Carlsen - Wir vom Neptunplatz

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© eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“ Seite 89 SPRACHLOS IN NIPPES Mit einem „Mach‘s gut, Lale“ hatte Hannes ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Dann war er in seiner Uniform aus ihrer Wohnung gestürmt und im Treppenhaus verschwunden. Seitdem hockte Lale in ihrem Flur, den Rücken an die Wohnungstür gelehnt, und weinte. Wie konnte sie nur so blöd sein?! Sie hatte selbst Schuld, dass sie jetzt wie ein Häuflein Elend Rotz und Wasser heulte und sich vorkam wie die letzte Idiotin. Hannes war nicht gut für sie! Warum hatte sie das nur vergessen?! An der Tür klopfte es. Sie stand auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah durch den Spion. Hannes. Was wollte der schon wieder? Sie öffnete die Tür nur einen Spalt weit. „Was willst du“, fragte sie schroff und hoffte, dass sie nicht allzu verheult aussah. Dann fiel ihr auf, dass auch seine Augen verräterisch glänzten. „Ich ... “, stammelte er und verstummte. Im Treppenhaus hoch über ihnen entstand Tumult. Jemand polterte eilig die Stufen herunter. Lale zog ihre Tür auf und winkte Hannes in die Wohnung. Ihr Trennungsgespräch ging niemanden etwas an, schon gar nicht ihre ätzenden Nachbarn.

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13. Teil des Prologs zum Buch

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SPRACHLOS IN NIPPES

Mit einem „Mach‘s gut, Lale“ hatte Hannes ihr einen Kuss auf die Stirn

gedrückt. Dann war er in seiner Uniform aus ihrer Wohnung gestürmt und

im Treppenhaus verschwunden.

Seitdem hockte Lale in ihrem Flur, den Rücken an die Wohnungstür

gelehnt, und weinte. Wie konnte sie nur so blöd sein?! Sie hatte selbst

Schuld, dass sie jetzt wie ein Häuflein Elend Rotz und Wasser heulte und

sich vorkam wie die letzte Idiotin. Hannes war nicht gut für sie! Warum

hatte sie das nur vergessen?!

An der Tür klopfte es. Sie stand auf, wischte sich die Tränen aus dem

Gesicht und sah durch den Spion. Hannes. Was wollte der schon wieder?

Sie öffnete die Tür nur einen Spalt weit.

„Was willst du“, fragte sie schroff und hoffte, dass sie nicht allzu verheult

aussah. Dann fiel ihr auf, dass auch seine Augen verräterisch glänzten.

„Ich ... “, stammelte er und verstummte. Im Treppenhaus hoch über ihnen

entstand Tumult. Jemand polterte eilig die Stufen herunter. Lale zog ihre

Tür auf und winkte Hannes in die Wohnung. Ihr Trennungsgespräch ging

niemanden etwas an, schon gar nicht ihre ätzenden Nachbarn.

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In der Küche setzten sie sich. Diesmal gab es keinen Tee. Der Himmel vor

dem Fenster war stumpf und grau. Ebenso grau wie das Gefühl, das ihr

Herz im Griff hielt.

Hannes sah sie an und suchte nach Worten. Genau so hatte gestern alles

angefangen. Hier in dieser Küche. Warum hatte sie sich bloß nochmal auf

ihn eingelassen? Sie wusste doch, dass er nicht für eine Beziehung taugte.

Dass er immer dann die Flucht ergriff, wenn es ernst wurde. Und dass er

sich immer dann ein wenig öffnete, wenn sie sich von ihm zurückzog. Wie

sie dieses ewige Katz und Maus-Spiel hasste!

„Lass uns nicht im Streit auseinandergehen“, sagte er und studierte seine

Hände. „Es kann so viel passieren … Ich will nicht, dass du denkst, mir

fällt das leicht, dich loszulassen.“

In Lales Augen sammelte sich die nächste Tränenflut. „Ich versteh einfach

nicht, was dein Problem ist.“

Hannes hob den Kopf und sah sie an. Er sah auf einmal total verloren aus.

„Ich weiß es doch auch nicht, Lale. Ich weiß nur, dass du mir unendlich

wichtig bist. Werd glücklich. Versprich mir das.“

„Wie denn?“, flüsterte sie. „Wie denn ohne dich?“

Doch darauf antwortete er nicht. Er saß einfach nur da, sprachlos, und

starrte auf seine Beschützer-Hände.

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„Ich hoffe, wir bleiben Freunde“, sagte er dann und stand auf.

Freunde, dachte Lale bitter. Was für ein schwacher Trost.

„Sicher, bleiben wir“, antwortete sie mechanisch und erhob sich ebenfalls.

Er sollte bloß nicht merken, wie schlecht es ihr mit diesem schlappen Deal

ging.

„Lale, es tut mir ...“

„Schon okay“, unterbrach sie ihn. Dass es ihm leid tat, hatte er in den

letzten Stunden oft genug gesagt. „Es ist nicht allein deine Schuld, dass

das mit uns nicht funktioniert.“

Es tat weh, sich das einzugestehen, aber es stimmte. Wenn sie ehrlich war,

hatte sie von dem Moment, in dem sie sich kennengelernt hatten, gewusst,

dass Hannes nicht der Mann war, mit dem sie alt werden würde.

Er nickte erleichtert. Und machte einen Schritt auf sie zu.

„Ich muss dann mal.“ Er nahm sie in den Arm und zog sie fest an sich.

„Klar.“ Sie löste sich von ihm und ging vor ihm her in den Flur. Die Hand

auf der Klinke drehte sie sich zu ihm um.

„Pass auf dich auf da unten. Versprochen? Ich will nicht irgendwann an

deinem Sarg stehen müssen.“ Sie versuchte ein Lächeln.

„Keine Sorge. Ich bin immer der erste, der in Deckung geht, wenn‘s ernst

wird“, lächelte er zurück. Doch seine Augen lachten nicht mit.

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An der Tür fanden sie beide keine Worte mehr. Ein letzter, inniger Kuss –

und dann war er weg.

Diesmal endgültig, das spürte Lale.

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SCHWESTERHERZSCHMERZ

Rudi saß in der Filmdose und klammerte sich an ihren heißen Orangensaft

mit Ingwer. Hannes lächelte sie schuldbewusst an. Seine Augen waren

gerötet. „Ich versteh ja, dass du sauer bist, Rudi. Sorry. Ich war noch bei

...“, er suchte nach Worten, fand offensichtlich keine und löffelte

stattdessen stumm Zucker in seinen Milchkaffee.

Rudi nickte, ebenfalls wortlos. Sie hatte keine Lust, sich mit Hannes zu

streiten. Er würde eh nicht verstehen, was ihr Problem war. Und auf

einmal wusste sie, bei wem er die Nacht verbracht hatte. Die Erkenntnis

stach ihr wie ein Stachel ins Herz.

„Du warst bei Lale, stimmt‘s?“

Hannes hob den Blick. Seine schwarzen Augen wirkten kühl, distanziert.

Der Einsatz in Afghanistan hatte ihn verändert.

„Ich hab‘s lang nicht wahrhaben wollen“, nickte er nach einer Weile, „aber

heute weiß ich, Lale hat zu Recht Schluss gemacht. Das musste ich ihr

sagen.“

„Und dafür hast du den ganzen Abend und die ganze Nacht gebraucht?“

Rudi ballte eifersüchtig die Fäuste in ihrem Schoß. Wie konnte ihm seine

Ex wichtiger sein als seine Schwester?

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„Wir ... ich ...“, stotterte er. „Weißt du, als ich Lale ...“

„Schon gut“, winkte Rudi ab. „Ich kann‘s mir denken: Revival-Sex mit der

Ex. Übertrieben überflüssig, wenn du mich fragst.“

„Hast ja recht“, gab er zu. „Jetzt weiß ich das auch.“ Er hob seine Tasse

hoch und pustete hinein. „Wir hatten Riesenzoff heute Morgen.“

Der Kellner, ein Glatzkopf mit zwei verschiedenfarbigen Augen, den Rudi

flüchtig aus der Uni kannte, brachte das Frühstück.

„Und wie seid ihr jetzt auseinandergegangen?“, fragte sie so beiläufig wie

möglich, während sie etwas von ihrem Rührei auf eine Scheibe

Schwarzbrot schaufelte. Hannes sollte bloß nicht merken, dass sie ihn am

liebsten in der Luft zerfetzt hätte.

„Keine Ahnung“, schüttelte er den Kopf. „Eigentlich dachte ich, Lale wär

cool mit der Trennung. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“

Rudi zwang sich, ruhig zu bleiben. Hannes kapierte anscheinend immer

noch nicht, wie sehr Lale ihn geliebt hatte. Und vermutlich hatte sich

daran bis heute nichts geändert. Aber das war nicht mehr Rudis Problem.

Sie hielt sich da besser raus.

„Warum habt ihr zwei eigentlich keinen Kontakt mehr?“ Hannes biss in

sein Honig-Brötchen. „Ihr wart doch die besten Freundinnen.“

„Als sie sich von dir getrennt hat, hat sie mich gleich mit abserviert.“

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„Das tut mir leid, Schwesterherz.“

Rudi schüttelte den Kopf und nippte an ihrem Orangensaft, der inzwischen

leider lauwarm war.

„Vergiss es. Lass uns nicht von Lale reden. Wie ist es in Afghanistan? Und

was für einen Film hast du in Bonn gedreht?“

Jetzt war es Hannes, der abwinkte.

„Ne Image-Geschichte. Die Bundeswehr braucht Soldaten für

Auslandseinsätze. Bevorzugt Migranten, die sich vor Ort mit der

einheimischen Bevölkerung verständigen können. Das soll zu mehr

Akzeptanz und Sicherheit führen.“

„Und wofür brauchten die dich?“

„Ich bin der einzige aus meiner Einheit, der nicht wie ein Deutscher

aussieht“, antwortete Hannes und biss seelenruhig in sein Brötchen. Rudi

leerte ihr Glas und kaute missmutig auf einer Ingwerscheibe herum.

„Find ich total scheiße“, sagte sie dann. „Die machen dich zur Kokosnuss.

Wir sind Schwarze Deutsche, das ist auch unser Land. Aber die Leute

kapieren das nie, wenn du ihnen den Ausländer vorspielst.“

Hannes nickte abwesend und sah auf seine Uhr. Grundsatzgespräche über

derartige Themen verabscheute er wie Gremlins das Wasser.

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„Ich weiß. Aber lass uns jetzt nicht darüber streiten. Ich hab nicht mehr

viel Zeit, und ich weiß noch gar nichts von dir. Wie geht‘s dir denn hier in

Köln?“

„Alles bestens“, log Rudi. Was sollte sie ihm auch erzählen? Rührseliges

aus ihrem tristen Single-Leben? Die neuesten Stories aus ihrer Horror-

WG? Oder dass sie den Job in der Kneipe würde kündigen müssen, weil er

sie von guten Leistungen in der Uni abhielt? Hannes war ihr großer

Bruder, sie liebte ihn über alles. Aber etwas zwischen ihnen hatte sich

verändert. Er war so distanziert. Total fremd irgendwie. Besser, wenn sie

ihre Probleme in Zukunft allein anging ...

Sie zwang sich zu lächeln und sah in sein Pokerface. Fühlte sich so

Erwachsenwerden an?