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1 Buenos Aires 1920–1930: Prosperität, Differenz und Durchmischung im „París de Sudamérica“ The Open City and the Historical Context ...Points of Observation #2 Verkehrsstau in der Calle Florida, 1920* Repräsentative Avenidas mit klassizistischen Fassaden, überfüllte Straßen, Nobelkarossen im Stau, Sprachgewirr, Menschen aus aller Herren Länder, distinguierte Großbürger, vornehme Damen, dazwischen Handwerker, Schuhputzer, Tangotänzer, Prostituierte und Tagediebe, Prosperität und Kultur, Carlos Gardel und Victoria Ocampo, vor allem aber immer wieder Schiffe mit Auswanderern aus Übersee – das sind die Bilder, Namen und Assoziationen, die man spontan mit dem Buenos Aires der 1920er und frühen 1930er verbindet. ___ *Anmerkung zu den Bildquellen: Alle Bilder ohne Quellenangaben sind gemeinfrei

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Buenos Aires 1920–1930: Prosperität, Differenz und Durchmischung im „París de Sudamérica“

The Open City and the Historical Context ...Points of Observation #2

Verkehrsstau in der Calle Florida, 1920* Repräsentative Avenidas mit klassizistischen Fassaden, überfüllte Straßen, Nobelkarossen im Stau, Sprachgewirr, Menschen aus aller Herren Länder, distinguierte Großbürger, vornehme Damen, dazwischen Handwerker, Schuhputzer, Tangotänzer, Prostituierte und Tagediebe, Prosperität und Kultur, Carlos Gardel und Victoria Ocampo, vor allem aber immer wieder Schiffe mit Auswanderern aus Übersee – das sind die Bilder, Namen und Assoziationen, die man spontan mit dem Buenos Aires der 1920er und frühen 1930er verbindet. ___ *Anmerkung zu den Bildquellen: Alle Bilder ohne Quellenangaben sind gemeinfrei

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Die argentinische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Beatriz Sarlo sieht hier eine symbiotische Verwebung von Stadt und Moderne, die sich im Zusammentreffen ästhetischer Avantgarden und ökonomischer Neustrukturierungen sowie der breiten Durchsetzung eines modernen Lebensstils äußert. Die gleichzeitigen Veränderungen der urbanen Landschaft und der Lebensweise ihrer Bewohner machen – so Sarlo (1988) – die Stadt als physischen Raum und kulturellen Mythos interessant. Für diese Prozesse im Buenos Aires jener Zeit sind drei Faktoren konstitutiv: erstens ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung, zweitens die Hegemonie europäischer Kulturimporte bei, drittens, erheblichen Differenzen sowohl innerhalb der verschiedenen europäischen Kulturen als auch zwischen diesen und anderen außereuropäischen Elementen. Diese Differenzen führen zu unterschiedlichen Formen der Durchmischung, die seinerzeit unter dem Stichwort „Melting Pot“ als typischem Paradigma der Moderne (Park/Burgess/McKenzie 1925), in der poststrukturalistischen Ära unter dem Begriff der „kulturellen Hybridisierung“ (Hall 1999) diskutiert werden. Ist diese spezifische Dreieckskonstellation vielleicht dazu geeignet, Idealbedingungen für das Projekt der Offenen Stadt zu stellen? Um diese Frage zu erörtern, ist es erforderlich, sich zunächst einmal den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeleiteten sozioökonomischen Prozessen zuzuwenden, mit denen die Weichenstellungen für die umfassenden gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen erfolgten. Vorgeschichte: Demografische und wirtschaftspolitische Dynamik seit 1853 Nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien 1816 und der Beilegung diverser interner Konflikte und Unruhen, waren die argentinischen Führungseliten bestrebt, das Erbe der Kolonialzeit abzustreifen, die Nation zu stabilisieren sowie das Land wirtschaftlich zu entwickeln und aus seiner agrarischen Prägung und Rückständigkeit herauszuholen. Das „Heilmittel“ sah man dabei in der Ansiedelung von europäischen Einwanderern im großen Stil. Man wollte nicht nur von deren technischen Fachkenntnissen profitieren, sondern war auch fest von ihrem zivilisierendem Einfluss auf die angestammte Bevölkerung überzeugt. „Wollen wir […] die englische Freiheit, die französische Kultur, die Arbeitsamkeit des Menschen aus Europa und den Vereinigten Staaten pflanzen und heimisch machen? Wir sollten die lebenden Keime davon importieren, die die Auswanderer mit ihren Traditionen verkörpern, und sie hier wurzeln lassen“, schreibt Juan Bautista Alberdi – „Vater“ der ersten Nationalverfassung von 1853. In Artikel 20 dieser nach amerikanischem Vorbild entworfenen Verfassung wurde die Förderung europäischer Zuwanderer inklusive steuerlicher Begünstigung verankert. Damit stand ihnen auch die Stadt Buenos Aires zunächst einmal, in ganz direktem Wortsinn, als Tor zum Neubeginn offen. Wie unmittelbar sich aber die argentinische Einwanderungspolitik auf die Ideale der französischen Revolution bezog – laut Angelus Eisinger (2009) eine der beiden Grundbedingungen des Open-City-Projekts –, zeigt sich auch noch 1918 an einer Äußerung des späteren Präsidenten Bernardino Rivadavia: Die massenhafte europäische Einwanderung sei das wirksamste Mittel zur Stabilisierung der Bevölkerungsstruktur, „welche die einzige solide Basis der Gleichheit, der Freiheit und folglich des Wohlstandes einer Nation“ darstelle (zit. n. Oelsner 2007).

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Diese Politik blieb nicht ohne Wirkung. Erwerbsbevölkerung und Unternehmer in Europa wurden tatsächlich von den Werbekampagnen aus Übersee angesprochen. Es kam zu mehreren großen Einwanderungswellen, sodass die Einwohnerzahl der Stadt, die sich von ca. 50.000 um 1816 bis 1853 bereits fast verdoppelt hatte, bis zu Jahrhundertwende noch einmal verzehnfachte: 1906 war die Millionengrenze überschritten, Ende der 1920er-Jahre die Zweimillionengrenze und erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich die Einwohnerzahl bei knapp drei Millionen einzupendeln.1 Zwischen 1880 und 1930 kamen fast sechs Millionen Einwanderer nach Argentinien. Davon blieben nicht alle in Buenos Aires, zumal ihnen im Hinterland Brachflächen für Industrie und Agrarwirtschaft in Aussicht gestellt worden waren. Nach dem Scheitern einer geplanten Landreform kamen aber zahlreiche dieser Immigranten in die Stadt zurück. Wengleich sich auch mittelose Landarbeiter und Gauchos zu ihnen gesellten, war der Ausländeranteil in Buenos Aires mit vier Fünftel gegen Ende des 19. Jahrhunderts extrem hoch. Insgesamt stammten 40 Prozent der Bevölkerung aus Italien, die zweitgrößte Gruppe bildeten die Spanier. Es hatten sich aber auch Franzosen, Briten, Iren, Deutsche, Österreicher, Schweizer, Belgier, Holländer, Portugiesen, Russen sowie zahlreiche andere Immigranten hier niedergelassen. Diese Strukturen spiegelten sich nun auch im Aufbau neuer Wirtschaftszweige in Buenos Aires und dem Hinterland wider. So stand die Entwicklung der Nudelproduktion im Zusammenhang mit den italienischen, die der Hutfabrikation mit den französischen, der Molkereien und Schafzucht dagegen mit baskischen und irischen Einwanderern. Um die Jahrhundertwende waren die Eigentümer und Beschäftigten in Industrie und Handwerk zu etwa 80 Prozent ausländischer Herkunft, in der Textilindustrie waren 1895 nur 12 Prozent der Arbeitgeber Argentinier (Oelsner 2007).

Karikatur der Bevölkerungsstruktur nach Nationalitäten, v.l.n.r.: Italiener, Spanier, Franzosen, Deutsche, Orientalen, Engländer, andere. (Quelle: Caras y Caretas, 1913). In der Zeit von 1880 bis 1930, die als „Goldene Epoche“ von Buenos Aires gilt, stieg Argentinien allerdings primär durch den Export von Agrarprodukten wie Getreide, Wolle, Leder und vor allem Rindfleisch – das jetzt per Kühlschiff über den Atlantik transportiert werden konnte – zur siebtreichsten Nation der Welt auf (Schediwy/Hein 2004). Die Stadt profitierte insbesondere von ihrer Lage am Mündungstricher des Río de la Plata und wurde mit ihrem mehrfach erweiterten Atlantikhafen zum Hauptumschlagplatz, weshalb die Einwohner auch gemeinhin als Porteños bzw. Porteñas bezeichnet werden.

1 Zum Vergleich: Heute leben etwa 2,7 Millionen im Stadtgebiet und zwischen 11 und 12 Millionen im Metropolitanraum von Buenos Aires. (Zahlen nach Angaben des Instituto Nacional de Estadística y Censos, INDEC, Buenos Aires).

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Stadtentwicklung: Modernisierung und Europäisierung Insgesamt zeugt auch die Entwicklung neuer Infrastrukturen von der Ehrgeizigkeit des Modernisierungsprojekts. Neben dem Ausbau des Atlantikhafens und der Errichtung neuer Eisenbahnlinien wurden in der Hauptstadt ein Straßenbahnnetz, Strom- und Gasversorgung sowie ein umfassendes Wasser- und Kanalisationssystem installiert. Letzteres resultierte vor allem aus einem akuten Handlungsbedarf nach den verheerenden Cholera- und Gelbfieberepidemien der 1860er und 70er Jahre. 1913 wurde in Buenos Aires die erste Linie der lange Zeit einzigen U-Bahn der Südhalbkugel eingeweiht, der Subterráneo, kurz: Subte. Anfang der 1930er Jahre wurde sie erweitert und mit fast identischem Wagenmaterial wie die Berliner U-Bahn ausgestattet.

Die Orientierung an den europäischen Kulturen wird an der Gesamtheit der städtebaulichen Umbauplanungen von Buenos Aires zur modernen Hauptstadt Argentiniens deutlich. Das Ideal des „Paris Südamerikas“ manifestierte sich u.a. in einigen großen Achsen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang der 1930er Jahre über den aus spanischer Kolonialzeit stammenden quadratischen Straßenraster gelegt wurden. Die Avenida de Mayo entstand beispielsweise zwischen 1888 und 1894 in ganz ähnlicher Manier wie nur wenige

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Jahrzehnte zuvor die großen Straßendurchbrüche in Paris. Aber auch die nicht vollständig umgesetzten Planungen von 1913 zeigen anschaulich, dass hier der rigorose Umbauplan Haussmanns Pate gestanden hat. Somit überrascht es nicht, dass auch heute noch Reiseführer wie der Lonely Planet damit werben, man habe eher das Gefühl, sich im Zentrum von Paris oder London zu befinden als in Südamerika.

Perspektivische Darstellung der geplanten „Transformación de Buenos Aires“ nach Pariser Vorbild (Quelle: Caras y Caretas, April 1913). Zahlreiche bedeutende Einzelarchitekturen wurden von Europäern errichtet. Architekt des Regierungspalastes – der Casa Rosada – sowie des heute noch wichtigsten Opernhauses der Stadt – des Teatro Colón, dessen innenräumliche Dimensionierung sich an Charles Garniers Pariser Oper orientierte – war etwa der italienische Einwanderer Francisco Tamburini (Schediwy/Hein 2004). Verschiedene private Repräsentationsbauten wurden von französischen Architekten entworfen, die z.T. jedoch – ganz nach der Manier heutiger global agierender Stars – komplett von Paris aus planten, ohne jemals Buenos Aires gesehen zu haben. Dagegen wurde Le Corbusier, den auch Victoria Ocampo um einen Vorentwurf für ihr Haus gebeten hatte, 1929 von der Sociedad Amigos del Arte zu einer Vortragsreise in die argentinische Metropole eingeladen, wo er seine städtebaulichen Lösungen für die Probleme der Masseneinwanderung offerierte. Selbst anhand der Benennung der Straßen wird das Bauen an der Stadt und ihrer Identität als modernes Projekt transparent. Beatriz Sarlo (2001) verdeutlicht dies an zwei kleineren Straßen, die nach Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland benannt wurden, obwohl beide nie die Gebiete des heutigen Argentinien bereist hatten. Nicht die Fixpunkte der eigenen Geschichte, sondern die Meilensteine derjenigen Kultur, an der man sich orientiert, werden im topografischen Netz der Straßen von Buenos Aires symbolisiert.

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Kulturelle Durchmischungen Die Prozesse des Aufeinandertreffens unterschiedlichster Ethnien und Kulturen in Buenos Aires, die Formen ihrer teilweisen Vermengung und gemeinsamen Fortentwicklung sind Gegenstand zahlreicher literarischer Bearbeitungen. Jorge Luis Borges (1953) etwa beginnt seine Erzählung „El Sur“ wie folgt: „Der Mann, der 1871 in Buenos Aires an Land ging, hieß Johannes Dahlmann und war Pfarrer der Evangelischen Kirche; 1939 war einer seiner Enkel, Juan Dahlmann, Sekretär einer Städtischen Bibliothek in der Calle Córdoba und fühlte sich zutiefst als Argentinier. Sein Großvater mütterlicherseits war jener Francisco Flores vom 2. Linieninfanterieregiment gewesen, der an der Grenze der Provinz Buenos Aires durch Lanzen der Indianer Catriels fiel; im Widerstreit seiner beiden Abstammungen entschied sich Juan Dahlmann (vielleicht auf Drängen seines germanischen Blutes) für die Linie dieses romantischen Vorfahren mit seinem romantischen Tod.“ Bruce Chatwin (1977) bringt in seinem ersten Buch die Vielzahl individueller Assimilationsgeschichten auf den Punkt: „The history of Buenos Aires is written in its telephone directory. Pompey Romanov, Emilio Rommel, Crespina D.Z. de Rose, Ladislao Radziwill, and Elizabeth Marta Callman de Rothschild – five names taken at random from among the R’s – told a story of exile, desolation, disillusion, and anxiety behind lace curtains.“ Assimilation und Hybridisierung manifestieren sich auch auf der sprachlichen Ebene anhand diverser z.T. auch nur temporärer Mischformen. Das Cocoliche setzt sich beispielsweise aus italienischen und spanischen Sprachelementen zusammen. Es wurde hauptsächlich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von italienischen Immigranten – und somit in Buenos Aires zeitweise von mehr als 40 Prozent der Bevölkerung – gesprochen, während nachfolgende Einwanderergenerationen zunehmend Spanisch lernten. Insofern könnte das Schwinden des Cocoliche, das heute nur noch als Element in Literatur und Entertainment präsent ist, als notwendige Bedingung, wenngleich längst nicht als hinreichendes Indiz einer vollständigen Assimilation gedeutet werden, wie sie die Chicago School ihrer Melting-Pot-Theorie zugrunde gelegt hatte. Das Belgranodeutsch wird dagegen nach wie vor von den Nachkommen deutscher Einwanderer gesprochen, die sich im nördlichen Stadtteil Belgrano angesiedelt haben. Wie zu vermuten, handelt es sich dabei nicht um eine intensive Vermischung mehrerer Sprachen, sondern um ein spezifisches Auswandererdeutsch, dessen Hybridisierungselemente sich nur an einigen spanischen Beimengungen festmachen lassen. Man könnte hier also bestenfalls von einer partiellen kognitiven Assimilation (Esser 1980) sprechen. Das sprachgeschichtlich und soziokulturell interessanteste Beispiel ist jedoch zweifelsohne der Lunfardo – der einstige „Slang“ der Unterschichten, der sich vom Soziolekt zum festen Bestandteil argentinischen Sprachrepertoires entwickelt hat und in den auch Bruchstücke des Cocoliche eingegangen sind. Auch beim Lunfardo, um dessen Entstehung sich zahlreiche Legenden ranken, bildet das Spanische die Basis. Gekennzeichnet ist er aber durch italienische, englische, französische auch polnische und zahlreiche andere Lehnwörter, die wiederum durch umgangssprachliche Verkürzungen und Wortspielereien transformiert wurden. Doch nicht nur die europäischen Einwanderer, sondern auch angestammte Porteños trugen ebenso wie landflüchtige Gauchos, Indios und Mestizen zur Formung der Sondersprache bei. Eng mit dem Lunfardo verquickt ist auch der Tango, der als Musikstil und Tanz den gleichen Entstehungshintergrund hat und sich ebenso aus dem Zusammentreffen zahlreicher unterschiedlicher Einflüsse speist.

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Open City Buenos Aires? Inwiefern können nun die skizzierten Prozesse und Phänomene als Indizien für das Aufscheinen von Momenten der Offenen Stadt interpretiert werden? Sprechen nicht emergente kulturelle Phänomene wie die Entstehung des Tangos und die Geburt von Weltstars wie Carlos Gardel deutlich dafür, dass die wesentlichen Konditionen für dieses zivilisatorische Projekt hier gegeben sind? Zumindest in Bezug auf den Tango verlangt eine Bejahung der Frage ein gehöriges Maß an sozialromantischer Verklärung. Denn gerade der Tango ist Ausdruck einer sich etablierenden Zweiklassengesellschaft, Ausdruck von Melancholie und widerstrebender Selbstbehauptung einer breiten und heterogenen Unterschicht – all jener nämlich, für die sich die lauten Versprechungen auf geglückte Existenz eben nicht erfüllten. Überlebenskampf, Spannungen und Rivalitäten, Sehnsucht und Heimatlosigkeit, Frauenmangel und Prostitution, Enttäuschung und Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Betrug und Betrogensein – all dies transportiert dieser Tanz, der ob seiner Anzüglichkeiten nicht nur von der Kirche, sondern auch von den argentinischen Eliten zunächst abgelehnt wurde. Erst nachdem er im Paris der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts zum beliebten Modetanz avancierte, wurde der Tango durch den Reimport aus Europa auch in Buenos Aires salonfähig. Der aus Frankreich eingewanderte Gardel, der seine Herkunft verleugnete und als Tangosänger zur argentinischen Legende aufstieg, blieb eine Ausnahme.

Tango als Ausdruck der Zweiklassengesellschaft (re.: Benito Bianquet „El Cachafáz“ und Carmen Calderón). Diese Zweischneidigkeit wird auch an zahlreichen anderen Aspekten deutlich, die in den vorangegangen Abschnitten beleuchtet wurden. So führten die beiden Epidemien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur zur Installation eines modernen Wasserversor-gungs- und Kanalisationssystems, sie brachen auch eine dauerhafte räumliche Segregation mit sich. Die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten verließen den Süden der Stadt, der zunehmend verarmte. In seiner Erzählung „El Sur“ nimmt Borges, für den der Süden weit mehr als nur eine Himmelsrichtung ist, eine allegorische Überhöhung dieses Nord-Süd-Gefälles vor. Jeder wisse, dass die in Ost-West-Richtung verlaufende Avenida Rivadavia die Grenze zwischen einer älteren und einer neueren Welt darstelle. An einem weiteren Punkt offenbart sich, dass die „Feinde der Offenen Stadt“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch unter den argentinischen Führungseliten zu finden sind. Mit den zahlreichen europäischen Arbeitern wurden auch deren soziale und politische Ideale

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importiert. Schnell etablierten sich ähnliche Organisationsstrukturen wie in den Hochburgen des europäischen Industriekapitalismus. Infolge unzulänglicher Arbeitsbedingungen kam es immer häufiger zu Streiks, Auseinandersetzungen und sozialen Unruhen. Die Folge waren Sanktionen und Verschärfungen der Gesetze gegen Ausländer. Während der zweiten Amtszeit von Julio Argentino Roca als Präsident wurde 1902 das sogenannte „Vertreibungs-gesetz“ – offiziell: Ley de Residencia – verabschiedet, das die Abschiebung von zahlreichen Gewerkschaftsführern und anderen Immigranten legitimierte. Dennoch erlangten diese Kräfte nicht die politische Oberhand. Die erhofften Positiveffekte der Einwanderung überwogen die „Angst vor den Risiken“ (Oelsner 2007), was sich auch im Bau des neuen Hotel de Inmigrantes von 1906 bis 1912 niederschlug. Insgesamt jedoch gilt festzuhalten, dass das argentinische Modernisierungsprojekt nicht ausschließlich auf die Ideale der französischen Revolution gegründet ist, was sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts exemplarisch in der Person des Julio Argentino Roca manifestierte. Seine Präsidentschaftskarriere konnte er ganz wesentlich auf seine Conquista del Desierto gründen, die er als Kriegsminister von 1877 bis 1879 gegen die Indianerstämme der Pampa und Patagoniens geführt hatte. Große Teile der indianischen Bevölkerung fanden in diesen Auseinandersetzungen den Tod – entweder direkt in den Kämpfen oder infolge von Belagerungen, Verschleppungen und Zwangsarbeit. Aber auch zahlreiche Afroargentinier, die wie Juan Dahlmanns Vorfahre auf Seiten der Regierungstruppen kämpften, kamen bei dieser „Kampagne“ und unzähligen anderen Konflikten ums Leben. Hatten sie noch gegen Ende der Kolonialzeit etwa 40 Prozent der Bevölkerung von Buenos Aires ausgemacht (Windus 2005), so fällt heute auf, dass –abgesehen von Uruguay – kein weiteres Land auf dem südamerikanischen Kontinent einen derart geringen Bevölkerungsanteil von Indios, Mestizen und Criollos aufweist. Da die Indianer im 19. Jahrhundert durch wiederholte Überfälle auf Städte und Viehherden die auf der Exportwirtschaft von Agrarprodukten basierende Modernisierung gefährdet hatten, wurde die Conquista del Desierto seinerzeit als Erfolg gewertet – als maßgeblicher Beitrag zur Stabilisierung der Landes. Heute dagegen ist die Forschung weitgehend einig, dass hier eine extreme Ausprägung von exklusivem Rassismus zum Genozid geführt hat (Blum 2001). Das Aufeinandertreffen einer urbanen und einer nicht urbanen, nomadischen Zivilisation, die von Schlüsselfiguren der argentinischen Nationwerdung wie Domingo Faustino Sarmiento als „Barbarei“ begriffen wurde, resultierte so in der weitgehenden Auslöschung Letzterer.

Antonio Berni: „Desocupados“ (Arbeitslose) und „Manifestación“, 1934.

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Doch erst zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts wird evident, dass das „Versprechen auf geglückte Existenz“ (Eisinger 2009) auch in Buenos Aires nicht dauerhaft eingelöst werden konnte. Nachdem in Argentinien erst 1912 das allgemeine Wahlrecht eingeführt worden war, kam es bedingt durch die ungünstige Entwicklung der Agrarpreise infolge der Weltwirtschaftskrise zu ernsthaften sozialen Spannungen, die 1930 zum Putsch rechter Militärs und in der Folge zu wechselnden Diktaturen führen. Spätestens an diesem Wendepunkt beginnen sich nun die Indizien für die Momente der Offenen Stadt massiv in ihr Gegenteil zu verkehren. Zwar blieb Argentinien nach wie vor Einwanderungsland, doch änderten sich mit dem politischen Umsturz nun zunehmend die Vorzeichen: 1938 erfolgte ein Erlass gegen Judeneinwanderung, plump formuliert als Regierungsanweisung gegen im Herkunftsland „unerwünschte Personen“. Kamen aber in den 1930er Jahre noch deutsche Gegner des Naziregimes nach Buenos Aires – beispielsweise die Dirigenten Fritz Busch und Erich Kleiber, die sich am Teatro Colón etablierten –, so holte Juan Peron nach dem zweiten Weltkrieg über die sogenannten „rat lines“ systematisch Kriegsverbrecher, SS-Angehörige und andere Mittäter des Naziregimes ins Land – unter ihnen auch Adolf Eichmann und Josef Mengele. Peron verschaffte diesen zudem u.a. mit einer eigenen Zeitung eine Plattform (Goñi 2006).

Militärputsch am 6. September 1930 Einsichten in die Geschichte der Offenen Stadt Zunächst einmal dürfte es kaum verwundern, dass das Fallbeispiel Buenos Aires, ebenso wie sein Vorbild Paris, auf das Transitorische des Projekts der Offenen Stadt verweist – wenngleich die lokalen sozioökonomischen und politischen Voraussetzungen sich doch deutlich von denen der Seine-Metropole und der „Grande Nation“ unterscheiden. Es zeigen sich aber ebenso die fallspezifischen Kehrseiten, die hier bereits als dunkle Schatten die Etablierung der sozioökonomischen Basis des Vorhabens begleiten. Darüber hinaus wird ebenso deutlich, dass das Ausmaß an sozialer Mobilität und kultureller Durchmischung nicht unhinterfragt als Gradmesser für die Offene Stadt herangezogen werden kann, und zwar ganz unabhängig davon, ob man die Diskussion nun vor dem Hintergrund moderner Paradigmen wie der Melting-Pot-Theorie oder poststrukturalistischer Konzepte wie demjenigen der Hybridisierung führt. Am ehesten lässt sich das „Versprechen auf geglückte Existenz“ vielleicht einlösen, wenn es gelingt, pluralistische oder interaktionistische Assimilationsformen (Taft 1953) zu etablieren. Zumindest gilt es bei all diesen Prozessen auch das Verhältnis von horizontaler und vertikaler sozialer Mobilität sowie deren Hauptrichtungen auszuleuchten.

JS 02.07.2009

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Esser, Hartmut (1980) Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wandernden, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt et al.: Luchterhand.

Goñi, Uki (2006) Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin/Hamburg: Assoziation A.

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