Chancen und Grenzen deliberativer Politik im digitalen Zeitalter

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Chancen und Grenzen deliberativer Politik im digitalen Zeitalter Hausarbeit im Fach Soziologie Dr. phil. Johannes Gruber Proseminar: Einführung in die Politische Soziologie Frühjahrsemester 2010 Universität Basel Geschrieben von: Max Kehm, Dinkelbergstr 66 79650 Schopfheim, Deutschland Seite 1

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Hausarbeit die ich für das Einführungsproseminar in die politische Soziologie an der Univesität Basel geschrieben habe.Der Text steht unter einer freien Lizenz jedem zur nicht kommerziellen Verwendung zur Verfügung.Grüße,Max KehmMein Blog: http://www.opencast.de

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Chancen und Grenzen deliberativer Politik

im digitalen Zeitalter

Hausarbeit

im Fach Soziologie

Dr. phil. Johannes Gruber

Proseminar: Einführung in die Politische Soziologie

Frühjahrsemester 2010

Universität Basel

Geschrieben von:

Max Kehm,

Dinkelbergstr 66

79650 Schopfheim, Deutschland

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Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort........................................................................................................32 Einführung.............................................................................................…..33 Der rasant wachsende Einfluss des Internets.............................................43.1 Die Konsequenzen der digitalen Umwälzung..............................................5 3.2 Neue Diskursformen erfordern deliberative Reformen................................6 3.3 Diskurskultur und Kommunikation im Internet.............................................7 4. Bestehende Partizipationsmöglichkeiten.....................................................9 5. Die Sozialen und Politischen Voraussetzungen.........................................11 6. Liquid Democracy und die Piratenpartei....................................................12 7. Technische Gewährleistung der Legitimität................................................14 7.1 Demokratische Gewährleistung der Legitimität..........................................14 8. Aufmerksamkeitsökonomie im Politischen Internet............... ...................15 9. Schlussfolgerungen....................................................................................17 10 Quellenverzeichnis.....................................................................................19

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1. Vorwort

In meiner Arbeit möchte ich der Frage nachgehen, warum sich in den letzten Jahren, ausgehend von den Konflikten um das Internet, neue Soziale Bewegungen formierten, die zunehmend Partizipation einfordern und Basisdemokratie leben. Insbesondere geht es dabei um eine Analyse, welche neuen Partizipationsmöglichkeiten sich hierdurch in für die Bürger in Medien, Wirtschaft und Politik eröffnen. Daran anschließend werde ich das neue theoretische Konzept der “Liquid Democracy“ erörtern, das verspricht, eine deliberative Politik und Organisationsform nach den Prinzipien der freien Software im Internet auf breiter Basis zu ermöglichen. In meinen Ausführungen möchte ich eingangs auch kurz auf die Habermas'schen Eckpunkte dieses politischen Partizipationsmodells eingehen. Anschließend werde ich darlegen, dass wichtige dieser Anfang der 90er Jahre entstandenen Theoriemodelle durch die rasante und damals noch nicht absehbare Entwicklung des Internets zumindest teilweise realisierbar geworden sind. Ich werde daran anschließend zeigen, dass das Internet als Möglichkeit einer demokratischen Diskussionsplattform, das Prinzip der deliberativen Demokratie entscheidend voranbringen und dessen Legitimation gegenüber traditionellen politischen Interessen stärken kann. Zuletzt steht die Frage im Raum, welchen Grenzen und Risiken diese Entwicklungen unterworfen sind.

2. EinführungMöglichkeiten und Grenzen der deliberativen Politik nach Habermas

Aufbauend auf die Thesen, die Joseph M. Bessette in dem 1980 erschienenen Buch Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government, entwickelte, hat Jürgen Habermas dieses Konzept der Partizipation der Zivilgesellschaft an politischen Entscheidungsprozessen in seinem Buch „Faktizität und Geltung“ maßgeblich vorangetrieben. Die deliberative Demokratie bei Habermas setzt auf eine Neuregelung der Beziehung zwischen „peripherer“ und „zentraler“ Macht. Die Periphere Macht wird gebildet von der Zivilgesellschaft, die zentrale Macht repräsentiert sich durch die auf herkömmliche Weise durch Wahlen legitimierte politische Institutionen wie Parlamente und Regierungen. Nach Habermas soll die periphere Zivilgesellschaft keine politische Herrschaft erwerben, sondern „nur“ Einfluss. Er schreibt:

„Der Einfluss einer mehr oder weniger diskursiv, in offenen Kontroversen erzeugten öffentlichen Meinung ist gewiss eine empirische Größe, die etwas bewegen kann. Aber erst wenn dieser publizistisch-politische Einfluss die Filter der institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung passiert, sich in kommunikative Macht verwandelt und in legitime Rechtsetzung eingeht, kann aus der faktisch generalisierten öffentlichen Meinung eine unter dem Gesichtspunkt der Interessenverallgemeinerung geprüfte Überzeugung hervorgehen, die politische Entscheidungen legitimiert“ (Habermas, 1992:459).

Der maßgebliche Schlüssel zum größeren Einfluss durch Diskurs liegt, der Habermas'schen Überlegung folgend, darin, dass dieser Einfluss die institutionalisierten Entscheidungsprozesse beeinflusst. Dies wiederum setzt die Bereitschaft der institutionalisierten politischen Machtzentren voraus, sich dem diskursiven Einfluss auch zu öffnen. Habermas meint dazu an gleicher Stelle:

„Die kommunikativ verflüssigte Souveränität des Volkes kann sich nicht allein in der Macht

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informeller öffentlicher Diskurse zur Geltung bringen - auch dann nicht, wenn diese autonomen Öffentlichkeiten entspringen. Ihr Einfluss muss sich auf die Beratungen demokratisch verfasster Institutionen der Meinungs- und Willensbildung auswirken und in formellen Beschlüssen eine autorisierte Gestalt annehmen, um politische Macht zu erzeugen“(Habermas, 1992:459).

Die Thesen von Habermas laufen also darauf hinaus, dass etwa das etwa die Mitglieder eines institutionalisierten Parlamentes diesen Einfluss zulassen, und damit auch einräumen, dass die institutionalisierten in Parteien,Parlament und Fachausschüssen durch einen vorgeschalteten zivilgesellschaftlichen oder öffentlichen Diskurs ergänzt werden müssen. Habermas setzt sich in Faktizität und Geltung unter anderem mit der Rolle der Massenmedium auseinander. Sie sind vielfältigen wirtschaftlichen und/oder politischen Zwängen und Einflüssen ausgesetzt und deshalb als Transformatoren bzw. Multiplikatoren eines zivilgesellschaftlich unabhängigen öffentlichen Diskurses und seiner von der gängigen etablierten Politik abweichenden Ergebnisse nur bedingt geeignet. Diese Rolle der Massenmedien wird, wie im Folgenden ebenfalls gezeigt werden soll, durch die Rolle des Internets relativiert. Einerseits bleibt ihr Einfluss auf einen Teil der Zivilgesellschaft, der sich nicht aktiv am öffentlichen Diskurs beteiligt, bestehen, andrerseits können Diskussion und Entscheidungsfindung sowie der Transport in die institutionalisierten politischen Gremien weitgehend ohne die Massenmedien abgewickelt werden. Es wird in den weiteren Ausführungen meiner Arbeit darzulegen sein, dass dieser öffentliche Diskurs als Einfluss auf faktische Politik nur dann Bestand haben kann, wenn er verbindlich wird und nicht nur im Bedarfsfall zu Legitimation politischer und vor allem parteipolitischer Interessen herangezogen wird.

3.Der rasant wachsende Einfluss des Internets

Das Internet wird in sozialer wie auch ökonomischer Hinsicht zunehmend bedeutender, immer mehr Menschen nutzen es um sich zu informieren, Meinungen auszutauschen oder Bekanntschaften zu machen. Für die Wirtschaft ist es mittlerweile unentbehrlich geworden, ein Großteil der gesamten Unternehmenskommunikation läuft über die globalen Datenautobahnen, die modernen Börsen und Banken sind in höchstem Maße auf eine stabile Internet basierte und vor allem sichere Kommunikationsinfrastruktur angewiesen. Auch für Handel und Dienstleistungsangebote ergeben sich hier große Veränderungen. Große Versandhäuser wie Amazon oder eBay verdrängen klassische Angebote wie Kaufhäuser. Filmemacher, Musiker und Journalisten werden zunehmend vor die Herausforderung gestellt, auch im Zeitalter der freien Kopierbarkeit ihrer Werke ein Einkommen zu erwirtschaften. Die Zeitungskrise, die in den USA bereits weit fortgeschritten ist, zeugt von einem tief greifenden Medienwandel. Konzerne wie Google erwirtschaften mittlerweile gigantische Umsätze durch virtuelle Dienstleistungen und treten so zunehmend in Konkurrenz zu den klassischen Wirtschaftsbranchen wie zum Beispiel der Verlagsbranche.

Da das Internet ein noch relativ junges Medium ist, sind die die Rollen der staatlichen und Ökonomischen Akteure noch nicht abschließend gesetzlich festgelegt. Die Entstehung höchst unterschiedlicher sozialer und Wirtschaftlicher Interessen im Internet eröffnet zunehmend das Potential für tief greifende Konflikte, die letztendlich im politischen Prozess ausgetragen werden. Während viele der klassischen Industriezweige, wie die Zeitungsverlage oder Musikindustrie nur schwer gegen das Internet bestehen können und zunehmend in einen Kampf um das eigene Überleben gezwungen werden, steigen neue Akteure wie zum Beispiel Google, die zu Teilen der alten Industrie gegenüber antagonistische Interessen aufweisen, wirtschaftlich auf. Auch die

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staatliche Ordnungsmacht wird durch ein Internationales nur schwer zu kontrollierendes Medium wie das Internet vor eine schwierige Herausforderung gestellt. Die Folge ist zwangsläufig ein zunehmender Machtkampf darum, wie das Politische und Ökonomische Internet der Zukunft aussehen soll. Da die Interessen der Staatlichen und Wirtschaftlichen Akteure nicht unbedingt denen der Internetbenutzer und Informationsarbeiter entsprechen und diese Interessen von den klassischen Volksparteien kaum vertreten werden, kommt es zu einer zunehmenden Politisierung und Organisation der durch den Prozess der Digitalisierung neu entstandenen Interessensgruppen, welche gezwungen sind, für sich selbst zu sprechen, um ihre Interessen gegenüber denen der Wirtschaft und des Staates zu verteidigen und durchzusetzen.

3.1. Die Konsequenzen der digitalen Umwälzung

Insbesondere für die politische Soziologie stellt sich hier die Frage, inwiefern sich die ökonomischen und sozialen Veränderungen und Machtkämpfe, die mit der digitalen Revolution einhergehen, auf der politischen Ebene niederschlagen und Verschiebungen im vorherrschenden Machtgefüge zur Folge haben.Da sich das Internet von klassischen Medien wie zum Beispiel Zeitung oder Fernsehen dadurch unterscheidet, dass die Menschen nicht nur passive Konsumenten sind, sondern die Möglichkeit haben eigene Gedanken und Kritik direkt für ein breites Publikum zugänglich zu machen, wird eine zunehmende Partizipation der Bürger an der öffentlichen Meinungsbildung erleichtert. Als Beispiel seien hier Projekte wie die Wikipedia genannt oder zahlreiche neue partizipative Medienformen wie Politikblogs und Foren, die bereits einen deutlich spürbaren Einfluss auf die digitale Medienlandschaft haben. Die Internetnutzer können also sowohl Konsumenten als auch Produzenten von Information sein. Durch die veränderten Kommunikationsbedingungen wird die Verbreitung von Informationen abseits der großen Massenmedien erleichtert, der Informationsfluss wird nun nicht mehr in dem Maße von institutionalisierten Gatekeepern kontrolliert, wie dies bei den Printmedien oder im Fernsehen der Fall ist. In der klassischen Zeitungsredaktion werden die Inhalte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gefiltert. Da nur eine beschränkte Menge an Platz auf dem Papier zur Verfügung steht, ist eine gewinnorientierte Zeitung immer darauf angewiesen, die Themen zu drucken, die sich am besten vermarkten lassen. Nischenthemen abseits des Mainstreaminteresses finden in den klassischen Medien folglich kaum Beachtung.Im Internet bestehen diese ökonomischen Beschränkungen nicht, da selbst durch die Verbreitung großer Informationsmengen im Gegensatz zu den klassischen Medien kaum Kosten anfallen. Auch Themen abseits der Interessen der kommerziellen Informationsanbieter finden so ihren Platz und werden zum Teil des öffentlichen Diskurses. Für die Menschen wird es also möglich, selbst über ein mächtiges Medium zu verfügen und so an der Öffentlichen Meinungsbildung zu partizipieren oder sich anhand der verfügbaren Informationen auch eine eigene Meinung abseits des Mainstreams zu bilden und diese Meinung wiederum öffentlich zu artikulieren. Somit verwirklicht sich die von Berthold Brecht in seiner Radiotheorie formulierte Utopie:

.„Um nun positiv zu werden: das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in

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Beziehung zu setzen.“ (Brecht, 1982: 129)

Eine solche Veränderung der Diskurskultur ist der Entstehung von Subkulturen, einer größeren Meinungspluralität sowie der Verbreitung und Entstehung neuer Ideen und sozialer Bewegungen durchaus förderlich. Menschen, die es gewohnt sind, nicht nur als Informationskonsumenten aufzutreten, sondern gleichzeitig auch am Prozess der Schaffung neuer Information teilzuhaben, sind potentiell dazu bereit diese verinnerlichte Partizipationskultur auch auf die Politik zu übertragen und so der Forderung nach mehr Mitbestimmung und Partizipation im politischen Prozess mehr Nachdruck zu verleihen.

3.2. Neue Diskursformen erfordern deliberative Reformen.

Durch die mit der digitalen Revolution einhergehenden Veränderungen in der Kommunikations- und Diskursweise ergibt sich die theoretische Möglichkeit, eine partizipative Demokratieform auf breiter Ebene zu realisieren. Die Vorteile der digitalen Demokratie liegen auf der Hand, da sich die Kommunikation und Vernetzung aller Bürger untereinander kostengünstig und über große Distanz hinweg realisieren lässt. Digitale Kommunikationsplattformen können ein hohes Maß an Transparenz zur Verfügung stellen und somit den Diskurs aller Teilnehmer untereinander ermöglichen. Die politische Kommunikation bezieht sich zunehmend nicht mehr nur auf die durch die kommerziellen Massenmedien geschaffenen Öffentlichkeiten, sondern schafft mit Hilfe von Diskussionsforen und Blogs autonome Alternativen, die nicht der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen sind. So können multiple sowie stark pluralistische Suböffentlichkeiten entstehen, die mit der zunehmenden Ausbreitung der neuen Medien einen immer größeren Einfluss auf die Gesamte Öffentlichkeit erwirken werden. Die neuen Kommunikationskulturen ermöglichen den ständigen Austausch aller Akteure und sind somit viel dynamischer als die bestehenden klassischen Strukturen der repräsentativen Demokratie. Was letztendlich zur Folge hat das sich die Politik der für eine bestimmte Legislaturperiode gewählten Parteien zunehmend in eine andere Richtung entwickeln kann, als der Diskurs und die Meinung von großen Teilen der Wählerschaft dieser Parteien. Dies wiederum führt zu wachsender Frustration und Resignation gegenüber der vorherrschenden Politik, was sich auch in der zunehmenden Zahl von Nichtwählern widerspiegelt. Eine Möglichkeit diesen Tendenzen entgegen zu wirken ist es, die Bürger stärker an den Politischen Prozessen zu beteiligen, um so den sich verändernden Öffentlichkeiten gerecht zu werden. Vor allem Formen der digitalen Partizipation eröffnen hier die Chance die Kommunikation von Information zwischen den Bürgern, Repräsentanten sowie den Behörden zu verbessern, um so das Finden eines Konsenses bzw. Interessenausgleichs zwischen den verschiedenen Akteuren im Politischen Prozess zu erleichtern. Insbesondere durch die im Internet veränderte Diskurskultur könnte sich hieraus eine Stärkung des Bürgers gegenüber dem Staat und den ökonomischen Machtinteressen ergeben.

3.3. Diskurskultur und Kommunikation im Internet

Wie Steffen Albricht in seinem Buch “Reflexionsspiele, Deliberative Demokratie und die Wirklichkeit politischer Diskurse im Internet“ ¹ beschreibt, unterscheiden sich die Diskursformen, die durch die Digitalisierung ermöglicht werden, weitgehend von allen vorherigen. Die größten Neuerungen sind wohl die räumliche und Zeitliche Unabhängigkeit. Es ist also nicht mehr nötig, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein, um an einem Diskurs teilnehmen zu können (z.B. Konferenzen, Foren oder Versammlungen). Der Diskurs im Internet findet rund um die Uhr statt und ist immer zugänglich. In Foren oder Mailinglisten ist es keine Seltenheit, dass sich

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eine Diskussion über mehrere Tage oder gar Wochen hinzieht. Ein weiteres Merkmal jedoch ist die weitgehende Hierarchielosigkeit dieser Diskurse. Das Typische Forum ist politisch neutral und bietet allen Teilnehmern die Möglichkeit ihre Meinungen zu vertreten. Es ist also nicht erforderlich, dass ein Mitglied sich der Meinung anderer unterordnen muss. Zudem werden meist Pseudonyme verwendet, was bedeutet, dass der Status eines Diskussionsteilnehmers in der Regel für die anderen Diskutanten nicht erkennbar ist. Diskussionen sind immer offen da keine Entscheidungs- oder Konsensfindung verlangt wird, sowie einer Diskussion keine zeitlichen Grenzen gesetzt sind. In diesem Sinne besteht eine weitgehend Hierarchie und autoritätsfreie Diskurskultur, auch wenn diese von strategischem Handeln der einzelnen Diskursteilnehmer geprägt sein kann. Die Foren stehen jedem offen, weswegen es keine feste Gruppenbildung in Bezug auf Bildungsstand oder Wohlstand gibt. In der Diskussion sind alle Teilnehmer erst einmal gleichberechtigt. Argumente, Fachwissen und rhetorisches Geschick entscheiden letztendlich. Da es keinen festen bzw. zwingenden Diskussionsausgang gibt, bleibt die Meinungspluralität erhalten.

Wie in der Einführung schon erwähnt, hat Habermas in seiner Schrift über Faktizität und Geltung das Internet noch nicht berücksichtigt. In einem 2008 erschienen Band mit neuen Aufsätzen jedoch kann der neuen Diskurskultur im Internet nicht nur positives abgewinnen, sondern fürchtet durch den Machtverlust der klassischen Medien eine zunehmende Fragmentierung des Diskurses:

“Hier fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten Chatrooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. Dieses Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen. Auf diese Weise scheinen die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten eher unterminiert zu werden“ (Habermas, 2008: 161ff).

Diese Fragmentierung des Diskurses lässt sich im Internet tatsächlich beobachten. Oftmals bilden sich Medienformen, die weitgehend monothematisch auf eine Fragestellung konzentriert sind. Diese Tendenz spiegelt sich auch in den Blogs wieder. Die erfolgreichsten Blogger spezialisieren sich auf ein Thema, das sie dann teilweise mit einem größeren Fachwissen und Kompetenz bearbeiten können als ein Journalist, der gezwungen ist, ein breiteres Feld abzudecken und so in der Regel nicht dieses Maß an Fachwissen zu einem Thema zur Verfügung hat. In einer komplexer werdenden Welt ist es schließlich immer schwieriger, zu allen Themen eine fundierte eigene Meinung zu haben, deshalb macht der Fokus auf einzelne Gebiete durchaus Sinn.

Denn letztendlich kann man mehr erreichen wenn man sich auf Ziele konzentriert, die man kompetent und mit viel Fachwissen vertreten kann. Diese Monothematisierung, man könnte auch sagen die Arbeitsteilung der Informationsarbeit, kommt dem intellektuellen Publikum im Internet, das sich die Informationen, die es lesen will, selbst aussucht, gut an. Anstatt das vorgefertigte Newsangebot einer Zeitung zu konsumieren, werden die Informationen, die individuell am interessantesten sind bzw. momentan benötigt werden, gezielt gesucht. Da die Massenmedien nur einen groben Überblick oder News zu den Themen des Interesses liefern können, nimmt der Bedarf an monothematischen Foren, Blogs etc. zu, die ein Wissen vermitteln, das oftmals weit über das hinausgeht, was die alten Medien bieten können. Besonders im technischen Bereich wird dies überdeutlich. Hier lassen sich Informationen über fast alles finden, Informationen, die man oft selbst in der Fachpresse nicht findet, da diese zu speziell sind, als das sich deren redaktionelle Aufarbeitung lohnen würde. Im Gegensatz zu früher ist es aufgrund der schieren Masse an verfügbarer Information kaum mehr möglich sich diese aus Büchern und Fachzeitschriften zu merken, sondern es ist praktischer, wenn man weiß, wie man dieses Wissen im Internet frei finden

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kann.

Dies trifft zum Teil auch auf das politische Internet zu. Zum einen gibt es allgemeine Politikforen, in denen ein breiter themenübergreifender Diskurs stattfindet. Die großen Politikblogs sind jedoch oftmals monothematisch was auch den Interessen des jeweiligen Publikums durchaus zugute kommt. Die Folge davon ist natürlich, dass sich der Diskurs im Internet oft themenspezifisch an verschiedenen Orten fragmentiert. Jedoch erkennt Habermas nicht, dass auch aus diesem Umfeld heraus gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeiten entstehen können, sofern die dezentral existierenden Öffentlichkeiten ein gemeinsames Interesse eint. Yochai Benkler geht in seinem Buch “The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom“ ² davon aus, dass die wichtigen Themen von gesellschaftlicher Relevanz auch im Internet eine gemeinsame Öffentlichkeit finden. Als Beispiel seien hier der Nachrichten Aggregator Google News oder große Nachrichtenportale im Internet genannt, die ein breites Millionenpublikum erreichen. Es fällt auf, dass diese Quellen auch in den verschiedenen dezentralisierten Diskursen häufig aufgegriffen und verlinkt werden, zum Beispiel um dort veröffentlichte Artikel zu kritisieren, zu ergänzen oder einfach nur eine eigene Meinung dazu zu veröffentlichen. So bleibt der Einfluss der klassischen Massenmedien trotz der zunehmenden Fragmentierung der Diskursräume weiterhin maßgeblich. Da im Internet alle laufenden Diskurse einem breiten Publikum zur Verfügung stehen, bildet sich so ein Gegengewicht zu den klassischen Medienformen heraus, das jedoch bisher noch nicht in der Lage war, diese zu ersetzen. Der Diskurs emanzipiert sich so zunehmend vom Einfluss der Massenmedien und übt immer mehr eine Kontrollfunktion gegenüber den klassischen Medienformen aus. Als Beispiel seien hier die populären Watchblogs wie zum Beispiel das BILDblog genannt, deren Betreiber sich der Aufgabe verschrieben haben, die Artikel, die in der Bildzeitung erscheinen, zu kritisieren, zu hinterfragen und Falschmeldungen aufzudecken. Als weiteres Beispiel sei Wikileaks genannt, das organisatorisch völlig unabhängig von den Massenmedien aufgestellt aber bis zu einem gewissen Grad dennoch auf diese angewiesen ist. So fehlten Wikileaks die personellen Ressourcen, um die Zehntausende von Dokumenten des US-Militärs in Afghanistan selbst auswerten zu können. Dies erfolgte deshalb in enger Zusammenarbeit mit dem Spiegel, der New York Times und dem Guardian, die im Gegenzug dafür Zugriff auf das Material erhielten, bevor es für die gesamte Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde. Die dezentralisierten Onlinemedien und Diskurse bilden somit eher ein Gegengewicht zu den klassischen Medien sind jedoch bis zu einem gewissen Grad weiterhin von diesen abhängig.

Zudem sei erwähnt, dass auch die stark dezentralisierten Kommunikationsstrukturen in der Lage sind, neue Öffentlichkeiten zu erzeugen, die sogar massenmediale Relevanz erreichen, wenn es darum geht, gemeinsame Interessen zu vertreten. Als Beispiel sei hier der vor allem im Internet organisierte Kampf gegen die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung genannt. Während das Thema in den klassischen Massenmedien zunächst wenig Beachtung fand, organisierte sich im Internet ein die verschiedensten politischen Lager übergreifender zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen die weitreichenden Überwachungspläne der europäischen Regierungen. 34.939 Bürger beteiligten sich an einer Massenklage vor dem Bundesverfassungsgericht was dann auch entsprechend in den Massenmedien einige Beachtung fand. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema war mit ein Hauptgrund, warum die Piratenpartei 2009 den Einzug ins Europaparlament schaffte. Bei anderen Themen kann es jedoch tatsächlich zu starken Fragmentierungen kommen, sodass es nicht mehr möglich ist, ein aktuelles Meinungsbild aus dem Diskurs zu filtern, welches dann für politische Entscheidungen nutzbar wäre. Um die im Internet stattfindenden Diskurse und die daraus entstehende öffentliche Meinung für den politischen Prozess

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nutzbar zu machen, ist es notwendig, diese wieder zusammenzutragen oder in irgendeiner Form repräsentativ messbar zu machen.

Habermas folgert hieraus:

“Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen. Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren“ (Habermas, 2008: 161f).

Hier bedarf es neuer Technologien um, die verschiedenen Meinungen und Diskurse sichtbar und somit für den politischen Prozess verwendbar zu machen. Die Ergebnisse der verstreut über das Internet stattfindenden Diskurse müssen an einem zentralen Ort zusammengeführt, die verschiedenen Meinungen ausgezählt werden, um etwaige Mehrheitsverhältnisse und Strömungen erkennen zu können. Im Internet bieten sich dafür technische Lösungen an um dem politisch Aktiven Internet die Möglichkeit zu geben sich gezielt einzubringen. Hierfür sind im Gegensatz zur zum klassischen Diskurs im Internet feste Strukturen und Rahmenbedingungen erforderlich, um eine zielgerichtete Kommunikation zu ermöglichen. Das klassische Beispiel dafür sind Abstimmungsplattformen, die durch den Diskurs in der Bevölkerung gewonnenen Meinungsbilder abbilden können. Diese Meinungsbilder stehen dann der Regierung und den Parteien zur Verfügung, um ihr Programm entsprechend anzupassen oder entsprechende Anliegen der Bevölkerung in den Gesetzgebungsprozess aufzunehmen.

4. Bestehende Partizipationsmöglichkeiten:

Tatsächlich wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von digitalen Partizipationsmöglichkeiten geschaffen und ausgebaut, allerdings haben diese noch keinen verbindlichen Charakter und erfüllen einige Voraussetzungen für eine echte Demokratie nicht. Als Beispiel sei hier das e-Petitionssystem des deutschen Bundestages genannt. Hier kann jeder Bürger im Internet Petitionen einreichen und zeichnen. Es ist jedoch nur eine digitale Umsetzung des schon zuvor vorhandenen Petitionsrechts. Allerdings besteht hier die Schwachstelle, dass die Wahlberechtigung eines Teilnehmers nicht überprüft wird. Theoretisch wäre es möglich, mit verschiedenen Mailadressen eine Petition unter falschem Namen mehrmals zu zeichnen. Des weiteren besteht kein direkter Einfluss auf die Politik, denn bei Petitionen, die das Mindestquorum von 50.000 Zeichnern erreichen, werden die Petenten lediglich zu einer öffentlichen Anhörung des Petitionsausschusses geladen. Hier werden dann in der Regel die Regierung sowie die im Parlament vertretenen Parteien Stellung zu dem vorgetragenen Thema nehmen. Darüber hinaus bleibt es allein der Regierung . dem Bundestag überlassen ob einer erfolgreichen Petition politische Konsequenzen folgen oder nicht, da der Petitionsausschuss lediglich empfehlenden Charakter hat.In diesem Sinne handelt es sich also nur im Ansatz um ein System, das Partizipation ermöglichen kann, viel eher ist es dazu geeignet, der Regierung das aktuelle Meinungsbild der Bevölkerung vor Augen zu halten. Tatsächlich wird das System im Internet von sehr vielen Menschen aktiv genutzt, als Beispiel sei hier die mit 52973 Mitzeichnern erfolgreiche Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen genannt. Auch als Protestplattform wird das e-Petitionsportal des Bundestages genutzt. So fand die Petition gegen die äußerst umstrittenen Pläne der Rot-Schwarzen Koalition zur Sperrung von kinderpornographischen Websites über 134015 Mitzeichner. Die Kritiker des Gesetzesvorhabens, die glaubhaft darlegen konnten, dass sich solche Sperren leicht umgehen lassen und somit nutzlos sind, setzten sich dafür ein, dass entsprechendes Material besser gelöscht und illegale Server beschlagnahmt werden sollten um zu gewährleisten das entsprechend

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menschenverachtendes Material nicht mehr zugänglich ist. Da das Sperren der Inhalte dem Staat keine Kosten verursacht, das dauerhafte Löschen und dingfest machen der Täter jedoch eine Aufstockung der ohnehin personell völlig überlasteten Internetermittler nötig machen würde, setzte sich schnell die Überzeugung durch, dass es sich bei der Gesetzesinitiative nur um Scheinaktionsmus handelt. Zudem befürchteten viele der Kritiker, dass, sobald erst einmal die technische Sperrinfrastruktur verfügbar ist, auch andere z.B. politische Inhalte gesperrt werden könnten.Die große Anzahl der Petitionsunterzeichner erregte schließlich auch die Aufmerksamkeit der Medien, die daraufhin anfingen, teilweise sehr kritisch über das Regierungsvorhaben zu berichteten und so einen Umschwung in der öffentlichen Meinung herbeiführten. Nicht wenige Journalisten fürchteten Nachteile für die Pressefreiheit ob des Risikos, dass die Sperrinfrastruktur in Zukunft auch gegen andere nach deutschem Recht illegale Inhalte eingesetzt werden könnte.Aufgrund des massiven Protestes von Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft wird das Gesetz, obwohl verabschiedet, bis heute nicht angewandt. Stattdessen erteilte die Regierung dem Bundeskriminalamt die Anweisung, entsprechende Seiten löschen zu lassen und diesbezüglich die Zusammenarbeit mit ausländischen Polizeibehörden zu verbessern.Das e-Petitionsportal bietet also keine verbindlichen Partizipationsmöglichkeiten, indirekt ist es aber dennoch ein Werkzeug, durch das die Zivilgesellschaft aktiv Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und somit auch die Politik ausüben kann.Andere Partizipationsprojekte spielten sich bisher eher auf regionaler Ebene ab. Als Beispiel sei hier das Projekt “Solingen spart“ genannt. Die Stadt Solingen, die kurz vor der Pleite stand, war gezwungen, radikale Einsparungen umzusetzen. Hierzu wurde eine Online-Plattform gestartet, die es den Bürgern ermöglichte, direkt an der Ausarbeitung der Sparpläne zu partizipieren und eigene Vorschläge einzubringen. Insgesamt wurde so ein Sparvolumen von 31 Millionen Euro von den Bürgern bewilligt. Trotz der harten Einschnitte kam es kaum zu öffentlichen Protesten. Die weitreichenden Partizipationsmöglichkeiten haben anscheinend die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung für die notwendigen Einsparungen maßgeblich erhöht. Ein anderes Beispiel ist die Stadt Hamburg. Dort löste eine Internet basierte Bürgerberatung den Streit um eine seit dem Ende des 2 Weltkrieges brachliegende Fläche. Anstatt für den Bau teurer Prestigeprojekte, die bereits in der Vergangenheit nicht realisiert werden konnten, entschieden sich die Bürger für die Einrichtung einer Grünanlage. Allerdings waren solche partizipativen Projekte bisher Einzelmaßnahmen, die keinem größeren Ziel oder Plan folgten und bisher auch noch keine breite Nachahmung fanden. Um die digitalen Partizipationsmöglichkeiten sowohl auf kommunaler als auch auf gesamtstaatlicher Ebene auszubauen, bedarf es Konkreter Reformen und einheitlicher Richtlinien, die im Moment wohl nur von der Regierungen erlassen werden könnten.

5. Die Sozialen und Politischen Voraussetzungen

Für die Mittelfristige Zukunft ist nicht damit zu rechnen, dass die Europäischen Regierungen von sich aus gewillt sein werden, mehr digitale Partizipationsmöglichkeiten auf gesamtstaatlicher Ebene zu schaffen als derzeit vorhanden sind. Schließlich ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Regierung beziehungsweise die führenden Parteien Willens sind, einen Teil ihrer Macht abzugeben, indem sie den Bürgern weitreichende Mitbestimmungsmöglichkeiten über das Internet einräumen. Schließlich würde dies für die jeweils regierende Partei einen Nachteil im politischen Machtkampf bedeuten, da ein digitales Partizipationssystem oppositionellen Kräften immer eine starke Plattform bieten würde. Bisher wurden hauptsächlich die Partizipationsmöglichkeiten, die vor dem Digitalen Zeitalter bereits bestanden, auch im Internet umgesetzt. Als Beispiel sei hier das bereits erwähnte e-Petitionssystem des Deutschen Bundestages genannt. Weitere konkrete Maßnahmen auf gesamtstaatlicher Ebene zur Förderung der Partizipation im Digitalen Raum sind derzeit von Seiten

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des Staates nicht geplant. Unter anderem auch deshalb nicht, weil die vorherrschenden Sozialen Verhältnisse dies nicht zulassen würden. So gibt es immer noch große Bevölkerungsgruppen, die das Internet gar nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzen. Ein Ausbau weitreichender Partizipationsstrukturen im Internet würde derzeit bedeuten, dass viele Menschen von diesen weitgehend ausgeschlossen würden, was freilich dem Prinzip einer für alle Bürger offenen Demokratie zuwiderlaufen würde. Eine deliberative Politik setzt voraus, dass alle Bürger den gleichen barrierefreien Zugang zu Partizipationsmöglichkeiten haben und niemand strukturell benachteiligt wird. Allerdings gilt zu beachten, dass es sich bei der Internetnutzung auch um ein Generationenproblem handelt. Laut der Aktuellen ZDF/ARD Onlinestudie 2010 sind 100% der 14-19 jährigen online von den unter 50 Jährigen sind es knapp 90% während es bei den über 70 Jährigen lediglich 13,9% sind. Hinzu kommt, dass für die aktive Bedienung von entsprechender Software, die Abstimmungen und Diskussionen im Internet ermöglichen, eine gewisse technische Kompetenz vorausgesetzt werden muss, die selbst viele Internetnutzer nicht besitzen.

Vor allem bei den älteren Generationen beschränkt sich die Internetnutzung oftmals auf das Lesen und Schreiben von E-Mails oder der Nutzung von Suchmaschinen während komplexere Dienste und Angebote meist gemieden werden. Diese vorhandene Alterskluft wird für die nächsten Jahrzehnte den Aufbau direktdemokratischer Strukturen im Netz unmöglich machen. Dieses Problem wird sich erst dann auflösen, wenn die mit dem Internet aufgewachsenen Generationen die ganz überwiegende Bevölkerungsmehrheit stellen werden. Auch in Zukunft, wenn die Generationenkluft keine Rolle mehr spielen wird, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass die vorhandenen politischen und bürokratischen Machtstrukturen von sich aus ein Interesse daran entwickeln werden, ihre Macht mit der breiten Bevölkerung zu teilen. Zumindest ist dies momentan nicht absehbar, da die Abstimmungsergebnisse der vorhandenen Partizipationsplattformen keinen bindenden Charakter haben. Die entsprechenden Plattformen werden also eher als ein Instrument der verbesserten Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern gesehen. Dies verbessert zwar die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, da es unwahrscheinlich ist, dass sich eine Behörde oder Regierung gegen die große Bevölkerungsmehrheit stellt, wenn keine guten Gründe dafür sprechen. Allerdings bliebe die Entscheidung, ob die Bevölkerung mit einbezogen wird oder nicht dann immer noch den momentanen Interessen von Behörden und Regierungen unterworfen. Die repräsentative parlamentarische Demokratie muss jedoch bis zu einem gewissen Grad die Interessen der Bevölkerung widerspiegeln und umsetzen, um ihre Legitimation zu bewahren. Sollten also große Teile der Bevölkerung nach mehr Partizipation verlangen, dann kann sich das politische System dieser Forderung nicht vollständig entziehen. Erst wenn das Thema eine solche Relevanz in der Öffentlichkeit erreicht hat, wird man Reformen hin zu einer deliberativen Internetpolitik erwarten können. Freilich kann eine Basisbewegung, welche speziell im digitalen Raum für mehr Partizipation eintritt, nur demselben entstammen.

6. Liquid Democracy und die Piratenpartei

In den letzten Monaten hat die Piratenpartei mit ihren Plänen zur Umsetzung einer partizipativen Demokratie über das Internet mittels des theoretischen Modells “Liquid Democracy“ einige Aufmerksamkeit erregt. Zum einen handelt es sich dabei um ein neues demokratietheoretisches Modell zum anderen aber auch um einen Kompromiss. Die Piratenpartei, welche aus dem Umfeld der Hackerkultur und freien Softwarebewegung entstand, nutzte von Anfang an die traditionellen Kommunikationsmedien, hat dabei aber mit einer starken Fragmentierung der Diskurse zu kämpfen. Mittlerweile steht eine Vielzahl an parteiinternen Kommunikationsmedien zur Verfügung: Mailinglisten, Forum, Wiki, ICQ

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(Chat), mumble (Telefonkonferenzen), Piratenpad (Gemeinschaftliches ausarbeiten von Texten). Diese Werkzeuge sind zwar hervorragend dazu geeignet, einen Diskurs zu führen. Zur Entscheidungsfindung sind sie jedoch aufgrund ihrer Dezentralität sowie der fehlenden Möglichkeit, repräsentative Abstimmungen zu durchzuführen, ungeeignet. Als Lösungsmodell für diese Problematik wird derzeit “Liquid Feedback“ getestet, eine Software, welche die Diskurse so bündeln und zur Abstimmung stellen soll, dass ein detailliertes Meinungsbild erkennbar wird, welches sich als Grundlage für Beschlüsse des Bundesvorstands sowie der Bundesparteitage nutzen lässt.Unter Liquid Democracy wird eine Mischform zwischen direkter und parlamentarischer Demokratie verstanden. Im Gegensatz zur klassischen repräsentativen Demokratie können sich einzelne Teilnehmer entscheiden, ob sie selbst an den Abstimmungen teilnehmen wollen oder ob sie ihre Stimmen an einen anderen Teilnehmer oder stimmberechtigte Organisation delegieren, die dann für sie abstimmen und ihren Willen repräsentieren. Wichtig dabei ist, dass jeder Teilnehmer seinem Delegaten jederzeit die delegierte Stimme entziehen kann. In diesem Punkt unterscheidet sich das System weitgehend vom klassischen Parlamentarismus, in dem sich die Einflussnahme des Bürgers hauptsächlich durch die Wahl einer Partei mit einem festen Wahlprogramm alle vier Jahre beschränkt. Des weiteren ist es jederzeit möglich, eigene Anträge in das System einzustellen, um neuen Diskussionsstoff zu liefern oder darüber abstimmen zu lassen. Zu jedem konkreten Thema bilden sich so Gruppen von Unterstützern, die untereinander diskutieren oder Verbesserungsvorschläge ausarbeiten und zur Wahl stellen können. Weiter gilt es natürlich, weitere Menschen dafür zu werben, eine Initiative zu unterstützen. Ein weiteres Merkmal von Liquid Democracy ist, dass die Teilnehmer ihre Stimmen nicht nur an eine Person/Organisation mit Vollprogramm delegieren können, sondern die Möglichkeit besteht, für einzelne Themenfelder unterschiedliche Delegaten auszuwählen oder selbst abzustimmen. So wird es möglich, dass die Teilnehmer zum Beispiel im Bereich Sozialpolitik an andere Delegaten delegieren können als im Bereich Wirtschaftspolitik. Für das Individuum ist es also nicht mehr notwendig, sich einem festen Parteiprogramm anzuschließen, obwohl dieses in Teilen nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Liquid Democracy steht allen Bürgern offen, ohne an spezielle Bedingungen geknüpft zu sein. Hierdurch wird die sich durch den öffentlichen Diskurs ständig verändernde Öffentlichkeit viel schneller im politischen Prozess abgebildet, als dies im klassischen Parlamentarismus mit langen Legislaturperioden der Fall ist. Die Wahlfreiheit des einzelnen Individuums nimmt im Gegensatz zu klassischen Demokratieformen stark zu, was jedoch auch ein erhöhtes Maß an Verantwortung erfordert. Es ist schließlich nicht damit zu rechnen, dass alle Teilnehmer auf allen Gebieten ausreichend Fachwissen besitzen, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Genauso wenig kann man davon ausgehen, dass der durchschnittliche Bürger genügend Freizeit besitzt, um sich in diese Themen einzuarbeiten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass sich die Menschen hauptsächlich an den Abstimmungen beteiligen werden, die in ihrer alltäglichen Lebenswelt eine wichtige Rolle spielen. In Anbetracht der Tatsache, dass jeder Bürger in der Lage ist, eigene Anträge in das System einzustellen, ist damit zu rechnen, dass die Gesamtheit der Anträge sehr hoch sein wird. Die Piratenpartei hat am 13.08.2010 mit “Liquid Feedback“ ein online basiertes Softwaresystem gestartet, um "Liquid Democracy" unter Praxisbedingungen zu testen. Im Moment ersetzen die Abstimmungsergebnisse noch nicht den Beschluss eines Bundesparteitages, dienen aber als Diskussionsplattform, um ein parteiinternes Meinungsbild zu gewinnen, welches dann die Grundlage für die Entscheidungen des Vorstands oder der Bundesparteitage bildet. Obwohl momentan nur rund 2800 aktive Mitglieder in diesem System angemeldet sind, wurden bereits über 800 Anträge gestartet. Sollte das System in einem größeren Maßstab

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mit Hunderttausenden oder gar Millionen von Nutzern eingesetzt werden, dann wäre die Anzahl der laufenden Anträge entsprechend hoch. Liquid Democracy setzt also voraus, dass die Teilnehmer über die entsprechenden Suchfunktionen diejenigen Themen suchen und mit ihrer Stimme unterstützen, die sie als besonders wichtig erachten bzw. in der Öffentlichen Diskussion eine besondere Relevanz besitzen. Dies steht jedoch nicht im Gegensatz zu anderen partizipativen Internetprojekten, zum Beispiel der Wikipedia. Die Menschen, die dort partizipieren, tun dies in der Regel nur bei Artikeln, die sie besonders interessieren bzw. bei Themen, über welche sie ein entsprechendes Fachwissen verfügen. Niemand würde auf die Idee kommen, die mittlerweile Millionen von Wikipediaartikel von vorne bis hinten durchzulesen. Stattdessen wird Information und Wissen den eigenen Interessen entsprechend nach Bedarf gezielt gesucht und “on demand“ Abgerufen. Auf den politischen Prozess übertragen bedeutet dies, dass gezielt nach Initiativen und Diskussionen gesucht wird, die den eigenen Interessen am nächsten stehen, um diese dann zu unterstützen. Zum Beispiel würde so ein Arbeitnehmer gezielt nach einer Initiative zugunsten eines Mindestlohnes suchen, während ein Arbeitgeber seine Stimme wohl gezielt der Gegeninitiative gibt, die sich gegen die Einführung eines Mindestlohnes ausspricht. Zur Betrachtung des endgültigen Meinungsbildes müssen dann nur noch die Stimmzahlen der beiden Initiativen verglichen werden. Somit ist Liquid Democracy eine Politikform, die entweder ein sehr aktives Individuum voraussetzt, das die Interessen getreu den eigenen Bedürfnissen selbst vertritt, oder Individuen, die sich Aufgrund von Zeitmangel bzw. mangelndem Fachwissen lieber von anderen vertreten lassen. Sowohl das eigenständige Vertreten der eigenen Interessen als auch das Suchen nach einem geeigneten Delegaten sind um einiges zeitintensiver als die klassische Teilnahme an einer Parlamentswahl oder Volksabstimmung. Es besteht also das Risiko, dass viele Menschen nicht bereit sind, den Aufwand auf sich zu nehmen, so dass die letztendliche Entscheidungsfindung einer Gruppe von engagierten Aktivisten und professionellen Delegaten überlassen wird, was wiederum einer breiten deliberativen Politik, in der ein Großteil der Bevölkerung aktiv partizipiert, entgegenwirken wird. Da an einen Großeinsatz von Liquid Feedback bzw. Liquid Democracy erst in längerfristiger Zukunft aufgrund der eingangs beschriebenen noch nicht 100% gegeben aktiven Internetnutzung seitens der Bevölkerung zu denken ist, bleibt ohnehin erst einmal abzuwarten, inwiefern die Weiterentwicklung des Internets in der Zukunft die Bevölkerung zur Partizipation zu motivieren vermag. Ausgehend vom heutigen Desinteresse der breiten Bevölkerung kann man dies jedoch durchaus pessimistisch sehen. Innerhalb von aktiven Bewegungen wie zum Beispiel der Piratenpartei oder diversen NGO's, die über viele hochgradig aktive und motivierte Mitglieder verfügen, kann solch ein Konzept eine geeignete Möglichkeit darstellen, die Partizipationsmöglichkeiten und Organisationsstruktur offener zu gestalten und zu verbessern. Auf diese weise können wertvolle Erfahrungen gesammelt werden, um die Umsetzung des digitalen Politikprozesses zu verbessern und so in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für solch ein Demokratiemodell zu gewinnen.

7. Technische Gewährleistung der LegitimitätDie Technische Umsetzung einer Software basierten Demokratie ist höchst anspruchsvoll. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Art Wahlcomputer mit all seinen Risiken und Nachteilen. Wahlcomputer sind schon seit Jahren in der Kritik, da mögliche Wahlmanipulationen kaum nachzuvollziehen sind und da keine Wahlzettel existieren, die sich im Zweifelsfall erneut auszählen ließen. Um dieses Problem zu lösen, bleibt fast nur die Möglichkeit, die geheime Wahl aufzuheben, also allen Wahlteilnehmern ein Pseudonym zuzuweisen, dessen Abstimmungsverhalten dann protokolliert wird, um die

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Wahl somit fälschungssicher und Nachvollziehbar zu machen. Dies würde freilich gegen wichtige demokratische Grundprinzipien verstoßen, was wiederum einer Einführung als System verbindlicher Entscheidungen entgegenstehen würde. Die Piratenpartei hat sich hier für die pseudonymisierte Variante entschieden, was auch parteiintern auf heftige Kritik stieß. So dass der Einsatz von Liquid Feedback lediglich zur Kanalisierung der Diskurse eingesetzt werden kann, nicht jedoch für verbindliche Wahlen, die weiterhin auf den Parteitagen stattfinden.

7.1. Demokratische Gewährleistung der LegitimitätDas System von Liquid Democracy ist insgesamt sehr komplex, Abstimmungen finden tausendfach zu allen Anträgen statt, der Diskurs zu den einzelnen Anträgen repräsentiert jedoch nicht zwangsläufig die gesamte Bevölkerung, sondern unter Umständen hauptsächlich die in ihm vertretenen Aktivisten, Delegaten und Experten, die den Diskurs sowie das letztendliche Abstimmungsergebnis zu einem Thema beeinflussen. Schließlich kostet die Teilnahme in einem solch komplexen System sehr viel Zeit, je mehr Zeit ein Individuum investieren kann desto größer der Einfluss im Diskurs und auf das Endergebnis der Abstimmung. Um zu den wichtigen Themen eine fundierte Meinung vertreten zu können, ist zudem Zeit erforderlich, um entsprechendes Fachwissen zu erlangen. Ohne dieses Fachwissen wird es einem potentiellen Delegaten kaum gelingen, Delegationen anderer Nutzer einzusammeln. Es besteht also das Risiko, das ähnlich wie in der jetzigen parlamentarischen Demokratie viele Entscheidungen von einer, gemessen an der Gesamtbevölkerung, relativ kleinen Gruppe ausgearbeitet werden. Es sei denn das Thema gewinnt durch Intervention der Massenmedien oder innerhalb des digitalen Diskurses eine solche Wichtigkeit, dass sich ein repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung dafür interessiert und aktiv beteiligt. Viele Themen werden so zwangsläufig von einer gemessen an der Gesamtbevölkerung relativ kleinen Zahl an aktiven Teilnehmern ausgearbeitet. Es droht also die Gefahr das sich auf diese Weise abseits der großen Diskurse technokratische Entscheidungsstrukturen entstehen, die nicht mehr von der Mehrheit legitimiert sind. In der heutigen Situation werden die wichtigen Entscheidungen in den Ministerien oder den Fachausschüssen des Bundestages ebenfalls von Experten ausgehandelt und erst dann einem breiteren Publikum bzw. dem Parlament vorgestellt. Liquid Democracy ist hier zwar offen in dem Sinne, dass sich alle Bürger jederzeit beteiligen können, jedoch ist fraglich, ob sich bei speziellen Fachthemen ein repräsentativer Durchschnitt der gesamten Bevölkerung beteiligen wird. Unter diesen Umständen wäre es keinesfalls sinnvoll, ein System wie Liquid Democracy heranzuziehen, um verbindliche Entscheidungen zu treffen und so die Rolle einer Regierung oder des Parlaments zu ersetzen. Dies ist auch vielen Befürwortern dieses Demokratiemodells durchaus bewusst. In der Piratenpartei wird die Softwareumsetzung von Liquid Democracy lediglich eingesetzt, um die dezentral ablaufenden Diskurse an einem zentralen Ort zusammenlaufen zu lassen und somit ein aktuelles Meinungsbild der Parteibasis für alle wichtigen Themen zu erhalten. Die Wichtigkeit eines Themas für die Basis lässt sich an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen erkennen, so dass dieses dann auf einem Parteitag bevorzugt behandelt werden kann. Dieses Vorgehen ließe sich auch auf die parlamentarische Demokratie übertragen, durch ein System wie Liquid Feedback wäre es möglich, Initiativen und Interessen der Zivilbevölkerung zu bündeln, um auf Basis der individuellen Partizipation dem Parlament ein aktuelles Meinungsbild und Anregungen aus der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen, die dann in den Prozess der Gesetzgebung mit einfließen können. So ließe sich der Abstand zwischen der zentralen bürokratischen Macht des Staates und der zivilgesellschaftlichen Peripherie verringern. Alle Anträge, die ein

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festzusetzendes Mindestquorum erfüllen, müssten dann zumindest vom Parlament beraten werden, jedoch ohne bindende Vorgaben. Die Parteien bzw. Regierungen hätten zwar immer noch die Macht sich über die Interessen der Zivilbevölkerung hinwegzusetzen, müssten dies jedoch viel eher mit einem Verlust an Wählern bezahlen. Die Interessen einer Bevölkerung, die viel stärker in den öffentlichen Diskurs eingebunden ist, können von der Politik nicht mehr so leicht ignoriert werden. Die klassischen Machtstrukturen wären also dazu gezwungen, als Moderator zu fungieren und die durch die Zivilbevölkerung eingehenden Themen auf ihre Sinnhaftigkeit, Verfassungskonformität hin zu prüfen einen Konsens Auszuhandeln und diesen in den Prozess der Gesetzgebung zu integrieren.

8. Aufmerksamkeitsökonomie im Politischen Internet.Im Internet spielt die Abhängigkeit der Informationsanbieter von der Aufmerksamkeit der Informationskonsumenten eine wichtige Rolle. Ausgehend davon, dass dem einzelnen Internetnutzer nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht, die Menge der im Internet zur Verfügung stehenden Information aber sehr groß ist, kommt es zu einem zunehmenden Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer. In der Internet basierten Ökonomie entscheidet sich am Grad der Aufmerksamkeit ,ob eine Online-Dienstleistung erfolgreich ist oder nicht. Kann ein Internetmedium nicht genügend Nutzer anziehen so werden die Einnahmen durch Werbung und Verkäufe nicht ausreichen und es droht der Konkurs. Der Kampf um Aufmerksamkeit durchzieht das gesamte Internet, Firmen wie Google verdienen Milliarden indem sie durch bezahlte Werbung, die in der Websuche und Webseiten geschaltet wird, die Aufmerksamkeit der Nutzer auf die Angebote der Auftraggeber lenken. Die Aufmerksamkeit der Nutzer lässt sich so leicht in Kapital umwandeln, in den USA gibt es sogar bereits einige intellektuelle Blogger, die in diesem Zusammenhand von "Aufmerksamkeitskapital" als eigenständiger Kapitalform sprechen. Tatsächlich fällt auf, dass das Internet in seiner gesamten Struktur auf aufmerksamkeitsökonomische Gesichtspunkte ausgelegt ist. Die Verteilung der Aufmerksamkeit auf die Verschiedenen Seiten und Inhalte lässt sich sogar sichtbar machen. Denn es ist wahrscheinlich, dass ein sehr populärer Inhalt von den Bloggern oder auf sozialen Netzwerken wie Twitter oder facebook öfter verlinkt wird als ein unpopulärer. Man braucht also nur alle Links, die von den verschiedenen Orten des Internets auf eine Seite eingehen, zählen und deren Qualität mit speziellen Algorithmen analysieren. Auf diese Weise funktionieren auch Suchmaschinen wie Google, die Seiten mit der besten Verlinkung werden bei einer Websuche als erstes angezeigt. Die populärsten Inhalte werden somit bevorzugt behandelt. Auf Inhalte, die bei Google auf der ersten Seite zu finden sind, wird häufiger zugegriffen und diese werden folglich wiederum häufiger verlinkt. Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit reproduziert sich also, andrerseits lässt sich Aufmerksamkeit jedoch auch mit Werbung kaufen. Dies hat auch auf die politischen Machtverhältnisse im Internet durchaus einen Einfluss, denn so entsteht eine Form von Ungleichheit, die den klassischen Diskussionsforen zuvor in diesem Maße nicht zu beobachten war. Dies hat natürlich auch Einfluss auf den politischen Diskurs und Prozess im Internet.Im Liquidfeedback System der Piratenpartei sind schon nach wenigen Tagen mehr als 500 neue Anträge und Abstimmungsvorschläge eingegangen. Das ist bereits eine solche Menge, dass das System langsam anfängt, unübersichtlich zu werden. Zudem muss man beachten, dass die Piratenpartei gerademal 12.000 Mitglieder hat, würde Liquid Feedback für ein ganzes Land mit Millionen Einwohnern übertragen werden so würde die Anzahl der eingestellten Anträge innerhalb kurzer Zeit stark anwachsen. Eine solche Masse an Information kann ein einzelner Teilnehmer aufgrund von begrenzter Zeit und Motivation nicht mehr überblicken. Es entsteht genau, wie im Internet ein Informationsüberangebot das nach aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten

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sortiert wird. Es werden also die Anträge die meisten Stimmen akkumulieren, welche in der Öffentlichkeit die größte Aufmerksamkeit erlangen. Wer also einen Antrag stellt, muss diesen entsprechend publizieren, um nicht in der Masse unterzugehen. Am Erfolg oder Misserfolg eines Antrags wird die Aufmerksamkeitsökonomie eine große Rolle spielen. Dies lässt sich bereits auf der e-Petitionsseite des Deutschen Bundestages beobachten. Eingestellte Anträge, die kaum verlinkt oder öffentlichkeitswirksam vermarktet werden, erreichen in der Regel nur wenige hundert Mitzeichner und verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Ein berühmter Politblogger mit zehntausenden Lesern kann seinen Antrag folglich besser einem breiten Publikum vorstellen und leichter Stimmen gewinnen als ein anderer Bürger, der nicht über das gleiche Maß an Aufmerksamkeit verfügt. Gruppen mit Zugang zu den Massenmedien oder Kapital für entsprechende Werbekampagnen werden es leichter haben ihre Interessen in einem Liquidfeedback System zu vertreten Dieses Phänomen wird sich sobald das Liquid Democracy Modell eine sehr große Zahl an Teilnehmern hat auch einstellen, die Folge wäre das es nicht mehr ausreicht einfach nur einen inhaltlich guten Antrag einzustellen, sondern dieser müsste auch entsprechende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugen, um Unterstützer zu werben. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist also ein entscheidender Machtfaktor, der mit über den Erfolg oder den Misserfolg einer Initiative entscheiden kann. Somit wird Liquid Democracy anders als ursprünglich erhofft das Ziel eines herrschaftsfreien Politikprozesses nicht erfüllen können.Die Abhängigkeit vom Aufmerksamkeitskapital Eröffnet auch populistischen Strömungen die Möglichkeit auf den politischen Prozess Einfluss zu nehmen. In der Piratenpartei ist dies momentan kein Problem, da diese zu einem relativ großen Teil aus Menschen mit guter Bildung, Bürgerrechtlern und Anhängern einer freiheitlichen Gesellschaft besteht. Alle Versuche Politischer Manipulation durch Populisten und Meinungsmacher waren hier bisher erfolglos. Dies ist unter anderem auch der weitgehend herrschaftsfreien Diskurskultur in Foren und Mailinglisten zu verdanken, populistische Argumente werden hier schnell hinterfragt und widerlegt.Dies trifft jedoch nicht zwangsläufig auf die gesamte Gesellschaft mit Millionen von Mitbürgern zu die diese Medienformen nicht nutzen, hier haben die Medien mit der höchsten Aufmerksamkeit oder populistisch geführte Debatten einen viel größeren Einfluss auf die Meinungsbildung was sich zwangsläufig auch im Abstimmungsverhalten niederschlagen würde. Bei der Einführung eines solchen Demokratiemodells ist mit dem Risiko zu rechnen, das der Einfluss Populistischer Kräfte zunimmt. Um dies zu verhindern, müssen entsprechende Partizipationsmöglichkeiten einer zuverlässigen parlamentarischen Kontrolle und Moderation unterworfen werden, um verfassungsfeindlichen Strömungen keine Plattform zu bieten.

9. Schlussfolgerungen

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass das Internet in technischer als auch sozialer Hinsicht für deliberative Innovationen in Diskurs und Politik viele Möglichkeiten bereithält, die bestehenden institutionellen System der Politik aber nicht ersetzen sollte und kann. Das Internet bietet rein technisch ungeahnte partizipative Handlungsspielräume. Alle können sich beteiligen, wann, wo und wie lange sie wollen. Der Diskurs über spezialisierte Themen kann auf diese Weise erheblich stärker in die Tiefe gehen, als dies früher in der durch die Massenmedien kontrollierten Informationsverbreitung möglich war. Allerdings besteht auch die große Gefahr der thematischen Zerfaserung. Vor allem dieses Problem lässt es nahezu unmöglich erscheinen, dass deliberative Politik im Internet die bestehende institutionalisierten demokratischen Systeme in überschaubarer Zukunft

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ersetzten könnte – es kann sie jedoch beeinflussen und die Entscheidungsfindung erleichtern. Dass ein von vielen Teilnehmern zahlenmäßig und intellektuell breit unterfütterter politischer Diskurs die Aktoren der herkömmlichen Politik in ihren Haltungen zu Themen, die zur Entscheidung anstehen, beeinflusst, setzt die Bereitschaft des politischen Establishments voraus digitale Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Da die derzeitige Politik in der Demokratie maßgeblich von parteipolitischen Interessen geprägt ist, werden partizipatorische Modelle nur dann Erfolg haben, wenn sie entweder diesen Interessen nicht fundamental entgegenstehen oder wenn die Missachtung eines breit angelegten Diskurses diesen Interessen nachhaltig schadet.Insofern kann deliberative Politik mit den Instrumentarien des Internets die parlamentarische Demokratie vorerst nicht ersetzen, wohl aber deren Entscheidungsträger beeinflussen, wenn diese den Nutzen etwa eines mit vielen Teilnehmern diskursiv zustande gekommenen Gesetzesentwurfes erkennen. Wenn etwa ein Abgeordneter sagen kann, dass er sich den Argumentationsbündeln einer großen Diskurs-community anschließt, verliert er hierdurch seine Legitimation beim abschließenden Abstimmungsprozess im Parlament keineswegs, auch dann nicht, wenn er sich eher dem Druck einer großen Diskurs-Basis beugt, als von deren Argumenten überzeugt zu sein. Eine genügend große Basis kann den traditionellen politischen Diskurs also durchaus auf neue Wege leiten, wenn die Abgeordneten bei Nichtbeachtung des Zivilgesellschaftlichen Diskurses um ihre politische Zukunft als Abgeordnete fürchten müssen. Der Prozess der basisdemokratischen Teilnahme und Teilhabe an Politik wird diese deshalb langsam aber unausweichlich verändern. Und welche Konsequenzen sich daraus auf lange Sicht ergeben, lässt sich dabei heute noch nicht absehen.

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10 Quellenverzeichnis1.) Albrecht, Steffen (2010): Reflexionsspiele: Deliberative Demokratie und Wirklichkeit

politischer Diskurse im Internet. Bielefeld: transcript Verlag.2.) Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks: How Social Production Transforms

Markets and Freedom. New Haven and London: Yale University Press In: Benkler.org, http://www.benkler.org/Benkler_Wealth_Of_Networks.pdf (31.08.2010)

3.) Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

4.) Habermas, Jürgen (2008): Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

5.) Reichert, Daniel (2009): Liquid Democracy, Direkter Parlamentarismus – gemeinsam verbindlich entscheiden. In CCC-TV, http://media.ccc.de/browse/congress/2009/26c3-3464-de-liquid_democracy.html (31.08.2010)

6.) Pritlove, Tim / Behrens Jan (2010): LiquidFeedback, Das Werkzeug für direkte und interaktive Demokratie. In: Chaosradio Express, http://chaosradio.ccc.de/cre158.html (31.08.2010)

7.) ARD/ZDF Onlinestudie: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=2648:) Brecht, Berthold (1982): Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Bertolt Brecht:

Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18 Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag9: Blau, Wolfgang (2010): “Der ideologische Widerstand, eigene Rollenbilder zu

überdenken, ist groß.” In: http://www.cart.info, http://carta.info/16015/wolfgang-blau-zeit-online-journalismus-medienwandel/

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Autor: Max Kehm

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