celluloid Beilage zur Wiener Zeitung vom 27.10.2012

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celluloid ART IG. NICHT BRAV. Ausgabe 6a/2012 - 27. Oktober 2012 gegründet 2000 MIT AUSGEWÄHLTEN BEITRÄGEN AUS DEM FILMMAGAZIN CELLULOID WWW.CELLULOID-FILMMAGAZIN.COM „DIE VERMESSUNG DER WELT“ IM KINO filmmagazin Beilage zur Foto: Filmladen DANIEL KEHLMANN

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Daniel Kehlmann im großen Interview

Transcript of celluloid Beilage zur Wiener Zeitung vom 27.10.2012

celluloidARTIG. NICHT BRAV.

Ausgabe 6a/2012 - 27. Oktober 2012 gegründet 2000

Mit ausgewählten beiträgen aus deM filMMagazin celluloidwww.celluloid-filMMagazin.coM

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Wir sind auch auf

eDIToRIAlLiebe Leser,

Als Ulrich Seidl seine bereits fix zugesagten Filme „Paradies: Liebe“ und „Paradies: Glaube“ vom Spielplan der Viennale zu-rückzog, ging ein Raunen durch die Filmszene: Egal, ob Seidl oder Viennale-Chef Hans Hurch, der Seidls Filme um 18 Uhr zeigen wollte, anstatt wie von Seidl vorgeschlagen im Hauptabendpro-gramm, nun mit ihren Argumenten recht haben, eine solche (öffentlich gewordene) Auseinandersetzung nützt niemandem, weder der Viennale, noch dem österreichi-schen Filmschaffen. Gerade erst war man darüber hinweg, dass es in der kleinen Filmbranche jahrelang Grabenkämpfe um allerlei Spießigkeiten gab, und nun fangen genau diese Spießigkeiten wieder an. Dabei wäre es so einfach: Ja, Hans Hurch soll die von ihm erdachte Viennale-Pro-grammierung beibehalten. Und ja, Ulrich Seidl, als Gewinner des Jury-Preises in Venedig ein wichtiger internationaler Film-künstler, der am vorläufigen Zenit steht, soll seinen Hauptabendtermin bekom-men. Wo ist eigentlich das Problem, bei insgesamt fünf verschiedenen Viennale-Spielstätten? Eben. Konflikte gehören in die Filme, nicht in ihre Präsentation.

In diesem Sinne viel Vergnügen beim Lesen wünschen Ihnen

Matthias gREUling Chefredakteur & [email protected]

und die Wiener Zeitung

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C e l l u l o I D o N l I N e : W W W. C e l l u l o I D - F I l m m A G A z I N . C o m

a r t i g , n i c h t b r avfilMMagazin - beilage zur wiener zeitungausgabe 6a/2012 - 13. jahrgangnoveMber/dezeMber 2012 LESE

PROBE

celluloid Filmmagazin Beilage zur Wiener Zeitung Nummer 6a/2012, November/Dezember 2012Beilage zur „Wiener Zeitung“ am 27. Oktober 2012. Medieninhaber und Herausgeber: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Beiträge in dieser Beilage wurden uns mit freund-licher Genehmigung vom Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films zur Verfügung gestellt. Die Interviews wurden von Mitgliedern der celluloid-Redaktion geführt. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Fotos: Filmverleiher. celluloid versteht sich als publizistische Plattform für den österreichischen und den europäischen Film und bringt Berichte über aktuelle Filme. Anschrift: Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: [email protected], Internet: http://www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2012 by Werbeagentur Matthias Greuling

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CoVeR4 Daniel Kehlmann Ganz schön vermessen, seine 3D-Verfil- mung von „Die Vermessung der Welt“. Wir trafen den Bestseller-Autor zum ausführlichen Gespräch

FeATuRes8 Jafa Panahi hat im Iran Berufsverbot. Sein neuer Film „This Is Not a Film“ startet nun trotzdem bei uns10 Filmkritik: François Ozons neues Meisterwerk „In ihrem Haus“11 Filmkritik: Florian Flickers Drama „Grenzgänger“ mit Andreas Lust12 Neu auf DVD & Blu-ray14 Die Top-Filme im November 2012

WeITeRe THemeNdes celluloid Filmmagazins(Ausgabe 6/2012 ist am Kiosk erhältlich)

8 Coverstory Ulrich Seidl Filmkünstler und Aufreger - Ulrich Seidl hat mit seinem unverwechselbaren Stil Befürworter und Gegner gefunden. Die Unverschämtheiten eines außergewöhn- lichen Künstler-Daseins.22 Florian Flicker Mit seinem ersten Spielfilm seit „Der Überfall“ meldet sich Flicker eindrucks- voll zurück - ein Interview24 Tom Tykwer wagt mit „Cloud Atlas“ ein Filmexperiment, das er in celluloid erläutert26 Susanne Bier spricht über Oscar-Freuden und Kinder- betreuungsstätten. Ja, wirklich.30 Mirjam Unger über ihre einfühlsame Musikerinnen- Doku „Oh Yeah, She Performs“ 32 Barbara Albert über ihre eigene Vergangenheits- bewältigung in „Die Lebenden“40 Hans Hurch feiert die 50. Viennale und teilt im Interview in Richtung Politik aus42 Wim Wenders kann auch Fotos schie- ßen, wie eine aktuelle Ausstellung zeigt

FIlmKRITIK48 Skyfall50 Robot & Frank51 Am Ende eines viel zu kurzen Tages52 Vielleicht lieber morgen53 This Is Not a Film54 Gnade56 Love Is All You Need57 Das Pferd auf dem Balkon58 Maria Abramovic - The Artist is Present59 Was bleibt60 Argo61 Cloud Atlas

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daniel kehlMann schrieb das Drehbuch zum 3D-Film „Die Vermessung der Welt“ selbst - und erzählt im Interview, wie es ist, sich von den eigenen Worten zu trennen.

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FilMstaRt:25.10.12

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VeRmesseNI

m Jahr 2005 hat Daniel Kehlmann mit seinem Buch „Die Vermessung der Welt“ einen Bestseller gelandet, der in zahlreichen Ländern monatelang die Verkaufslisten anführte und allein in

Deutschland 1,4 Millionen Mal über den Ladentisch ging. Die fiktive Doppelbiogra-fie des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (1777–1855) und des Naturforschers Alex-ander von Humboldt (1769–1859) hat Re-gisseur Detlev Buck nun zu einem Film ge-macht – und zwar in 3D. Kehlmann selbst hat das Drehbuch verfasst. „Eine nicht ein-fache Arbeit“, gibt er zu, „zumal es sich ja um meinen eigenen Roman handelt. Aber am Ende war ich sehr sicher im Umgang mit meinem eigenen Material“.

Es ist die Geschichte einer Welten-Erobe-rung: Carl Friedrich Gauß (Florian David Fitz) und Alexander von Humboldt (Albrecht Ab-raham Schuch) geben sich nicht zufrieden damit, was sie sind, sondern kämpfen be-sessen und beseelt für die Erkenntnis, der eine im Urwald, der andere am Schreib-tisch. Beide stellen ihr Leben voll und ganz in den Dienst der Wissenschaft. Erst im Alter treffen die beiden erstmals aufeinander, bei einem Naturforscherkongress in Berlin.

Bucks Umsetzung von Kehlmanns Vorlage ist atmosphärisch dicht und zeigt faszinie-rende Bilder in der dritten Dimension. Den Humor und die Ausführlichkeit des Romans erreicht der Film nicht, doch er entwickelt durch seine Tiefenwirkung und seine stim-mige Besetzung durchaus einen sich leise entspinnenden Charme, der im heutigen Kino der Spezialeffekte rar geworden ist. Gerade eine Geschichte wie „Die Vermes-sung der Welt“ scheint ideal für das 3D-Format: Mit ihm gelingt es, in vergangene Zeiten einzutauchen.

Wir trafen Daniel Kehlmann zum Ge-spräch.

celluloid: Herr Kehlmann, wie geht man vor, wenn man sein eigenes Werk auf zwei Filmstunden kürzen muss? Wie leicht trennen Sie sich von Ihren Ideen?

DANIEL KEHLMANN: Ich wollte das Drehbuch zu Beginn gar nicht schreiben, weil ich es mir kaum zutraute, das sollten andere machen. Es gab dann Fassungen von anderen Autoren, die zwar ganz in Ord-nung waren, für die aber keine Fördergelder zugesagt wurden. Das Projekt gelangte an einen toten Punkt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich mit Detlev Buck über eine Lösung unterhalten. Mein Plan war, einfach ein ganz kurzes Exposé zu schreiben, wie ich mir das vorstelle, nachdem man an diesem Punkt nichts mehr verlieren konnte. Das Ex-pose kam bei Buck gut an, und so bin ich also ins kalte Wasser gesprungen und habe mich an eine Drehbuchfassung gewagt. Ich habe mit der Software Final Draft gearbei-

tet, und das Tolle daran ist, dass man sofort Ergebnisse sieht, weil alles professionell for-matiert wird. Es sieht aus, als wäre man ein Drehbuch-Profi. Und mit der Freude, dass das so schön aussieht, habe ich eine Dreh-buchfassung geschrieben, die ganz stark von der Reduktion lebte. Ich habe festge-stellt, dass es genau anders herum ist mit dem Weglassen: Nicht ich als Autor traute mich nicht, Teile hinauszustreichen, son-dern all die anderen Drehbuchautoren zu-vor trauten sich nicht.

Man hatte sicherlich einen großen Respekt vor diesem Buch-Welter-folg…

Genau, und ich habe den natürlich nicht. Diese Drehbuchfassung von mir wurde sehr freundlich angenommen und damit gab es plötzlich wieder Geld. Wir haben das Ganze dann noch über ein Jahr überarbeitet. Vie-les, das ich entfernt hatte, kam in der Über-arbeitung wieder hinein. Die Endfassung ist im Grunde genommen viel weniger radikal.

Sie wollten ja den Epilog, der Gauß und Humboldt als alte Männer zeigt, nur viel sparsamer einbauen.

Ja, das stimmt. Und auch der Mittelteil, den ich eigentlich ganz heraus lassen wollte, blieb drinnen. Der Film ist sicherlich gegen-über dem Buch noch immer sehr reduziert, aber ich habe auch mit der Prämisse begon-nen, dass viel entfernt werden muss. Für mich persönlich war das nicht schmerzvoll, weil ich das als eine interessante Erfahrung gesehen habe, Teil von so einem Projekt zu sein. Eine Szene, die ich sehr mochte, näm-lich den Ballon-Aufstieg des kleinen Gauß, musste ich wieder streichen, weil es dafür kein Budget gab. Das war wirklich traurig, aber gleichzeitig eine interessante Erfah-rung. Als Romanautor kann ich mir immer ausdenken was ich will, aber hier gab es die Grenzen der realen finanziellen Gege-benheiten, mit denen ich zurecht kommen musste.

Könnten Sie sich nach diesen Erfah-rungen vorstellen, einmal ein Origi-naldrehbuch zu einem Film zu schrie-ben? Das ist natürlich keine literarische Form…

Ich möchte es nicht ausschließen, aber es ist jetzt nicht etwas, was mir unter den Nä-geln brennt. Ich habe diese Erfahrung sehr genossen, bin jetzt aber auch froh, wieder einen Roman zu schreiben, wo ich tun kann, was ich will und dann nicht mehr eine Sze-ne streichen muss, weil eine Million fehlt.

In „Die Vermessung der Welt“ gibt es viele indirekte Reden, woraus sich auch ein großer Teil des Humors be-zieht. War es die größte Herausforde-rung, das zu übersetzen?

Ja, und das war auch der Grund, weshalb ich das Drehbuch anfangs nicht schreiben wollte. Als ich mich dann doch dazu ent-schlossen habe, war mir auch klar: Man

kann das gar nicht ersetzen. Ich habe ge-lernt, dass man für Film witzige Dialoge schreiben kann, mit einer gewissen Art von Humor, der eine ähnliche Tonlage hat, wie der Humor des Buches. Aber man kann in keiner Weise die Pointen retten, die durch die indirekte Rede entstehen. Detlev Buck hat mal halb im Scherz gesagt, die 3D-Tech-nik ist das Äquivalent zur indirekten Rede, als zusätzliche Ebene.

Als zusätzliche Tiefe?Ja, als Tiefe. Da ist schon was dran, aber

ich wusste von der ersten Sekunde an, dass bei einer Verfilmung die indirekte Rede wegfallen würde.

Immerhin setzt Buck zwei, drei Voi-ce Overs ein.

Ich hatte mir überlegt, als Anspielung zu-mindest das Voice Over in indirekter Rede zu halten, aber nicht mal das geht. Der Ro-man war im Übrigen in mehreren Sprachen sehr erfolgreich, in denen die indirekte Rede gar nicht so gut funktioniert wie im Deut-schen. Damit war der Wegfall für mich nicht so schlimm, da das Buch auch so genug zu bieten hat.

Das 3D-Kino wird von den Amerika-nern gern bei Spektakel-Filmen einge-setzt und regelrecht überstrapaziert. In „Die Vermessung der Welt“ ist es hinge-gen ein dezent eingesetztes Stilmittel. Hier wird 3D als eine Art Realismus ver-wendet, damit diese fremde Welt ech-ter wirkt. Es geht nicht um den Effekt an sich.

Richtig. Komischerweise hat das so noch keiner gemacht. Es ist interessant, dass 3D zu

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Daniel Kehlmann verfasste das Drehbuch zur Verfilmung selbst

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einer Art von Genre-Kino verkommt. Dabei liegt die Stärke dieser Technik nicht darin, Actionfilme interessanter zu machen. Für mich liegt die Stärke ganz klar im Dokumen-tarbereich, und auch in der Erzeugung einer ruhigen und künstlerischen Welt. Mir war das nicht bewusst, bis ich die ersten Mus-ter gesehen hatte. Man hat uns in Görlitz ein kleines Kino aufgestellt, damit wir am Abend schon immer das Material ansehen konnten, das wir tagsüber gedreht hatten. Bis dahin dachte ich, na gut, wenn Buck meint, wir müssen in 3D drehen, er wird es schon wissen. Wirklich klar war mir nicht, was er damit will. Als ich es aber gesehen habe, hat es mich sofort überzeugt.

Sprechen wir noch mal über das Buch. Wie ist das, wenn man so einen Welthit im Alter von 30 Jahren veröf-fentlicht? Und: Wäre es anders gewe-sen, wenn „Die Vermessung der Welt“

ihr Debütroman gewesen wäre?Ich denke, das hätte mich schon etwas

stärker erschüttert. Das Weiterarbeiten da-nach wäre dann sicherlich viel schwieriger gewesen. Dass ich davor zehn Jahre lang doch eher wenig Erfolg hatte bei der Ver-öffentlichung meiner Bücher, war natürlich nicht so toll. Im Nachhinein glaube ich aber, dass das schon ein Glück war. Einerseits kommt der Erfolg dann nicht über Nacht und überwältigt einen, weil man ja längere Zeit daran gearbeitet hat. Andererseits kann man sich auch mehr über den Erfolg freuen, denn man weiß nämlich auch, wie es sich anfühlt, wenn sich keiner dafür interessiert, was man macht.

Ist das Schreiben ein Bedürfnis oder manchmal auch eine Qual?

Ein Bedürfnis. Ich schreibe wirklich gerne. Wann schreiben Sie?Die schönste Tageszeit für mich ist der

frühe Nachmittag, wo man wach ist und nicht mehr müde.

Reisen Sie viel, um die Inspiration für Ihre Geschichten zu bekommen?

Ich bin jemand, der viel reist wie Hum-boldt, aber so ungern wie Gauß. Reisen ist sehr belebend für die Inspiration, aber nicht zu viel. Ist es zu viel, ist man nämlich ein-fach nur mehr müde. Ich habe dieses Jahr das Reisen sehr reduziert und finde das sehr angenehm. Dieses Jahr bin ich fast nur zwischen Wien und Berlin gependelt. Im Moment finde ich es sehr angenehm - nachdem ich wieder an einem Roman ar-beite - für die Konzentration, das Reisen zu reduzieren und nicht dauernd im Flugzeug zu sein.

In beiden Figuren stecken also die Eigenschaften von Ihnen, einerseits die Reiselust, andererseits der Reise-frust.

Ja, absolut. Das ist mir aber erst nachher aufgefallen.

Journalisten suchen natürlich nach solchen Sachen.

Ja klar, da gibt es ein paar solcher Sachen. Aber ich folge jeder meiner Figuren, ohne notwendigerweise mit ihr übereinstimmen zu müssen. Heutzutage ist es beliebt, sich mit den Figuren identifizieren zu können. Amazon ist voll von Leserrezensionen, in de-nen man sich beschwert, dass man sich nicht mit den Figuren identifizieren kann. Aber das muss doch nicht sein! Man kann sogar bei Goethes Faust nachsehen und irgendjemand beschwert sich, dass er sich nicht mit Faust identifizieren kann. Das ist eine merkwürdige Verkitschung der Lesekultur. Man fängt an, überall nur mehr noch sympathische Leute haben zu wollen. Ich glaube, bei Filmen ist es so ähnlich.

Da ist es noch schlimmer.

Dass Hollywood immer brutaler wird, ist meines Erachtens überhaupt nicht wahr. Die wirklich tollen, großen und brutalen Fil-me gab es in den 70er Jahren. Zu der Zeit wurden Filme gemacht, die heute einfach undenkbar wären, eben auch Filme über gespaltene und bösartige Charaktere. Heu-te findet eine Art generelle Verkitschung der Kulturrezeption statt. Nabokov hat gesagt, man solle sich in einem Buch mit keiner Fi-gur identifizieren, sondern mit dem Autor. Das heißt natürlich, mit der Person dahinter, mit dem Geist, der hinter dem Kunstwerk steckt. Daran glaube ich vollkommen. Bü-cher oder Filme brauchen interessante Figu-ren, keine netten.

Welche Rolle spielte in Ihrer Ent-wicklung zum Autor eigentlich Ihr El-ternhaus? Ihre Eltern waren ja beide künstlerisch tätig.

Bücher waren immer präsent. Geschich-

ten waren immer präsent. Das hat sicher eine große Rolle gespielt, auch, dass ich sehr früh zu lesen angefangen habe. Was ich an meinen Eltern noch gesehen habe, ist, dass man als freischaffender Künstler überleben kann. Dass es manchmal schwierig ist, aber eine realistische Lebens- und Berufsoption. Im November hat mein Stück „Der Mentor“ an der Josefstadt Uraufführung, und auch hierzu hatte ich durch den Beruf meiner El-tern weniger Berührungsängste. Nachdem meine Mutter Schauspielerin ist und mein Vater Regisseur, habe ich mir dadurch viel leichter getan.

Hatten Sie sich eigentlich gedacht, dass eine Geschichte über zwei Natur-wissenschaftler so einschlagen könnte?

Nein, ich verstehe das bis heute nicht. Ich werde oft gefragt, warum war das so? Ich habe aber bis heute keine gute Antwort da-rauf. Ich sage dann manchmal, es war ein

„Heute ist es beliebt, sich mit den Figuren identifizieren zu können. Das ist eine merkwürdige Verkitschung der Lesekultur. Überall sympatische Leute.“

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Computerfehler. Das sage ich natürlich, um einen Witz zu machen. Aber, in Wirklichkeit habe ich keine Ahnung.

Das ist vielleicht das berühmte „zur richtigen Zeit, am richtigen Ort“?

Aber was hier „zur richtigen Zeit am rich-tigen Ort“ war, kann ich nicht sagen. Ich würde einmal gerne, wenn eine Universität oder Stiftung Geld übrig hat, darüber eine Studie schreiben.

Sie leben zwischen Wien und Berlin. Ist das Pendeln wichtig für den kreati-ven Prozess? Ist Wien eine Stadt, in der man anders kreativ ist als in Berlin?

Ich versuche, es ortunabhängig zu sehen. Ich finde den Gedanken erschreckend, zu sehr von einem Ort abhängig zu sein. Ich möchte in einer anderen Stadt kein ganz anderer Schriftsteller sein. Vielleicht wäre es so, ich möchte es aber nicht. Ich habe früher über Wien geschimpft, seitdem ich

aber weniger hier bin, mag ich die Stadt viel mehr. Wenn ich nach Wien zurückkomme und hier die Höflichkeit der Menschen erle-be - im Gegensatz zu Berlin - dann schätze ich diese Lebensqualität sehr. Es sind Klei-nigkeiten, dass etwa die S-Bahn in Berlin nie kommt, weil die Infrastruktur schlecht funktioniert. Nach ein paar Monaten ist es sehr angenehm, wieder nach Wien zurück-zukommen. Hier funktioniert die Infrastruk-tur, es funktioniert das Internet, die S-Bahn kommt tatsächlich. Nach ein paar Wochen in Wien ist es wiederum angenehm, zurück nach Berlin zu gehen. Gerade der Wechsel zwischen diesen beiden Städten ist auf-grund der großen Kontraste interessant. Ich glaube, dass diese Kontraste etwas sehr Be-lebendes haben.

Es gibt etliche Künstler, die fühlen sich von der Enge und all dem Stuck an den Wiener Häusern eher bedrückt.

In Berlin ist es freier und offener. Die längste Zeit hätte ich sicher gesagt, dass es in Berlin viel lebendiger und interessanter ist. Vielleicht ist das auch eine Alterserschei-nung, aber im Moment finde ich es sehr angenehm, nach Wien zurückzukommen und auch, dass die Leute nur selten auf der Straße an die Hausmauern pinkeln, was in Berlin schon fast ein neuer Volkssport ge-worden ist.

Welche Qualität schätzen Sie an Det-lev Buck eigentlich besonders?

Buck hat wunderbaren Humor, sowohl als Schauspieler, als auch als Komiker, als auch mit seinen Ideen. Bei „Die Vermessung der Welt“ hat er zu meinem Drehbuch zahl-lose Ideen beigesteuert, und ich habe diese übernommen. Irgendwann meinte ich, dass wir nicht mehr sagen könnten, es wäre mein Drehbuch, sondern unser Drehbuch.

So steht es ja auch im Abspann.

Und so ist es auch richtig. Er ist wirklich im stärksten Sinn des Wortes ein kreativer Mensch, der ständig Ideen hat. Er ist auch ein richtiger Intellektueller, was er aber ger-ne versteckt, das merkt man erst, wenn man mit ihm zusammenarbeitet. Er tut im-mer gerne, als wäre er ein ganz unreflektier-ter Bauer - er ist ja tatsächlich auch Bauer und hat einen Bauernhof. Buck ist nicht nur wahnsinnig intelligent, sondern auch wahn-sinnig reflektiert.

Sie hatten keinerlei Auffassungsun-terschiede, was den Film angeht?

Nein, er hatte von Beginn an den gleichen Blick auf die Figuren. Er hat von Anfang an gesehen, dass Humboldt eine komische Fi-gur ist, absichtlich ein bisschen eindimensio-nal und ein bisschen cartoonhaft. Buck war ein Garant dafür, dass das keine Jane-Aus-ten-Verfilmung wird. Viele Regisseure hät-ten den Umgang mit diesem knappen Dreh-

buch nicht geschafft, er schon. Wenn man in 31 Tagen so einen großen Film macht, dann braucht es dafür große Professionali-tät und Erfahrung. Wenn am Set bei kom-plizierten Szenen mit vielen Komparsen die zweite Kamera ausgefallen ist, und wir nur eine Perspektive hatten, dann hätten andere Regisseure wohl zu toben begonnen. Buck nicht. Er hat kurz überlegt und gemeint: Dann haben wir eben nur eine Perspektive. Mit dem was man hat, arbeiten. Das ist es, was Woody Allen als Regisseur so stark aus-zeichnet. Die Nerven zu behalten, ist eine große Tugend für einen Regisseur.

Ist Woody Allen eigentlich ein Vor-bild für Sie?

Für alles im Leben ist Woody Allen ein Vorbild. Ich vergöttere Woody Allen. Nicht nur die Filme, die wunderbar sind, und auch so reich. Selbst die Filme, die man weniger mag, mag man immer noch so sehr. Die

Menge an Einfällen und diese Leichtigkeit! Ich mag auch seine Theaterstücke und seine Kurzgeschichten, für alles ist Woody Allen ein Vorbild. Ich weiß nicht, ob das für das Schreiben an sich gilt, aber für den Zugang zur Welt. Woody Allen hat unseren Blick auf die Welt verändert. Wir gehen dadurch ein-fach anders durchs Leben.

Im Film „Woody Allen - A Documen-tary“ sieht man, wo Allen seine Ideen aufbewahrt: Auf wirr bekritzelten Zet-teln in seinem Nachtkästchen. Haben Sie auch so eine Ideen-Schublade?

Das hätte ich total gerne, aber leider nicht. Ich muss für jede Idee lange, lange nachdenken, und habe ich diese eine Idee gefunden, dann merke ich sie mir auch. Es wäre ein Wunschtraum, nur in eine Schub-lade greifen zu müssen, um eine Idee her-vorzuzaubern.� Interview: Matthias Greuling Fo

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„Heute ist es beliebt, sich mit den Figuren identifizieren zu können. Das ist eine merkwürdige Verkitschung der Lesekultur. Überall sympatische Leute.“

jafar panahi hat im Iran weiterhin 20 Jahre Berufsverbot. Mit seinem improvisierten „This Is Not a Film“ sendet er einen Hilferuf in die Welt, der nun auch gehört wird. Wenigstens im Kino.

eINeN FIlm?Warum macht man überhaupt

Von der Freiheit der Kunst können sie nur träumen. Dieses Los teilen die russische Punkband „Pussy Riot“ und der chinesische Akti-onskünstler Ai Weiwei mit vielen

Künstlerinnen und Künstlern weltweit. Als unerwünschte Regierungskritiker werden sie nach politisch motivierten Prozessen ih-rer Freiheit beraubt und/oder künstlerisch so mundtot wie nur möglich gemacht.

Nicht anders ergeht es dem bekannten iranischen Filmregisseur Jafar Panahi. Der Vorwurf gegen ihn: „Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit und Propaganda gegen die Regierung“. Seine Strafe: Sechs Jahre Haft sowie 20 Jahre Berufs- und Reiseverbot.

Drehen darf er nicht mehr, so bleibt ihm für sein jüngstes Werk nur mehr übrig, ei-nen „Nichtfilm“ zu schaffen mit dem spitz-bübischen Titel „This is not a Film“ - wohl auch eine Form des gewaltlosen Protests. Ab 8. November wird er im Kino zu sehen sein (eine Kritik finden Sie in unserer regulä-ren Printausgabe celluloid 6/2012).

Panahi war schon lange ein Unbequemer, der auf politische und gesellschaftliche Miss-stände in seinem Land hingewiesen hat. Als Unterstützer der Opposition warf er Präsi-dent Mahmud Ahmadinedschad 2009 im Zuge der „grünen Revolution“ Wahlbetrug vor. Dann ging es Schlag auf Schlag: Verhaf-tung, Hungerstreik, Freilassung gegen die Zahlung von 164.000 Euro Kaution, dann die Verurteilung. Panahi reicht Klage gegen das Urteil ein und wartet im Hausarrest auf die Entscheidung des Berufungsgerichts,

doch im Oktober 2011 gibt es nur schlech-te Nachrichten: Das Berufungsgericht be-stätigt die sechs Jahre Haft sowie das 20-jährige Berufs- und Reiseverbot. Viel Neues hört man seitdem nicht, nur, dass Panahi im März 2012 in zweiter Instanz vor Gericht stehe, wie Irans Botschafter in Deutschland, Ali Reza Sheikh Attar erklärt.

Ein leichtes Unterfangen war es nicht, an „This is not a Film“ zu arbeiten, ein Hauch von Agentenflair umgibt die Produktion. Nach der Fertigstellung des angeblich 3.200 Euro teuren Projekts speichern die befreun-deten Regisseure den Film auf einem USB-Stick. Der Stick wiederum landet - Vorsicht muss sein! - in einem Kuchen. „Der Kuchen mit dem Film drin wurde von einer Frau nach Paris gebracht", führt später Serge Toubiana aus, Unterstützer Panahis und Leiter der Ci-némathèque française. Die Filmfestspiele in Cannes präsentieren „This is not a Film“ in der offiziellen Selektion in einer Sondervor-stellung - die beste Voraussetzung für die Verbreitung des Films.

„Da wir nicht etwas über die Gesellschaft drehen dürfen, haben wir uns entschieden, etwas über uns zu drehen", erklärt der Ko-Regisseur des Films, Mojtaba Mirtahmasb, in Cannes.

KUnst ist lEBEnsnOtWEnDig „This is not a Film“ porträtiert einen Regisseur, für den sein Schaffen lebensnotwendig ist, der nicht still zuwarten kann und darum kämpft, künstlerisch (über-)leben zu können. Wie er überhaupt arbeiten kann, ohne sein Dreh-

verbot zu verletzen, ist eine wesentliche, wenn auch subtile Frage im Film.

In einer Sequenz kommt Panahis künst-lerische Katastrophe am besten zum Aus-druck: Als Mirtahmasb zu seinem Freund in die Wohnung kommt, liest Panahi aus einem Drehbuch vor, das er verfilmen wollte, bevor die ganzen Schwierigkeiten für ihn begon-nen hatten. Er hat keinen Ort, um diesen Film zu drehen, außer innerhalb der Wände seiner Wohnung. Und so klebt er am Teppich einen Bereich ab, der das Zimmer eines Mäd-chens darstellen soll, das von ihren traditi-onsbehafteten Eltern zu Hause eingesperrt wird, um sie daran zu hindern, zu studieren. Panahi beschreibt den genauen filmischen Raum, erläutert die Handlung, spielt dann selbst in unbeholfenen Gesten die Rolle des Mädchens und legt sich in ein aus Klebeband geklebtes Bett.

Von Film hat das nichts - die Szenen we-cken vielmehr aberwitzige Assoziationen mit dem Epischen Theater Brechts: Es ent-steht ein Nichtfilm im Nichtfilm und nach dem anfänglichen aufmüpfigen Enthusias-mus, sein Drehbuch trotz Hausarrest zu ver-filmen, stellt er resignierend fest: Wenn wir einen Film erzählen könnten, warum macht man dann überhaupt einen Film?

KEinE UntERWERFUng Panahi will sich einem Regime nicht unterwerfen, das so vielen seiner Kolleginnen und Kollegen die Freiheit gekostet hat. So wurde Panahis Ko-Regisseur mittlerweile ein Dreh- und Ausrei-severbot auferlegt, der iranische Regisseur

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berufsverbot

Er darf sie nicht mehr drehen, deshalb inszeniert Panahi seine Filme jetzt in der eigenen Woh-nung, mit abgeklebten Sets und der Nacherzählung der Geschichten

Mohammed Rasulof fristet sein Dasein in Hausarrest, nachdem er in den Jahren zuvor mehrfach verhaftet worden ist. Auch die ira-nische Filmemacherin und Frauenrechtlerin Mahnas Mohammadi kennt plötzliche Fest-nahmen. „Ich bin eine Frau und Regisseurin - zwei ausreichende Gründe, um in diesem Land schuldig zu sein“, lässt sie einmal in Cannes verlesen, als sie Ausreiseverbot be-kommen hatte. Beispiele gibt es viele.

VORsiCht hÄlt EinZUg Filmemacher Asghar Farhadi setzt auf Vorsicht: In seinem weltweit beachteten Familiendrama „Na-der und Simin - Eine Trennung“ umgeht er geschickt konkrete politische Anspielungen und meistert eine subtile Gesellschaftsana-lyse. Auf der Berlinale gefragt, warum er sich nicht mehr für die Meinungsfreiheit im Iran einsetze, schildert Farhadi: „Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich kann das sagen, was Sie wollen - mit dem Ergebnis, dass ich Probleme bekomme und keinen Film mehr machen kann. Oder es gibt die Möglichkeit, dass ich so viel rede wie ich kann und dafür weiter Filme machen kann.“ Jeder Filmema-

cher im Iran habe Angst, keine Filme mehr drehen zu können.

Auch wenn Panahis Haftstrafe weltweit nicht so große Wellen geschlagen hat wie die Verurteilungen von „Pussy Riot“ oder Ai Weiwei, mit „This is not a Film“ ruft Panahi einmal mehr in Erinnerung, dass Künstler im Iran - wie auch in anderen Ländern dieser Welt - permanent von psychisch und künst-

lerisch lähmender Bedrohung betroffen sind - sei es durch Zensur, politischer Will-kür oder gar Schlimmeres. Ungehört bleibt Panahi jedenfalls nicht: Wie kürzlich bekannt wurde, ist er einer jener fünf Finalisten, die in der engeren Auswahl stehen, den mit 50.000 Euro dotierten Menschenrechtspreis der EU zu bekommen. Mit dabei im Quin-tett: „Pussy Riot“. Sandra Nigischer

Warum macht man überhaupt

JaFaR Panahi ist einer der bekann-testen Filmregisseure des Irans und wurde 1960 in Mianeh (Iran) geboren. Für sein Regiedebüt „Der weiße Ballon“ erhielt er 1995 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes die Goldene Kamera. 1997 gewann er den Goldenen Leoparden in Locarno für „Der Spiegel“, 2000 den Goldenen Löwen in Venedig für „Der Kreis“. „Offside“ wurde bei der Berlinale 2006 mit dem Silbenen Bä-ren gewürdigt. Als der Regisseur bei der Berlinale 2011 in der Jury sitzen sollte, blieb sein Platz leer: Er durfte wegen seiner Verurteilung den Iran nicht verlassen.

ZURpeRsoN

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F 2012. Regie: François Ozon. Mit Fabrice Luchini, Kristin Scott Tho-mas, Ernst Umhauer, Emmanuelle Seigner. FILMSTART: 30. 11. 2012

IN IHREM HAUS

François Ozon hat in seinem Werk eine einzige Kontinuität: Er erfindet es konsequent neu, hat keine Berüh-

rungsängste mit augenfällig konstruierten Dramaturgien und bringt sein Publikum so immer wieder zum Staunen, weil seine Twists selten erwartbar, und am Ende doch nur logisch erscheinen.

Nach seinem letzten Film „Das Schmuck-stück“, einer durchwegs leichtfüßigen, zu-gänglichen Komödie, ist Ozon mit „In ihrem Haus“ nun wieder auf der Suche nach ei-nem dramatischen Impetus. Vordergründig erzählt er das Spannungsfeld zwischen dem eher frustrierten Literaturlehrer Germain (Fabrice Luchini) und dessen 16-jährigem Schüler Claude (Ernst Umhauer). Während Germain verzweifelt versucht, den Jugend-lichen die großen Dichter nahe zu bringen und sich nach Dienstschluss daheim durch die lausig geschriebenen Arbeiten seiner Schüler quält, bringt Claude eine neue Qua-lität ins Leben von Germain und seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas), einer mäßig erfolgreichen Galeristin. Claudes Aufsätze heben sich nämlich von jenen seiner Mit-schüler ab; er tischt Germain die Geschichte über einen seiner Klassenkameraden auf, dessen Vertrauen er unbedingt gewinnen

will, um endlich in sein Haus eingeladen zu werden. Dort lebt der Mitschüler in einem kleinbürgerlichen Idyll mit Mutter (Emma-nuelle Seigner) und Vater, man kocht, isst, spielt Basketball und sieht gemeinsam fern. Claudes erklärtes Ziel ist, die Mutter für sich zu begeistern, ja, gar mit ihr eine Liebesbe-ziehung zu beginnen.

Claude beendet jede seiner handgeschrie-benen Kapitel mit dem Satz „Fortsetzung folgt“, was Germains und Jeannes Neugier auf den Fortgang der Geschichte bald ge-hörig steigert. Dazwischen nimmt Germain seinen Schützling oft beiseite, um mit ihm über die weitere Handlung und die Drama-turgie zu sprechen - bald jedoch bezieht Claude auch Germains und Jeannes Leben in die Geschichte mit ein, und „In ihrem Haus“ entwickelt sich vom Literaturdrama zum Suspense-Thriller. Die an sich fiktive Geschichte droht, außer Kontrolle zu gera-ten.

VERsChaChtElt Für sein dramatisches Konstrukt hat Ozon bei „In ihrem Haus“ eine verschachtelte Erzählweise gewählt, die immer zwischen der realen Begegnung von Lehrer und Schüler in die fiktionale Handlungsebene seiner Geschichte wech-

selt. Die zunächst harmlose Schwärmerei des Buben für die Mutter seines Klassenkol-legen reichert Ozon mit Spannung an, in-dem er die Begehrlichkeiten seiner Figuren konstant verschiebt. „In ihrem Haus“ kann mal als Drama, mal als Komödie, mal als Kri-mi gelesen werden, und Ozon hat keinerlei Mühe, zwischen den Genres zu changieren. Darüber hinaus ist die scheinbar komplexe Konstruktion so kompliziert nicht: „In ihrem Haus“ ist eigentlich ein Film übers Filmema-chen; wenn sich Claude mit Germain über die Entwicklung seiner Geschichte unterhält, ist das, als würde man einem Drehbuchau-tor und seinem Regisseur beim Diskutieren neuer Szenen lauschen. Ozon hat damit den eigentlichen Prozess der Geschichtsfindung unverblümt in die Handlung seines Films verpackt, ja sie gar zum Teil der Handlung gemacht. Das ist, abgesehen von der vor-trefflichen Besetzung des Stücks, vielleicht der raffinierteste Schachzug des großar-tigen Geschichtenmanipulators François Ozon. Doris Niesser

IN IHRem HAusFrançois Ozon und sein wunderbares Verwirrspiel zwischen Liebesdrama, Suspense-Thriller und dramaturgischem Expermient

Film

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filmkritik

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Thim

film

Ö 2012. Regie: Florian Flicker. Mit Andreas Lust, Andrea Wenzl, Stefan Pohl.FILMSTART: 16. 11. 2012

GRENZGÄNGER

GReNzGÄNGeRDramaturgisch höchst ausgereift, bildgewaltig und mit einer formidablen Besetzung: So präsentiert sich Florian Flickers erste Spielfilmarbeit seit „Der Überfall“ (2000)

In seiner freien filmischen Adaption veran-kert Regisseur Florian Flicker Karl Schön-herrs Dramentext „Der Weibsteufel“ in

der österreichisch-slowakischen Grenzregi-on der March-Au. In einer Rückblende er-zählt er in „Grenzgänger“ die Geschichte der Gasthausbetreiber Hans (Andreas Lust) und Jana (Andrea Wenzl): Kurz nachdem der Präsenzdiener Ronnie (Stefan Pohl) das Gasthaus in der Au im Jahre 2001 auf sei-nem Weg zum Wachtposten betreten hat, ordnet ihm sein Vorgesetzter Fuchs, der hinter dem nächtlichen Fischfang von Hans eine Schleppertätigkeit vermutet, an, sich mit den Wirtsleuten anzufreunden, um so vielleicht an nähere Informationen zu ge-langen.

Hans durchblickt Fuchs’ Plan sofort und warnt seine Frau Jana. Die Charaktere be-ginnen sich gegenseitig zu observieren. Es wird immer unklarer, wer eigentlich wen beobachtet und wer sich in der Machtpo-sition glaubt. Die Charakterkonstellation präsentiert sich innerhalb dieses Vorgan-ges als stetig wechselndes Gefüge einer Dreiecksbeziehung. Denn Janas anfängli-ches Misstrauen und ihre natürliche Scheu schlägt langsam in Sympathie, gar Liebe um. Ronnie wiederum, soviel wird bald klar,

will Hans’ Platz als Alphatier einnehmen, artikuliert diesen Wunsch auch wiederholt. Jana, die nun erkennt, dass sie eigentlich aus ihrem Abhängigkeitsverhältnis zu Hans ausbrechen will, entwickelt Sehnsüchte. Aus Dankbarkeit gegenüber Hans blieb sie bisher bei ihm.

hEiMtÜCKisCh Die Trost- und Hoff-nungslosigkeit der Figuren, ihre Ausweg-losigkeit, wird greifbarer, als ihre Ziele und Motivationen nach und nach versiegen. War ihr Handeln doch anfangs überaus loyal, so wird es mit Fortdauer des Spielfilmes immer opportunistischer und heimtückischer, bis die zum Spielball gewordene Jana schließ-lich unter der unerträglichen Last zusam-menbricht und Verrat an Hans begeht.

Der vorrangige Schauplatz von „Grenz-gänger“ – ein authentisch-niederösterreichi-sches Gasthaus im einsamen wie idyllischen Sumpfgebiet der March-Au – verdeutlicht diese zwischenmenschliche Enge inmitten der landschaftlichen Weite. Zwar verirren sich vereinzelte Wanderer oder Radfahrer in diese sagenhaft schönen Landstriche, doch eigentlich handelt es sich um leere Durch-zugsorte, die nicht unbedingt zum dauer-haften Verweilen einladen. So ist es umso

erstaunlicher, dass es Hans und Jana an die-sem für Veränderung stehenden Ort so lan-ge ausgehalten haben, könnte dieser doch auch als metaphorisches Zwischenstadium verstanden werden. Fernab der Zivilisation herrscht zudem eine gewisse Gesetzlosig-keit der Wilden, welche so den western-haften Sonderstatus des Gebietes markiert. Mithilfe von Kamerafahrten und Filmkränen fängt Kameramann Martin Gschlacht in eher statischen Einstellungen diese Wildnis ein. An diese imposanten Bilder schmiegt sich Eva Jantschitsch’ Filmmusik, welche den visuellen Kompositionen eine weitere unheimliche Dimension beifügt. Nebst die-ser herausragenden kinematographischen Gestaltung ist „Grenzgänger“ auch dra-maturgisch höchst ausgereift, zu jeder Zeit spannend und unvorhersehbar, sein Ensem-ble formidabel. Matthias K. Heschl

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blu-ray & dvd

Am Anfang steht ein kurzer 35mm Film, der schlicht „Am Siel“ (1962) heißt. Siele sind Kanäle, welche man

an Dämmen und Deichen der Nordsee fin-det, sie sind Verbindungskanäle zwischen dem Meer und den Häfen. Was sogleich verblüfft ist, dass das Siel selbst seine Ge-schichte in Poesie verpackt und erzählt. Die-ser Erstling stieß auf Unverständnis (Argu-ment: Ein Siel kann nicht sprechen) – dabei vermittelt er einen vielschichtigen und inten-siven Eindruck vom Leben der Menschen am Siel. Nestlers zweiter Film „Aufsätze“ (1963) schlägt in eine ähnliche Kerbe – Kinder aus einem abgelegenen Schweizer Bergdorf lesen aus ihren Schulaufsätzen über ihren Alltag vor, die Bilder dazu zeigen sie auf ih-rem beschwerlichen Weg zur Schule, beim Unterricht, beim Spielen. Die Art und Wei-se, wie die Stimme jedes Kindes sich in der Betonung, im Sprechrhythmus unterschei-det, und das Zusammenspiel zwischen Text und Bild machen die besondere Schönheit dieser wunderbaren schwarz/weiß Arbeit aus. Sein nächstes Werk „Mühlheim (Ruhr)“ (1964) ist ein Städteporträt und ein Porträt der Menschen dieser Stadt. Ohne Original-ton, ohne Off-Kommentar, nur Bilder von Fabrikarbeitern, Kindern, Familien, alten und neuen Gebäuden und Abenden in der Kneipe. Er zeigt den strukturellen Wandel, den die Industriestadt Anfang der 60er un-terworfen war, weg vom Kohleabbau, hin zum Fließbandbetrieb. Den drei Arbeiten ist gemeinsam, dass man sie bei ihrem Er-scheinen nicht verstand oder ablehnte. Erst „Ödönwaldstätten – Ein Dorf ändert sein Gesicht“ (1964) sollte im Fernsehen aus-

gestrahlt werden,– hier finden in Nestlers Werk Form und Inhalt so zusammen, wie sie sein zukünftiges Schaffen bestimmen sollten. Wie wirken sich industrieller und gesellschaftlicher Wandel auf einzelne Teile dieser Gesellschaft aus?

sChÖn ERsChRECKEnD Seit nunmehr knapp 50 Jahren dreht Nestler Filme, in de-nen er sich mit dieser Frage auseinandersetzt – und es sind die schönsten und manchmal zugleich erschreckendsten, die dabei heraus-kommen. In „Von Griechenland“ (1965) zieht er eine Linie zwischen dem Widerstand gegen die faschistische Besetzung des Peloponnes im Zweiten Weltkrieg hin zur Situation, in der sich das Land nach Jahren des Bürgerkriegs und kurz vor der Errichtung der Militär-Junta befindet. Die Bilder sind drastisch und die Bot-schaft, die sich hier nicht etwa über direkten Ton, sondern über Nestlers Off-Kommentar vermittelt, ganz klar und bestimmend: Der Faschismus muss überwunden werden. Dass der Film von der damaligen Fachzeitschrift Filmwoche als kommunistisches Machwerk bezeichnet wurde, verhinderte erneut eine Ausstrahlung im Fernsehen. Nestler dreht noch einen Kurzfilm, „Rheinstrom“ (1965) in dem er erneut Hafenarbeiter und Seeleute zeigt, bei der Verrichtung ihres Tagwerks und beim Biertrinken (nicht Wein) in der Kneipe. Nach dessen Vollendung geht Nestler nach Schweden, wo er für dortige Fernsehstatio-nen regelmäßig Arbeiten realisiert. Erst eini-ge Jahre später wird er wieder für deutsche Sender tätig.

Der Reichtum von Nestlers Schaffens liegt darin, wie er Menschen und Dinge zeigte,

anschaulich machte, verstand. Nestler ent-puppt sich als Ethnologe des 20. Jahrhun-derts, und das wird, wenn man sich die äu-ßerst gelungene Zusammenstellung der 20 ausgewählten Filme auf fünf DVDS ansieht, mehr und mehr klar. Immer wieder kehrt er zu seinen Kernthemen zurück, zeigt etwa, welche Konsequenzen der Raubbau und die Errichtung zahlloser Staudämme an der „Nordkalotte“ (1990/91), der nördlichen Küste Skandinaviens für deren Bewohner hat oder widmet sich in dem sehr persönli-chen „Tod und Teufel“ (2009) einem dunk-len Kapitel seiner eigenen Familiengeschich-te: Sein Großvater Eric von Rosen war ein berühmter Forscher und Abenteurer, dessen Reisen ihn in alle Welt führten aber auch Mitbegründer der nationalsozialistischen Partei in Schweden.

Immer wieder begegnet man in den Fil-men Nestlers den Einzelkämpfern, den Au-ßenseitern, denen, die sich gegen Mode und Zeitgeist stellen – ob das nun ein Korbflechter in der wunderbaren „Die Rö-merstraße im Aostatal“ ist, der genau weiß, dass er einer der letzten ist, die dieses Hand-werk noch beherrschen, oder die beiden Fil-memacher Jean-Marie Straub und Daniéle Huillet sind, die er bei den Dreharbeiten zu „Jene ihre Begegnungen“ begleitet. Auch deren Verständnis von Kino als „Handwerk“ ist im Vergehen. Straub hat Nestler bereits in den 60er Jahren als den wichtigsten Fil-memacher in Deutschland nach dem Krieg bezeichnet. Dass dieses Urteil bis heute Be-stand hat, bezeugt sein Werk selbst. � Florian Widegger

Bereits erhältlich

poetischer provokateurpeter nestler: filMe 1962 - 2009

Peter Nestlers Dokumentarfilme sind bei Absolut Medien als DVD-Box erschienen

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3d-offensive: „avatar“ und „i, robot“ auf blu-ray

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Mit 3D kann man Filme mehr als nur se-hen, denn noch nie sind uns die Bilder so nahe gekommen. „3D-TV ist die Zukunft des Heimkinos“, so der Oscar-prämierte Re-gisseur James Cameron. Das Label Fox prä-sentiert nun gleich zwei fantastische Seh-erlebnisse erstmals als Blu-ray 3D. Am 26. Oktober erscheint James Camerons episches Meisterwerk als exklusive „Avatar 3D Editi-

on“. Ein Heimkino-Erlebnis, das es in die-ser Art noch nie zuvor gab.

Außerdem können 3D-Fans ab dem 29. Oktober „I, Robot“, „eine der spannends-ten Zukunftsvisionen seit Blade Runner“ (FAZ), erstmals in 3D-High-Definit ion

erleben. Damit bietet Fox rechzeitig vor Weihnachten die beste und umfangreichs-te 3D-Produktpalette mit Filmen für jeden Geschmack - vom Filmspaß für die ganze Familie „Ice Age 3 – Die Dinosaurier sind los – 3D“ über die größte Liebesgeschichte „Ti-tanic 3D“ bis hin zum erfolgreichsten Film aller Zeiten „Avatar 3D Edition“. Mit dabei sind natürlich zahllose Extras.Bereits erhältlich

Die blutige TV-Miniserie auf DVD & Blu-ray: Das Haus Batiatus erfreut sich wachsen-der Macht und sonnt sich im Ruhm seines berüchtigten Champions Gannicus, dessen Geschick mit dem Schwert nur von seinem Durst nach Wein und Frauen übertroffen wird... Der junge Batiatus sieht seine Zeit gekommen – er will seinen Vater stürzen und selbst die Kontrolle übernehmen. Um seine Gladiatoren zu unangefochtenen Favoriten zu machen, schreckt er selbst vor Verrat nicht zurück. Bei seinen hinterhälti-gen Machenschaften kann er sich auf seine berechnende Gattin Lucretia und die verfüh-rerischen Talente ihrer Freundin Gaia verlassen. Zusam-men macht das Trio vor nichts Halt, um die Macht an sich zu reißen und das Gladiatoren-Lager Capua auszubluten.Erhältlich ab 09. 11. 2012

Am Set zu Camerons „Avatar“ (nun erstmals als 3D-Blu-ray erschienen): Sigourney Weaver und Sam Worthington in ihren Motion-Capture-Anzügen, die ihre Bewegungen für die Animation ihrer Figuren im späteren Film aufzeichnen.

futuraMa - season 6:Matt groening in bestforMAuch die sechste Staffel der preisgekrönten Animationsse-rie von „Simpsons“-Schöpfer Matt Groening ist hemmungs-los witzig: 13 neue Episoden mit galaktischen Abenteuern, hintergründigem Spaß und ab-gründigen Geschichten - bei denen es unter anderem um einen vierdimensionalen Welt-

raumwal, Alieneier und die Robo-termafia geht. Nicht nur Bender macht einiges durch, auch FU-TURAMA selbst erlebt am Ende eine dreifache Reinkarnation der besonderen Art… Aber das muss man selbst sehen, um es zu glau-ben - schließlich ist im 30. Jahr-hundert nichts unmöglich...Bereits erhältlich

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5iM noveMber 2012

DieTopderRedaktion

1pARADIes: lIeBe von ulrich seidl - ab 30.11. im kino

celluloid Nr. 6/2012 ist ab sofort im gut sortierten zeitschriftenhandel erhältlich!

2 IN IHRem HAusvon françois ozon - ab 30.11. im kino (siehe seite 10)

Erster Teil von Ulrich Seidls „Paradies“-Trilogie: Eine österreichische Sextouristin reist nach Kenia, wo sie sich gegen Geld ein bisschen Liebe und Zuneigung erhofft. Die W

eltpremiere fand im

Mai in Cannes statt.

Famos komponierte Mischung aus Drama, Suspense-Thriller und Film übers Filmemachen: François Ozon erhielt dafür in San Sebastian den H

auptpreis.

Ben Affleck beweist erneut, dass ein toller Regisseur in ihm steckt. 3

Riskant: Der Iraner Jafar Panahi dreht trotz Berufsverbots weiter.

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Großes Kino aus der Hand des Portugiesen Miguel G

omes.

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