celluloid Beilage zur Wiener Zeitung Nr. 4a/2013

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Olga Kurylenko über Terrence Malicks "To the Wonder" (ab 31.5. im Kino), Steven Soderbergh über "Side Effects", Isabelle Huppert über "Captive" - Highlights aus der neuen celluloid-Ausgabe Nr 3/2013 (jetzt im Handel)

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celluloidAusgabe 4a/2013 - 27. April 2013 gegründet 2000

to the wonderMit beiträgen aus deM filMMagazin celluloidwww.celluloid-filMMagazin.coM

olga kurlenko & ben affleck

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edItorIALLiebe Leser,

Was kommt eigentlich nach Haneke? Ist der Hype um den österreichischen Film vielleicht nur eine Blase, wie man sie von der Börse kennt? Will heißen: Hat der Erfolg eine Basis, eine Substanz? Eine Frage, die die Branche zurecht beschäftigt. Und wie ist das mit den stetig darbenden Zuschauerzahlen für den heimischen Film im Inland? Ideas, anyone?Wir haben in unserer Kiosk-Ausgabe cellu-loid Nr. 3/2013 (kl. Foto), die ab sofort in über 600 gut sortierten Trafiken Öster-reichs erhältlich ist, in einer ausgedehnten Fotostrecke elf derzeitige StudentInnen der Wiener Filmakademie vor den Vorhang gebeten, um nachzufragen, wie es um den Nachwuchs bestellt ist. Die Auswahl der StudentInnen haben sie untereinander selbst getroffen, sie geht quer durch alle Studienrichtungen. In einem Fragebogen teilen sie mit uns ihre Gedanken zum österreichischen Film, zu ihrer persönlichen Motivation, Filmschaffende zu werden, und zur Lage der Arbeitssituation. Über-raschend viele von ihnen sind bei etlichen Themen einer Meinung. Zugleich kristalli-sieren sich auch durchwegs eigenständige Künstlerpersönlichkeiten heraus. Holen Sie sich unser aktuelles Heft am Kiosk!

In diesem Sinne viel Vergnügen beim Lesenwünscht Ihnen

Matthias greuling Chefredakteur & Herausgeber

[email protected]

IMPRESSUM:

celluloid 4a/2013 3

C e L Lu L o I d o n L I n e : w w w. C e L Lu L o I d - f I L m m AG A z I n . C o m

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celluloid Filmmagazin Beilage zur Wiener Zeitung Nummer 4a/2013, Mai/Juni 2013Beilage zur „Wiener Zeitung“ am 27. April 2013.Medieninhaber und Herausgeber: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Beiträge in dieser Beilage wurden uns mit freundlicher Genehmigung vom Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films zur Verfügung gestellt. Die Interviews wurden von Mitgliedern der celluloid-Redaktion geführt. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Fotos: Filmverleiher. celluloid versteht sich als publizistische Plattform für den österreichischen und den europäischen Film und bringt Berichte über aktuelle Filme.Anschrift: Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: [email protected], Internet: http://www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2013 by Werbeagentur Matthias Greuling

IN WIEN HATTE TOM CRUISE EINE TOLLE ZEIT MIT WELTRAUMSPRINGER FELIX BAUMGARTNER, DER TAGE SPÄTER - IM SELBEN ANZUG - SOGAR OZZY OSBOURNE TRAF

So Mr. Cruise, I heard you do your own stunts.

That‘s cute.

Tum

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neues VoM ÖsterreicHiscHen filMwunder

audienz bei joHanna orsini-rosenberg

Johanna Orsini-Rosenberg, Jahrgang 1968, hat einen klingenden Namen. Alter Adel.

Die Eltern, Brigitte und Felix Orsini-Rosenberg sind Architekten. Aber keine Sorge: Man braucht für Frau Orsini-Rosenberg keine Audienz. Im echten Leben lebt sie nämlich einen ziemlich bodenständigen Umgang. Ist gesellig, fröhlich, hellwach. Trinkt auch mal eine Runde „Kalaschnikov“ mit, wenn bei der Diagonale in Graz die Nightline im Kunsthaus brodelt. Und steht dort am Ende als Siegerin auf der Bühne: Ausgezeichnet für ihre furiose Performance als beste Hauptdarstellerin in Daniel Hoesls viel beachtetem „Soldate Jeannette“, der nach seiner Weltpremiere in Sundance auch in Rotterdam zu sehen war und dort den Hivos Tiger Award bekam. Ein Film wie eine Revolution gegen ausgelutsch-te Konventionen. Gedreht mit 65.000 Euro und ohne Drehbuch, zirkelnd um eine Frau (Orsini-Rosenberg), die sich von materiellem Wohlstand verabschieden muss - und will.

Für Orsini-Rosenberg ist „Soldate Jeannette“ erst der zweite Film, nach einem Auftritt in „Mahler auf der Couch“ (2009) von Percy Adlon. Sonst ist Orsini-Rosenberg auf den Theaterbühnen von Burg, Volkstheater und in Göttingen zu sehen. Gern hat man sie auch für Kurzfilme gebucht, darunter für Arbeiten von Hüseyin Tabak, Josef Dabernig und Jessica Hausner. Eine brotlose Kunst eigentlich. Auch für „Soldate Jeanette“ wurde sie - wie auch der Rest des Teams - nicht bezahlt. „Aber gut bekocht hat man uns“, lacht Orsini-Rosenberg. Die 3000 Euro Preisgeld von der Diagonale sind da eine späte und bescheidene Entschädigung. Aber die braucht jemand vom Format einer Johanna Orsini-Rosenberg gar nicht. Denn sie wusste schon mit vier, dass sie eines Tages Schauspielerin werden würde. Und „Soldate Jeannette“ sollte dafür sorgen, dass man sie nun noch viel öfter zu Gesicht bekommt. Man geht dann zur Audienz ein-fach ins Kino. :-)

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interview

olga kurYlenko. In „Oblivion“ kämpft sie derzeit an der Seite von Tom

Cruise, in „To the Wonder“ (ab 31.5.) wechselt sie ins ernste Fach - vor die

Kamera von Terrence Malick. Wir trafen sie zum Gespräch.

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vers

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VerGnüGen oder pfLICht?

Ist die Liebe

Zugegeben, die vorläufige Fil-mografie von Olga Kurylenko lässt nicht unbedingt auf eine Karriere voller Qualitätsarbei-ten schließen. Die bisherigen Auftritte der 1979 in der Ukraine geborenen Schau-

spielerin beschränkten sich großteils auf Aufputz-Rollen in mehr oder weniger sinn-freien Blockbustern wie „Hitman“ (2007) oder „Max Payne“ (2008). Doch Kurylenko mausert sich zur ernstzunehmenden Aktri-ce - spätestens mit Terrence Malicks „To the Wonder“ beweist sie ihren Mut zu unkon-ventionelleren Projekten.

Mit 13 wurde Kurylenko in Moskau von der Straße weg als Model gecastet, mit 16 zog sie nach Paris, mit 18 zierte sie die Co-vers von Elle, Marie Claire und Vogue. Seit 2005 dreht sie auch Filme - und James Bond brachte ihr den Durchbruch. Normalerweise sind die Rollen als Bond-Girls wahre Karrie-re-Endstationen, doch für Kurylenko dürfte der Auftritt in „Ein Quantum Trost“ (2008) eine Initialzündung gewesen sein. Wir tra-fen Olga Kurylenko in Wien zum Interview.

celluloid: Frau Kurylenko, Sie sind derzeit mit dem Sci-Fi-Film „Oblivion“ in den Kinos. Warum glauben Sie, sind Science-Fiction-Filme für uns so inte-ressant?

OLGA KURYLENKO: Ich glaube, dass wir uns alle fragen, wie denn die Zukunft sein wird. Das ist die Frage, die sich jeder fort-während stellt. Denn worüber denken wir Menschen denn nach? Manchmal über die Vergangenheit, wenn wir darüber reflektie-ren. Über die Gegenwart denken wir hinge-gen kaum nach, denn dazu sind wir alle viel zu beschäftigt. Aber jeder fragt sich doch, was morgen sein wird, das beschäftigt uns. Die Zukunft ist ja das einzige Unbekann-te dieser drei Zeiten: Vergangenheit und Gegenwart kennen wir. Die Zukunft kann nervenaufreibend sein, aufregend oder un-heimlich. Wir wissen es nicht. Die Science Fiction-Filme füttern diese Sehnsucht nach der unbekannten Zukunft. Denn dort gibt es seltsame Wesen, Kreaturen, verrückte Maschinen, die denken oder sprechen kön-nen. Das beflügelt unsere Phantasie.

Der zweite Film, der nun in die Kinos kommt, ist „To the Wonder“ von Terrence Malick. Konträrer geht’s wohl kaum.

Dass „Oblivion“ und „To the Wonder“ fast zur selben Zeit in die Kinos kommen, ist na-türlich toll, denn sie sind sehr unterschied-lich. Es wäre ja schade, wenn ich gleich zwei Sci-Fi-Filme hintereinander gemacht hätte. Ich mag die Abwechslung an meinem Be-ruf. Man kann keinerlei Parallelen zwischen diesen beiden Filmen finden. Für „To the Wonder“ gab es keinerlei Drehbuch. Für „Oblivion“ dafür ein umso präziseres. Und das musste auch so sein, denn ein Sci-Fi-Film wie dieser, der so aufwändig ist und so viele Maschinen, Installationen und tech-nische Dinge enthält, braucht eine genaue Anleitung. Wenn man da nicht präzise ist, wenn man da nicht probt und monate-lang an den Sets baut, geht das Vorhaben schlicht daneben. Mit Terrence Malick war es genau andersrum. Es gab keine Sets. Nur eine Kamera, die auf der Schulter getragen wurde und die mir folgte, von einem Feld ins nächste. Alles ist sehr natürlich. Man hat das Gefühl, man dreht einen Dokumentar-film, dabei ist es Fiktion. Die Story wird dir nicht auf einem Blatt Papier aufgeschrieben, sondern Malick erzählt sie dir mit seinen ei-genen Worten. Malick dreht von morgens bis abends, er macht keine Pausen. Beim Dreh zu „Oblivion“ hingegen gab es viele Pausen. Denn wenn man das Studio in die Luft jagt, muss man es nachher wieder sau-ber kriegen. Aber in Terrence Malicks Filmen explodiert nichts! Und er improvisiert auch gerne. Was wiederum dazu führt, dass er niemals probt.

Das bedeutet, Malick stößt seine Schauspieler in gewisser Weise ins kal-te Wasser?

Malick hat mir nur erzählt, worum es geht. Ich sog wie ein Schwamm alles in mich auf, was er sagte und wurde so zu der Figur, die ich spiele. Das heißt, ich hatte irgendwann das Gefühl, gar nicht mehr spielen zu müs-sen, sondern nur noch zu sein. Das führte auch dazu, dass ich in der Rolle blieb, wenn wir nicht drehten. Und dass Malick mich manchmal filmte, ohne, dass ich es wusste. Hinzu kommt, dass Malick gerne spontan etwas an seinem Konzept ändert. Das heißt,

man ist als Schauspieler niemals wirklich vorbereitet darauf, was als nächstes kommt. Das half mir zum Beispiel, mich noch besser auf die Figur zu konzentrieren.

Würden Sie ihn als sehr spontanen Filmemacher bezeichnen?

Ja und nein. Denn zugleich überlässt Ma-lick auch nichts dem Zufall. Er will immer verschiedene Versionen von dem drehen, was er sich vorstellt. Das bringt mit sich, dass am Ende viel mehr Material entsteht, als dann im Film landet. Man hätte daraus sicher fünf Filme machen können. Malick ist sehr wichtig, dass er sich die Entwicklung der Geschichte während des Drehens offen hält. Es kann sich also jederzeit Entschei-dendes verändern.

Man bekommt bei „To the Wonder“ auch den Eindruck, es wäre ein im-merwährender, einziger Tanz.

Malicks Anweisungen gingen immer in die Richtung, niemals mit der Bewegung vor der Kamera aufzuhören. Er sagte: Tanze, laufe, egal, aber bitte bleib niemals stehen. Meine Figur hat das aber perfekt beschrie-ben, vor allem ihre Verrücktheit, denn sie ist in einem emotional sehr schwierigen Stadi-um, bei dem sich Hochs und Tiefs ständig abwechseln.

Was ist Ihrer Meinung nach die The-se, die dieser Film verfolgt?

„To the Wonder“ dreht sich um die Liebe. Es geht um die Frage, ob die Liebe ein Ver-gnügen oder eine Pflicht ist. Javier Bardems Figur, ein Priester, meint, sie sei eine Pflicht. Aber kann sie das sein? Im Film heiratet mich Ben Afflecks Figur aus Pflichtbewusst-sein. Während sich meine Figur immerzu selbst zerstört, durch diese Liebe. Der Film wirft aber die Frage auf, ob es nicht um mehr geht als um eine persönliche Liebe zwischen zwei Menschen, nämlich um eine sehr umspannende Liebe zur Natur und zu Gott. Und wenn man das weiterdenkt, dann geht es eigentlich um die Frage, ob man die persönliche Liebe braucht, um die allgemeine überhaupt zu verstehen. � Interview: Matthias Greuling

Das komplette Interview lesen Sie in unserer aktuellen Printausgabe celluloid 3/2013 (siehe Seite 9!)

Einen Ausschnitt aus unserem Video-Interview finden Sie unter http://bit.ly/119Vkq5

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Steven Soderbergh will eine Filmpause einlegen, aber in „Side Effects“ (mit Jude Law), zeigt er nochmal, was er erzählerisch drauf hat

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Tum

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interview

Lange Zeit galt Steven Soderbergh als das Wunderkind des amerikanischen Independentkinos. Mit „Sex, Lügen und

Video“ erhielt er 1989 als jüngster Regisseur überhaupt die Goldene Palme in Cannes. Seinen frühen Erfolg quotierte er mit den Worten „Von nun an kann es nur noch berg-ab gehen“. Er sollte sich irren, denn es ging stetig bergauf. Spätestens seit seiner Doppel-nominierung als bester Regisseur bei den Os-cars 2001 für „Erin Brokovich“ und „Traffic“ und seinem Gaunerkomödien-Triple mit der „Oceans“-Reihe war Soderbergh im künstle-risch anspruchsvollen Hollywoodolymp an-gekommen. Sein neuester und neben dem Fernsehfilm „Behind the Candelabra“ (mit dem er heuer im Wettbewerb von Cannes steht) vermutlich für eine längere Zeit letz-ter Kinofilm ist „Side Effects“ mit Jude Law und Roony Mara. Ein Film über die vermeint-lichen Nebenwirkungen von Antidepressiva. Zumindest in der ersten halben Stunde.

celluloid: Mister Soderbergh, eigent-lich sollten wir über ihren neuesten Film „Side Effects“ sprechen. Aber das müssen wir erstmal hinten anstellen. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass sie aufhören wollen mit dem Filmema-chen. Was ist da dran?

STEvEN SODERbERGh: Ja, es stimmt. Ich will eine Pause machen. Keiner weiß, wie lange sie sein wird.

Sind Sie müde?Nicht müde, eher ausgelaugt. Ich brau-

che einen Neustart. Es ist, als würde ich im-mer und immer wieder gegen eine Wand rennen. Ich muss die Dinge einfach mal aus einem anderen Winkel betrachten können.

Liegt es an Ihnen und Ihrer Kreativi-tät oder am System?

Es gibt viele verschiedene Faktoren. Ich muss sie auch gar nicht alle kennen. Alles, was ich wissen muss, ist, dass es für mich Zeit wird, mich von meiner Filmemacher-haut zu lösen und eine neue wachsen zu lassen. Der Gedanke reift in mir schon seit über fünf Jahren. Die Dinge verändern sich. „Side Effects“ und „Magic Mike“ waren zwei Filme, die eigentlich nicht geplant wa-ren. Ich bin bei „Moneyball“ rausgeflogen und habe stattdessen „Haywire“ gemacht. Da habe ich Channing Tatum kennengelernt, und ehe ich es mich versah, steckte ich mit-ten in den Vorbreitungen zu „Magic Mike“. Das sind alles Filme, die ich auf keinen Fall bereue, aber ich merke, dass es Zeit für einen Tapetenwechsel wird.

Ist ein Leben ohne Film für Sie über-haupt möglich?

Natürlich. Seit ich 12 war, bin ich ein Filmnerd. Das ist eine lange Zeit, um von etwas besessen zu sein. Ich habe viel Zeit ins Filmgeschäft investiert. Wenn man Qua-nität vor Qualität setzt, bin ich doppelt so gut wie Stanley Kubrick.

Wird es so einfach sein, eine Obses-sion abzustreifen und mit anderen Dingen weiterzumachen?

Ja, vor allem wenn es sich so anfühlt, als

ob man mit der Obsession nicht weiterleben kann – zumindest nicht so, dass es sich gut anfühlt. Spätestens beim nächsten Film wür-de sich das richtige Gefühl nicht mehr ein-stellen. Ich kann nicht mehr einfach so auf ein Set gehen und denken, ich hätte hier al-les im Griff. Ich liebe diesen Job zu sehr, um ihn nur noch halbherzig zu machen. Es wird Zeit, Platz zu machen für eine neue, frische Generation von Filmemachern. Leute, die noch brennen. Die Frage der nächsten Jahre wird sein, ob ich dieses Gefühl irgendwann wieder haben werden kann. Kann ich wieder ein Amateur werden? Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich das alles einfach wegspü-len kann. Aber ich werde es versuchen.

Wie haben Sie sich auf diesen Ab-schied vorbereitet?

Ich wusste, dass 2012 mein letztes Ar-beitsjahr wird und habe jeden Tag mit ei-nem roten Stift in einem Kalender durchge-strichen. Das Hintergrundbild auf meinem Telefon ist ein Bild von mir, wie ich den 31. Dezember durchstreiche. Ich wusste ein-fach, dass ich an diesem Tag mit allen Fil-men fertig bin. Der 31. Dezember 2012 war das Ende eines Kapitels. Das war mehr als befriedigend. Das letzte „X“ zu machen.

Und danach kam ein tiefes Loch?Nein, gar nicht. Vor ein paar Wochen habe

ich meinen Bruder getroffen – das erste Mal seit langem. Er hat sofort zu mir gesagt, ich sähe anders aus. Einfach viel präsenter. Das muss ein Zeichen sein. Einfach, weil ich nichts im Nacken sitzen habe, keinen Film,

KuBrICKDoppelt so gut wie

FilMstart:26.04.13

steVen soderbergH im celluloid-Gespräch über „Side Effects“, und warum er jetzt eine längere Pause vom Filmemachen braucht.

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kein Drehbuch, das meine Aufmerksamkeit fordert. Ich stecke das erste Mal seit 15 Jah-ren nicht bis zum Hals in den Vorbereitun-gen für irgendeinen Film.

Im Notfall können Sie ja auch zu Ta-bletten greifen. Wie Roony Mara in „Side Effects“.

Sie werden lachen. Ich habe erst heute morgen eine Tablette genommen. Einen Be-tablocker. Um mich für die Interviews auf ein gewisses Level zu puschen. Die Dinger helfen da wahre Wunder.

Das sagen Sie einfach so, obwohl Ihr Film eine Art Abrechnung mit der amerikanischen Pharmaindustrie ist. Zumindest im ersten Drittel. Kann man „Side Effects“ als eine Art Kommentar über den Medikamentenmissbrauch in den USA verstehen?

Wenn Sie so wollen, ja. Wobei mich in ers-ter Linie die Interaktion zwischen der Phar-makologie, den Ärzten und der Gesetzge-bung gereizt hat. Das kollidiert doch in jeder Hinsicht. Um ehrlich zu sein: Ich selbst hatte noch nie eine Depression, ich kenne zwar viele Leute, die darunter gelitten haben, weiß aber nicht, wie sich das genau anfühlt. Ich kann mir nur vage vorstellen, dass man zu allem bereit wäre, um da rauszukommen.

In diesem Fall dann eben mit Antide-pressiva – Nebenwirkungen hin oder her?

Es geht doch gar nicht so sehr um den Me-

dikamentenmissbrauch, sondern einfach nur darum, dass die depressiven Phasen nicht zu tief und die manischen nicht zu hoch sein sollten. Es geht darum, eine Balance zu fin-den. Ich glaube, letztendlich ist dieser Aus-gleich auf einem einigermaßen normalen Level am Ende des Tages effektiver, als von einem Haus springen zu wollen. Zur gleichen Zeit fühlt es sich aber auch nicht wie das ech-te Leben an. Ein Dilemma, aus dem auch ein Film nicht raus helfen kann.

Ein Grund dafür, dass Ihr Film nach knapp 35 Minuten in eine vollkommen andere Richtung driftet und zu einem Psychothriller wird?

In gewisser Weise ja. Diese falsche Fährte war schon im Skript einfach nur ein genialer Schachzug. Nach den ersten Seiten dachte ich, ok, es geht um eine junge Frau mit ei-nem Problem. Und dann kommt alles ganz anders. Der Drehbuchautor Scott Z. Burns hat mich damit schon in „Contagion“ über-rascht: Eben nicht das Offensichtliche zu tun, sondern den Zuschauer hinten rum zu überraschen.

Damit kann man den Zuschauer aber auch schnell verärgern.

Na und? In Amerika gab es allen Ernstes Leute, die sagten, sie hätten gerne einen Film nur über Depressionen gesehen. Aber genau das will ich doch nicht. Das ist doch dumm und langweilig. Das will ich im Kino

nicht sehen. Keiner will das. Das sehen wir doch schon im echten Leben jeden Tag auf der Straße. Es ist doch geradezu genial, dass Scott Z. Burns hier den sozialen Kontext als trojanisches Pferd nutzt und diesen Thriller darin versteckt, um ihn dann langsam mit-ten im Film frei zu lassen. Filme wie „Side Effects“ haben im amerikanischen Kino eine lange Tradition und sind vor knapp zwanzig Jahren aus der Mode gekommen.

Sie scheinen solche Experimente zu lieben. Das Publikum mit etwas zu konfrontieren, das ihren Sehgewohn-heiten widerspricht.

Einer muss das Publikum ja fordern. Aber man muss auch immer vorsichtig sein mit Experimenten. Vor allem damit, nicht zu viel Geld auszugeben und im Notfall in den Sand zu setzen. Ein guter Freund hat mir mal ver-raten, dass er nach „Voll Frontal“ so sauer auf mich war, dass er mich am liebsten um-gebracht hätte. Er konnte einfach nicht glau-ben, dass ich einen Film so enden lasse.

Wie haben Sie reagiert? Ich hatte in dem Fall keine andere Wahl.

Der Film musste so enden. Am Ende des Ta-ges geht es doch um den stummen Vertrag zwischen Publikum und Filmemacher. Das auszuloten war spannend. Es ist ein schma-ler Grat, aber genau darum geht es beim Filmemachen. Kino ist immer eine Grenzer-fahrung. Interview: Anna Wollner

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interview

Im Jahr 2001 entführen einige Mitglieder der islamischen Abu-Sayyaf-Separatisten-gruppe Touristen und Entwicklungshelfer

aus einer Ferienanlage auf einer südphilip-pinischen Insel. Dieses wahre Ereignis hat Brillante Mendoza nun in seinem Film „Cap-tive“ nachgestellt, Isabelle Huppert spielt eine der Geiseln. Wir trafen Huppert in Paris zum Gespräch.

celluloid: Mme huppert, man sagt, brillante Mendoza hätte sie alle, die die Geiseln spielen, nicht vom Set weggehen lassen, damit sie die Atmo-sphäre einer Geiselnahme besser spü-ren. Stimmt das?

ISAbELLE hUPPERT: Teilweise ja, aber ich denke nicht, dass sich eine solche At-mosphäre tatsächlich herstellen lässt. Ein Schauspieler zu sein in einem solchen Film, das ist schon etwas anderes als eine echte Geisel. Der Film dreht sich um ein schreckli-ches und leider sehr aktuelles Thema. Men-doza schafft es sehr gut, diese Stimmung von Angst und Erschöpfung zu transportie-ren. Dieser Film war anders als alle Filme, die ich jemals gedreht habe. Mendoza ver-suchte, die Szenerie wie in einer Doku ein-zufangen. Am ersten Drehtag kannten sich die Darsteller alle nicht. Wir wurden in das Boot gesteckt und mitten in die Filmhand-lung geworfen, um möglichst die realen Be-dingungen der Entführung zu durchleben.

Sie spielen eine Entwicklungshel-ferin, sagten aber, dass Sie hier nicht einmal eine Figur darstellten, denn es gab gar keine Figur.

Das stimmt. Unsere Figuren war mehr auf die physischen Handlungen der Entführung ausgelegt. Da gab es für uns Schauspieler nichts zu psychologisieren.

Aber gab Ihnen der Dreh Einblick in die Psychologie einer solchen Wahnsinnstat?

Ja, ich konnte verstehen, weshalb manche Geiseln ein „Stockholm-Syndrom“ entwi-

ckeln. Denn der Mensch will ja in erster Linie überleben und versucht, der Ausweglosig-keit etwas entgegenzusetzen. Und wenn das eben nur über eine Zuneigung zum Geiselnehmer geht, dann macht er das. Ich lebte fünf Wochen in dieser „Geiselnahme“, das ist natürlich nicht mit echten Geiselnah-men vergleichbar.

Das klingt fast wie ein Experiment.Ja, und auch der Umstand, dass wir stän-

dig herumgeschupst wurden, von einem Ort zum anderen, ohne zu wissen, wie es wei-tergeht, war anstrengend. Das muss man erst lernen. Mein Interesse an dem Film ist aber trotzdem nur schauspielerischer Natur. Ich wollte mit Mendoza arbeiten, mir wäre egal gewesen, zu welchem Thema. Der Film war trotz des Themas recht komfortabel zu drehen, wenn auch nicht so komfortabel, als würde man in Paris unterm Eifelturm fil-men. Wenn man einen Film dreht, ist das immer weniger schlimm, als es auf der Lein-wand aussieht.

Wie komfortabel ist es denn, zum beispiel mit jemandem wie Michael haneke zu drehen?

Ich habe mich sehr über den Oscar für Haneke gefreut, er hat ihn wirklich verdient. Mit ihm zu arbeiten, ist sehr einfach. Er hat eine klare Vision, das hilft mir sehr. Dann kann ich als Schauspielerin sehr unbefan-gen in eine Rolle hineingehen und mich überraschen lassen. Wenn Haneke einen mag - und ich glaube, dass er mich mag - dann macht das Spielen in seinen Filmen mir und ihm große Freude.

Ist diese Freude auch ein Faktor bei Ihrer Entscheidung, welche Rolle Sie annehmen?

Ich bin sehr wählerisch. Ich habe aber kein Rezept. Manchmal ist die Entscheidung für oder gegen eine Rolle der schwierigste Teil meiner Arbeit. Habe ich mich erst ein-mal entschieden, fällt es mir relativ leicht, einen Part zu spielen. Ich wähle heute am

liebsten nach den Regisseuren aus, die die Projekte realisieren.

viele Regisseure nennen Sie angst-frei. Was meinen sie damit und stimmt das auch?

Ich weiß nicht, wieso ich Angst haben sollte, denn der Beruf ist ja nicht gefährlich. Man könnte es tapfer nennen, sich fünf Wochen in den philippinischen Dschungel zu begeben. Ich sage dazu hingegen nur: Ich drehe einen weiteren Film.

Warum interessieren Sie sich so sehr für eher dunkle Charaktere?

Weil sie meistens die interessanteren sind. Das sind Rollen, die sich für Schauspieler aus-zahlen. Es gab eine Zeit im Kino, da gab es in großen, leichtfüßigen Filmen auch groß-artige Rollen. Das ist weniger geworden. Ja, es gibt sie noch, bei Woody Allen zum Beispiel. Aber heute sind die spannenderen Filme die, die Abgründe untersuchen.

Sie sind eine der Ikonen des franzö-sischen Films. Wie ist es denn um den bestellt?

Wir produzieren immer noch sehr viele Filme, die Branche ist sehr lebendig. Aber wie überall auf der Welt scheint es auch hier das Problem zu geben, dass man immer we-niger Qualität produziert. Es gibt eine große Schere zwischen den großen, kommerziel-len Filmen und den so genannten kleinen künstlerischen. In der Mitte bleibt wenig übrig. Dabei ist dieser Bereich der „mittel-großen“ Filme genau jener, der immer wie-der großartige französische Filme hervorge-bracht hat. Nur werden solche Filme immer schwerer finanzierbar. Ob das nun an der Krise liegt oder nicht, weiß ich nicht. Es wird jedenfalls schwerer, ein gewisses Niveau zu halten. Es ist nicht unmöglich, aber ich sehe rund um mich, dass viele Regisseure, die ich kenne, mehr und mehr darum kämp-fen müssen, ihre Projekte durchzubringen. Am Ende schaffen sie es, aber zu welchem Preis? Interview: Matthias Greuling

isabelle HuPPert im celluloid-Interview über Brillante Mendoza, Michael Haneke und den Zustand des französischen Kinos.

GefährLIChMein Beruf ist nicht

FilMstart:17.05.13

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filmkritik

Film

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ChILE/USA/MEX 2012. Regie: Pablo Larraín. Mit Gael García bernal, Al-fredo Castro, Antonia Zegers, Luis Gnecco FILMSTART: 09.05.2013

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Wie wird ein Diktator gestürzt? Durch Gewalt, Verrat oder Blut-vergießen? „¡No!“ - Chile hat

es der Welt gezeigt; eine Werbekampagne brachte Augusto Pinochet zu Fall.

Chile, 1988. Augusto Pinochet ist seit 1973 an der Macht, doch der internati-onale Druck zwingt ihn, ein Referendum durchzuführen, um über die Fortsetzung seiner Präsidentschaft zu entscheiden. Die Opposition erhält 15 Minuten Fernsehzeit täglich zu später Stunde, um sich Gehör zu verschaffen und die ängstliche Bevölkerung zur Wahl zu motivieren. Die unterdrückten Bürger denken Anfangs an einen reinen Pro Forma-Akt des Regimes und glauben nicht an eine reelle Chance einer fairen Abstim-mung.

René Saavedra (Gael García Bernal), der Sohn eines Exilanten, hat einen gut bezahl-ten Job als Werbemacher, lebt getrennt von seiner Frau und interessiert sich keineswegs für Politik. Dem jungen Kreativen sind nur sein Sohn Simón (Pascal Montero) und sein Eigentum wichtig. Mehr aus Stolz denn aus Integrität nimmt er den Auftrag an, die ¡No! - Kampagne umzusetzen. Worauf er sich ein-lässt, wird ihm erst bewusst, als seine Familie in Gefahr ist.

Die ¡No! – Kampagne ist schrill, bunt, laut und optimistisch und eckt sogar bei einigen der Oppositionellen an. Junge Menschen tanzen und feiern in Zeiten von Angst und Verfolgung. Nach anfänglicher Skepsis erlangen die Spots dennoch große Medienwirksamkeit. Als die Mitarbeiter von ¡No! merken, dass sie bespitzelt und ver-folgt werden, wird René klar, dass auch sein Sohn Ziel von Attacken sein kann. Mit der deutlicher werdenden Bedrohung wächst allerdings auch Renés politisches Bewusst-sein und sein Wille, die Kampagne zum Sieg zu führen.

trilOgie Der chilenische Regisseur Pa-blo Larraín schließt mit „¡No!“ nach „Post Mortem – Santiago 73“ und „Tony Manero“ eine Trilogie über das Chile unter Pinochet ab. „¡No!“ ist im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern weniger düster; er zeichnet sich durch eine gewisse Leichtigkeit und Freude aus.

Larraíns Hybrid aus Spiel- und Dokumen-tarfilm überzeugt durch eine Besonderheit. Da 30 Prozent des Films aus Archivmaterial besteht, wurde beschlossen, ebenfalls im 4:3-Format zu drehen, um die Optik der 80er Jahre zu erhalten. Dabei entscheidend

war, dass mehrere Umatic-Kameras gebaut wurden, mit denen der charakteristische Look produziert werden konnte. Durch diese ungewohnte Drehweise wirken zwar die Bilder etwas unscharf, aber das Archiv-material konnte unauffällig eingeflochten werden.

„Unsere Idee war, dass alles, was wir dre-hen, nahtlos mit dem originalen Material kombiniert werden kann. Das stellte eine immense Herausforderung für alle Gewer-ke dar, Szenenbild, Kostüm, Maske, bis hin zum Casting“, sagt Larraín.

Der Film wurde in Cannes uraufgeführt und erhielt eine Nominierung für den Aus-lands-Oscar. Mit ein Grund dafür ist auch das Schauspiel von Gael García Bernal, der es schafft, der Figur des Saavedra Platz und Spielraum zu geben und den Zuseher mit dem nötigen Humor, mit Ernsthaftigkeit und Durchsetzungskraft ins Chile der 80er Jahre zurück zu versetzen. Teresa Losonc

noRegisseur Pablo Larraín komplettiert mit „No“ seine Trilogie über das Chile unter Pinochet. Diesmal erzählt er, wie man mit einer Werbekampagne einen Diktator stürzt.

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RO 2012, Regie: Calin Peter Netzer. Mit: Luminita Gheorghiu, bogdan Dumitrache, Ilinca GoiaFILMSTART: 23.05.2013

MUTTER UND SOhN

mutter und sohnKorruption im Kleinen: Der Rumäne Calin Peter Netzer zeigt in seinem Berlinale-Gewinner „Mutter und Sohn“, wie man mit Schmiergeld (nicht nur) in seiner Heimat dem Knast entkommt.

Irgendwann, da passiert die Katastrophe: Ein Mann rast zu schnell mit dem Auto, fährt ein Kind an und das Kind ist tot. In

„Mutter und Sohn“ des in Rumänien gebo-renen Regisseurs Calin Peter Netzer geht es aber nicht um die gebrochene Familie, die den Tod ihres vierzehnjährigen Sohnes zu verkraften hat. Es geht nicht darum, wie Unfallfahrer Barbu mit seiner Schuld um-geht. Alles dreht sich um Barbus Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu). Und die ist nahezu besessen von ihrem längst erwach-senen Sohn. Ihr „Baby“ nennt sie ihn, ihr einziges „Kind“. Und das große Kind ist um jeden Preis vor einer Gefängnisstrafe zu be-schützen. Als wohlhabende Architektin mit einflussreichem Bekanntenkreis lässt sie ihre Kontakte zugunsten des Sohnes spielen. Fragen nach Verantwortung sind Fragen der Schmiergeldhöhe. In der menschlichen Tra-gödie sieht Cornelia nur Probleme, die mit kühlem Kopf analytisch zu lösen sind: also unter einem Lügenkonstrukt verschwinden sollen.

„Bitte lass mich raus!“, sagt einmal der Sohn zur Mutter. Er sitzt im Auto und seine Worte sprechen soviel mehr an als die ver-riegelte Wagentür. Es ist der erste, aber sehr späte Moment, in dem er die Mutter-Fesseln

aufbricht und endlich selbst handelt. Denn in 107 Minuten Filmlänge rückt die Kamera kaum von der Mutterfigur ab, ihre Dauer-präsenz durchdringt die Narration. Die Ge-schichte ihres Sohnes Barbu wird schlicht-weg ihre Geschichte, die dem Sohn lange nur Nebenauftritte zwischen Lähmung und passiv-agressiver Rebellion zugesteht. Über-haupt vergeht Zeit, bis Barbu nicht nur in Gesprächen über ihn, sondern erstmals per-sönlich im Film auftritt.

nÜChtern & KÜhl Zwar spielt das Dra-ma in Rumänien, die Themen Korruption oder Kluft zwischen Reich und Arm sind aber keine zwingend rumänischen. Es ist eine rein private Geschichte, die Ko-Autor Razvan Radulescu und Regisseur Calin Pe-ter Netzer erzählen. Ihr Stil: nüchtern, kühl, kein Wort zuviel. Während der Film anfangs ein wenig dahindümpelt, scheint es die Nar-ration ganz mit dem Sohn zu halten: ab sei-nem ersten Auftreten wächst ihre Kraft und liefert dann doch recht starke Momente.

Weit und breit herrscht zwischen den Fi-guren Distanz, die einzige Nähe schaffen beunruhigende halbnahe und nahe Kame-raeinstellungen. In potentiell menschlich „nahen“ Situationen erweist sich die Mutter

als Zumutung. „Immerhin ist es ein besser aussehendes Haus“ fällt ihr ein, als sie die einkommensschwache Familie des getöteten Jungens besucht und vor deren Grundstück parkt. Sie fleht die Familie aufgelöst an, von einer Klage gegen den Sohn abzusehen und zeigt in ihren ehrlichsten Momenten nur, dass sie eine Egoistin ist, die nichts verstan-den hat. „Bitte richten Sie mein Kind nicht zugrunde“, sagt sie zu den Trauernden. „Sie haben noch ein anderes Kind, aber ich habe nur ihn.“ Luminita Gheorghiu (bekannt aus dem rumänischen Palme d’or-Gewinner „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“) meistert die komplexe Mutterrolle herausragend. Auf der Berlinale hat „Mutter und Sohn“ den Goldenen Bären für den besten Lang-film gewonnen.

Sandra Nigischer

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Wie verfilmt man ein Buch, dessen Titel schon seinen Inhalt umreißt und auch als obskur-knappe Kurz-

geschichte gelingen hätte können? „Schiff-bruch mit Tiger“ erzählt von einem jungen Inder und einem bengalischen Tiger, die in einem nussschalengroßen Boot über den Ozean schippern. Kriegt der Tiger Hunger, wäre der junge Mann ziemlich schnell ge-fressen, und die Geschichte aus.

Aber Yann Martels Buchvorlage von 2001 bescheidet sich nicht auf dieser Miniatur; sie ist ein engmaschiger Reigen von Fantasien und Allegorien und galt als unverfilmbar. Doch sind die dramatisch aufgeladenen Bilder, die Martel entwirft, geradezu prä-destiniert für die Leinwand, einen passende Regisseur vorausgesetzt: Der US-Taiwanese Ang Lee hat versucht, diesen Gordischen Knoten zu entwirren und ihm mit neuester 3D-Technik eine zusätzliche Tiefe zu verlei-hen. Er erhielt dafür den Regie-Oscar 2012.

Der junge Piscine Molitor Patel, dessen Eltern ihn nach einem Pariser Schwimmbad benannt haben, legt seinen Vornamen ab, denn „Piscine“ klingt zu sehr nach „Pis-

sing“, vor allem, wenn Inder das ausspre-chen. Er benennt sich in Pi um, nach der mathematischen Zahl, und genau diesen Mut zur unkonventionellen Notlösung wird er später noch einmal brauchen: Als Pi mit seinen Eltern und dem familieneigenen Zoo auf einem Schiff nach Kanada auswandern will, bringt ein Sturm das Schiff zum Ken-tern. Nur Pi, ein Orang-Utan, eine Hyäne, ein Zebra und besagter Tiger überleben auf einem Rettungsboot. Während die übrigen Passagiere schnell dem Hunger des Tigers zum Opfer fallen, muss sich Pi in ständiger Lebensgefahr 227 Tage im Pazifik am Leben halten. Und den/der Tiger auch. Pi lernt, seine Ressourcen kraftsparend einzusetzen und mit Gottglaube zwischen Hinduismus, Islam und Christentum auf seine Rettung zu hoffen.

Die Geschichte hat, wie alles hier, einen doppelten Boden, der erst nach einiger Zeit sichtbar wird, wie einer dieser monotonen Musterdrucke aus den 90ern, auf die man minutenlang starren musste, ehe einem ein 3D-Objekt entgegen sprang. „Schiff-bruch mit Tiger“ ist Metapher und spiritu-

elle Glaubenserforschung zugleich, zeigt einen konkreten Überlebenskampf und eine mehrdeutige Sinnsuche nach dem Glauben an Gott und an seine Vielgestalt.

Ang Lee findet hier, als beinahe schon fa-natischer Erforscher der conditio humana, eine reiche Quelle an Spielformen für sein Lieblingsthema: Seine Figuren verlieren oft-mals den Boden unter den Füßen, weil ihnen jegliche Sicherheit genommen wird; aber sie hören niemals auf, an ihre Rettung zu glau-ben, oder gar an das Verändern der Welt. Dieser Glaube ist die erzählerische Triebkraft von „Schiffbruch mit Tiger“; die visuelle hingegen staffiert die vermeintlich dünne Handlung aber noch mit fantastischen 3D-Bildern aus und definiert den abwertenden Begriff vom Spektakelkino neu: Ganz ohne Brimborium aus sinnfreier Action und eben-solchen Dialogen streift „Schiffbruch mit Tiger“ bildgewaltig die großen Fragen des Daseins. Von Gottesfurcht und Todesangst, vom Fressen und gefressen werden: Am Ende siegt das Leben, weil es um seine Ver-gänglichkeit weiß. Matthias Greuling bereits erhältlich

scHiffbrucH Mit tigerang lees oscar-Hit neu in 3d, auf blu-raY und auf dVd

Bond (Daniel Craig) muss sich von Silva (Javier Bardem) betatschen lassen

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Mit „lincoln“ Politik VersteHensteVen sPielberg inszeniert daniel daY-lewis

Abraham Lincoln gilt als jene Leitfigur, die einst den Bürgerkrieg beendete und

aus zerstrittenen Landsleuten die Vereinigten Staaten von Amerika formte. Und er gilt als jener Präsi-dent, der die Sklaverei abschaffte – was er zur Restauration der Union als notwendig erachtete, auch wenn ihm in Wahrheit das rassistische Gedankengut der damaligen Zeit nicht fremd war. Spielberg zeichnet in „Lincoln“ die letzten Monate vor Lincolns Ermordung nach, in die seine Wiederwahl fiel, aber auch das Händeringen um den 13. Verfas-sungszusatz, der die Abschaffung der Sklaverei regelte. Der Film taucht in einen überaus komple-xen Sachverhalt ein: Einerseits versucht der Republikaner Lincoln (Daniel Day-Lewis), diesen Ver-fassungszusatz mit Hilfe seines Secretary of State William Seward (David Strathairn) durchzubrin-gen, nachdem er im Kongress bereits gescheitert war; dazu braucht er Stimmen von den De-mokraten, die massiv gegen die Befreiung der Schwarzen ist. In dem leidenschaftlichen Thaddeus Stevens (Tommy Lee Jones) findet

er einen Fürsprecher seiner Idee, der für harsche Debatten im Re-präsentantenhaus sorgt. Den Rest der nötigen Stimmen muss der Präsident mit Zugeständnissen erkaufen. Korruption für die gute Sache, ja, aber doch Korruption, auf höchster Ebene, sozusagen. Andererseits ist Lincoln auch als Privatmann nicht sorgenfrei: Seine Frau Mary (Sally Field) spürt, wie sich die politischen Spannung bis ins Schlafzimmer Lincolns fortset-zen, und der älteste Sohn Robert (Joseph Gordon-Lewitt) will gegen den Willen seiner Eltern unbedingt in den Krieg ziehen.

All das subsumiert Spielberg in einer für ihn bislang unbekannten filmischen Form: In 155 Minuten zeigt er dialoglastiges Kino, zeigt Nachdenkpausen im Weißen Haus bei fahlem Kerzenschein, zeigt hitzige Politdebatten im Repräsentantenhaus, bespricht komplizierte Gebaren im US-Polit-betrieb, für die man Geschichts-experte sein muss, um sie wirklich nachvollziehen zu können. Daniel Day-Lewis legt Lincoln als melan-cholischen Helden an, der mehr mit Ironie als mit Klischees spielt.

Erhältlich ab 24.05.13

neu auf dVd & blu-raY

figHt clubBrad Pitt und Edward Norton entfesseln in diesem dunklen, faszinierenden Psychospiel von Kult-Regisseur David Fincher eine hypnotische Gewaltorgie.bereits erhältlich als DvD und blu-ray in der hollywood Collection.

jfkNeu aufgelegt auf DVD: Oliver Stones Meisterwerk über die Ermordung John F. Kennedys 1963, mit einem grandiosen Kevin Costner als Staatsanwalt Jim Garrison. Zweifach oscar-prämierter Polit-Thriller.Erhältlich als DvD ab 10.05.

cleoPatraSandalenfilmklassiker mit Eliz-abeth Taylor als Cleopatra, Rex Harrison als Julius Cäsar und Taylor-Ehemann Richard Burton als Antonius. Vier Oscars!Erhältlich als DvD ab 10.05., die blu-ray-verison ist bereits erhältlich.

sag nieMals nieDer einzige inoffizielle Bond-Film brachte 1983 eine Rück-kehr von Sean Connery in seine Paraderolle. Ebenfalls dabei: Klaus Maria Brandauer als Bösewicht.bereits erhältlich als DvD und blu-ray

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5iM Mai & juni 2013

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Die österreichische Doku begleitet den volkstümlichen Musiker und Schlagersänger Marc Pircher und zeigt, wie Volksm

usik von Innen funktioniert.

Olivier Assayas lässt Jugenderinnerungen der 70er Revue passieren.3

Altmeister Alain Resnais versammelt ein groß-artiges Ensemble vor der Linse.4

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Julie Delpy und Ethan Hawke plappern zum dritten Mal über die Liebe.5

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