Caritas in Veritate - Die Liebe in der Wahrheit - Benedikt XVI.

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    ENZYKLIKA

    CARITAS IN VERITATE

    VON PAPST

    BENEDIKT XVI.

    AN DIE BISCHFE

    AN DIE PRIESTER UND DIAKONE

    AN DIE PERSONEN

    GOTTGEWEIHTEN LEBENS

    AN DIE CHRISTGLUBIGEN LAIEN

    UND AN ALLE MENSCHENGUTEN WILLENS

    BER DIE GANZHEITLICHE

    ENTWICKLUNG DES MENSCHEN

    IN DER LIEBE

    UND IN DER WAHRHEIT

    Inhaltsverzeichnis

    EINLEITUNG ........................................................................................................................................ 2ERSTES KAPITEL ................................................................................................................................. 7

    DIE BOTSCHAFT VON POPULORUM PROGRESSIO ............................................................. 7

    ZWEITES KAPITEL ........................................................................................................................... 13

    DIE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN IN UNSERER ZEIT................................................ 13

    DRITTES KAPITEL ............................................................................................................................ 24

    BRDERLICHKEIT, WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UNDZIVILGESELLSCHAFT ................................................................................................................. 24

    VIERTES KAPITEL............................................................................................................................. 33

    ENTWICKLUNG DER VLKER, RECHTE UND PFLICHTEN, UMWELT ......................... 33

    FNFTES KAPITEL ........................................................................................................................... 41

    DIE ZUSAMMENARBEIT DER MENSCHHEITSFAMILIE .................................................... 41

    SECHSTES KAPITEL ......................................................................................................................... 52

    DIE ENTWICKLUNG DER VLKER UND DIE TECHNIK ................................................... 52

    SCHLUSS ............................................................................................................................................. 57

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    EINLEITUNG

    1. Caritas in veritate die Liebe in der Wahrheit, die Jesus Christus mit seinemirdischen Leben und vor allem mit seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt hat,

    ist der hauptschliche Antrieb fr die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschenund der gesamten Menschheit. Die Liebe caritas ist eine auerordentliche Kraft,welche die Menschen drngt, sich mutig und groherzig auf dem Gebiet derGerechtigkeit und des Friedens einzusetzen. Es ist eine Kraft, die ihren Ursprung inGott hat, der die ewige Liebe und die absolute Wahrheit ist. Jeder findet sein Glck,indem er in den Plan einwilligt, den Gott fr ihn hat, um ihn vollkommen zuverwirklichen: In diesem Plan findet er nmlich seine Wahrheit, und indem er dieserWahrheit zustimmt, wird er frei (vgl.Joh 8, 32). Die Wahrheit zu verteidigen, siedemtig und berzeugt vorzubringen und sie im Leben zu bezeugen, sind daheranspruchsvolle und unersetzliche Formen der Liebe. Denn diese freut sich an der

    Wahrheit (1 Kor13, 6). Alle Menschen spren den inneren Impuls, wahrhaft zulieben: Liebe und Wahrheit weichen niemals gnzlich von ihnen, denn sie sind dieBerufung, die Gott ins Herz und in den Geist eines jeden Menschen gelegt hat. JesusChristus reinigt und befreit die Suche nach der Liebe und der Wahrheit von unserenmenschlichen Armseligkeiten und offenbart uns vollends die Initiative der Liebe undden Plan eines wahren Lebens, das Gott fr uns vorbereitet hat. Die Liebe in derWahrheit wird zum Gesicht Christi; und in Christus wird sie zur Berufung fr uns,unsere Mitmenschen in der Wahrheit seines Planes zu lieben. Er selbst ist ja dieWahrheit (vgl.Joh 14, 6).

    2. Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche. Jede von dieser Lehrebeschriebene Verantwortung und Verpflichtung geht aus der Liebe hervor, die nachden Worten Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes ist (vgl.Mt 22, 36-40).Sie verleiht der persnlichen Beziehung zu Gott und zum Nchsten einen wahrenGehalt; sie ist das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen in Freundschaft,Familie und kleinen Gruppen , sondern auch der Makro-Beziehungen ingesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhngen. Fr dieKirche ist vom Evangelium her die Liebe alles, denn, wie uns der heilige

    Johannes lehrt (vgl. 1 Joh 4, 8.16) und ich in meiner ersten Enzyklika in Erinnerunggerufen habe: Gott ist Liebe (Deuscaritas est):Aus der Liebe Gottes geht alles hervor,

    durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das grteGeschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheiung und unsereHoffnung.

    Ich wei um die Entstellungen und die Sinnentleerungen, denen die Liebe ausgesetztwar und ist, mit der entsprechenden Gefahr, da sie miverstanden, aus derethischen Lebenspraxis ausgeschlossen und in jedem Fall daran gehindert wird, inrechter Weise zur Geltung zu kommen. Im gesellschaftlichen, rechtlichen,kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bereich, also in den Zusammenhngen,die fr diese Gefahr am anflligsten sind, wird die Liebe leicht als unerheblich fr die

    Interpretation und die Orientierung der moralischen Verantwortung erklrt. Daherist es notwendig, die Liebe und die Wahrheit nicht nur in der vom heiligen Paulusangegebenen Richtung der veritas in caritate (Eph 4, 15) miteinander zu verbinden,

    http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20051225_deus-caritas-est_ge.html
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    sondern auch in der entgegengesetzten und komplementren von caritas in veritate.Die Wahrheit mu in der konomie der Liebe gesucht, gefunden und ausgedrcktwerden, aber die Liebe mu ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, besttigtund praktiziert werden. Auf diese Weise werden wir nicht nur der von der Wahrheiterleuchteten Liebe einen Dienst erweisen, sondern wir werden auch dazu beitragen,da sich die Wahrheit glaubwrdig erweist, indem wir ihre Authentizitt und ihreberzeugungskraft im konkreten gesellschaftlichen Leben deutlich machen. Das istheute von nicht geringer Bedeutung in einem sozialen und kulturellen Umfeld, dasdie Wahrheit relativiert und ihr gegenber oft gleichgltig und ablehnend eingestelltist.

    3. Wegen dieser engen Verbindung mit der Wahrheit kann die Liebe alsauthentischer Ausdruck des Menschseins und als ein Element von grundlegenderBedeutung in den menschlichen Beziehungen auch im ffentlichen Bereich erkannt werden. Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwrdig gelebt

    werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist dasLicht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natrlichenund bernatrlichen Wahrheit der Liebe gelangt: er erfat ihre Bedeutung alsHingabe, Annahme und Gemeinschaft. Ohne Wahrheit gleitet die Liebe inSentimentalitt ab. Sie wird ein leeres Gehuse, das man nach Belieben fllen kann.Das ist die verhngnisvolle Gefahr fr die Liebe in einer Kultur ohne Wahrheit. Siewird Opfer der zuflligen Gefhle und Meinungen der einzelnen, ein Wort, dasmibraucht und verzerrt wird, bis es schlielich das Gegenteil bedeutet. DieWahrheit befreit die Liebe von den Verengungen einer Emotionalisierung, die sierationaler und sozialer Inhalte beraubt, und eines Fideismus, der ihr die menschlicheund universelle Weite nimmt. In der Wahrheit spiegelt die Liebe die persnliche undzugleich ffentliche Dimension des Glaubens an den biblischen Gott wider, derzugleich Agapeund Logos ist: Caritas und Wahrheit, Liebe und Wort.

    4. Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum anWerten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden. Denn dieWahrheit ist lgos, der di-logos schafft und damit Austausch und Gemeinschaftbewirkt. Indem die Wahrheit die Menschen aus den subjektiven Meinungen undEmpfindungen herausholt, gibt sie ihnen die Mglichkeit, kulturelle undgeschichtliche Festlegungen zu berwinden und in der Beurteilung von Wert und

    Wesen der Dinge einander zu begegnen. Die Wahrheit ffnet den Verstand derMenschen und vereint ihre Intelligenz im Logos der Liebe: Das ist die Botschaft unddas christliche Zeugnis der Liebe. Wenn wir im augenblicklichen sozialen undkulturellen Umfeld, in dem die Tendenz zur Relativierung der Wahrheit verbreitetist, die Liebe in der Wahrheit leben, kommen wir zu der Einsicht, da dieZustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur ntzliches, sondernunverzichtbares Element fr den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echtenganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist. Ein Christentum der Liebe ohneWahrheit kann leicht mit einem Vorrat an guten, fr das gesellschaftlicheZusammenleben ntzlichen, aber nebenschlichen Gefhlen verwechselt werden.Auf diese Weise gbe es keinen eigentlichen Platz mehr fr Gott in der Welt. Ohnedie Wahrheit wird die Liebe in einen begrenzten und privaten Bereich von

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    Beziehungen verbannt. Aus den Planungen und den Prozessen zum Aufbau einermenschlichen Entwicklung von umfassender Tragweite im Dialog zwischenWissen und Praxis wird sie ausgeschlossen.

    5. Caritas ist empfangene und geschenkte Liebe. Sie ist Gnade (chris). Ihre Quelle

    ist die ursprngliche Liebe des Vaters zum Sohn im Heiligen Geist. Sie ist Liebe, dievom Sohn her zu uns herabfliet. Sie ist schpferische Liebe, aus der wir unser Seinhaben; sie ist erlsende Liebe, durch die wir wiedergeboren sind. Sie ist von Christusoffenbarte und verwirklichte Liebe (vgl.Joh 13, 1), ausgegossen in unsere Herzendurch den Heiligen Geist (Rm 5, 5). Als Empfnger der Liebe Gottes sind dieMenschen eingesetzt, Trger der Nchstenliebe zu sein, und dazu berufen, selbstWerkzeuge der Gnade zu werden, um die Liebe Gottes zu verbreiten und Netze derNchstenliebe zu knpfen.

    Auf diese Dynamik der empfangenen und geschenkten Liebe geht die Soziallehre

    der Kirche ein. Sie ist caritas in veritate in re sociali: Verkndigung der Wahrheit derLiebe Christi in der Gesellschaft. Diese Lehre ist Dienst der Liebe, aber in derWahrheit. Die Wahrheit ist Hterin und Ausdruck der befreienden Kraft der Liebe inden immer neuen Wechselfllen der Geschichte. Sie ist zugleich Wahrheit desGlaubens und der Vernunft, in der Unterscheidung ebenso wie im Zusammenwirkender beiden Erkenntnisbereiche. Fr die Entwicklung, den gesellschaftlichenWohlstand und eine angemessene Lsung der schweren soziokonomischenProbleme, welche die Menschheit plagen, ist diese Wahrheit notwendig. Und nochnotwendiger dafr ist, da diese Wahrheit geliebt und bezeugt wird. Ohne Wahrheit,ohne Vertrauen und Liebe gegenber dem Wahren gibt es kein Gewissen und keine

    soziale Verantwortung: Das soziale Handeln wird ein Spiel privater Interessen undLogiken der Macht, mit zersetzenden Folgen fr die Gesellschaft, um so mehr ineiner Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung und in schwierigen Situationenwie der augenblicklichen.

    6. Caritas in veritateist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist, einPrinzip, das in Orientierungsmastben fr das moralische Handeln wirksameGestalt annimmt. Besonders zwei von ihnen mchte ich erwhnen, die speziell beimEinsatz fr die Entwicklung in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierungerforderlich sind: die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl.

    Zunchst die Gerechtigkeit. Ubi societas, ibi ius: Jede Gesellschaft erarbeitet eineigenes Rechtssystem. Die Liebe geht ber die Gerechtigkeit hinaus, denn lieben istschenken, dem anderen von dem geben, was mein ist; aber sie ist nie ohne dieGerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was sein ist, das,was ihm aufgrund seines Seins und seines Wirkens zukommt. Ich kann dem anderennicht von dem, was mein ist, schenken, ohne ihm an erster Stelle das gegeben zuhaben, was ihm rechtmig zusteht. Wer den anderen mit Nchstenliebe begegnet,ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keinerWeise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die

    Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendesElement. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder wiePaul VI.sagte ihr

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    Mindestma, ein wesentlicher Bestandteil jener Liebe in Tat und Wahrheit (1 Joh3, 18), zu der der Apostel Johannes aufruft. Zum einen erfordert die Liebe dieGerechtigkeit: die Anerkennung und die Achtung der legitimen Rechte der einzelnenund der Vlker. Sie setzt sich fr den Aufbau der Stadt des Menschen nach Rechtund Gerechtigkeit ein. Zum andern geht die Liebe ber die Gerechtigkeit hinaus undvervollstndigt sie in der Logik des Gebens und Vergebens. Die Stadt desMenschen wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten undPflichten gefrdert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durchUnentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. DieNchstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die LiebeGottes; diese verleiht jedem Einsatz fr Gerechtigkeit in der Welt einen theologalenund heilbringenden Wert.

    7. Ferner mu besonderer Wert auf das Gemeinwohl gelegt werden. Jemanden liebenheit sein Wohl im Auge haben und sich wirkungsvoll dafr einsetzen. Neben dem

    individuellen Wohl gibt es eines, das an das Leben der Menschen in Gesellschaftgebunden ist: das Gemeinwohl. Es ist das Wohl jenes Wir alle, das aus einzelnen,Familien und kleineren Gruppen gebildet wird, die sich zu einer sozialenGemeinschaft zusammenschlieen. Es ist nicht ein fr sich selbst gesuchtes Wohl,sondern fr die Menschen, die zu der sozialen Gemeinschaft gehren und nur in ihrwirklich und wirkungsvoller ihr Wohl erlangen knnen. Das Gemeinwohl wnschenund sich dafr verwenden ist ein Erfordernis von Gerechtigkeit und Liebe. Sich fr dasGemeinwohl einzusetzen bedeutet, die Gesamtheit der Institutionen, die das sozialeLeben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schtzenund andererseits sich ihrer zu bedienen, so da auf diese Weise die Polis, die StadtGestalt gewinnt. Man liebt den Nchsten um so wirkungsvoller, je mehr man sich frein gemeinsames Gut einsetzt, das auch seinen realen Bedrfnissen entspricht. JederChrist ist zu dieser Nchstenliebe aufgerufen, in der Weise seiner Berufung undentsprechend seinen Einflumglichkeiten in der Polis. Das ist der institutionelle wir knnen auch sagen politische Weg der Nchstenliebe, der nicht wenigertauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nchsten unmittelbar, auerhalb derinstitutionellen Vermittlungen der Polis entgegenkommt. Wenn der Einsatz fr dasGemeinwohl von der Liebe beseelt ist, hat er eine hhere Wertigkeit als der nurweltliche, politische. Wie jeder Einsatz fr die Gerechtigkeit gehrt er zu jenemZeugnis der gttlichen Liebe, das, whrend es in der Zeit wirkt, die Ewigkeitvorbereitet. Wenn das Handeln des Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert unduntersttzt wird, trgt es zum Aufbau jener universellen Stadt Gottes bei, auf die sichdie Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt. In einer Gesellschaft auf dem Wegzur Globalisierung mssen das Gemeinwohl und der Einsatz dafr unweigerlich dieDimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Vlkerund der Nationen, annehmen, so da sie der Stadt des Menschen die Gestalt derEinheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaen zu einervorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen.

    8. Durch die Verffentlichung der Enzyklika Populorum progressio im Jahr 1967 hatmein verehrter VorgngerPaul VI.das groe Thema der Entwicklung der Vlkerunter dem Glanz der Wahrheit und dem Licht der Liebe Christi beleuchtet. Er hat

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    bekrftigt, da die Verkndigung Christi der erste und hauptschlicheEntwicklungsfaktor ist, und er hat uns aufgegeben, auf dem Weg der Entwicklungmit unserem Herzen und all unserer Intelligenz voranzugehen, das heit mit demFeuer der Liebe und der Weisheit der Wahrheit. Es ist die ursprngliche Wahrheitder Liebe Gottes, eine uns geschenkte Gnade, die unser Leben fr die Gabe ffnetund es mglich macht, eine Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzenMenschheit, einen bergang von weniger menschlichen zu menschlicherenBedingungen zu erhoffen, der durch die berwindung der unweigerlich auf demWeg anzutreffenden Schwierigkeiten erreicht wird.

    ber vierzig Jahre nach der Verffentlichung der Enzyklika mchte ich demGedenken des groen PapstesPaul VI.Anerkennung zollen und Ehre erweisen,indem ich seine Lehren ber dieganzheitliche Entwicklung des Menschen aufnehmeund mich auf den von ihnen vorgezeichneten Weg begebe, um sie in dergegenwrtigen Zeit zu aktualisieren. Dieser Proze der Aktualisierung begann mit

    der EnzyklikaSollecitudo rei socialis, mit welcher der Diener Gottes PapstJohannesPaul II.der Verffentlichung von Populorum progressio anllich ihres zwanzigsten

    Jahrestags gedenken wollte. Ein solches Andenken war bis dahin nur der EnzyklikaRerum novarum zuteil geworden. Nachdem nun weitere zwanzig Jahre vergangensind, bringe ich meine berzeugung zum Ausdruck, da die Enzyklika Populorum

    progressio verdient, als die Rerum novarum unserer Zeit angesehen zu werden,welche die Schritte der Menschheit auf dem Weg zu einer Einigung erleuchtet.

    9. Die Liebe in der Wahrheit caritas in veritate ist eine groe Herausforderung frdie Kirche in einer Welt der fortschreitenden und um sich greifenden Globalisierung.

    Die Gefahr unserer Zeit besteht darin, da der tatschlichen Abhngigkeit derMenschen und der Vlker untereinander keine ethische Wechselbeziehung vonGewissen und Verstand der Beteiligten entspricht, aus der eine wirklich menschlicheEntwicklung als Ergebnis hervorgehen knnte. Nur mit der vom Licht der Vernunftund des Glaubens erleuchteten Liebe ist es mglich, Entwicklungsziele zu erreichen, dieeinen menschlicheren und vermenschlichenderen Wert besitzen. Das Teilen derGter und der Ressourcen, aus dem die echte Entwicklung hervorgeht, wird nichtallein durch technischen Fortschritt und durch blo vom Kalkl bestimmteBeziehungen gewhrleistet, sondern durch das Potential der Liebe, die das Bsedurch das Gute besiegt (vgl. Rm 12, 21) und die Menschen dafr ffnet, in ihrem

    Gewissen und mit ihrer Freiheit aufeinander einzugehen.

    Die Kirche hat keine technischen Lsungen anzubieten und beansprucht keineswegs,sich in die staatlichen Belange einzumischen. Sie hat aber zu allen Zeiten und unterallen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfllen fr eine Gesellschaft, diedem Menschen und seiner Wrde und Berufung gerecht wird. Ohne Wahrheitverfllt man in eine empiristische und skeptische Lebensauffassung, die unfhig ist,sich ber die Praxis zu erheben, weil sie nicht daran interessiert ist, die Werte undbisweilen sogar die Bedeutungen zu erfassen, mit denen diese zu beurteilen undnach denen sie auszurichten ist. Die Treue zum Menschen erfordert die Treue zurWahrheit, die allein Garant der Freiheit (vgl.Joh 8, 32) und der Mglichkeit einer

    ganzheitlichen menschlichen Entwicklung ist. Darum sucht die Kirche die Wahrheit,

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0131/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0131/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0131/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0131/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    verkndet sie unermdlich und erkennt sie an, wo immer sie sich offenbart. DieseSendung der Wahrheit ist fr die Kirche unverzichtbar. Ihre Soziallehre ist einbesonderer Aspekt dieser Verkndigung: Sie ist Dienst an der Wahrheit, die befreit.Offen fr die Wahrheit, gleichgltig aus welcher Wissensrichtung sie kommt, nimmtdie Soziallehre der Kirche sie auf, setzt die Bruchstcke, in der sie sie hufigvorfindet, zu einer Einheit zusammen und vermittelt sie in die immer neueLebenspraxis der Gesellschaft der Menschen und der Vlker hinein.

    ERSTES KAPITEL

    DIE BOTSCHAFT VON POPULORUM PROGRESSIO

    10. Die erneute Lektre von Populorum progressio ber vierzig Jahre nach ihrerVerffentlichung regt dazu an, ihrer Botschaft der Liebe und der Wahrheit treu zu

    bleiben und sie im Kontext der spezifischen Lehre PapstPauls VI.und allgemeinerinnerhalb der Tradition der Soziallehre der Kirche zu betrachten. Alsdann sind dieanderen Bedingungen zu erwgen, unter denen sich das Problem der Entwicklungheute im Unterschied zu damals stellt. Der richtige Gesichtspunkt ist also jener derberlieferung des apostolischen Glaubens, des alten und neuen Erbes, auerhalbdessen Populorum progressio ein Dokument ohne Wurzeln wre und dieEntwicklungsfragen sich einzig auf soziologische Daten reduzieren wrden.

    11. Die Publikation von Populorum progressio geschah unmittelbar nach Abschlu desZweiten Vatikanischen Konzils. Die Enzyklika selbst weist in den ersten Abstzen

    auf ihre enge Beziehung zum Konzil hin. PapstJohannes Paul II.unterstrich zwanzigJahre danach in Sollicitudo rei socialis seinerseits die fruchtbare Verbindung jenerEnzyklika zum Konzil, insbesondere zur PastoralkonstitutionGaudium et spes. Auchich mchte hier an die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils fr dieEnzyklika PapstPauls VI.und fr das gesamte nachfolgende Lehramt der Ppste insozialen Fragen erinnern. Das Konzil vertiefte, was seit jeher zur Wahrheit desGlaubens gehrt, da nmlich die Kirche, da sie im Dienst Gottes steht, bezglich derLiebe und der Wahrheit im Dienst der Welt steht. Genau von dieser Sicht ging PapstPaul VI.aus, um uns zwei groe Wahrheiten mitzuteilen. Die erste ist, da die ganzeKirche, wenn sie verkndet, Eucharistie feiert und in der Liebe wirkt, in all ihrem Sein und

    Handeln darauf ausgerichtet ist, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen zu frdern. Siehat eine ffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Frsorge oder derErziehung erschpft, sondern all ihre besonderen Krfte im Dienst der Frderungdes Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit offenbart, wenn sie sich einesfreiheitlichen Regimes bedienen kann. In nicht wenigen Fllen ist diese Freiheitbehindert durch Verbote und Verfolgungen oder auch eingeschrnkt, wenn dieffentliche Prsenz der Kirche einzig auf ihre karitativen Aktivitten begrenzt wird.Die zweite Wahrheit ist, da die echte Entwicklung des Menschen einheitlich dieGesamtheit der Person in all ihren Dimensionen betrifft. Ohne die Aussicht auf ein ewigesLeben fehlt dem menschlichen Fortschritt in dieser Welt der groe Atem. Wenn er

    innerhalb der Geschichte eingeschlossen bleibt, ist er der Gefahr ausgesetzt, sich aufeine bloe Zunahme des Besitztums zu beschrnken; so verliert die Menschheit den

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.htmlhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.htmlhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.htmlhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    Mut, fr die hheren Gter aufnahmebereit zu sein, fr die groen und selbstlosenInitiativen, zu denen die universale Nchstenliebe drngt. Der Mensch entwickeltsich nicht blo mit den eigenen Krften, noch kann die Entwicklung ihm einfach vonauen gegeben werden. Im Laufe der Geschichte hat man oft gemeint, die Schaffungvon Institutionen genge, um der Menschheit die Erfllung ihres Rechtes aufEntwicklung zu gewhrleisten. Leider hat man in solche Institutionen einbertriebenes Vertrauen gesetzt, so als knnten sie das ersehnte Ziel automatischerlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen allein nicht aus, denn dieganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor allem Berufung und verlangtfolglich von allen eine freie und solidarische bernahme von Verantwortung. Einesolche Entwicklung erfordert auerdem eine transzendente Sicht der Person, siebraucht Gott: Ohne ihn wird die Entwicklung entweder verweigert oder einzig derHand des Menschen anvertraut, der in die Anmaung der Selbst-Erlsung fllt undschlielich eine entmenschlichte Entwicklung frdert. Im brigen gestattet nur dieBegegnung mit Gott, nicht im anderen immer nur den anderen zu sehen, sondernin ihm das gttliche Bild zu erkennen und so dahin zu gelangen, wirklich denanderen zu entdecken und eine Liebe reifen zu lassen, die Sorge um den anderenund fr den anderen wird.

    12. Die Verbindung zwischen Populorum progressio und dem Zweiten VatikanischenKonzil stellt nicht etwa einen Bruch zwischen dem Lehramt PapstPauls VI.insozialen Fragen und dem seiner Vorgnger auf dem Stuhl Petri dar, denn das Konzilist eine Vertiefung dieser Lehre in der Kontinuitt des Lebens der Kirche. In diesemSinn tragen gewisse abstrakte Unterteilungen der modernen Soziallehre der Kirche,die auf die sozialen Aussagen der Ppste ihr fremde Kategorien anwenden, nicht zurKlrung bei. Es gibt nicht zwei Typologien von Soziallehre, eine vorkonziliare undeine nachkonziliare, die sich voneinander unterscheiden, sondern eine einzigekohrente und zugleich stets neue Lehre. Es ist richtig, die Besonderheiten der einen oderder anderen Enzyklika, der Lehre des einen oder des anderen Papsteshervorzuheben, man darf dabei aber niemals die Kohrenz des gesamten Corpus derLehre aus den Augen verlieren. Kohrenz bedeutet nicht ein Einschlieen in einSystem, sondern vielmehr dynamische Treue zu einem empfangenen Licht. DieSoziallehre der Kirche beleuchtet die immer neuen Probleme, die auftauchen, miteinem Licht, das sich nicht verndert. Das gewhrleistet den sowohl permanentaktuellen als auch geschichtlichen Charakter dieses doktrinellen Erbes, das mitseinen spezifischen Merkmalen Teil der stets lebendigen berlieferung der Kircheist. Die Soziallehre der Kirche ist auf dem Fundament aufgebaut, das die Apostel denKirchenvtern bermittelt haben und das dann von den groen christlichenLehrmeistern aufgenommen und vertieft wurde. Diese Lehre greift letztlich auf denNeuen Menschen zurck, auf den Letzten Adam, der lebendig machender Geistwurde (1 Kor15, 45) und Ursprung jener Liebe ist, die niemals aufhrt (1 Kor13, 8).Sie ist bezeugt von den Heiligen und von allen, die auf dem Gebiet der Gerechtigkeitund des Friedens ihr Leben fr Christus, den Erlser, hingegeben haben. In ihrkommt die prophetische Aufgabe der Ppste zum Ausdruck, die Kirche Christiapostolisch zu leiten und die jeweils neuen Erfordernisse der Evangelisierung zuerkennen. Aus diesen Grnden ist die in den groen Strom der berlieferung

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    eingebettete Enzyklika Populorum progressio imstande, uns heute noch etwas zusagen.

    13. Auer ihrer bedeutenden Verbindung mit der ganzen Soziallehre der Kirche istdie Enzyklika Populorum progressio mit dem gesamten Lehramt PapstPauls VI.und

    insbesondere mit seinem Lehramt in sozialen Fragen verknpft. SeineUnterweisungen zu diesem Thema waren durchaus von groer Wichtigkeit: Erbetonte die unabdingbare Rolle des Evangeliums fr den Aufbau der Gesellschaft imSinne von Freiheit und Gerechtigkeit, in der geistigen und historischen Perspektiveeiner von der Liebe geleiteten Zivilisation. PapstPaul VI.erfate klar, da die sozialeFrage weltweit geworden war, und sah die innere Entsprechung zwischen demDrngen auf eine Vereinheitlichung der Menschheit und dem christlichen Ideal einereinzigen, in der allgemeinen Brderlichkeit solidarischen Familie der Vlker. Erbezeichnete die menschlich und christlich verstandene Entwicklung als das Herz derchristlichen Soziallehre und stellte die christliche Liebe als die hauptschliche Kraft im

    Dienst der Entwicklung dar. Von dem Wunsch bewegt, die Liebe Christi demheutigen Menschen ganz sichtbar zu machen, ging Papst Paul VI. mit Festigkeitwichtige ethische Fragen an, ohne den Schwchen der Kultur seiner Zeitnachzugeben.

    14. Mit dem Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens von 1971 thematisiertePapstPaul VI.dann den Sinn der Politik und die Gefahr seitens utopistischer undideologischer Visionen, die ihre ethische und menschliche Qualitt beeintrchtigten. Eshandelt sich um Argumente, die mit der Entwicklung eng verbunden sind. Leidertreiben die negativen Ideologien fortwhrend Blten. Vor der technokratischen

    Ideologie, die heute besonders verbreitet ist, hatte PapstPaul VI.bereits gewarnt,wohl wissend, da es sehr gefhrlich ist, den gesamten Entwicklungsproze alleinder Technik zu berlassen, denn auf diese Weise wrde ihm die Orientierung fehlen.Technik, fr sich genommen, ist ambivalent. Wenn heute einerseits die Neigungbesteht, ihr den besagten Entwicklungsproze gnzlich anzuvertrauen, istandererseits das Aufkommen von Ideologien zu beobachten, welche die Ntzlichkeitder Entwicklung berhaupt leugnen, weil sie sie fr grundstzlich anti-menschlichhalten und meinen, sie fhre zu allgemeinem Verfall. So verurteilt man letztlich nichtnur die verzerrte und ungerechte Weise, in der die Menschen manchmal denFortschritt orientieren, sondern die wissenschaftlichen Entdeckungen selbst, die

    hingegen, wenn sie recht genutzt werden, eine Wachstumschance fr alle darstellen.Die Vorstellung von einer Welt ohne Entwicklung drckt Mitrauen gegenber demMenschen und gegenber Gott aus. Es ist also ein schwerer Irrtum, die menschlichenFhigkeiten zur Kontrolle von Auswchsen in der Entwicklung geringzuschtzen,oder sogar zu ignorieren, da der Mensch konstitutiv dem Mehr-Seinentgegenstrebt. Den technischen Fortschritt ideologisch zu verabsolutieren oder dieUtopie einer zum ursprnglichen Naturzustand zurckgekehrten Menschheit zuertrumen, sind zwei gegenstzliche Weisen, den Fortschritt von der moralischenBewertung und somit von unserer Verantwortung zu trennen.

    15. Zwei weitere Dokumente PapstPauls VI., die nicht unmittelbar mit derSoziallehre zusammenhngen die Enzyklika Humanae vitae vom 25. Juli 1968 und

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi vom 8. Dezember 1975 sind sehrwichtig, um den vollkommen menschlichen Gehalt der von der Kirche vorgeschlagenenEntwicklung zu beschreiben. Es ist also angebracht, auch diese beiden Texte inVerbindung mit Populorum progressio zu lesen.

    Die Enzyklika Humanae vitae unterstreicht die zweifache Bedeutung der Sexualitt alsVereinigung und als Zeugung und grndet damit die Gesellschaft auf dasFundament des Ehepaares, eines Mannes und einer Frau, die sich gegenseitigannehmen in ihrer Unterschiedenheit und Komplementaritt; eines Paares also, dasoffen ist fr das Leben. Es handelt sich nicht um eine blo individuelle Moral:Humanae vitae zeigt die starken Verbindungen auf, die zwischen der Ethik des Lebens undder Sozialethik bestehen, und hat damit eine lehramtliche Thematik erffnet, die nachund nach in verschiedenen Dokumenten Gestalt gewonnen hat, zuletzt in derEnzyklikaEvangelium vitaePapstJohannes Pauls II.Die Kirche betont mit Nachdruckdiesen Zusammenhang zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik, denn sie

    wei: Unmglich kann eine Gesellschaft gesicherte Grundlagen haben, die whrend sie Werte wie Wrde der Person, Gerechtigkeit und Frieden geltend macht sich von Grund auf widerspricht, wenn sie die verschiedensten Formen vonMiachtung und Verletzung des menschlichen Lebens akzeptiert oder duldet, vorallem, wenn es sich um schwaches oder ausgegrenztes Leben handelt.

    Das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi hat seinerseits eine sehr engeBeziehung zur Entwicklung, denn die Evangelisierung wre nicht vollkommen,schrieb PapstPaul VI., wenn sie nicht dem Umstand Rechnung tragen wrde, dasich im Lauf der Zeit das Evangelium und das konkrete, persnliche und

    gemeinschaftliche Leben des Menschen gegenseitig fordern. ZwischenEvangelisierung und menschlicher Frderung Entwicklung und Befreiung bestehen in der Tat enge Verbindungen: Von dieser Kenntnis ausgehend, stelltePapstPaul VI.die Beziehung zwischen der Verkndigung Christi und der Frderungdes Menschen in der Gesellschaft klar heraus. Das Zeugnis fr die Liebe Christi durchWerke der Gerechtigkeit, des Friedens und der Entwicklung gehrt zur Evangelisierung,denn dem uns in Liebe zugewandten Jesus Christus liegt der ganze Mensch amHerzen. Auf diese wichtigen Lehren grndet sich der missionarische Aspekt derSoziallehre der Kirche als wesentliches Element der Evangelisierung. Die Soziallehreder Kirche ist Glaubensverkndigung und Glaubenszeugnis. Sie ist Instrument und

    unverzichtbarer Ort der Erziehung zum Glauben.

    16. In der Enzyklika Populorum progressio wollte PapstPaul VI.uns vor allem sagen,da der Fortschritt in seinem Ursprung und seinem Wesen nach eine Berufung ist:Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln; denn das ganzeLeben ist Berufung. Genau dieses Faktum rechtfertigt das Eingreifen der Kirche inden Problemkomplex der Entwicklung. Wenn es nur um technische Aspekte desmenschlichen Lebens ginge und der Mensch weder den Sinn seines Voranschreitensin der Geschichte gemeinsam mit seinen Mitmenschen, noch die Zielbestimmungdieses Weges beachten wrde, dann htte die Kirche kein Recht, ber diese Dinge zu

    sprechen. PapstPaul VI.war sich wie schon sein Vorgnger PapstLeo XIII.in der

    http://www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTMhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/leo_xiii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTM
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    Enzyklika Rerum novarum bewut, eine seinem Amt eigene Pflicht zu erfllen,indem er das Licht des Evangeliums auf die sozialen Fragen seiner Zeit warf.

    Wenn man sagt, da die Entwicklung eine Berufung ist, bedeutet das anzuerkennen,da sie zum einen aus einem transzendenten Ruf hervorgeht und zum andern nicht

    in der Lage ist, sich selbst ihren letzten Sinn zu geben. Nicht ohne Grund kommt dasWort Berufung auch an einer anderen Stelle der Enzyklika vor, wo es heit: Nur

    jener Humanismus also ist der wahre, der sich zum Absoluten hin ffnet, in Dank freine Berufung, die die richtige Auffassung vom menschlichen Leben schenkt. DieseSicht der Entwicklung ist das Herz von Populorum progressio und motiviert alleReflexionen PapstPauls VI.ber die Freiheit, die Wahrheit und die Liebe in derEntwicklung. Sie ist auch der Hauptgrund, warum diese Enzyklika in unseren Tagennoch aktuell ist.

    17. Die Berufung ist ein Appell, der eine freie und verantwortliche Antwort verlangt.

    Dieganzheitliche menschliche Entwicklung setzt dieverantwortliche Freiheit der Personund der Vlker voraus: keine Struktur kann diese Entwicklung garantieren, wenn siedie menschliche Verantwortung beiseite lt oder sich ber sie stellt. DieMessianismen, reich an Verheiungen, die doch nur Gaukler einer Traumweltsind, grnden ihre eigenen Vorschlge immer auf die Leugnung der transzendentenDimension der Entwicklung, in der Sicherheit, da diese ihnen ganz zur Verfgungsteht. Diese falsche Sicherheit verwandelt sich in Schwche, weil sie dieUnterjochung des Menschen mit sich bringt, der zu einem Mittel fr die Entwicklungherabgewrdigt wird, whrend die Demut dessen, der eine Berufung annimmt, sichin wahre Autonomie verwandelt, weil sie den Menschen frei macht. PapstPaul VI.

    bezweifelt nicht, da Hindernisse und Bedingtheiten die Entwicklung hemmen, aberer ist auch sicher, da jeder seines Glckes Schmied, seines Versagens Ursache [ist],wie immer auch die Einflsse sind, die auf ihn wirken. Diese Freiheit betrifft dieEntwicklung, die wir vor uns haben, aber sie betrifft zugleich auch die Situationenvon Unterentwicklung, die nicht ein Ergebnis des Zufalls oder einer geschichtlichenNotwendigkeit sind, sondern von der menschlichen Verantwortung abhngen. Ausdiesem Grund bitten die Vlker, die Hunger leiden, die Vlker im Wohlstanddringend um Hilfe. Auch das ist Berufung, ein von freien Menschen an freieMenschen gerichteter Appell fr eine gemeinsame bernahme von Verantwortung.PapstPaul VI.hatte ein lebendiges Empfinden fr die Wichtigkeit der

    wirtschaftlichen Strukturen und der Institutionen, aber ebenso deutlich war seinEmpfinden fr deren eigentliches Wesen als Werkzeuge der menschlichen Freiheit.Nur wenn sie frei ist, kann die Entwicklung ganz menschlich sein; nur inVerhltnissen von verantwortlicher Freiheit kann sie in angemessener Weisewachsen.

    18. Neben der Forderung nach Freiheit verlangt die ganzheitliche menschlicheEntwicklung als Berufung auch, da ihre Wahrheit respektiert wird. Die Berufung zumFortschritt drngt die Menschen, mehr [zu] handeln, mehr [zu] erkennen, mehr [zu]besitzen, um mehr zu sein. Doch da stellt sich das Problem: Was bedeutet mehr

    sein? Auf diese Frage antwortet PapstPaul VI., indem er auf das wesentlicheKennzeichen der wahren Entwicklung verweist: Sie mu umfassend sein, sie mu

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    den ganzen Menschen im Auge haben und die gesamte Menschheit. In derKonkurrenz der verschiedenen Auffassungen vom Menschen, von denen es in derheutigen Gesellschaft noch mehr gibt als zur Zeit PapstPauls VI., hat die christlicheSichtweise die Besonderheit, den unveruerlichen Wert des Menschen und den Sinnseines Wachsens zu bekrftigen und zu rechtfertigen. Die christliche Berufung zurEntwicklung hilft, die Frderung aller Menschen und des ganzen Menschen zuverfolgen. PapstPaul VI.schrieb: Was fr uns zhlt, ist der Mensch, der einzelne,die Gruppe von Menschen bis zur gesamten Menschheit. Der christliche Glaubekmmert sich um die Entwicklung, ohne sich auf Privilegien oder aufMachtpositionen und nicht einmal auf die Verdienste der Christen zu verlassen, auchwenn es sie gab und auch heute abgesehen von natrlichen Grenzen gibt. DerGlaube setzt vielmehr einzig auf Christus, auf den jede echte Berufung zurganzheitlichen menschlichen Entwicklung zurckzufhren ist. Das Evangelium ist

    grundlegendes Element der Entwicklung, denn darin macht Christus in derOffenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen denMenschen selbst voll kund. Von ihrem Herrn belehrt, erforscht die Kirche dieZeichen der Zeit, deutet sie und bietet der Welt ihr Ureigenstes: eine umfassendeSicht des Menschen und der Menschheit. Gerade weil Gott das grte Ja zumMenschen sagt, kann der Mensch nicht darauf verzichten, sich der gttlichenBerufung zu ffnen, um die eigene Entwicklung zu verwirklichen. Die Wahrheit derEntwicklung besteht in ihrer Ganzheit: Wenn die Entwicklung nicht den ganzenMenschen und jeden Menschen betrifft, ist sie keine wahre Entwicklung. Das ist diezentrale Botschaft von Populorum progressio, die heute und immer gilt. Dieganzheitliche Entwicklung des Menschen auf der natrlichen Ebene als Antwort aufeine Berufung durch den Schpfergott erfordert ihre Verwirklichung in einemHumanismus jenseitiger Art, der [dem Menschen] eine umgreifende Vollendungschenkt: das ist das Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entwicklung. Diechristliche Berufung zu dieser Entwicklung betrifft also sowohl die natrliche alsauch die bernatrliche Ebene; aus diesem Grund gilt: Wenn Gott in den Schattengestellt wird, schwindet unsere Fhigkeit, die natrliche Ordnung, ihr Ziel und dasGute zu erkennen, allmhlich dahin.

    19. Schlielich verlangt die Auffassung von der Entwicklung als Berufung, da in ihrdie Liebe im Zentrum steht. PapstPaul VI.stellte in der Enzyklika Populorum progressiofest, da die Ursachen der Unterentwicklung nicht in erster Linie materieller Artsind. Er forderte uns auf, sie in anderen Dimensionen des Menschen zu suchen. Vorallem im Willen, der oft die Pflichten der Solidaritt miachtet. An zweiter Stelle imDenken, das den Willen nicht immer in rechter Weise zu orientieren wei. Zubegleiten wre die Entwicklung daher durch weise Menschen mit tiefen Gedanken,die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heutesich selbst finden lt. Aber das ist nicht alles. Die Unterentwicklung hat eineUrsache, die noch wichtiger ist als die Unzulnglichkeit im Denken: Es ist dasFehlen des brderlichen Geistes unter den Menschen und unter den Vlkern.Knnen die Menschen eine solche Brderlichkeit jemals aus eigenem Antrieberreichen? Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, abernicht zu Geschwistern. Die Vernunft fr sich allein ist imstande, die Gleichheit unterden Menschen zu begreifen und ein brgerliches Zusammenleben herzustellen, aber

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    es gelingt ihr nicht, Brderlichkeit zu schaffen. Diese hat ihren Ursprung in einertranszendenten Berufung durch Gott den Vater, der uns zuerst geliebt hat und unsdurch den Sohn lehrt, was geschwisterliche Liebe ist. In seiner Darstellung derverschiedenen Ebenen des Entwicklungsprozesses des Menschen stellte Papst PaulVI., nachdem er den Glauben erwhnt hatte, an die Spitze die Einheit in der LiebeChristi, der alle gerufen hat, als Kinder am Leben des lebendigen Gottesteilzunehmen, des Vaters aller Menschen.

    20. Diese von Populorum progressio erffneten Perspektiven bleiben grundlegend, umunserem Einsatz fr die Entwicklung der Vlker Schwung und Orientierung zuverleihen. Die Enzyklika unterstreicht auerdem immer wieder die Dringlichkeit vonReformen und ruft dann auf, angesichts der groen Probleme der Ungerechtigkeit inder Entwicklung der Vlker mutig und ohne Zgern zu handeln. Auch die Liebe inder Wahrheit schreibt diese Dringlichkeit vor. Die Liebe Christi ist es, die uns drngt:caritas Christi urget nos (2 Kor5, 14). Die Dringlichkeit liegt nicht nur in den

    Gegebenheiten, sie ergibt sich nicht nur daraus, da die Ereignisse und Problemesich berstrzen, sondern auch aus der ausgesetzten Prmie: die Verwirklichungeiner echten Brderlichkeit. Dieses Ziel hat eine solche Bedeutung, da es unsereAufgeschlossenheit erfordert, damit wir es zutiefst begreifen und uns konkret undvon Herzen dafr engagieren, da die aktuellen wirtschaftlichen undgesellschaftlichen Prozesse zu wahrhaft menschlichen Ergebnissen fhren.

    ZWEITES KAPITEL

    DIE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN IN UNSERER ZEIT

    21. PapstPaul VI.hatte eine differenzierte Sicht der Entwicklung. Mit dem BegriffEntwicklung wollte er das Ziel anzeigen, den Vlkern vor allem zu einerberwindung von Hunger, Elend, endemischen Krankheiten und Analphabetismuszu verhelfen. Das bedeutete vom konomischen Gesichtspunkt aus ihre aktiveTeilnahme am internationalen Wirtschaftsproze unter parittischen Bedingungen;vom sozialen Gesichtspunkt aus ihre Entwicklung zu gebildeten und solidarischen

    Gesellschaften; vom politischen Gesichtspunkt aus die Konsolidierungdemokratischer Regime, die imstande sind, Freiheit und Frieden zu sichern.Whrend wir nun nach vielen Jahren mit Besorgnis auf die Entwicklungen und aufdie Perspektiven der Krisen schauen, die in diesen Zeiten einander folgen,fragen wiruns, wie weit die Erwartungen Papst Pauls VI. von dem in den letzten Jahrzehntenangewendeten Entwicklungsmodell befriedigt worden sind. Wir erkennen so, da dieBefrchtungen der Kirche bezglich der Fhigkeiten des rein technisch orientiertenMenschen, sich realistische Ziele zu setzen und die zur Verfgung stehenden Mittelin angemessener Weise zu handhaben, begrndet waren. Der Gewinn ist ntzlich,wenn er in seiner Eigenschaft als Mittel einem Zweck zugeordnet ist, welcher der Art

    und Weise seiner Erlangung ebenso wie der seiner Verwendung einen Sinn verleiht.Die ausschlieliche Ausrichtung auf Gewinn luft, wenn dieser auf ungute Weise

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    unannehmbarem Kontrast zu anhaltenden Situationen entmenschlichenden Elendssteht. Der Skandal schreiender Ungerechtigkeit hlt an. Korruption und Illegalittgibt es leider im Verhalten wirtschaftlicher und politischer Vertreter der alten undneuen reichen Lnder ebenso wie in den armen Lndern selbst. Manchmal sind esgroe transnationale Unternehmen oder auch lokale Produktionsgruppen, welchedie Menschenrechte der Arbeiter nicht respektieren. Die internationalen Hilfen sindoft durch Verantwortungslosigkeiten sowohl in der Kette der Geber als auch in derder Nutznieer zweckentfremdet worden. Auch im Bereich der nicht materiellenoder der kulturellen Ursachen der Entwicklung bzw. der Unterentwicklung knnenwir die gleiche Aufteilung der Verantwortung finden. Es gibt bertriebene Formendes Wissensschutzes seitens der reichen Lnder durch eine zu strenge Anwendungdes Rechtes auf geistiges Eigentum, speziell im medizinischen Bereich. Zugleichbestehen in einigen armen Lndern kulturelle Leitbilder und gesellschaftlicheVerhaltensnormen fort, die den Entwicklungsproze bremsen.

    23. Viele Regionen der Erde haben sich heute, wenn auch auf problematische undnicht homogene Weise, fortentwickelt und sind in den Kreis der groen Mchteeingetreten, die dazu bestimmt sind, in Zukunft wichtige Rollen zu spielen. Es mu

    jedoch unterstrichen werden, da ein Fortschritt allein unter wirtschaftlichem undtechnologischem Gesichtspunkt nicht gengt. Es ist notwendig, da die Entwicklung vorallem echt und ganzheitlich ist. Das Heraustreten aus dem wirtschaftlichenEntwicklungsrckstand, ein an sich positives Faktum, lst nicht die komplexeProblematik der Frderung des Menschen: weder fr die unmittelbar von diesemFortschritt selbst betroffenen Lnder, noch fr die wirtschaftlich bereits entwickelten,und auch nicht fr die noch armen Lnder, die nicht nur unter den alten Formen derAusbeutung, sondern auch unter den negativen Konsequenzen eines durchVerzerrungen und Unausgeglichenheiten gekennzeichneten Wachstums leidenknnen.

    Nach dem Zusammenbruch der wirtschaftlichen und politischen Systeme derkommunistischen Lnder Osteuropas und dem Ende der sogenannten gegnerischenBlcke wre ein umfassendes berdenken der Entwicklung ntig gewesen. Dashatte PapstJohannes Paul II.gefordert, der 1987 die Existenz dieser Blcke als eineder Hauptursachen der Unterentwicklung ausgewiesen hatte, insofern die Politik derWirtschaft und der Kultur Geldmittel entzog und die Ideologie die Freiheit

    behinderte. Im Jahr 1991, nach den Ereignissen von 1989, forderte er auch, da demEnde der Blckeeine globale Neuplanung der Entwicklung entsprechen msse,und zwar nicht nur in jenen Lndern, sondern auch im Westen und in jenen Teilender Welt, die sich im Stadium der Entwicklung befanden. Das ist nur zum Teilgeschehen und bleibt weiter eine echte Verpflichtung, der Genge getan werdenmu, indem man vielleicht gerade aus den zur berwindung der aktuellenwirtschaftlichen Probleme notwendigen Entscheidungen Nutzen zieht.

    24. Obwohl man angesichts des schon fortgeschrittenen Prozesses der Sozialisierungvon einer weltweit gewordenen sozialen Frage sprechen konnte, war die Welt, die

    PapstPaul VI.vor sich hatte, noch viel weniger zusammengewachsen als die heutige.Wirtschaftliche Aktivitt und politische Ttigkeit spielten sich groenteils im selben

    http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htm
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    rumlichen Bereich ab und konnten sich so aufeinander verlassen. Die produktiveTtigkeit geschah vornehmlich innerhalb der nationalen Grenzen, und diefinanziellen Investitionen hatten eine eher begrenzte Zirkulation im Ausland, so dadie Politik vieler Staaten noch die Prioritten der Wirtschaft festsetzen und mit denihr noch zur Verfgung stehenden Mitteln deren Fortgang in gewisser Weise regelnkonnte. Aus diesem Grund schrieb Populorum progressio der staatlichen Gewalteine zentrale, wenn auch nicht ausschlieliche Aufgabe zu.

    In unserer Zeit sieht sich der Staat mit der Situation konfrontiert, sich mit denBeschrnkungen auseinandersetzen zu mssen, die der neue internationalekonomisch-kommerzielle und finanzielle Kontext seiner Souvernitt in den Weglegt ein Kontext, der sich auch durch eine zunehmende Mobilitt desFinanzkapitals und der materiellen wie nicht materiellen Produktionsmittelauszeichnet. Dieser neue Kontext hat die politische Macht der Staaten verndert.

    Heute auch unter dem Eindruck der Lektion, die uns die augenblicklicheWirtschaftskrise erteilt, in der die staatliche Gewalt unmittelbar damit beschftigt ist,Irrtmer und Miwirtschaft zu korrigieren scheint eine neue Wertbestimmung derRolle und der Macht der Staaten realistischer; beides mu klug neu bedacht undabgeschtzt werden, so da die Staaten wieder imstande sind auch durch neueModalitten der Ausbung , sich den Herausforderungen der heutigen Welt zustellen. Mit einer besser ausgewogenen Rolle der staatlichen Gewalt kann man davonausgehen, da sich jene neuen Formen der Teilnahme an der nationalen undinternationalen Politik strken, die sich durch die Ttigkeit der in derZivilgesellschaft arbeitenden Organisationen verwirklichen. Es ist wnschenswert,

    da in dieser Richtung eine tiefer empfundene Aufmerksamkeit und Anteilnahmeder Brger an der Res publica wachse.

    25. Vom sozialen Gesichtspunkt aus haben die Schutz- und Frsorgeeinrichtungen,die es schon zur Zeit PapstPauls VI.in vielen Lndern gab, Mhe und in Zukunftknnte es noch schwieriger werden , ihre Ziele wirklicher sozialer Gerechtigkeit ineinem zutiefst vernderten Krftespiel zu verfolgen. Der global gewordene Markt hatvor allem bei den reichen Lndern die Suche nach Zonen angetrieben, in die dieProduktion zu Niedrigpreisen verlagert werden kann, mit dem Ziel, die Preise vielerWaren zu senken, die Kaufkraft zu steigern und somit die auf vermehrtem Konsum

    basierenden Wachstumsraten fr den eigenen internen Markt zu erhhen. Folglichhat der Markt neue Formen des Wettstreits unter den Staaten angeregt, die daraufabzielen, mit verschiedenen Mitteln darunter gnstige Steuerstze und dieDeregulierung der Arbeitswelt Produktionszentren auslndischer Unternehmenanzuziehen. Diese Prozesse haben dazu gefhrt, da die Suche nach grerenWettbewerbsvorteilen auf dem Weltmarkt mit einer Reduzierung der Netze der sozialenSicherheit bezahlt wurde, was die Rechte der Arbeiter, die fundamentalenMenschenrechte und die in den traditionellen Formen des Sozialstaates verwirklichteSolidaritt in ernste Gefahr bringt. Die Systeme der sozialen Sicherheit knnen dieFhigkeit verlieren, ihre Aufgabe zu erfllen, und zwar nicht nur in den armen

    Lndern, sondern auch in den Schwellenlndern und in den seit langementwickelten Lndern. Hier kann die Haushaltspolitik mit Streichungen in den

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    Sozialausgaben, die hufig auch von den internationalen Finanzinstituten angeregtwerden, die Brger machtlos neuen und alten Gefahren aussetzen; dieseMachtlosigkeit wird durch das Fehlen eines wirksamen Schutzes durch dieArbeitnehmervereinigungen noch erhht. Die Gesamtheit der gesellschaftlichen undwirtschaftlichen Vernderungen bewirkt, da die Gewerkschaftsorganisationen bei derAusbung ihrer Aufgabe, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten, auf grereSchwierigkeiten stoen, auch weil die Regierungen aus Grnden des wirtschaftlichenNutzens oft die gewerkschaftlichen Freiheiten oder die Verhandlungsmglichkeitender Gewerkschaften selbst einschrnken. So haben die traditionellen Netze derSolidaritt wachsende Hindernisse zu berwinden. Der Vorschlag seitens derSoziallehre der Kirche angefangen von der Enzyklika Rerum novarum,Arbeitnehmervereinigungen zur Verteidigung der eigenen Rechte ins Leben zurufen, sollte darum heute noch mehr nachgekommen werden als frher, indem manvor allem eine sofortige und weitblickende Antwort auf die Dringlichkeit gibt, neueFormen des Zusammenwirkens nicht nur auf lokaler, sondern auch aufinternationaler Ebene einzufhren.

    DieArbeitsmobilitt ist in Verbindung mit der verbreiteten Deregulierung einwichtiges Phnomen nicht ohne positive Aspekte gewesen, denn sie ist imstande, dieProduktion von neuem Vermgen und den Austausch zwischen verschiedenenKulturen anzuregen. Wenn jedoch die Unsicherheit bezglich derArbeitsbedingungen infolge von Prozessen der Mobilitt und der Deregulierung umsich greift, bilden sich Formen psychologischer Instabilitt aus, Schwierigkeiten,eigene konsequente Lebensplanungen zu entwickeln, auch im Hinblick auf die Ehe.In der Folge ergeben sich Situationen nicht nur sozialer Krftevergeudung, sondernauch menschlichen Niedergangs. Vergleicht man dies mit dem, was in derIndustriegesellschaft der Vergangenheit geschah, so provoziert die Arbeitslosigkeitheute neue Aspekte wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit, und die augenblicklicheKrise kann die Situation nur noch verschlechtern. Der langzeitige Ausschlu von derArbeit oder die lngere Abhngigkeit von ffentlicher oder privater Hilfeuntergraben die Freiheit und die Kreativitt der Person sowie ihre familiren undgesellschaftlichen Beziehungen, was schwere Leiden auf psychologischer undspiritueller Ebene mit sich bringt. Allen, besonders den Regierenden, die damitbeschftigt sind, den Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Welt einerneuertes Profil zu geben, mchte ich in Erinnerung rufen, da das erste zuschtzende und zu nutzende Kapital der Mensch ist, die Person in ihrer Ganzheit istdoch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft.

    26. Auf kultureller Ebene ist der Unterschied im Vergleich zur Zeit PapstPauls VI.noch markanter. Damals waren die Kulturen ziemlich gut umschrieben und hattengrere Chancen, sich vor Versuchen kultureller Homogenisierung zu schtzen.Heute haben die Mglichkeiten der Wechselwirkung zwischen den Kulturen betrchtlichzugenommen und geben Raum fr neue Perspektiven des interkulturellen Dialogs eines Dialogs, der, um wirkungsvoll zu sein, von den verschiedenenGesprchspartnern als Ausgangspunkt das tiefe Bewutsein ihrer spezifischenIdentitt verlangt. Man darf dabei allerdings nicht auer Acht lassen, da diezunehmende Kommerzialisierung des Kulturaustauschs heute eine zweifache Gefahr

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    begnstigt. An erster Stelle ist ein hufig unkritisch angenommener kulturellerEklektizismus zu beobachten: Die Kulturen werden einfach nebeneinander gestelltund als im wesentlichen gleichwertig und untereinander austauschbar betrachtet.Das frdert das Abgleiten in einen Relativismus, der dem wahren interkulturellenDialog wenig hilfreich ist; auf gesellschaftlicher Ebene bewirkt der kulturelleRelativismus ein getrenntes Nebeneinanderher-Leben der Kulturgruppen ohneechten Dialog und folglich ohne wirkliche Integration. An zweiter Stelle existiert dieentgegengesetzte Gefahr, die in der kulturellen Verflachung und der Vereinheitlichungder Verhaltensweisen und der Lebensstile besteht. Auf diese Weise geht die tiefeBedeutung der Kultur der verschiedenen Nationen und der Traditionen derverschiedenen Vlker verloren, in denen der Mensch sich mit den Grundfragen derExistenz auseinandersetzt. Eklektizismus und kulturelle Nivellierung laufen auf dieTrennung der Kultur von der menschlichen Natur hinaus. So knnen die Kulturenihr Ma nicht mehr in einer Natur finden, die ber sie hinausgeht, und reduzierenden Menschen schlielich auf ein bloes kulturelles Phnomen. Wenn das geschieht,gert die Menschheit in neue Gefahren der Hrigkeit und der Manipulation.

    27. In vielen armen Lndern hlt als Folge der Nahrungsmittelknappheit die extremeUnsicherheit des Lebens an und luft Gefahr, sich noch zu verschrfen: Der Hungerrafft noch zahllose Opfer unter den vielen Menschen gleich dem Lazarus hinweg,denen es nicht gestattet ist, mit dem Reichen an derselben Tafel zu sitzen wie PapstPaul VI.es gewnscht hatte. Den Hungrigen zu essen geben (vgl.Mt 25, 35.37.42) ist einethischer Imperativ fr die Weltkirche, die den Lehren ihres Grnders Jesus Christusber Solidaritt und Teilen entspricht. Den Hunger in der Welt zu beseitigen, istdarber hinaus in der ra der Globalisierung auch ein Ziel geworden, dasnotwendigerweise verfolgt werden mu, um den Frieden und die Stabilitt auf derErde zu bewahren. Der Hunger hngt weniger von einem materiellen Mangel ab, alsvielmehr von einem Mangel an gesellschaftlichen Ressourcen, deren wichtigsteinstitutioneller Natur ist. Das heit, es fehlt eine Ordnung wirtschaftlicherInstitutionen, die in der Lage sind, sowohl einen der richtigen Ernhrungangemessenen regulren Zugang zu Wasser und Nahrungsmitteln zu garantieren,als auch die Engpsse zu bewltigen, die mit den Grundbedrfnissen und demNotstand im Fall echter Nahrungsmittelkrisen verbunden sind Krisen, dienatrliche Ursachen haben knnen oder auch durch nationale und internationalepolitische Verantwortungslosigkeit hervorgerufen werden. Das Problem derUnsicherheit auf dem Gebiet der Ernhrung mu in einer langfristigen Perspektivein Angriff genommen werden, indem man die strukturellen Ursachen, die siehervorrufen, beseitigt und die landwirtschaftliche Entwicklung der rmsten Lnderfrdert. Dies kann geschehen durch Investitionen in die lndliche Infrastruktur, inBewsserungssysteme, in Transportwesen, in die Organisation von Mrkten, in dieBildung und Verbreitung von geeigneten landwirtschaftlichen Techniken alsodurch Investitionen, die geeignet sind, die menschlichen, natrlichen undsoziokonomischen Ressourcen, die auf lokaler Ebene am zugnglichsten sind,bestmglich zu nutzen, so da die Nachhaltigkeit dieser Investitionen auchlangfristig gewhrleistet ist. All das mu verwirklicht werden, indem man dielokalen Gemeinschaften in die Auswahl des Ackerlandes und die Entscheidungenbezglich seiner Nutzung mit einbezieht. Aus dieser Sicht knnte es sich als hilfreich

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    erweisen, die neuen Horizonte zu betrachten, die sich durch einen richtigen Einsatzder traditionellen wie auch der innovativen landwirtschaftlichenProduktionstechniken auftun, vorausgesetzt, da letztere nach angemessenerPrfung als zweckmig, umweltfreundlich und fr die am meisten benachteiligtenBevlkerungsgruppen als zutrglich erkannt wurden. Gleichzeitig sollte die Frageeiner gerechten Agrarreform in den Entwicklungslndern nicht vernachlssigtwerden. Das Recht auf Ernhrung sowie das auf Wasser spielen eine wichtige Rollefr die Erlangung anderer Rechte, angefangen vor allem mit dem Grundrecht aufLeben. Darum ist es notwendig, da ein solidarisches Bewutsein reift, welches dieErnhrung und den Zugang zum Wasser als allgemeine Rechte aller Menschen betrachtet,ohne Unterscheidungen und Diskriminierungen. Auerdem ist es wichtig zuverdeutlichen, wie der Weg der Solidarisierung mit den armen Lndern ein Projektzur Lsung der augenblicklichen weltweiten Krise darstellen kann; Politiker undVerantwortliche internationaler Institutionen haben das in letzter Zeit erfat. Indemman durch solidarisch ausgerichtete Finanzierungsplne die armen Lnderwirtschaftlich untersttzt, damit sie selber dafr sorgen, die Nachfrage ihrer Brgernach Konsumgtern und Entwicklung zu befriedigen, kann man nicht nur ein echtesWirtschaftswachstum erzielen, sondern auch dazu beitragen, dieProduktionskapazitten der reichen Lnder zu erhalten, die Gefahr laufen, durch dieKrise in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

    28. Einer der augenscheinlichsten Aspekte der heutigen Entwicklung ist dieWichtigkeit des Themas derAchtung vor dem Leben, das in keiner Weise von denFragen bezglich der Entwicklung der Vlker getrennt werden kann. Es handelt sichum einen Aspekt, der in letzter Zeit eine immer grere Bedeutung gewinnt und unsverpflichtet, die Begriffe von Armut und Unterentwicklung auf die Fragenauszudehnen, die mit der Annahme des Lebens verbunden sind, vor allem dort, wodieses in verschiedener Weise behindert wird.

    Nicht nur die Situation der Armut verursacht noch in vielen Regionen hohe Quotender Kindersterblichkeit, sondern in verschiedenen Teilen der Welt gibt es weiterhinPraktiken der Bevlkerungskontrolle durch die Regierungen, die oft dieEmpfngnisverhtung verbreiten und sogar so weit gehen, die Abtreibunganzuordnen. In den wirtschaftlich mehr entwickelten Lndern sind dielebensfeindlichen Gesetzgebungen sehr verbreitet und haben bereits die Gewohnheit

    und die Praxis entscheidend beeinflut; sie tragen dazu bei, eine geburtenfeindlicheMentalitt zu lancieren, die man hufig auch auf andere Staaten zu bertragen sucht,als stelle sie einen kulturellen Fortschritt dar.

    Einige Nichtregierungsorganisationen arbeiten aktiv fr die Verbreitung derAbtreibung und frdern manchmal in den armen Lndern die Entscheidung fr diePraxis der Sterilisierung, auch bei Frauen, die sich der Bedeutung des Eingriffs nichtbewut sind. Auerdem besteht der begrndete Verdacht, da gelegentlich dieEntwicklungshilfe selbst an bestimmte Formen der Gesundheitspolitik geknpftwird, die de facto die Auferlegung starker Geburtenkontrollen einschlieen.

    Besorgniserregend sind ferner Gesetzgebungen, welche die Euthanasie vorsehen,

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    und ebenso beunruhigend auch der Druck von nationalen und internationalenGruppen, die deren rechtliche Anerkennung fordern.

    Die Offenheit fr das Leben steht im Zentrum der wahren Entwicklung. Wenn eineGesellschaft den Weg der Lebensverweigerung oder -unterdrckung einschlgt,

    wird sie schlielich nicht mehr die ntigen Motivationen und Energien finden, umsich fr das wahre Wohl des Menschen einzusetzen. Wenn der persnliche undgesellschaftliche Sinn fr die Annahme eines neuen Lebens verlorengeht, verdorrenauch andere, fr das gesellschaftliche Leben hilfreiche Formen der Annahme. DieAnnahme des Lebens strkt die moralischen Krfte und befhigt zu gegenseitigerHilfe. Wenn die reichen Vlker die Offenheit fr das Leben pflegen, knnen sie dieBedrfnisse der armen Vlker besser verstehen, die Verwendung ungeheurerwirtschaftlicher und intellektueller Ressourcen zur Befriedigung egoistischerWnsche bei den eigenen Brgern vermeiden und statt dessen gute Aktionen imHinblick auf eine moralisch gesunde und solidarische Produktion frdern, in der

    Achtung des Grundrechtes jedes Volkes und jedes Menschen auf das Leben.

    29. Es gibt noch einen anderen Aspekt des heutigen Lebens, der mit der Entwicklungsehr eng verbunden ist: die Verweigerung des Rechtes auf Religionsfreiheit. Ich beziehemich nicht nur auf die Kmpfe und Konflikte, die in der Welt noch aus religisenGrnden ausgefochten werden, auch wenn das Religise manchmal nur derDeckmantel fr andersartige Grnde ist wie die Gier nach Herrschaft und Reichtum.Tatschlich wird heute oft im heiligen Namen Gottes gettet, wie mein VorgngerPapstJohannes Paul II.und ich selbst wiederholt ffentlich betont und mibilligthaben. Gewalt aller Art bremst die authentische Entwicklung und behindert den

    bergang der Vlker zu grerem soziokonomischen und geistigen Wohlbefinden.Das gilt speziell fr den Terrorismus mit fundamentalistischem Hintergrund, derLeid, Verwstung und Tod verursacht, den Dialog zwischen den Nationen blockiertund groe Geldmittel von ihrem friedlichen und zivilen Einsatz abzieht. Es mu

    jedoch hinzugefgt werden, da auer dem religisen Fanatismus, der in einigenBereichen die Ausbung des Rechtes auf Religionsfreiheit verhindert, auch dieplanmige Frderung der religisen Indifferenz oder des praktischen Atheismusdurch viele Lnder den Bedrfnissen der Entwicklung der Vlker widerspricht,indem sie ihnen spirituelle und humane Reichtmer entzieht. Gott ist der Garant derwahren Entwicklung des Menschen, denn da er ihn nach seinem Bild geschaffen hat,

    begrndet er auch seine transzendente Wrde und nhrt sein Grundverlangen,mehr zu sein. Der Mensch ist nicht etwa ein verlorenes Atom in einem Zufalls-Universum, sondern ein Geschpf Gottes, das von ihm eine unsterbliche Seeleempfangen hat und von Ewigkeit her geliebt worden ist. Wenn der Mensch nur dasErgebnis des Zufalls bzw. der Notwendigkeit wre oder wenn er seine Bestrebungenauf den begrenzten Horizont der Situationen reduzieren mte, in denen er lebt,wenn alles allein Geschichte und Kultur wre und der Mensch nicht eine Naturbese, die dazu bestimmt ist, sich in einem bernatrlichen Leben selbst zuberschreiten, knnte man von Wachstum oder Evolution sprechen, aber nicht vonEntwicklung. Wenn der Staat Formen eines praktischen Atheismus frdert, lehrtoder sogar durchsetzt, entzieht er seinen Brgern die moralische und geistige Kraft,die fr den Einsatz in der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung unentbehrlich

    http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/index_ge.htm
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    ist, und hindert sie, mit neuer Lebendigkeit im eigenen Engagement fr einegroherzigere menschliche Antwort auf die gttliche Liebe voranzuschreiten. Eskommt auch vor, da die wirtschaftlich entwickelten Lnder oder dieSchwellenlnder im Rahmen ihrer kulturellen, kommerziellen und politischenBeziehungen diese herabwrdigende Sicht des Menschen und seiner Bestimmung indie armen Lnder exportieren. Das ist der Schaden, den die berentwicklung derechten Entwicklung zufgt, wenn sie von der moralischen Unterentwicklungbegleitet ist.

    30. In dieser Richtung bekommt das Thema der ganzheitlichen Entwicklung desMenschen eine noch umfassendere Tragweite: Die Wechselbeziehung zwischen ihrenvielfltigen Elementen erfordert, da man sich darum bemht, die verschiedenenEbenen des menschlichen Wissens im Hinblick auf die Frderung einer wahrenEntwicklung der Vlker interagieren zu lassen. Oft wird die Meinung vertreten, dieEntwicklung bzw. die entsprechenden soziokonomischen Manahmen verlangten

    nur ihre Realisierung als Frucht eines gemeinsamen Handelns. Dieses gemeinsameHandeln mu aber orientiert werden, denn alles soziale Handeln setzt eine Lehrevoraus. Angesichts der Komplexitt der Probleme ist es klar, da die verschiedenenDisziplinen mittels einer geordneten Interdisziplinaritt zusammenarbeiten mssen.Die Liebe schliet das Wissen nicht aus, ja, sie verlangt, frdert und belebt es voninnen her. Das Wissen ist niemals allein das Werk der Intelligenz. Es kann zwar aufein Kalkl oder Experiment reduziert werden, wenn es aber Weisheit sein will, dieimstande ist, den Menschen im Licht der Grundprinzipien und seiner letzten Ziele zuorientieren, dann mu sie mit dem Salz der Liebe gewrzt sein. Das Tun istblind ohne das Wissen, und das Wissen ist steril ohne die Liebe. Denn der wahreLiebende [ist] erfinderisch im Entdecken von Ursachen des Elends, im Finden derMittel, es zu berwinden und zu beseitigen. Gegenber den vor uns liegendenPhnomenen verlangt die Liebe in der Wahrheit vor allem ein Erkennen und einVerstehen im Bewutsein und in der Achtung der spezifischen Kompetenz jederEbene des Wissens. Die Liebe ist keine nachtrgliche Hinzufgung, gleichsam einAnhngsel an die von den verschiedenen Disziplinen bereits getane Arbeit, sondernsie steht mit diesen von Anfang an im Dialog. Die Ansprche der Liebe stehen zudenen der Vernunft nicht im Widerspruch. Das menschliche Wissen ist ungengend,und die Schlufolgerungen der Wissenschaften knnen allein den Weg zurganzheitlichen Entwicklung des Menschen nicht weisen. Es ist immer ntig, darberhinaus weiter vorzustoen das verlangt die Liebe in der Wahrheit. Darber hinauszu gehen bedeutet jedoch niemals, von den Schlssen der Vernunft abzusehen, nochihren Ergebnissen zu widersprechen. Intelligenz und Liebe stehen nicht einfachnebeneinander: Es gibt die an Intelligenz reiche Liebe und die von Liebe erfllte Intelligenz.

    31. Das bedeutet, da die moralischen Bewertungen und die wissenschaftlicheForschung gemeinsam wachsen mssen und da die Liebe sie in einer harmonischeninterdisziplinren Ganzheit, die aus Einheit und Unterschiedenheit besteht, beseelenmu. Die Soziallehre der Kirche, die eine wichtige interdisziplinre Dimension hat,kann aus dieser Perspektive eine Funktion von auerordentlicher Wirksamkeiterfllen. Sie gestattet dem Glauben, der Theologie, der Metaphysik und denWissenschaften, ihren Platz innerhalb einer Zusammenarbeit im Dienst des

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    Menschen zu finden. Vor allem hier realisiert die Soziallehre der Kirche ihre auf derWeisheit beruhende Dimension. Papst Paul VI. hatte deutlich gesehen, wie dieUnterentwicklung unter anderem auch dadurch verursacht wird, da es an Weisheit,an Reflexion, an einem Denken fehlt, das imstande ist, eine richtungweisendeSynthese aufzustellen; fr sie bedarf es einer klaren Konzeption aufwirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet. Die bertriebeneAufteilung des Wissens in Fachbereiche, das Sich-Verschlieen derHumanwissenschaften gegenber der Metaphysik, die Schwierigkeiten im Dialogder Wissenschaften mit der Theologie schaden nicht nur der Entwicklung desWissens, sondern auch der Entwicklung der Vlker, denn in diesen Fllen wird derBlick auf das ganze Wohl des Menschen in den verschiedenen Dimensionen, die escharakterisieren, verstellt. Die Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs ist unerllich, um alle Elemente der Frage nach der Entwicklung undder Lsung der soziokonomischen Probleme angemessen abwgen zu knnen.

    32. Die groen Neuheiten, die das Gesamtbild der Entwicklung der Vlker heuteaufweist, machen in vielen Fllen neue Lsungen erforderlich. Sie mssen unterBeachtung der Eigengesetze jeder Realitt und zugleich im Licht einer ganzheitlichenSicht des Menschen gesucht werden einer Sicht, welche die verschiedenen Aspektedes Menschen widerspiegelt, wie sie sich dem von der Liebe geluterten Blickdarstellen. Dann wird man einzigartige bereinstimmungen und konkreteLsungsmglichkeiten entdecken, ohne auf irgendeinen fundamentalen Bestandteildes menschlichen Lebens zu verzichten.

    Die Wrde der Person und die Erfordernisse der Gerechtigkeit verlangen, da vor

    allem heute die wirtschaftlichen Entscheidungen die Unterschiede im Besitztumnicht in bertriebener und moralisch unhaltbarer Weise vergrern und da alsPrioritt weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen und frden Erhalt ihrer Arbeitsmglichkeit zu sorgen. Recht besehen erfordert das auch diewirtschaftliche Vernunft. Die systembedingte Zunahme der Ungleichheit unterGesellschaftsgruppen innerhalb eines Landes und unter den Bevlkerungenverschiedener Lnder bzw. das massive Anwachsen der relativen Armut neigt nichtnur dazu, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untergraben, und bringt auf dieseWeise die Demokratie in Gefahr. Auch auf wirtschaftlicher Ebene wirkt sie sichnegativ aus: durch fortschreitende Abtragung des Gesellschaftskapitals bzw. durch

    Untergrabung jener Gesamtheit von Beziehungen, die auf Vertrauen, Zuverlssigkeitund Einhaltung der Regeln grnden und die unverzichtbar sind fr jedes brgerlicheZusammenleben.

    Zudem sagt uns die Wirtschaftswissenschaft, da eine strukturelle Situation derUnsicherheit Verhaltensweisen erzeugt, welche die Produktion hemmen undmenschliche Ressourcen verschwenden, insofern der Arbeitnehmer dazu neigt, sichpassiv den automatischen Mechanismen zu fgen, anstatt Kreativitt zu entwickeln.Auch in diesem Punkt gibt es eine bereinstimmung zwischenWirtschaftswissenschaft und moralischer Bewertung. Der menschliche Preis ist immerauch ein wirtschaftlicher Preis, und die wirtschaftlichen Mistnde fordern immer aucheinen menschlichen Preis.

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    Ferner mu daran erinnert werden, da die Reduzierung der Kulturen auf dietechnologische Dimension, selbst wenn sie kurzfristig die Erlangung eines Gewinnsfrdern mag, auf lange Sicht die gegenseitige Bereicherung und die Dynamiken derZusammenarbeit behindert. Es ist wichtig, zwischen kurzfristigen und langfristigenwirtschaftlichen oder soziologischen berlegungen zu unterscheiden. Die Senkungdes Rechtsschutzniveaus fr die Arbeiter oder der Verzicht auf Mechanismen derUmverteilung des Gewinns, damit das Land eine grere internationaleWettbewerbsfhigkeit erlangt, verhindern, da sich eine langfristige Entwicklungdurchsetzen kann. So sollten die Konsequenzen, welche die aktuellen Tendenzen zueiner kurzfristig, bisweilen extrem kurzfristig angelegten Wirtschaft fr dieMenschen haben, aufmerksam abgewogen werden. Das verlangt eine neue undvertiefte Reflexion ber den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele sowie eine tiefgreifendeund weitblickende Revision des Entwicklungsmodells, um seine Mistnde undVerzerrungen zu korrigieren. Tatschlich ist dies ein Erfordernis der kologischenGesundheit des Planeten; und vor allem ist es eine Notwendigkeit, die sich aus derkulturellen und moralischen Krise des Menschen ergibt, deren Symptome seitlangem in allen Teilen der Welt sichtbar sind.

    33. ber vierzig Jahre nach der Enzyklika Populorum progressio ist ihr Grundthema,eben der Fortschritt, nach wie vor ein noch offenes Problem, das sich durch dieaugenblickliche Wirtschafts- und Finanzkrise verschrft hat und noch dringendergeworden ist. Wenn einige Regionen der Erde, die einst durch die Armut belastetwaren, bemerkenswerte nderungen im Sinn eines wirtschaftlichen Wachstums undeiner Beteiligung an der Weltproduktion erfahren haben, so leben andere Zonennoch in einer Situation des Elends, die jener zur Zeit PapstPauls VI.vergleichbar ist,

    ja, in einigen Fllen kann man sogar von einer Verschlechterung sprechen. Es istbezeichnend, da einige Ursachen dieser Situation bereits in Populorum progressioausgemacht worden waren, wie zum Beispiel die von den wirtschaftlichentwickelten Lndern festgesetzten hohen Grenzzlle, welche die Produkte aus denarmen Lndern immer noch daran hindern, auf die Mrkte der reichen Lnder zugelangen. Andere Ursachen hingegen, welche die Enzyklika nur angedeutet hatte,sind in der Folge deutlicher hervorgetreten. Das trifft auf die Bewertung desEntkolonisierungsprozesses zu, der damals in vollem Gange war. PapstPaul VI.wnschte sich einen autonomen Verlauf, der sich in Freiheit und Frieden vollziehensollte. Nach ber vierzig Jahren mssen wir eingestehen, wie schwierig dieserVerlauf gewesen ist, sei es aufgrund neuer Formen von Kolonialismus undAbhngigkeit von alten und neuen Hegemoniallndern, sei es durchschwerwiegende Verantwortungslosigkeiten innerhalb der Lnder selbst, die sichunabhngig gemacht haben.

    Die hauptschliche Neuheit war die Explosion der weltweiten wechselseitigenAbhngigkeit, die inzwischen unter der Bezeichnung Globalisierung allgemeinbekannt ist. PapstPaul VI.hatte sie teilweise vorausgesehen, doch das Ausma unddie Heftigkeit, mit der sie sich entwickelt hat, sind erstaunlich. In den wirtschaftlichentwickelten Lndern entstanden, hat dieser Proze seiner Natur entsprechend eineEinbeziehung smtlicher konomien verursacht. Er war der Hauptantrieb fr dasHeraustreten ganzer Regionen aus der Unterentwicklung und stellt an sich eine

    http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htmhttp://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/index_ge.htm
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    groe Chance dar. Ohne die Fhrung der Liebe in der Wahrheit kann dieserweltweite Impuls allerdings dazu beitragen, die Gefahr bisher ungekannter Schdenund neuer Spaltungen in der Menschheitsfamilie heraufzubeschwren. Darumstellen uns die Liebe und die Wahrheit vor einen ganz neuen und kreativen Einsatz,der freilich sehr umfangreich und komplex ist. Es geht darum, die Vernunftauszuweiten und sie fhig zu machen, diese eindrucksvollen neuen Dynamiken zu erkennenund auszurichten, indem man sie im Sinn jener Kultur der Liebe beseelt, derenSamen Gott in jedes Volk und in jede Kultur gelegt hat.

    DRITTES KAPITEL

    BRDERLICHKEIT, WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND

    ZIVILGESELLSCHAFT

    34. Die Liebe in der Wahrheit stellt den Menschen vor die staunenswerte Erfahrung desGeschenks. Die Unentgeltlichkeit ist in seinem Leben in vielerlei Formengegenwrtig, die aufgrund einer nur produktivistischen und utilitaristischen Sichtdes Daseins jedoch oft nicht erkannt werden. Der Mensch ist fr das Geschenkgeschaffen, das seine transzendente Dimension ausdrckt und umsetzt. Manchmalist der moderne Mensch flschlicherweise der berzeugung, der einzige Urheberseiner selbst, seines Lebens und der Gesellschaft zu sein. Diese berheblichkeit isteine Folge des egoistischen Sich-in-sich-selbst-Verschlieens und rhrt in Begriffen

    des Glaubens gesprochen von der Ursnde her.Die Weisheit der Kirche hat stetsvorgeschlagen, die Erbsnde auch bei der Interpretation der sozialen Gegebenheitenund beim Aufbau der Gesellschaft zu beachten: Zu bersehen, da der Mensch eineverwundete, zum Bsen geneigte Natur hat, fhrt zu schlimmen Irrtmern imBereich der Erziehung, der Politik, des gesellschaftlichen Handelns und derSittlichkeit. Zur Aufzhlung der Bereiche, in denen sich die schdlichenAuswirkungen der Snde zeigen, gehrt nun schon seit langer Zeit auch jener derWirtschaft. Auch unsere Zeit liefert uns dafr einen offensichtlichen Beleg. Dieberzeugung, sich selbst zu gengen und in der Lage zu sein, das in der Geschichtegegenwrtige bel allein durch das eigene Handeln berwinden zu knnen, hat den

    Menschen dazu verleitet, das Glck und das Heil in immanenten Formen desmateriellen Wohlstands und des sozialen Engagements zu sehen. Weiter hat dieberzeugung, da die Wirtschaft Autonomie erfordert und keine moralischeBeeinflussung zulassen darf, den Menschen dazu gedrngt, das Werkzeug derWirtschaft sogar auf zerstrerische Weise zu mibrauchen. Langfristig haben dieseberzeugungen zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systemengefhrt, die die Freiheit der Person und der gesellschaftlichen Gruppen unterdrckthaben und genau aus diesem Grund nicht in der Lage waren, fr die Gerechtigkeitzu sorgen, die sie versprochen hatten. Wie ich schon in meiner Enzyklika Spe salvigeschrieben habe, entfernt man auf diese Weise die christliche Hoffnung aus der

    Geschichte, die jedoch ein kraftvolles Potential im Dienste der umfassendenEntwicklung des Menschen darstellt, die in der Freiheit und in der Gerechtigkeit

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    gesucht wird. Die Hoffnung ermutigt die Vernunft und gibt ihr die Kraft, den Willenzu lenken. Sie ist bereits im Glauben gegenwrtig, von dem sie geradezu gewecktwird. Die Liebe in der Wahrheit nhrt sich aus ihr und macht sie zugleich sichtbar.Da die Hoffnung ein vllig unentgeltliches Geschenk Gottes ist, tritt sie als etwasUngeschuldetes in unser Leben herein, das ber jedes Gesetz der Gerechtigkeithinausgeht. Das Geschenk bertrifft seinem Wesen nach den Verdienst, sein Gesetzist das berma. Es kommt uns in unserer Seele zuvor als Zeichen der GegenwartGottes in uns und seiner Erwartung an uns. Die Wahrheit, die wie die Liebe einGeschenk ist, ist, so lehrt der heilige Augustinus, grer als wir. Auch die Wahrheitber uns selbst, ber unsere eigene Erkenntnis, ist uns zu aller erst geschenkt.Denn in jedem Erkenntnisvorgang wird die Wahrheit nicht von uns erzeugt, sondernimmer gefunden, oder besser, empfangen. Die Wahrheit kommt wie die Liebe nichtaus Denken und Wollen, sondern bermchtigt gleichsam den Menschen.

    Da die Liebe in der Wahrheit eine Gabe ist, die alle empfangen, stellt sie eine Kraft

    dar, die Gemeinschaft stiftet, die die Menschen auf eine Weise vereint, die keineBarrieren und Grenzen kennt. Die Gemeinschaft der Menschen kann von uns selbstgestiftet werden, aber sie wird allein aus eigener Kraft nie eine vollkommenbrderliche Gemeinschaft sein und jede Abgrenzung berwinden, das heit, einewirklich universale Gemeinschaft werden: Die Einheit des Menschengesch