Christa Wolf - Leibhaftig

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    Buch

    Wie ausweglos mu die Krise einer Gesellschaft sein, dasich ihr Niedergang so in das Individuum einschreibt.Gleichnishaft scheint der Krper sich gegen eine Vergiftungwehren zu mssen, deren Ursprung von den rzten lange Zeitvergeblich gesucht wird. Die schwachen Abwehrkrfte derPatientin unterlaufen alle ihre Manahmen. Mit der Psycheverbndet, streikt das Immunsystem, und die Ursachen dafr

    liegen nicht allein im Krper, der nach allen Regeln derrztlichen Kunst behandelt wird. Die Patientin entgleitet denrzten, wird bedrngt von Szenen aus ihrem frheren Leben,sprt den Wegen nach, die ihre Gefhrten von damals gegangensind. Immer wieder schieben sich Fieberphantasie n dazwischen.Abgrnde ffnen sich, unterirdische labyrinthische Gnge, indenen die Geschichte rumort, die sie leibhaftig erfahren hat.Wilde phantastische Trume treiben sie durch diese unerledigte

    Vergangenheit und durch ihre gequlte halbe Stadt Berlin. Undimmer wieder taucht ein Weggefhrte auf, der spter zumGegner wurde und dessen Leben tragisch endet. Vieles trgtdazu bei, da die Kranke in all ihrer Schwche schlielich denEntschlu fassen kann zu leben nicht zuletzt dieunverbrchliche Anwesenheit des vertrauten Du.

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    Autor

    Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg an der Warthe gebotenund lebt heute mit ihrem Mann Gerhard Wolf in Berlin. Siezhlt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart;ihr umfangreiches erzhlerisches und essayistisches Werk wurdein alle Weltsprachen bersetzt und mit zahlreichen nationalenund internationalen Preisen ausgezeichnet.

    Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht.Diese Erfahrung bringt Christa Wolf zu bezwingend dichter,

    bedrngender Sprache in ihrem Bericht einer Hadesfahrt in dasInnere eines todkranken Krpers.

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    Verletzt.

    Etwas klagt, wortlos. Ein Ansturm von Worten gegen dieStummheit, die sich beharrlich ausbreitet, zugleich mit der

    Bewutlosigkeit. Dieses Auf- und Abtauchen des Bewutseinsin einer sagenhaften Urflut. Inselhaft das Gedchtnis. Wohin essie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht, das soll einer ihrerletzten klaren Gedanken sein. Es klagt. In ihr, um sie. Niemandda, der die Klage annehmen knnte. Nur die Flut und der Geistber den Wassern. Seltsame Vorstellung. Sie flstert, ausaltgebter Hflichkeit, mit ihrer dicken lahmen Zunge: DaKrankenwagen so schlecht gefedert sind. Ein Satz, den der Arzt,der auf dem Notsitz neben ihrer Trage hockt, mit Eifer,merkwrdig entzckt, aufgreift. Eine Schande das, beteuert ermehrmals, eine wahre Schande, alle Proteste dagegen seienerfolglos geblieben. Nun ermahnt er sie, den linken Armstillzuhalten. Aus dem ovalen durchsichtigen Behltnis, das berihr im Rhythmus des Krankenwagens schttert, wird Tropfenum Tropfen ber Schluche in ihre Armvene geleitet. Elixier.

    Lebenselixier. Mit der Rechten mu sie sich an den Bgelklammern, der von der Wagendecke herunterhngt, damit sienicht von der harten Pritsche geschttelt wird. DerWundschmerz nimmt zu, das sei unter diesen Umstnden keinWunder, sagt der Arzt grimmig. Eine lange Fahrt. Steigen undSinken. Absinken. Da immer dann das Klagen lauter wird.Abfahrt. Eine neue, hohe Welle der gleichen Flut, die nimmtmich mit. Untertauchen. Untergetauchtwerden. Dunkel. Stille.

    Diese Stimme. Lstig. Zwei Silben, beharrlich wiederholt, dieihr allmhlich bekannt vorkommen. Ein Name. Ihr Name.Warum redet der mich mit meinem Vornamen an. Ein jungesMnnergesicht, von einem schmalen Bartstreifen umrahmt.Dicht ber ihr. Zu dicht ber ihr. Er ruft immer wieder fordernddiesen Namen, zu laut. Es strt sie. Was will er denn. Sie sollantworten, aber das kann sie nicht. Mhsam kann sie nicken.

    Endlich lt er von ihr ab. Sie hat verstanden. Nichts rttelt

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    mehr. Mit den Fingerspitzen tastet sie den Untergrund ab:weich. ber ihr zwei Tropfbehlter. Eine wei getnchte Decke.Ein Raum, ein weier Raum. Eine Art Warteraum, empfindet

    sie, unruhig, zugig. Sie schliet die Augen und fllt in ihrengrauschwarzen Innenraum, schwebt ber dem stillen Wasser.Des Menschen Leben gleicht dem Wasser. Hallo. Bleiben Siewach. Lstig. Sie sinkt. Ein Klopfen von innen her schreckt sieauf, sie erkennt es nicht gleich. So schlgt das Herz. Im Galopp.Jemand ruft, schon wieder. Alle Kraft versammeln, um dieAugen zu ffnen. Das Gesicht eines ganz jungen Mdchens, einrosa Kittel. Sie formt, unhrbar wohl, ein paar Wrter, das Wort

    Herz kommt vor, das Mdchen versteht nicht. Qulendlangsam fat es nach ihrem Puls. Herr Doktor, Herzrasen.

    Neben dem Gesicht des viel zu jungen Arztes auf einmal deinGesicht. Was willst du, wo kommst du her. Ihr ist, als sollte sieetwas fhlen. Sagst du etwas? Ich sinke. Das Herz rast. Ich hreWrter. Pulsfrequenz. Paroxysmal. Sie streifen den uerstenRand ihres Bewutseins. Ich sinke vorbei an dem todesnahen

    Gesicht meiner Mutter. Ich stehe am Fenster ihresKrankenzimmers und sehe mich mit ihren Augen, als schwarzenUmri gegen das Sommerlicht. Ich hre mich sagen: Sie sind inPrag einmarschiert. Und hre meine Mutter flstern: Es gibtSchlimmeres. Sie wendet den Kopf zur Wand. Es gibtSchlimmeres. Sie stirbt. Ich denke an Prag.

    Da es so viele Innenrume gibt. Jetzt gleitet sie in einenhinein, in dem es bse zugeht. Hier herrscht Hllenlrm, ein

    Schandlrm, von fernher sprt sie einen Impuls, sich zubeschweren, aber dem Impuls fehlt der Zorn, der ihn aufladenmte. Statt dessen will jemand von ihr wissen, was er ihrspritzen soll. Das Medikament, schreit er. Erinnern Sie sich. Sie wird hochgeschleudert, ffnet die Augen. Zuviel Licht. DerMund des Arztes formt einen Namen, der ihr nicht bekanntvorkommt, sie bewegt verneinend den Kopf. Versuchen wir esdamit, hrt sie. Sicher scheint er sich nicht zu sein. Was

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    machst du denn, sagt deine Stimme. Wie meinst du das. Sielauscht der Frage nach. Regen Sie sich nicht auf. Wir kriegendas schon in den Griff.

    Ich reg mich doch gar nicht auf. Sie htte gar nicht die Kraft,sich aufzuregen. Es ist sehr unangenehm, hat ihr mal jemandgesagt, aber man stirbt nicht daran. Das war beim erstenmal, eswar die Betriebsrztin in der Poliklinik des Filmstudios, duwarst nicht dabei, unser Film sollte vorgefhrt undabgenommen werden, das waren verrterische Worte, fand ich,aber Lothar beruhigte mich, wir saen vor dem Studio auf einerBank unter einer Birke, alles werde gutgehen, beteuerte Lothar,

    jetzt sei genau die Zeit fr Filme wie diesen, das Publikum seireif dafr, und hheren Orts habe augenblicklich niemand einInteresse an Konflikten mit den Knstlern. Da entgleiste meinHerzschlag. Ob ich denn wirklich glaube, hrte ich Lotharsagen, er wrde zulassen, da sie uns in der Luft zerrissen, dabeilachte er, und ich sagte: Ich kann nicht mit in die Vorfhrunggehen. Sein Lachen brach ab. Er nahm es als Feigheit, als

    Mangel an Vertrauen in seine Standfestigkeit, er war verletzt,diesen Gesichtsausdruck kannte ich an ihm. Fhl mal meinenPuls, sagte ich, er tat es, widerwillig. Er erschrak und fhrtemich nun selber in die Baracke der Poliklinik, frsorglich, wieer in solchen Momenten sein konnte. Zwei Empfindungenstritten in mir, das wei ich noch, am besten behalte ichwidersprchliche Empfindungen im Gedchtnis: Es war mir garnicht recht, da ich hier vor aller Augen zusammenklappte und

    so meinen inneren Zustand verriet: Angst, mir selber wurde esjetzt erst klar. Dann war es mir aber auch wieder sehr recht, daich nun nicht in die Vorfhrung gehen konnte, selbstverstndlichnicht, das wiederholte Lothar mehrmals. Wir schaffen das schonalleine, das wre ja noch schner. Tief in mir kicherte jemandmit mir ber mich.

    Der Arzt lt nicht nach, in sie zu dringen. Die Spritze hat

    nicht gewirkt, das war zu erwarten. Sie soll sich anstrengen,

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    damit ihr das richtige Mittel einfllt. Du hast ihnen also gesagt,da es hufiger solche Anflle und da es ein Mittel dagegengibt, welches du nicht kennst, weil du dir die Namen von

    Medikamenten grundstzlich nicht merken kannst. Denk dochnach, hre ich dich. Als ob du mir bse bist, da ich sovergelich bin. Es mu ihr einfallen.

    Fr diesen Notfall knnte ihr Gehirn den Generalstreikaussetzen. Sie stellt sich die Schachtel vor, in der dasMedikament steckt. Sie ist blagrn, die Schrift darauf ist wei.Jetzt kann sie den Namen ablesen. Flsternd gibt sie ihn an den

    jungen Arzt weiter, der Notdienst hat, Notfalldienst, lautwiederholt er den Namen, fragend, sie senkt und ffnet bejahenddie Lider. Der Arzt hat sich auf ihr Verstndigungssystemeingestellt, er sche int jetzt mit ihr zufrieden zu sein, sie hrt ihnder Schwester eine Weisung geben. Haben wir es da? Wirhaben. Dann ist es ja gut.

    Damals war ich auch elend, ein bichen elend, mit heute nichtzu vergleichen, aber ich mute nichts bertreiben, nichts

    simulieren, ich brauchte Lothars Arm, ich konnte nicht schnellergehen, ich hatte Mhe zu atmen, dabei fiel mir auf, da seineHilfeleistung mehr dienstlicher, weniger persnlicher Natur war,obwohl er mit betonter Ritterlichkeit die Situation berbrckte,die uns beiden peinlich war. Da er genau das dienstlich

    besorgte, eine Spur wichtigtuerische Gesicht machte, das manbei solchen, glcklicherweise sehr seltenen Gelegenheiten vonihm erwarten konnte. Da er in der Poliklinik dann genau jenezurckhaltende, doch unverkennbare Autoritt hervorkehrte, mitgenau jenen winzigen Einschben von Schrfe, die zuerst dieSchwester am Empfangsschalter, dann die rztin in Bewegung

    brachte. Habe ich dir je davon erzhlt? Eigenartig, mir fiel dasalles auf und ich fragte mich, als ich mich auf die harte Pritschelegte, wann und wo Lothar das alles gelernt haben mochte. Alswir zusammen studierten, hatte er es noch nicht gekonnt. Ich

    gab mir Mhe, meine Schwche zu berspielen, setzte sogar ein

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    falsches Grinsen auf, obwohl ich ein wenig unruhig wurde, einbichen nur, eine immer noch bekmmliche Unruhe, die sichallerdings in den nchsten zwei Stunden etwas steigern sollte,

    das habe ich dir nie erzhlt, aber den Namen Todesangstverdiente sie noch lange nicht, den die rztin ihr, in Frageformzwar, nahelegte: Keine Todesangst? Nein? Nein. Todesangstgehrte wohl obligatorisch zu den Symptomen von Tachykardie,ach so, das Wort kennen Sie gar nicht?

    Jetzt kennt sie es, braucht es aber nicht, und Todesangst hatsie immer noch nicht, vermutlich war sie dazu zu schwach. Daauch diese Spritze keine Wirkung zeigt, beunruhigt sie nichtwirklich, sie ist ja ein Profi fr diese Art Anflle, ein Arzt hat esihr neulich besttigt. Dieser erste Anfall kam unvorbereitet bermich, unerwartet, unschuldig, falls dieses Wort hier passensollte, also auch unverflscht, und ich hatte damals keineAhnung, was es bedeutete, wenn er sich hartnckig ber eine,dann ber noch eine Stunde hinzog, bis die rztin zur Apothekenach dem strkeren Mittel schickte, das sie nicht vorrtig hatte.

    Lothar sah herein, er war der einzige, der hereinsehen durfte, esstand ihm dienstrangmig zu, er verkndete, es werde allesgetan. Als htte sie daran den geringsten Zweifel haben knnen.Sie lernte den hellen aseptischen Raum gut kennen, in dem sielag, die Reihe von Glasschrnken mit Instrumenten undMedikamentenschachteln an den Wnden, das groe Fenster,das ins Grne ging. Birkenwipfel im Wind, das tat ihr wohl, dasWort hat jetzt jeden Sinn fr mich verloren, Wohlsein, ich kann

    es mir nicht einmal vorstellen, warum siehst du mich so an.Lothar bot der rztin streng, zugleich vertraulich seine

    Dienste an. Ob er ein Auto schicken, ein wirksameres Mittelbesorgen solle, vielleicht eines, das es bei uns nicht gab? EinenFacharzt herbeizitieren? Es drfe nichts versumt werden. SeinGehabe war mir peinlich vor der rztin, der es auch peinlich zusein schien und die einsilbig antwortete, eine Aura von

    Unechtheit umgab ihn, wie lange schon? Falschheit, ein hartes

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    Wort, du hast es einmal gebraucht, nicht auf Lothar, auf Urbangemnzt, viel spter, glaube ich. Wie komme ich auf Urban.Scharfugig warst du, was ihn betraf. Zu scharfugig, sagte ich

    dir, wir wuten beide, was ich damit meinte, du zucktest dieAchseln. Wrter wie Eifersucht kamen zwischen uns nicht vor.brigens, sagte Lothar, ich komme gerade aus der Vorfhrung.Ich sage nur: Gratuliere.

    Da fragte ich mich, ob mein Krper, hinter dessen Schlicheich allmhlich kam, dies alles nur inszeniert hatte, damit einsolches Wort von Lothar mir vollkommen gleichgltig seinkonnte. brigens, Urban hat angerufen, sagte Lothar. Komisch,da er sein wichtigtuerisches Gesicht beibehalten hatte, wenn ervon Autoritten sprach. Wir hatten ihn immer damit aufgezogen,

    besonders Urban lie sich keine Gelegenheit entgehen: Achtung,erhebt euch, Lothar wird feierlich. Komisch, da nun Urban frLothar zur Autoritt geworden war. Wann war das passiert?Hatte es gengt, da Urban dienstrangmig an Lotharvorbeigezogen und jetzt in der Lage war, ihm Weisungen zu

    erteilen und Urteile ber seine Arbeit abzugeben? Milde Urteile,wenn irgend mglich, oder, falls Kritik unvermeidlich war, einein Ironie gekleidete Kritik, die immer durchblicken lie, da wirdoch alle aus demselben Brutkasten kommen, wie Urban sichausdrckte. Diese Versicherung, auch wenn sie nicht direktausgesprochen wurde, war Lothar wichtig. Da Urban sofortangerufen hatte, um sich zu erkundigen, wie die Vorfhrunggelaufen war. Da er hoch befriedigt gewesen war ber die

    gnstige Auskunft. Da er besorgt um mich war und michgren lie.

    So kommen wir nicht weiter, sagt der junge Arzt. Inzwischenhat man sie an ein Gert angeschlossen, das ihre Pulsfrequenzauf einen Bildschirm bertrgt, eine hagere rztin, derenAnkunft ihr entgangen sein mu, macht sich an dem Gert zuschaffen, sie hat graumeliertes Haar, das wie ein enganliegendes

    Kppchen geschnitten ist, sehr hohe Pulsfrequenz, sagt sie

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    tadelnd, dem jungen Arzt mit dem Bartstreifen um Wange undKinn pat das alles ganz und gar nicht, er zhlt auf, was er allesversucht hat, als msse er sich verteidigen, sie mchte ihn am

    liebsten in Schutz nehmen. Die rztin, die jetzt also das Sagenhat, nennt den Namen eines Medikaments. Ob sie das kenne. Siemu verneinen. Es ist neu, sagt die rztin. Wir spritzen es ganzvorsichtig, unter Monitorkontrolle. Aber Sie sind ja klitschna.Ein kurzes Hin und Her zwischen ihr und der blonden Schwesterin dem rosa Kittelchen. Nein, hier in der Notaufnahme knneman mich nicht umziehen, das werde sogleich auf Stationgeschehen.

    Die rztin in jener Poliklinik, das wei ich noch, hat mir dasGesicht mit Zellstoff abgetupft, wie sie aussah, wei ich nichtmehr, Gesichter schwinden mir, ein Mangel, der dirunverstndlich bleibt. Lothar aber legte sein falsches Gehabe

    pltzlich ab und hatte auf einmal seine alte Freundes-Miene, daswei ich noch: Bestrzt, verlegen, unbeholfen, wie eben einMann die Krankheitszustnde einer Frau aufnimmt. Ich mute

    lcheln, ihm zulcheln, was ihn zu erleichtern schien.Pressen knnen Sie wohl nicht, fragt die hagere rztin, da

    kann der junge Arzt ihr vorwurfsvoll die Bauchwunde derPatientin entgegenhalten, die ja schlielich diePrimrerkrankung sei, die rztin will sich nicht geschlagengeben, sie versucht es mit starkem Daumendruck auf dieHalsschlagader, auch der zeigt keine pulsfrequenzminderndeWirkung. Eiswasser? Sie darf ja nicht trinken. Ach so. Nun hatte sie sich auch das Wohlwollen der hageren rztinverscherzt.

    Mein Krper geht durch. Gleichnishaft. Alles Vergngliche istnur ein Gleichnis. Manche Zeilen hatte sie nie wirklichverstanden, ihr Sinn blieb ihr verborgen in einer anscheinend

    porsen, doch undurchdringlichen Dunkelheit, bis heute, bis zudiesem finsteren Augenblick, da der Sinn ihr pltzlich aufgeht.

    Wenn aber die hundert Jahre endlich vorbei sind, legt jede

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    Dornenhecke sich nieder, hlt Theseus den Faden der Ariadnefest in der Hand und findet sicher aus dem Labyrinth, erschlietsich jedes lang genug umworbene Geheimnis. Ob du es mir

    glaubst oder nicht, ich wei noch, was mir alles durch den Kopfging, damals in jener Betriebspoliklinik, ich war erst MitteDreiig, jung, so jung, die Zeit schien sich zu dehnen, meinHerz raste, wie jetzt. Angst? Ja. Todesangst? Nein. Atypisch.

    Jetzt versucht die hagere rztin, jemanden von der Tr zuvertreiben, er kommt trotzdem herein. Aber das bist ja du, wowarst du denn so lange. Ich versuche, dich mit den Augen zugren, wei natrlich nicht, ob du meine Augensprache gleichverstehen wirst, du redest mit den rzten. Sie will sich merken,da man zu schwach sein kann, sich zu freuen, und da niemandauf der Welt das wissen kann auer einem selbst. Nun setzt sichdie rztin auf den Rand ihrer Liege, prft die Vene in ihrerrechten Armbeuge, befiehlt ihr, eine Faust zu machen fester! ,fhrt, fr sie fast unmerklich, die Injektionsnadel in die Vene ein

    und beginnt, im Zeitlupentempo den Kolben in der Spritzeherunterzudrcken. Sie macht Pausen. Sie behlt die grneZackenlinie auf dem Bildschirm, ihre Pulsfrequenz, im Auge.Sie verstndigt sich durch Blicke mit dem jungen Arzt, der aufder anderen Seite der Liege steht. Beide schtteln fastunmerklich den Kopf. Das Herz rast. Bist du noch da?

    Oder knnte es nicht sein, da mein Herz, vor die Wahlgestellt, entweder ganz stillzustehen oder loszurasen, dasLosrasen whlt? Zu meinen Gunsten, so gesehen? Nicht da siesolche Fragen denken wrde, aber sie stellen sich von selbst.Alles um sie herum, dieser kahle unwirtliche Raum, dieseApparate, an die sie mit Schluchen und Kabeln angeschlossenist, der Puls, der sich nicht beruhigt, auch nicht, nachdem dierztin entschlossen den letzten Tropfen aus der Spritze in ihrAdernetz gepret hat, das alles drckt die Fragen aus, die sie in

    Worten nicht stellen kann. Geh, sage ich zu dir, bitte geh doch.

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    Es strengt mich an, da du da bist. Bitte geh. Sie will sichmerken, da es zu anstrengend sein kann, wenn der nchsteMensch im gleichen Raum ist wie man selbst.

    Wie lange hat mein Puls damals gebraucht, sich zuberuhigen? Mehr als zwei Stunden, glaube ich. Unser Film warlngst gelaufen, erfolgreich, wie Lothar mir noch mehrmalsversicherte, nach menschlichem Ermessen knne es keineSchwierigkeiten bei der Abnahme mehr geben. Die rztin hatteAuftrag, ihn anzurufen, wenn ich transportfhig sei. Er hatteeinen Dienstwagen fr mich bestellt, und ich war ganz froh, daich die Stufen zum Bus nicht hochklettern mute. Ich warerschpft, auf eine nicht unangenehme Weise erschpft, keinWunder, hrte ich, mein Herz htte einen Marathonlauf hintersich. Ich war allein zu Hause und schlief tief und lange. Urbanwar der erste, der mich am nchsten Morgen anrief, und ich

    bedankte mich aufrichtig bei ihm fr seine Anteilnahme. DieAufrichtigkeit lie dann bald nach, von beiden Seiten, das muich zugeben. Man denkt ja, wenn der andere nicht aufrichtig ist,

    hat man das Recht, sich auch ein wenig zu verstellen. UnsereVerstellung bestand darin, weit du das noch, da wir lange Zeitso taten, als glaubten wir noch an Urbans Aufrichtigkeit. DieAuseinandersetzungen ber den Film fingen ja bald an. Lotharhat uns nicht noch einmal zu ihm gratuliert, aber er hat ihn auchnicht sofort aufgegeben. Er hat, das hielten wir ihm zugute, sichzum Prellbock ge macht. Doch als die Angriffe sich dann auchgegen ihn richteten, hat er behutsam angefangen, sich von dem

    Film zu distanzieren, nicht von uns, das nicht. Die schlimmstenSchmhungen hat er uns nicht weitererzhlt. Er hatgeschwiegen, solange er konnte. Da auch Urban ihn unterDruck setzte, haben wir nicht von ihm erfahren. Der hattegesagt, unsere subjektiv ehrliche Absicht bezweifle er nicht,aber die objektive Wirkung dieses Films in der gegenwrtigenSituation sei, nun ja, zwiespltig. Diese Meinung teilte unsLothar schlielich als seine eigene Meinung mit. Er blickte

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    durch uns hindurch. Das ist alles so lange her, fnfundzwanzigJahre, ein Vierteljahrhundert. Alles so unvorstellbar geworden.Und hatten sie Urban nicht schon frher verloren? Wie oft im

    Leben werden wir andere und verlieren diejenigen, mit denenwir jung und, nun ja: unschuldig waren?

    Nacht. Etwas wie Nacht, nur tiefer, dunkler, einsamer. Spterwird sie sich an diese nachtvollste Nacht nicht erinnern, nur anihre Erinnerung daran. Irgend wie muten sie es geschafft haben,ihren Pulsschlag zu normalisieren. Sie auf eine Station zu

    bringen und in ein Bett zu legen. Sie ist in einem Zimmer, diesesZimmer hat ein Fenster, von dem etwas wie ein Schimmerkommt, die Ahnung eines Schimmers. Ihr Hemd ist immer nochna, ihr Bettzeug auch. Whrend sie erwacht, setzt einohrenzerreiendes Getse ein, ein schrilles Klirren, nie vorhergehrt, als wrde Metall mit brutaler Gewaltaufeinandergeschlagen, aneinandergeschmettert, Lanzen,Schwerter. Sie sieht Leiber miteinander kmpfen, inunnatrlichen Haltungen und Verrenkungen ineinander

    verknult. Das ist kein Spa, da macht jemand Ernst mit mir.Wenn ich jemals gedacht haben sollte, ich sei verloren, kann ichnicht gewut haben, was das Wort bedeutet. Ein hllenmiges,durch Mark und Bein gehendes Kreischen und Gellen undSchrillen, ein Drhnen und Hmmern, ein Zischen, das dieSchmerzgrenze bersteigt. Da es solche Tne gibt, habe ichnicht ahnen knnen, niemand kann es ahnen. Und da sie alsFolter eingesetzt werden. Nun ist es so weit. In diesem kranken

    grnlichblauen Licht, dessen Quelle ich nicht kenne, bei diesemhllischen Getse peinigt mich die Geschichte des Schmerzesund der Folter. Die Soldaten des Herodes, welche die kleinenKinder auf die Spitzen ihrer Schwerter spieen. Die erstenChristen, in der Arena Auge in Auge mit den wilden Tieren, diesie unter grlichem Gebrll zerreien. Die Greueltaten derConquistadoren, der Kreuzritter, der Frsten nach denBauernkriegen. Die Frau, die, geschunden, im Landwehrkanal

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    treibt. Und da hat mein Jahrhundert erst angefangen. Schindenauf jede denkbare Weise. Das Martyrium und der Untergang derLeiber, mein Leib mitten unter ihnen. Es gibt gndige

    bewutlose Zustnde, ob Minuten, Sekunden, sie wei es nicht.Haben Sie Schmerzen? Sie mu gar nicht oder falsch

    geantwortet haben. Die Schwester ist wieder gegangen.

    Da alles seinen Preis hat, ist einer der banalsten Stze, daswei sie, der bleibt, wie alle banalen Stze, nur banal, so langeman ihn nicht am eigenen Leib erfhrt. Dafr, da in diesemBett etwas endet und danach, falls es ein Danach gibt, etwas

    anderes anfngt, ist dieses schauerliche Getse der Preis, und dieQual der Leiber, die mir aus irgendeinem Grund eingebranntwerden soll. Die Pranger, in die Frauen auf den Marktpltzeneingespannt sind. Die Streckbetten und Daumenschrauben, dieglhenden Zangen, die Schwedentrnke. Das Vierteilen mitHilfe von Pferden, das Rdern und Hngen, das Ertrnken undErsticken. Das Vergewaltigen. Jetzt rcht es sich, da sie vonKind an all die Schilderungen dieser Greuel immer nur hastig

    berflogen, da sie im Kino die Augen geschlossen, beimFernsehen das Zimmer verlassen hat, wenn es wieder losging.Da sie nur ein einziges Mal in einem ehemaligenKonzentrationslager gewesen ist. Immer wieder mu sie durchden gleichen betonierten schlecht beleuchteten Gang, den sie zukennen meint, nicht erkennt. In den sie zurckgetrieben wird,wenn sie dem Ausgang nahe ist. Mein Vorgefhl, da ich hinterden schweren Stahltren dich treffen werde, wird jedesmalerstickt. Was bedeutet es, da ich den Ausgang aus diesemunterirdischen Labyrinth da suche, wo ich auch dich zu findenhoffe. Das Getse geht in ein Rasseln von Ketten ber, Kettenunzhliger Gefangener.

    Irgendwann wird es immer Morgen. Es erscheint ein Arzt vonunaufflliger Statur, den die Schwester, die ihn begleitet schonwieder eine andere, dickliche , mit Herr Chefarzt anredet. Er

    will wissen, wie es ihr geht. Will er es wirklich wissen? Sie

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    kennt ihn nicht, hat seinen Namen nicht verstanden, knntesowieso nicht antworten. Ihm scheint aufzufallen, da ihrausgedrrter Mund keine Laute formen kann. Er benetzt ihr

    Lippen und Mundhhle mit einem Zellstofftupfer. Da kann siesagen: Warum geht es mir so schlecht.

    Wider Erwarten nimmt der Chefarzt die Frage ernst, scheintauch nicht berrascht zu sein, fhlt sich nicht belstigt. WeilIhnen wichtigste Stoffe fehlen, sagt er. Kalium zum Beispiel. IhrBlutbild hat ergeben, da Sie berhaupt kein Kalium mehrhaben. Magnesium fehlt. Calcium. Eisen. Phosphor. Zink. AlleMineralien. Wir mssen Sie erst allmhlich wieder aufbauen.

    Eine erhellende Auskunft, die ihr lange zu denken gibt.Flchtig fragt sie sich, wer in ihr denn das Kalium und dieanderen Stoffe auffressen mag, ein Wort wie Killerzellengeistert ihr durch den Kopf, wirklich wissen will sie es nicht.Der Mann, den die Schwester Chefarzt nennt, scheint ihr nichtmehr sagen zu wollen, als sie wirklich wissen will. Er fngt an,sich Plastehandschuhe berzustreifen. Zwei Paar zerreien, ein

    drittes Paar in seiner Gre ist nicht da. Er sagt beherrscht:Holen Sie bitte welche, Schwester Margot, seien Sie so gut. Alsdas dritte Paar Handschuhe heil bleibt, nimmt er denVerbandmull von der Wunde in ihrem Bauch auf, reinigt dieWunde, verbindet sie mit Hilfe der Schwester. Er fragt nach derTemperatur. Die Schwester reicht ihm mit undurchdringlicherMiene ein Blatt. Er sagt frmlich: Wir mssen abwarten. Ichwerde bald wiederkommen.

    Das ist eine Aussage, an die sie sich halten kann. Zwei jungemuntere Schwestern bemhen sich, sie zu waschen, undunterhalten sich dabei ber die unannehmbarenVerkehrsbedingungen in der Stadt. Irgendwo auf dieser Welt,ganz nah vielleicht, fahren immer noch Straenbahnen, abereben viel zu selten, so da die eine der Schwestern, die kleineBlonde, regelmig zu spt zum Frhdienst kommt und von der

    Oberschwester angeraunzt wird, aber man kann es ihr doch nicht

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    zumuten, extra eine halbe Stunde frher aufzustehen wegen derblden Straenbahn.

    Inzwischen mnden einige Schluche aus meinem Bauch in

    Behlter, die rechts neben meinem Bett stehen. Wie habe ichmich einmal erschrocken, als ich einen Freund so habe liegensehen. Jetzt erschrecke ich nicht. Es stimmt also nicht, da einenam meisten das erschreckt, was einen selbst betrifft. Allerdingskann ja alles ganz anders sein, je nachdem, ob man gengendKalium hat oder nicht. Diese Zge von Gefangenen, die wiederan mir vorbeiziehen, knnen also berlebenswillen aufbringen,wenn sie noch genug Kalium haben. Und sie geben sich auf,wenn es ihnen an allen Mineralstoffen fehlt. Muselmnner.Ohne Kalium, das knnte ich dem Chefarzt jetzt sagen, wenn ermir noch einmal den Mund befeuchten wrde, was die jungenSchwestern trotz Anweisung vergessen haben, ohne Kaliumfhlt man sich wie eine Padde, die von einer Astgabel imGenick in den Staub gedrckt wird.

    Das Bild ist zutreffend, frher htte ein zutreffendes Bild sie

    befriedigt, jetzt ist es ihr gleichgltig. Der Lrm hat wiedereingesetzt. Die Zge, die sich durch eine trostlose Landschaftschleppen, rasseln mit ihren Ketten. Es leuchtet ein, da jederdurch die Sinne gestraft wird, die seine empfindlichsten sind,das Gehr also, und die Angst vor krperlichem Schmerz, diemich schon als Kind, habe ich dir das eigentlich erzhlt, dazuverleitete, Mut- und Schmerzproben abzulegen und mir den Rufvon Tapferkeit einbrachte.

    Wie sollen wir wissen, wie ausgedehnt unsere Innenwelt ist,wenn nicht ein besonderer Schlssel, hohes Fieber zum Beispiel,sie uns erschliet. Immer mu sie zuerst durch diesen niedrigen,schlecht beleuchteten und belfteten Gang, der ihr jedesmalwieder bekannt vorkommt, aber die Anstrengung, die sieaufbringen mte, ihn wirklich zu erkennen, kann sie sich nichtabverlangen. Doch diese Gestalten in dunkelgrauen

    Kombinationen mu sie schon gesehen haben, die ihr jetzt

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    Papiere abfordern, wortlos, durch eine nicht einmal herrische,nur selbstverstndliche Geste, die sie in panischen Schreckenversetzt. So mu man sich also auch hier ausweisen, aber was

    meint sie mit hier. Sie findet ein Papier in ihren Taschen,etwas wie eine Pappkarte, deren Unzulnglichkeit in die Augensticht, doch die beiden Wrter? Wchter? Kontrolleure? winkensie durch, und sie htten sich auch anders nicht verstndlichmachen knnen, wegen dieses Hllenlrms hier unten, der janicht abreit.

    Da sie unten ist, daran gibt es ja keinen Zweifel. DieStahltren ffnen sich ganz leicht, lautlos gleitend in ihrenSchienen und Scharnieren, wenn ein Wort wie lautlos indiesem Getse irgendeinen Sinn htte. Ganz leicht wandert odergleitet sie durch eine Vielzahl groflchiger, ineinanderbergehender, ineinander verschachtelter Rume, und sieversteht nun auch, warum man von Schattenreich spricht, dieUnterwelt als Schattenreich, und warum man die ebenVerstorbenen Schatten nennt, nur soll man aufhren, sie zu

    bedauern. Sie sehen und hren, doch fhlen sie nichts, jedenfallsfhlt der Transitr nichts, der losgeschickt wurde, sich zu ihnenzu gesellen, das kann ich bezeugen.

    Das weit du ja wohl, da wir uns einmal in diesen Gngenbegegnet sind, Urban und ich, in jenem irdischen Schattenreich,das der jenseitigen Unterwelt nicht gleicht, doch hnelt, derirdische Transitgang, der gekachelt ist wie eine Badeanstalt.Oder wie ein Schlachthaus. Getarnt als Grenzbergangsstelle Gst Bahnhof Friedrichstrae. Urban war mit der gleichen S-Bahn gekommen wie ich Zoologischer Garten BahnhofFriedrichstrae , der gleiche Menschenstrom hatte ihn dieTreppen hinunter- und diesen unterirdischen Gangentlanggesplt, bis zu jener Stelle, wo der Strom sich teilte, inReisende, die in den Staat einreisen wollten, dessen Brger wirsind und dessen Territorium hier begann, und in diejenigen, die

    mit normalen Reiseerlaubnissen in diesen Staat zurckkamen,

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    viele ltere Leute darunter. Schlielich das schmale Rinnsal vonDiplomaten und Dienstreisenden, zu denen wir beide gehrten,Urban und ich. Wir durften oder muten also geradeaus

    weitergehen, und da erst erkannte ich ihn, dicht vor mir, es warzu spt, mich zurckfallen zu lassen, seinem steifen Rckenmerkte ich an, da auch er mich gesehen hatte. So stieen wirdenn vor der Pakontrolle buchstblich aufeinander, heucheltenfreudige berraschung ber den Zufall, der uns nach so vielenJahren!, sofort begannen wir zu rechnen ausgerechnet hierzusammenfhren mute. Man begegnet sich ungern gerade dort.Man gewhrt einem anderen nicht gerne Einblick in die

    Dokumente, die einen zum vorbergehenden Wechsel von dereinen in die andere Welt berechtigen. Man verfllt sofort demZwang, sich voreinander zu rechtfertigen, sich hastig zuerzhlen, welch dringliche Geschfte, Arbeiten oder Auftrgeman drben zu erledigen gehabt hat, man lchelt ironischdabei und beobachtet aus den Augenwinkeln, wie dasReisedokument von dem einen der Uniformierten, nachdem

    er es dem Transitreisenden abgenommen und ihn mit seinemPabild verglichen hat, durch den Schlitz in dasKontrollhuschen geschoben wird, in dem, sorgfltig gegenBlicke abgeschirmt, der andere Uniformierte sitzt und diePapiere irgendwelchen Prozeduren unterzieht, die den drauenWartenden verborgen bleiben, nur da man aus der Dauer desVerbleibs der Dokumente in dem Huschen allenfalls auf dieeigene Unverfnglichkeit oder, wenn man lange warten mu,

    auf die eigene Verdchtigkeit bei der zustndigen Dienststelleschlieen kann.

    Mein Freund Urban gehrte zur ersten Kategorie. Er hattegerade angefangen, mit einer gehrigen Portion Selbstironie vonder Veranstaltung im anderen Teil der Stadt zu erzhlen, auf derer, regulr eingeladen, darauf legte er Wert, ber die neuestenkulturellen Ereignisse in unserem Land hatte Auskunft gebenmssen, da hrten wir schon jenseits des undurchsichtigen

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    Fensterchens das Niedersausen des Stempels, im Schlitzunterhalb des Fensters erschien sein Dokument, wurde von demersten Uniformierten entgegengenommen und, nachdem der

    noch einmal das Pafoto mit seinem Urbild verglichen hatte, anUrban weitergereicht. Nicht ganz ohne Stolz nahm er esentgegen: Auf diese Computer knne man sich doch wenigstensverlassen!, und hat dann kollegialerweise eine betrchtliche Zeitauf sie gewartet, nach der Zollkontrolle, die er auch ohneZeitverlust passierte. Ja, auf die Computer konnte man sichverlassen, ihnen war offenbar die Weisung an den Uniformiertenim Grenzerhuschen eingespeichert, sie beim Grenzbertritt

    aufzuhalten, sich sogar telefonisch bei einer hheren Stelle zuversichern, da ihr Passierschein nicht zu beanstanden war, dassagte sie zu Urban, als sie endlich bei ihm anlangte,unkontrolliert durch den Zoll wie er selbst. Er lchelte etwasschief, natrlich empfand er einen verqueren Neid darber, dadie Computer sie nicht so glatt passieren lieen wie ihn,andererseits htte es ihn beunruhigt, wenn er so lange auf seine

    Papiere htte warten mssen wie sie. Gleich am Ausgang jenesin der Welt einmaligen Gebudes, das ber dem Zu- undAbgang zur Gegenwelt errichtet ist, trennten sich ihre Wege. Ihralter Freund Urban ging zum Taxistand vor dem S-BahnhofFriedrichstrae, sie wendete sich nach links zur WeidendammerBrcke, die ich nie berquere, ohne den gueisernen

    preuischen Adler am Gelnder mit einem spttischen Lchelnzu gren, ihn mglichst sogar zu berhren.

    Ich hatte Urban nicht gefragt, welche Funktion er jetztbekleidete, er schien es als selbstverstndlich vorauszusetzen,da ich seinen Werdegang verfolgt hatte, der ihn nach einem unsalle berzeugenden und durchschaubaren Beginn logischerweisevon Stufe zu Stufe aufwrts, dann irgendwann ins Unsichtbaregefhrt und sich hinter den Kulissen anscheinend erfolgreichfortgesetzt hatte. Ich drehte mich nicht nach ihm um, sprte aberim Rcken, da er mir nachsah.

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    Wenn man lange genug lebt, wiederholen sich Situationen,auch indem sie sich in ihr Gegenteil verkehren. Einmal, vorJahren, hatte ich ihm so nachgesehen, er war, das mute nach

    einer Sitzung gewesen sein, Eile vortuschend die Treppehinunter entschwunden, ohne sich von ihr zu verabschieden, denAnla hatte sie vergessen, nur da er sich anscheinend wegenirgendeines Vorfalls vor ihr genierte, ihr jedenfalls aus demWeg gehen wollte. Ja, da hatte sie ihm lange nachgesehen, undihr war nicht wohl dabei gewesen.

    Wie sie sich jetzt fhlt? Sie mte dem Chefarzt immerzu dasgleiche sagen: am Boden eines Schachts, aus dem ich nichtherauskomme, weil mir die Kraft dazu fehlt. Sie sagt: Es geht.Er scheint sich weniger auf ihre Ausknfte als auf seine eigenenUntersuchungsergebnisse zu verlassen, er tastet sie ab, fhlt ihrden Puls, zieht ihre Augenlider hoch, will auch ihre neuesteTemperatur noch wissen, da mu ihn die StationsschwesterChristine darauf hinweisen, da nur zweimal tglich gemessenwerde, woraufhin der Chefarzt anordnet, diese Patientin habe

    man alle drei Stunden zu messen, seien Sie so freundlich, sagt erzu der Stationsschwester, die hbsches blondes Haar hat, dassich um ihr Gesicht ringelt. Sie notiert die Anordnung, ohne sichdazu zu uern. Aber etwas wie ein Beleidigtsein um dieMundwinkel kann sie nicht verbergen. Was ist, SchwesterChristine, sagt der Chefarzt. Er erfhrt, da die Station mitSchwestern unterbesetzt ist. Sie, die zwar kaum sprechen, aberdoch ganz gut hren kann, will auf keinen Fall wissen, welche

    Komplikationen fr die Pflege der Patienten sich daraus ergebenund ist dem Chefarzt dankbar, da er der Schwester bedeutet, siemge spter mit ihm darber reden. Fr die Patientin verordneter eine sensationelle Neuerung: Sie knne schluckweis etwasTee trinken. Vor ihr erscheint wieder das Phantom eines riesigenGlases Bier, der weie Schaum quillt verfhrerisch ber denRand, es will ihr nicht gelingen, die Erscheinung zu verdrngen.Sie wartet auf den Tee und fragt sich, ob irgendeine der

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    Schwestern, die sie da lachend, schwatzend Betten schiebendber den Flur laufen hrt, sich vorstellen kann, was jede Minute,die sie lnger auf den Tee warten mu, fr sie bedeutet. Eine der

    beiden Jungen bringt dann die Tasse, die Schwarze, Hbschemit dem Leberfleck auf der linken Wange, flott stellt sie sie aufden Nachttisch und verschwindet wieder, es scheint sie nicht zukmmern, ob die Durstige mit ihrem rechten Arm den

    Nachttisch erreichen, ob sie ihren Kopf weit genug anhebenkann, um aus dieser Tasse zu trinken. Da kommt zu ihremgroen Glck ein junger Mann in weiem Kittel mit ganz kurzgeschnittenem Haar herein und beobachtet ihre Bemhungen.

    Na! sagt er, geht hinaus und kommt nach Sekunden mit einerSchnabeltasse zurck, giet den Tee um, sttzt ihr den Kopf,hlt die Tasse. So geht es doch besser, nicht? Sie trinkt, es gibtauf der Welt nicht nur das Wort, es gibt es wirklich: trinken.Danke, sagt sie. Evelyn ist erst Schlerin, sagt er. ZweitesLehrjahr. Da sieht man manches noch nicht so. Er heit Jrgen,ist im dritten Lehrjahr und steht kurz vor der Prfung. Er trstet

    sie darber, da sie nicht mehr als drei Schlucke herunterbringt.Was denken Sie, sagt er, wie schnell so ein Mageneinschrumpft. Er geht.

    Die Flut steigt wieder. Sie hat einen Namen: Erschpfung.Das Bewutsein zieht sich zurck, es geht zum Grund.Zugrunde gehen. Diesmal sind es Flugmaschinen, die denohrenzerfetzenden Lrm machen. Tiefflieger inununterbrochener Folge unmittelbar ber unseren Kpfen. Es

    mu doch einen geheimen Sinn haben, da alle Arten vonMenschenopfern mir vorgefhrt werden sollen. Oder hat es denSinn, mich endlich, nach all den Jahren, Jahrzehnten derSelbsttuschung, von der durchdringenden Sinnlosigkeit allenGeschehens zu berzeugen? Es ist uns ja eingetrichtert worden,da alles und jedes dadurch, da es sich als Geschichte erzhlenlt, sinnhaft wird, seine Sinnhaftigkeit beweist. Ich beginne zuahnen, aus welchen Quellen diese Bilder kommen, die zu sehen

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    ich gezwungen werde, sobald der Regisseur auf meiner innerenBhne ausgeschaltet ist.

    Ich bitte dich, da du pltzlich schon wieder da bist welche

    Tageszeit haben wir eigentlich, Nachmittag?, das wundert mich, ich bitte dich, mir das kleine blaue Buch mit den Goethe-Gedichten mitzubringen. Gleich morgen. Aber ich merke, duhast anderes im Kopf. Du hast also mit dem Chefarztgesprochen, hinter meinem Rcken. Der sei ein bichenunzufrieden mit meinem Fieber. Er denke, man werde nocheinmal operieren mssen, den Eiterabsze entfernen, der diesesFieber vermutlich erzeuge.

    Gib mir bitte zu trinken. Diesmal schafft sie vier Schluck Tee.Komischerweise fallen ihr lauter Goethe-Gedichte ein. Welcheswillst du wissen, sagst du. Ach, besonders das: Die Zukunftdecket / Schmerzen und Glcke / Schrittweis dem Blicke / Dochungeschrecket / Dringen wir vorwrts. Da wei ich nichtweiter. Etwas mit Kronen kme dann. Ich brauche das Buch.

    Weit du eigentlich, da ich einmal Konrad angerufen habe,

    weil ich dieses Gedicht nicht fand und er derjenige von unserenFreunden war, der sich an alle Gedichte erinnerte, die er jemalsgelesen hatte, und er hatte viele gelesen. Ich war nicht daraufgekommen, es unter den Maurerliedern zu suchen, Konradwute es sofort, er kannte es auswendig und unterrichtete michber Goethes Verhltnis zu den Freimaurern. In unserem erstenGoethe-Seminar in Jena war er tonangebend, er war es auch, der

    die Ausstellung im Weimarer Schlo mit aufbaute,Gesellschaft und Kultur der Goethezeit, er redete von nichtsanderem, wenn er mich manchmal abends begleitete, zu demkleinen Zimmer im Nietzsche-Haus. Nichts sei spannender, alszu erforschen, auf welche Weise bestimmte gesellschaftlicheVerhltnisse ein Genie fesselten und welche Methoden einGenie entwickle, sich dieser Fesseln wenigstens zeitweise undteilweise zu entledigen.

    Komisch, wie das Gehirn funktioniert. Warum fllt mir jetzt

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    Konrad ein. Der war anstndig, sage ich, der konnte nichtsgegen seine berzeugung tun. Nicht mal etwas gegen seineberzeugung sagen. Der wre heute noch unser Freund, meinst

    du nicht auch. Der ist zu frh gestorben. Ja, sagst du zerstreut,aber das solle jetzt meine Sorge nicht sein. Du hast mir daskleine schwarze Radio mitgebracht, du stellst es an, um esauszuprobieren, eine mnnliche Nachrichtenstimme sagt, wiedersei eine Verkehrsmaschine abgestrzt, die Zahl der Opfer sei Um Gottes willen, sage ich, mach das aus. Ja doch, sagst du.Ja. Aber was ist denn. Nichts ist. Nichts. Nur da ich nicht daswinzigste bichen von einer schlimmen Meldung vertrage,

    verstehst du. Gutgut, sagst du.Geh jetzt bitte, sage ich. Du sagst: Mach doch einfach die

    Augen zu. Brauchst dich um mich gar nicht zu kmmern. Dasversuche ich. Da setzt wieder das Getse ein. Geh. Spter,mag sein, werde ich mich wundern, da ich deine Anwesenheitnicht lnger als eine halbe Stunde ertragen habe. Jetzt fehlt mirdie Kraft, mich zu wundern. Oder auch nur die Andeutung einer

    schlechten Nachricht zu ertragen. Das will ich mir merken, daes einen Grad von Schwche gibt, da kann man keinMilligramm von Sorge oder Mitleid fr noch so entfernteMenschen auf sich nehmen, von nahen Menschen ganz zuschweigen. Da Helene Husten hat, httest du mir nicht sagensollen, auch wenn es aus Verlegenheit geschah, das habe ichgenau gemerkt, weil du nach meiner flehentlichen Bitte, nur janichts Schlimmes zu erzhlen, nicht mehr wutest, was du

    berhaupt noch erzhlen solltest, und Husten ist doch nichtsSchlimmes bei einem fnfjhrigen Kind, und doch kann ichnichts dagegen tun, da Helenchen hustet und hustet, da siegewi eine Bronchitis bekommt, die so leicht chronisch werdenkann, mit allen bsen Folgen, und whrend die bsen Folgensich in mir ausbreiten, strzt zugleich wieder und wieder dieseVerkehrsmaschine vom Himmel, mit ihrer noch lebenden, jetztaber, um Sekundenbruchteile spter, zerschmetterten,

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    zerdrckten, verbrannten, zerrissenen menschlichen Fracht, undich kann nur hoffen, da niemand, den ich liebe oder auch nurkenne, in nchster Zeit gezwungen oder leichtfertig genug ist,

    mit einer Verkehrsmaschine zu fliegen, und falls er es doch tunsollte, so will ich es nicht wissen, so wie ich am liebsten nichtwte, wann du morgen bei mir sein willst, weil ich mir dannausrechnen mu, wann du losfhrst und eine Stunde lang aufden zwar nicht berlasteten, doch gewi nicht ganzungefhrlichen Straen im Auto unterwegs bist. So wie ich, daswei ich nun auch, jetzt nicht erfahren wollte, wenn ich Krebshtte. Ich will mir merken, da man einem Menschen, der

    gerade operiert und noch sehr schwach ist, nicht sagen darf, daer Krebs hat ganz gleich, was er vorher behauptet haben mag.Es gibt also Zustnde, in denen Ehrlichkeit, Wahrheit tdlichwirken.

    Ich will das bei Gelegenheit dem Chefarzt sagen, der geradewieder hereinkommt, um ihr mitzuteilen, sie seien sich darbereinig geworden, sie noch einmal zu operieren. Vorher aber

    werde man sie, heute noch, genaugenommen: sofort, einerweiteren Untersuchung unterziehen. Um den Herd, den es zuentfernen gilt, ganz sicher einzugrenzen. Es gebe da neuerdingseine schonende und uerst aussagekrftige Methode, sagt derChefarzt, whrend er die ganze Zeit prfend ihr Handgelenk hltund sie sich zum erstenmal fragt, wie alt er sein mag. Das mudoch ein gutes Zeichen sein, da es mich, wenn auch nichtgerade brennend, zu interessieren beginnt, wie alt der Arzt sein

    mag, der in der Kommission, die anscheinendzusammengekommen ist, um ber meinen Fall zu beraten,sicherlich das entscheidende Wort zu sagen hatte. In allenKommissionen, in denen ich selber gesessen habe, hatte immereiner das entscheidende Wort, selten, sehr selten eine, und mirfllt ein, ich hatte kaum je das entscheidende Wort,glcklicherweise nicht. Urban aber, mein Freund und GenosseUrban, der hatte in mindestens drei Kommissionen, denen auch

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    ich angehrte, das entscheidende Wort. In der ersten hat er esungeschickt und unsicher gebraucht, da war er durch Argumente

    beeinflubar, und ich war zufrieden mit ihm, in der zweiten

    schlich sich Routine in seine Diskussionsleitung ein, und in derdritten machte es ihm nichts mehr aus, die Entscheidungsmachtzu gebrauchen, er fing an, Widerspruch abzuwrgen, und ichfing an, die Sitzungen zu meiden. Kein Grund, sich zu rhmen.Wie lange ist das alles her. Wie tief versunken.

    Darber ist der Chefarzt gegangen, und Jrgen, der Pfleger,ist mit einer Kanne hereingekommen, in der ein Liter FlssigkeitPlatz hat und die sie, um sich auf den Computertomographenvorzubereiten, in der nchsten Viertelstunde austrinken soll. Aber das kann ich nicht. Sie wissen doch, fnf Schluck Teewaren das uerste. Sie mssen, sagt Jrgen unberzeugt. Esist eine Kontrastflssigkeit. Ihr bricht der Schwei aus. Nachden ersten Schlucken ist sie klitschna, aber da sie inzwischendie miliche Wschelage auf der Station kennt, wird sie sichhten, schon wieder um ein frisches Hemd zu bitten, sie wird

    sich darauf konzentrieren, diese ekelhaft schmeckendeFlssigkeit herunterzuschlucken. Was sie hier von mirverlangen, ist unmglich, der Pfleger Jrgen wei es auch, erhlt ihr die Schnabeltasse an die Lippen, noch einen Schluck,noch einen Schluck, brav, brav. Rckfall in die Kindheit, auchdamals war ich frei von Verpflichtungen, wie jetzt, wo niemandetwas von mir verlangt, auer da ich mich kooperativ verhalte,so hat die Stationsschwester es ausgedrckt: Aber Sie sind ja

    kooperativ, nicht wahr, und ich, peinlicherweise, fhlte wirklicheinen Anhauch von Verpflichtung, ihrer Erwartung zuentsprechen, doch diese Kanne kann ich nicht austrinken, dieletzte Tasse weist sie zurck, Jrgen schttet ihren Inhaltwortlos in den Ausgu. Leider hat er keine Zeit, sie hinunter zu

    begleiten, in den Keller, in die Unterwelt, sagt er, er ist nichtungebildet, er denkt daran, nach seiner Prfung noch ein, zweiJahre als Pfleger zu arbeiten und sich dann vom Krankenhaus

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    zum Medizinstudium delegieren zu lassen.

    Schwester Evelyn hat solchen Ehrgeiz nicht, es scheinthauptschlich ihr Bestreben zu sein, sich vorteilhaft

    zurechtzumachen, ihr tiefschwarzes Haar ist sorgfltig inStrhnen auf ihrem Kopf drapiert, Augen- und Lippenschminkesind tadellos. Also ab durch die Mitte, sagt sie. Es ist ihr nichtgegeben, das Bett unbeschadet an Hindernissen vorbeizusteuern,sie stoen an jedem Pfosten an, an jeder Ecke, an jederFahrstuhltr, Schwester Evelyn sagt jedesmal: Hoppla! undzuckelt mit dem Bett hin und her, die Patientin verzieht dasGesicht, Evelyn sagt: Tut weh, nicht? Ja, das glaub ich!, undfuhrwerkt weiter. Es stellt sich heraus, da sie noch nie in derradiologischen Abteilung war, sie ist ja erst im zweiten Lehrjahr,sie macht ja hier zum erstenmal ein Praktikum.

    Die Patientin wei nicht, wie das Krankenhaus von auenaussieht, aber allmhlich begreift sie, es mu sich um einenKomplex von Gebuden handeln, die durch lange Betongngemiteinander verbunden sind, die ihr merkwrdig bekannt

    vorkommen, die ihr nichts Gutes verheien. Angstvoll entziffertsie die weien Buchstaben auf den Leuchtschriftpfeilen, dienach STATION B1 zeigen oder nach der PHYSIOTHERAPIE,einmal auch zum RNTGEN, aber das alles suchen sie ja nicht.Die regulre Arbeitszeit scheint zu Ende zu sein, sie treffenkeinen Menschen mehr, Schwester Evelyn fragt sich schon laut,ob sie wohl jemals ankommen wrden, die Patientin versuchtdie Panik zurckzudrngen, die dicht unter der Oberflche ihresBewutseins lauert, da tauchen wie eine Vision zwei Gestaltenvor ihnen auf, junge Frauen in hellen Blusen und schwingendenSommerrcken, sie gehen, beinahe hpfend vor Lebenslust,miteinander schwatzend und lachend den dsteren Ganghinunter, von jeder Art Furcht unangefochten, undwunderbarerweise wissen sie, wo die Abteilung ist, die siesuchen, genau und zuvorkommend beschreiben sie den Weg.

    Allerdings seien wir ein wenig in die Irre gegangen. Als

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    Schwester Evelyn mit dem Bett in den Gang einbiegt, dertatschlich mit dem Pfeil RADIOLOGIE gekennzeichnet ist,spre ich, da mir Trnen ber das Gesicht laufen, zum

    erstenmal in all den Tagen wie viele knnen es eigentlich sein:fnf? sechs? , seit die Landrztin, die man gegen ihren Protestendlich gerufen hatte, schon von der Tr her die Diagnose

    benannt hatte: Aber das ist doch Blinddarm! und sofort,wieder gegen ihren Einspruch, einen Krankenwagenherbeitelefonierte, der sie auf holprigen Straen in eineGegenwelt fuhr. Jetzt ist sie ziemlich weit herunter, in jedemSinn. Dann schreit sie auf, es kommen blinkende Ungeheuer auf

    sie zu, viereckige plumpe Roboterfahrzeuge, die eine roteSignallampe darf man sagen: auf der Stirn? haben, mit dersie aufgeregt blinken, whrend sie direkt ihr Bett ansteuern.Vorsicht! ruft sie, und Schwester Evelyn sagt gleichmtig: Ach,die Dinger!, woraufhin die Monster ganz dicht und surrend anihnen vorbeirumpeln. Was war das! Aber das sind dochunsere Container, computergesteuert, die transportieren uns das

    Essen und die Bettwsche, komisch sind sie ja, aber ganzpraktisch.

    Als sie endlich in den Raum geschoben worden ist, in dem diegroe Maschine steht, still und drohend, das bermonster, musie nur noch von ihrem Bett auf die Pritsche kommen, wieder soeine Unmglichkeit, ist ja auch kaum jemand da, um zu helfen,

    Notbesetzung, hrt sie. Man habe nur noch auf sie gewartet. Siekaut an dem Wort Not herum. Ein junger Arzt zeigt ihr eine

    Kanne: Dies msse sie nur noch schnell trinken. Aber das knnesie nicht, sagt sie erschrocken. Sie mssen. Genau dieseFlssigkeit werde noch als Kontrastmittel gebraucht. Sie setztdie Tasse an, etwas rinnt in ihren Mund, das scheulicherschmeckt als alles, was sie bisher essen oder trinken mute.Hintereinanderweg schluckt sie. Sie hat die Tasse noch nichtabgesetzt, da kommt alles, was sie eben, und dazu das, was sievorhin hat trinken mssen, in einem Schwall wieder heraus, ihr

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    Hemd, das Laken, den Fuboden beschmutzend, peinlich underleichternd. Zwei Schwestern wischen an ihr herum, pltzlichgibt es sogar ein frisches Hemd, sie sagt: Nun ist alles umsonst

    gewesen, aber der junge Arzt will nicht aufgeben. Er werde ihrjetzt ein Kontrastmittel spritzen. Warum nicht gleich, denkt sie,sagt sie nicht. Warum diese Trinkfolter, der Schwedentrunk.Und antwortet sich brav selbst: Weil die Spritze die zweite Wahlsein mag.

    Nun warten sie auf die Wirkung. Nun lt sie ihre Gedankeneilig und dringlich umherschweifen, auf der Suche nach einemGegenstand, an dem sie sich festhalten knnen, wenn man mich,wie ein Brot in den Backofen, in jene enge Rhre schieben wird,vor deren Schlund ich liege. Leider fllt mir nichts Trstendesein, leider ereilt ein Gedanke, dem ich bis jetzt ausgewichen bin,mich ausgerechnet hier, nun werde ich ihn nicht mehrabschtteln knnen: den Gedanken, da Urban verschwundenist. Jetzt, ausgerechnet jetzt, gelingt es mir nicht mehr, die

    Nachricht zu verdrngen, die mir vor kurzem durchs Telefon

    bermittelt wurde, von Renate, seiner Frau, die mir einmal nahewar, aber, da wir mit Urban den Kontakt gemieden hatten, auchfremd geworden ist. Ihre Stimme erkannte ich gleich, verstandaber nicht, was sie, in fliegender Angst, sagte: Hannes istverschwunden. Hannes? htte ich fast gefragt, gerade nochrechtzeitig fiel mir ein, da unser frherer Freund, den alle,selbst Renate, immer nur Urban genannt hatten, mitVornamen Hannes hie. An dem Ma meines Schreckens

    erkannte ich, da etwas Schlimmes geschehen war. Verschwunden, was heit das: verschwunden. Wie ich es sage:Er ist einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Von wo? Aus dem Institut. Wann? Vor einer Woche. Man suchtihn? Das kannst du annehmen. Mit allen Mitteln. In mir

    begannen alle Alarmglocken zu luten. Sie habe mir nurBescheid sagen wollen, damit ich es nicht aus der Zeitungerfahre. Als ob derartiges in der Zeitung stnde. Renate legte

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    den Hrer auf, ehe sie zu weinen begann. Ich sprte die alteZuneigung zu ihr wieder erwachen, und gegen Urban etwas wieZorn: ihr das anzutun. Und ein merkwrdiges Gefhl von

    Verantwortung, als mte ich ihm nachgehen. Nun geht er mirnach, bis hierher.

    Nicht nur, da man blo mit dem Kopf aus der engen Rhreherausguckt. Man knnte auch nicht weg, auch in grter Angstnicht, auch nicht in Todesangst, von der aber immer noch nichtdie Rede sein kann, nur eine Ahnung, da keine Klaustrophobientig wre, um in dieser Rhre Angst zu bekommen. Doch ltsie sich fernhalten, wenn ich mich auf die Kommandoskonzentriere, die eine unpersnliche weibliche Stimme von

    jenseits der dicken Glasscheibe ber Mikrophon zu mirhereinspricht: Einatmen Luft anhalten ausatmen. EineStimme, die keine Ahnung hat, wie schwer es sein kann, ihreeinfachen Befehle zu befolgen, wieder und wieder, nun schonzehn Minuten lang, denn die runde Uhr ber der Tr zu demdunklen Raum hinter der Glasscheibe habe ich im Blick, wenn

    ich den Kopf ein wenig nach links neige, whrend ich ihn etwasstrker nach rechts drehen mu, um das Wechselspiel grnlicherLinien und Daten auf dem Bildschirm des kleinen Computers zuverfolgen, das, zusammengesetzt und in richtiger Weisegedeutet, meinem Arzt, der es hoffentlich zu lesen versteht,wichtige Ausknfte ber das Geschehen in meinem Bauchraumgeben wird. Die belkeit, die mich immer noch wrgen lt,sprt der Computer nicht auf, aber, wenn wir Glck haben,

    meinte vorhin der Radiologe, werde er die Umrisse jenesAbszesses nachzeichnen, der fr mein Fieber verantwortlich sei.Glck hat er gesagt, und ich bin ernst geblieben. Ich werde ihmnicht sagen kaum wage ich es zu denken , da ich fast allesauf mich nehmen wrde, wenn ich dafr aus dieser Rhreherauskme. Wohin denn mit meinen hoch ber dem Kopfausgestreckten Armen, wo die Hnde ablegen, die einzuschlafen

    beginnen. Einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Ich versuche,

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    mich dem Rhythmus anzupassen, versuche, ein paar Atemzgenach eigenem Rhythmus einzuschmuggeln, versuche, verstohlenzu husten, wobei die unpersnliche, leicht verzerrte technische

    Stimme mich nicht ertappen soll. Einatmen lnger als nochmal fnfzehn Minuten kann es ja nicht dauern, wahrscheinlichnicht einmal so lange, es wre ja eine undenkbare, eigentlichfrevelhafte Zumutung. Bitte konzentrieren Sie sich. Esentgeht ihnen nichts.

    Ruhe. Ruhe Ruhe Ruhe. Jetzt nehme ich mich aberzusammen. Jetzt atme ich ganz mechanisch, wie die Stimme eswill, und lasse dabei die Bilder kommen, die von selbstaufsteigen. Wir drei, du, Urban und ich, kommen aus demHrsaal von Frau Doktor Langhans. Jetzt sehe ich uns, wie jungwir sind, einem Foto aus jenen Tagen nachgebildet, ich seheauch Urbans Lcheln, spter wirst du mich darauf hinweisen:Hast du es gesehen? Sein mokantes Lcheln? Du hattestnatrlich gehrt, was ich zu Urban gesagt hatte: Heute warst duaber gut, worauf er, mit diesem mokanten Lcheln, erwidert

    hatte: Man tut, was man kann. Und du, als wir ber dieSaalebrcke gingen, im Dunkeln: Er spielt doch Beteiligtsein. Ermacht sich doch lustig, merkst du das nicht: ber den Text, dieLanghans, uns alle, dich. Ich merkte es nicht. Ich wollte es nichtmerken. Nicht nur mokant, sagtest du. Diabolisch. Da war dasWort ausgesprochen, ich widersetzte mich ihm, um so strkerhakte es sich in mir fest. Wir haben Jahre gebraucht, ehe dasWort zwischen uns wieder aufkommen konnte, und ich

    meinerseits habe Jahre gebraucht, ehe ich dir anvertrauenkonnte, was mir an Einsicht ber Urbans Grundmangel undGrundkummer zuteil geworden war, als er bravours den Textinterpretierte, mit dem wir anderen kaum zurecht kamen:Schwere Stunde von Thomas Mann hatte Frau Langhans frihr Sprecherziehungsseminar gewhlt, ein schwieriger Text, siegab es zu, ein Autor beschreibt die Krise eines anderen, eineCamouflage, hinter der er seine eigene Krise halb versteckt, halb

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    offenbart. Schwer zu lesen. Doppelbdig. Urban vollbrachte dasKunststck. Ich behielt die Gewchshuser des BotanischenGartens im Auge, in dem Friedrich Schiller herumspaziert sein

    mochte, whrend er am Wallenstein schrieb, und auf den nundie Fenster unseres kleinen Hrsaals hinausgingen, umniemanden merken zu lassen, da mir die Trnen kamen, nichtnur aus Mitgefhl mit den geistigen und krperlichen Qualendes Friedrich Schiller, sondern auch, und hauptschlich, wegendes leisen Zitterns in Urbans Stimme. Urban, mein lieber Freundund Kupferstecher. Ich hatte damals das scharfe Gehr fr alleseine uerungen, hab mich nicht irrefhren lassen durch das

    Tremolo in seiner Stimme, wenn er Wrter wie gottverlassen,Irrsal und heiliger Gram der Seele lesen mute oder denSatz: Der Schmerz Wie das Wort ihm die Brust weitete!

    Nein. Diesen Satz hat er noch mit einer gespieltenMitgenommenheit lesen knnen, die jeden tuschen mochte, nurdich nicht. Und mich auch nicht, die ich andere Grnde hatte alsdu, ihm auf den Mund zu schauen. Er hat mich nicht tuschen

    knnen, nicht ber seine Falschheit, dann aber auch ber seineEchtheit nicht, als er an den Satz kam, der ihn zu berraschen,mehr noch: zu berrumpeln schien: Das Talent selbst war esnicht Schmerz? Die winzige verrterische Pause nach diesemSatz, der eine tiefe Atemzug die waren kein Kunstgriff. Diehattest du, durch dein Vorurteil gehindert, nicht bemerkt odernicht richtig deuten knnen. Ich aber bemerkte sie und verstandsie auch, weil die Frage mein Inneres traf wie das von Urban,

    und weil ich, widerstrebend und ohne Selbstvertrauen, ganzleise eine andere Antwort zu vernehmen begann als er. Ernmlich, das hatte ich begriffen, war der vernichtendenWahrheit innegeworden, da er kein Talent hatte, was er mehrals alles andere ersehnte, und da keine Macht der Welt, auchseine eigene brennende Begierde nicht, imstande war, diesemMangel abzuhelfen. Er tat mir leid, fast versprte ich eine ArtSchuldgefhl, darum schlug ich die Augen nieder vor seinem

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    mokanten Lcheln, hinter dem er sich, wie immer, verbarg, alswir uns vor der Universitt verabschiedeten, und darum, Lieber,war ich ergriffen. Erst spter habe ich gelernt, mich zu frchten

    vor der Rachsucht der ehrgeizigen Talentlosen und danngrndlich.

    Nicht mehr atmen. Endlich erlischt die grnflimmerndeGrafik auf dem Bildschirm. Keine Sekunde lnger htte ich esertragen. Eine mnnliche Mikrophonstimme redet mich sachlichmit meinem Namen an. Wir wrden jetzt eine Pause machen.Die Hlfte htten wir schon hinter uns. Nun gehe es nur nochum Detailaufnahmen einer bestimmten Partie in meinemBauchraum, die man sich genauer ansehen wolle. Ob ich nochknne. Unglubig hre ich mich ja sagen und verachte michsofort dafr. Da ich niemals nein sagen kann auf solcheFragen. Allein die Vorstellung, die ausgerenkten Arme nochweitere zehn, zwanzig, dreiig Minuten hoch ber den Kopfgestreckt zu halten. Oder dieses Ausgesetztsein in einemStrahlenkfig, von dem jeder andere sich fernhalten mu. Ich

    hre die Tr gehen. Schritte. Eine mnnliche Stimme, derRadiologe. Er werde mir etwas unter die Hnde geben, damit ichsie auflegen knne. Eine Welle von Dankbarkeit berflutetmich. Er hat es bemerkt, er kommt herein, er schafft Abhilfe.Man brauche noch genauere Werte. Es zeichne sich da etwas ab.Der Chirurg werde diese Information zu schtzen wissen.

    Der Chirurg ist also beschlossene Sache. Ich veratme micheinmal, noch einmal, die junge mnnliche Stimme bernimmtdas Mikrophon, befiehlt mir vterlich, ganz ruhig zu sein. Michzu konzentrieren. Einatmen Luft anhalten ausatmen. Esklappt. Ich finde den Rhythmus wieder, hre auf zu denken.Eine Frage steht im Raum: Was ist Menschenglck?Aufsatzthema einer Lehrerin, die von uns lesen wollte, Deutschezu sein sei unser hchstes Glck.

    Das habe ich Urban erzhlt, in jener Frhzeit, in der ich dich

    noch nicht kannte, tatschlich, ich kannte ihn eher als dich, und

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    ich mu ihm Dinge erzhlt haben, die spter dir vorbehaltenwaren, wir standen vor der Mensa, in jener versunkenenFrhzeit, in die ich jetzt nur wegen meiner totalen Ohnmacht

    eintauche, eingetaucht werde, da ich keinen Widerstand leistenkann, total ist hier das richtige Wort, sonst kann ich es nichtmehr verwenden, es ist verbraucht durch die eine schauerlicheFrage, die schwingt nun, generationsgebunden, in jedem Satzmit, in dem das Wort total vorkommt, total verrckt, totalerschpft, hre ich die Leute sagen, erst heute die jungeLernschwester Evelyn: Das sei wieder mal total berflssiggewesen ich wei nicht, was, und sie mag recht haben,

    vollkommen berflssig mag vieles von dem sein, was man ihrsagt oder zu tun aufgibt, aber total ist nur der Krieg. Allerdingsauch total berflssig. Was ist Menschenglck, heute. Die Fragestellte ich Urban vor der Mensa, er lachte, er sagte, karikierteden Versammlungston, leicht schselnd: Nun was schon,Genossin. Der Kampf gegen die Unterdrcker! Ich lachte, duwirst es nicht glauben, einst konnte man mit Urban ganz gut

    lachen, ein Wort wie diabolisch wre uns nicht in den Sinngekommen, da trat Lorchen heran und kndigte dich an, ichblickte auf, da standest du in deiner verwaschenenLuftwaffenhelferjacke auf der Treppe und sahst Lorchenunwillig an, blicktest dann prfend auf mich, und das war derBlick. Das Bild glitt in mein inneres Archiv zu denunzerstrbaren Stcken. Ausatmen, nicht mehr atmen.Menschenglck ist alles auerhalb dieser verfluchten Maschine,

    auerhalb dieses Raumes mit den zwei fest verschlossenenStahltren.

    Wieder im bekannten, beinahe vertrauten Zimmer zu liegen,egal an wie viele Schluche angeschlossen, es scheinen immermehr zu werden, sie verliert die bersicht. Wenn sie nicht soschwach wre, wrde es sie wohl faszinieren, da man lebenkann, ohne zu essen und ohne auszuscheiden. Da man Tageund Nchte lang bewegungslos auf dem Rcken liegen kann. Du

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    bist pltzlich wieder da, stehst am Bett, interessierst dich,Betroffenheit verbergend, fr die Einschrnkungen, die dusiehst. Nein, sage ich, die eigentliche Tortur ist etwas anderes.

    Ich erzhle dir, Grauen in der Stimme, vo n der Maschine, die iminnersten Innern dieses Hauses lauert, der Minotaurus imLabyrinth. Du bist irritiert, das sehe ich dir an, du zweifelst,gleich wirst du einen deiner Aber-Stze sagen gegen meinebertreibung immer, da sagst du schon: Aber nun wissen siewenigstens, wo sie operieren mssen, das habe der Chefarzt dirgesagt. Du habest ihn also schon wieder gesprochen? Ihrseid verabredet gewesen. Aha.

    Morgen frh. Morgen frh, wenn Gott will, wirst du wiedergeweckt. Zu den auerordentlichen Eigenschaften der Mutterhat ihre schne Stimme gehrt. Ein Sopran. Warum weinst du,holde Grtnersfrau.

    Du sagst ja nichts.

    Ich hre.

    Es mu sein.

    Wer hat das gesagt: Du? Der Chefarzt, der auch schon wiederan ihrem Bett steht? Morgen frh also. Beide sehen sie an, alsmte sie jetzt etwas uern, Zustimmung oder Protest. Aber siewill sich nicht ber Knftiges beklagen, nur ber Gewesenes.Sie beklagt sich ber das Getrnk. ber die Unmenge. DieZumutung, nach so langer totaler Enthaltsamkeit diese Unmengetrinken zu sollen. Das kann man nicht, sagt sie beschwrend, fr

    alle jene mit, welche die gleiche Zumutung noch erfahrenwerden. Ja, sagt der Chefarzt in seiner unerschtterlichenHflichkeit. Das sehe er ein. Aber in den Tomographen habe ersich selbst schon einmal, probeweise Er bricht ab. Sie hltihm zugute, da er abbricht und sich selber ins Wort fllt.Probeweise. Er spricht die Anfhrungszeichen mit. Das sei wohldoch nicht das Wahre. Kann ein Chefarzt und leitender Chirurgverlegen sein?

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    Sie hat das kleine blaue Buch in der Hand. Es ist leicht, siekann es mit der Rechten halten und mit der Linken, dem Arm,der an den Schluchen hngt, vorsichtig darin blttern. Hier

    winden sich Kronen in ewiger Stille / Die sollen mit Flle / DieTtigen lohnen.

    Siehst du, das habe ich gesucht. Du sagst, wir htten einenwechselhaften Sommer. In meinem Gehirn schnurrt eineWortreihe ab, wechselhaft sprunghaft flegelhaft bubenhaftflatterhaft floskelhaft schmerzhaft. Leibhaft. Du fragst, was duselten fragst, weil diese Frage mir vorbehalten ist, es mu etwas

    passiert sein, da jetzt du sie stellst: Was denkst du. Und nun,das ist eigentlich traurig, wei ich beim besten Willen keineAntwort.

    Ich habe, das weit du, immer guten Willen, hufig denallerbesten Willen gehabt und auch gezeigt, schlielich nur nochgezeigt, denn, ich kann es nicht leugnen, allmhlich ist meinguter Wille, zu hufig benutzt, schadhaft geworden,aufgebraucht und abhanden gekommen. Nun kann ich, frei von

    gutem oder schlechtem Willen, frei von jedem Anflug vonWillen, dich ansehen und mit den Augen verneinen. Du mgestablassen von deiner Frage. Sie ist zu spt gestellt. Oder zu frh.Vor kurzem noch htte ich mir Mhe gegeben zu antworten, umdich nicht zu verletzen, jetzt bin ich, durch Kraftlosigkeit, jederMhe enthoben. Nicht einmal staunen kann ich, da ich hierhergeraten mute, auf den Boden dieses Schachtes, damit mirSorgen und Mhen vergehn. Eine Ahnung will mir aufdmmern,als sei diese ganze aufwendige Veranstaltung aus keinemanderen Grund inszeniert. Die Ahnung verblat. Bleicht aus.Bleiches Gefilde. Gespensterhaft. Eulenhaft. Traumhaft. Geh,sag ich zu dir. Bitte geh. Schemenhaft. Schauderhaft.Scheusalhaft.

    Wieder die Flut, ein reiender Flu, grauenhaft, fieberhaft,zwanghaft, es gibt kein Halten. Hoch, sagt eine weibliche

    Stimme, sehr hohe Temperatur, ohnmchtig treibe ich in dem

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    wilden Wasser, da steigen zwei Wrter auf, berhren einenwinzigen Fleck in meinem Bewutsein, widerstehen derreienden Strmung, setzen sich fest, jetzt kann ich staunend

    denken: Ich leide. Ich bewege die Lippen, versuche dieErkenntnis auszusprechen: Ich leide.

    Ja, sagt die Stimme des Chefarztes nchtern. Ich wei.

    Das ist ein wichtiger Augenblick. Ich leide, ein anderer weies. Kein Gehabe von mir, kein Getue von ihm. Nur was der Fallist.

    Wadenwickel, Schwester Christine, seien Sie so gut,

    versuchen Sie es damit. Im Notfall die Spritze.Und erst spt abends, in der Nacht aber die Tages- und

    Nachtzeiten sind in Auflsung begriffen , wird die Flut sinken,schattenhaft wird der Raum auftauchen, kaum beleuchtet vondem viereckigen Nachtlicht an der Fuleiste neben der Tr, siewird, klitschna und entkrftet, in ihrem Bett-Boot liegen, dasschwankt, aber standhlt, der Galgen mit den beidendurchsichtigen Flaschen ber ihr, das bleiche Fensterviereck,halb vom Vorhang abgedeckt, und rechterhand auf dem

    Nachttisch der kleine schwarze Block, das Radio, nach dem siegreifen, das sie zaghaft anstellen wird, gewrtig, da wieder einFlugzeug aus allen Himmeln gestrzt oder ein atomgetriebenesU-Boot vor einer nrdlichen Kste auf Grund gelaufen ist, daeine Geisel in einem entfernten Teil der Welt tot aufgefundenoder ein Mensch in einem nahen Teil der Welt auf der Flucht

    erschossen wurde, da also der Lauf der Welt, den jeder Menschauer ihr anscheinend aushlt, normal weitergegangen ist.Gefat auf all dies, bereit, den kleinen Aus-Knopf sofort wiederherunterzudrcken, kommt, glckhaft, ein reiner zarterGeigenton, dem ein ebensolcher, um eine Quinte hher, folgt,dann wieder einer und wieder einer, ein Ba nimmt den erstenTon auf, dunkel und klangvoll tritt eine Klarinette, ihrLieblingsinstrument, hinzu, nun haben sie den Tnen ein

    spinnwebfeines Netz geknpft, jetzt legen sie ihnen zauberhafte

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    Wege, sogar eine Trompete findet sich in diesem Zauberlandzurecht, ganz hoch versteigt sie sich und hebt mein Herz mit an,fehlt nur noch das Klavier, das hat sich zurckgehalten, bis zum

    uersten, jetzt ist es da, begleitet und vereint das wundersameGemisch der Tne. He, Leute, was ist Menschenglck.

    Auch ihr Gesicht ist na, behutsam tupft eine Hand es ab,behutsam wird ihr Hemd gewechselt, das Laken, dieBettwsche. Die stille namenlose Nachtschwester hat Hilfe

    bekommen, eine dunkle junge Frau geht ihr zur Hand, sie istschn, ihre Schnheit liegt in ihren leichten, fast scheuenBewegungen, mdchenhaft, lebhaft, gewissenhaft, mehreres,was sonst kaum zusammengeht, hat sie in sich zu vereinengewut. Vor allem hat sie tiefbraune Augen, wie ich sie noch niegesehen habe, das sage ich ihr. Sie lchelt, unverlegen. Sie sitztauf dem Bettrand, legt mir die Hand auf die Stirn, mtterlich,aber sie ist doch um so vieles jnger, sie knnte meine Tochtersein. Sie sei ihre Ansthesistin, sagt sie. Sie werde ihr morgenfrh zu einem guten Schlaf verhelfen. Sie werde da sein, wenn

    sie aufwache. Sie solle versuchen, in guter Verfassung in dieNarkose zu gehen, denn wie man hineingegangen sei, kommeman auch wieder heraus. Sie werde sie aufmerksam begleiten,sie knne sich darauf verlassen. Nein, Frau Doktor solle sie sienicht nennen, den Titel habe sie nicht. Sie heie Bachmann,Kora Bachmann. Beziehungsreicher Name. Das versteht sienicht. Einige Ausknfte brauche sie noch, ich gebe sie ihr, sogut ich kann, das meiste stehe ja, sagt sie, sowieso in meiner

    Akte, nur vergewissere sie sich lieber selbst, ob jemand zumBeispiel nicht allergisch gegen das Narkosemittel sei. Sie mssesich der Vertrglichkeit des Mittels fr diesen Patientenvergewissern, aber, sagt Kora, wer wolle denn ein Gift, das ja

    jedes Narkosemittel nun mal sei, vertrglich nennen?Merkwrdig. Selbst solche heiklen Themen kann sie aufbringen,ohne da meine Angstabwehr sich einschaltet, denn wie knnteein Mittel, das Kora mir spritzen wird, ganz und gar

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    unvertrglich fr mich sein.

    Sie wird mich also fhren, ins Dunkle, in den Hades, einweiblicher Cicerone, sie wird auf mich achten, meinen

    Herzschlag bewachen, ich bin beruhigt. Wie lang diese Nchtesind, sagt sie noch, und Kora sagt, ja. Ihre Nchte seien aufandere Weise lang, wenn sie nmlich Nachtdienst habe, wieheute. Und dann morgen frh gleich in den OP!, sagt diePatientin bedauernd, ach, sagt Kora, man bleibe in der bung,und ein paar Stunden Schlaf kriege sie heute nacht allemal.

    Whrend ich mir Koras Nacht vorstelle, mich eiferschtig

    frage, ob sie auch zu den anderen Kandidaten, derenAnsthesistin sie morgen sein wird, so freundlich ist wie zu mir,ob sich die gleiche Nhe zwischen ihnen einstellt, schlafe ichein. Den Satz: Verla mich nicht, dunkle Frau! mu ich schonim Traum vernommen, wohl selbst gesagt haben, freudig undtraurig zugleich, und dann habe ich sie, Kora, dazu gebracht,noch in derselben Nacht mit mir durch die Stadt zu wandern,richtiger: zu schweben, denn wir bewegten uns mit groer

    Leichtigkeit immer einen Zentimeter ber dem Boden. DerBefehl, der mir so oft gegeben worden war: Nun bleib aber malauf dem Teppich!, der galt nicht mehr, ganz leicht schwebtenwir aus dem breiten Fenster unseres Berliner Zimmers hinunterin den nachtdunklen Innenhof, auf den nur ein schmalerLichtschein aus dem fnften Stock des linken Nebengebudesfiel, aus der Kche von Frau Baluschek, die zu diesernachtschlafenden Zeit eigentlich im Bett sein sollte, da sie imAuftrag der Kommunalen Wohnungsverwaltung fr wenig Gelddie Treppen im Vorderhaus reinigt und sich aus eigenemAntrieb abrackert, in unserem Hausgeviert fr Ruhe undOrdnung zu sorgen, was ihr, bei diesem gemischten Publikum,so drckt sie sich aus, wahrhaftigen Gottes nicht immer leichtgemacht wird, besonders wenn sie an die neuen Mieter denkt,Vorderhaus dritter Stock rechts, fr deren Benehmen es keine

    Worte gibt, oder nur ein Wort, ein einziges, das auszusprechen

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    sich Frau Baluschek nicht scheut: a-so-zi-al. Diese Asozialensind zu faul, ihren Dreck wenigstens in die Mlltonnen zuwerfen wie jeder normale Mensch, die mssen ihn

    danebenschmeien. Bald werde der ganze von ihr mhsamsauber gehaltene Hof mit Unrat berst sein.

    Die laufen doch alle nicht ganz rund, sagtest du, als dasHofgeschrei zwischen Frau Baluschek und den neuen Mieternber uns losging, und machtest alle Fenster zu, und ich dachtenicht daran, mich mit dieser Frau anzulegen, der ich mit Hilfevon Kaffee- und Zigarettenpckchen aus dem Intershop imErdgescho ihr gegen dich und mich schwelendes Mitrauenallmhlich genommen hatte. Aber saubere oder verdreckteInnenhfe sind mein Problem nicht, nicht in dieser Nacht, wirschweben, die dunkle Frau und ich, im bleichen Licht desMondes, der ber dem Friedrichstadtpalast aufgeht, von denBerlinern wegen seiner Fassadengestaltung Khomeinis Rachegenannt, die endlich einmal stille Friedrichstrae hinunter,vorbei an der Baulcke rechterhand, die noch vom Krieg

    herrhrt, am Hotel Adria vorbei, das immer mehr zu einemdsteren zwielichtigen Schuppen verkommt, umschwebenrespektlos den bronzenen Brecht auf seiner Bank vor demBerliner Ensemble, er beobachtet uns listig aus denAugenwinkeln, stellt sich aber tot, eine bewhrte Strategie, dienicht jedem freisteht. Entweder ganz oder gar nicht, sage ich zuKora, die mir beipflichtet und sich, ein trstlicher Schatten, anmeiner Seite der Spree nhert.

    Dort steht, umschlungen, ein Paar. Prchen wre falsch,dieses Paar ist nicht blutjung, auf Anfang bis Mitte Dreiigschtze ich beide. Ihre Kleidung allerdings, das wird mir beim

    Nherkommen deutlich, verweist sie auf ein frheres Jahrzehnt,an den Hten kann man es erraten. Dreiiger Jahre, sage ich zuKora. Die sieht das auch so. Hinter dem Paar schweben wir berdie Weidendammer Brcke. Am Preuischen Adler bleiben die

    beiden stehen, lehnen sich ber das gueiserne Gelnder und

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    blicken hinunter in die Spree. Ich, dicht neben der sehrreizvollen jungen Frau da sie mich nicht sehen kann, verstehtsich merkwrdigerweise von selbst , ich blicke ihr ins Gesicht

    und erschrecke, wende mich zu meiner Begleiterin: Aber das istdoch Kora legt den Finger auf die Lippen. Ich soll schweigen.

    Ich schweige. Ich falle in eine tiefe Verwirrung, da dieZeitebenen einander heillos durchdringen, aber wieso heillos.Mit den beiden, die ich zu kennen meine, aber nicht nennendarf, weil ich sie mit ihrer Namensnennung in Gefahr bringenwrde mit diesen beiden Ungenannten nhere ich mich derkleinen Grnanlage jenseits der Spree, die jenes frUnberechtigte unzugngliche flache Gebude umgibt, das sieden Trnenbunker nennen, ich denke, ja, natrlich, hierherstreben die beiden, sie wollen fliehen, das ist mir auf einmalklar, sich durch diesen Ausgang in Sicherheit bringen, einGlck, da es ihn gibt, hoffentlich haben sie gltige Visa,hoffentlich ist noch nicht Mitternacht, dann ist doch derGrenzbergang geschlossen. Da trifft es mich wie ein Schlag:

    Was wollen die denn drben, der Mann ist als Jude doch drbengenauso gefhrdet wie hben, wo leben die denn, und wo lebeich, in welchem Zeitalter. Ich rufe: Kora!, aber sie ist weg, ichrufe: Verla mich nicht!

    Nein, nein, sagt eine Stimme. Dies ist weder Kora Bachmannnoch Schwester Christine, dies ist ein ganz anderes Wesen, dasim gefilterten Morgenlicht mitten in meinem Zimmer steht, anmein Bett tritt, mir eine breite, schwammige Hand gibt, mirnachdrcklich, ein wenig nuschelnd, einen guten Morgenwnscht und dann, indem sie ja, es ist ein weibliches Wesen sich um ihre eigene Achse dreht, grndlich einen jedenGegenstand in meinem Zimmer mustert, mich eingeschlossen,zustimmend, will mir vorkommen. Sie sagt: Ich bin die Elvira,zerrt mit Getse den leeren Abfalleimer aus der blechernenUmmantelung heraus, bringt ihn auf den Flur, um ihn zu leeren,

    kommt schnell zurck, um, wiederum unter erheblichem Lrm,

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    den Eimer in sein Gehuse zurckzubugsieren, tritt wieder anmein Bett, gibt mir wieder die Hand: Alles Gute auch, undtschs! Ich sehe die Deformation in Elviras Gesicht, ich spre

    den laschen Druck der unfrmigen Hand, irgendein Formwillehat sich in ihrem Krper nicht durchsetzen und ausdrckenknnen, aber etwas wie Sympathie durchschimmert ihreGesichtszge. Ich sage: Danke, Elvira. Und tschs. Bis spterdann, nicht? sagt Elvira. Ich sage: Ja. Bis spter.

    Schwester Christine rgert sich, da sie es nicht hatverhindern knnen, da Elvira so frh schon zu mirhereingetigert kam. Sie habe ihr gesagt, sie solle mich schlafenlassen, aber sie ist neugierig, wissen Sie, man kann sie nicht

    bremsen. Schwester Christine will selber nach den beidenTropfflaschen sehen, sie will die beiden Drains, die aus derBauchwunde herauskommen, selber kontrollieren, die Beutelauswechseln, in denen sich die Flssigkeit sammelt. Dannberlt sie die Patientin Schwester Margot, die ein wenig zudick ist, ein wenig zu laut auftritt und jetzt, am frhen Morgen,

    schon nach Schwei riecht, wenn sie sich ber sie beugt, um siezu waschen. Sie spricht, zu laut, von ihr in der Mehrzahl: Daswerden wir gleich hinter uns haben, das Bein knnen wir dochein bichen anheben, wie? Wir wollen doch schmuck sein frdie Herren im OP, was? Endlich ffnet sie das Fenster und geht,erleichtert atme ich die frische Morgenluft. So, sagt SchwesterChristine, und nun die berhmte Spritze, bald wird Ihnen allesangenehm gleichgltig sein. Denken Sie immer, das ist das

    letzte Mal unterm Messer. Nur das Mullhubchen mu sie ihrnoch aufsetzen, ihr Haar darunterstecken, das ihr zum Glck einFriseur gerade viel zu kurz geschnitten hat, und leider ist esdann wieder Schwester Evelyn, die, adrett und perfektgeschminkt schon am frhen Morgen, ihr Bett, an jeder Eckeanstoend, in den OP schiebt. Wir seien frh dran, aber machtnichts. Ich sei sowieso die erste.

    Wahrhaftig kein Grund, sich geschmeichelt zu fhlen, im

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    Operationssaal wird die Reihenfolge sicher nicht nach Verdienstund Wrdigkeit festgelegt, sondern zum Beispiel nach derSchwere des Falles. Sie kann sich noch ein bichen mit dem

    Doppelsinn dieses Satzes beschftigen, dann kommt, ganz inGrn, in dunkles Meeresgrn gekleidet, die OP-Schwester. Sostellt sie sich vor: Ich bin hier die OP-Schwester, und sie fngtan, in leichten, kurzen Stzen mit ihr zu reden. Sie hrt sichantworten, aus einiger Entfernung, mit knappen Worten. Sieerfhrt, durch eine dichter werdende Watteschicht, da dieSchwester heute zum erstenmal wieder Dienst macht. Da siewochenlang krank geschrieben war, wegen einer Hepatitis, die

    sie sich im OP geholt hat. Da sie zwei Kinder hat und ihr MannTechniker ist. Die Patientin sagt: Ach? Und: Ja?, und: Wieschn fr Sie, und sie sieht, wie die Schwester mit dem Rckenzu ihr an dem Glasschrank hantiert, Spritzen aufzieht, flinkeHandgriffe macht.

    Ein Mann kommt herein, durch die Tr, auf derOPERATIONSSAAL 1 steht, ebenso dunkelgrn verkleidet, mit

    einem grnen Kppchen auf dem Haar, das, wie man jetztdeutlich sehen kann, an den Schlfen grau wird. Er will sie nochbegren, ehe sie einschlafe, es ist der Chefarzt, er drckt ihr dieHand, er blickt fragend zur Schwester, die sagt: In Ordnung. Ichhabe mit ihr geredet. Die Patientin begreift, da es zumAufgabenbereich dieser Schwester gehrt, mit ihr zu reden, esstrt sie nicht. Schn, sagt der Chefarzt. Es wird alles gut gehen.Sie sagt: Aber ja. Was sonst, denkt sie leicht ironisch.

    Die Invasion des Wrtchens gut hat den Operationssaalerreicht. War nicht gut gut gut der Grundreim, auf den dieKindheit getrimmt war? Gut? hat Urban mich einmalangeschrien, ja bist du denn naiv? Gut ist das brgerlichste Wortberhaupt. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, dieallerbrgerlichste Leier, der Katechismus des Kleinbrgers, dersich an dem Wort gut zum Un- und bermenschen

    hinaufsteigern wird. Dann aber, habe ich ihm, damals noch

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    schchtern, erwidert, dann wird er doch das Wrtchen gutlngst hinter sich gelassen haben. Wie du. Wie wir, verbesserteich mich. Und Urban, dnnlippig, erwiderte: Pa auf, was du

    sagst.Die dunkle Frau, ganz in Meergrn. Als ob wir alle, sagt die

    Patientin, leicht lallend, in einem Aquarium unter Wasser sind.Das knne einem so vorkommen, sagt Kora und fragt, ob allesokay sei. Sprache der Jungen. Ja, sagt sie. Alles ist okay.brigens habe ich von Ihnen getrumt. Oje, sagt Kora und lacht,ihre Augen, braun und glnzend, lachen nicht mit. Auch ihr

    berichtet die OP-Schwester, whrend sie ihr den Mundschutzhinten zuknotet, sie habe mit der Patientin geredet. Die dunkleFrau nickt. Wir knnen, sagt sie. Pltzlich ist noch ein grnesWesen da, ein Mann, der die Trage hinten anschiebt, die beidenFrauen begleiten sie an den Seiten, geordnete Formation.

    Die Tren des Operationssaals ffnen sich. Die groen hellenMetallampen an der Decke. Drei grn vermummte Mnner miterhobenen Hnden. Das ist ein berfall. Sie reden ber ihre

    Grten. Rosen, sagt der eine, fast alle bekannten Sorten. Das istder Chefarzt, sieh mal an, Rosen. Der zweite sagt: Keinenknstlichen Dnger!, und der dritte wehrt ab: Einen Garten? Nieim Leben. Dabei halten sie die Hnde hoch, als seien nicht siedie Tter, sondern die Opfer, die sich ganz und gar ergeben. DerChefarzt, whrend er weiter ber Rosen spricht, beobachtetgenau, wie sie sie zu dritt auf den Operationstisch gewuchtet (sosagte der Pfleger: Wollen wir sie mal rberwuchten) und siedamit in jene Zone verbracht haben, in der nicht mehr mit ihr,nur noch ber sie gesprochen wird: Ist sie ruhig? Ruhig. Knnen wir? wir knnen. Whrend die Schwester und derPfleger ihr Arme und Beine anschnallen, flstert sie der dunklenFrau zu: Jetzt habe ich Ihren Vornamen vergessen. Kora,flstert sie zurck. Ja. Das mu so sein. Kora flstert: Ichspritze Sie jetzt in den linken Arm, dann schlafen Sie ein.

    Trumen Sie gut.

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    Schlachtopfer Menschenopfer lasterhaft frevelhaft

    Ist es gleich bei diesem ersten, oder ist es beim zweiten,dritten und vierten Mal in den nchsten Tagen, da ich als

    wohlgestalter junger heiterer blonder Mann aus dem Fensterunserer Wohnung in der Friedrichstrae klettere, das sich sofortund endgltig hinter mir schliet, so da ich wehenden Haares,mit Jeans und einem hellblauen Hemd bekleidet, drauen aufdem schmalen Sims stehe, der das Haus umluft, wenig, sehrwenig Griffflche fr meine Finger finde, mich Zentimeter umZentimeter nach links bewege, auf den Balkon derorthopdischen Praxis zu, welcher mir, der oder die ich,anscheinend von keiner Menschenseele bemerkt, ber demtosenden Verkehr der Friedrichstrae hnge, als einzigdenkbare, wenn auch unwahrscheinliche Rettungsmglichkeiterscheint. Das Bild wird abrupt ausgeblendet. Der da jetzt solaut meinen Namen ruft, das kann doch mein Retter nicht sein,aber er hat mich wohl befreit, nun schafft er es, michwachzukriegen, natrlich hre ich ihn, laut genug schreit er ja,

    jetzt soll ich gegen den bleischweren Widerstand die Augenliderheben, whrend er nicht aufhrt, mich anzuschreien, ob ich ihnhre. Ja, Herrgott noch mal, ich hre ihn. Endlich gelingt es mir,den Kopf leicht nickend zu bewegen, was dem Mann zugengen scheint. Jetzt sehe ich ihn. Es ist der von den dreirzten, der keinen Garten haben wollte, der Lange, Mittelblondemit den wasserblauen Augen. Sie ist wach. Wollen wir nochwarten. Wir warten noch: eine zweite Stimme, von der

    Fensterwand her. Wachstation, begreife ich. Zone der drittenPerson. Tupfen Sie ihr das Gesicht ab, seien Sie mal sofreundlich. Befeuchten Sie ihr mal die Lippen. Reicht ihr Tropfnoch aus?

    Ich als junger blonder Mann auf dem Sims da drauen bindem Balkon um keinen Millimeter nher gerckt. Ich muentweder wieder einschlafen, was ich so gerne tte, oder aus mir

    heraustreten. Sie scheinen miteinander beschlossen zu haben,

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    mich nicht einschlafen zu lassen, ehe ich nicht ein Wortgesprochen habe, am liebsten das Wort ja. Sind Sie wach?Bitte antworten Sie! Nur ich und der junge Mann da drauen

    auf dem Sims, wir wissen, wie tief ein Wort in einem Krpervergraben sein kann, welche Hindernisse ein Laut zuberwinden hat, ehe er den Kehlkopf passieren, mit dem Atemden Mund verlassen kann. Unter Rasseln und Ruspern bringeich etwas hervor, das sie, die guten Willens sind, fr ein Janehmen knnen. Ja doch, ich bin ja wach, aber ich will es nichtsein, und nun lassen sie mich auch wieder einschlafen. Flugs

    begebe ich mich zurck auf den Sims, als sei das nun ein fr

    allemal mein Lieblingsort auf Erden, und da hnge ich,angeklammert, in einen jungen schnen mnnlichen Krperverbannt, der aber, wenn ich meine Lage unvoreingenommen

    betrachte, zum Tode verurteilt ist. Er hat keine Chance, sagt eineStimme zu mir, ich frage: Wer, Urban? und hre die Stimme:Wer sonst. Das ist Renate. Wann hat sie so zu mir gesprochen.Das mu doch gewesen sein, als sie mir, tonlos, am Telefon

    gesagt hatte: Sie finden ihn nicht Willst du herkommen,hatte ich sie gefragt, zgernd, wir hatten uns jahrelang nichtgesehen, bemerkenswert, wie man sich in diesem kleinen Landaus dem Weg gehen kann. Sie kam. Die Fremdheit zwischen uns

    blieb, es war ein mhsames Gesprch, aber ich erfuhr, Urbanwar nach einer Versammlung in seinem Institut, in der er scharfkritisiert worden war, scheinbar ruhig zu seinem Auto auf demParkplatz gegangen und weggefahren. Einmal sagte Renate: Er

    hatte keine Chance. Ich verstand, aber ich sagte nichts. InBruchteilen von Sekunden hatte ich alles begriffen, sah allesvoraus und wute, da eben dies seine letzte Chance war: wegzu sein, unauffindbar. Ich sprte die alte Zuneigung zu ihrwieder erwachen, und gegen Urban etwas wie Zorn: ihr dasanzutun.

    Viel, viel spter hat Renate mir erzhlt, da nach einer derOperationen, die noch an mir vorgenommen wurden, ihr Bruder,

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    ein Arzt, zu ihr gesagt hat: Deine Freundin hat keine Chance.Da sie, Renate, in Trnen ausgebrochen war und ihnangeschrien hatte: Wenn denn wirklich nur ein Prozent der

    Patienten bei diesem Infekt davonkmen, dann werde eben ich,ihre Freundin, das eine Prozent sein. Worauf ihr Bruder leichtdie Achseln gezuckt habe: Wie du meinst. Er jedenfalls habegerade einen Fnfzehnjhrigen an dem sich unaufhaltsam inseinem Bauch ausbreitenden Eiterungsproze sterben sehen.Dieser Fnfzehnjhrige sa dann in mir fest, nachdem ich vonihm erfahren hatte, als schulde ich ihm etwas, vielleicht gar seinLeben, als sei ich an seiner Stelle gerettet worden.

    Vorgriff auf eine Zeit, in der das Wort Zeit wieder einenSinn haben, in der Zeit vergehen, sich bndeln oder ausbreitenwird, in der es Zeitgitter geben wird, Zeitgewinne undZeitverluste, Zeitabschnitte, Zeitpunkte und Zeitrume,Zeitmessung und Zeitfestsetzung, Halbzeiten und Verfallszeiten,in der es ein Vorher und ein Nachher geben wird, Tage, die ausMorgen und Abend werden, Gleichzeitigkeiten und

    Zwischenzeiten, in der ich mich zeitweilig absondern, dannwieder zeitgenssisch betragen, beizeiten anwesend sein, immerzur rechten (oder unrechten) Zeit kommen werde, in der ich mirZeit lassen oder begreifen wrde, da es allerhchste Zeit sei,den rechten Zeitpunkt treffen oder mich zur falschen Zeiteinmischen konnte, mich wie ein Vorzeitfossil empfinden, andas neue Zeitalter glauben oder im Gegenteil die Endzeit frgekommen erachten wrde.

    Jetzt aber gelten weder Urzeit noch Vorzeit, nicht die gute alteZeit und erst recht nicht die nchterne Jetztzeit, keine Neuzeit,keine Probezeit und kein Zeitgeschehen. Alle meine Zeitlichkeitist in Zeitlosigkeit versunken, meine Zeit verstreicht mir alsUnzeit, direkt aus dem Operationssaal ist sie mit ihremKrankenhausbett in eine Zeitlcke hineingeglitten, die von

    bleichem Zwielicht und Gesichtern erfllt, aber keiner

    Zeitrechnung unterworfen ist und in die auch die Gesichter, die

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