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CHRISTIAN BURTSCHER Fachbereichsarbeit Biografiearbeit im Pflegealltag

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RFachbereichsarbeit

Biografi earbeit im Pfl egealltag

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Fachbereichsarbeit

Biografiearbeit im Pflegealltag

Christian Burtscher

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RFachbereichsarbeit

Biografi earbeit im Pfl egealltag

Psychiatrische Gesundheits- und Krankenpfl egeschule in Rankweil

Verfasser: Christian Burtscher

Betreuungsperson: Gerhard Hipp

Bludenz, im Februar 2011

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Abstract

„Ich kann die Falten, die das Leben schreibt, viel besser lesen, wenn ich die Biografie

des älteren Menschen kenne und verstehe.“ (Schülerin eines Fachseminares für Alten-

pflege)

Jede Lebensgeschichte, jede Biografie, ist so einzigartig und so unverwechselbar, wie es

auch jede Person ist. Die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte dient dem Kennenlernen

und dem Verstehen des Menschen und ist unverzichtbarer Bestandteil der Lebensbegleitung

älterer Personen. Wenn sich der ältere Mensch mit seiner eigenen Lebensgeschichte beschäf-

tigt, ist das immer ein Erinnern, also ein aktives Gedächtnistraining. Das Gedächtnistraining

in vielfältiger Form und die Biografiearbeit haben längst Eingang gefunden in die tägliche

Arbeit in der Altenpflege und in den Fortbildungsveranstaltungen der Erwachsenenbildung.

Durch langjährige Erfahrung in der Arbeit mit älteren Menschen entstand schließlich die

Idee, Biografiearbeit und Gedächtnistraining miteinander zu verbinden und diese gezielt in

der Altenarbeit und Altenpflege einzusetzen.

Im praktischen Umgang mit dem älteren Menschen ist es deshalb notwendig zu wissen,

welche Ereignisse und Krisen hat diese Person im Laufe ihres Lebens erlebt und wie hat sie

versucht, mit diesen Belastungen und Einschränkungen fertig zu werden. Hat sie resigniert,

vermied sie jegliche Auseinandersetzung oder versuchte sie, das Problem zu lösen?

Es kann festgestellt werden, dass der Lebenslauf sich als Bildungsprozess gestaltet und zur

biografischen Identität führt: „In ihm gelangt das Individuum durch subjektive Verarbeitung

und Mitgestaltung der objektiven Gegebenheiten und durch Bewältigung der sich lebens-

geschichtlich stellenden Aufgaben zum Welt- und Selbstverständnis, aber auch zu einem

diesem Verständnis entsprechenden, verantwortlichen Handeln und zur persönlichen, bio-

grafischen Identität.“

„Am interessantesten ist die Innenseite der Außenseite.“ (Jean Genet)

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RInhaltsverzeichnis

1. Einleitung 6

2. Grundlagen 8

2.1. Problemstellung 8

2.2. Forschungsfrage 9

2.2.1. Ziel 9

2.3. Begriffsdefi nition 10

2.3.1. Biografi earbeit 11

2.3.2. Zugänge zu Lebensgeschichten in der Biografi earbeit 13

2.3.3. Geschichten begleiten einen ein Leben lang 15

3. Bedeutung im Pfl egealltag 18

3.1. Gespräche in der Krankenpfl ege 18

3.2. Ausgangssituation 18

3.3. Gesundwerden ist möglich 19

3.4. Gesundwerden ist nicht möglich 20

3.5. Krankheit und das autobiografi sche Gedächtnis 21

4. Anwendungsmöglichkeit von Biografi earbeit bei Demenzerkrankung 23

4.1. Biografi earbeit bei Menschen mit Demenzerkrankung 24

4.2. Ansätze in der Arbeit mit Demenzkranken 25

4.3. Validation 25

4.3.1. Integrative Validation 28

4.3.2. Reminiszenz-Therapie 29

4.3.3. Selbsterhaltungs-Therapie 30

4.4. Psychobiografi sches Pfl egemodell 31

4.5. Personenzentrierter Ansatz als Methode zum Erhalt der Subjektivität 32

4.6. Aktivitäten und Kommunikation in der Biografi earbeit 34

4.7. Strategien der biografi schen Scheinweltgestaltung 37

5. Schlussteil 40

Resümee 40

Literaturverzeichnis 42

Eidesstattliche Erklärung 45

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 6

1. Einleitung

Von der Geburt bis zum Tod durchläuft jeder Mensch unterschiedliche Situationen, die ihn

in seiner Entwicklung beeinflussen und sein Verhalten prägen. Biografie stellt somit eine

subjektiv individuelle Lebensbeschreibung dar, die bei jedem Menschen einzigartig ist. Die

Biografie eines Menschen kennen zu lernen, ermöglicht oft ein besseres Verständnis seiner

Äußerungen und Handlungen, Bedürfnisse und Gefühle. Dadurch ergeben sich Ansatz-

punkte für eine positive Einflussnahme, z.B. zur Förderung des Wohlbefindens, besonders

bei Demenzkranken.

Auch im Bereich der Altenpflege gewinnt die Biografie immer mehr an Stellenwert. Wäh-

rend in der Vergangenheit ein defizitäres Bild von alten Menschen herrschte, d.h. eine Beto-

nung auf das, was der „alte Mensch“ nicht mehr kann, rückt mittlerweile eine aktivierende,

ressourcenorientierte Pflege in den Vordergrund. Der Fokus wird vermehrt darauf gerichtet,

was ältere Personen können und welche Kompetenzen sie noch besitzen. Es stellt sich immer

häufiger die Frage: „Wie wurde der Mensch zu dem, was er ist?“.

Die Beschäftigung mit der Biografie kann dabei helfen, pflegebedürftige Menschen besser

zu verstehen und Handlungsalternativen zu entwickeln. Dies trifft insbesondere auf demenz-

kranke Menschen zu. Einerseits gelingt es Außenstehenden häufig nur schwer, sich in die

Welt einer verwirrten Person hineinzuversetzen, sich dort zurechtzufinden und sie zu be-

gleiten. Durch die Kenntnis der Biografie können Verhaltensweisen und Äußerungen von

demenzkranken Menschen besser gedeutet und interpretiert werden. Andererseits stellt für

Menschen mit Demenz die Erinnerung an ihre Vergangenheit eine wichtige Ressource dar,

da das Kurzzeitgedächtnis dieser Person eingeschränkt ist. Das Langzeitgedächtnis, in dem

sehr gut memorierte und meist lange zurückliegende Informationen gespeichert sind, bleibt

hingegen häufig noch relativ lange intakt. Menschen mit Demenz suchen oft nach Identität

und Vertrautheit, die ihnen Sicherheit geben, in einer Welt, die ihnen aufgrund der nach-

lassenden Erinnerungsfähigkeit immer fremder erscheint. Erinnerungen, die auf das Lang-

zeitgedächtnis zurückgreifen, geben Menschen mit Demenz Halt. Eine an der jeweiligen

Biografie orientierte Struktur, die an Gewohnheiten der ältere Personen anknüpft, schafft

somit Vertrautheit.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 7Einleitung

Biografiearbeit soll das Leben eines alten Menschen mit seinen Werten, dem Lebensstolz

und den vertrauten Stationen berücksichtigen und in positiver Weise beeinflussen. Insofern

kann die Biografiearbeit einen Beitrag zur individuellen Betreuung, sinnvollen Tagesgestal-

tung und Aktivierung von Ressourcen leisten. Außerdem werden die Kommunikation und

die soziale Kontaktaufnahme gefördert und die Rückbesinnung auf Erfolge und Leistungen

im bisherigen Leben kann die Selbstachtung bei den alten Menschen stärken.

In meiner Fachbereichsarbeit beschäftige ich mich mit dem Begriff der Biografiearbeit ihren

Zielen und biografischer Grundhaltung im Allgemeinen. Besonders hervorheben werde ich

die Bedeutung von Biografiearbeit im Pflegealltag. Im weiteren Verlauf werde ich aufzeigen,

was unter Demenz zu verstehen ist und welche Anwendungsmöglichkeiten von Biografiear-

beit es für dieses Krankheitsbild gibt. Spezielle Konzepte und Methoden werden vorgestellt.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 8

2. Grundlagen

2.1. Problemstellung

Das Thema Demenz interessiert mich seit meinem ersten Praktikum, welches ich bei

SenaCura absolviert habe. Weitere Praktikas im Landeskrankenhaus Rankweil auf der Sta-

tion M1 und in der Hauskrankenpflege Bludenz haben mich zu dieser Fachbereichsarbeit

bewogen. Die Biografiearbeit bzw. Erinnerungsarbeit stellt eine essentielle Grundlage für

viele Konzepte in der Arbeit mit demenzkranken Menschen dar. Biografische Kenntnisse

dienen besonders bei demenzkranken Menschen als Schlüssel des Verstehens für das jewei-

lige Verhalten dieser Menschen und bieten Anknüpfungspunkte.

Viele Menschen entwickeln mit zunehmendem Alter das Bedürfnis, den Sinn ihres bishe-

rigen Lebens zu erfassen. Dies kann durch die Anwendung von Biografiearbeit erleichtert

werden. Im Allgemeinen verleiht die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit

persönliche Sicherheit, stärkt das Selbstvertrauen und hilft dabei, sich mit schwierigen Situ-

ationen des Älterwerdens auseinanderzusetzen und diese besser bewältigen zu können.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 9Grundlagen

2.2. Forschungsfrage

Wie bereits in der Problemstellung verdeutlicht, ist es empfehlenswert zu wissen, wie sich

die Biografiearbeit im Pflegealltag verhält und wie diese Methode bei demenzkranken Men-

schen als Therapieform eingesetzt werden kann.

Basierend auf der obigen Problemstellung liegt der Fokus der vorliegenden Fachbereichs-

arbeit auf der Beantwortung der folgenden Forschungsfrage:

Warum ist die Biografiearbeit im Pflegealltag so wichtig und welche Anwendungsmög-

lichkeiten gibt es speziell bei demenzkranken Menschen?

Die Forschungsfrage wird in einem Theorieteil behandelt, um die Grundlagen des Modells

der Biografiearbeit zu erfassen. Anschließend werden die Anwendungsmöglichkeit in der

Biografiearbeit bei demenzkranken Menschen aufgezeigt.

2.2.1. Ziel

Das Ziel meiner Fachbereichsarbeit ist die Stärkung autobiografischer Kompetenzen. Wei-

ters möchte ich dazu anregen, sich intensiver mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzu-

setzen, denn in den Geschichten der älteren Generationen liegen oft verborgene Schätze für

die jüngeren. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte des einzelnen Patienten soll ange-

strebt werden.

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2.3. Begriffsdefinition

Das Wort Biografie stammt aus dem Griechischen. „Bio“ bedeutet „Leben“ und „-grafie“

„schreiben“. Eine Biografie ist demnach eine Lebensbeschreibung, die Darstellung der Le-

bensgeschichte eines Menschen sowohl hinsichtlich der äußeren Umstände und Ereignisse,

als auch der geistig-seelischen Entwicklung (Opitz 1998). In diesem Zusammenhang muss

die Biografie deutlich von dem Begriff des „Lebenslaufs“ abgegrenzt werden.

In der Fachliteratur finden sich Begriffe wie:

- Autobiografie: der persönliche Bericht einer individuellen Lebensgeschichte

- Reminiszenz (Rückerinnerung): Erinnern an Lebensereignisse oder Gefühle

- Life Review (Lebensrückblick): bewusste Sammlung von Ereignissen und Gefühlen

einer spezifischen Lebensgeschichte

- Erinnerungsarbeit: eine spontane oder angeleitete Verarbeitung von Lebenserinnerungen

und Lebenserfahrungen

Was es nicht ist Was es ist

ein Bericht über die Vergangenheit eine Verbindung der Vergangenheit, der Gegenwart

und der Zukunft

nur für ältere Menschen geeignet für alle Altersgruppen geeignet

eine Therapie wirkt therapeutisch

Erinnerungsarbeit besteht darin, Ereignisse aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, um

dieses Material durch Erklären und Bewerten zu bearbeiten (Lohmann 1995).

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2.3.1. Biografiearbeit

Die Beschäftigung mit Lebensgeschichten und das Wissen um die Bedeutung lebensge-

schichtlicher Gespräche bei der Begleitung, Unterstützung oder Beratung von Menschen

haben eine lange Tradition. Während der Begriff „Lebenslauf“ die äußeren (objektiven) Da-

ten eines gelebten Lebens umfasst, bezieht sich die Biografie eines Menschen auf seine

Innenseite, d.h. auf das, was der oder die Erzählende subjektiv zu seiner oder ihrer Lebens-

geschichte macht (Weingadt 2001). Lebensgeschichtliche Erzählungen sind somit immer

Rekonstruktionen der Vergangenheit aus dem Heute und stellen strukturierte Selbstbilder

dar. Diese können sich mit jeder Veränderung der Lebenslage und des jeweiligen Selbst-

verständnisses ändern. Dabei kommen bestimmte Ereignisse in den Vordergrund der Erinne-

rung und andere werden vergessen (Fuchs-Heinritz 2000).

Somit stellt die Biografie eines Menschen kein statisches Gebilde dar, sondern kann sich im

Laufe eines Lebens durch subjektive Umdeutungen oder Neudefinitionen von Ereignissen

oder Erlebnissen verändern. Erlemeier betont eine biografische Grundhaltung gegenüber

anderen Menschen. Er versteht unter Biografiearbeit in erster Linie nicht nur eine reine

Wissenssammlung über das Leben eines Menschen, sondern sieht es als eine Haltung der

Offenheit gegenüber dem Leben und der Geschichte einer Person (Erlemeier 1998).

„Eine Haltung, die sich im Respekt vor der einzigartigen Lebensgeschichte des Gegen-

übers ausdrückt, in der Behutsamkeit des Fragens, im Schutz der Intimsphäre, aber

auch in der Offenheit, Anlässe für biografische Gespräche im Alltag wahrzunehmen

und aufzugreifen, in der Neugier auf Lebenserfahrungen des Anderen, in der Bereit-

schaft sich auf Erzählungen einzulassen.“(Franke 2003)

Biografiarbeit beinhaltet oft alle drei Zeitdimensionen:

- Erinnerung an die Vergangenheit („Lebensbilanz“)

- Begleitung in der Gegenwart („Lebensbewältigung“)

- Perspektive für die Zukunft („Lebensplanung“)

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Dieses Zusammenwirken der Zeitdimensionen ist für die Biografiearbeit besonders relevant,

da sich alle drei gegenseitig beeinflussen können. Es stellen sich somit folgende Fragen:

“Was habe ich aus der Vergangenheit gelernt?“, „Wie gehe ich jetzt damit um?“ und „Was

zeigt mir diese Erkenntnis für die Zukunft?“

Biografisches Arbeiten kann weiterhin auf drei verschiedenen Ebenen basieren

(Maltesers 2002):

- emotional: positive und negative Lebenserinnerungen

- kognitiv: Stärkung des Erinnerungsvermögens, Erweiterung der Ressourcen

- sozial: Gruppenbildung, Erhalt sozialer Kontakte, Vertiefung des Vertrauens-

verhältnisses (z.B. zwischen Pflegepersonal und Patienten)

Bei der Biografiearbeit können zwei Formen unterschieden werden: die gesprächsorientierte

und die aktivitätsorientierte Biografiearbeit (Gerben & Berger 1998).

Zur gesprächsorientierten Biografiearbeit zählen beispielsweise Einzel- und Gruppengesprä-

che, die zu vorgegebenen Themen angeboten werden. Solche Themen können z.B. Familien-

leben, Schulzeit, Kindheit, Feste und Feiertage sein.

Die aktivitätsorientierte Biografiearbeit zeichnet sich durch die Integration der Biografie-

arbeit in einer Tätigkeit aus. Dies kann beispielsweise der Einsatz von Gegenständen, ein

Museumsbesuch, aber auch das Anfertigen einer Collage, das Singen von Liedern oder das

Ausführen von Alltagshandlungen (z.B. Tisch decken) sein.

Biografiearbeit ist ein unscharfer Begriff. Auf der Suche nach einer Definitionsannähe-

rung lässt sich festhalten:

- Biografiarbeit ist die Beschäftigung mit den individuellen, gesellschaftlichen und kulturell

geprägten Erfahrungen, Erlebnissen und Sichtweisen eines Menschen. Sie bezieht sich

auf alles, was mit der Lebensgeschichte eines Menschen zusammenhängt und systema-

tisch erfasst oder eingesetzt wird.

- Herzstück der Biografiearbeit ist das Erinnern, Erzählen, Zusammenfügen und Mitteilen

von „Geschichten“, die zusammengenommen die Lebensgeschichte eines Menschen

ergeben.

- Biografiearbeit kann ihren Schwerpunkt auf einen „Blick von außen“ (harte Daten) oder

einen „Blick von innen“ (weiche Daten) legen.

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- Biografiearbeit wird in unterschiedlichen Disziplinen eingesetzt, vor allem in der Altenar-

beit, der Krankenpflege, bei Seelsorgern sowie im schulischen Bereich.

Voraussetzung für einen effektiven Einsatz der Biografiearbeit ist die Schulung der Beglei-

ter. Wesentliche Wissensbausteine sind: Funktion und Wirkweisen lebensgeschichtlicher

Gespräche, Gesprächsführung und Methodenkenntnis. Die Beschäftigung mit der eigenen

Lebensgeschichte im Allgemeinen und mit der persönlichen Berufsbiografie im Speziellen

ist eine wertvolle Ergänzung.

2.3.2. Zugänge zu Lebensgeschichten in der Biografiearbeit

Wenn man sich mit der Lebensgeschichte eines Menschen im Sinne der Biografiearbeit be-

fasst, gibt es unterschiedliche Zugänge. Zum einen besteht die Möglichkeit, sich von außen

zu nähern und an sogenannten harten Daten zu orientieren (u.a. Geburtsdatum, Schuleintritt,

Berufsfindung, Eheschließung). Dieses Arbeiten mit „harten Fakten“ hat in vielen Berufs-

zweigen Einzug gehalten. Es wird für intensive Annahmen in der Medizin ebenso eingesetzt

wie bei der Erhebung einer Pflegediagnose, bei der Erfassung von Schülerdaten oder bei der

Erhebung diverser Behördendaten.

Solange diese Daten gleichsam „nackt“ bleiben, wird sich der daraus abzuleitende Lebens-

weg oder die jeweilige Lebensspanne wenig farbig vor dem Auge des Betrachters entfalten.

Manchmal ist dies ausreichend und erfüllt durchaus seinen Zweck. In anderen Fällen scheint

ein tieferes Eintauchen in biografische Momente sinnvoll. Durch gezieltes Nachfragen oder

intensives Nachforschen kann es gelingen, mit Hilfe vieler Zusatzinformationen und den

harten Fakten ein bestimmtes Bild oder eine gelungene Gesamtbiografie zu erstellen. Diese

Biografie ist dann die Geschichte eines Menschen aus der Sicht eines anderen.

Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich von innen her der Biografie eines Menschen zu nä-

hern. Das bedeutet eine weitgehende Abkehr vom Erfassen harter Fakten und eine Hinwen-

dung zum inneren Erleben des Betreffenden. Die Geschichte, die dann erzählt wird, folgt

dem inneren Kompass des Erzählers. Fakten werden nach individuellen Kriterien genannt

und folgen einer eigenen Logik. Auch hier kann ein chronologischer Lebenslauf entstehen

oder als Gerüst dienen. Doch die Akzentuierung und die Reihenfolge, in der erinnert und

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erzählt wird, folgen anderen Gesetzmäßigkeiten. Viele Ereignisse, die ein Außenstehender

als wichtig und markant beschrieben hat, werden beispielsweise kaum erwähnt oder gar ver-

gessen, einige werden vielleicht anders beleuchtet und schließlich wird es Dinge geben, die

nur der Erzähler selbst „auspacken“ kann.

Wenn er sie nicht zur Sprache bringt, bleiben sie für immer verborgen und haben keine

Möglichkeit, über den Erzähler hinaus zu wirken oder gar der Nachwelt erhalten zu bleiben.

Mögliche Zugänge zur Biografie eines Menschen:

- Blick von außen: Orientierung an Fakten und Beobachtbarem (harte Daten)

- Blick von innen: Orientierung an subjektiven Berichten (weiche Daten)

Unabhängig davon, welchen Zugang man in der Biografiearbeit wählt, sind die methodi-

schen Zugänge biografischen Arbeitens äußerst vielfältig. An dieser Stelle sei nur kurz auf

das Zusammenspiel zwischen den Menschen hingewiesen, die in „ein Arbeiten an der Le-

bensgeschichte“ eintauchen.

Die zwei Seiten eines lebensgeschichtlichen Gesprächs:

- Erlebtes in Worte fassen. Ordnen. Erzählen. Niederschreiben. Aufzeichnen. Festhalten.

Weitergeben… Das ist die eine Seite.

- Erzähltem lauschen. Niedergeschriebenes aufnehmen. Impulse anbieten. In unbekannte

Lebenswelten eintauchen. Neues kennenlernen. Altem neu begegnen… Das ist die andere

Seite.

Erlebtes in Worte fassen und dem Erzählten lauschen – beide Seiten gehören zum positiven

Umgang mit Lebensgeschichten und sind das Herzstück guter Biografiearbeit. Dabei stellt

sich die Frage, worauf in der Anwendung der Biografiearbeit besonders zu achten ist. Um

diese gezielt und systematisch einsetzen zu können, müssen Begleiter über verschiedene

Wissensbausteine verfügen. Zum einen geht es um das Basiswissen über allgemeine Funkti-

onen und Wirkweisen der Biografiearbeit und deren Nutzbarmachung in der Begleitung von

Menschen in speziellen Lebenssituationen. Zum anderen sollten wesentliche Elemente der

angewandten Kommunikation bekannt sein und kontextbezogen eingesetzt werden können.

Schließlich geht es um die Aneignung methodischer Zugänge und das Einüben biografie-

geleiteter Kommunikation.

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2.3.3. Geschichten begleiten einen ein Leben lang

Allgemein gesprochen kann man sagen: Geschichten sind Lebensbegleiter. Von Kindheit an

machen sie die vielen Wunder des Alltags begreifbar. Sie führen auch in die geheimnisvolle

Welt der Märchen und Mythen und helfen, einen positiven Zugang zu den religiösen, kultu-

rellen und sozialen Werten des Lebens zu finden. Geschichten können Unbegreifliches ver-

ständlicher machen. Sie gehen unter die Haut, sprechen die Gefühlswelt ebenso an wie die

Welt der Gedanken, erschließen oftmals Neues oder Unbekanntes und ermutigen Menschen,

auf Entdeckungsreise in das Land der Phantasien zu gehen.

Das „Geschichten hören“ steht dabei vor allem in frühen Jahren im Vordergrund und wird

nach und nach durch Lesen ergänzt und erweitert. Ein anderer Zugang zur Welt der Ge-

schichten liegt im „Geschichten erzählen“. Da ist zunächst an die vielen großen und kleinen

Geschichten zu denken, die sich im Laufe eines Menschenlebens ereignen und als Erinne-

rungen mündlich oder schriftlich weitergegeben werden. Welche Schätze in Lebenserinne-

rungen stecken können, zeigen auf eindrucksvolle Weise die zahlreichen autobiografischen

Arbeiten bekannter und weniger bekannter Autoren, die als Bücher erschienen sind und eine

große Leserschaft interessieren.

Eine Möglichkeit, um ein genaueres Bild vergangener Ereignisse und Zustände zu erhalten,

besteht in der intensiven Beschäftigung mit unterschiedlichsten Geschichten aus, von und über

diese Ereignisse. Erinnerungen können dabei helfen, Geschichten transparenter zu machen –

die Geschichte eines einzelnen Menschen ebenso wie die große Geschichte „im historischen

Sinn“. Auch weniger bekannte und exponierte Persönlichkeiten stoßen mit ihren Geschich-

ten bei anderen auf Interesse. Oft sind es gerade die kleinen Alltagsgeschichten Unbekannter,

die Erinnerungen an Jugenderlebnisse, an Krieg und Wiederaufbau, an kleine Abenteuer

und große Lieben, die Zeitreisen möglich machen und dem Leser oder Zuhörer einen Blick

hinter die Kulissen erlauben.

Ähnlich wie bei den großen Menschheitsgeschichten, den Mythen, kann man über die An-

teilnahme am Schicksal anderer neuen Mut schöpfen, das eigene Leben zu gestalten. Zahl-

reiche Berichte von Menschen mit schweren Schicksalsschlägen, z.B. Krebserkrankungen

oder Suchtproblemen, werden so in Geschichten gefasst, welche für Personen in ähnli-

chen Situationen zur wertvollen Hilfestellung werden. Geschichten können aufbauen, Mut

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 16Grundlagen

machen und Hoffnung spenden. Geschichten können Licht in dunkle unbekannte Gebiete

werfen. Ihre Aussagen haben für manche Leser Vorbildwirkung. So wie der Held im Mär-

chen manchem Kind hilft, eigene Ängste zu überwinden, so kann beispielsweise der Bericht

über den positiven Umgang mit Krankheit, Verlust und Schmerzen Menschen mit ähnlichem

Schicksal als Modell dienen. Ein konstruktiver Umgang mit den vielen großen und kleinen

Berichten rund um das eigene Leben ist in jeder Lebensphase eine wertvolle Hilfe.

Was jedoch in Zeiten der Ruhe, Stabilität und Gesundheit einem heiteren Spaziergang durch

das Bilderbuch gleicht, kann in Ausnahmesituationen zu einem Überlebenskampf werden,

zu harter Arbeit und zum Ringen um neue Perspektiven. In Gesprächen mit gesunden und

kranken, mit alten und jungen Menschen wird immer wieder deutlich, wie wichtig und hilf-

reich ein lebensgeschichtliches Gespräch in Situationen der Neuorientierung und bei der

Bewältigung von Stress, Angst, Verlust, Verzweiflung und Einsamkeit sein kann.

Damit wird deutlich, an welchen Knotenpunkten im Leben eines Menschen Biografiear-

beit besonders hilfreich und wichtig sein kann: beim Übergang von einem Lebensabschnitt

in einen anderen, in Phasen der Um- bzw. Neuorientierung, bei Krankheit, Abschied und

Verlust sowie im letzten Lebensabschnitt – im Alter –, in dem viele der genannten Aspekte

zusammentreffen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei Biografiearbeit

nicht um ein therapeutisches Handeln im engeren Sinne handelt – wenngleich biografische

Aspekte und lebensgeschichtliche Gespräche natürlich immer Teil therapeutischer, seelsor-

gerischer oder beratender Unterstützung sind.

Als wichtige Kriterien der Abgrenzung ist das Fehlen eines therapeutischen Settings zu

nennen und die zurückhaltende Position der Begleiter, die weder interpretieren noch the-

rapeutisch intervenieren. Biografiearbeit ist keine Therapie. Sie findet außerhalb eines the-

rapeutischen Settings statt. Es werden weder gezielte therapeutische Interventionen, noch

Interpretationen seitens externer Begleiter vorgenommen. Es lässt sich festhalten, dass sich

die individuelle Welt der Geschichten, die alle zusammengenommen die jeweils einzigartige

Lebensgeschichte einer Person ausmachen, aus einem passiven und einem aktiven Teil zu-

sammensetzt. Die vielfältigen Geschichten und Märchen, die als kulturelles Erbe vorhanden

sind, stellen den passiven Teil dar, sie sind gleichsam der eine Pol auf der Geschichten-

Landkarte. Der andere Pol sind die aktiv gestalteten, die persönlich erzählten Geschichten.

Lauschen, Aufnehmen und Verarbeiten gehören ebenso wie das aktive Erzählen und das

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 17Grundlagen

„Sprechen über die Dinge des Lebens“ zu jedem Menschen. Von der Geburt bis zum Tod ist

das Aufnehmen und Verarbeiten von Geschichten ebenso wie das Gestalten eigener Erzäh-

lungen ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung und leistet einen wichtigen Beitrag zur

seelischen Gesundheit.

Zusammenfassung: Eine wichtige Funktion der Biografiearbeit besteht darin, Menschen in

ihrer Identitätsentwicklung, Lebensplanung und -bewältigung zu unterstützen. Biografiear-

beit leistet Hilfestellung für eine sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft, sowie von individuellem, sozialem und historischem Kontext. Weiters trägt sie dazu

bei, das eigene Leben im Strom widersprüchlicher, schöner und schmerzlicher Erfahrungen

als sinnvoll, verstehbar und lebenswert wahrnehmen zu können.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 18

3. Bedeutung im Pflegealltag

3.1. Gespräche in der Krankenpflege

Bei der Bewältigung und Verarbeitung von Krankheit oder Behinderung spielen Gesprächs-

angebote eine wichtige Rolle. Im Sinne eines biografiegeleiteten Ansatzes geht es um das

Angebot, durch lebensgeschichtliche Gespräche zu jenen Ressourcen zu gelangen, die ein

seelisches Gesunden ermöglichen. Biografiearbeit am Krankenbett bedeutet, den Prozess

der persönlichen Geschichtsschreibung angesichts krankheitsbedingter Einbrüche und Er-

eignisse zu unterstützen und Wege zu finden, um den Zugang zu hilfreichen Erinnerungen

frei zu legen.

Prinzipiell muss man zwischen Gesprächen „rund um das Krankenbett“, gezielten therapeu-

tischen Interventionen jenseits der Biografiearbeit und im weitesten Sinne pädagogischen

Ansätzen (edukativer Ansatz) unterscheiden. In der alltäglichen Arbeit am Krankenbett kann

Biografiearbeit nicht nur die Qualität der pflegerischen Handlungen verbessern (edukativer

Ansatz, Erhöhung der Compliance beim Patienten, höhere Berufszufriedenheit der Pflege-

kräfte), sondern trägt wesentlich zur Entlastung der oft angespannten psychischen und sozi-

alen Situationen der Patienten bei.

Entlastung durch Biografiearbeit:

- Aufbau eines Vertrauensverhältnisses (personale Ebene)

- Angebot und Orientierungshilfen (Anknüpfen an Vertrautes)

- Eingehen auf Reaktionen (Bemühen um ein tieferes Verstehen)

- Suche nach Ressourcen (Vergangenes für die Gegenwart nutzbar machen)

- Bearbeiten des Lebenskapitels „Krankheit“ (Arbeit an der Lebensgeschichte)

3.2. Ausgangssituation

Die Begleitung von kranken Menschen nimmt in aller Regel bei der Krankheit, dem Un-

fall oder der Invalidität selbst ihren Ausgangspunkt. Erstes zentrales Thema eines lebensge-

schichtlichen Gesprächs mit kranken Personen ist „der Einbruch“ des normalen, gesunden

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 19Bedeutung im Pflegealltag

Lebensweges. Dabei können die Ausgangssituationen der Patienten sehr unterschiedlich sein

und je nach Situation werden andere Gesprächsschwerpunkte zu setzen sein. Auch der Grad

der Gesprächsintensität und die Art der Gesprächsangebote werden variieren und müssen

bei der Wahl der Methoden berücksichtigt werden. Im günstigsten Fall handelt es sich um

Erkrankungen, die nach einem ersten akuten Stadium echte Chancen einer Ausheilung und

totalen Wiederherstellung des Gesundheitszustandes haben. Hier sind als Beispiele schwere

Infektionserkrankungen zu nennen, Krebserkrankungen im Frühstadium oder lokale opera-

tive Eingriffe.

Eine andere Ausgangslage liegt bei Erkrankungen oder Verletzungen vor, die zu irreparablen,

also bleibenden Schäden oder Beeinträchtigungen führen, wie etwa Erblinden, Amputati-

onen oder Querschnittslähmungen. In diesen Fällen geht es nicht nur um die Bearbeitung

eines schwierigen Kapitels des Lebensbuches, sondern um den Beginn eines völlig neuen

Abschnittes. Biografiearbeit ist bei verschiedensten schweren Schicksalen auch ein wichti-

ger Ansatzpunkt.

Biografiearbeit bei Menschen mit Demenzerkrankung wird im Kapitel 4 genauer erläutert.

Situative Gesprächsgestaltung:

Je nach vorliegender Situation werden sich die lebensgeschichtlichen Gespräche sehr un-

terschiedlich gestalten. Von großer Bedeutung ist dabei die Frage, ob ein Gesundwerden

möglich ist oder nicht. Diese Frage wird die Biografiearbeit maßgeblich beeinflussen und

Auswirkungen auf Methodenauswahl und Gesprächsverhalten haben.

3.3. Gesundwerden ist möglich

Ist ein Gesundwerden im Prinzip möglich, wird es vor allem um das Bearbeiten des Schocks

und das Einbauen der erschütternden Erfahrung in das Lebensganze gehen. Ein schwerer

Unfall muss ebenso verkraftet werden wie eine Operation mit anschließender Rekonvales-

zenz. Sehr oft reden sich Patienten ihre Angst und die Unsicherheit im Umgang mit ei-

nem Krankenhausaufenthalt wieder und wieder von der Seele. Unwillkürlich ist man an die

Funktion des Erzählens in der Entwicklung kleiner Kinder erinnert, die Unbekanntes durch

ständig neues Erzählen zu begreifen suchen. Dieses Muster bleibt ein Leben lang erhalten

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 20Bedeutung im Pflegealltag

und in Ausnahmesituation kann man darauf zurückgreifen. Viel wird allerdings von den Be-

gleitern und ihrer Bereitschaft zu Gesprächsangeboten abhängen, ob Kranke und Verletzte

eine Chance bekommen, ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen.

Sowohl in der Akutversorgung als auch in der präoperativen Begleitung wird es nicht mög-

lich sein, tiefschürfende Gespräche anzuregen. Die Bedeutung von Fragen und Gesprächen

dient in diesen Situationen dem raschen Sammeln von relevanten Fakten (hier sind W-Fragen

angebracht), der Weitergabe von Informationen sowie dem Eingehen auf das Informations-

bedürfnis des Patienten und dessen momentane Befindlichkeit. Doch auch wenn diese Ge-

spräche meist an der Oberfläche bleiben, wird dadurch eine erste Vertrauensbasis geschaffen.

Wichtig ist dabei, den Patienten mit Geduld und Anteil nehmendem Interesse zuzuhören.

Geschulte Zuhörer werden in der Lage sein, insbesondere dem Selbstoffenbarungsaspekt

von Patientenäußerungen Beachtung zu schenken. „Was will der Patient mir mit diesem

Satz über sich selbst sagen?“ wäre die leitende Fragestellung. Es wird viel von der Haltung

der Begleiter abhängen, ob traumatische Eingriffe und schwere Gesundheitseinbrüche gut

bewältigt werden können. Auch ein Nacharbeiten und Bewältigen der Situation wird durch

einen achtsamen Umgang im Vorfeld erleichtert.

3.4. Gesundwerden ist nicht möglich

Sind die Verletzungen irreversibel, ist der Ausgang einer Erkrankung ungewiss oder ver-

laufen die Erkrankungen chronisch, kommt zur Schockbewältigung noch die notwendige

Umstrukturierung des Lebens hinzu. Patienten müssen die veränderte Lebenssituation an-

nehmen lernen. Das braucht Zeit und geduldige Begleiter, die auf die unterschiedlichen

Bedürfnisse und Situationen eingehen können. Niemals wieder gehen zu können, schafft

andere Fakten als beispielsweise der ungewisse Ausgang einer Krebserkrankung oder das

Wissen um eine jahrelange Abhängigkeit von einem Dialysegerät. Einmal wird es eher um

eine Neuordnung und Neuanpassung gehen, dann wieder um eine Suche nach verschütteten

Ressourcen oder eine Art Lebensrückschau auf die Jahre der Gesundheit und auf die Statio-

nen des bisherigen Lebens.

Auch die aktuelle Sinnsuche ist eine häufig wiederkehrendes Thema. Was gestern dem Le-

ben noch Sinn gegeben hat, mag heute bereits völlig unsinnig erscheinen. Die Ziele des Le-

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bens können sich durch Krankheit oder Invalidität oft schlagartig verändern. Erinnerungen

an gestern helfen trotz aller seelischen Schmerzen, die damit verbunden sind, dennoch oft

das Heute zu gestalten – in Anlehnung, Erweiterung oder Abgrenzung gemachter Erfahrun-

gen vergangener Lebensphasen.

Basiselemente situativer Gesprächsgestaltung:

- Kontaktbereitschaft signalisieren (Blickkontakt, Körperhaltung, verbale „Einladung“)

- Zuhören (Worte auf sich wirken lassen, besondere Beachtung des sogenannten Selbst-

offenbarungsaspekts, Gehörtes wiederholen, Rückfragen)

- Sich selbst zurücknehmen und keine Interpretationen des Gehörten vornehmen

- Herstellen einer synchronen Kommunikationssituation (Zuhören und Erzählen sollen ein-

ander die Balance halten)

- Wiederkehrende Erzählschleifen als notwendige Redundanz begreifen

- Keine Wertung der Geschichte vornehmen (dies ist nicht gleichbedeutend mit einem Ein-

verständnis!)

- Patienten in dem Bemühen unterstützen, alte Ressourcen zu nützen

3.5. Krankheit und das autobiografische Gedächtnis

Für die persönliche Geschichtsschreibung gibt es im menschlichen Körper bestimmte Hirn-

regionen und Nervenverbindungen, deren Arbeit darin besteht, die Daten der persönlichen

Entwicklungsgeschichte in Form eines chronologisch geführten Archivs zu verwalten (Mar-

kowitsch & Welzer 2005). Hier wird „richtig“ von „falsch“ getrennt, Realität von Fantasie.

Darüber hinaus ist das autobiografische Gedächtnis auch jener Ort in uns, der nicht nur die

„historischen Wahrheiten“, die harten Fakten speichert und bewahrt. Es ist auch der Ort, an

dem persönliche Mythen entstehen. Diese Form von Geschichten über die eigene Person

hilft dem Einzelnen, das Leben zu meistern. Eine wichtige Funktion des „Erzählers“ im

Menschen ist es, sich selbst auch als Hauptdarsteller auf der Bühne des Lebens ernst zu

nehmen. Bei der Bewältigung von schweren Erkrankungen, die als Krise erlebt werden, hilft

dieser Erzähler, die „passende“ Geschichte zu finden, um auch diese Wunden annehmen zu

lernen. Die Aufgabe von Begleitern könnte es sein, dem kranken Menschen zu helfen, aus

Bruchstücken und Scherben, die oft die Folge dramatischer Ereignisse sind, eine neue ganze

Gestalt zu formen.

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Beispiele aus der Praxis: Biografiearbeit als Bewältigungshilfe:

Bevor an ein Eintauchen in ein lebensgeschichtliches Gespräch zu denken ist, geht es bei der

Begleitung kranker Menschen zunächst um das Erfassen der Situation. Dabei ist es wichtig,

das Gegenüber mit allen Sinnen wahrzunehmen und sich nicht nur auf das gesprochene

Wort zu verlassen. Im zwischenmenschlichen Miteinander spielt das gesprochene Wort nur

scheinbar die wichtigste Rolle. Zwei Drittel aller Signale kommen aus dem nichtsprachli-

chen Bereich. Es sind Faktoren wie Mimik des Kranken, seine Gesten, seine Körperhaltung

und vieles andere mehr, die wichtige Hinweise auf das Befinden und die subjektive Situati-

on des Betroffenen geben können. Oft ist es ein intensiver Blickkontakt, der das Bedürfnis

nach einem Gespräch ausdrückt. Die Antwort auf solch ein Signal kann z.B. in einer Frage

bestehen: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, „Haben Sie die Untersuchungen für heute schon

hinter sich?“ Oder in einer Geste – wie einem verständnisvollen Lächeln oder einer behut-

samen Berührung.

Die Bewältigung belastender, traumatischer und oftmals lebensverändernder Ereignisse

wird bis zu einem gewissen Grad davon abhängen, wie gut es gelingt, Verbindungen zum

Lebensganzen herzustellen und einzelne Fäden bis in die Vergangenheit zurück zu verfol-

gen, die das Gefühl von „Ich habe schon vieles bewältigt!“ vermitteln. Auf diesen dünnen

„historischen Sträßchen“ können Botschaften aus alten Erfahrungen in die Gegenwart gelan-

gen. Alles, was bei der Bewältigung von Krankheit, Leid, Verletzung und anderen Negativ-

Erfahrungen zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal geholfen hat, kann als „Strategie“,

als Kraftquelle wieder aktualisiert werden. Allmählich wird dann aus dem Sträßchen eine

Straße. Auch die Erfahrungen anderer Menschen, Vorbilder, Modelle und die Erinnerung,

wie andere Menschen in ähnlichen Situationen ihr Leben bewältigt haben, fließen in die

Erinnerungsstraße ein und können zum Ausgangspunkt eines neuen Lebensentwurfs werden.

Diese Ereignisse sind für den Patienten wichtig, damit ihm das Pflegepersonal mit Empathie

und Wertschätzung individuell begegnen kann.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 23

4. Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

Der Begriff Demenz:

Um die Bedeutung von Biografiearbeit mit dementen Menschen zu verstehen, soll zunächst

kurz erklärt werden, was man unter Demenz versteht.

Der Begriff „Demenz“ leitet sich aus dem Lateinischen von „dementia“ ab und setzt sich

aus den beiden Wortteilen „de“ = „weg“ und „mens“ (Genitiv mentis) = „Geist, Verstand“

zusammen.

Der Oberbegriff Demenz umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern verschiedener Ursache

und unterschiedlichen Verlaufs. Die häufigsten Formen der Demenz sind wohl die Demenz

vom Alzheimer-Typ sowie die vaskuläre Demenz.

Laut den Kriterien der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases) wird eine

Demenz mit folgenden Symptomen beschrieben: Ein dementielles Syndrom ist durch „eine

progrediente Verschlechterung mehrerer kognitiver Funktionen bei einem bewusstseinskla-

ren Patienten“ gekennzeichnet. Leitsymptome sind Störungen des Kurzzeit- und Langzeit-

gedächtnisses bis hin zu Störungen der Orientierung (zur Zeit, zum Ort, zur Person und zur

Situation).

Definition der Demenz nach Kriterien der ICD-10:

- Abnahme von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis

- Abnahme des abstrakten Denkvermögens

- Abnahme von Urteilsvermögen, Planungs- und Organisationsvermögen sowie andere Stö-

rungen höherer kortikalen Funktionen wie Aphasie, Agnosie, visuopatiale Fähigkeiten

- Keine Störung der Bewusstseinslage

- Beeinträchtigung der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens

- Symptome bestehen seit mindestens 6 Monaten

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4.1. Biografiearbeit bei Menschen mit Demenzerkrankung

Menschen ohne kognitive Defizite können ihre Lebensgeschichte und das, was ihnen wichtig

ist, erzählen. Doch besonders bei demenzkranken Menschen ist das Wissen über die Biogra-

fie sehr wichtig. Die Betroffenen können sich meist nur eingeschränkt äußern und manchmal

scheint das Gesagte sinnlos und rätselhaft. Biografiekenntnisse können beim Verstehen des

Verhaltens und Erlebens der verwirrten Menschen hilfreich sein, denn vor dem Hintergrund

ihrer Lebensgeschichte und der aktuellen Lebenssituation ist das Handeln der dementen

Menschen durchaus sinnvoll. Ihre Wirklichkeit ist nur eine andere als unsere. Durch ihr

Krankheitsbild ist das Kurzzeitgedächtnis oft beeinträchtigt. So ziehen sie sich zurück und

leben oftmals in Szenen ihrer Vergangenheit. Das, was sie aktuell erleben und fühlen, kom-

binieren sie oft mit alten Erlebnissen, die ihnen im Langzeitgedächtnis zur Verfügung stehen.

Der Zugang zu dieser Erlebniswelt kann durch ein einfühlendes Nachspüren und durch die

biografischen Kenntnisse der einzelnen Lebensgeschichten erreicht werden (Leptihn 1996).

Das Wissen über die Biografie gibt den Pflegenden einen Zugang zum Krankheitsverstehen

und hilft, das schwierige und oft provozierende Verhalten von demenzkranken Menschen

besser verstehen und handhaben zu können (Erlemeier 1998). Auch in der täglichen Kom-

munikation bietet das biografische Wissen über einen Menschen gute Ansatzpunkte für ein

Gespräch. Außerdem wird durch das Interesse an einer Biografie dem Gegenüber eine Wert-

schätzung entgegen gebracht und dessen bisheriges Leben anerkannt. Diese Einstellung bzw.

Offenheit kann die Begegnung zu diesen Menschen verändern (Leptihn 1996). Der demente

Mensch wird dadurch nicht als Pflegeobjekt mit krankheitsbedingten Defiziten betrachtet

an dem nur pflegetechnisch etwas vollzogen wird, sondern er wird als Subjekt gesehen, der

eine lange Lebensgeschichte hinter sich hat. Es können eher subjektbezogene Kontakte und

Bindungen aufgebaut werden.

Gängige Altersstereotypen können abgebaut werden (Franke 2003). Erst wenn wir einen

Menschen richtig kennen gelernt haben, können wir auch auf seine Wünsche und Bedürf-

nisse eingehen. Deswegen ist eine personenzentrierte Betreuung ohne Biografiekenntnisse

nicht möglich (Leptihn 1996). Biografisches Wissen kann bei Menschen mit Demenz hel-

fen, die Lebenskontinuität zu wahren, Identitäts- und Selbstwertgefühle zu sichern, zur Ver-

söhnung mit der eigenen Lebensgeschichte und zum subjektiven Wohlbefinden beizutragen

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 25Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

(Erlemeier 1998). Da sich demenzkranke Menschen oft nur schlecht über die biografischen

Ereignisse und Erlebnisse mitteilen können, werden biografische Angaben oft nur von den

Angehörigen gegeben. Angehörige können dadurch bei der Interpretation schwieriger Ver-

haltensweisen helfen sowie Angaben über Vorlieben, Abneigungen, Gewohnheiten sowie

kritische Lebensereignisse liefern (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).

4.2. Ansätze in der Arbeit mit Demenzkranken

Biografiearbeit oder Erinnerungsarbeit stellt eine essentielle Grundlage für viele Konzepte

in der Arbeit mit demenzkranken Menschen dar. Biografische Kenntnisse dienen besonders

bei demenzkranken Menschen als Schlüssel des Verstehens für das jeweilige Verhalten die-

ser Menschen und bieten Anknüpfungspunkte. Im Folgenden möchte ich auf die wichtigsten

Methoden und Ansätze in der Betreuung von Demenzkranken eingehen, die sich auf die

biografische Arbeit als Grundlage stützen.

Zusammenfassung: Dementielle Erkrankungen stellen heute und mehr noch in der nahen

Zukunft für professionelle Pflegepersonen und begleitende Angehörige eine große Heraus-

forderung dar. Alle Bemühungen um die Verbesserung der Lebensqualität der Erkrankten

müssen an ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen anknüpfen. Erinnerungen und das Wis-

sen um das frühere Wirken, vor allem um frühere Kompetenzen, können entlasten, stabilisie-

ren und helfen, die Identität zu wahren. Um einen Zugang zu diesen Ressourcen zu bekom-

men, eignen sich besonders ästhetische Medien (Musik, Kunst, Tanz, Theater…).

4.3. Validation

Demenz führt nicht nur zu einem starken Rückgang der kognitiven Leistungen, sondern

oftmals auch zu wesentlichen Veränderungen der Persönlichkeit. Der Erkrankte scheint für

seine Umgebung nicht mehr der zu sein, den man kannte (oder zu kennen glaubte). Gerade

dieses Phänomen beherrscht sehr stark die Begegnung mit dementiell Erkrankten, insbe-

sondere, wenn sich die Personen nahestehen, denn gerade dann wirken diese Faktoren sehr

belastend auf die Beziehungsebene der Kommunikation ein.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 26Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

In der Arbeit mit dementiell erkrankten Menschen bedarf es daher einiger grundlegender Hal-

tungen in der Kommunikation. Die Beziehungsarbeit gestaltet sich aufgrund der „Verwirrt-

heit“ der Patienten recht kompliziert. Es prallen zwei Wirklichkeiten aufeinander, zwischen

denen sich oftmals nur mühsam Schnittstellen herstellen lassen. Passen die vom Kranken

und seinem Gegenüber aktuell erlebten Wirklichkeiten nicht zusammen, gibt es grundsätz-

lich zwei Möglichkeiten: Man konfrontiert den aus der Sicht des Gesunden desorientierten

Menschen mit der vermeintlichen Realität. Dieses stellt den kranken Menschen immer wie-

der vor die Einsicht, dass er etwas falsch macht, etwas eigentlich Selbstverständliches nicht

beherrscht, indem er die Tageszeit durcheinander bringt oder eine Person, die ihm eigentlich

vertraut sein müsste, nicht erkennt. Das führt in der Regel zu noch stärkerer Frustration, die

durch den Krankheitszustand ohnehin schon erhöht ist, und löst möglicherweise Abwehr,

Aggression sowie Flucht- oder Verteidungsverhalten aus. Daher stößt der Gedanke der Vali-

dation in der Pflege auf große Resonanz und ist auch wichtig für die Biografiearbeit.

Das englische Wort „validation“ heißt in deutscher Übersetzung so viel wie „Gültigkeits-

erklärung“. Das Validieren wurde von Naomi Feil für die Zielgruppe der verwirrten alten

Menschen, die sich in verschiedenen Stadien der Demenz befinden, entwickelt. Der An-

wendungsbereich der Validation wird also eingegrenzt auf sehr alte Menschen, die in ihren

kognitiven und sensorischen Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Diese Personen befinden sich

in der letzten Lebensphase und sind bemüht, unverarbeitete Gefühlssituationen wachzu-

rufen, auszudrücken und zu verarbeiten. Feil versucht mit ihrer Methode, den Grund für die

Desorientierung zu verstehen, den Rückzug in die Vergangenheit und das Abgleiten in den

so genannten „Rückzug in sich selbst“ zu verhindern. Durch diese Methode soll Vertrauen

aufgebaut, Sicherheit geschaffen und das Selbstbewusstsein wieder hergestellt werden. Va-

lidation akzeptiert den Menschen so, wie er ist. Die Gefühle und die innere Erlebniswelt des

verwirrten Menschen werden respektiert und anerkannt (Feil 2002).

Doch der Zugang zur Erinnerungs- und Gefühlswelt von Demenzkranken, besonders im fort-

geschrittenen Stadium, ist sehr schwierig. Viele verbale und nonverbale Äußerungen sind für

Außenstehende bizarr, verworren, aus dem gegenwärtigen Kontext gerissen und deshalb oft

unverständlich. Mit den Worten von Naomi Feil bedeutet jemanden zu validieren, „seine

Gefühle anzuerkennen, ihm zu sagen, dass seine Gefühle wahr sind […]. In der Methode

der Validation verwendet man Einfühlungsvermögen, um in die innere Erlebniswelt der sehr

alten, desorientierten Person vorzudringen“. Feil ist der Meinung, dass desorientierte Men-

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 27Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

schen in die Vergangenheit zurückkehren, um aufzuräumen und ihre Grundbedürfnisse nach

Liebe und Identität zu befriedigen. Durch den Rückzug in die Vergangenheit vermeiden sie

die schmerzvolle Gegenwart, Gefühle des Nichtgebrauchtwerdens und der Einsamkeit. Feil

ist auch der Ansicht, dass desorientierte Menschen ihre Vergangenheit wieder erleben, um

ihre Würde wiederherzustellen. Aus der gegenwärtigen Realität können sie keine Befriedi-

gung ziehen. Desorientierte Menschen drücken diese Bedürfnisse aber nicht mehr im Hier

und Jetzt aus, sondern kommunizieren oft mit Personen und Gegenständen aus der Vergan-

genheit. Verschlechtern sich die intellektuellen Fähigkeiten, vergrößert sich das Vokabular

an Phantasiewörtern. Dementiell erkrankte Menschen greifen auf immer mehr gefestigte

und gespeicherte Bewegungen zurück, um ihre Bedürfnisse auszudrücken (Feil 2002).

Die Ziele der Validation sind:

- Wiederherstellen des Selbstwertgefühls

- Reduktion von Stress

- Rechtfertigung des gelebten Lebens

- Lösen der unausgetragenen Konflikte aus der Vergangenheit

- Reduktion chemischer und physischer Zwangsmittel

- Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation

- Verhindern eines Rückzuges in das Vegetieren

- Verbesserung des körperlichen Wohlbefindens

Feil unterscheidet vier Stadien der Desorientierung. Dabei sind diese Stadien nicht statisch

zu sehen. Verwirrte Menschen können sich innerhalb eines Tages in diesen vier Stadien be-

wegen und von einem zum nächsten wechseln. Nur durch Validation wird der totale Rückzug

in das vierte Stadium vermieden. Feil ist der Meinung, dass Menschen sich nicht komplett in

die Vergangenheit zurückziehen, wenn sie sich in der Gegenwart als stark, geliebt und nütz-

lich erfahren. Validation soll den verwirrten Menschen ihre Würde zurückgeben (Feil 2002).

Das erste Stadium ist gekennzeichnet durch eine leichte Desorientierung. Die betroffenen

Personen versuchen, an der objektiven Realität festzuhalten und verleugnen ihre Gefühle.

Dies macht eine validierende Annäherung sehr schwierig. Die Gefühle werden hauptsäch-

lich in verschlüsselter Form ausgedrückt. Da die Betroffenen darin bestrebt sind sich zu

rechtfertigen oder ihre starken Emotionen zu leugnen, beschuldigen sie oft andere. In dieser

Phase entwickeln sich oft Wahnvorstellungen (z.B. Bestehlungswahn). In diesem Stadium

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 28Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

soll der betroffenen Person durch Zuhören und gezielte Fragen geholfen werden, ihre Gefüh-

le auszudrücken zu können. Warum-Fragen sollten vermieden werden, da sich die betroffene

Person schnell überfordert fühlt und ihr Selbstwertgefühl verliert.

Das zweite Stadium ist gekennzeichnet durch den Verlust kognitiver und körperlicher Fä-

higkeiten sowie durch den Verlust der Selbstkontrolle und der Kommunikationsmöglichkei-

ten. Menschen mit Demenz sind nicht mehr in der Lage, sich an die Realität zu klammern

und ziehen sich immer mehr zurück. Sie kehren zu grundlegenden, universellen Gefühlen

zurück: Liebe, Hass, Trauer, Angst vor Trennung, Streben nach Identität. Sie benutzen oft

eigene Wortschöpfungen.

Das dritte Stadium ist das der „sich wiederholenden Bewegungen“. Wenn Menschen im

zweiten Stadium ihre Gefühle nicht durch eine validierende Person verarbeiten können, zie-

hen sich diese Menschen häufig in vorsprachliche Bewegungen und Klänge zurück. Körper-

teile werden zu Symbolen, Bewegungen ersetzen Worte. Die Sprache wird unverständlich,

oft kommen nur eingeprägte Laute der frühen Kindheit heraus. Durch die Körperbewegun-

gen transportieren sich manche verwirrte Menschen in die Vergangenheit zurück, um der

schmerzlichen Realität zu entgehen. Feil ist der Ansicht, dass Medikamente oder Zwangs-

mittel den Rückzug noch verstärken.

Das vierte Stadium nennt sich „Rückzug ins sich selbst“. Menschen in diesem Stadium ver-

schließen sich völlig der Außenwelt und geben das Streben, das Leben zu verarbeiten, auf.

Der eigene Antrieb reicht gerade um zu überleben. Im Vegetationsstadium brauchen Men-

schen besonders körperliche Berührungen, Anerkennung und Fürsorge (Feil 2002).

4.3.1. Integrative Validation

Der Ausgangspunkt von Biografiearbeit ist häufig, dass lediglich Minimaldaten vorliegen.

In diesem Fall muss sich ein Team auf eigene Fähigkeiten konzentrieren. Die Hauptaufgabe

von Mitarbeitern in Pflege und Begleitung ist zu beobachten und sehr genau wahrzunehmen.

Nicole Richard entwickelte die Validation von Naomi Feil zu dem praxisbetonten Handlungs-

modell der Integrativen Validation weiter. Die Integrative Validation zeichnet sich durch

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 29Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

eine wertschätzende und behutsame Umgangsweise aus. Ziel ist es, ein vertrauensvolles

Klima zu schaffen. Der Schwerpunkt der Kommunikation liegt auf der emotionalen Ebene.

Zu Beginn des Gesprächs werden von der Pflegeperson Gefühle und Antriebe angesprochen,

wertgeschätzt und akzeptiert. Dadurch entsteht Vertrauen und der Patienten fühlt sich an-

genommen. Im weiteren Verlauf werden allgemeine Redewendungen und Sprichworte ge-

nutzt, die zu den vorherrschenden Antrieben passen (z.B. „Ordnung ist das halbe Leben“ bei

Ordnungsliebe). Diese Redewendungen sind den alten Menschen vertraut und geben ihnen

Sicherheit. Dabei ist zu beachten, dass die Integrative Validation völlig auf Fragetechniken

und auf Realitätsorientierung verzichtet. In die Gespräche werden Lebensgeschichte und

persönliche Rituale der Betroffenen eingebunden (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2003).

Die Integrative Validation unterscheidet sich von der Validation von Feil vor allem in der

Art der verbalen Kommunikation, insbesondere im Vorhandensein bzw. dem Fehlen der Fra-

getechnik und Interpretation verbaler Äußerungen von verwirrten Menschen. Die wesent-

lichen Prinzipien, die Grundhaltung und das Leitbild, das den empathischen Zugang zur

subjektiven Realität und Gefühlswelt des Demenzkranken in den Mittelpunkt stellt, sind in

beiden Formen der Validation gleich (Erlemeier 1998).

4.3.2. Reminiszenz-Therapie

Die Reminiszenz-Therapie (REM) ist eine spezielle Ausrichtung der Erinnerungsarbeit und

wurde vor allem für die Gruppe der Menschen mit Demenz und Depression entwickelt. Sie

orientiert sich an dem 1958 von Robert N. Butler entwickeltem Therapieprogramm für Pa-

tienten mit psychiatrischen Störungen (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Butler nimmt

an, dass die Lebensrückschau kein Regressionsprozess wie bei Feil ist, sondern ein kreativer

Prozess, der darauf ausgerichtet ist, zur Ich-Integrität zu gelangen. Die Aufarbeitung unge-

löster Konflikte ist die zentrale Aufgabe des hohen Alters und wird als Antwort auf die Kon-

frontation mit Krankheiten und Tod betrachtet. Butler ist der Meinung, dass der Rückblick

auf das vergangene Leben auf jeden Fall stattfindet, deswegen sollte man diese Erinnerun-

gen begleiten und nicht übergehen.

Die Durchführung der Therapie erfolgt in offenen oder geschlossenen Gruppen. Das Ge-

spräch verläuft mit Themenvorgaben, die an den chronologischen Lebenslauf angelehnt sind.

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Vorteile der Reminiszenz-Therapie sind der Aufbau von Sozialkontakten, die Relativierung

des eigenen Schicksals und die Anteilnahme am Leben anderer. REM soll eine zeitliche

Orientierungshilfe darstellen. Die Lebenserinnerungen sollen therapeutisch genutzt und die

Betroffenen in Krisensituationen unterstützt werden. Bei einigen ausgewerteten Studien

wurden positive Ergebnisse festgestellt. Positive Effekte waren z.B. erhöhtes Interesse, In-

teraktion, soziales Verhalten, Stimmungsaufhellung, Anregung kognitiver Funktionen und

die Minderung von Aggression und Unruhe. Es gibt allerdings keine Berichte darüber, ob

oder wie lange diese Effekte anhalten, obwohl auch Veränderungen außerhalb der Gruppen-

sitzungen beobachtet wurden. Durch REM können die Mitarbeiter die Betroffenen besser

kennen lernen, was sich positiv auf eine individuelle Pflege, Förderung und Begleitung aus-

wirken kann (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).

4.3.3. Selbsterhaltungs-Therapie

Die Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) hat zum Ziel, die Betroffenen beim Erhalt ihrer Iden-

tität und dem Wissen um das eigene Selbst zu unterstützen (Klie 2002). Das emotionale

Gleichgewicht soll wieder hergestellt und depressive Reaktionen verringert werden. Der

theoretische Hintergrund beruht auf der Annahme, dass das Selbst ein zentrales kognitives

Schema darstellt, welches Informationen aufnimmt, verarbeitet und behält. Durch diese Ver-

arbeitung ist es Menschen möglich, Situationen einzuordnen, auf Basis der Erfahrungen Ent-

scheidungen zu treffen und sich zu orientieren. Es wird angenommen, dass ein Abnehmen

dieses Prozesses (z.B. durch dementielle Erkrankungen) zu einem schwindenden Selbst und

damit die personale Kontinuität zu psychischem Leiden, Aggressionen und Depressionen

führt. Zieht sich ein Mensch zurück, entstehen erlebnisarme Lebensbedingungen, die das

Identitätsgefühl bedrohen können (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).

Durch die SET sollen in alltäglichen Situationen die Fähigkeiten und Stärken aber auch

Schwächen kennen gelernt werden. Bei dem selbstnahen Wissen handelt es sich um Aspekte

des Lebens, die dem Menschen persönlich sehr wichtig waren. Im Vordergrund stehen Erin-

nerungen, Fähigkeiten, Vorlieben und Interessen, die sich ein Leben lang entwickelt haben

und zu seinem Selbst gehören (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Hierbei wird sich einer

ausgeprägten Beschäftigung mit der Biografie des Betroffenen bedient. Durch das Erzählen

von persönlichen Erlebnissen wird nicht nur eine Festigung des Wissens über sich selbst,

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sondern auch eine Stärkung des Selbstvertrauens durch die Erinnerung an die im Leben

vollbrachten Leistungen bewirkt (Klie 2002).

Dieses Training beinhaltet auch das Üben von noch erhalten gebliegenen Fähigkeiten, durch

welches kommenden Beeinträchtigungen entgegengewirkt werden soll. Mit dem Menschen-

bild der SET wird eine generelle Sensibilisierung auf das Selbst eines Menschen verfolgt und

Antriebe und Wünsche werden verständlich gemacht (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).

Weiterhin fördert allein das Erzählen die Verbesserung der Hirnfunktionen (Klie 2002).

4.4. Psychobiografisches Pflegemodell

Das psychobiografische Pflegemodell von Böhm geht davon aus, dass problematische bzw.

herausfordernde Verhaltensweisen von alten Menschen erklärbar sind, wenn wir sie auf-

grund ihrer emotionalen Biografie verstehen lernen. Tiefenpsychologischen Ansätzen zufol-

ge werden Menschen in den ersten Lebensjahren in ihren Verhaltensweisen und dem dazu-

gehörigen Gefühl grundlegend geprägt. Durch positive oder negative Situationen können sie

in diese Zeit regredieren. Bei der Psychobiografie steht im Gegensatz zur herkömmlichen

Biografie nicht der chronologische Lebenslauf im Vordergrund, sondern der emotionale. Es

stellt sich nicht die Frage, was ein Mensch in seinem Leben getan hat, sondern warum ein

Mensch etwas getan hat und heute noch tut. Für die praktische Umsetzung und den Umgang

mit dementen Menschen ist es erforderlich, die Zeitgeschichte dieser Menschen zu erfor-

schen. Aus dem so genannten Zeitgeist von „damals“ und der emotionalen Biografie werden

auffällige Verhaltensweisen interpretiert (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998).

Böhm teilt das Erleben von Menschen mit Demenz in sieben Stufen ein. Auf jeder dieser

Stufen kann man die Person auf eine andere Art emotional erreichen. Es sollen Impulse ge-

setzt werden, die Menschen mit Demenz von einer geistigen Interaktionsstufe in eine nächst

höhere Interaktionsstufe bringen sollen. Mit Hilfe eines speziellen Dokumentationssystems

können die jeweiligen Interaktionsstufen dieser Menschen errechnet sowie die psychobio-

grafische Pflegeplanung nach Böhm durchgeführt werden. Ziele des psychobiografischen

Pflegemodells sind die Aktivierung der Betroffenen, um ihren Rückzug zu verhindern, die

Symptome der Krankheit zu lindern und ihre Lebensqualität zu erhöhen (Gerben & Kopi-

nitsch-Berger 1998).

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Über die Biografiearbeit werden so genannte „Copings“ erhoben, also Informationen dar-

über, wie ein Mensch, mit Problemen umgeht Diese Reaktionsmuster werden von Bezugs-

personen abgeschaut. Daraus lassen sich die Bewältigungsstrategien ableiten, die eingesetzt

werden, um Pflegeziele zu erreichen.

Zusammenfassung: Die Probleme psychisch auffälliger alter Menschen sind oft nicht vor-

dergründig organisch, sondern seelisch bedingt, was aus der individuellen Biographie her-

geleitet werden kann. Daraus resultiert u.a. die Forderung nach Gesundheitspflege statt

Krankenpflege! Die Vorgehensweise in der Pflege erfordert eine eigenständige Denk- und

Arbeitsweise des Pflegepersonals. Die Pflegetheorie zeichnet sich durch die Betonung und

Förderung des Selbsthilfepotenzials alter Menschen aus. Sie sollen reaktiviert werden, sie

sollen aufleben und nicht aufgehoben werden. Denn: „Vor den Beinen muss die Seele bewegt

werden.“

4.5. Personenzentrierter Ansatz als Methode zum Erhalt der Subjektivität

Der personenzentrierte Ansatz von Kitwood stellt eine nicht rein biografieorientierte Me-

thode, sondern eher eine bestimmte Haltung gegenüber demenzkranken Menschen dar. Es

ist wichtig, diesen Ansatz trotzdem im Rahmen von biografischen Methoden zu erwähnen,

da der Schwerpunkt dabei auf der Erhaltung und Stützung der jeweiligen Subjektivität und

Persönlichkeit des Menschen in seiner Einzigartigkeit liegt.

Theoretische Grundlage der personenzentrierten Pflege ist die Überlegung, was es heißt, eine

Person zu sein bzw. welchen Wert „Person-Sein“ für einen Menschen hat. Schon der Philo-

soph Immanuel Kant argumentierte, dass das Prinzip des Respekts vor Personen dem Leben

des Menschen als soziales Wesen einen Sinn gibt. In der Sozialpsychologie wird „Person-

Sein“ vor allem mit Einnehmen und Ausfüllen sozialer Rollen, Integrität, Kontinuität und

Stabilität des Selbstgefühls in Zusammenhang gebracht (Kitwood 2002).

Den Begriff des „Person-Seins“ umschreibt Kitwood wie folgt:

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„Es ist ein Stand oder Status, der dem einzelnen Menschen im Kontext von Beziehung

und sozialem Sein von anderen verliehen wird. Er impliziert Anerkennung, Respekt

und Vertrauen.“ (Kitwood 2002)

Je mehr die neurologische Beeinträchtigung voranschreitet, desto mehr sind die Betroffenen

darauf angewiesen, erleichternde Ergänzungen bei „abgerissenen Handlungsprogrammen“

zu erfahren und somit in ihrem „Person-Sein“ unterstützt zu werden. Im Unterschied zu

Menschen mit intakter innerer Struktur lebt die Subjektivität bei Menschen mit Demenz im-

mer mehr davon, Wertschätzung gespiegelt, Beschäftigung und Arbeit angeboten zu bekom-

men, in Gemeinschaft geführt und begleitet zu werden und in der Konstanz von Personen,

Strukturen und individuellen Routinen, Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren (Müller-

Hergl 2001). Häufig wird über Menschen mit Demenz gesagt, dass „sie sich verlieren“ oder

dass sich ihre Persönlichkeit verändert. Kitwood bezweifelt auch nicht, dass einige Fähig-

keiten im Verlauf der Demenz verloren gehen und dass Stimmungs- und Verhaltensmuster

verändert werden, aber er interpretiert diese Veränderungen als Verlust von Ressourcen und

als Zusammenbruch psychischer Abwehrmechanismen. Er spricht von einer Kontinuität der

Persönlichkeit, bei der einige Merkmale, die immer schon präsent waren, jetzt in einer über-

triebenen oder deutlicheren Form auftreten. Eine Ausnahme stellt die Frontallappen-De-

menz dar. Personen, bei denen eindeutig ein erheblicher Verlust an Neuronen in den Frontal-

lappen des Gehirns nachgewiesen wurde, neigen zu einer drastischen Verschlechterung der

Symptomatik und verändern somit gravierend das Verhalten (Kitwood 2002). Generell ist

aber davon auszugehen, dass das „Person-Sein“ erhalten bleibt. Dies gilt auch für Menschen

mit schwerer Demenz.

Bei der personenzentrierten Pflege wird der Mensch in seiner Subjektivität gesehen und

in seiner Individualität unterstützt. Es geht darum, den Menschen mit seinen vorhandenen

Fähigkeiten zu betrachten und diese zu fördern. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass

alles, was ein Mensch mit Demenz sagt und tut, einen Sinn hat. Demzufolge werden prob-

lematische Verhaltensweisen wie beispielsweise Aggression als herausforderndes Verhalten

und als Handlungs- und Kommunikationsversuch betrachtet. Ziel ist es, dieses Verhalten

zu verstehen und nicht zu sanktionieren. Die dahinter liegenden Bedürfnisse sollen erkannt

und dementsprechend soll gehandelt werden (Gerben & Kopinitsch-Berger 1998). Erfah-

rungsgemäß nimmt ein herausforderndes Verhalten in Form von Verhaltensauffälligkeiten

in einem personenunterstützten Milieu erheblich ab (Müller-Hergl 2001).

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 34Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

4.6. Aktivitäten und Kommunikation in der Biografiearbeit

Selbstverständlich sind auch Demenzkranken die Beziehungen zu anderen Menschen sehr

wichtig. Sie ziehen besonders große Befriedigung aus Aktivitäten, die sie gemeinsam mit

anderen durchführen können und die einen stark stimulierenden Charakter haben, also z.B.

sich gemeinsam bewegen, tanzen, Musik machen und hören oder auch Essen vorbereiten

(Hesse 2002). Solche Tätigkeiten geben Demenzkranken das Gefühl, sozial eingebunden zu

sein und vermitteln ihnen Sicherheit und Aufgehobenheit, aber auch aktiv und eigenständig

handeln zu können (Bruder 2002). Gerade in solchen Situationen kann es zu intensiven

Kontakten und auch zu Gesprächen kommen. Eine anregende Atmosphäre, Unterstützung

durch Bilder, Düfte, Wohlschmeckendes und berührbare Gegenstände aus dem Alltag oder

der Natur steigern das Wohlbefinden und fördern die Kommunikation.

Es dürfen allerdings auch nicht zu viele Reize gleichzeitig eingesetzt werden, da es sonst

schnell zu Überforderungen kommen kann. Das oftmals mit vielen Medien gleichzeitig ar-

beitende basale „Snoezelen“ sollte daher in der Demenzarbeit nur sehr behutsam eingesetzt

werden.

In der biografieorientierten Kommunikation mit dementiell Erkrankten ist es also entschei-

dend, sich auf die Bedingungen der Gesprächspartner einzustellen. Um dem gerecht werden

zu können, sollten im Gespräch gewisse Regeln beachtet werden. In erster Linie gehört dazu,

dem Kranken nicht gleich zu widersprechen und ihn auf diese Weise zu konfrontieren. Über-

haupt muss mit Fragen – vor allem mit den typischen „W-Fragen“ (Wann, Wo…), insbeson-

dere aber mit der Frage nach dem „Warum“ – vorsichtig umgegangen werden, Möchte man

etwas in Erfahrung bringen, hilft oftmals nur ein behutsamer Umweg, ein Herantasten an

die Fakten. Man muss sich stets vor Augen halten, dass sich die Möglichkeiten des verbalen

Ausdrucks dem Erkrankten nach und nach entziehen, er also oftmals schwer oder gar nicht

mehr zu verstehen ist.

Die Sprache dem Patienten gegenüber bedarf einer besonderen Kontrolle. Es muss ruhig,

deutlich und langsam und somit verständlich gesprochen werden. Eindeutige, kurze und

prägnante Sätze erhöhen die Chance, dass die Inhalte auch verstanden werden. Vor allem

sollten nicht mehrere Informationen auf einmal geliefert werden. Auch ist es wenig sinn-

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 35Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

voll, moderne Begriffe zu verwenden, die dem Zeitgeist geschuldet sind („cool“) und nicht

zum eingeschliffenen Sprachrepertoire gehören. Dies wirkt wie eine völlig unverständliche

Fremdsprache und hinterlässt nur Ratlosigkeit.

Wenig ergiebig sind auch Fragen nach Daten, die erst in jüngster Vergangenheit abgespei-

chert hätten werden können. So sind oftmals die Namen der Großeltern präsenter als die

Namen der Enkel. Es hilft sehr, die Patienten von vorne anzusprechen, da Stimmen von der

Seite oder gar von hinten nicht mehr zugeordnet werden können. Weiters sollte man sich auf

Augenhöhe begeben, z.B. bei sitzenden Personen und Rollstuhlfahrern. Angeraten ist auch,

nicht lauter als nötig zu sprechen und vor allem Zeit zu geben, das Gesagte zu verstehen.

Hier ist Geduld gefordert.

Dabei kann eine behutsame, durchaus redundante nonverbale Kommunikation das gespro-

chene Wort noch verdeutlichen (Niebuhr 2004). Belastende und tabuisierte Themen, sofern

man sie kennt, gilt es besser zu vermeiden, z.B. eine Scheidung, eine unglückliche Ehe oder

das Zerwürfnis mit den Kindern. Insgesamt sollte darauf geachtet werden, dass es möglichst

nicht zu problematischen Situationen infolge unliebsamer Erinnerungen kommt. Mit Sicher-

heit ausschließen wird sich dies aber wohl nicht, da z.B. manche ältere Menschen immer

noch unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, die infolge der langen Tabuisie-

rung bestimmter Erlebnisse nie verarbeitet werden konnten. Diese können dann im Alter,

insbesondere in Stadien der Demenz und der Lebensbilanzierung, wieder aufbrechen. Ty-

pisch sind z. B. Panikattacken, wenn Sirenen von vorbeifahrenden Einsatzfahrzeugen gehört

werden. Das Verhalten eines dementiell Erkrankten, der in einem solchen Moment unter das

Bett kriecht, ist dann nur aufgrund seiner Lebensgeschichte, speziell seiner Kriegserlebnisse,

zu verstehen.

Eine therapeutische orientierte Aufarbeitung, die gerade im Alter sehr wertvoll und für das

Loslassen sehr wichtig sein kann, sollte entsprechend ausgebildeten Therapeuten überlassen

bleiben. Gute Erfolge auf sehr behutsamem Wege hat hier die Musiktherapie aufzuweisen,

vor allem im Kontext von Sterbebegleitung (Pfefferle 2005). Vieles in der Kommunikation

verbleibt auf der Ebene von Gefühlen, Gespür, Atmosphäre und Stimmungen, die von den

Erkrankten sehr wohl wahrgenommen werden, auch wenn inhaltliche Fakten nicht mehr

verstanden und umgesetzt werden können. Und man kann selbst oftmals nur versuchen zu

spüren, was hinter ihren Aussagen steckt. Daher macht es Sinn, sich in der Kommunikation

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 36Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

auf die Gefühle des alten Menschen einzulassen und sich von ihnen leiten zu lassen.

Wird den aktuellen Ausdrucks- und Verhaltensmöglichkeiten des Erkrankten nicht Rech-

nung getragen, indem er z.B. zu einem Verhalten gedrängt wird – etwa auch in der Biografie-

arbeit – kann er ärgerlich, abwehrend oder gar aggressiv reagieren. Diese immer wieder zu

beobachtenden und den Pflege- und Begleitungsprozess erschwerenden Verhaltensweisen

sind in der Regel Reaktionen auf das Gefühl der Hilflosigkeit und der Überforderung. Sie

stellen Barrieren dar, zumal eine verbale Auseinandersetzung nicht oder kaum mehr möglich

ist. Das macht deutlich, „wie wichtig es ist, sich immer wieder in die psychische Situation

von demenzkranken Menschen einzufühlen und dabei die Relation zwischen den eröffneten

Handlungsmöglichkeiten und den gezogenen Handlungsgrenzen sehr sorgfältig abzuwägen.“

(Kruse 2004)

Für den dementiell erkrankten Menschen erhöht sich in der Regel seine Lebensqualität,

wenn er in soziale Aktivitäten eingebunden ist. Aufgrund der sprachlichen Einbußen kom-

men aber nur noch wenige Beschäftigungen dafür in Frage, so dass den Zugängen über

attraktive Medien eine herausragende Rolle beizumessen ist. Bei zunehmender Verschlech-

terung der Demenzsymptome sind die auditiven Medien den visuellen vorzuziehen. Insbe-

sonders bekannte und emotional anregende Musik trägt dazu bei, wichtige Eckpfeiler aus

der Lebensgeschichte, aber auch Wesenszüge, Vorlieben und Abneigungen offenzulegen,

um diese Daten für eine Begleitung positiv nutzen zu können. Sie hilft auf der Basis lebens-

geschichtlicher Erfahrungen bei der Aufrechterhaltung des Selbstbildes und der Kontinuität

von Identität und garantiert eine verstehende und annehmende Haltung in der biografieori-

entierten Begegnung. Darüber hinaus existieren aber noch viele andere Möglichkeiten, den

dementiell erkrankten Menschen über sinnlich-ästhetische Prozesse zu erreichen und seine

Lebensgeschichte wenigstes bruchstückhaft für eine angenehme Beziehung ins Bewusstsein

zu holen. So z.B. durch den Einsatz von Haustieren, die Sinnesebenen wie das Berühren und

Riechen stimmulieren und den unersetzbaren Kontakt zu einem Lebewesen. Durch verschie-

dene Aktivitäten und Kommunikation können wichtige Eckpunkte für die Biografiearbeit

beantwortet werden.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 37Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

4.7. Strategien der biografischen Scheinweltgestaltung

Das Modell der biografisch orientierten Scheinweltgestaltung basiert auf dem Ansatz einer

Verbesserung der Person-Umwelt-Passung mit dem Ziel, hierdurch das Wohlbefinden und

damit auch die Lebenszufriedenheit herzustellen bzw. zu steigern. Dies hat zugleich eine

deutliche Minderung von Stress aufgrund von Überforderung durch eine fremd wirkende

Umwelt zur Folge.

Da Demenzkranke sich nur noch begrenzt an neue Reizgefüge der Umwelt anzupassen ver-

mögen, gilt es nun, die Lebenswelt gemäß dem geringen Verarbeitungsvermögen zu verän-

dern, wozu unter anderem auch die Scheinweltgestaltung neben der Verstetigung der Hand-

lungsgefüge und der Stimulusanpassung gehört (Lind 2011).

Die Behandlung psychischer Belastungen und die Eingliederung von Scheinweltelementen

in die unmittelbare Lebenswelt zur psychischen Stabilisierung sind die vorrangigen Ziele

der unterschiedlichen Vorgehensweisen.

1. Positives Einwirken bei beeinflussbaren Zeitverschränkungen

mit Verpflichtungscharakter (Stressabbau):

Entsprechend der psychischen Belastung des Demenzkranken kann von einer beeinflussba-

ren Zeitverschränkung bei einem niedrigen Stressniveau gemäß dem Drei-Stufen-Modell

der Ablenkung und Beruhigung durch eine verbale Aussage abgelenkt werden. Bei einem

höheren Stressniveau bedarf es hingegen intensiverer Reizgefüge:

Wenn ein Demenzkranker sich aufgrund seiner Erinnerung verpflichtet fühlt, die Hühner füt-

tern zu müssen, dann reicht bei einem niedrigen Stressniveau der Hinweis, dass die Hühner

schon gefüttert worden sind. Ist die Unruhe hingegen schon deutlich gesteigert, dann sollte

der Demenzkranke aufgefordert werden, mit in die Küche zu kommen, um beim Abtrocknen

zu helfen (Lind 2011).

2. Hilfestellung beim Ausüben zwanghafter Handlungsabläufe

(starre Zeitverschränkungen):

Sind Demenzkranke ständig dem Zwang der Ausübung einer lebensgeschichtlich bedeutsa-

men Handlung wie z.B. dem nächtlichen Zeitungsaustragen ausgeliefert, dann sind hierbei

Hilfestellungen zu geben, indem dem Betroffenen ein Stapel alter Zeitungen vor die Tür

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 38Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

gelegt wird, die er dann im Wohnbereich austeilen kann, um anschließend wieder ins Bett

zu gehen (Lind 2006).

3. Strategien des „Mitgehens und Mitmachens“ bei wahnhaften Halluzinationen

mit lebensbedrohlichem Stress:

Demenzkranke entwickeln manchmal wahnhafte Halluzinationen mit lebensbedrohlichen

Inhalten. Die Betroffenen befinden sich somit regelrecht in einer Akutkrise, die einer schnel-

len und wirksamen Hilfe bedarf. Von den Pflegenden werden hierbei erfolgreich Strategien

des „Mitgehens und Mitmachens“ angewendet, die auf folgenden Prinzipien basieren:

- Die wahnhafte Halluzination anerkennen.

- Den negativen Reiz durch einen positiven Reiz verdrängen.

- Die Darstellung des positiven Reizes muss über ausreichend Intensität verfügen, um den

negativen Reiz zu „löschen“.

Wenn z.B. ein Demenzkranker Murmeltiere unter dem Bett sieht, dann gilt es, die imagi-

nären Tiere schnell und überzeugend aus dem Zimmer zu entfernen. Pflegende greifen sich

dann zum Beispiel einen Besen und fegen mit Vehemenz, Gesten und vielen Worten die

Murmeltiere aus dem Zimmer. Wenn dies beeindruckend genug geschieht, dann wird bei

dem Demenzkranken der negative Reiz „Murmeltiere“ durch den positiven Impuls „Hilfe

durch Pflegende“ ersetzt und der Betroffene ist erleichtert und beruhigt (Lind 2007).

4. Behandlung von nächtlichen Eingebungen:

Nächtens haben Demenzkranke meist aufgrund von Träumen Eingebungen, die ein „Mitge-

hen und Mitmachen“ erforderlich machen. Wenn z.B. eine Bewohnerin unbedingt zur Messe

möchte, dann wird eine Fahrt mit dem Bus in die Kirche simuliert (Lind 2007). Oder wenn

eine Demenzkranke überzeugt ist, gerade ein Kind geboren zu haben, dann wird ihr eine

Puppe als Babyersatz in dem Arm gelegt.

5. Architektonische Aspekte und Möblierung:

Demenzkranke fühlen sich in Räumlichkeiten, die mit vertrauten Möbeln ausgestattet sind,

sichtlich wohler und zeigen hier deutlich stressärmeres Verhalten. So konnte z.B. in einer

Raummilieustudie in Schweden nachgewiesen werden, dass durch die Möblierung und De-

korierung des Speiseraumes eines Altenpflegeheimes mit vertrauten Gegenständen die Nah-

rungsaufnahme deutlich gesteigert werden konnte (Elmstahl 1987). Eine Untersuchung in

den USA zeigte, dass u.a. durch die Möblierung des Aufenthaltsbereiches mit vertrauten

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 39Anwendungsmöglichkeit von Biografiearbeit bei Demenzerkrankung

Möbelstücken der Bewohner die Unruhe und das Überforderungsverhalten sichtlich gemin-

dert werden konnten (Minde 1990).

Rundwanderwege für Demenzkranke dienen vordringlich als sichere und barrierefreie Be-

wegungsflächen (Lind 2007). Zusätzlich suggerieren sie den Betroffenen große und weitläu-

fige Flächen und lenken somit von der Begrenztheit des Wohnbereiches ab.

Zusammenfassung: Das Modell einer biografisch orientierten Scheinweltgestaltung zielt

auf eine Verbesserung der Person-Umwelt-Passung, indem die teils biografisch erklärba-

ren Realitätsverzerrungen bei positiver Auswirkung durch Umgang, Milieu, Utensilien und

Beschäftigungen bekräftigt werden. Wenn Realitätsverluste hingegen mit Stress verbunden

sind, werden diese durch Ablenkungsstrategien (z.B. Mitgehen und Mitmachen) aus dem

Bewusstsein getilgt.

Während meines Praktikums (SeneCura) konnte ich die Erfahrung eines fingierten Bahnho-

fes bzw. einer Bushaltestelle machen. Die Bewohner nutzten diese Inszenierung sehr gerne.

So konnte man sich als Pflegeperson dazusetzen und erfuhr von den Bewohnern interessante

Geschichten aus ihrer Vergangenheit.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 40

5. Schlussteil

Resümee

Biografisches Wissen stellt eine essentielle Grundlage in der Arbeit mit demenzkranken Menschen

dar. Aus der Biografie erschließen sich Verhaltensweisen und Äußerungen der Demenzkranken,

welche den sie umgebenden Personen die Möglichkeit gibt, diese Menschen ganzheitlich mit

ihrer eigenen Persönlichkeit kennenzulernen und wahrzunehmen sowie auf ihre individuellen

Bedürfnisse einzugehen. Das Individuum steht dabei im Mittelpunkt – nicht die Defizite oder das

Krankheitsbild! Für demente Menschen stellt die Erinnerung an die Vergangenheit eine wichtige

Ressource dar, da das Langzeitgedächtnis auch während des Krankheitsverlaufs am wenigsten

beeinträchtigt ist. Ein wichtiges Ziel der biografieorientierten Methoden ist es, die Identität, die

durch die Erkrankung Demenz bedroht ist, zu erhalten. Dazu werden so genannte „identitätssta-

bilisierende“ Interventionen ergriffen, welche den Erhalt des personalen Selbst anstreben. Dies

kann beispielsweise in Form von den in Kapitel 4 genannten biografieorientierten Ansätzen und

Methoden erfolgen.

Auch wenn wissenschaftliche Nachweise für die positiven Effekte von Biografie- oder Erinne-

rungsarbeit derzeit noch dürftig ausfallen, ist die Bedeutung der Biografiearbeit im Pflegebe-

reich meiner Erfahrung nach unumstritten. In einzelnen Studien zeigen sich tendenziell positive

Wirkungen der Erinnerungspflege, sowohl für die Demenzkranken als auch für die Pflegenden.

Es wird über eine signifikante Verbesserung der Stimmung, signifikante Reduktion der Depres-

sivität und Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten (Unruhe, Aggressivität, unkooperatives Ver-

halten, Antriebsmangel) berichtet. Zusätzlich zeigen sich auch positive Ergebnisse in Bezug auf

die Kommunikationsfähigkeit. Durch das Interesse an ihrer Lebensgeschichte kann bei alten

Menschen das Selbstwertgefühl gestärkt sowie positive Erinnerungen reaktiviert werden.

Jedoch kann auch eine Konfrontation mit Defiziten ausgelöst werden und negative und schmerzli-

che Erinnerungen geweckt werden. Deswegen sollten bestimmte Themen nur mit einer gewissen

Sensibilität angesprochen und die Privatsphäre der Menschen gewahrt werden. Eine unbedingte

Voraussetzung ist deshalb die Freiwilligkeit des Erzählens (oder des „Darüber-Sprechens“) so-

wie das Einschätzen der Reaktion auf Fragen über die eigene Lebensgeschichte. Eine Überforde-

rung durch penetrantes Fragen bei Demenzkranken ist unbedingt zu vermeiden.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 41Schlussteil

Vor allem bei demenzkranken Menschen können durch biografische Kenntnisse vorhandene

Interessen reaktiviert und stimuliert werden und durch Informationen über Vorlieben und

Gewohnheiten Aktivitäten und Beschäftigungsangebote individueller ausgewählt werden.

Durch geteilte Erinnerungen können auch ein Gemeinschaftsgefühl und eine Atmosphäre

des Vertrauens entstehen, welche Sicherheit bieten. Außerdem werden die Kommunikation

und die soziale Kontaktaufnahme gefördert und die Rückbesinnung auf Erfolge und Leistun-

gen im bisherigen Leben kann die Selbstachtung stärken.

Zusammenfassend stellt die Biografiearbeit einen wichtigen Aspekt in der Betreuung von

demenzkranken Menschen dar. Durch sie besteht die Möglichkeit, die Beziehung zum Be-

troffenen lebendig zu gestalten und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, auch wenn

beim betroffenen Menschen eine „sinnvolle“ Kommunikation kaum noch möglich ist. Durch

die Validation und richtige Vorgehensweisen (einfühlsam, emphatisch…) bei der Biografie-

arbeit, können so wichtige Eckpunkte beantwortet werden, die für die Pflege wichtig sind.

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 42Schlussteil

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Christian Burtscher | Biografiearbeit im Pflegealltag 45Schlussteil

Eidesstattliche Erklärung

Hiermit bestätige ich, Christian Burtscher, dass ich diese Arbeit nur mit Hilfe der von mir im

Literaturverzeichnis angeführten Unterlagen verfasst habe.

Bludenz, im Februar 2011 Christian Burtscher