", indem sie nicht zu erkennen gaben, was sie wussten. Wenn sie

bereits über 60 Jahre alt waren, dann „verbargen sie ihr Licht"74 vielleicht

bis zu ihrem Tod. Wenn sie überhaupt lehrten, dann vielleicht nur einen

oder zwei Schüler, und das im Verborgenen - was kaum ideale Bedingun-

gen für das Erlernen der Kunst waren.

Außerdem hatte es vor der Kulturrevolution in China den „Großen

Sprung nach vorn" gegeben, bei dem Ende der 1950er und Anfang der

1960er Jahre 30 Millionen Menschen Hungers starben. Während dieser

74 „Sein Licht verbergen" ist ein Ausdruck mit dem Laozi (Laotse) und Zhuangzi (Chuang-

tzu, Dschuang Dsi) den daoistischen Weisen beschreiben. (Anm. d. Übers.)

522

Zeit gab es kaum Nahrungsmittel in China. Doch für jeden Athleten, der

ein ernsthaftes Training absolvieren will, ist ausreichende Ernährung not-

wendig. Da keine Nahrungsmittel erhältlich waren, litt das Training der

Generation der 1950er und 1960er stark darunter.

Zu dieser Zeit gab es jedoch auch einige Faktoren, die dem Ba Gua ein

wenig halfen. Der Leibwächter Maos, dem dieser am meisten vertraute,

war ein Ba-Gua-Praktizierender; damals befürwortete Mao die Praxis des

Tai Chi allein aus gesundheitlichen Gründen, und einige der Ba-Gua-

Praktizierenden konnten sich hinter dem Aushängeschild dieser offiziellen

Erlaubnis verbergen.

Ein dritter schwächender Faktor war die Tatsache, dass alles „Alte"

zur Zielscheibe der Kulturrevolution wurde und heftig bekämpft wurde,

so wie auch der Konfuzianismus und der Buddhismus angefeindet wur-

den. Die erfindungsreiche Lösung dieses Problems war die Kreation des

Wushu, der „Künste der Kampftechniken". Dieses Wushu war nicht mehr

militärischer oder meditativer Natur, sondern stelle vielmehr ein vom Staat

gefördertes System der Kunst dar. Das Wushu basiert auf einer Mischung

von Kampfkunstbewegungen, Tanz und Gymnastik. Aus der Perspektive

der Kampftauglichkeit gesehen, wurden die Kampfkünste herabgestuft zu

„Kampfbewegungen", die mehr wie ein Tanz als wie ein Kampf ausgeführt

wurden. Die Betonung wurde auf die Körperertüchtigung gelegt, wobei

es vor allem um das schöne Aussehen bei Schaukämpfen ging. Zweck

des Wushu sollte auch sein, die Bewegungsformen der Kampfkünste zu

bewahren, so dass es zu einer Art Enzyklopädie der chinesischen Kampf-

techniken wurde.

Von der Zentralregierung gefördert, wurden die chinesischen Kampf-

künste auf diese Weise der Masse der Chinesen nahe gebracht und auch

einem internationalen Publikum in von der Regierung geförderten Tour-

neen mit Wushu-Vorführungen vorgestellt. Im Vordergrund standen dabei

athletische Leistungen, Dehnungen, die Schönheit der Bewegungen und der

„chinesische Geist". Es ging dabei also um etwas ganz anderes als in den

traditionellen Kampfkünsten, die dir Tugenden des Schlachtfeldes - wie

Mut, Verve, Kraft und Kampfkompetenz - mit der Meditation und den

moralischen Werten von Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus ver-

banden. Während man in der traditionellen Kampfkunst zwischen fünf

und dreißig Jahre darauf verwendet, eine einzige integrierte Kunst zu

perfektionieren, gleicht der Wushu-„Schauspieler" eher einem Tänzer, der

die Methode des modernen Tanzes verwendet.

523

Ein moderner Tänzer beginnt damit, dass er die Grundlage gewisser

Kernbewegungen erlernt; in seiner Ausbildung werden Dehnung, Balance,

gute Körperkontrolle und die Fähigkeit betont, „Bühnenpräsenz" zu zeigen,

indem er Emotionen und Charisma durch Bewegungen zum Ausdruck

bringt. Die Wushu-Methode, die wie der Tanz keine praktische Kultivierung

der inneren Kraft umfasst, die zur Selbstverteidigung brauchbar wäre,

lehrt - basierend auf der Kunst des Chang Chuan (der Langen Faust des

Nördlichen Shaolin) - die grundlegenden Fertigkeiten von Dehnung, Gym-

nastik, Balance, gute Körperbewegung, Bühnenpräsenz und die Darstellung

von Kampfbewegungen mit minimaler physischer Kraft.

So wie der moderne Tänzer dann weiterhin ständig neue Choreographi-

en erlernt, wird der Praktizierende des Wushu als nächstes Hunderte von

Sets von Bewegungen aus Dutzenden von Kampfkünsten lernen, die er als

Abwandlungen des grundlegenden Chang-Chuan-Trainings ausführt. Die

Wushu-Ausübenden studieren gewöhnlich einige Monate lang die äußeren

Bewegungen (Sets) einer Kampfkunst und fügen die neue „Kampfkunst"

dann ihrem Repertoire für Lehre oder Vorführung hinzu, ohne dadurch nor-

malerweise eine nennenswerte Kampfkompetenz in der neuen Kampfkunst

gewonnen zu haben. Traditionelle Lehrer, die den Wushu-Ansatz kennen,

haben schon oft Bedenken dagegen geäußert. Seit den 1990er Jahren

tauchen innerhalb des Wushu allmählich wieder traditionelle Ansätze auf,

vor allem seit es in China wieder Vollkontakt-Wettkämpfe gibt.

Die Wushu-Praktizierenden arbeiten sehr hart an der „modernen Kampf-

kunst". Ihre Bemühungen und die vielen Stunden sorgfältiger Übung, die

sie einsetzen, verdienen unseren Respekt. Doch darstellende Künste und

Kampfkunst sind zwei völlig unterschiedliche Dinge in Hinsicht auf das,

was der einzelne Praktizierende und die Gesellschaft daraus gewinnen. Im

Wushu werden hauptsächlich die oberflächlichen äußeren Bewegungen des

Ba Gua praktiziert, während es dem traditionellen Ba Gua um die innere

Entwicklung und die praktischen Fertigkeiten geht, die man aus dieser

alten Kunst gewinnen kann. Die Werte und Fähigkeiten von jemandem,

der sein Chi kultiviert und Kampffertigkeiten erwirbt, unterscheiden sich

doch ziemlich von den Werten und Fähigkeiten eines Menschen, dem es

Darstellung auf der Bühne geht. Das Wushu hat seine Meriten in Hinsicht

auf die Körperkultur und organisatorische Fähigkeiten. Doch alles in allem

gehört das Wushu zu den Strömungen, die zur weiteren Verwässerung des

Ba Gua Chang beigetragen haben.

524

Verschiedene Übertragungslinien

Die Schulen von Cheng Ting Hua und Yin Fu sind innerhalb und außerhalb

Chinas zu den beiden vorherrschenden Schulen des Ba Gua geworden.

Von all den Ba-Gua-Praktizierenden, die der Autor in Taiwan, Hongkong

und der Volksrepublik China gesehen hat, kam die Mehrzahl derer die das

Ba Gua konsistent als eine Kampfkunst zu verwenden wussten, aus einer

dieser beiden Linien. Andere Schüler von Tung Hai Chuan, nämlich Sung

Shr Rong und Shr Liu (mit dem Tung ebenfalls zusammenlebte), gaben

ihre Kunst zwar weiter, aber ihre Schüler schulten sich ebenfalls bei Cheng

Ting Hua oder Yin Fu, die nach Ansicht des Autors die einzigen waren,

die ihre Kunst wirklich ganz und gar auszuschöpfen wussten.75

Es gibt viele andere Schulen, die sich „Dieses" oder „Jenes" Ba Gua

nennen und die für sich in Anspruch nehmen, andere Ursprünge als

bei Tung Hai Chuan zu haben, obwohl alle Schulen, die aufgrund ihrer

Kampftechniken Ansehen genießen, auf Tung zurückgehen. Es gibt viele

Geschichten über geheime Ba-Gua-Schulen in entlegenen Gegenden Chi-

nas. Doch wenn man diesen Behauptungen näher nachforscht, stellt sich

unweigerlich immer wieder heraus, dass diese Schulen entweder aus der

Linie von Cheng Ting Hua oder der von Yin Fu hervorgegangen sind. Wo

das nicht der Fall ist, haben sie nichts zu bieten, was mit dem Ba Gua von

Tung nach Inhalt und Effektivität vergleichbar wäre.

Im heutigen China kommen die Mehrzahl der stärksten Kämpfer und

die geschicktesten körperlichen Techniker des Ba Gua ohne Zweifel aus der

Schule von Cheng Ting Hua. Die Schule von Yin Fu ist zwar noch stark,

aber die Zahl der Praktizierenden, die diese Linie des Ba Gua mit einem

hohen Maß an Können auszuführen vermögen, scheint zu schrumpfen,

während die Zahl der hochkarätigen Praktizierenden der Cheng-Ting-

Hua-Schule relativ dazu zu wachsen scheint. Dass dem so ist, könnte

entweder daran liegen, dass Cheng die besseren Schüler angezogen hat,

oder daran, dass sein System leichter zu erlernen ist. In den USA und

75 Anmerkung des Herausgebers: Auch wenn der Autor mit über 200 Praktizierenden

Rou Shou oder Sparring praktiziert hat, ist er nicht persönlich jeder einzelnen Linie

der anderen Schulen nachgegangen, und deshalb mögen seine Beobachtungen nicht

ganz und gar zutreffend sein. Er hat beide Stile studiert und hat keine persönliche

Vorliebe für einen von ihnen. Sie haben beide ihre spezielle Eigenart sowie positive

und negative Aspekte. Die Yin-Fu-Schule ist linearer, die Cheng-Ting-Hua-Schule ist

zirkulärer und spiraliger.

525

in Europa kommt heute die große Mehrheit der Praktizierenden aus der

Cheng-Ting-Hua-Schule.

Nicht in jeder Linie sind die Körper/Chi-Aspekte, der kämpferische und

der spirituelle Aspekt des Ba Gua komplett vorhanden. Ein Lehrer kann nur

das lehren, was er weiß, und das ist nicht immer unbedingt das, was seine

Schüler sich von ihm wünschten. Wirklich erstklassige Lehrer des Ba Gua

sowie der anderen inneren Kampfkünste sind selten. Deshalb sollte man

auf ihre Methoden achten. Gewöhnlich erinnert man sich an etwas, das

wahre Qualität besitzt und unser Leben verbessert - noch lange nachdem

der dafür aufgebrachte Preis und die Mühen vergessen sind.

526

Anhang C: Die energetische Anatomie

des menschlichen Körpers

Die Hauptenergiekanäle und die drei Dantien

Was ist dem linken, rechten und dem zentralen Energiekanal gemeinsam?

Drei Hauptenergiekanäle oder Pfade des Energieflusses - der linke, rechte

und zentrale Kanal (siehe Abbildungen 1 und 2) - bilden sich bereits

bei der Empfängnis und verbleiben das ganze Leben lang in einer Per-

son. Andere wichtige Energien bewegen sich im menschlichen Körper

und folgen dabei Meridianmustern, die von der chinesischen Medizin

sehr gut kartographisiert wurden. Jeder Text über Akupunktur enthält

gewöhnlich Abbildungen, die ihren Verlaufzeigen. Nach der daoistischen

Chi-Gung-Theorie entstehen der linke, rechte und zentrale Kanal jedoch

vor den Akupunkturmeridianen und erzeugen diese Meridiane im Verlauf

der Entwicklung des Fötus. Die drei Hauptenergiekanäle haben gewisse

Eigenschaften gemeinsam.

So sind zum Beispiel alle drei in der Körpermitte lokalisiert, das heißt

in jedem Kanal fließt die Energie in der Mitte zwischen der Haut an der

Vorderseite und der Haut an der Rückseite des Körpers.

Außerdem verbindet sich der Zentralkanal auf der rechten Seite des

Körpers mit dem rechten Kanal und auf der linken Körperseite mit dem

Linken Kanal, und zwar an den Finkerspitzen, an den Zehenspitzen, in

der Mitte der Achselhöhlen, in den Kwa und im Bai-Hui-Punkt, der im

Scheitelpunkt des Kopfes liegt.

527

Der Verlauf des Zentralkanals

Im Rumpf und im Kopf Der Zentralkanal verläuft vom Zentrum des

Perineum (oder Damm, der Region zwischen dem Anus und dem hinteren

Rand der äußeren Geschlechtsteile) durch die Mitte des Rumpfes zum Punkt

Bai Hui am Scheitelpunkt des Kopfes. Der Kanal verläuft durch innere

Organe, weiche Gewebe, Blutgefäße und das Gehirn.

In den Armen Der Zentralkanal verläuft vom Herzzentrum (dem Mittle-

ren Dantien) zu einem Treffpunkt in der Mitte der Achselhöhlen, wo sich

die Energien des mittleren und des linken beziehungsweise rechten Kanals

zeitweilig vereinigen. Von den Achselhöhlen bewegt sich die Energie des

Zentralkanals durch das Knochenmark der Armknochen, durch die Mitte

der Ellbogen und durch die Handgelenke zum Zentrum der Handfläche

und von dort durch das Knochenmark zu den Fingerspitzen. In den Fin-

gerspitzen verbindet sich die Energie des Zentralkanals mit der Energie

des linken beziehungsweise rechten Kanals und fließt, einmal verbunden,

über die Fingerspitzen hinaus bis zum Rand des ätherischen Körpers.

In den Beinen Der Zentralkanal verläuft vom Perineum zwischen den

Beinen durch das Knochenmark nach beiden Seiten entlang der Leisten

zu den Kwa und Hüftgelenkspfannen. Von dort verläuft er durch das

Knochenmark der Beinknochen durch die Knie und Fußgelenke und dann

durch die Mitte der beiden Füße auf einer Linie zwischen der Ferse und

dem Fußballen sowie durch das Knochenmark der Zehen.

Wo der Zentralkanal den Körper verlässt Die Energie des Zentralkanals

vermischt sich mit der Energie des linken beziehungsweise des rechten

Kanals, und die vermischten Energien gehen an den folgenden Punkten

über den physischen Körper hinaus zum ätherischen Körper:

1. an den Fingerspitzen und Zehenspitzen, bis zur Grenze des ätheri-

schen Körpers;

2. am Punkt Bai Hui am Scheitelpunkt des Kopfes, bis zur Grenze des

ätherischen Körpers über dem Kopf, wo sich die eigene persönliche

Energie mit der Energie des Himmels (der kosmischen Energie) ver-

bindet;

3. am Zentrum des Fußballens der beiden Füße, unter die Füße hinab

zur unteren Grenze des ätherischen Körpers, wo sich die eigene

persönliche Energie mit der Energie der Erde verbindet.

528

Abb. 1

Der zentrale Energiekanal

529

Der Verlauf des linken beziehungsweise rechten Kanals

Im Kopf und in den Schultern Vom Scheitelpunkt auf der jeweiligen

Seite hinab zum Schlüsselbein; zu keiner Zeit überschneidet der linke oder

rechte Kanal den Zentralkanal. Der linke und der rechte Kanal beginnen

im Punkt Bai Hui im Scheitelpunkt des Kopfes (wo ihre Energien mit der

Energie des Zentralkanals verschmolzen sind). Sie verlaufen in einer nicht

wahrnehmbaren Entfernung vom Zentralkanal parallel zu diesem durch die

Mitte des Gehirns abwärts. Am Oberen Dantien, dem so genannten Dritten

Auge, vergrößert sich die Distanz zwischen dem linken und dem rechten

Kanal, und sie verlaufen durch das Zentrum der Augen weiter abwärts

über die Nasenflügel und die Mundwinkel, durch den Hals bis auf die Höhe

des Schlüsselbeins, wo sie dem Zentralkanal nahe kommen, ihn aber nicht

überschneiden. An diesem Punkt verzweigen sich der linke und der rechte

Kanal nach links beziehungsweise rechts und verlaufen entlang der Mit-

tellinie zwischen den Schlüsselbeinen und dem Rücken und verbinden sich

zeitweilig in den Achselhöhlen mit dem Zentralkanal, bevor sie sich wieder

von diesem abspalten.

In den Armen Von der Mitte der Achselhöhlen laufen der linke und der

rechte Kanal auf der jeweiligen Körperseite innerhalb der Knochensubstanz

(Kalzium) der Arme und Handgelenke abwärts bis zu den Fingerspitzen.

Hier verbindet sich der rechte beziehungsweise linke Kanal jeweils mit dem

Zentralkanal.

In den Beinen Ausgehend von den Kwa (in der Leistenfalte) verlaufen

der linke und der rechte Kanal auf der jeweiligen Seite innerhalb der Kno-

chensubstanz von Hüftgelenkspfanne, Hüft- und Oberschenkelknochen,

Knie und Fußgelenk, entlang der kleinen Knochen der Füße entlang zweier

dünner paralleler Linien auf beiden Seiten des Zentralkanals zum Zentrum

des Fußballens, wo der linke und der rechte Kanals mit dem Zentralkanal

verschmelzen. Sie spalten sich dann wieder auf und verlaufen zu den Ze-

henspitzen, wo der linke beziehungsweise rechte Kanal wieder mit dem

Zentralkanal verschmilzt und die vermischten Energien weitergehen bis zur

Grenze des ätherischen Körpers.

Die Kontrolltore des linken und des rechten Kanals Es gibt drei ener-

getische „Schleusentore", die die Energie des linken und rechten Kanals

entweder ungehindert passieren lassen, die sie drosseln oder ihren Fluss total

unterbrechen. Diese Tore sind auf beiden Seiten jeweils in der Achselhöhle,

im Zentrum der Taille und im Kwa lokalisiert.

530

Abb. 2

Der linke und der rechte

Energiekanal

531

Anhang D: Linien und Trainingschronologie

Zusammenfassung der Kampfkunsterfahrung von Bruce Frantzis

Eine Chronologie des Kampfkunsttrainings des Autors

Kampfkuns t Ort des Trainings Zeitraum des Trainings

Judo New York Tokio

1961-1967 1967-1970

Karate New York Tokio Okinawa

1961-1967 1967-1969 1970

Jiu Jitsu New York 1962-1966

Aikido New York Tokio

1963-1967 1967-1969

Iaido New York 1965-1966

Kantonesischer Weißer Kranich New York 1966-1967

Affenboxen New York 1966-1967

Ba Gua Tokio/Taiwan Taiwan/Hongkong

Beijing

1968-1971 1974-1975, 1977-1979, 1983, 1987, 1989 1981, 1983-1986

Tai Chi Tokio/Taiwan Hongkong/Taiwan

Xiamen Beijing

1968-1971 1974-1975, 1977-1979, 1983, 1987, 1989, 1997 1983-1984 1981, 1983-1986

Hsing-I Tokio/Taiwan Hongkong/Taiwan

Beijing

1968-1971 1974-1975, 1977-1979, 1983, 1987, 1989 1981, 1983-1986

Fukien Weißer Kranich Tokio Taiwan

1971 1974-1975

Wing Chun New York Hongkong

1972, 1976 1974, 1975, 1977

Chinesisches Ringen Taiwan 1974

Nördliches Affenboxen Taiwan 1974-1975, 1978

Acht Trunkene Unsterbliche Taiwan 1974-1975, 1978

Gottesanbeterin (Praying Mantis) Taiwan 1974-1975

Nördliches Shaolin Hongkong 1983

532

Anmerkung: Als diese Trainings stattfanden, pflegten die traditionellen

chinesischen Lehrer der inneren Kampfkünste gewöhnlich keine Diplome

an ihre Schüler zu vergeben. Allerdings erhielt der Autor einige Dokumen-

te, von denen einige in der folgenden Sektion angeführt sind. Die obige

Tabelle enthält keine Daten über die mit den Kampfkünsten verbundenen

Künste der Meditation, des Chi Gung, Tui Na und anderer Disziplinen

der Körperarbeit und auch nicht über die zwei Jahre, während derer er in

Indien Yoga, Kundalini und Tantra studiert hat.

Die Zertifikate

Ba-Gua-Zertifikat

Kumar Frantzis, der die Na-

men Fan Qingren und Fan

Zhishan erhalten hat, ist ein

herausragender Schüler des Ba

Gua Men (der Ba-Gua-Traditi-

on). Seine Kunst ist von gro-

ßer Fertigkeit und sein Körper

und Seine Hände sind stark

und kräftig.

In diesem Sommer kam Ku-

mar Frantzis nach China und

wurde persönlich in unserem

Hof geschult. Er ist in Lage,

von einer Sache auf andere Sachen zu schließen, stillschweigend zu be-

greifen und sorgfältig und hart zu trainieren. Er hat einen offenen Geist

und ist gut darin, von anderen zu lernen. Wenig Menschen in der Welt

kommen ihm gleich. Man sagt, dass Menschen, die Profis sind, nicht so

gut sind wie Menschen, die wirklich Freude an dem haben, was sie tun.

Es ist mir eine Ehre, aus Anlass seiner Rückkehr in die Vereinigten

Staaten diese Worte des Lobes zu schreiben, um ihn zu ermutigen.

Liu Hongjie (Liu Hung Chieh)

Im Lehrhof, Beijing, 6. September 1981

533

Tai Chi Zertifikat

ZERTIFIKAT Nr. 80853

11. September 1981

Kumar Frantzis hat seine er-

weiterten Studien des Tai Chi

Chuan in 24 Mustern, des Tai

Chi Schwerts in 32 Mustern,

des Tai Chi Messers und des Tui Shou (Push Hands) am Beijinger Institut

für körperliche Erziehung in Beijing, Volksrepublik China, vom 4. August

1981 bis 10. September 1981 abgeschlossen. Er ist qualifiziert, andere zu

trainieren.

Pekinger Institut für körperliche Erziehung

Beijing, Volksrepublik China

Hsing-I Zertifikat

Kumar Frantzis, der die Namen

Fan Qingren und Fan Zhishan

erhalten hat, ist ein herausra-

gender Schüler unseres Hsing-

I Men (Hsing-I-Tradition). Sein

Gung Fu (Fertigkeit) ist sehr

gut, und seine Bewegungen

sind schnell und perfekt.

Er kam im Sommer nach Chi-

na, und ich habe ihn persönlich trainiert. Wenn ich ihm „A" sage, dann

weiß er schon „Z". Er begreift alles mit Herz und Seele. Er ist sorgfältig und

übt eifrig. Er ist sehr bescheiden, wenn er Fragen stellt. An einem Tag der

Praxis kann er tausend Meilen weit gehen. Ich bin sehr glücklich darüber,

dass er ein ganz besonderer und herausragender Schüler ist.

Es ist mir eine Ehre, aus Anlass seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten

diese Worte des Lobes zu schreiben, um ihn zu ermutigen.

Liu Hongjie (Liu Hung Chieh)

Im Lehrhof, 11. September 1981

534

Die Linien

Diese Information über die Übertragungslinie erhielt Bruce Frantzis von

Liu Hung Chieh. Liu sagte, es sei nicht notwendig, alle Linienmeister auf-

zulisten. In Lius Worten: „Die hier aufgelisteten Meister sind die wichtigen,

und ihre Kunst wurde direkt von der Alten Generation überliefert."

Die erste Generation:

Tung Hai Chuan

die zweite Generation:

Yin Fu

Ma Weiqi

Cheng Ting Hua

Die dritte Generation:

Ma Gui

Li Yongqing

Liu Jianchen

Mantou Guo

Die vierte Generation:

Zhu Wenbao

Die fiinfte Generation:

Liu Zhenlin

Die sechste Genera-

tion:

Liu Hung Chieh

Die siebte Generation:

Bai Hua

Fan Qingren (Kumar

Frantzis)

535

Die Namensliste der Tai-Chi-Meister

Chang San Feng (eine

legendäre daoistische

Gestalt)

Wang Tsung Yueh

Chen Wang Ting

Chen Hsing

Yang Lu Chan

Yang Pan Hou Chuan

You

Wu Jien Chuan

Liu Hung Chieh

Fan Qingren (Kumar

Frantzis)

Die Namensliste der Hsing-I-Meister

(seit Li Luo Neng, aus dem Distrikt Shen in der Hebei-Provinz)

536

Anhang E: Chinesische Terminologie

Die Romanisierung chinesischer Wörter in diesem Buch

Wie chinesische Wörter, Sätze und Namen in diesem Buch transkribiert wurden

In diesem Buch wurden sehr häufig westliche Übersetzungen von chi-

nesischen Wörtern und Sätzen verwendet. Doch aufgrund der Natur der

Inhalte, war es nicht immer möglich, den Gebrauch von Transkriptionen

des Chinesischen zu vermeiden. Deshalb wurde dem Buch ein Glossar

beigegeben, in dem Definitionen aller transkribierten chinesischen Be-

griffe angeführt werden. Jeder Versuch, den Klang chinesischer Wörter

exakt ins Englische (bzw. Deutsche) zu übertragen, muss misslingen. Ein

Grund dafür ist, dass das Chinesische Laute enthält, die man im Englischen

(bzw. Deutschen) einfach nicht hat; ein anderer Grund ist der Gebrauch

verschiedener Vokal-„Töne", die im Englischen (bzw. Deutschen) nicht

existieren. Darüber hinaus hat das Englische (bzw. Deutsche) Klänge, die es

im Chinesischen nicht gibt. Menschen, die eine westliche Sprache sprechen,

werden unvermeidlich Klänge aus ihrer eigenen Sprache hinzufügen, die

die chinesische Aussprache verzerren.

Jedes der wichtigen Systeme der alphabetischen Transkription des

Chinesischen (Romanisierung) hat seine Schwächen. Das geschriebene

Chinesisch besteht aus Schriftzeichen, von denen ein jedes eine Idee oder

mehrere miteinander kombinierte Ideen vermittelt. Wenn diese Schrift-

zeichen ausgesprochen werden, werden sie in den verschiedenen chine-

sischen Sprachen unterschiedlich ausgesprochen. Für Ausländer können

sich diese Sprachen manchmal so verschieden anhören wie Französisch

und Deutsch. So ist zum Beispiel das Wort für „Familie" im Mandarin,

dem offiziellen „Hochchinesisch", Jia, jedoch im Kantonesischen, einem

regionalen chinesischen Dialekt, der von über 60 Millionen Menschen

in der Provinz Kanton und in Hongkong gesprochen wird, Gar. Es gibt

noch weitere regionale Sprachen beziehungsweise Dialekte, die wieder-

537

um verschiedene Aussprachen desselben Schriftzeichens haben, wie zum

Beispiel den Dialekt von Szechuan (der von mehr Menschen gesprochen

wird als das Kantonesisch) und das Minnanhua der Provinz Fujian (das

eine ältere Sprache als das Kantonesisch ist). Die Situation wird noch

dadurch kompliziert, dass es in den verschienen großen Dialekten noch

Unterdialekte gibt. Im Alten China gab es Fälle, in denen Menschen die

in derselben Provinz nur etwa 300 Kilometer voneinander entfern lebten,

kaum miteinander kommunizieren konnten.

Es gibt nicht ein einziges „richtiges" System zur korrekten Romanisie-

rung der Wörter des Standard-Mandarin. Es gibt zurzeit drei Hauptsysteme

der Transkription des Chinesischen, nach denen dasselbe chinesische Wort

manchmal gleich, manchmal unterschiedlich buchstabiert wird. Jedes die-

ser Systeme ist eine gültige Methode der Transkription oder der Wiedergabe

der Laute des gesprochenen Mandarin-Chinesisch mit Hilfe des Systems

lateinischer Buchstaben. Diese drei sind das Pinyin-System der Volksre-

publik China, das Wade-Giles-System und das Yale System.

Das Pinyin-System der Volksrepublik China wird immer häufiger in

akademischen Kreisen aber auch in der populären Literatur verwendet

und wurde offiziell von den Vereinten Nationen übernommen, seit die

Volksrepublik China im Jahre 1972 Taiwan als ständiges Mitglied im Si-

cherheitsrat abgelöst hat. Seither ist Pinyin das „offizielle" System der

Romanisierung des Chinesischen. Dieses System benutzt den Buchstaben x

für den „hs"- oder „sch"-Laut, den Buchstaben q für der „tsch"-Laut und

den Buchstaben z für den „dsch"-Laut.

Vor dem Jahr 1980 war das Wade-Giles-System das (vor allem in der

englischsprachigen Literatur) am meisten benutzte System. Der verwir-

rendste Aspekt dieses System ist der Gebrauch des Apostrophs. So wird

das t' zum Beispiel ausgesprochen wie ein „t", während das t wie „d"

ausgesprochen wird (der zentrale daoistische Begriff für den „Weg" wird

im Wade-Giles-System Tao geschrieben, was „Dao" ausgesprochen wird,

die Wade-Giles-Umschrift Tan-t'ien wird „Dantien" ausgesprochen). Das

ch wird hier „dsch" ausgesprochen, das ch' wird „tsch" gesprochen.

Was im Wade-Giles-System der Romanisierung T'ai Chi Ch'uan geschrie-

ben wird, wird „Tai Dschi Tsch'wan" ausgesprochen. Nach dem Pinyin-

System wird es Taiji Quan geschrieben, nach dem Yale-System Taiji Chuan.

Das Yale-System ist das am wenigsten häufig verwendete. Es wurde

von der amerikanischen Yale-Universität geschaffen, um die Laute des

gesprochenen Chinesisch so gut es geht so zu romanisieren, dass sie für

538

Englischsprechende mit der besten Annäherung an das Chinesische aus-

zusprechen sind. Was nach dem Yale-System Chi Gung geschrieben wird,

wird nach Wade-Giles Chi Kung geschrieben und nach Pinyin Qi Gong.

Die Aussprache im Deutschen ist in etwa „Tschi Gong". Das „Qi" des Pinyin

und das „Kung" des Wade-Giles sind hier besonders verwirrend.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie stark sich die Umschriftsystem zum Teil

voneinander unterscheiden, ist die Schreibweise der inneren Kampfkunst,

die ein zentrales Thema in diesem Buch ist, jener Kunst die auf dem I Ging

basiert (Wade-Giles: I Ching, Yale und Pinyin: Yijing). Nach Wade-Giles wird

diese Kunst Pa Kua Chang geschrieben, nach Pinyin Ba Gua Zhang, nach

Yale Ba Gua Jang. (Die deutsche Aussprache ist in etwa „Bagua Dschang")

In diesem Buch werden die verschiedenen Umschriftsysteme frei abge-

wechselt und manchmal sogar miteinander vermischt, und zwar auf zwei

Ebenen. Zuerst einmal auf der kognitiven Ebene. Mit Rücksicht auf jene

Leser, die bereits einige Literatur über Kampfkünste, Chi Gung und Medi-

tation gelesen haben, haben wir uns die Freiheit genommen, die Umschrift

zu wählen, die sie wahrscheinlich am ehesten wieder erkennen werden.

Zweitens vermischen wir die Schreibweisen manchmal innerhalb eines

Ausdrucks. So verwenden wir zum Beispiel durchgängig die Schreibweise

„Ba Gua Chang", wobei wir das „Ba Gua" von Pinyin und Yale und das

„Chang" von Wade-Giles verwenden. Warum? Weil die Aussprache „Ba

Gua" der chinesischen Aussprache einigermaßen nahe kommt, während

Pa Kua das keineswegs tut. Wenn man im Chinesischen geschult ist, dann

kommt das (englisch ausgesprochene) „Jang" dem Chinesischen zwar am

nächsten, ist man es jedoch nicht, dann sind „Jang", „Chang" oder „Zhang"

gleichermaßen wenig hilfreich, während „Chang" zumindest aus der west-

lichen Literatur (die lange Zeit das Wade-Giles-System benutzte) von „Pa

Kua Chang" noch am meisten bekannt ist. Für den durchschnittlichen

westlichen Leser, der kein Chinesisch gelernt hat, wird die Schreibweise

„Ba Gua Chang" noch am ehesten zu einer Aussprache führen, die dem

gesprochenen Chinesisch nahe kommt.

Diese Diskussion der Umschrift mag manchem unnötig kompliziert

vorkommen. Es gibt jedoch über eine Milliarde Chinesen auf der Welt, und

Missverständnisse können uns viel Zeit und Energie kosten. Wir haben uns

in diesem Buch deshalb für eine Umschrift entschieden, die es dem eng-

lischsprachigen Leser am leichtesten macht, der chinesischen Aussprache

der Wörter nahe zu kommen. Es ging uns also nicht darum, ein formales

System der Romanisierung durchgängig zu verwenden.

539

Anhang F: Glossar

Für chinesische Wörter und Sätze in diesem Glossar wird manchmal in

Klammern eine alternative Transkription entweder nach dem Pinyin-,

dem Wade-Giles- oder dem Yale-System (oder in einer Kombination die-

ser Systeme) hinzugefügt. Für japanische Wörter sind keine alternativen

Umschriften angeführt.

A

Acht außerordentliche oder spezielle Meridiane Die acht Meridiane, die in

der Akupunktur eine spezielle Funktion über den und jenseits der normalen

vertikalen und horizontalen Meridiane haben.

Acht Energiekörper In der daoistischen Philosophie acht klar voneinander

unterscheidbare Schwingungsfrequenzen der Energie, aus der ein menschli-

ches Wesen besteht. Sie werden jeweils als ein „Körper" bezeichnet. Es sind

dies: der physische Körper, der ätherische/Chi-Körper, der Gefühlskörper, der

Mentalkörper, der Körper übersinnlicher Energie, der Kausalkörper, der Körper

der Individualität und der Körper des Dao.

Acht Mutterhände (Ba Mu Chang, Ba Mu Zhang, Pa Mu Chang, Ba Mu Jang)

Die acht grundlegenden „Hände" (Palm Changes) oder Bewegungsmuster des

Ba Gua Chang. Die einzelnen Energien der acht Trigramme des I Ging werden

jeweils von den acht Mutterhänden verkörpert.

Acht trunkene Unsterbliche Eine äußere/innere Kampfkunst, in der die Prak-

tizierenden die torkelnden, fallenden und am Boden rollenden Bewegungen

eines Betrunkenen nachahmen.

Affenboxen (Hou Chuan) Ein Kampfkunstsystem, das die Bewegungen von

Affen nachahmt; es ist für seinen besonders grausamen Kampfstil bekannt

sowie dafür, dass die Praktizierenden herumspringen, über den Boden rollen

und extrem täuschende Bewegungen machen.

Aikido Eine japanische Kampfkunst, die auf der inneren Energie basiert. Das Aikido wurde in den 1930er Jahren von Ueshiba Morihei kreiert. Er verschmolz dabei auf einzigartige Weise das Daito Ryu Aikijitsu (eine Form des Jiu Jitsu) mit Schwerttechniken und den Lehren einer dem Shinto gleichenden mysti-schen Religion, die das „Kototama", eine Arbeit mit Mantras und Klängen, ver-

540

wendet. Außerdem inkorporiert das Aikido gewisse Erkenntnisse, die Ueshiba auf der Reise zu seiner spirituellen Erleuchtung gemacht hat, sowie (wie vom Autor vermutet) Methoden des Ba Gua Chang und andere Chi-Gung-Methoden, die Ueshiba während seines Aufenthalts in China gelernt hat.

Aikido-Stile Ursprünglich war das Aikido eine einzige Schule, die von Ues-

hiba Morihei begründet und den Mitgliedern seiner Familie weitergeführt

wurde. Dieser Stil wird der Hombu-Stil (,,Hauptquartier"-Stil) genannt. Im

Laufe der Zeit kreierten die wichtigsten Schüler von Ueshiba ihre eigenen

Stile. So betont zum Beispiel der Tomeki-Stü, eine Verschmelzung von Aikido

und Judo, Wettkampfpraktiken. Andere formelle Stile sind der Yoshinkai-, der

Ki-Society- und der Iwama-Sü\.

Alchimie Der Prozess der Umwandlung einer Substanz in eine andere. Im esoterischen Bereich gibt es zwei Hauptzweige der Alchimie - die äußere und die innere. Die äußere Alchimie wird in einem Laboratorium angewendet; dabei werden die spirituellen Energien eines Menschen darauf konzentriert, gewöhn-liche Kräuter und Mineralien in besonders wirksame Heilmittel umzuwandeln, um gewöhnliche Metalle in Gold umzuwandeln, um den Stein der Weisen herzustellen (der, wie die Alchimisten glauben, körperliche Unsterblichkeit verleiht) und um direktes Wissen von Gott zu erlangen. Die innere Alchimie

(in China Nei Dan genannt) arbeitet mit Meditation und bestimmten Übungen von Körper, Geist und Seele daran: 1. das Bewusstsein eines Individuums so zu verwandeln, dass es des Körpers auf der zellularen, schwingungsmäßigen und energetischen Ebene gewahr wird, um Krankheiten heilen zu können; 2. normalerweise verschüttete Fähigkeiten von Körper und Geist freizulegen,zu verstärken und umzuwandeln; und 3. das Normalbewusstsein auf höhere und subtile Ebenen des Überbewusstseins anzuheben, bis der Geist sich so weit ausdehnt, dass er das gesamte Universum umfasst. All dies geschieht im Inneren von Körper, Geist und Seele eines Menschen, ohne dass irgendwelche äußeren Laborgeräte benutzt werden.

Alter Yang-Stil Die Tai-Chi-Methoden, die von der ersten und zweiten Ge-neration der Yang-Familie gelehrt wurden und die eindeutig die Kampfan-wendungen betonen.

An In der innere Kampfkunst jede sich abwärts bewegende Energie oder Kraft.

Anwendung Die praktische Verwendung oder der Verwendungsbereich einer be-

stimmten Technik in den Kampfkünsten, in der chinesischen Medizin oder in der

Meditation.

Auflösungsprozess Eine Nei-Gung-Technik zur Freisetzung von im physi-

schen oder im ätherischen Körper blockierter Energie.

Aura Das energetische oder bioenergetische Feld, das den lebenden mensch-

lichen Körper umgibt. Siehe auch Ätherischer Körper.

541

Äußere/innere Kampfkünste (Nei Wai Quan/Chuan) Jene Kampfkünste, die sowohl ein klar entwickeltes inneres Chi-Gung-Programm als auch äußere Muskelpraktiken verwenden, die auf einer Kontraktion der Muskeln durch physische Anspannung beruhen.

Äußere Kampfkünste (Wai Jia Quan, Wai Chia Ch'uan) Kampfkünste, die

sich auf Körperlichkeit, Muskelkraft, Reflexe, Anspannung, mentale Disziplin

und Körperertüchtigung (Liegestütze, Rumpfbeugen, Gewichtheben und Laufen)

konzentrieren und nicht auf das Entwickeln und Kultivieren des Chi.

Äußerer Auflösungsprozess Eine grundlegende daoistische Chi- oder Nei-

Gung-Praxis zur Auflösung von blockierter Energie im Inneren des Körpers, die

dann dach außen projiziert wird. Die Methode wird vor allem benutzt, um zu hei-

len und die Energien zu verstärken, die mit dem physischen Körper zu tun haben.

Ätherischer Körper (Chi-Körper) Das bioelektrische Feld, das sich in eine

Entfernung von einigen Zentimetern bis hin zu mehr als hundert Metern von

der Körperoberfläche eines Menschen erstrecken kann. Im Westen gewöhnlich

die Aura genannt.

B

Ba Gua oder Ba Gua Chang (Ba Gua Zhang, Pakua Chang, Ba Gua Jang) Das

Ba Gua der Handflächen der acht Trigramme ist eine der drei wichtigsten inne-

ren Kampfkünste Chinas. Es ist eine auf dem I Ging (I Ching, Yijing) basierende

daoistische Praxis, die zugleich eine Langlebenspraxis, eine Kampfkunst, eine

Weise des Heilens und eine spirituelle/meditative Praxis ist.

Ba Gua Men Eine Schule des Ba Gua Chang, in der die komplette Kampf-kunsttradition des Ba Gua Chang, die gewöhnlich auf den Gründer einer Übertragungslinie zurückgeht, komplett erhalten ist.

Ba Ji Chuan (Pa Chi Ch'uan) Eine äußere/innere Kampfkunst aus Nordchina,

die sich auf Handtechniken konzentriert.

Ba Mu Chang Siehe: Acht Mutterhände.

Ba Shr Eine der Formen des Hsing-I, die auf den Fünf Elementen basiert.

Bai Bu (Pai Pu) Zehen auswärts. Der „Zehen auswärts"-Schritt des Kreisgehens im Ba Gua Chang, der es dem Übenden erlaubt, aus dem Kreis herauszutreten.

Baumwollboxen Eine äußere/innere Kampfkunst aus Nordchina.

Bai Shr (Bai Shi) Die formelle Zeremonie der Initiation, durch die in der

chinesischen Kultur ein Individuum als Schüler angenommen wird. Auch als

Kotau bekannt.

Bando Eine Kampfkunst aus Burma.

Beng Chuan (Beng Quan) Zerschmetternde Faust. Eine der fünf Grundtech-niken des Hsing-I Chuan.

542

Bien Hua (Pien Hua, Bian Hua) Sich verändern, Wandlung(en). Die Natur

des Wandels selbst. Eine Grundidee des Daoismus und des I Ging ist, dass sich

alles im phänomenalen Universum in einem Prozess der Wandlung befindet,

abgesehen vom Dao, das sich nicht wandelt. Was während des Übergangs ge-

schieht, wie es zu diesem Wandel kommt und was das Endergebnis des Wandels

ist, das sind alles Aspekte des Bien Hua. Der Begriff bezieht sich auch auf den

Übergang von einer Ebene der Energie oder des Bewusstseins auf eine andere

(höhere oder niedrigere) im Prozess der daoistischen Alchimie. Bezieht sich

ebenfalls auf die Weise, auf die man in den inneren Kampfkünsten von einer

Kampftechnik zu einer anderen übergeht oder wie man im Chi Gung Tui Na

von einer heilenden Intervention zu einer anderen wechselt.

Boxen der verlorenen Spur (Mizong Quan, Mi Tsung Ch'uan) Ein äußeres

Kampfsystem des Nördlichen Shaolin.

Boxen des natürlichen Tores Ein äußerer/innerer Stil des Nördlichen Shaolin, der für seine Tritttechniken bekannt ist.

Breitschwert oder Messer (Dao oder Tao) Die beiden Begriffe werden als Sy-

nonyme zur Bezeichnung der hauptsächlichen Waffe mit gekrümmter Schneide

verwendet, die in den chinesischen Kampfkünsten zum Kampf mit mehreren

Gegnern gebraucht wird. Diese Waffe ist nahe dem Griff relativ schmal, ver-

breitert sich dann bis zum oberen Drittel der Klinge und veijüngt sich dann

wieder bis zu einer scharfen Spitze am oberen Ende. Es können entweder eine

der beiden Seiten oder beide Seiten der Klinge geschärft sein.

Bu Diu Bu Ding Ein Fachbegriff im Tai Chi für den Kampf in der Berührung, wobei der Praktizierende weder gegen den Kontaktpunkt zwischen sich und seinem Gegner drückt noch sich davon zurückzieht.

Buddhismus Eine der Weltreligionen. Der Buddhismus basiert auf den Me-ditationslehren des Gautama Buddha, der im 6. Jahrhundert vor Christus in Indien lebte und lehrte. Der Buddhismus ist seit den muslimischen Invasionen, zu denen es vom 13. bis zum 16. Jahrhundert kam, in Indien fast verschwunden und ist heute vor allem in den Kulturen Ostasiens (China, Japan, Korea), in Südostasien und in Zentralasien (Tibet, Bhutan, Mongolei) verbreitet. Die vier Hauptströmungen des Buddhismus, die in diesem Buch erwähnt werden, sind der Tibetische Buddhismus, Tien Tai (Tian Tai), Vipassana und Chan/Zen.

Budo Die japanischen Kampfkünste, deren Ziel es ist, gleichzeitig die Kampf-

technik, den Charakter und die Spiritualität eines Individuums zu entwickeln.

Bujitsu Die japanischen Kampfkünste, deren einziges Ziel darin besteht, effektive Techniken für den Kampf und zum Töten zu entwickeln.

Bunkai Die Kampfanwendungen der Bewegung einer japanischen Kampf-

kunst.

543

c Chan Sz Jin (Chan Si Jin) Die „Seidewickeln"-Technik des Chen-Stil Tai Chi Chu-

an, bei der die weichen Gewebe des Körpers sich heftig verdrehen und verwinden.

Chang Chuan (Chang Quan) Lange Faust. Die grundlegende Methode der

äußeren Kampfkunst des Nördlichen Shaolin, die den Kern des offiziellen vom

Staat geförderten Wushu-Kampfkunst-Programms der Volksrepublik China

ausmacht.

Chen-Pan-Ling-Stil Tai Chi Eine spezielle Kombinationsform des Tai Chi.

Chen-Dorf Tai Chi Die ursprüngliche Form des Tai Chi Chuan.

Cheng Ting Hua Ba Gua Der populärste Stil des Ba Gua; er verwendet die „Drachenhand".

Chi (Qi, Ch'i; jap.: Kl) Energie, subtile Lebensenergie, innere Energie, innere

Kraft: manifestierte Energie, die einer Sache die Kraft gibt, zu arbeiten und zu

funktionieren. Dieses Konzept liegt den Kulturen Chinas, Koreas und Japans

zugrunde, in denen man die Welt nicht nur in Begriffen physischer Materie

wahrnimmt, sondern auch in Begriffen unsichtbarer Energie.

Chi Chu Dzuo (Qi Chi Zuo, Ch'i Ch'u Tso) Die Methode, mit der eine Prakti-

zierender eine gefühlte Körperempfindung des Chi als Lebensenergie bewusst

aus dem Unteren Dantien in die vom ihm gewünschten Energiekanäle lenkt.

Chi Gung (Qi Gong, Chi Kung) Energiearbeit. Die alte chinesische Kunst

und Wissenschaft der Entwicklung und Kultivierung von Chi durch eigene

Anstrengung. Chi-Gung-Übungen kann man stehend, in Bewegung, im Sitzen,

liegend und beim Geschlechtsverkehr ausführen. Diese Übungen balancieren,

regulieren und stärken die Energiekanäle, Energiezentren und Energiepunkte

des Körpers.

Chi Gung Tui Na (Qi Gong Tui Na, Ch'i Kung Twei Na) Therapeutische

Körperarbeit mit dem Chi; sie ist eine Spezialität der chinesischen Medizin.

Der Heiler sendet dabei direkt Chi in den Körper des Patienten und gleicht

dessen Chi dort aus, um ein therapeutisches Ergebnis damit zu erzielen. Die

diagnostischen Techniken basieren auf einem Lesen der Energie der äußeren

Aura sowie der subtilen Energie der inneren Dantien des Körpers.

Chin Na Der Zweig der chinesischen Kampfkünste, bei dem es um den Ge-

brauch von Gelenkhebeln geht, um jemanden bewegungsunfähig zu machen

und gefangen zu nehmen, oder um Arme auszukugeln oder zu brechen bezie-

hungsweise Beingelenke oder Wirbel des Rückgrats zu verrenken.

Chi Sau Die Sparringpraxis des Wing Chun für zwei Personen, in der beide

Partner versuchen zu schlagen, zu blockieren und einander zu kontern.

Chinesische Kalligraphie Eine Methode des Schreibens chinesischer Schrift-

zeichen oder von symbolischen Konzepten mit Bildern mit einem Pinsel und

Tinte. Die Kalligraphie ist für die Chinesen eine hohe Kunst sowie eine Art

544

intellektuelles Chi Gung. Eine charakteristische Eigenschaft der chinesischen

Kalligraphie ist, dass dabei Chi oder Energie auf die beschriebene Oberfläche

projiziert wird.

Chinesische Medizin Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) Das 3000 Jahre alte traditionelle medizinische System Chinas. Seine wichtigsten Zweige sind Akupunktur, Chiropraktik, Chi Gung, Chi Gung Tui Na, Kräuterheilkunde und Moxibustion. Die therapeutischen Interventionen sind nicht so sehr dar-auf ausgerichtet, die physische Materie des Körpers zu beeinflussen, sondern die subtile Energie (Chi) zu regulieren, die der Materie vorgibt, wie sie sich verhalten soll.

Chinesisches Ringen (Shuai/Shwei Jiao, Shuai Chiao) Chinas traditionelle Kampfkunst der Würfe. Dazu gehören das Ringen im Stehen (nicht im Liegen auf der Matte), Hebel und niedrige Tritte. Shui Fa ist außerdem ein chinesischer Fachterminus für die Wurftechniken in allen Kampfkünsten.

Ching Gung (Qing Gong, Ch'ing Kung) Die Fähigkeit, sich leicht zu machen.

Eine besondere Technik in den chinesischen Kampfkünsten (die in der heutigen

Generation ausgestorben zu sein scheint), mit der man den Körper unglaub-

lich leicht macht, indem man sein Chi verändert. Sie gab den Praktizierenden

die Fähigkeit, bis zu 7 Meter hoch zu springen oder von einem dreistöckigen

Gebäude hinabzuspringen, ohne sich dabei zu verletzen. Das Ching Gung ist

eine Lieblingstechnik von Fassadenkletterern und Leibwächtern in chinesischen

Romanen und Kampfkunstfilmen.

Cho Li Fut (Choy Lay Fut, Choy Lee Fut) Ein Kampfsystem des Südlichen Shaolin aus der Provinz Kanton.

D

Da Cheng Chuan Ein anderer Name für das I Chuan.

Da Lu Ein Stil des Push Hands in Bewegung, die sich auf die Bewegung in

Winkel von 45 Grad und 135 Grad konzentriert.

Dai Eine energetische Technik im Ba Gua Chang zur Lenkung der Energie

einer Person. Die eigene Energie und die Energie des Gegners verschmelzen

dabei zu einem einheitlichen Strom. So kann man Kontrolle über die Kraft des

Gegners gewinnen und sie zum eigenen Vorteil lenken.

Daito Ryu Der Stil des japanischen Jiu Jitsu, aus dem das Aikido hervorging.

Dantien (Dantian, Tan-t'ien) Die drei wichtigsten Zentren im menschlichen Körper, in denen sich das Chi sammelt und von denen aus es sich ausbreitet und erneut zirkuliert. Die Dantien regieren die energetische Anatomie einer Person. Die Übung mit den drei Dantien bildet die Arbeitsgrundlage für alle chinesischen Chi-Praktiken.

545

Dao/Daoismus (Tao/Taoismus) Der Weg/Die praktische mystische Religion

der Chinesen, welche mit ihrem Konzept des Wechselspiels der polaren Kräfte

Yin und Yang die Grundlage der klassischen chinesischen Kultur sowie der

chinesischen Medizin und der Kunst und der Strategie des Krieges darstellt.

Dao Jia (Tao Jia, Tao Chia) Die mystische innere esoterische Praxis des Dao-

ismus. Dazu gehört das Anfangsstadium der daoistische Meditation mit ihren

Methoden, den Geist völlig ruhigzustellen, sowie das fortgeschrittene Stadium,

bei dem es um die Transformation der inneren Energien mithilfe der inneren

Alchimie geht. Das Ziel dieser Transformation ist die Erkenntnis des Dao und

das Einswerden mit dem Dao, der Natur des Universums selbst.

Dao Jiao (Tao Jiao, Tao Chiao) Der äußere Aspekt des Daoismus, der Medien,

Verehrung von Bildnissen und Wahrsagekunst umfasst.

Daoistischer Meister Ein verwirklichter oder „erleuchteter" Adept der dao-

istischen Meditation, der die höchsten Praktiken des Daoismus erreicht und

erfolgreich abgeschlossen hat. Solche Individuen sind äußerst selten.

Di Pan Gung Fu (Di Pan Gong Fu) Die Fertigkeit des Unterkörpers. Die Fer-

tigkeit der Chi-Kultivierung, durch die das Chi sich vom Unteren Dantien bis

in die Füße vollständig öffnet. In den Kampfkünsten und im Gung Fu gilt dies

als die höchste Ebene des Könnens, denn wenn sich das Chi im unteren Körper

völlig öffnet, erreicht das Chi automatisch den Oberkörper. Dies wird in dem

folgenden Leitsatz aus den „Tai Chi Klassikern" zusammengefasst: „Je tiefer

die Wurzeln sind, desto höher ist der Baum und desto voller das Astwerk."

Dian Xue (Dien Hsueh) Mandarin für Dim Mak.

Die Da Die traditionelle Praxis der chinesischen Medizin zur unmittelbaren Behandlung von Prellungen, Schwellungen und Knochenbrüchen nach kör-perlichen Unfällen.

Dim Mak (Kantonesisch) Die Kunst des Schlagens auf Akupunkturpunkte,

um Verletzungen oder den Tod herbeizuführen.

Dojo Japanischer Ausdruck für die Kampfkunst-Trainingshalle.

Doppelte Hand (Double Palm Change) Eine Bewegung, die die Grundlage

aller Yin-Bewegungen, der weichen und formlosen Bewegungen, des Ba Gua

Chang ist.

Dou Jin (Dou Jing) Die Technik der innere Kampfkunst, bei der der Körper

plötzlich mit großer Kraft vibriert oder schüttelt. Dou Jin wird benutzt, um

über kurze Distanz Kraft freizusetzen, um Krafthiebe anzubringen, wenn man

umklammert wird und wenig oder gar keinen Platz hat, um Fa Jin anzuwenden,

oder um die Richtung mitten in der Bewegung zu verändern und Gegner zu

treffen, die tänzeln und sich hin und her bewegen wie westliche Boxer.

Drei Erwärmer (San Jiao) Ein Konzept der chinesischen Medizin, das besagt,

dass das Chi des Körpers drei Abteilungen hat, die integriert werden müssen,

546

damit man optimale Gesundheit und eine ausgeglichene Zirkulation des Chi

im Körper erlangt. Der „Obere Erwärmer" bezieht sich auf den Teil des Kör-

pers, zu dem die Brust, die Arme, die obere Wirbelsäule, der Nacken und der

Kopf gehören. Der „Mittlere Erwärmer" beginnt beim Solarplexus, endet beim

Unteren Dantien und umfasst den mittleren Teil der Wirbelsäule, die Leber,

die Nieren und die Milz. Der „Untere Erwärmer" umfasst den Unterbauch, die

untere Wirbelsäule, die Sexualorgane, Hüften und Beine.

E

Eisenhemd Chi Gung In der Kampfkunsttradition einer der vielen Ausdrücke zur Bezeichnung der Fähigkeit, schwere körperliche Hiebe ohne Schmerzen und Verletzungen zu absorbieren, so als trüge man ein schützendes Hemd aus Eisen.

Energiekanäle des Körpers Alle Kanäle subtiler Energie im Körper, durch

die sich das Chi bewegt.

Erdelement In der chinesischen Kosmologie eine der fünf fundamentalen Energien oder eines der fünf Elemente, aus denen sich alle geschaffenen Phä-nomene zusammensetzen.

Erste Hand (Dan Huan Zhang, Tan Huan Chang, engl.: Single Palm Change) Die

grundlegendste Technik im Ba Gua. Die Erste Hand ist ein Mikrokosmos des ge-

samten Systems und basiert auf dem ersten Trigramm (Himmel) des I Ging.

F

Fa Chi (Fa Qi) Freisetzen, aussenden. Die Aktion, durch die aus einem be-

stimmten Grund das Chi aus dem Körper und Geist eines Individuums zu einer

anderen Person hin ausgesandt wird. Der Prozess wird Wai Chi genannt, wenn

er in der Chi-Gung-Therapie therapeutisch eingesetzt wird. Wird er in der

Meditation zur Übertragung eingesetzt, wird er Fa Gung genannt.

Fa Jin (Fa Jing, Fa Chin) Energie freisetzen oder aussenden. Die Technik der

inneren Kampfkunst, mit der man Energie aussendet, damit sie durch einen

Gegner hindurchgeht (ohne ihn körperlich zu verletzen); der Gegner wird

im Raum bewegt wie Staub von einem Windstoß. Fa Jin kann auch benutzt

werden, um die Energie so fokussiert in den Körper eines Gegners zu senden,

dass sie dort Knochen bricht oder Organe zerreißt.

Feng Shui Die mathematische okkulte Wissenschaft der chinesischen Ge-

omantie, mit der man die Energielinien, Beziehungen und Kraftpunkte eines

physischen Ortes auf der Erde bestimmt. Der Ort kann ein Grundstück sein, ein

Gebäude oder ein Zimmer mit der Anordnung der darin enthaltenen Gegen-

stände. Das Chi des Ortes wird in Hinsicht auf seine positiven bzw. negativen

Auswirkungen auf die Gesundheit, auf Liebesbeziehungen, auf die Harmonie

in der Familie und auf die Spiritualität analysiert sowie darauf, ob bestimmte

547

Verrichtungen an diesem Ort erfolgreich sein können oder nicht. Daraufhin

lassen sich dann Techniken anwenden, um das Chi des Ortes in Hinsicht auf

Glück und Erfolg zu verbessern oder um negative Einflüsse abzumildern.

Feuerelement In der chinesischen Kosmologie eine der fünf fundamentalen

Energien oder eines der fünf Elemente, aus denen sich alle geschaffenen Phä-

nomene zusammensetzen.

Feuermethode Eine Meditationstechnik oder energetische Technik, durch die

man sich bis an die eigenen Grenzen antreibt, um diese auszuweiten, wobei

man sich mit vollem Einsatz und 100 Prozent seines Vermögens bemüht.

Fünf Ahnen Ein aus der Provinz Fukien (Fujian) stammender Stil des Südlichen Shaolin, der das Kernmaterial der meisten südlichen Stile der kurzen Hand enthält.

Fut Gar Ein äußerer Stil des Südlichen Shaolin aus der Provinz Kanton.

G

Gang Rou Hsiang Chi (Gang Rou Xiang Ji) Die Fähigkeit eines Ausübenden

des Tai Chi die harte und die weiche Kraft miteinander zu verschmelzen und

augenblicklich von der einen zur anderen überzugehen.

Gerader Schritt Einer von drei grundlegenden Schritten im Ba Gua; ein der

Schritt nach vorn.

Gerades doppelschneidiges Schwert Das Schwert, das in den chinesischen

Kampfkünsten im Allgemeinen für den Kampf gegen einen einzigen Gegner

verwendet wird. Dieses Schwert schneidet mit beiden Seiten der Klinge gleich

gut und hat eine scharfe Spitze zum Stechen.

Goju Karate Eine Stil des Karate, der starke Wurzeln im Südlichen Shaolin

aus Fukien hat. Es gibt eine Okinawa-Linie und eine japanische Linie.

Grundlegendes Krafttraining Siehe: Ji Ben Gung.

Gung Fu (Gong Fu, Kung Fu) 1. Eine Ebene des Könnens, die man gewöhn-lich durch lange und kontinuierliche Bemühung in einer Sache erlangt. 2. Ein Sammelbegriff für alle chinesischen Kampfkünste. 3. Der Begriff bezieht sich auch auf die äußeren und äußeren/inneren chinesischen Kampfkünste im Gegensatz zu den rein inneren Kampfkünsten. („Praktizierst du innere Kampfkünste - Tai Chi, Ba Gua, Hsing-I -, oder Gung Fu?")

H

Hao-Stil Tai Chi Der am wenigsten verbreitete Stil des Tai Chi, der auf kleinen

äußeren und inneren Bewegungen basiert.

Harte Kampfkünste Jene Kampfmethoden, deren Techniken mit Hilfe über-legener Kraft und Stärke über geringere Stärke siegen. Die Übungen der harten Kampfkünste sind darauf ausgerichtet, den Körper und insbesondere die Arme und Beine so hart wie Stahl zu machen. Harte Ansätze können in den inneren

548

(etwa im Hsing-I) wie in den äußeren Kampfkünsten angewendet werden, aber

sie herrschen vor allem in den äußeren Kampfkünsten vor.

Hebei Hsing-I Eine Richtung des Hsing-I, in der das Hsing-I und das Ba Gua

miteinander vermischt sind.

Heng Chuan (Heng Quan) Kreuzende Faust. Eine der fünf Grundtechniken

des Hsing-I Chuan.

Hexagramm Eine der 64 energetischen Wandlungen des I Ging (I Ching,

Yijing).

Hinduismus Ein Oberbegriff für die indischen Religionen, deren Wurzeln bis in

vorgeschichtliche Zeiten zurückreichen. Die wichtigsten Texte des Hinduismus

sind die Veda (Veden), die Upanishad (Upanischaden) und die Bhagavad Gita.

Aus dem Hinduismus gingen der Yoga, die Tantras und der Buddhismus hervor.

Holzelement In der chinesischen Kosmologie eine der fünf fundamentalen

Energien oder eines der fünf Elemente, aus denen sich alle geschaffenen Phä-

nomene zusammensetzen.

Hombu-Stil Der ursprüngliche Stil des Aikido. Der Begriff bedeutet so viel

wie „Hauptquartier", siehe auch: Aikido.

Hou Tien Siehe nachgeburtlich.

Hsien Tien Siehe vorgeburtlich.

Hsin (Xin, Shing) Herz-Geist. Nach dem klassischen buddhistischen und

daoistischen Denken die eigentliche Quelle des Seins einer Person. Das Hsin

ist nichtkörperlich und subtil und ist in der Nähe des physischen Herzens

lokalisiert.

Hsin-I Hsing-I Herz-Geist-Boxen. Ein anderer Begriff für Hsing-I Chuan.

Hsing (Xing, Shing) Die Form oder Gestalt, die irgendeine Manifestation an-nimmt, sei es ein konkretes Objekt, eine Kampfkunst-Bewegung, eine subtile En-ergie oder ein Gefühl oder eine mentale Konstruktion des menschlichen Geistes.

Hsing-I oder Hsing-I Chuan (Xing Yi Quan, Shing Yi Chuan) Geistgestalt-Boxen. Eine harte innere Kampfkunst, die im 13. Jahrhundert von dem chi-nesischen General Yue Fei geschaffen wurde. Das Hsing-I betont alle Aspekte des Geistes, um seine Formen und Kampfbewegungen hervorzubringen.

Hsing-I Men Eine Schule des Hsing-I Chuan, in der die komplette Tradition der Kampfkunst des Hsing-I erhalten ist und die gewöhnlich auf den Begründer einer Linie zurückgeht.

Hung Gar Ein äußerer Stil des Südlichen Shaolin aus der Provinz Kanton.

Hyung (Hyung ist Koreanisch, der chinesische Begriff ist Tao Lu, der japanische

Kata.) Eine Form. Ein Satz von vorbestimmten, choreographierten Kampf-

kunstbewegungen, die entweder allein ausgeführt werden oder zusammen mit

einem Partner oder mehreren Partnern.

549

I (Yi) Wille, Absicht, Intention, mentale Tätigkeit, das Projizieren des Geistes.

In der Welt des chinesischen Chi-Konzepts bezeichnet das I (ausgesprochen

„yi") den spezifischen Aspekt des projizierenden Geistes. Wenn eine Person

etwas sieht und des Objekts seiner Intention habhaft werden oder sich darauf zu

bewegen will (sei es ein konkretes oder mentales Objekt), dann mobilisiert diese

Person ihr „I" und wird nach einer winzig kleinen Zeitverzögerung aktiv.

Iaido Japanische Kampfkunst des Schwertes, die mit tatsächlichen Samurai-

Schwertern praktiziert wird.

I Chuan Hsing-I Auch Da Cheng Chuan genannt. Ein Stil des Hsing-I, der auf acht Standposituren basiert und nicht auf den klassischen Bewegungen des Hsing-I. Das I Chuan wurde aus der Kombination des klassischen Hsing-I mit der Fußarbeit des Ba Gua, mit westlichem Boxen und buddhistischem Chi Gung hervorgebracht.

I Chu Dzuo (Yi Chu Zuo, I Ch'u Tso) Eine grundlegende Methode der Kultivie-

rung von Chi, bei der man das „/" benutzt, um ein mentales Bild zu erzeugen (Vi-

sualisation), wodurch das Chi indirekt durch den Körper geleitet wird - entspre-

chend dem klassischen chinesischen Prinzip: „Das I führt oder bewegt das Chi."

I Ging (Yijing, I Ching) Das „Buch der Wandlung(en)". Dieses 5000 Jahre

alte Buch ist der klassische daoistische Text über die Natur des Wandels und

darüber, wie es zu Wandlungen kommt. Die Grundkonzepte des I Ging sind die

acht Trigramme, die die acht Ur-Energien verkörpern, aus denen nach Ansicht

des daoistischen Denkens das Universum gemacht ist. Aus der Kombination

der acht Trigramme entstehen die 64 Hexagramme, in denen die einzelnen

Trigramme einander beeinflussen, abschwächen oder verstärken, wenn sie

zusammenkommen. Das Ba Gua Chang ist eine Praxis von Körper, Geist und

Seele, die ein Individuum dazu hinführen will, das in seinem eigenen Dasein

zu erfahren, was das I Ging intellektuell kommuniziert.

Innere Kampfkünste (Nei Jia, Nei Chia) Jene Energiekünste in China, in

denen es um die Pflege der Meditation, des inneren Chi und der inneren As-

pekte des Daseins einer Person geht und nicht nur um ihre quantifizierbaren

äußeren Manifestationen in der physischen Welt.

Innerer Auflösungsprozess Eine grundlegende daoistische Chi-(Nei-Gung-

)Praxis zur Auflösung von Energieblockaden in einer Person. Sie wird haupt-

sächlich verwendet, um die emotionalen, mentalen und psychischen Aspekte

einer Person zu heilen und zu stärken.

J

Jan (Rang) Nachgeben, Ausweichen. Ein Fachbegriff für eines der vier Stadien

„klebender" Energie im Tai Chi Chuan.

550

Jeng Chi (Zheng Qi, Cheng Ch'i) Vereinendes Chi. Das eine Chi, das all die verschiedenen Formen von Chi des Körpers vereinigt. Alle Praktiken der inneren daoistischen Künste, einschließlich des Ba Gua Chang, sind darauf gerichtet, dieses Jeng Chi zu kultivieren.

Ji In den inneren Kampfkünsten jede Energie, die nach vorn drängt oder die

vorwärts projiziert wird.

Ji Ben Gung (Ji Ben Gong, Chi Ben Kung) Das grundlegende Krafttraining,

durch das alle chinesischen Kampfkünste die Art von Kraft entwickeln, auf

die sie spezialisiert sind.

Jing Kraft.

Jing Luo Kollateralmeridiane. Die Akupunkturmeridiane, die horizontal um

den Körper herum verlaufen und seine vertikalen Akupunktur-Linien mitein-

ander verbinden.

Jiu Jitsu Die äußere Kampfkunst der japanischen Samurai für den Kampf

ohne Waffen in der feudalistischen Periode der japanischen Geschichte; sie

basierte hauptsächlich auf Würfen, Hebeln, Unterwerfungs-Klammergriffen

und Würgegriffen, wobei Stöße, Tritte und Hiebe nur sekundär waren.

Jou (Zhou, Chou) Ellbogenhieb.

Judo Eine japanische äußere Kampfkunst die auf Ringen, Hebeln, Unter-werfungs-Klammergriffen und Würgegriffen basiert. Das Judo, das aus der chinesischen Kampfkunst Shuai Jiao und der japanischen Kampfkunst Jiu Jitsu

hervorgegangen ist, ist seit den 1960er Jahren olympische Disziplin.

K

Kai He Öffnen und Schließen.

Kampfanwendung Der praktische Gebrauch oder die Bandbreite des prakti-

schen Gebrauchs einer spezifischen Technik in der Kampfkunst.

Kampfkünste Verschiedene Systeme des Kämpfens mit der leeren Hand oder

mit einer Waffe, in denen es um formalisierte Techniken geht, durch die man

einen Gegner auf die effektivste Weise und mit dem geringstmöglichen Schaden

für einen selbst verletzen oder töten kann.

Kao Schulterstoß.

Karate Die äußere japanische Kampfkunst, die hauptsächlich auf Tritten, Stö-

ßen, Handhieben, Fußfegern und einigen wenigen Würfen basiert. Das Karate

ist vor allem eine Kampfkunst der leeren Hand, in der man nur in begrenztem

Maße Waffentraining findet. Die Hauptstile des Karate, die in diesem Buch

erwähnt werden, sind: 1. Japanisches Karate, vor allem ein harter Stil, der

sich gleichermaßen auf Tritte wie auf Hiebe konzentriert. Es gibt darin vier

Schulen, nämlich Shotokan, Goju, Wado und Shito. 2. Okinawa Karate, eine

ursprüngliche Form des Karate, die auf dem Training von roher körperlicher

551

Kraft basiert. 3. Shorin Ryu Karate, ein wichtiger harter Still des Karate aus Oki-nawa, der auf kurzen Standposituren, niedrigen Tritten und Krafthieben basiert. 4. Uechi Ryu Karate, ein wichtiger harter Stil aus Okinawa, der dafür bekanntist, dass er im Training Techniken der dynamischen Muskelspannung anwen-det. 5. Koreanisches Karate oder Tae Kwon Do, welches Tritte (vor allem hohe Tritte) betont; historisch gesehen aus dem Nördlichen Shaolin hervorgegangen.

Kata [Kata ist der japanische Begriff; Koreanisch: Hyung, Chinesisch: Tao

Lu) Eine Form. Ein Satz von vorbestimmten, choreographierten Kampfkunst-

bewegungen, die entweder allein ausgeführt werden oder zusammen mit einem

Partner oder mehreren Partnern.

Katana Ein gekrümmtes japanisches Samurai-Schwert.

Kendo Die japanische Kunst des Schwertkampfes, die in einer lackierten

Rüstung und mit Schwertern aus Bambus praktiziert wird.

Kenkyusei Ein besonderer Gastschüler in den japanischen Kampfkünsten, insbesondere im Judo oder Karate. Gewöhnlich muss der Schüler mindestens einen schwarzen Gürtel dritten Grades besitzen.

Ki Siehe: Chi.

Kickboxen Ein äußerer, auf Kampfkunst basierender Wettkampfsport, der mit

Boxhandschuhen praktiziert wird; er kombiniert die Fertigkeiten des Boxens

mit Karate-Tritten.

Klebende Kraft (Nien, Nian) Die Kampfkunstfertigkeit, die darin besteht, mit

den eigenen Händen, Armen dem Körper oder einer Waffe an der Haut oder

der Waffe eines Gegners zu „kleben", um die Kampfsituation in Angriff oder

Verteidigung zu kontrollieren.

Kombinationsform Tai Chi Eine Form, in der ein Stil des Tai Chi mit einem

oder mehreren anderen Stilen des Tai Chi und/oder des Hsing-1, Ba Gua oder

Shaolin in einer einzigen Form vermischt ist.

Kong Jin (Kong Jing, Kung Jin) Leere Kraft. Die Energietechnik des Hsing-I,

durch die Ausübende ihre Gegner angeblich durch bloße Projektion von Energie

niederschlagen können, ohne sie zu berühren.

Kou Bu (K'ou Pu) Der „Zehen einwärts"-Schritt des Ba-Gua-Gehens.

Kraft des Hörens (Ting Jin, T'ing Chin) Die Fähigkeit, die Energie eines

anderen Menschen mit den eigenen Händen und dem eigenen Geist zu fühlen

und sie zutreffend zu interpretieren.

Kreisgehen Die hauptsächliche Trainingsmethode der inneren Kampfkunst

Ba Gua.

Kundalini Eine indische Meditationsmethode, die Energiearbeit verwendet,

um die Geheimnisse des menschlichen Bewusstseins zu enthüllen und „Er-

leuchtung" herbeizuführen.

552

Kung-Fu-(Gung-Fu-)Familie In China eine Ersatzfamilie, deren Strukturen

auf Kampfkunst oder Meditation beruhen. Der Lehrer stellt den Vater dar, die

Schüler sind seine Kinder, langjährige Schüler sind ältere Geschwister, während

Neuankömmlinge die jüngeren Geschwister darstellen, usw.

Kuntao Eine indonesische Kampfkunst, die starke chinesische Einflüsse ent-hält.

Kwa (Kua) Die Gegend auf beiden Seiten des Körpers, die sich von den

Leistenbändern durch das Innere des Beckens bis zur Oberseite (Kamm) des

Hüftknochens erstreckt.

L

Lan Verschmelzen. Ein Fachbegriff für die vier Stadien der klebenden Energie im Tai Chi Chuan.

Lan Tsai Hua Die Sparringtechniken des Tai Chi Chuan.

Lao Gung (Lao Gong/Kung) Der Energiepunkt im Zentrum der Handfläche.

Von allen Punkten am Körper ist dies derjenige, aus dem sich am leichtesten

Energie projizieren lässt.

Leere Ein Zustand profunden spirituellen, mentalen und psychischen Gleich-gewichts, der eines der wichtigsten Ziele aller asiatischen Meditationsprakti-ken ist und der den Kern aller höheren Ebenen des Könnens in den inneren Kampfkünsten ausmacht.

Leer/voll (Xu/Shi, Hsu/Shi, Syu/Shr) Eines der grundlegenden Konzepte, die

man im ganzen Bereich von Chi Gung, der chinesischen Medizin und der chi-

nesischen Kampfkünste findet. „Leer" bedeutet, dass es an etwas mangelt oder

weniger von etwas vorhanden ist. „Voll" ist das Gegenteil davon; es bedeutet,

dass eine Fülle von etwas, ein Übermaß von etwas vorhanden ist oder einfach

mehr von etwas vorhanden ist. Dies bezieht sich üblicherweise auf das Chi oder

auf eine Körperpartie oder ein inneres Organ, das voll oder leer ist.

Liang Yi—Das Wechselspiel von Yin und Yang in der alten chinesischen Kos-mologie.

Lieh (Lie) Die spaltende Energie des Tai Chi Chuan.

Lien Huan Eine der Formen des Hsing-I; sie basiert auf den Fünf Elementen.

Linie In der Kampfkunst eine ununterbrochene Linie der Lehre, die von einem

Meister über darauf folgende Generationen zu einem Schüler oder mehreren

Schüler verläuft, die die Voraussetzung erfüllen, selber zu Meistern zu werden

und das Wissen der Linie weiterzugeben.

Linienschüler Ein formeller Schüler, der dazu ausersehen ist, das gesamte

intakte Wissen einer spezifischen Linie der inneren Kampfkunst zu lernen und

es für künftige Generationen weiterzutragen.

553

Linker Kanal Eine der drei Hauptenergielinien im Körper (auf dessen linker Seite); die anderen beiden sind der rechte Kanal (das entsprechende Gegenteil) und der Zentralkanal. Die beiden gegenüberliegenden Kanäle subtiler Energie auf der linken und rechten Körperseite sind verantwortlich für alle dualistischen Yin/Yang-Funktionen eines Menschenwesens, einschließlich der Funktionen des Körpers, der Emotionen, der Psyche und der Manifestation von Aktionen in der äußeren Welt.

Liu He Sechs Kombinationen von Körperteilen (Schultern und Hüften, Ell-

bogen und Knie, Hände und Füße), die fein aufeinander sowie auf das Nei San

He abgestimmt werden müssen, wodurch die körperliche Kraft in den inneren

Kampfkünsten maximiert wird.

Liu He Ba Fa (Liu Ho Pa Fa) Eine gänzlich innere Kampfkunst Chinas, die

Bewegungselemente aus dem Tai Chi, Hsing-1, Ba Gua und Shaolin mitein-

ander verbindet. Sie ist für ihre außergewöhnlich lange Form bekannt, die

in manchen Zweiglinien bis zu 700 Bewegungen umfassen kann, und ist im

Westen ziemlich selten zu finden.

Lohan Das „Arhat-Boxen" oder Tempelwächter-Boxen, ein Stil des Nördli-

chen Shaolin.

Lotos-Tritt Ein seitlicher Tritt im Tai Chi Chuan, der vor dem Körper beginnt und zur Seite des Körpers hin geht, zumindest bis auf Schulterbreite oder darüber hinaus. Dieser Tritt benutzt statt der Außenseite des Fußes oder der Ferse das Schienbein als Trittwaffe.

Lu Zurückrollen (Roll Back); die absorbierende oder nachgebende Energie der

inneren Kampfkünste. Der Begriff wird speziell im Tai Chi Chuan verwendet.

M

Meditation in der Bewegung Jede Methode der Meditation, bei der der Prak-tizierende in der Lage ist, das Ziel der Meditation zu aktualisieren (nämlich Stil-le des Geistes), während sich sein Körper in ständiger Bewegung befindet.

Meditative Stille Eine Ebene der Verwirklichung in der Meditation, auf der der Geist des Praktizierenden außerordentlich still ist und entspannt und zen-triert in sich ruht.

Metallelement In der chinesischen Kosmologie eine der fünf fundamenta-

len Energien oder eines der fünf Elemente, aus denen sich alle geschaffenen

Phänomene zusammensetzen.

Mittlerer Erwärmer In der Mitte des Rumpfes zwischen dem Solarplexus und dem Unteren Dantien lokalisiert. Die Energie, die im mittleren Bereich des Körpers existiert und die das Chi des Oberen und des Unteren Erwärmers miteinander koordiniert und harmonisiert, die jeweils oberhalb bzw. unterhalb des Mittleren Erwärmers liegen.

554

Mittleres Dantien (Dantian, Tan-t'ien) Eines der drei Hauptenergiezentren

im Körper. Zwei separate Orte gelten als das Mittlere Dantien. Sie liegen

nahe beieinander, haben jedoch verschiedene energetische Funktionen. Der

Punkt, der beim Solarplexus gleich unterhalb des Brustbeins liegt, ist für die

physischen Funktionen der mittleren inneren Organe des Körpers (Leber, Milz,

Nieren) verantwortlich sowie für den Überlebenswillen. Der Punkt, der in der

Nähe des Herzens auf dem Zentralkanal lokalisier ist, regiert die physischen,

emotionalen, mentalen, psychischen oder kausalen Beziehungen.

Mok Gar (Mandarin: Mo Jia) Ein Stil des Südlichen Shaolin aus der Provinz

Kanton.

Mudra Wörtlich: Siegel. Eine Hand/Finger-Positur, die automatisch die Ener-

giekanäle einer Person auf bestimmte Weise aktiviert oder die einen bestimmten

Bewusstseinszustand bei dem Übenden hervorruft.

Muslimisches Hsing-I Ein spezifischer Stil des Hsing-I.

N

Nachgeburtlich (Hou Tien) Das, was einer Person widerfährt, nachdem sie

den Mutterschoß verlassen hat. Talente, Fertigkeiten und Errungenschaften,

die nicht angeboren, sondern nach der Geburt erworben wurden.

Nachgeburtliches Ba Gua Die lineare Praxis im Gegensatz zur Praxis des Kreisgehens im Ba Gua Chang.

Nachgeburtliches Chi Das Chi, das ein Mensch durch Essen, Trinken, Schla-fen, Atmen und Übungen gewinnt.

Nan Chuan Südliche Faust. Bezeichnung für alle südlichen Schulen der chi-

nesischen Kampfkunst.

Nei Ba Chang Die acht „Hände" des Ba Gua Chang, die den Praktizierenden in direkten Kontakt mit den lebendigen Energien, auf denen die Trigramme des I Ging basieren, bringen sollen.

Nei Dan Wörtlich: „Innere kosmische Pille". Ein Begriff für die daoistischen Methoden der inneren Alchimie. Siehe: Alchimie.

Nei Gung (Nei Gong/Kung) Innere Kraft. Das ursprüngliche, von den Dao-

isten erfundene chinesische System zur Kultivierung des Chi (Chi Gong). Das

daoistische Nei Gung bildet die Grundlage der inneren Kampfkünste Ba Gua

Chang, Tai Chi Chuan und Hsing-I Chuan.

Nei Jia Ein Begriff, der alle inneren Kampfkünste oder daoistischen Chi-

Praktiken als zu einer Familie gehörig beschreibt.

Nei Jin (Nei Jing, Nei Chin) Innere Kraft. Eine spezifische Form des Chi, die

all die verschiedenen Energien des Körpers zu einem vereinigten Chi integriert,

das körperliche Kraft zu manifestieren vermag.

555

Nei San He In der daoistischen Theorie die drei inneren Komponenten des Geistes : das I (Intention), das Chi (Energie) und das Shen (Bewusstsein). Diese drei Komponenten müssen in den chinesischen inneren Kampfkünsten miteinander vereint werden.

Neuer Yang-Stil Die Tai-Chi-Methoden, die von der dritten Generation und

späteren Generationen der Yang-Familie gelehrt wurden. Sie nahmen die Be-

tonung von Kampfanwendungen zu Gunsten des Push Hands zurück.

Nien (Nian) Kleben, Haften. Ein Fachbegriff für eines der vier Stadien kle-bender Energie im Tai Chi Chuan.

Ninjutsu Ein spezialisierter japanischer Stil der Kampfkunst, der in der Ge-

schichte ausschließlich von professionellen Mördern benutzt wurde.

Nördliche Gottesanbeterin (Tang Lang Quan, T'ang Lang Ch'uan, engl.: Praying

Mantis) Einer der Tierformen der Shaolin-Methode, die sich darauf speziali-

siert hat, die Bewegungen des „Gottesanbeterin" genannten Insekts zu imitie-

ren. Es gibt Nördliche und Südliche Zweige der Gottesanbeterin. Die Nördliche

Gottesanbeterin ist für ihre stampfende Fußarbeit, Fingerhiebe, komplexen

Armbewegungen und für ihre extrem aggressive und auf Angriff orientierte

Kampfphilosophie bekannt.

Nördliches Shaolin (Bei Shaolin, Pei Shaolin) Der nördliche Zweig des äuße-ren Kampfkunstsystems des Shaolin, der für seine weiten und ausgreifenden Körperbewegungen, seine hohen Tritte und den Kampf auf weite Distanz be-kannt ist. Auch eine spezifische Kampfkunst innerhalb der gesamten Familie des Nördlichen Shaolin.

0

Oberes Dantien (Dantian, Tan-t'ien) Dieses Dantien ist im Gehirn lokali-

siert und kontrolliert die Wahrnehmungsmechanismen und die übersinnlichen

Funktionen des Menschen.

Öffnen/Schließen (Kai/He) Das chinesische polare, am Yin/Yang orientierte Konzept von Gegenteilen wie Zunehmen/Schrumpfen, Ausdehnen/Zusam-menziehen, Verlängern/Verkürzen usw. Dieses universelle Pulsieren vollzieht sich auf der subatomaren Ebene, der zellulären Ebene und der Kosmischen Ebene.

Okinawa Karate Siehe: Karate.

P

Pai Da (Pai Ta) Eine Shaolin-Methode zur Entwicklung der Fähigkeit, Hiebe

zu absorbieren, ohne davon beeinträchtigt zu werden. Die Methode besteht

darin, den Körper mit fortschreitend härteren Gegenständen zu schlagen wie

etwa mit einem Sack voller Bohnen, voller Kiesel, Steinkugeln, Eisenkugeln

oder mit Stäben aus Bambus, Holz oder Eisen.

556

Pao Chuan (Pa Quan) Hämmernde Faust. Eine der fünf Grundtechniken des

Hsing-I Chuan.

Penchat/Silat Indonesische Kampfkünste, die eine große Bandbreite spezifi-

scher Stilrichtungen besitzen, zumeist äußerer oder äußerer/innerer Stile.

Peng (P'eng) Abwehren. Die aufsteigende Energie in den inneren Kampf-

künsten.

Peng Jin (Peng Jing, Peng Chin) Ausdehnende Energie. Die aufsteigende,

nach außen drängende innere Kraft, die die Basis des Yang-Chi-Aspekts der

inneren Kampfkünste darstellt.

Pi Chuan (Pi Quan) Hackende oder spaltende Faust. Eine der fünf Grund-techniken des Hsing-I Chuan.

Positur Die letzte statische Position, die eine Kampfkunsttechnik oder eine

Chi-Gung-Bewegung abschließt. Auch eine ganze Bewegung, nach der eine

spezifische Kampfkunst- oder Chi-Gung-Technik benannt ist.

Push Hands (Tui Shou) Die fortlaufende Übung mit Handberührung für zwei

Personen in der inneren Kampfkunst Tai Chi Chuan, die die Brücke zwischen

den Formbewegungen und den Selbstverteidigungstechniken des Tai Chi bil-

det. Die Partner versuchen, einander aus dem Gleichgewicht zu bringen oder

zu „Stoßen" (engl.: push) oder sich gegen eine solche Aktion zu verteidigen,

während ihre Arme oder Hände in ständigem Kontakt bleiben und sich auf

vielfältige Weise bewegen. Im Chen-Stil und fortgeschritteneren Übungen der

anderen Stile kann man in die Übung auch Hebel und Würfe einstreuen.

Q

Qi Siehe: Chi.

R

Rahmen Die körperliche Gestalt und die energetischen Qualitäten, die eine Positur der inneren Kampfkünste annimmt. Die „Rahmen" reichen vom Kleinen und Kondensierten (kleiner Rahmen) bis zum Ausgreifenden und Weitläufigen (großer Rahmen). Randori Japanischer Begriff für das freie Sparring, das im Judo, Jiu Jitsu und Aikido praktiziert wird.

Rechter Kanal Eine der drei hauptsächlichen Energielinien des Körpers. Siehe: Linker Kanal.

Rou Shou Weiche Hände; in Taiwan auch San Shou oder Freie Hände ge-

nannt. Eine Übung für zwei Personen zur Vorbereitung auf das Kämpfen, die

im Ba Gua (und in einigen Schulen des Hsing-I) praktiziert wird und bei der

die Arme der Partner in andauerndem Kontakt in spiraligen Bewegungen sind.

Man kann das Rou Shou mit einer Kombination des Push Hands des Tai Chi

mit Judo und den klebenden Händen des Wing Chun vergleichen.

557

s Samadhi Eine meditative Erfahrung, die für ein spezifisches Stadium der

„Erleuchtung" charakteristisch ist.

Samurai Die ritterlichen Krieger des alten Japan, die zu den klassischen

Vorbildern der japanischen Kampfkünste wurden. Zu ihren charakteristischen

Eigenheiten gehörten die Haartracht mit einem Knoten auf dem Kopf und das

Tragen von zwei Schwertern, in deren Handhabung sie Meister waren.

San Chin Eine Kampfkunst-Standpositur in der ein Fuß vor und ein Fuß

hinter dem Torso steht und beide Füße etwas nach innen gedreht sind, so

dass sie zueinander hin weisen. Eine im mehreren Stilen des Karate und den

Schulen des Südlichen Shaolin üblicherweise benutzte Standpositur zur Ent-

wicklung des Kraftatems.

San Ti Die Haupttechnik des Hsing-I zur Entwicklung innerer Kraft. Beim

San Ti steht man still und hält eine bestimmte Armpositur.

Savate Eine französische Kampfkunst, die Treten mit westlichem Boxen kombiniert.

Schlange Ein Kampfkunststil des Südlichen Shaolin.

Sha Chi (Sha Qi) Ein Chi, das bei Kontakt tötet.

Shang Pan Gung Fu Kampfkunsttechniken, die ihre Fertigkeit und Fort-entwicklung von der Kraft des Oberkörpers her erlangen und nicht von den Beinen.

Shanxi Hsing-I Die ursprüngliche Form des Hsing-I, die aus der Provinz

Shanxi im Nordwesten Chinas kommt.

Shao Twei (Shao Tui) Ein Beinschneider, Fußgelenkfeger und Tritt der Nörd-

lichen Gottesanbeterin, der auf die Achillessehne zielt.

Shaolin Gung Fu (Kantonesisch: Sil Lum) Das Shaolin-Kloster ist der legen-

däre (jedoch nicht historische) Geburtsort der Kampfkünste in China. Shaolin

ist synonym mit den äußeren Kampfkünsten. Auf den höheren Ebenen des

Shaolin gibt es Chi-Gung-Praktiken, aber im Allgemeinen wird im Shaolin

die Entwicklung von physischer Kraft und Aggression mehr betont als das

Kultivieren des Chi.

Shiatsu Eine japanische Massagemethode, die auf den Prinzipien der tradi-

tionellen chinesischen Medizin basiert. Im Shiatsu werden die Finger benutzt,

um zu therapeutischen Zwecken Akupunkturpunkte zu drücken.

Shorin Ryu Einer der wichtigen harten Stile des Karate aus Okinawa, siehe

auch: Karate.

Shotokan Ein harter japanischer Karate-Stil der niedrige Standposituren und lange, ausgedehnte Bewegungen betont, siehe auch: Karate.

Shuai Jiao (Swei Jiao, Shuai Chiao) Chinesisches Ringen.

5S8

Shun Shr Jang (Shun Shi Zhang, Shun Shi Chang) Weiche Hände (Palm Changes). Eine „Hand" im Ba Gua, die eine Mischung von Yin- und Yang-Ener-gie darstellt, im Gegensatz zu reiner Yin- oder Yang-Energie. Ein Sammelbegriff für alle Hände im Ba Gua, außer der Ersten Hand und der Zweiten Hand.

Silat Siehe: Penchat.

Südliche Gottesanbeterin Ein äußerer/innerer südlicher Zweig der Gottes-anbeterin, der ausgiebigen Gebrauch von Armberührungspraktiken macht und in dem es mehr innere Chi-Arbeit gibt als im nördlichen Zweig.

Südliches Shaolin (Nan Shaolin, Nan Quan/Chuan) Ein Kampfstil, der für Bewegungen bekannt ist, die sich auf engem Raum ausführen lassen - das klassische Beispiel ist „in einem Boot". Die Stile des Südlichen Shaolin sind gekennzeichnet durch kurze, körpernahe, enge Armbewegungen, niedrige Tritte und kurze, enge Fußarbeit.

Statische Armposituren Die Übung, bei der ein Praktizierender die Arme

bewegungslos im Raum hält, ob sich die Füße nun bewegen oder nicht. Die

Übung wird ausgeführt, um das Chi aus dem Bauch und der Wirbelsäule in

die Fingerspitzen zu bringen und die inneren Ausrichtungen des Oberkörpers

zu stabilisieren.

Stehendes Chi Gung (Jan Chuang, Zhan Zhuang) Stehübung. Chi Gung, das geübt wird, während man still dasteht, wobei die Arme entweder an den Kör-perseiten herabhängen oder in einer statischen Armpositur in der Luft gehalten werden. Die Stehübung ist eine der grundlegendsten Chi-Gung-Übungen zur Entwicklung innerer Kraft.

Stock (oder Stab) Eine der wichtigsten nichtschneidenden Waffen der chi-

nesischen Kampfkünste, die gewöhnlich aus Holz gemacht ist, aber auch aus

Metall bestehen kann. Die Länge kann zwischen 1,20 Meter und 3 Meter va-

riieren, beträgt aber gewöhnlich etwa 1,50 bis 2 Meter.

Suei Magnetisieren. Ein Fachbegriff für eines der vier Stadien der klebenden

Energie im Tai Chi Chuan.

Sun-Stil Tai Chi Ein Kombinationsstil des Tai Chi, der von Sun Lu Tsang

kreiert wurde und der den Hao-Stil mit Hsing-I und Ba Gua verbindet.

Swari Waza Eine Bodenkampftechnik des Aikido, bei der der Praktizierende

aufrecht und mit einem oder beiden Knien auf dem Boden kämpft, wobei er

auf der Stelle verharrt oder sich über die Matte bewegt.

Synovialflüssigkeit Eine Körperflüssigkeit, die in den Zwischenräumen der

Gelenke des Körpers vorhanden ist.

T

Tae Kwon Do Eine koreanische äußere Kampfkunst, die Tritttechniken betont und die auch das koreanische Karate genannt wird.

559

Tai Chi Chuan (Ti Ji Quan, Taijiquan, Tai Chi Ch'uan) Die „Kampfkunst-

Faust des Höchsten Absoluten". Eine der drei inneren Kampfkünste Chinas.

Sie ist besonders bekannt für ihre Betonung der Weichheit, die Bewegungen

im Zeitlupentempo und ihre hoch entwickelten Chi-Gung-Methoden, die auf

der physischen Koordination des gesamten Körpers basieren. Das Tai Chi wird

von der Mehrzahl der Praktizieren aus gesundheitlichen Gründen ausgeübt und

nicht als Kampfkunst. Als Kampfkunst betont das Tai Chi Weichheit, Techniken

des Nachgebens und Strategien des Gegenangriffs sowie eine Verschmelzung

von weicher und harter innerer Energie.

Tai Chi Klassiker Eine Abhandlung aus dem neunzehnten Jahrhundert über die grundlegenden Prinzipien des Tai Chi Chuan, die angeblich von Wang Tsung Yueh verfasst wurde. Sie enthält kurze, kryptische Sätze, die auf verschiedenen Bedeutungsebenen verstanden werden können.

Tai Chi Men Eine Schule des Tai Chi Chuan, in der die gesamte Kampfkunst-tradition des Tai Chi Chuan intakt vorhanden ist und die gewöhnlich auf einen Linienbegründer zurückgeht.

Tang Ni Bu (T'ang Ni Pu) Schlammwaten. Das grundlegende Prinzip des Chi und der Körpermechanik, auf dem die Schritte des Kreisgehens im Ba Gua basieren.

Thaiboxen (Muay Thai) Die traditionelle äußeren Kampfkunst Thailands. Sie

wurde ursprünglich mit Handschuhen praktiziert, die mit gemahlenem Glas

gepolstert waren, wird aber heute mit normalen Boxhandschuhen in einem

Boxring praktiziert. Dieser Stil des Boxens, der für seine Tritte, Kniestöße und

Ellbogenhiebe bekannt ist, ist der Ursprung für die Mischung von Karate und

Tretboxen, die heute in der Welt der kommerziellen Vollkontakt-Kampfkunst-

wettbewerbe Gang und Gäbe ist.

Ti Tang Erdboxen (Di Tang) Verschiedene Systeme der chinesischen Kampf-

künste, bei denen es um den Bodenkampf geht.

Ting Jin (T'ing Chin, Ting Jing) Die Fähigkeit, in den inneren Kampfkünsten

auf die Energie einer anderen Person zu hören und sie zu interpretieren.

Tomeki-Stil Ein Stil des Aikido, der eine Verbindung von Judo und Aikido

darstellt, siehe auch: Aikido.

Traditionelle chinesische Kampfkünste Die Kampfkünste, die schon vor der

kommunistischen Revolution in China existierten. Die traditionellen Kampf-

künste basieren auf pragmatischen Kampffertigkeiten und auf religiösen und

philosophischen Grundkonzepten von Konfuzianismus, Buddhismus und Dao-

ismus.

Treffer-Medizin (Die Da, Tie Da, Di Da) Ein Zweig der chinesischen Medi-

zin, der die Nachwirkunken von traumatischen Verletzungen behandelt, also

Knochenbrüche, Schwellungen, Verletzungen des weichen Körpergewebes,

560

Verrenkungen der Wirbelsäule, Verrenkungen und Auskugelungen von Ge-

lenken und Verletzungen der inneren Organe.

Tsa Jr Chuei Eine der Formen des Hsing-I; sie basiert auf den zwölf Tier-formen.

Tsai (Cai) Das Herabziehen von Energie im Tai Chi Chuan.

Tsuan Chuan (Zuan Quan, Juan Chuan) Bohrende Faust. Eine der fünf Grund-techniken des Hsing-I Chuan.

Tui Na (Twei Na) Das System der chinesischen therapeutischen Körperarbeit,

das als ein System höherer Ebene gilt als die gewöhnliche chinesischen Massage

(Ammo genannt). Zu den therapeutischen Interventionen im Tui Na gehören

Akupressur, Chiropraktik, und Manipulationen der Gelenke und der Wirbelsäule

sowie myofasziale und craniosakrale Arbeit mit tiefliegenden Geweben, Sehnen

und Bändern und außerdem die Neuausrichtung und das Ausbalancieren der

inneren Organe und Drüsen. Wird das Tui Na therapeutisch mit dem Chi Gung

kombiniert, dann wird es Chi Gung Tui Na genannt.

Tui Shou Siehe: Push Hands.

Tun Tu Die Shaolin-Kampfkunst des Einsaugens und Ausspeiens. Sie ist nicht

dasselbe wie die innere Kunst des Öffnens und Schließens, hat jedoch auf der

groben Ebene Ähnlichkeiten damit.

U

Umkehrung Eine Kampftechnik, bei der der Praktizierende sich in eine Rich-tung bewegt und dann eine komplette 180-Grad-Wende in die entgegengesetzte Richtung vollzieht, um eine Kampfanwendung zu beenden. Gleichermaßen bei Hieben, Würfen und Hebeln verwendet.

Universales Bewusstsein Das zugrunde liegende Etwas, das sich nicht defi-nieren lässt und aus dem das gesamte Universum gebildet ist. Im alten China Dao genannt.

Unteres Dantien (Dantian, Tan-t'ien) Dieses Energiezentrum, das sich unter-halb des Bauchnabels in der Mitte des Rumpfes befindet, ist vor allem für die Gesundheit des menschlichen Körpers verantwortlich. Es ist das einzige Ener-giezentrum, in dem alle Energiekanäle, die einen Einfluss auf den physischen Körper haben, sich überschneiden. Auch unter der japanischen Bezeichnung Hara bekannt oder als Elixierfeld oder Zinnoberfeld.

V

Verwurzelung Die Technik des Absenkens der Körperenergie und ihrer Ver-

wurzelung in der Erde. Es ist sehr schwierig, einen Kampfkünstler von der Stelle

zu bewegen, der die Verwurzelung gemeistert hat. In den inneren Kampfkünsten

verleiht die Verwurzelung einem Kämpfer enorme Kraft.

561

Vierundsechzig Hexagramme Die 64 grundlegenden energetischen Wand-lungen des I Ging.

Vorgeburtlich (Hsien Tien) Was immer einem Menschenwesen zwischen der

Empfängnis und der Zeit der Geburt widerfahren ist.

Vorgeburtliches Ba Gua Die Praxis der Kreisgehens des Ba Gua, deren Zweck

es ist, vorgeburtliches Chi zu entwickeln, wie sie auch in den daoistischen

Klöstern praktiziert wurde.

Vorgeburtliches Chi Die Energie, die ein Individuum vor seiner Geburt von der Mutter und aus dem Kosmos absorbiert, während es noch im Mutterleib ist. Die Quantität und Qualität dieser Energie bestimmt im Grunde die konsti-tutionelle Stärke oder Schwäche, die ein Individuum sein Leben lang besitzt. Normalerweise steht die Menge dieses Chi von Geburt an fest. Durch bestimmte vorgeburtliche Praktiken der Kultivierung von Chi ist auch ein Erwachsener noch in der Lage, solches Chi anzusammeln und damit potentiell genetische Begrenzungen zu überschreiten.

W

Wai Ba Jang (Wai Ba Zhang, Wai Pa Chang) Die acht äußeren Hände. Die

grundlegenden vorgeburtlichen Ba-Gua-Chang-Praktiken der sekundären Tech-

niken des Kreisgehens, die nur als Kampfanwendungen fungieren.

Wai Jia Chuan (Wai Chia) Äußere Praktiken. Praktiken, die die inneren As-

pekte des Daseins einer Person nicht merklich kultivieren, sondern bei denen

es hauptsächlich um das Erreichen von Zielen in der äußeren Welt geht.

Wasserelement In der chinesischen Kosmologie eine der fünf fundamenta-

len Energien oder eines der fünf Elemente, aus denen sich alle geschaffenen

Phänomene zusammensetzen.

Wassermethode Eine Meditationstechnik oder energetische Technik, die den

vollen Einsatz, jedoch ohne Anstrengung oder Kraftaufwand, betont.

Weiche Kampfkünste Jene Kampfkünste, deren defensive Techniken nicht

darauf beruhen, Kraft gegen Kraft zu setzen, sondern der Kraft des Gegners

nachzugeben und sie umzulenken. Die Hiebe der weichen Kampfkünste se-

hen äußerlich nicht sonderlich kraftvoll aus, haben jedoch eine verheerende

Wirkung, da sie auf Chi und einer subtilen Körpermechanik basieren. Weiche

Kampfkünste können äußerer oder innerer Natur sein. Selbst ein dezidiert

„hartes" Kampfkunstsystem wird auch einige weiche Techniken besitzen.

Wei Chi Eine Schicht von Energie zwischen der Haut und der Muskulatur eines Menschen, die die Person gegen das Eindringen von Krankheiten in den Körper aus der Umwelt schützt.

562

Weiße Augenbraue (Kantonesisch: Pak Mei; Mandarin: Bai Mei) Ein äuße-

rer/inner Kampfstil der kurzen Hand, der zum Südlichen Shaolin gehört und

aus der Provinz Kanton stammt.

Weißer Kranich eine äußere/innere chinesische Kampfkunst die die Bewegun-

gen des Weißer Kranich genannten Vogels nachahmt. Es gibt drei Richtungen

dieses Stils: Kantonesischer Weißer Kranich, Fukien Weißer Kranich und Nörd-

licher Weißer Kranich. Jede dieser Richtungen hat eine andere Spezialität.

Wing Chun Eine südchinesische äußere Kampfkunst, die hauptsächlich auf

Handhieben basiert. Ihre Hauptmethode zur Entwicklung der Kampffertigkeit

wird „klebende Hände" oder Chi Sau genannt, eine Praxis, bei der die beiden

Gegner Arm/Hand-Kontakt aufrechterhalten, während sie versuchen zu schla-

gen und sich gegen die Angriffe des Partners zu verteidigen.

Wu Mei Eine äußere/innere Kampfkunst des Südlichen Shaolin.

Wu-Stil Tai Chi Ein Stil des Tai Chi Chuan, der besonders für seine heilenden

und meditativen Komponenten bekannt ist. Ein Kampfstil des kleinen Rahmens,

der sich aus dem Yang-Stil entwickelt hat. Der Wu-Stil ist in China nach dem

Yang Stil die zweitbeliebteste Form des Tai Chi und er wird heute auch im

Westen leichter zugänglich.

Wu Wei Tun ohne zu Tun. Das grundlegende daoistische Konzept, nach dem Handlungen ohne vorbedachte Absicht aus einem leeren Geist entspringen sollen. Es ist ein Tun, das anstrengungslos und ohne Einmischung des Egos einfach dem natürlichen Fluss der universalen Energie folgt.

Wushu Ein Sammelbegriff für alle Kampfkünste, die zu verschiedenen Zeiten

in der chinesischen Geschichte in Gebrauch waren. Manchmal bezeichnet Wus-

hu auch die so genannte „moderne Kampfkunst". Das zeitgenössische Wushu ist

eher eine Sportart oder ein Bühnenspektakel als eine echte Kampfkunst. Seine

Philosophie unterscheidet sich von der der traditionellen Kampfkünste.

Y

Yang-Stil Tai Chi Heutzutage die populärste Form des Tai Chi.

Yin- und Yang-Meridiane Die zwölf hauptsächlichen vertikal verlaufenden

Kanäle subtiler Energie des menschlichen Körpers, von denen die Akupunktur

Gebrauch macht.

Yin-Fu-Stil des Ba Gua Heutzutage die zweitpopulärste Form des Ba Gua;

sie benutzt die Weidenblatt-Handfläche.

Yin/Yang Das klassische daoistische Konzept, nach dem das Universum aus

polaren Gegensätzen (Sonne/Mond, aktiv/passiv, Arbeit/Ruhe, Glück/Traurig-

keit usw.) besteht, die nicht antagonistisch sondern komplementär sind und die

einander bedürfen, um sich selbst erfüllen zu können. Alle Manifestationen,

563

seien sie subtiler oder offensichtlicher Natur, kommen durch das Wechselspiel

von Yin und Yang zustande.

Yung Fa (Yong Fa) Die Kampfanwendungen einer chinesischen Kampfkunst-

bewegung.

Z

Zehen auswärts/Zehen einwärts (Bai Bu/Kou Bu) Grundlegender Schritt

beim Kreisgehen des Ba Gua Chang.

Zen (japanisch für chinesisch: Chan) Eine spirituelle Disziplin, die aus der

Verschmelzung von buddhistischen und daoistischen Methoden entstand. Man-

che Zen-Praktiken wurden in die Kampfkünste übernommen und von diesen

den Bedürfnissen der Kampfkunst angepasst. Siehe auch: Buddhismus.

Zendo—Ein Ort, an dem Menschen die Zen-Meditation praktizieren.

Zentralkanal (Zhong Mai, Chung Mai, Jung Mai) Der Hauptenergiekanal,

der sich genau in der Mitte des menschlichen Körpers befindet und der vom

Scheitelpunkt zum Perineum verläuft und sich auch durch das Knochenmark

der Arme und Beine erstreckt. (Siehe Abbildungen Seiten 529 und 531)

Zweite Hand/Double Palm Change Eine Bewegung, die die Basis aller Yin-

Techniken oder weichen bzw. amorphen Techniken des Ba Gua Chang dar-

stellt.

Zweiundsiebzig Beintechniken Eine Serie von Kampfkunsttechniken des Ba

Gua, bei denen es um Tritte, Beinhebel und Fußarbeit geht.

564

Anhang G: Die Living Taoism Collection und die Bruce Frantzis Energy Arts Lehren

Viele Traditionen, die sich auf alten Philosophien und Religionen gründen,

haben sich kraftvoll bis in die moderne Zeit erhalten. Weil sie sich auch

heute noch in unserem Leben manifestieren, werden sie als lebendige

Traditionen bezeichnet. Dazu gehören das Christentum, der Islam, das

Judentum, der Buddhismus, der Vedanta und der Taoismus. In den drei

Letzteren werden aktiv Körperübungen und Energiearbeit praktiziert.

Von den lebendigen Traditionen ist der Taoismus die am wenigsten

bekannte. Obwohl seine wichtigsten literarischen Werke - das I Ging, die

Schriften von Chuang Tse und das Taoteking von Lao Tse - sehr bekannt

sind und in vielen Übersetzungen vorliegen, sind die praktischen Metho-

den und Techniken für die Umsetzung der taoistischen Philosophie in das

Alltagsleben im Westen kaum dokumentiert.

Bei einem Zweig der lebendigen taoistischen Philosophie geht es darum,

das persönliche Chi oder die Energie der Lebenskraft zu entwickeln und zu

nutzen, um sich selbst und andere zu stärken und zu heilen. Dieser Zweig

umfasst zwei große Traditionen: die Wasser- und die Feuer-Methode. Die

Wasser-Methode, die auf dem philosophischen Gedankengut von Lao Tse

beruht, betont das Bemühen ohne Kraftanstrengung, die Entspannung und

das Loslassen, so wie strömendes Wasser langsam den Stein auswäscht. Die

Feuer-Methode, die 1500 Jahre später entwickelt wurde, betont die Kraft-

anstrengung, das Vorwärtsstoßen und das Durchbrechen von Grenzen.

Die taoistischen Übermittlungslinien, die Bruce Frantzis hält, gehören

zur Wasser-Tradition, die im Westen wenig bekannt ist. Ein Teil dieser

Übermittlung beauftragt ihn damit, die in dieser Tradition begründeten

Praktiken an westliche Schüler weiterzugeben. Er hat die chinesische Spra-

che erlernt und sich während seiner Schulung in China intensiv mit den

dortigen Traditionen auseinandergesetzt. Dies hat ihn dazu befähigt, die

Kluft zwischen chinesischer und westlicher Kultur zu überbrücken und

westlichen Menschen den lebendigen Taoismus auf eine Weise zu vermit-

teln, dass sie ihn verstehen und lernen können.

565

Das B. Frantzis Energy Arts® Programm

Bruce Frantzis, der auf eine 16-jährige Ausbildung in Asien zurückgreifen

kann, hat ein praktisches und verständliches System von Übungsprogram-

men entwickelt, die Menschen aller Altersklassen und Qualifikationsstu-

fen die Möglichkeit gibt, ihre Grundenergie zu erhöhen und kraftvolle

Gesundheit zu erlangen.

Die Chi-Gung-Elementarübungen

Das B. Frantzis Energy Arts Programm umfasst sechs Chi-Gung-Grund-

kurse, die in Verbindung mit dem Programm der Langlebensatmung stu-

fenweise und sicher alle Aspekte des Nei Gung integrieren. Obwohl die

Chi-Gung-Techniken sehr alt sind, ist das System von Bruce Frantzis,

sie zu lehren, einzigartig. Es ist speziell auf westliche Menschen und die

Erfordernisse des modernen Lebens zugeschnitten. Ein guter Vergleich

damit ist, dass Frantzis den Kelch - das B. Frantzis Energy Arts Pro-

gramm - dafür geschaffen hat, um den Wein - die alten taoistischen

Übungen - aufzunehmen.

Dieses Programm besteht aus den folgenden Elementarübungen:

Langlebensatmung

Drachen-und Tiger-Chi-Gung

Die Energietore des Körpers öffnen

Die Hochzeit von Himmel und Erde

Den Bogen spannen (Wirbelsäulen-Chi-Gung)

Der Spiral-Energiekörper

Die Götter spielen in den Wolken

Diese Chi-Gung-Elementarprogramme sind bewusst ausgewählt worden,

weil es sich bei ihnen um die ältesten, wirksamsten und am höchsten

geschätzten taoistischen Energiepraktiken handelt. Sie sind ideal dafür

geeignet, um stufenweise die Grundkomponenten des Nei Gung auf eine

Art und Weise zu integrieren, die für westliche Menschen zu begreifen

und zu verstehen ist. Sie bieten dem Schüler die notwendige Grundlage,

um klar und systematisch zu lernen und Fortschritte in seiner Praxis der

taoistischen Energiekünste zu machen.

566

Die Langlebensatmung

In diesem Programm wird systematisch und stufenweise die authentische

taoistische Atmung gelehrt. Das Atmen mit dem ganzen Körper ist seit

Jahrtausenden dazu genutzt worden, um die Fähigkeit zu verstärken, En-

ergieblockaden in Körper/Geist zu klären und aufzulösen, wodurch sich

das Wohlbefinden und spirituelles Gewahrsein verbessern. Werden diese

Atemmethoden in irgendeine andere taoistische Energiepraxis integriert,

tragen sie dazu bei, dass diese ihr gesamtes Potential entfalten kann.

Drachen- und Tiger-Chi-Gung

Dies ist eine der direktesten und am leichtesten zugänglichen schonenden

Heilmethoden des Chi Gung, die China hervorgebracht hat. Diese 1500

Jahre alte Form des medizinischen Chi Gung wirkt auf den menschlichen

Körper auf ähnliche Weise wie die Akupunktur ein. Diese aus sieben ein-

fachen Bewegungen bestehende Übung kann praktisch von jedem unab-

hängig von seiner gesundheitlichen Verfassung ausgeführt werden.

Die Energietore des Körpers öffnen

Dieses Programm bietet eine Einführung in 3000 Jahre alte Chi-Gung-

Techniken, die wesentlich dafür sind, um in jeder Praxis der Energieküns-

te Fortschritte zu machen. Elementarübungen lehren die grundlegenden

Körperausrichtungen. Man lernt außerdem, wie das innere bewusste Ge-

wahrsein des Chi im Körper zu erhöhen ist und blockiertes Chi aufgelöst

werden kann.

Die Hochzeit von Himmel und Erde

Diese Form des Chi Gung umfasst in China häufig genutzte Techniken, die

dabei helfen, Probleme mit Rücken, Nacken, Wirbelsäule und Gelenken zu

beheben. Sie ist besonders wirksam, um wiederholt auftretende Belastungs-

schäden und Probleme mit dem Karpaltunnelsyndrom zu lindern. In diesem

Programm werden einige wichtige Komponenten des Nei Gung gelehrt,

darunter das Öffnen und Schließen (Pulsieren), komplexere Atemtechniken

und die Lenkung von Chi durch die Akupunkturmeridiane.

567

Den Bogen spannen

Das Wirbelsäulen-Chi-Gung „Den Bogen spannen" setzt die Arbeit der

Kräftigung und Regeneration der Wirbelsäule fort, die beim Chi Gung „Die

Hochzeit von Himmel und Erde" erlernt wird. Dieses Programm enthält

Komponenten des Nei Gung, um die Energien der Wirbelsäule erwecken

und beherrschen zu lernen.

Der Spiral-Energiekörper

Dieses fortgeschrittene Programm lehrt, das Energieniveau im Körper er-

heblich zu steigern und zu beherrschen und Energie in Kreis- und Spiralfor-

men durch den ganzen Körper fließen zu lassen. Es umfasst Komponenten

des Nei Gung, um den aufwärts gerichteten Energiefluss im Körper zu

lenken; das Chi entlang spiralförmig gewundener Bahnen zu senden; En-

ergie willentlich zu jeder beliebigen Körperstelle zu lenken oder von dort

auszusenden; den rechten, linken und zentralen Energiekanal des Körpers

zu öffnen und den Kleinen Energiekreislauf zu aktivieren.

Die Götter spielen in den Wolken

Dieses Chi Gung schließt einige der ältesten und kraftvollsten taoistischen

Verjüngungsmethoden ein. Dieses Programm erweitert alle sich auf den

Körper, die Atmung und die Energie beziehenden Komponenten, die in

früheren Chi-Gung-Programmen erlernt wurden, und schließt den Prozess

ab, sämtliche Komponenten des Nei Gung zu integrieren. Es ist auch die

abschließende Stufe, um zu lernen, wie die Energien der drei Tantien, des

zentralen Energiekanals und der Wirbelsäule zu stärken und zu stabilisieren

sind. Diese Form des Chi Gung dient als spirituelles Verbindungsglied zur

taoistischen Meditation.

Tai Chi und Ba Gua im Dienste der Gesundheit

Wenn Tai Chi und Ba Gua im Dienste der Gesundheit praktiziert werden,

dann verstärken sie den Nutzen aus den Chi-Gung-Elementarübungen.

Im Westen erlernen die meisten Tai Chi ausschließlich als eine der

Gesundheit dienende Übung und nicht als Kampfkunst. Wie alle Chi-

Gung-Programme entspannt und reguliert Tai Chi das Zentralnervensys-

tem, baut körperlichen und emotionalen Stress ab und fördert das geistige

568

und emotionale Wohlbefinden. Die sanften und harmonischen Bewegungen

des Tai Chi sind ideal für Menschen jeden Alters und Körpertyps geeignet

und können ihnen ein hohes Maß an Entspannung, Gleichgewicht und

physischer Koordination schenken.

Ba Gua ist sogar noch älter als Tai Chi, denn seine Techniken von

Schrittfolgen im Kreis wurden bereits vor mehr 4000 Jahren in taoistischen

Klöstern als eine der Gesundheit und Meditation dienende Kunst entwi-

ckelt. Diese Methoden erschließen die Möglichkeiten des Geistes, Stille und

Klarheit zu erlangen; einen kräftigen, gesunden und von Krankheit freien

Körper zu entwickeln; und, was vielleicht noch wichtiger ist, das innere

Gleichgewicht zu bewahren, während sich entweder die innere Welt oder

das Geschehen in der äußeren Welt rasch verändert.

Meditation

Bruce Frantzis lehrt die traditionelle Wasser-Methode der taoistischen Me-

ditation, die sich aus den Lehren von Lao Tse ableitet. Sich alle Mühe zu

geben und doch keine Kraft anzuwenden, damit Sie vermeiden, die tatsäch-

lichen Grenzen von Körper, Geist und Seele zu überschreiten, entspricht

dem sanften Weg von Lao Tse, einem der größten taoistischen Weisen.

Taoistische Meditation

In der taoistischen Meditationsüberlieferung bedeutet der Weg zur Spiri-

tualität mehr, als eine gute Gesundheit, Gemütsruhe und einen stabilen,

friedvollen Gest zu haben. Dies sind nur die notwendigen Voraussetzungen,

die durch Chi Gung, die Langlebensatmung, Tai Chi und andere taoistische

Übungssysteme erreicht werden.

Die Wasser-Methode der taoistischen Meditation setzt die Arbeit fort,

Ihre inneren Konflikte zu klären und aufzulösen. Dieser Prozess hat mit

den äußeren Auflösungsmethoden begonnen, die Sie beim „Öffnen der

Energietore des Körpers" gelernt haben, und geht damit weiter, einen

inneren Auflösungsprozess zu erlernen. Dies ist eine Hauptübung aus der

Tradition von Lao Tse, die Ihnen dabei hilft, sich von den übrig gebliebe-

nen Konditionierungen, Spannungen und Blockaden, die Sie binden und

daran hindern, Ihr volles spirituelles Potential zu erreichen, gänzlich zu

befreien.

569

Wenn sich Ihre Praxis vertieft, kommt das 16-teilige Nei-Gung-Pro-

gramm hinzu, um den spirituellen Entwicklungsprozess zu beschleuni-

gen.

Tai Chi als Meditation

Im Allgemeinen wird Tai Chi als eine Meditation in Bewegung bezeichnet.

Seine langsamen und anmutigen Bewegungen bieten einen zwanglosen

Fokus, bringen Ihren inneren Dialog zur Ruhe und erzeugen ein tiefes

Gefühl von Entspannung, das innere Spannungen abbauen hilft.

Nur wenige Tai-Chi-Meister wissen, wie die Praxis des Tai Chi in eine

vollständige taoistische Bewegungsmeditation umgewandelt werden kann.

Liu Hung Chieh lehrte Bruce Frantzis diese Tradition und ermächtigte ihn

dazu, sie weiterzugeben.

Andere heilen

Ein Teil der taoistischen Schulung von Bruce Frantzis bestand darin, ein

chinesischer Arzt zu werden. Dafür nutzte er hauptsächlich die Chi-Gung-

Techniken, die als Chi-Gung-Tuina bezeichnet werden. Während dieser

Ausbildungsphase arbeitete er mit mehr als 10 000 Patienten. Heute arbeitet

er jedoch weder privat noch in Kliniken als Chi-Gung-Arzt, damit er die

Zeit hat, Bücher zu schreiben, Seminare und Retreats zu veranstalten und

Lehrer auszubilden. Gelegentlich bietet er die Ausbildung in therapeuti-

schen Heilmethoden an.

Chi-Gung-Tuina

Chi-Gung-Tuina ist ein spezieller Zweig der chinesischen Medizin, der

dazu bestimmt ist, Energieblockaden bei anderen aufzulösen und das Chi

ins Gleichgewicht zu bringen. Sie lernen, Energie mit den Händen, der

Stimme und den Augen auszusenden, um die Heilung zu erleichtern. Sie

lernen auch, wie Sie selbst ein Burn-out-Syndrom aus Ihrer therapeutischen

Praxis vermeiden. Um andere heilen zu lernen, müssen Sie zuerst lernen,

Ihr eigenes Chi von Blockaden zu befreien und die besonderen Bahnen zu

beherrschen, durch die es fließt. Deshalb ist es wichtig, die elementaren und

fortgeschrittenen Übungen nach dem B. Frantzis Energy Arts Programm

zu erlernen, bevor Sie Chi-Gung-Tuina studieren.

570

Chi-Gung-Therapie

Hier lernen Sie, spezielle Standpositionen sowie auch Chi-Gung-Übungen

im Sitzen, Liegen und in der Bewegung dafür zu nutzen, um Energieströ-

me umzulenken oder Energieblockaden aufzulösen, die zu bestimmten

physischen und emotionalen Problemen beitragen.

Innere Kampfkünste

Durch die inneren Kampfkünste lernen Sie, Entspannung, Chi und geis-

tige Stille dafür zu nutzen, um das pragmatische Ziel zu erreichen, in

einer heftigen Konfrontation zu gewinnen, ohne Muskelanspannung

oder Wut für die Kampfkraft einzusetzen.

Tai Chi Chuan

Tai Chi ist eine sehr wirksame Kampfkunst. Bruce Frantzis hat sich um-

fassend im traditionellen Wu-, Yang- und Chen-Stil des Tai Chi Chuan

geschult, darunter auch in der Lang- und der Kurzform, „Push Hands",

Selbstverteidigungstechniken und traditionellen Waffenformen wie Stö-

cken und Schwertern.

Ba Gua Chang

Ba Gua war dazu bestimmt, um gegen bis zu acht Angreifer gleichzeitig zu

kämpfen. Praktisch kein anderes System der inneren oder äußeren Kampf-

künste hat die gesamten Kampfkunsttechniken so effektiv miteinander

verbunden und nahtlos in ein Ganzes integriert wie Ba Gua.

Ba Gua ist zuallererst eine Kunst der inneren Energiebewegung, in der

sich die acht Urenergien verkörpern, die in den acht Trigrammen des I Ging

enthalten sind. Die Grundschulung in dieser inneren Kraft besteht darin,

acht verschiedene Handstellungen zu erlernen und sie mit kreisförmigen

Schrittfolgen, spiralförmig drehenden Armbewegungen und ständigen

Richtungsänderungen zu kombinieren.

Hsing-I Chuan

Im Hsing-I (auch xing yi) liegt die Betonung auf allen Aspekten des Geistes,

um seine Formen und Kampfbewegungen hervorzubringen. Es ist eine

571

ebenso wirksame Heilübung, weil es die Menschen gesund und dann sehr

kräftig macht.

Seine fünf Grundbewegungen sind mit den fünf Elementen oder Ener-

giephasen verbunden: Metall, Wasser, Holz, Feuer und Erde. Auf diesen

basiert auch die chinesische Medizin und alle sichtbaren Phänomene sind

aus ihnen erschaffen. Die Schulung in Hsing-I beruht auf einer sozusagen

„militärischen" Vorgehensweise: Man marschiert in geraden Linien, und

eine starke Betonung am Ende jeder Technik liegt darauf, einen Feind

mental oder physisch zu überwältigen.

Living Taoism™ Collection

Die Zielsetzung der Living Taoism Collection von Bruce Frantzis liegt nicht

darin, alte Texte nachzudrucken oder zu interpretieren, sondern vielmehr

zu zeigen, dass die taoistischen Praktiken lebendig und von höchster Rele-

vanz für das moderne Leben sind. Als Übungssysteme für Ihre persönliche

Gesundheit und Energie können sie von großem Nutzen für Sie sein.

Bücher

Die Energietore des Körpers öffnen war Bruce Frantzis' erstes Buch, das

ursprünglich 1993 in den USA erschienen ist. Zu seinen weiteren Veröf-

fentlichungen in deutscher Sprache gehören:

Im Tao sein - Entspannung in Achtsamkeit.

Die Wassermethode der taoistischen Meditation. Buch 1.

Windpferd Verlag 2006

Die große Stille

Die Wassermethode der taoistischen Meditation, Buch 2

Windpferd Verlag 2007

Als langjähriger Praktizierender der taoistischen Künste lehrt Bruce Frant-

zis und schreibt seine Bücher mit großer Dankbarkeit gegenüber seinem

Hauptlehrer, dem verstorbenen taoistischen Meister und Linienhalter Liu

Hung Chieh aus Beijing, der ihm sein Wissen über das Tao so großzügig

vermittelte.

572

CDs, Videos und DVDs

Die Themen reichen von einer allgemeinen Einführung in die taoistischen

Praktiken bis zu speziellen Themen, wie „Öffnen der Energietore" Chi Gung,

Selbstverteidigungstechniken des Tai Chi und Langlebensatmung.

Seminar- und Ausbildungsangebote

Bruce Frantzis ist der Begründer von Energy Arts in Kalifornien. Energy

Arts bietet Schulungsprogramme für zertifizierte Ausbilder, Retreats, Se-

minare und Vorträge (beides öffentlich und für Firmen) in Nordamerika

und Europa an. Bruce Frantzis lehrt laufende Kurse in Chi Gung, der

Langlebensatmung, den inneren Kampfkünsten Ba Gua, Hsing-I und Tai

Chi, den Heilmethoden von Chi-Gung-Tuina und der Wasser-Methode der

taoistischen Meditation.

Für die meisten Ausbilderkurse ist die vorherige Schulung in den B.

Frantzis Energy Arts Programmen Vorbedingung. Der Zertifizierungs-

prozess ist streng, um zu gewährleisten, dass die Ausbilder die in diesen

Künsten enthaltenen authentischen Traditionen unterrichten.

Kursinformation und weitere Hinweise

Für aktuelle Informationen zu Workshops, Seminaren und Veranstaltungen

besuchen Sie www.energyarts.com

Kontakt/Information

Energy Arts, Inc.

P. 0. Box 99

Fairfax, CA 94978-0099, USA

Tel. (001) 415-4545243, Fax (001) 415-4540907

573

Bruce Frantzis

Die Energietore des Körpers öffnen Chi Gung für lebenslange Gesundheit

Dieses grundlegende Buch über die erstaunlichen Qualitäten des menschlichen Energiekörpers ist bereits zum Klassiker geworden. Für Tausende wurde es zum Anlass, den Weg des Chi Gung zu beschreiten. Ein Basiswerk für alle an Komplementärmedizin und Selbsthilfe Interessierte. Die hier vorgestellten Übungen bilden das Fundament aller taoistischen Energiepraktiken. Bruce Frantzis zählt zu den großen lehrenden Meistern im Westen. Er hat die jahrtau-

sendealten taoistischen Praktiken in ein modernes Übungsprogramm gefasst, das leicht zu erlernen ist und ein starkes transformierendes Potenzial freisetzen kann. Hiermit erhalten wir die Möglichkeit, das Wunder des Tao aus erster Hand zu erfahren und damit Lebensenergie und Leistung zu steigern sowie den Alterungsprozess zu verlangsamen. Diese komplett überarbeitete und stark erweiterte Neuausgabe enthält neue Kapitel über das Atmen, das Sinkenlassen des Chi und das 16-teilige Nei-Gung-System.

356 Seiten mit vielen Zeichnungen und Fotos ISBN 978-3-89385-516-2 • www.windpferd.de

Bruce Frantzis

Im Tao sein -

Entspannung in Achtsamkeit Die Wasser-Methode der Taoistischen Meditation - Buch 1 -

Der Rahmen dieser Wassermethode der taoistischen Meditation ist anspruchsvoll. Bruce Frantzis zeigt, wie die Prinzipien der Meditation während des Stehens, Sitzens, Liegens und bei der Bewegung praktiziert werden. Er sagt uns, wie Laotses Prinzipien uns in Lehrer/Schüler-Beziehungen leiten können. Er lehrt uns auch, wie die Prinzipien der Meditation auf die Kampfkünste und im

Kontext von sexuellen Beziehungen anzuwenden sind. Einer Abhandlung über die Wasser-Methode angemessen, bewegt sich dieses Buch wie ein Fluss vorwärts. Anstelle einer linearen Darstellung von Techniken zieht es uns mit durch verschiedene Windungen und Richtungsänderungen. Anekdoten führen zu historischen Perspektiven, zu Ätemmethoden und zum Ruhigwerden des Geistes. Der Rat an den Leser lautet, sich von dem Buch führen zu lassen. „Entspannung in Achtsamkeit" hilft die tieferen Ebenen unseres inneren Wesens wiederzuentdecken. Die hier vorgestellten Techniken bilden das Fundament dieses Wissens und sind zugleich ausgezeichnete Mittel, geistige Gelassenheit zu erreichen und damit Stress zu mildern und aufzulösen sowie die Gesundheit bestmöglich zu erhalten oder Hindernisse zu beseitigen, um inneren Frieden zu finden.

248 Seiten • Klappenbroschur • ISBN 978-3-89385-503-2 • www.windpferd.de

Bruce Frantzis

Die große Stille Körperbewusstsein, Bewegungsmeditation und sexuelles Qi Gong

Die Wasser-Methode der taoistischen Meditation - Buch 2 -

Die große Stille ist ein Anleitungs- und Übungsbuch für die Wasser-Methode der taoistischen Meditation. Erstmals wird sie hier in dieser Form von einem Linienhalter der Tradition zugänglich gemacht und ermöglicht ein Verständnis von der spirituellen Bedeutung, den Körper und seine Energien zu kultivieren.

Die zentrale Technik der Wasser-Methode ist der innere Auflösungsprozess: das Lösen psychischer Hindernisse und Zerstreuungen. Ziel der Techniken ist eine zuneh-mende spirituelle Bewusstheit und eine intensivierte Vertrautheit, Harmonie und Zufriedenheit in Beziehungen. Körperbewusstsein, Bewegungsmeditation und sexu-elles Qi Gong sind die Techniken, dieses Ziel zu erreichen. Darüber hinaus ist die Wassermethode eine optimale Ergänzung zu Tai Chi, Qigong und Kampfkunst.

288 Seiten • ISBN 978-3-89385-546-9 • www.windpferd.de

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