BUCHENHORST, Ralph_Walter Benjamin Als Gemeinplatz

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DZPhil, Akademie Verlag, 61 (2013) 2, 301–312 LITERATURESSAY Walter Benjamin als Gemeinplatz Auswege aus der Kristallisation der Benjamin-Rezeption von Lateinamerika aus Von RALPH BUCHENHORST (Halle/Saale) In der Atacama-Wüste im Norden Chiles steht auf dem Gipfel des Cerro Paranal das so genannte Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte. Die vier dort installierten Parabolspiegel sammeln – begünstigt durch die trockene Wüstenluft und über 300 sternen- klare Nächte im Jahr – Licht aus dem Weltall ein. Licht, das sich auf den Weg gemacht hat, als der Kosmos kaum eine Milliarde Jahre alt war. Somit sind die Teleskope auf dem Paranal auch Zeitmaschinen, die den Forschern den Weg zurück an den Beginn der Zeit selbst weisen. Der deutsche Astronom Bruno Leibundgut hat solche Sternwarten mit Klöstern verglichen, und das Buch Mekkas der Moderne (Schmundt u. a. 2010) stellt das Very Large Telescope zusammen mit Orten wie Cape Canaveral, Freuds Couch oder dem British Museum als Stät- ten der globalisierten Wissensgesellschaft und Pilgerorte der Fortschrittsmoderne vor. Als eine solche Pilgerstätte hat Benjamin auch die Pariser Passagen bezeichnet, wenn auch nicht der wissenschaftlichen, sondern der ökonomischen Modernisierung. Und auch in ihnen war es das Licht, durch das Benjamin sie als Zeitmaschinen verstand, die den Besucher zurück in eine längst vergangene Epoche der Menschheit führten: „Passagen – sie strahlten ins Paris der Empirezeit als Feengrotten. Wer 1817 die Passage des Panoramas betrat, dem sangen auf der einen Seite die Sirenen des Gaslichts und gegenüber lockten als Ölflammen Odalis- ken.“ (GS V/2, 700) 1 Benjamin bediente sich oft des Nomenpräfixes „Ur“, um den zeitlichen Antipoden zu bestimmen, auf den die Passagen verweisen. So bezeichnete er diese auch als „Urlandschaften der Konsumption“ (GS V/2, A°, 5), oder er charakterisierte den Warenkapi- talismus als „[…] anschauliches Urphänomen, […] aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insofern des 19. Jahrhunderts) hervorgehen“ (GS V/1, 573 f.). Und sicher- lich gehört Benjamins ausdrücklicher Hinweis darauf, dass die Arbeit an den Passagen „[…] unter einem freien Himmel begonnen worden [ist], wolkenloser Bläue […]“ (GS V/1, 571), ebenso mit in dieses Bild einer durch Licht und Durchsichtigkeit bestimmten Suche nach dem Ursprung entweder des Kosmos oder des modernen Menschen. Was dieser Vergleich sagen möchte: Die von Benjamin so genannte „Urgeschichte der Moderne“ ist sicherlich als Zeitmaschine geplant worden, in der das Licht Räume wie den 1 Das Sigel „GS“ bezieht sich auf: Benjamin (1991). Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Frankfurt/Main Angemeldet | 141.2.232.235 Heruntergeladen am | 07.07.14 15:43

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DZPhil, Akademie Verlag, 61 (2013) 2, 301–312

LITERATURESSAY

Walter Benjamin als Gemeinplatz

Auswege aus der Kristallisation der Benjamin-Rezeption von Lateinamerika aus

Von Ralph BuchenhoRst (halle/saale)

In der Atacama-Wüste im Norden Chiles steht auf dem Gipfel des Cerro Paranal das so genannte Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte. Die vier dort installierten Parabolspiegel sammeln – begünstigt durch die trockene Wüstenluft und über 300 sternen-klare Nächte im Jahr – Licht aus dem Weltall ein. Licht, das sich auf den Weg gemacht hat, als der Kosmos kaum eine Milliarde Jahre alt war. Somit sind die Teleskope auf dem Paranal auch Zeitmaschinen, die den Forschern den Weg zurück an den Beginn der Zeit selbst weisen. Der deutsche Astronom Bruno Leibundgut hat solche Sternwarten mit Klöstern verglichen, und das Buch Mekkas der Moderne (Schmundt u. a. 2010) stellt das Very Large Telescope zusammen mit Orten wie Cape Canaveral, Freuds Couch oder dem British Museum als Stät-ten der globalisierten Wissensgesellschaft und Pilgerorte der Fortschrittsmoderne vor. Als eine solche Pilgerstätte hat Benjamin auch die Pariser Passagen bezeichnet, wenn auch nicht der wissenschaftlichen, sondern der ökonomischen Modernisierung. Und auch in ihnen war es das Licht, durch das Benjamin sie als Zeitmaschinen verstand, die den Besucher zurück in eine längst vergangene Epoche der Menschheit führten: „Passagen – sie strahlten ins Paris der Empirezeit als Feengrotten. Wer 1817 die Passage des Panoramas betrat, dem sangen auf der einen Seite die Sirenen des Gaslichts und gegenüber lockten als Ölflammen Odalis-ken.“ (GS V/2, 700)1 Benjamin bediente sich oft des Nomenpräfixes „Ur“, um den zeitlichen Antipoden zu bestimmen, auf den die Passagen verweisen. So bezeichnete er diese auch als „Urlandschaften der Konsumption“ (GS V/2, A°, 5), oder er charakterisierte den Warenkapi-talismus als „[…] anschauliches Urphänomen, […] aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insofern des 19. Jahrhunderts) hervorgehen“ (GS V/1, 573 f.). Und sicher-lich gehört Benjamins ausdrücklicher Hinweis darauf, dass die Arbeit an den Passagen „[…] unter einem freien Himmel begonnen worden [ist], wolkenloser Bläue […]“ (GS V/1, 571), ebenso mit in dieses Bild einer durch Licht und Durchsichtigkeit bestimmten Suche nach dem Ursprung entweder des Kosmos oder des modernen Menschen. Was dieser Vergleich sagen möchte: Die von Benjamin so genannte „Urgeschichte der Moderne“ ist sicherlich als Zeitmaschine geplant worden, in der das Licht Räume wie den

1 Das Sigel „GS“ bezieht sich auf: Benjamin (1991).

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der Passagen durchquert, um unter dem Benjaminschen Teleskop eines dialektischen Materia-lismus als etwas weit Zurückliegendes sichtbar zu werden, das uns gleichwohl immer noch bestimmt. Der Vergleich zeigt indes auch, dass das Licht aus der Kinderstube des Kosmos nicht mehr in Europa eingesammelt wird, sondern in Südamerika. In Europa ist wegen des oft bedeckten Himmels und der Lichtverschmutzung durch die Beleuchtung urbaner Räume, Industrieanlagen und Skybeamer ein ungestörter Blick in den Nachthimmel unmöglich gewor-den. Die folgenden Überlegungen zielen darauf, das Benjaminsche Projekt der Urgeschichte der Moderne aus der Perspektive von Übertragungsphänomenen zwischen Europa und Latein-amerika zu untersuchen. Entscheidende Theoretiker des postkolonialen Diskurses wie Edward W. Said (Said 1994), Homi K. Bhabha (Bhabha 1994) und Dipesh Chakrabarty (Chakrabarty 2002) zitieren Benjamin, um ihre Vorstellung einer subalternen Geschichtsschreibung oder einer Permanenz der Übertragung zu unterstützen. In einer neueren Untersuchung unternimmt es Zahid R. Chaudhary, Benjamins Begriffe der Mimesis und der Konstellation auszuweiten, um sie in die Lage zu versetzen, einen Beitrag zur postkolonialen Problematik des gerechten Umgangs mit machterzeugter Heterogenität im Kontext einer westlichen, homogenisierenden Geschichtsschreibung zu leisten (Chaudhary 2012). Zu klären in diesem Zusammenhang wäre, inwieweit Benjamins Programm der Urgeschichte der Moderne das postkoloniale Programm der neueren Kulturwissenschaften wirklich unterstützt und wie die lateinamerikanische Rezep-tion darauf reagiert. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, welcher Zeit- und Raummaschi-nen es bedarf, um zwei Kontinente und ihre Geschichte miteinander zu verbinden und ihre prismatischen Brechungen des Lichts, das ja aus dem Abendland kommen soll, zu verstehen. Denn es könnte ja sein, dass die rückwärtige Gestalt der Dingwelt der Europäischen Moderne, die Benjamin interessierte, der Vorderansicht der Welt der lateinamerikanischen favelas des 20. und 21. Jahrhunderts gleicht, und damit die Peripherie und das kulturell Verdrängte sich heute selbst im Zentrum etabliert haben. Damit ergeben sich neue, grenzüberschreitende und hybri-de Identitätsmodelle, die ökonomischen und kulturellen Diskrepanzen im globalen Maßstab geschuldet sind (zur grenzüberschreitenden Staatsangehörigkeit vgl. Glick-Schiller 2005 und Souillac 2012; zu hybriden Identitäts- und Ausdrucksformen in Lateinamerika García Canclini 1990 und 2010). Und dem verschwiegenen, einsamen Tod Benjamins beim Überqueren der französisch-spanischen Grenze, der Port-Bou zu einem nahezu magischen (und deshalb mitt-lerweile zu einem Pilger-)Ort hat werden lassen, steht das profane und medial kaum erwähnte Sterben von Hunderten Mexikanern jährlich beim illegalen Überqueren der mexikanisch-us-amerikanischen Grenze gegenüber.

I. Benjamin als Gemeinplatz

Jürgen Habermas konnte einen 1972 verfassten Aufsatz über die Bewusstmachende oder rettende Kritik bei Benjamin mit dem Satz beginnen: „Auch in einem trivialen Sinne ist Benjamin aktuell: an ihm scheiden sich die Geister.“ (Habermas 1991, 336) Er hatte damals diejenigen Apologeten im Blick, deren scholastischer Eifer es wechselseitig unternahm, den „marxistischen“ vom „bürgerlichen“ oder vom „jüdischen“ Benjamin streng zu scheiden. Von dieser Scheidung kann heute wohl keine Rede mehr sein. Die Fronten, die Habermas damals in der bundesrepublikanischen Wirkungsgeschichte ausmachte, sind einer kaleidoskopischen, eher die netzwerkartigen Verbindungen als die Aporien in Benjamins Denken betonenden Auseinandersetzung gewichen. Nach der vor allem den 1970er Jahren vorbehaltenen inten-siven Phase der Erklärung, Adaptation und Kritik derjenigen Begriffe, mit denen Benjamins Denken unmittelbar identifiziert wurde – also Begriffe wie Aura, Allegorie, dialektisches

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Bild, Jetztzeit und messianische Stillstellung des Geschehens –, sind es jetzt entweder sach-liche Historisierungen und Rekontextualisierungen oder umfassend systematisch angelegte Untersuchungen, die die Arbeiten Benjamins in diese netzwerkartige Perspektive bringen. In einem vorletztes Jahr in Berlin veranstalteten Symposium zu Benjamins Aphoristik ging es hauptsächlich um die literaturwissenschaftliche Analyse von Benjamins Stil und um die Verbindung seiner Sozialanthropologie zu vergleichbaren Autoren wie Max Scheler, Ludwig Klages, Sigmund Freud, Carl Schmitt oder Georg Christoph Lichtenberg. Untersuchungen wie die von Michael Opitz und Erdmut Wizisla edierten beiden Bände zu Benjamins Begriffen (Opitz u. Wizisla 2000), das von Burkhard Lindner besorgte Benjamin-Handbuch (Lindner 2006) oder die posthum von Florent Perrier herausgegebene monumentale, zugleich biogra-phisch und systematisch angelegte Studie von Jean-Michel Palmier (Palmier 2006; dt.: 2009) veranlassen nun allerdings Beobachter auch, von einem Abschluss der Auseinandersetzung mit Benjamin zu sprechen. Zwar verweist man darauf, dass der Benjaminsche Materialismus und sein Interesse für die Gesamtheit der Objektwelt einen erheblichen Einfluss auf aktuelle Tendenzen der anglo-amerikanischen Cultural Studies und der Actor-Network-Theory haben (vgl. Ferris 2008). Auf der anderen Seite steht jedoch die Einschätzung des Altphilologen und Philosophiehistorikers Heinz Wismann, Palmiers Buch zeige nur, dass Benjamin den Sta-tus des vollständig wirkungslos gewordenen Klassikers eingenommen habe. In die gleiche Kerbe schlägt der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei seiner Besprechung der Palmier-Studie. Schon der Untertitel des Buches, so Wolfgang Matz, der die wohlbe-kannten Benjamin-Metaphern des Lumpensammlers, des Engels und des bucklicht Männleins zitiert, verweise es in die Benjamin-Apologetik (Matz 2010). Dieser Diagnose wäre auf den Grund zu gehen. Sie scheint von der berechtigten Annahme geleitet, dass es mittlerweile eine nicht mehr zu übersehende Geläufigkeit im Umgang mit dem Denken Benjamins gibt. Schon 1987 meinte Klaus Garber, inzwischen sei vieles zu Benjamin unendlich viele Male gesagt worden (Garber 1987, 183). Zu dieser Hypertrophie der ähnlich lautenden Erklärungen gehören die Argumente der Postmoderne-Diskussion, dass die traditionellen Erzählweisen unrettbar verloren seien, dass Erfahrungsgehalt und Wissens-erzeugung beim modernen Menschen einander unversöhnlich gegenüberstehen, dass unsere Medienwelt auratische Begegnungen zwischen Bildern und Rezipienten unmöglich gemacht habe und dass Benjamins Analysen des Films als revolutionäres Instrument in den Händen der Massen nicht einer gewissen Naivität entbehrten. Auch das Zitieren des Zusammenhangs von Kultur und Barbarei gehört mittlerweile unüberlesbar zu diesen Gemeinplätzen. Habermas hat 1985 die Geschichtsphilosophie Benjamins noch einmal aufgenommen und für das Projekt der Moderne diskutiert. In diesem Zusammenhang spricht er von einer dra-stischen Umkehrung von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum bei Benjamin (Habermas 1988, 24). Normativität erlange die Moderne nur, wenn sie ihren zukünftigen Handlungs-bedarf und ihre gegenwärtige Legitimität aus herbeigezogenen, bedürftigen Vergangenheiten ziehe. Diese Einsicht von Habermas warf ein Licht auf einen weiteren, jüngeren Gemeinplatz voraus. Dass die Geschichtsschreibung nicht den Siegern überlassen werden dürfe, dass die Besiegten, Gefolterten und in Lagern willkürlich Exekutierten eine Stimme und ein Recht haben, das Gesicht von Kulturen mitzubestimmen, ist eine Vorstellung, die tief in die aktuelle Geschichtspolitik vieler Staaten eingeschrieben ist und einen transnationalen Erinnerungs-diskurs ungeahnten Ausmaßes antreibt. Aber auch hinsichtlich dieses Diskurses wird von Erschöpfungssyndromen und Normierungsprozessen berichtet (zum Beispiel Hammerstein u. a. 2009, Molden u. Mayer 2009). Wie sieht es mit den Erschöpfungssyndromen und Nor-mierungsprozessen in der Rezeption Benjamins aus? Gibt es nicht auch hier eine Entwick-lung, bei der Erwartungshorizont und Erfahrungsraum in der Lektüre seiner Schriften ausein-

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anderklaffen? Braucht es nicht eine Lektüre von außen, von der Peripherie aus, um ihr neue Eindrücke und Fragestellungen zuzuführen? Neuere Untersuchungen beabsichtigen, dieser Geläufigkeit aus dem Weg zu gehen und weisen mittlerweile in eine andere Richtung. Sie distanzieren sich sowohl von der weitver-breiteten Praxis, Benjamin selbst mit seinen allegorischen Gestalten zu identifizieren, als auch von der nahe liegenden Alternative, einen theoretisch komplexen, stilistisch hyperindividu-ellen Autor zu mythologisieren. Sie verweisen darauf, dass eine bloß interne Vermittlung der Benjaminschen Sinnschichten nicht mehr ausreicht, um die Aktualität Benjamins zu bewei-sen. In einer forciert sich globalisierenden Gesellschaft steht die Frage an, ob Benjamins kritische Kraft hinreicht, in der konfliktreichen Vermittlung unterschiedlicher Kulturen als Instrument des Verstehens der Peripherie zu fungieren. Vielleicht besteht deshalb die aktuelle Aufgabe darin, Benjamins Text in die periphere Fremde zu tragen und danach zu fragen, wie er dort übersetzt, abgewiesen oder einverleibt wird. Vielleicht geht es jetzt darum, Benja-mins Zeit- und Raumbegriff kritisch zu hinterfragen. Wahrscheinlich reicht es nicht mehr, seine Idee der messianisch inspirierten Aufsprengung des Geschichtskontinuums schlicht zu erklären und seine das Mediale mitdenkenden Streifzüge durch Großstädte wie Paris oder Moskau nachzuverfolgen. Benjamin hat weder Fragen einer Neuinterpretation des Zeitgefü-ges durch die Konfrontation mit den Folgen der Kolonisation gestellt, noch konnte er uns auf die Raumdimensionen vorbereiten, die uns durch die neuen Hyperstädte Mexiko City, Sao Paulo und Tokio aufgegeben sind (Buchenhorst u. Vedda 2010; zur komplexen literarischen Beschreibung von Sao Paulo siehe Brandão 1982 und Ingenschay 2004). Und trotzdem bleibt Benjamin in Lateinamerika ein populärer, politisch relevanter Autor. Welches sind die Über-tragungsmechanismen, die ihn dort installieren und lokal anpassen?

II. Wie Benjamin in andere kulturelle Zusammenhänge übersetzen?

Als Ausgangsfrage ist zu stellen, wie Benjamin linguistisch in andere Sprachen übersetzt wird, ohne dabei zu vergessen, dass jede sprachliche Übersetzung in ihrem jeweiligen sozia-len und kulturellen Kontext aufzusuchen ist. Bei der Analyse der transatlantischen Über-tragungsarbeit der Schriften von Benjamin geht es nicht nur um Sprache, sondern auch um kognitive, normative und materiale Elemente urbaner Kulturen, die auf Wanderung gehen. Wenn Siegrid Weigel die Berücksichtigung und treue Übertragung der inneren Logik der dialektischen Bilder Benjamins fordert, dann ist sie damit scheinbar völlig im Recht. Sie verweist darauf, dass viele Übersetzungen der Texte Benjamins zwei problematische Seiten haben: Sie verkennen, dass die Benjaminschen dialektischen Bilder eine Konstellation dar-stellen, in der die Heterogenität von Intelligiblem und Sinnlichem zusammentritt (Weigel 2001, 60), und sie verbergen die Übertragung zwischen verschiedenen Bedeutungssystemen in einer „Übersetzungspolitik totaler Assimilation“ (ebd., 51). Dem entgegen fordert Weigel die Markierung, die Sichtbarmachung jenes Abarbeitens an symbolischen Differenzen. Die Unübersetzbarkeit komplexer Sinnschichten im Deutschen sei zum Beispiel durch die Beigabe des deutschen Originals im übersetzten Text auszuweisen. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Christopher Rollason. Für ihn stellt die englische Übertragung des Passagen-Werks, die die französischen Zitate durch einen, die deutschen Kommentare Benjamins durch einen anderen Übersetzer ins Englische bringt, die unabding-bare Voraussetzung für die notwendige Globalisierung von Benjamins Ideen dar (Rollason 2007, 5). Man sieht, dass es über die innere Logik des Benjaminschen Textes hinaus eine zweite Logik der transkulturellen Lesarten gibt, und da wir über keine Metalogik verfügen,

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die den interkulturellen Verkehr von Kulturgütern regelt, ist auch kein gerechtes Urteil über die richtige Lesart zu fällen. Jede rüde, rücksichtslose, einverleibende Aneignung der Meta-phern Benjamins ist zu respektieren, und vielleicht scheint ja aus solchen Inbesitznahmen ein messianisches Licht, das aus einer europäischen Perspektive heraus nicht wahrnehmbar wäre. Diejenige Position, die mir hinsichtlich der Übersetzungstheorie meistversprechend erscheint, wird zum Beispiel von Alfred Hirsch vertreten (Hirsch in Lindner 2006, 609–625). Auch Hirsch moniert Übersetzungsfehler der englischen Übertragung des Essays über die Aufgabe des Übersetzers. Aber er interpretiert solche Fehler als verdeutlichend und freile-gend. Diese überraschende, paradoxe Kennzeichnung ist es wert, ausgedeutet zu werden. Sie rechnet nicht nur mit Übersetzungen – guten und fehlerhaften –, sondern immer auch mit Beobachtern und Kommentatoren dieser Übertragungen. Ein Fehler erscheint nicht als Scheitern oder Schuld, sondern als Chance oder Verweis. Deshalb gibt es am Ende auch kei-ne schlechten Übersetzungen, sondern nur solche, die weniger oder mehr Hinweise bereits enthalten oder noch herausfordern. Hirschs Hinweise selbst geben ein Beispiel dieser Bezie-hungen. Nehmen wir eine Stelle des Aufsatzes über die Aufgabe des Übersetzers heraus, in der Benjamin die Arten des Meinens der einzelnen Sprachen als Bruchstücke einer größeren Sprache betrachtet und diese als einander anzubildend versteht, wie beim Zusammensetzen eines gebrochenen Gefäßes. Der englische Übersetzer scheint mit Wendungen wie „to be glued together“ und „match“ das Bruchstückhafte, das gerade betont werden soll, zu verde-cken. Was verhindert jedoch, so könnte man Hirsch fragen, beim Bild des Aneinanderklebens die hässlichen, ungeschickt zusammengefügten Bruchstellen mitzudenken und bei „match“ die Bedeutung „a thing able to provide competition for another“, also einen Sinn, in dem die einzelnen Worte in einen Wettbewerb eintreten? Es gibt ja auch vom Sinn des Bruchstückhaften in Benjamins Übersetzungsbegriff keine vollendete, eigentliche Auffassung. Man kann also, ohne dass sie sich widersprechen, Vor-stellungen des Zusammengeklebten, Gegenstehenden, Konkurrierenden und Anzubildenden nebeneinanderstellen. Wenn wir, wie Paul de Man sagt, keine Kenntnis von jenem Gefäß haben, das den Urtext darstellt (De Man 1997, 207), dann haben wir auch keine Kenntnis der eigentlichen Bedeutung des Bruchstückhaften bei Benjamin.2 Wir können uns ihm nur in wechselnden geographischen, kulturellen und sprachlichen Perspektiven annähern, indem wir das Gefäß so nehmen, wie Derrida es uns erklärt, als etwas Offenes, das die Vorstellung einer zu guter Letzt erreichten Ganzheit verbietet (Derrida 1997, 147). Denn niemand kann ja versichern, dass die ahistorische, messianisch reine Sprache Benjamins eine einzige, unend-lich transparente Sprache sei. Vielleicht ist sie ja eine besondere Konstellation aller natür-lichen Sprachen, innerhalb derer wir die Fremdheit jeder einzelnen in vollendet verständliche Eigenheit verwandeln können.

III. Benjamin im lateinamerikanischen Kontext

Aus der fragmentarischen Korrespondenz zwischen Benjamin und dem gleichfalls vor dem Nationalsozialismus geflüchteten und in Istanbul eine neue akademische Heimat findenden Erich Auerbach erfahren wir, dass dieser Benjamin für eine Professur an der neueingerichte-ten Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität São Paulo vorgeschlagen

2 Dies bedeutet keinesfalls, Respekt- oder Gedankenlosigkeiten der inneren Logik der Benjaminschen Argumentation gegenüber kritiklos hinzunehmen. Es geht vielmehr darum, wechselnde Bezüge die-ser Logik zu realen Machtkonstellationen zu überprüfen.

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hatte, eine Vermittlung, die leider keine Früchte trug (Barck 1992). Sehen wir zu, wie Benja-min über die Rezeption seiner Texte nachträglich den Weg nach Lateinamerika gefunden hat. Die vorliegende Arbeit will keine erschöpfende Analyse dieser Rezeption sein; sie beschränkt sich daher auf die beiden wichtigsten südamerikanischen Länder, Brasilien und Argentinien (als weitere Beispiele für diese Rezeptionsgeschichte siehe Forster 2003, 2009; Gagnebin 1982, Ortiz 2000, Vedda 2008; Überblicke liefern Wamba Gaviña 1999, Pressler 1999). Die Analyse der Rezeptionsgeschichte von Benjamins Texten erfüllt ein innerstes Anlie-gen Benjamins selbst, nämlich einer Theorie des geschichtlichen Gehalts von Werken und Materialien zuzuarbeiten, die die Bewusstseinssteigerung durch aktualisierende Lektüre, Handhabung und Kritik erfasst. Eine solche Bewusstseinssteigerung gelingt nur, so behauptet die vorliegende Untersuchung, wenn nicht nur das begriffliche Spektrum der Rezeption erweitert wird, sondern auch die Rezeptionsrichtung. Sie darf nicht nur von Europa aus den Weg zu anderen Kontinenten finden, sondern muss auch von dort hierher zurückgelangen. Dies ist jedoch in der Realität keinesfalls zu beobachten, und so gilt heute hinsichtlich des Wissens- und Machttransfers auch nach 18 Jahren noch die Einschätzung des brasilianischen Benjamin-Forschers Günter Karl Pressler: „,Kolonisation‘ […] nach wie vor.“ (Pressler 1999, 1338) Pressler fordert deshalb, die Spuren der Lektüre von Benjamins Texten nicht nur in Moskau, Paris, Berlin und Marseille, sondern auch in São Paulo, Belém, Buenos Aires, Mexi-ko City und Lagos zu verfolgen (ebd., außerdem Pressler 2006, siehe auch Bock 2010). Die vorliegende Arbeit unterstützt diese erweiterte Rezeptionsperspektive vorbehaltlos. Horst Nitschack hat in einem Artikel die Rezeptionsgeschichte der Werke Benjamins in Lateinamerika eine „widersprüchliche Erfolgsgeschichte“ genannt (Nitschack o. J.). Sicher-lich misst sich der Erfolg an der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Literatur über den Autor, eine Auseinandersetzung, die alle von Benjamin selbst behandelten akademischen Disziplinen – also Geschichtsphilosophie, Kunst- und Medienkritik, Sozialtheorie, jüdisches Denken und marxistische Gesellschaftskritik – betrifft. Worin jedoch besteht die von Nit-schack erwähnte Widersprüchlichkeit? Auf den ersten Blick weichen die Profile, die Nitschack für die lateinamerikanische Diskussion herausarbeitet, kaum von denjenigen der europäischen Rezeption ab: Benjamin erscheint dort als alternativer Denker des Marxismus, als Theoretiker der Moderne und der Großstadt, als Literatur- und Medienkritiker, als Referenz für die Memoria-Debatte, schließ-lich als Theoretiker interkultureller Übersetzung. Spezifisch lateinamerikanisch wird die Les-art Benjamins dort, wo sie seine Texte auf lokale Eigenheiten bezieht, die derart in Europa nicht anzutreffen sind. Als Region, die aus politischen Vorbedingungen heraus historisch weder dem sowjetischen noch dem US-amerikanischen Modell der gesellschaftlichen Moder-nisierung verpflichtet ist, sucht Lateinamerika oft Optionen eines dritten Weges. Zudem führt die explosionsartige Urbanisierung zur naturwüchsigen Ausdehnung von Megastädten, die Europa in keiner Weise kennt. Schließlich sind es vor allem die von Mitte der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre hinein andauernden Militärdiktaturen (Brasilien 1964–1985; Argentinien 1976–1983; Chile 1973–1989; Paraguay 1954–1989), die die Räume bestimmen, in denen die Benjamin-Rezeption stattfinden konnte oder gezwungenermaßen ausfallen musste. Dabei entwickelt sich der Wille, eine spezifisch lateinamerikanische Lesart auszuprägen, und genau hier finden wir dann jene Widersprüchlichkeit, die für Nitschack die subkontinen-tale Benjamin-Rezeption ausmacht. Auf der einen Seite halten Autoren wie der spanisch-kolumbianische Medientheoretiker Jesús Martín-Barbero die respektlose Aufnahme von europäischen kanonisierten Autoren wie Benjamin für eine Chance: „Diese Respektlosigkeit ermöglichte es uns, Lektüren von Autoren und Büchern zu verbinden, deren gegenseitige Annäherung eine Blasphemie oder eine Sinnlosigkeit dargestellt hätte. Sie ermöglichte uns,

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ungeordnet zu lesen, gewisse Chronologien zu unterminieren, die normalerweise verbieten, in einer unzeitgemäßen Lektüre neue Sinn- und Gegensinnspiele zu etablieren.“ (Martín-Bar-bero u. Herlinghaus 2000, 165, meine Übersetzung, R. B.) Die Kehrseite dieser anarchischen Rezeption kommt in folgender Kritik der argentinischen Kulturtheoretikerin Beatriz Sarlo zum Ausdruck: „Die Benjamin-Lektüre […] hat zu einer Art Theorie-Erosion geführt, die die Originalität Benjamins bis zur Grenze absoluter Banalisierung untergräbt. Zum mindesten hat dies zu einer semantischen Verarmung geführt. Benjamin wird in einen rein lexikalischen Sirup getunkt: man zitiert ihn, als ob das Zitat an sich schon einen neuen Sinn hinsichtlich verschiedener Kontexte produziert, wie es dies Benjamin selbst, aber erst nach einer inten-siven kompositorischen und historischen Arbeit, leistete.“ (Sarlo 2000, 79–80, meine Über-setzung, R. B.) Man sieht, das oben geschilderte Problem der literarischen Übersetzung der Texte Benjamins kehrt auf der Ebene der interkulturellen Einbindung wieder. Der letzte Abschnitt der vorliegenden Untersuchung wird sich auf eine Sichtweise kon-zentrieren, die Benjamins Denken selbst in dieses Übertragungsszenario einrichtet und, wie man gleich sehen wird, in keiner Weise Gegenstand von Sarlos Kritik werden könnte. Der brasilianische Germanist Willi Bolle hat in einem richtungsweisenden Aufsatz die Notwendig-keit betont, Benjamin im Rahmen einer transkulturellen Beziehungsgeschichte als Kritiker der europäischen Machtzentren zu lesen und die Frage zu stellen, ob seine Einsichten auf die peri-pheren und durch Megastädte gekennzeichneten Kulturen Lateinamerikas anwendbar sind. Aus der Übertragungsperspektive erscheint diese Fragestellung zentral, weil sie Benjamins Rezep-tion in die Konstellation interkultureller Übertragungsprozesse einfügt. Bolle zeigt, dass das Benjaminsche Paris auch als Zentrum eines Kolonialreichs gelesen werden kann, und er sucht entsprechend diejenigen, bis heute unveröffentlichten Aufzeichnungen Benjamins auf, die sich mit diesem Sachverhalt auseinandersetzen (vor allem das Fragment J54a,7). Alle von Bolle zitierten Fragmente zeigen, auf welch unübersehbare Weise die koloniale Macht in Paris sich manifestierte. Und trotzdem wurde diese Macht in den kulturellen und materiellen Zeugnissen dieser Zeit oft nur indirekt sichtbar. Es wird zum Beispiel immer wieder darauf hingewie-sen, dass Picassos bahnbrechendes Gemälde Les Demoiselles d’Avignon (1907), das als Grün-dungswerk des Kubismus gilt, durch einen Besuch des Künstlers im Musée d’Ethnographie am Trocadéro in Paris inspiriert wurde, wo er auf rituell verwendete Punu- und Fang-Masken aus Gabun stieß. Das Gemälde spielt jedoch in keiner Weise auf die Tatsache an, dass die Masken durch Raub zu einer Zeit in die Pariser Museen kamen, als Frankreichs koloniale Interessen in Afrika zur Eroberung von Kamerun, Togo und Französisch-Westafrika führte und afrikanische rituelle Gegenstände entweder als Beutestücke oder als Repräsentationen kanni-balischer Lebensweise in der Tagespresse vorgeführt wurden. Die eurozentrische Sicht kondi-tioniert also von vorneherein die Aufnahme und Interpretation der kolonialisierten Kulturen. Deshalb kann es nicht überraschen, dass Bolle diese Sichtweise auch in einer berühmten Stelle aus Benjamins erstem Entwurf zum Passagen-Werk entdeckt. Die Stelle lautet wie folgt: es gelte, „[…] Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffnen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grau-en anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aber aller Boden mußte einmal von der Vernunft untermischt, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden. Dies soll für den des 19ten Jahrhunderts hier geleistet werden.“ (GS V/1, 570 f.) Bolle arbeitet nun energisch heraus, wie Benjamin selbst hier in die Rolle des Kolonialisten zurückfällt. Entspre-chend charakterisiert er diese Stelle als „blind passage“ im Passagen-Werk (Bolle 2009, 229) und plädiert am Ende seines Textes für einen Dialog mit dem primitiven, peripheren und dem westlichen Logos nicht entsprechenden Denken und nicht für dessen Urbarmachung mit der europäischen Axt der Vernunft (ebd., 245).

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IV. Kulturelle Globalisierung und lokale Identität in Lateinamerika

Vielversprechend erscheint mir auch die Gegenüberstellung der Kulturkritik Benjamins mit der Frage nach einer lokalen Identität lateinamerikanischer Kulturen. Es ist in keiner Weise zufäl-lig, dass der brasilianische Lyriker, Übersetzer und Literaturtheoretiker Haroldo de Campos (1929–2003) seinen Essay mit dem Titel Von der anthropophagischen Vernunft: Dialog und Differenz in der brasilianischen Kultur durch folgendes Zitat Benjamins einleitet: „Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüs-tet.“ Diese Allegorie stammt aus der Aphorismensammlung Einbahnstraße, und dort aus einem Abschnitt mit der Überschrift „Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“ (GS IV/1, 108), eine Technik, die Literaturkritik als Anthropophagie ihres Gegenstands versteht. Die brasilianische Anthropophagie hat anderes im Sinn. Ein Vorgänger De Campos’, der brasilia-nische Autor und Mitbegründer des Modernismo Oswald de Andrade deutet es in seinem Manifiesto Antropófago von 1928 an, das folgende Datierung trägt: „Año 374 de la Deglu-ción del Obispo Sardinha (Im Jahre 374 des Hinunterschlingens des Bischofs Sardinha)“.3 De Campos und de Andrade definieren den Gegenstand der brasilianischen Anthropophagie als die Gesamtheit der europäischen Kultur, an der sich die lateinamerikanische nähren soll. Außerdem wird durch das Verspeisen Raum freigemacht für die Entfaltung einer eigenen, nationalen Kultur. De Campos beschreibt die Technik de Andrades folgendermaßen: „[…] es ist das Denken eines kritischen Verschlingens des universalen kulturellen Erbes, entwi-ckelt nicht über die demütige und ausgesöhnte Perspektive des ‚guten Wilden‘ […], sondern aus derjenigen ungehörigen des ‚bösen Wilden‘, Verschlinger von Weißen, Kannibale. Es schließt keine Unterwerfung ein (eine Katechese), sondern eine Transkulturation, oder bes-ser: eine Umwertung […].“ (De Campos 2000, 4, Übersetzung von mir, R. B.)4 Der Hun-ger des europäischen Literaturkritikers bezieht sich auf einzelne Bücher, auf die, die er als wehrlos erachtet und die seine Überlegenheit demonstrieren. Der Lateinamerikaner dagegen verschlingt das Andere schlechthin, das sich ihm riesenhaft gegenüberstellt und das er sich einverleibt, weil der böse Wilde gegenüber dem europäischen Universalerbe einen entschei-denden Vorteil hat: den des natürlichen Überlebensinstinkts und der scheinbaren Irrationa-lität des Urwaldbewohners – der er schon längst nicht mehr ist. Während der Säugling dem Literaturkritiker die innerkulturelle, hilflose Gourmet-Version seines Menüs darstellt, wählt der Lateinamerikaner anders: „Er verschlang nur diejenigen Feinde, die er als beherzt/herz-haft (valiente) einschätzte, um sich durch ihre Proteine und ihr Mark zu kräftigen und seine natürlichen Kräfte zu erneuern.“ (De Campos 2000, 4, Übersetzung von mir, R. B.)5 Dieses Denken rüstet sich keine Säuglinge zu, sondern seine kolonialisierenden Urgroß- und Groß-väter.

3 Im Jahr 1556 wurde der erste Bischof Brasiliens, der Portugiese Pedro Fernandes Sardinha aus Evora, mitsamt allen anderen Passagieren, die sich nach einem Schiffbruch in Brasilien an Land hatten retten können, von Einheimischen des Stammes Caete verspeist.

4 Der Autor hat, da das portugiesische Original nicht zur Verfügung stand, von der spanischen Über-setzung her übertragen. Die Passage lautet im Spanischen: „[…] es el pensamiento de la devoración crítica del legado cultural universal, elaborado no a partir de la perspectiva sumisa y reconciliada del ,buen salvaje‘ […], sino según el punto de vista insolente del ,mal salvaje‘, devorador de hombres blancos, antropófago. No involucra una sumisión (una catequesis), sino una transculturación; o, mejor aún, una ,transvaloración‘ […].“

5 „Sólo devoraba a los enemigos que consideraba valientes, para sacarles la proteína y el tuétano para robustecer y renovar sus propias fuerzas naturales.“ (Siehe Fußnote 2)

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Aber De Campos weist in seiner Untersuchung noch auf einen weiteren, vielleicht noch ent-scheidenderen Unterschied zwischen der europäischen und der lateinamerikanischen Umdeu-tung der Kulturgeschichte hin. Er entwickelt diesen Unterschied anhand der Untersuchung einer historischen Epoche, die auch für Benjamins Denken entscheidend war: den Barock. Für den Europäer Benjamin war das barocke Trauerspiel die Möglichkeit, in der eigenen kultu-rellen Entwicklung auf eine historische Epoche hinzuweisen, die eine Sensibilität gegenüber spielerischen Sinnverschiebungen entwickelte, die der Idee eines eindeutigen Ursprungsbezugs ein Schnippchen schlug und der Geschichtsschreibung des Scheiterns Ausdruck verlieh. Für de Campos ist der Barock in Brasilien zwar ebenfalls, wie für Benjamin, die Epoche des Denkens des Nicht-Ursprungs und der Sinnverschiebungen, aber auch hier wieder in einem anderen Sinne, nämlich in dem des Überspringens der Kindheit und des sofortigen Erwachsenenwer-dens (ebd., 8). Die brasilianische Dichtung sei, so De Campos, direkt in einen universalen, komplexen Code hineingeboren worden. In einer überraschenden Wendung zeigt de Campos nun, welche Konsequenzen dieser Sprung hatte: „[…] der ‚Wechselstrom‘ des brasilia nischen Barocks war ein zweifaches Sagen des Anderen als Differenz: das Sagen eines Kodex des Andersartigen und ein Sagen unter andersartigen Bedingungen.“ (ebd., 10, Übersetzung von mir, R. B.)6 Die entscheidende Differenz gegenüber dem europäischen barocken Dichter ist also die zweite Differenz. De Campos verweist uns darauf, dass die Benjaminsche Idee der allegorischen Differenzerzeugung ungenügend, unvollständig ist. Erst wenn man sowohl das Andere sagt als auch es als Anderer sagt, als Brasilianer in Portugal, als Kritiker der Kirche, als Kolonisierter, als Exilierter in Angola, hat man den existenziellen Sinn der barocken Asymme-trien und Verschiebungen wahrhaft erfahren. Mit Gregório de Mattos und Sor Juana präsentiert er zwei barocke Dichter des Subkontinents, die diese zwei Differenzen gelebt und literarisch reflektiert haben. Sie gehören somit zu den ersten Vertretern lateinamerikanischer Literatur, die die anthropophagische Vernunft einsetzen, um den abendländischen Logozentrismus doppelt zu dekonstruieren: poetisch im Innern des barocken Diskurses und existenziell als Dichter, die ihn sich von außen aneignen müssen. Damit leisteten sie eine für die damalige kreolische Elite typische Übersetzungsarbeit: Sie übertrugen das koloniale europäische Barockethos in das kontinentale respektive jeweilige nationale lateinamerikanische Ethos. Auch der argen-tinische Semiotiker und Literaturtheoretiker Walter Mignolo unterscheidet entsprechend zwei Versionen des Barock im kolonisierten Lateinamerika: die aus Spanien und Portugal kopierte und in das neue kulturelle Umfeld transplanierte Version des Barock und die kritische Version, intendiert als Protest gegen die sozial und ökonomisch marginalisierten Kreolen und Indigenen:

„It was, properly, a ‚Baroque Other‘, a heterogeneous historico-structural moment in the complex structure of the modern/colonial world. It was the moment in which, after the final defeat of the Indigenous elites at the beginning of the seventeenth century, the emerging Creole population felt the colonial wound and took over the conflict of the difference, the colonial difference, racial, political, social, and economic.“ (Mignolo 2005, 62)

Das kritische kreolische Bewusstsein war damit ein doppeltes: das eines Pflichtbewusstseins zur apologetischen Übernahme einer Idee des autonomen europäischen Subjekts und das sich eman-zipierende Bewusstsein von den Machtstrukturen, die der Kolonialismus mit sich brachte und die zur kulturellen Adaption zwangen (zur Weiterentwicklung dieses Gedankens siehe auch Mignolo 2011).

6 „[…] la ‚corriente alterna‘ del barroco brasílico era un doble decir de lo otro como diferencia: decir un código de alteridades y decirlo en condición alterada.“ (Siehe Fußnote 2)

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De Campos’ Essay, der mit einem Zitat Benjamins begann, schließt mit einem Zitat Goethes: „Eine jede Literatur ennuyiert sich zuletzt in sich selbst, wenn sie nicht durch fremde Teil-nahme wieder aufgefrischt wird.“ (Ebd., 23) Manchmal reicht jedoch eine fremde Teilnahme nicht aus. Dann müssen die Literaturen hinübergetragen werden in das jeweils Andere, ohne sicher gehen zu können, dass sie dort respektvoll aufgenommen werden. Sie stehen dann in der Gefahr der feindlichen Übernahme, die ihre inneren Machtstrukturen freilegt. Soviel Gefahr muss womöglich sein, um eine Frische zu erreichen, die die Möglichkeit eröffnen könnte, das europäische Bewusstsein zu überraschen.*

PD Dr. Ralph Buchenhorst, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Ethno-logie, Reichardtstraße 11, 06114 Halle/Saale

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* Der Text stellt eine überarbeitete Version eines Vortrags dar, den der Autor am 29. Juni 2010 im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin im Rahmen des Internationalen Symposiums Benjamin im Kontext. Walter Benjamins ‚Urgeschichte des 19. Jahrhunderts‘ im Spiegel der aktuellen lateiname-rikanischen und europäischen Rezeption gehalten hat. Für die Kommentare und kritischen Anmer-kungen der Teilnehmer möchte ich mich hiermit herzlich bedanken.

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Abstract

The study at hand critically approaches tendencies of routine and sluggishness in the recent reception of Walter Benjamin’s writings, highlighting and explaining apologetic interpretations in studies which limit themselves to explain the internal logic of Benjamin’s concepts. To that end, it first casts a glance at the debate on how to faithfully translate these concepts. In a second step, it scrutinizes contributors to subaltern studies who use elements of Benjamin’s “pre-history of modernity” in their attempt to uncover historical differences in the process of globalization. To examine their strategies, the present article draws on Latin American perspectives on Benjamin and their attempts to globalize and de-colonize his work.

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