Christoph Wolff: Bach Und Die Idee Musikalischer Vollkommenheit SIM-Jb_1996-01

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7/24/2019 Christoph Wolff: Bach Und Die Idee Musikalischer Vollkommenheit SIM-Jb_1996-01 http://slidepdf.com/reader/full/christoph-wolff-bach-und-die-idee-musikalischer-vollkommenheit-sim-jb1996-01 1/15  Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit BACH UND DIE IDEE MUSIKALISCHER VOLLKOMMENHEIT* CHRISTOPH WOLFF I Daß Musik eine Gabe der Götter sei, überliefern die kultischen Traditionen al- ler Weltreligionen, in denen Musik eine Rolle spielt. Zum Besonderen der abendländischen Musikkultur gehört es hingegen, daß sie schon frühzeitig eine theoretische Dimension aufwies, in der das Gedankengut der griechi- schen Antike und des christlichen Mittelalters zu einer Synthese verschmolz, die etwas Singuläres ermöglichte, nämlich eine musikalische Philosophie: Denken über Musik, Denken mit Musik, Denken in Musik. Musik war nicht bloß göttliche Gabe, sondern zugleich ein Mittel, göttliches Wirken zu verste- hen. Innerhalb des mittelalterlichen Wissens- und Lehrkanons der Septem ar- tes liberales gehörte die Ars musica zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie zum Quadrivium der mathematischen Künste. Die Ordnung des Kosmos ließ sich denn auch musiktheoretisch erklären, da einzig in der Ars musica Maß, Zahl und Gewicht ein proportionales System boten, das bei- spielsweise durch die Mensuren von Monochord-Saiten, Orgelpfeifen oder Glocken erfahrbar, hör- und beweisbar gemacht werden konnte. Die Vollkommenheit der Schöpfung Gottes ließ sich nicht besser verstehen als mit Mitteln der Musik. Gute und schlechte Proportionen konnten in Form von vollkommenen und unvollkommenen Intervallen, Konsonanzen und Dis- sonanzen, Wohl- und Mißklängen dargestellt werden. Die durch Maß, Zahl und Gewicht regulierte Schöpfungsordnung der Welt regierte auch die Welt der Töne, ja spiegelte sich in ihr wider. Den Regeln zuwider laufende, falsch gesetzte Töne waren darum keine Musik, sondern – nach Worten des barok- *  Vortrag, gehalten am 4. Juli 1995 im Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen In- stituts für Musikforschung anläßlich der 25. Bach Tage Berlin. Auf eine Wiedergabe der Klangbeispiele durch Notenbeispiele wurde (mit Ausnahme von Beispiel 1) verzichtet; die Anmerkungen beschränken sich auf Quellennachweise.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

BACH UND DIE IDEE MUSIKALISCHER VOLLKOMMENHEIT*

CHRISTOPH WOLFF

I

Daß Musik eine Gabe der Götter sei, überliefern die kultischen Traditionen al-ler Weltreligionen, in denen Musik eine Rolle spielt. Zum Besonderen derabendländischen Musikkultur gehört es hingegen, daß sie schon frühzeitigeine theoretische Dimension aufwies, in der das Gedankengut der griechi-schen Antike und des christlichen Mittelalters zu einer Synthese verschmolz,die etwas Singuläres ermöglichte, nämlich eine musikalische Philosophie:Denken über Musik, Denken mit Musik, Denken in Musik. Musik war nichtbloß göttliche Gabe, sondern zugleich ein Mittel, göttliches Wirken zu verste-

hen. Innerhalb des mittelalterlichen Wissens- und Lehrkanons der Septem ar-tes liberales gehörte die Ars musica zusammen mit Arithmetik, Geometrie undAstronomie zum Quadrivium der mathematischen Künste. Die Ordnung desKosmos ließ sich denn auch musiktheoretisch erklären, da einzig in der Arsmusica Maß, Zahl und Gewicht ein proportionales System boten, das bei-spielsweise durch die Mensuren von Monochord-Saiten, Orgelpfeifen oderGlocken erfahrbar, hör- und beweisbar gemacht werden konnte.

Die Vollkommenheit der Schöpfung Gottes ließ sich nicht besser verstehenals mit Mitteln der Musik. Gute und schlechte Proportionen konnten in Form

von vollkommenen und unvollkommenen Intervallen, Konsonanzen und Dis-sonanzen, Wohl- und Mißklängen dargestellt werden. Die durch Maß, Zahlund Gewicht regulierte Schöpfungsordnung der Welt regierte auch die Weltder Töne, ja spiegelte sich in ihr wider. Den Regeln zuwider laufende, falschgesetzte Töne waren darum keine Musik, sondern – nach Worten des barok-

* Vortrag, gehalten am 4. Juli 1995 im Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen In-stituts für Musikforschung anläßlich der 25. Bach Tage Berlin. Auf eine Wiedergabe der

Klangbeispiele durch Notenbeispiele wurde (mit Ausnahme von Beispiel 1) verzichtet; dieAnmerkungen beschränken sich auf Quellennachweise.

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Christoph Wolff 

ken Musiktheoretikers Friedrich Erhart Niedt –  „ein Teuflisches Geplerr und

Geleyer“ (so zitiert auch von Bach in seiner Generalbaß-Lehre von 1738)1.

Bach spricht in seiner Generalbaßlehre auch vom Finis, dem Endzweck al-

ler Musik: daß sie der Ehre Gottes und der Recreation des Gemüts zu dienenhabe. Wiederum in Anlehnung an Niedt spricht Bach hier gleichsam sein mu-

sikalisches Credo aus. Hier Ehre Gottes, dort Recreation des menschlichen

Gemüts – es geht um die Totalität von Geist, Verstand und Sinnen, wie es die

Mittlerfunktion der Musik besagt. Musik als Brücke zwischen Gott und

Mensch; Kunst, die der Vollkommenheit der Schöpfung, der Natur, nachzuei-

fern und zumindest deren Maßstäbe zu übernehmen bestrebt war. Vollkom-

menheit war denn auch musikalisch besser definierbar als in irgendeiner ande-

ren Kunst. Ein so genuin musikalischer Begriff wie die griechische Vokabel

„Harmonia“  bezeugt die Tragweite. „Perfectio“  bedeutete Schöpfungsnähe

und Richtigkeit, Vollkommenheit (laut Johann Georg Sulzer)2  „die Identität

von dem, was sein soll und was sein muß.“Es überrascht in diesem Zusammenhang kaum, daß  bei dem wohl bedeu-

tendsten deutschen Musikschriftsteller des frühen 18. Jahrhunderts, dem Früh-

aufklärer Johann Mattheson, der Vollkommenheitsbegriff letztlich zum Ge-

genstand seines theoretischen Hauptwerkes,  Der vollkommene Capell-Meister 

(Hamburg 1739), wird. Auf dem Titelblatt bietet Mattheson eine Vignette der

Concordia discors, „die vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“, wie

sie auch f ür Bach die Quintessenz der Musik darstellte.

Denn die Harmonie der Welt verstand man als Concordia discors, einezwieträchtige Eintracht, das heißt in einer durch die Polarität von gut und

böse, richtig und falsch, mithin Gott und Teufel bestimmten Lebensordnung.

Freilich bestand kein Zweifel darüber, wer Herr über die Ordnung war. Jede

Dissonanz mußte harmonisch aufgelöst werden. Eine musikalische Komposi-

tion hatte mit einem vollkommenen Klang zu beginnen und zu schließen, ja –wenn sie regelgerecht gearbeitet war – mußte sie prinzipiell auf jedem schwe-

ren Taktteil eine Konsonanz bringen. Die Trias harmonica, der musikalische

Dreiklang, das Fundament aller mehrstimmigen Musik, konnte gar dazu die-

nen, ein so schwer faßbares Abstractum wie die Trinität Gottes, das drei ineins, hörbar – das heißt intellektuell wie sinnlich erfahrbar zu machen.

1 Zitiert nach: Ph. Spitta, Johann Sebastian Bach, Bd. 2, Leipzig 1880, S. 916.

2

Artikel „Vollkommenheit“, in J. G. Sulzer,  Allgemeine Theorie der schönen Künste,IV, Leipzig 1779, S. 406–407.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

Der „Trias harmonica“ überschriebene Kanon BWV 1072 impliziert in die-

ser Hinsicht weniger theologisches als musiktheoretisches Denken. Denn der

Komponist stellt dar, wie der Dreiklang nicht ein primär vertikales Klangge-

bilde, sondern Kumulation kontrapunktischer Linien ist (achtstimmige dop-pelchörige Auflösung in Neue Bach-Ausgabe VIII/1, S. 12).

Notenbeispiel 1

Für Bach kann dieser Kanon gleichsam als musikalisches Credo gelten, indem

er den Primat des Kontrapunktes (samt Imitation und Inversion) in der Satz-

lehre betont.

Die Kompositionslehre des späteren 18. Jahrhunderts hielt sich nicht mehr

an die normativen Prinzipien einer abstrakten Ars perfecta. Die Aufklärung

propagierte in deutlichem Gegensatz zur barocken Tradition und mit anthro-

pozentrischer Emphase nunmehr den Künstler als Originalgenie. Der Ansatz

dazu entstammte den Naturwissenschaften, deren neuentdeckter Empirismus

im 17. Jahrhundert das Bewußtsein des menschlichen Ingeniums erweckt hat-

te. So wurde insbesondere der Physiker Isaac Newton „zu einem bevorzugten

Genie-Paradigma“3, und ein Dichter von so unzweifelhafter Autorität wieShakespeare galt –  in der Perspektive des 18. Jahrhunderts –  als „berühmtes

Beispiel eines aus eigener Kraft wirkenden Genies“4. Das in England zuerst

entwickelte Konzept des Genies wurde damit zur Grundidee einer neuen äs-

thetischen Kunst, die in erster Linie nach Originalität strebte. Diderot, auf die

k ünstlerische Einbildungskraft anspielend, spricht vom „freien Spiel des

schöpferischen Genies“5. Denn das Originalgenie fragt nicht nach vorgegebe-

nen Gesetzen; es gibt sich eigene Regeln.

Wo zwischen den Polen Ars perfecta und Geniekunst ist nun Bach anzusie-

deln, wo liegt sein geschichtlicher Ort? Um die Antwort, die es zu begründengilt, vorwegzunehmen: Es scheint, als stünde Bach im Schnittpunkt der bei-

& c œ.   jœ   œ .   jœ..   œ .   jœ   œ .   jœ ..   œœœ ...  jœœ   œœœ ...

  jœœ..   œœœ ...  jœœ   œœœ ...

  jœœ ..& c

3 Vergleiche J. Schmitt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Litera-

tur, Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 1, Darmstadt 1985, S. 8.

4 W. Sharpe,  Dissertation on Genius  , London 1755; vergleiche B. Fabian, Art. „Ge-

nie“, in:  Historisches W örterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 3, Basel 1974,

Sp. 282.

5 Ebenda, Sp. 281.

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den Prinzipien, die so unvereinbar erscheinen. Es scheint, als verknüpfe er in

nahezu singulärer Weise die beiden Pole. Vollkommenheit auf der einen und

Einzigartigkeit auf der anderen Seite treten denn auch frühzeitig als gegen-

sätzliche wie sich ergänzende Begriffe auf, mit denen man sich dem Phäno-men Bach zu nähern versuchte. Die Idee der Vollkommenheit f ührte Johann

Abraham Birnbaum 1737 in die Diskussion ein6  und öffnete damit zugleich

den Blick auf eine historisch-theoretische Dimension von Bachs Kunst. Die

Vorstellung von Einzigartigkeit geht auf Bemerkungen Carl Philipp Emanuel

Bachs bzw. Johann Friedrich Agricolas von 1750 zurück 7, die damit ausdrück-

lich Individualität und Originalität der Musik Johann Sebastian Bachs anspre-

chen.

II

Der Suche nach der spezifischen Qualitas der Bachschen Musik, ja ihrer un-

verwechselbaren Eigenart, läßt sich kaum sinnvoll mit Methoden der Schaf-

fenspsychologie begegnen. Schon allein mangels dokumentierter einschlägi-

ger Selbstäußerungen entzieht sich Bach – in deutlichem Unterschied etwa zu

Mozart, Beethoven, Wagner oder Mahler –  jedwedem psycho-biographischen

Zugriff. Doch widersetzt er sich keineswegs Fragen nach den allgemeinen

Prämissen, historischen Voraussetzungen und Grundlagen der Kompositions-praxis. Auch über Persönlichkeit und biographischen Kontext läßt sich genü-

gend Auskunft gewinnen. Insbesondere vermag das Studium der Genese ein-

zelner Werke oder der Entstehungsbedingungen größerer Repertoires dazu

beizutragen, gewisse kompositorische Parameter und k ünstlerische Konstan-

ten aufzudecken.

Es läßt sich nicht übersehen, daß Bach als Komponist in vieler Hinsicht f ür

seine Zeit kaum als repräsentativ gelten kann. Seine Musik ist das höchst un-

gewöhnliche Produkt einer überaus starken und eigenwilligen Künstlerpersön-

lichkeit. In den rund f ünfzig Jahren seiner schöpferischen Tätigkeit durchmaßBach einen Entwicklungsprozeß, der unter seinen Zeitgenossen ohne Parallele

ist. Dabei spielen Kontinuität und Wandel eine gleichbleibend determinieren-

de Rolle.

6 Unpartheyische Anmerkungen... [1738] und Vertheidigung seiner unparteyischen An-

merkungen... [1739], zitiert nach: Bach-Dokumente, Bd. II (Fremdschriftliche und ge-

druckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685 – 1750), Kassel Ba-

sel 1969, Nr. 409 und 441.

7

Denkmal... [1754 gedruckt], in: Bach-Dokumente, Bd. III (Dokumente zum Nachwir-ken Johann Sebastian Bachs 1750 – 1800), Kassel Basel 1972, Nr. 666.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

Als wesentlicher Eckpfeiler der Kontinuität in Bachs Musik erscheint von

Anfang an der kompromißlos professionelle Zuschnitt. Bach hat sich nie dem

musikalischen Dilettanten zugewandt. Sein Virtuosentum (nicht zuf ällig be-

trauert das Gedicht am Schluß des Nekrologs den „Held der Virtuosen“)8

 warüber Generationen hinweg fest in der zünftigen Familientradition verwurzelt

und schlug sich niemals vordergründig in dem gleichmäßig hohen, f ür das 18.

Jahrhundert durchweg extrem anspruchsvollen technischen Schwierigkeits-

grad seiner Werke nieder.

Als entscheidender Faktor des Wandels in Bachs musikalischer Entwick-

lung gilt ein –  trotz aller geographischen Beschränkung – grenzenloser Wis-

sensdurst im Blick auf praktisch alle Aspekte der Kompositionskunst. Bachs

Kenntnis der Musikliteratur seiner Tage und auch der zurückliegenden Gene-

ration war schlechterdings beispiellos, vor allem auch in der Art, wie er neu

gewonnene Erkenntnisse als veränderndes und bereicherndes Moment in sein

eigenes Komponieren zu integrieren verstand.

Überblickt man die chronologische Spannweite des Bachschen Schaffens,

so zeigt sich von den frühesten bis zu den letzten Werken ein ebenso weites

wie differenziertes stilistisches Spektrum, gleichermaßen das Instrumental-

und Vokalwerk betreffend: Man vergleiche nur das „Capriccio sopra la lonta-

nanza del suo fratro dilettissimo“ BWV 992 mit der Kunst der Fuge oder den

„Actus tragicus“  BWV 106 mit der h-Moll-Messe. Demgegenüber wirkt der

Entwicklungsspielraum eines Telemann oder Händel erheblich schmaler.

Wenn man beispielsweise Händels früheste Opern und seine letzten Oratorienals repräsentative Pole seines Lebenswerkes ansieht, so stehen sich diese

kompositionstechnisch und stilistisch sehr viel näher, als es die frühen und

späten Werke Bachs tun.

So f ällt es aus heutiger Perspektive nicht schwer, Bach unter den Musikern

seiner Zeit eine Sonderstellung einzuräumen. Doch besaß  man im engeren

Kreis um Bach schon zu seinen Lebzeiten eine ziemlich klare Vorstellung da-

von. Wenden wir uns den einschlägigen Quellen zu: Die berühmte literarische

Kontroverse über die ästhetische Einschätzung der Kunst Bachs, ausgefochten

zwischen Johann Adolph Scheibe und Johann Abraham Birnbaum in den Jah-ren 1737–38, entzündete sich daran, daß Scheibe Bachs Musik Verworrenheit,

Mangel an Natürlichkeit und das Fehlen einer deutlich hörbaren Hauptstimme

vorwarf. Es ist hier nicht der Ort, diese –  im übrigen viel diskutierte – Kon-

troverse in ihren komplizierten Verästelungen erneut näher zu verfolgen9. Mir

8 Ebenda, Nr. 666.

9

Vergleiche G. Wagner, J. A. Scheibe – J. S. Bach: Versuch einer Bewertung, in:  Bach- Jahrbuch 1982, S. 33–49.

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geht es lediglich um das entscheidende Stichwort, das in diesem Zusammen-

hang f ällt, nämlich das der musikalischen Vollkommenheit. Der eigentliche

Grund f ür das Unverständnis Scheibes gegenüber Birnbaums Argumentation

sowie f ür dessen – und Bachs – kompromißlose Haltung liegt in dem dekla-rierten Vollkommenheitsanspruch der Bachschen Musik.

Der Begriff „Vollkommenheit“ taucht mehrfach bei Birnbaum auf und gip-

felt in dem apodiktischen Hinweis auf „die Sonderbaren Vollkommenheiten

des Herrn Hofcompositeurs“ Bach10. Dieser lapidare Verweis auf „die sonder-

baren (das heißt unverwechselbaren, andersartigen) Vollkommenheiten“Bachs war f ür einen Regelstreit denkbar ungeeignet. Birnbaum bezog freilich

die Legitimation daraus, daß  er Bach bewußt geschichtlich einordnete und

dessen Prinzipien der Polyphonie und Harmonie gegenüber dem modischen

Trend der modernen Skribenten mit Komponistennamen wie de Grigny, du

Mage, Lotti und Palestrina zusammenbrachte. Übrigens gibt Birnbaum mit

diesem Querverweis auf Repertoires in Bachs Notenbibliothek deutlich zu er-

kennen, daß  seine Argumentation von niemand anderem als Bach selbst dik-

tiert wurde und er lediglich als dessen literarisches Organ fungierte. So ver-

danken wir dem Leipziger Rhetorik-Dozenten eine überaus poetische Charak-

terisierung der Bachschen Polyphonie, wenn er beschreibt, wie

die stimmen in den stücken dieses großen meisters in der Music wundersam durcheinander

arbeiten: allein alle ohne die geringste Verwirrung. Sie gehen miteinander und widereinan-

der; beydes wo es nöthig ist. Sie verlassen einander und finden sich doch alle zu rechterzeit wieder zusammen. Jede stimme macht sich vor der andern durch eine besondere ver-

änderung kenntbar, ob sie gleich öfftermahls einander nachahmen. Sie fliehen und folgen

einander, ohne daß man bey ihren beschäfftigungen, einander gleichsam zuvorzukommen,

die geringste unregelmässigkeit bemercket. Wird dies alles so, wie es seyn soll, zur execu-

tion gebracht; so ist nichts schöners, als diese harmonie11.

Bach sieht die Grundlagen der Harmonie –  im Sprachgebrauch des 18. Jahr-

hunderts allgemein f ür Setzkunst stehend – als naturgegeben und seine Aufga-

be darin, „eben dieses natürliche, durch hülffe der kunst, in dem prächtigsten

ansehen der welt vorzustellen... Je größer nun die kunst ist, das ist, je fleißigerund sorgf ältiger sie an der ausbeßerung der natur arbeitet, desto vollkomme-

ner glänzt die dadurch hervorgebrachte schönheit. Folglich ist es wiederum

unmöglich, daß  die allergrößte kunst die schönheit... verdunckeln k önne“12.

10 Bach-Dokumente, Bd. 2, a. a. O., S. 349.

11 Ebenda, S. 302.

12 Ebenda, S. 303.

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Schließlich sei auf diese Weise „Einsicht in die Tiefen der Weltweisheit“  zu

gewinnen. Der Begriff „Weltweisheit,“  in der deutschen Frühaufklärung als

Synonym f ür Philosophie verstanden, gemahnt an das 1732 erschienene

Hauptwerk des Leipziger Universitätsprofessors Johann Christoph Gott-scheds13, der gelegentlich als Textdichter f ür Bach wirkte. Nach Gottsched

hilft die Weltweisheit – synonym mit Philosophie – zu ergründen, „wie, war-

um und wozu die Dinge sind“14. Damit wäre denn auch zugleich Bachs Ver-

ständnis musikalischer Wissenschaft bzw. musikalischen Denkens definiert,

insbesondere seine Anwendung von angeblich „trocken scheinenden Kunst-

stücken“15. Die Naturgegebenheit der Harmonie macht den Komponisten zum

Entdecker. Denn es geht nicht vornehmlich darum, wie Scheibe als Advokat

der von Birnbaum als „Skribenten“ abgekanzelten modernen Komponisten es

fordert, zu einer Hauptstimme lediglich Begleitstimmen zu setzen. So schreibt

Birnbaum:

Vielmehr fließt das gegentheil aus dem wesen der Music. Denn dieses besteht in der har-

monie. Die harmonie wird weit vollkommener, wenn alle stimmen miteinander arbeiten.

Folglich ist eben dieses kein fehler, sondern eine musicalische Vollkommenheit16.

Vollkommenheit ist das Ziel, das erreicht werden mag, wenn mit Hilfe „der

allergrößten Kunst“  die Schönheit und das Natürliche vorgestellt werden

kann. Vollkommenheit impliziert das Wissen um „die verstecktesten Geheim-

nisse der Harmonie“. Diese dem 17. Jahrhundert entstammende Konzeptioneiner vorgegebenen und nur zu entdeckenden Wirklichkeit findet ihr Korrelat

nicht nur im theologischem Bereich, sondern auch in der antik-rhetorischen

„Dichotomie von ingenium und studium“ als denjenigen Fähigkeiten, „die der

Dichter vor aller Regelkenntnis von Natur aus mitbringt“17.

Dem von Birnbaum vertretenen Vollkommenheitsanspruch der Bachschen

Musik tritt in dem 1750, wenige Monate nach Bachs Tod von seinem zweitäl-

testen Sohn und seinem Schüler Agricola verfaßten Nekrolog ein Absolut-

heitsanspruch zur Seite. Apostrophiert mit den Worten „Hat jemals ein Com-

ponist...“ wird darauf hingewiesen, daß Bachs Musik „keinem andern Compo-

nisten ähnlich“  sei18. Ein solches Urteil steht musikgeschichtlich wohl ohne

13  Erste Gr ünde der gesammten Weltweisheit , Leipzig 1733.

14 W. Schneiders, Art. „Philosophie“, in:  Historisches W örterbuch der Philosophie,

Bd. 7, Basel 1989, Sp. 711–713.

15 Bach-Dokumente, Bd. 3, a. a. O., S. 87.

16 Bach-Dokumente, Bd. 2, a. a. O., S. 305.

17 R. Warning, Art. „Genie“, in:  Historisches W örterbuch der Philosophie, a. a. O.,

Sp. 279.

18 Bach-Dokumente, Bd. 3, a. a. O., S. 87.

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Vorbild da. Andersartigkeit bzw. Einzigartigkeit vor und um 1750 als Kriteri-

um f ür die Einschätzung der Bachschen Musik gebraucht, nimmt denn auch in

der Tat die Terminologie der Genieästhetik des späteren 18. Jahrhunderts vor-

weg. Schon Marpurg bescheinigt Bach 1749 „besonderen Originalgeschmack,keinen aus der Nachahmung einer fremden Nation entstandenen Ge-

schmack “19. Eine Aussage Christian Friedrich Daniel Schubarts von 1784–85

übertrifft dies noch an Deutlichkeit: „Sebastian Bach war ein Genie im höch-

sten Grade. Sein Geist ist so eigenthümlich, so riesenf örmig, daß Jahrhunderte

erfordert werden, bis er einmal erreicht wird.“ Schubart spricht überdies aus-

drücklich davon, „daß  man das Originalgenie eines Bachs nicht verkennen

kann“20.

Der Begriff des Originalgenies ist hier neu, sein auf Bach bezogener Inhalt

nicht. Und es scheint, daß  f ür den musikalischen Bereich der Genieästhetik 

Bach eine Schlüsselrolle zugewiesen werden muß, deren formative Ansätze

bereits vor 1750 greifbar werden. Wie aber läßt sich nun die Einzigartigkeit,

das Originelle oder Individuelle der Bachschen Musik fassen? Die allgemei-

nen Aspekte k önnen wohl kaum präziser und bündiger formuliert werden als

im Nekrolog selbst:

Hat jemals ein Componist die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke gezeiget; so war es

gewiß unser seeliger Bach. Hat jemals ein Tonk ünstler die verstecktesten Geheimnisse der

Harmonie in die k ünstlichste Ausübung gebracht; so war es gewiß unser Bach. Keiner hat

bey diesen sonst trocken scheinenden Kunststücken so viele Erfindungsvolle und fremdeGedanken angebracht, als eben er. Er durfte nur irgend einen Hauptsatz gehöret haben, um

fast alles, was nur k ünstliches darüber hervor gebracht werden konnte, gleichsam im Au-

genblicke gegenwärtig zu haben. Seine Melodien waren zwar sonderbar; doch immer ver-

schieden, Erfindungsreich, und keinem andern Componisten ähnlich21.

Nach Aussage des Nekrologs besteht die zentrale Qualität der Bachschen Mu-

sik in ihrer „Vollstimmigkeit“, das heißt in ihrer harmonisch-polyphonen Kon-

zeption. Ihre Individualität jedoch gewann sie insbesondere aus Bachs Um-

gang mit den „verstecktesten Geheimnissen der Harmonie“, basierend auf in-

timster Vertrautheit mit „der vollstimmigen Setz-Kunst, so man eigentlichHarmonie heißt“.

In Ermangelung eines erst später am Konzept des Originalgenies entwik-

kelten Begriffsystems konnte die Eigenart der Bachschen Musik vor 1750 nur

unvollständig umschrieben werden. So spricht der Nekrolog von „fremden

Gedanken“  oder davon, daß  Bachs Melodien „sonderbar“, „immer verschie-

19 Bach-Dokumente, Bd. 2, a. a. O., S. 461.

20 Bach-Dokumente, Bd. 3, a. a. O., S. 408 f.

21 Ebenda, S. 87.

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den“ und „erfindungsreich“, das heißt „keinem andern Componisten ähnlich“seien. Birnbaum rühmt „die erstaunliche Menge seltener und wohlausgef ühr-

ter einf älle“. Damit ist nicht die traditionelle Inventionskunst (Erfindungs-

kunst) mit ihrer sich an musikalisch-rhetorischen Modellen orientierendenEntwicklung von Themen und Melodien gemeint. Bachs Inventionskunst be-

wegte sich deutlich weg von der Tradition in Richtung Originalschöpfung,

doch nicht einer voraussetzungslosen. So wie Bach die Harmonie als naturge-

geben versteht, deren Geheimnisse es auszuschöpfen gilt, so orientieren sich

seine Einf älle immer wieder an gegebenen Vorwürfen. Sie scheinen minde-

stens gelegentlich gar der Herausforderung zu bedürfen. In diesem Zusam-

menhang ist eine 1741 von einem gewissen Leipziger Magister Pitschel über-

lieferte Beobachtung aufschlußreich:

Sie wissen, der berühmte Mann, welcher in unserer Stadt das größte Lob der Musik, und

die Bewunderung der Kenner hat, k ömmt, wie man sagt, nicht eher in der Stadt, durch die

Vermischung seiner Töne andere in Entzückung zu setzen, als bis er etwas vom Blatte ge-

spielt, und seine Einbildungskraft in Bewegung gesetzt hat. Der geschickte Mann... hat or-

dentlich etwas schlechteres vom Blatte zu spielen, als seine eigenen Einf älle sind. Und

dennoch sind diese seine besseren Einf älle Folgen jener schlechteren22.

Nun wird man gewiß  nicht generalisieren dürfen und auf Grund dieses Hin-

weises weitreichende Schlüsse ziehen wollen. Dennoch scheint sich hier eine

Tendenz anzudeuten, die f ür Bachs Kompositionsweise und die Eigenart sei-

ner Musik überaus charakteristisch zu sein scheint. Es geht um das Prinzipder Veränderung vorgefundenen Materials im Sinne seiner weiteren Aus-

schöpfung, eben im Sinne der Entdeckung der „verstecktesten Geheimnisse

der Harmonie“. Als einer, der im wesentlichen kompositorischer Autodidakt

war, hatte Bach (laut Nekrolog) die entsprechenden Erfahrungen „größtenteils

nur durch das Betrachten der Wercke der damaligen berühmten und gründli-

chen Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen erlernt“23. Dazu

heißt es später noch bei Carl Philipp Emanuel Bach: „Blos eigenes Nachsin-

nen hat ihn schon in seiner Jugend zum reinen u. starcken Fugisten ge-

macht“24

.Zum traditionellen Studium der Exempla classica trat bei Bach das „eigene

Nachsinnen“, und zwar vor allem im Blick auf das Erlernen der Fugenkompo-

sition. Von Anfang an muß die Komposition eines Satzes als kontrapunktische

Entwicklung eines Themas f ür Bach von brennendem Interesse gewesen sein.

22 Bach-Dokumente, Bd. 2, a. a. O., S. 397.

23 Bach-Dokumente, Bd. 3, a. a. O., S. 82.

24 Ebenda, S. 288.

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Christoph Wolff 

Beispiel 2: Thematische Vorlage aus Johann Adam Reinken, Sonata in a f ür 2 Violinen,

Viola und Basso continuo ( Hortus musicus, 1687) von Bach –  unter Eliminierung nicht-

thematischer Attribute wie des Basso continuo –  zu einer regulären Clavier-Fuge a-Moll

BWV 965/2 ausgearbeitet.

Die Bach im Nekrolog bescheinigte Fähigkeit, daß  er beim bloßen Anhören

irgendeines Themas „fast alles, was nur k ünstliches darüber hervorgebracht

werden konnte, gleichsam im Augenblicke gegenwärtig“25  hatte, erscheint

überaus bezeichnend f ür seine Arbeitsweise, die sich mehr als Elaboratio (das

heißt Ausarbeitung von Vorgegebenem) und weniger als Creatio (das heißt ei-

genschöpferischen Akt) verstand: Die Möglichkeiten zur „k ünstlichen Ausar-

beitung“ waren latent gegeben, sie mußten lediglich „durch Nachsinnen“ ent-

deckt werden. Bei Bachs offensichtlich phänomenaler Kombinationsgabe

konnte es darum keinen Unterschied machen, ob ein Thema von ihm selbstoder einem anderen Komponisten stammte. In jedem Fall mußte er es als Her-

ausforderung zum Auffinden der innewohnenden kontrapunktischen Potenz

empfinden. Augenscheinlich liegt in diesem Elaborationsprinzip eine der we-

sentlichen, noch dazu gattungunabhängigen Konstanten der Bachschen Kom-

positionskunst und damit seines Personalstiles vor.

Sie ist zutiefst verwurzelt im Streben nach Aufdecken der „Geheimnisse

der Harmonie“, in der Suche nach der „vollkommenen Harmonie“. Diese aber

gilt erst dann als vollkommen, wenn „alle Stimmen miteinander arbeiten“,

und zwar „ohne die geringste Verwirrung“; „ jede stimme macht sich vor der

andern durch eine besondere veränderung kenntbar, ob sie gleich öfftermahls

einander nachahmen.“  Der Variationsgedanke spielt in diesem Elaborations-

prinzip eine gewichtige Rolle. Nicht nur, daß  die Imitationsdurchf ührung ei-

ner Fuge im Sinne von Veränderungen verstanden wird (Birnbaum rühmt „die

durchf ührungen eines einzigen satzes durch die thone, mit den angenehmsten

veränderungen“). Auch die enge konzeptionelle Verknüpfung von Variation

und Elaboration in den monothematischen Instrumentalzyklen des Bachschen

Spätwerkes deutet auf die weitgehende Substanzgemeinschaft der beiden Be-

griffe in Bachs kompositorischem Denken. Wiederholte Elaboration desselben

musikalischen Gedankens zur Auslotung der immanenten harmonischen Kon-stellationen f ührt geradezu zwangsläufig zu einer Kette von Variationen.

Beispiel 3: Georg Friedrich Händels Chaconne G-Dur HWV 442, deren 62 Variationen in

einen schlichten zweistimmigen Kanon münden, verglichen mit der tiefschürfenden Kon-

trapunktik in Bachs Kanon-Zyklus BWV 1087, in dem Bach die kanonische Potenz des

„Händel-Themas“ auslotet26.

25 Ebenda, S. 87.

26

Vergleiche vom Verfasser, Händel – J. S. Bach – C. P. E. Bach – Mozart: in: Göttin-ger H ändel-Beitr äge, Bd. 6, im Druck.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

Unter Variationsgedanken und Elaborationsprinzip läßt sich auch Bachs Bear-

beitungstechnik fassen (unabhängig davon, ob die Vorlage eigenen oder frem-

den Ursprungs ist), vor allem aber die Parodiepraxis. Der Bearbeitungs- und

Parodievorgang setzt voraus, daß  verändernde –  und damit zugleich berei-chernde –  Elaboration möglich und (aus welchem Grunde auch immer) not-

wendig erscheint. Parodie als Variation verstanden, das heißt als Elaboration

der unausgeschöpften immanenten musikalischen Potenz, dürfte dem Bach-

schen Ansatz nahekommen.

In dieses Elaborationsprinzip einbeziehen läßt sich auch die wiederholte

Bearbeitung bzw. Harmonisierung eines Cantus firmus (vom Choralsatz im

Stylus simplex über das Choralpräludium bis hin zum komplexen Choralsatz).

Beeinflußt wird von ihm auch Bachs Denken in Serien und Werkgruppen, das

heißt die Erprobung einer Idee in mehrfacher und verschiedener Ausf ührung

(vergleiche u.a. Orgelbüchlein, Violin- und Violoncello-Soli, Choralkantaten-

Jahrgang, Clavier-Übungen). Schließlich erfaßt es Revision und beständiges

Korrigieren fertiggestellter Werke, ein f ür Bach besonders typisches Vor-

kommnis: All dies ist letztlich nichts anderes als ein Zeichen daf ür, daß Bach

immer wieder Grund f ür die Suche nach besseren Alternativen hat. Dieser

Grund wiederum kann nur in seinem Vollkommenheitsstreben gefunden wer-

den, das den Impetus f ür fortwährende Elaboration abgibt.

Beispiel 4: Anfang des Eingangssatzes der Choralkantate „Es ist das Heil uns kommen

her“ BWV 9 mit zwei aufeinander bezogenen Elaborationen eines instrumentalen Concer-tato-Komplexes: Orchester-Ritornell ohne Cantus firmus, T. 1 ff., gefolgt von einer nahezu

wörtlichen Wiederholung desselben Satzes mit Cantus firmus und „Choreinbau“, T. 24 ff.

Nun kann es nicht darum gehen, Bachs Kompositionsverhalten auf eine sim-

ple Formel reduzieren zu wollen. Doch es bietet sich an, das mit dem Variati-

onsgedanken verknüpfte Elaborationsprinzip als einen jener entscheidenden

Parameter anzusehen, der Bachs Musik ihr charakteristisches Profil verleiht.

Selbst dieses aber ist nur ein Schritt auf dem Wege zur Erklärung ihrer indivi-

duellen Eigenart.

Es ist müßig zu fragen, ob Bach selbst seinen Werken Vollkommenheit be-scheinigt hätte. Doch daß  ihm Vollkommenheit –  im Sinne von durch größte

Kunst der Natur abgewonnene Schönheit – als musikalisches Ziel vor Augen

schwebte, steht außer Zweifel. Der Begriff der Vollkommenheit kann von

Birnbaum nicht grundlos zum Tenor der Diskussion erhoben worden sein.

Wie steht es aber mit dem Prädikat „sonderbar“, das heißt einzigartig? Daßsich Bach der Einzigartigkeit und des unverwechselbaren Charakters seiner

Musik bewußt gewesen wäre, läßt sich kaum belegen, muß aber dennoch qua-

si stillschweigend vorausgesetzt werden. Daf ür spricht nicht nur die offen-

sichtliche, im Kontext des damaligen sozialgeschichtlichen Umfeldes frappie-

rende Selbstsicherheit, wie sie aus Bachs Lebensweg und seinen Verhaltens-

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Christoph Wolff 

weisen gerade auch im Blick auf die Sicherung k ünstlerischen Spielraumes

ablesbar erscheint. Ins Gewicht f ällt vornehmlich seine Überzeugung, primär

„Soli Deo Gloria“ zu arbeiten, und dies auf der Basis einer höchst ungewöhn-

lichen Vertrautheit mit dem breiten Spektrum der Musik seiner Zeit sowie mitzahlreichen Kompositionen aus zurückliegenden Epochen. Bach konnte nicht

verborgen bleiben, daß  seine Orgel- und Klavierwerke, die Kantaten und vo-

kalen Großwerke wie auch die instrumentalen Ensemblewerke insgesamt,

aber auch jeweils f ür sich genommen, ohne eigentliche Parallelen dastanden.

So mußte er wissen, daß es etwa zur Matthäus-Passion kein Vorbild gab. Die-

se Beispiellosigkeit mußte als Ansporn f ür das diesen Werken innewohnende

Höchstmaß an k ünstlicher Ausarbeitung gelten.

Dem Grad der Ausarbeitung und musikalischen Vollendung bzw. Vollkom-

menheit steht oft als Korrelat die Drucklegung oder reinschriftmäßige Fixie-

rung gegenüber. Daß Bach dies bei den Großwerken wie etwa der Matthäus-

Passion oder der h-Moll-Messe mit besonderer Sorgfalt betrieb –  wie seine

Reinschriften erweisen – kann wohl mindestens teilweise als Zeichen der An-

erkennung ihres historischen Ranges und als Maßnahme zur Bewahrung f ür

die Nachwelt verstanden werden. Mitgespielt haben muß freilich auch die Er-

fahrung des uralten Plotinschen Dilemmas zwischen Vollendung der Idee und

Vollendung der Ausf ührung. Nur so läßt sich folgende Stelle bei Birnbaum er-

klären:

Allein urtheilt man von der Composition eines Stücks nicht am ersten und meisten nachdem, wie man es bey der Auff ührung befindet. Soll aber dieses Urtheil, welches allerdings

betrieglich seyn kann, nicht in Betrachtung gezogen werden: so sehe ich keinen andern

Weg davon ein Urtheil zu f ällen, als man muß die Arbeit, wie sie in Noten gesetzt ist, an-

sehen27.

„Die Arbeit, wie sie in Noten gesetzt ist, ansehen“ – dieser wohl ebenfalls von

Bach selbst stammende Ausspruch weist auf den Wert des Notentextes f ür

sich genommen, das heißt abgesehen von der konkreten Auff ührung. Der

schriftliche Notentext bietet nicht nur die einzige wirklich verläßliche Doku-

mentation der „sonderbaren Vollkommenheiten“, sondern auch das entschei-dende Medium der geschichtlichen Überlieferung, die Komposition als voll-

endete Idee zu erkennen –  und zwar im Bewußtsein der dialektischen Span-

nung von Bindung an die Prinzipien einer göttlichen Ars perfecta und Freiheit

des in diesem Bewegungsspielraum operierenden menschlichen k ünstleri-

schen Geistes.

27 Bach-Dokumente, Bd. 2, a. a. O., S. 355.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

III

Es ist letztlich nur die Idee selbst, die wirkliche Vollkommenheit beanspru-

chen kann. Bach war sich dessen offensichtlich bewußt, – darum die behutsa-me Differenzierung von Schriftbild und Auff ührung. Es ist schließlich auch

nur die Idee, die zum Ideal werden kann. Aber Bach statuierte mit seiner Mu-

sik –  im wahrsten Sinne des Wortes –  ein Exempel, und dies nicht zuletzt

durch sein ausgedehntes pädagogisches Wirken und den Einfluß seiner Schü-

ler, darunter neben seinem Sohn in Carl Philipp Emanuel insbesondere Ni-

chelmann, Agricola, Mizler und Kirnberger als die namhaftesten Theoretiker

in Deutschland. Bachs Musik war aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualität

in besonderer Weise theorief ähig, das heißt sie konnte zur Theoriebildung

f ühren. So fungieren beispielsweise der Bach-Choral oder die Bach-Fuge bis

heute als verbindliche Muster der Harmonie- und Kontrapunktlehre. Dieser

Aspekt hat entscheidend die Tiefen- wie Breitenwirkung in der Rezeptionsge-

schichte der Bachschen Musik beeinflußt, ließ  sie frühzeitig zum Ideal wer-

den, ein Prozeß, der um 1750 einsetzte, f ür die kompositionstechnischen

Grundlagen der Wiener Klassik Haydns, Mozarts und Beethovens wichtige

Voraussetzung bot, f ür das Konzept der absoluten Musik wie des autonomen

Kunstwerkes – wie Carl Dahlhaus gezeigt hat28 – entscheidende Impulse gab,

und insgesamt die Zukunft der Musik nachhaltig geprägt hat. Pointiert formu-

liert, stellte Bach der Prima pratica des 16. Jahrhunderts und der Seconda pra-

tica des 17. Jahrhunderts eine Terza pratica zur Seite.Da Bachs Musik die Idee musikalischer Vollkommenheit aufs Überzeu-

gendste repräsentierte, gewann sie frühzeitig paradigmatische Bedeutung f ür

die nachfolgenden Generationen. Daß Bachs Kunst jedoch als beispielgebend

in einer Zeit, die das Originalgenie pries, akzeptiert werden konnte, verdankt

sie vornehmlich ihrem überaus individuellen Gepräge. In der Anders- und

Einzigartigkeit der Bachschen Musik –  auch gerade gegenüber der Qualität

der Musik Händels, die sich sehr viel weniger scharf aus ihrem Kontext her-

aushebt –  bestand ein entscheidendes Element, das sich mit dem Prinzip der

Vollkommenheit verband. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Wirkungs-geschichte Bachs deutlich etwa von der Tradition des Palestrinastils. Zielte

diese in erster Linie auf normative Gesichtspunkte, die eine genaue Stilkopie

ermöglichte, so vereinigte sich in der Bach-Rezeption stets das Regelhafte mit

dem Individuellen. In diesem Sinne nahm Bachs Musik schon im späten

18. Jahrhundert entscheidenden Einfluß, etwa auf den Kompositionsstil Mo-

28

C. Dahlhaus, Zur Entstehung der romantischen Bach-Deutung, in:  Bach-Jahrbuch1978, S. 192–210.

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Christoph Wolff 

zarts nach 1782 (zum Beispiel im Finale des Quartetts KV 387) oder auf 

Beethoven, der bereits mit Bachs Wohltemperiertem Clavier aufwuchs. Im 19.

Jahrhundert griff die Bach-Rezeption auf praktisch sämtliche musikalische

Gattungen einschließlich Oper über (man denke hier an Richard WagnersCharakterisierung des Meistersinger-Vorspiels als „angewandter Bach“)29.

Bachs Musik wurde zum Orientierungsmaß, zum Muster f ür die Lösung des

Problems, selbst bei Bindung an altüberlieferte Traditionen der Kompositions-

Technik zu individuellen Lösungen vorzustoßen. Auch scheint es f ür die Aus-

wirkungen der Bachschen Musik charakteristisch zu sein, daß  sie nicht nur

grenzüberschreitend, sondern auch „überparteilich“  war. Man denke nur an

die Bedeutung von Bachs Kunst f ür so unterschiedliche, ja gegensätzliche

Geister unseres Jahrhunderts wie Schönberg, Strawinsky, Bartók oder Hinde-

mith.

Der wissenschaftliche Charakter von Bachs Kunst – nicht umsonst nannte

Bach sein Handwerk „musikalische Wissenschaft“ – gründet sich auf die Prin-

zipien der forschenden Auslotung von Harmonie und Kontrapunkt und machte

sie damit zum entscheidenden Ausgangspunkt f ür theoretische Reflexion bis

zum heutigen Tag. Doch ist die theoretische Dimension schließlich nur eine,

wenngleich wesentliche Komponente der vielschichtigen Qualitäten Bach-

scher Musik, deren logisch-komplexe Struktur und Ausdruckskraft unmittel-

bar jeden Hörer erreichen. Insbesondere läßt sich die exemplarische Kraft

Bachscher Musik kaum allein ableiten vom schöpferischen Drang eines Origi-

nalgenies, sondern eben auch von der Bindung an ein Denken, in dem musi-kalische Komposition der Vollkommenheit einer naturgegebenen Ordnung

nacheifert.

Die Dialektik von göttlicher Vollkommenheit und menschlicher Originali-

tät, wie sie sich in Bachs Werk manifestiert, hat kaum jemand treffender,

wenngleich in romantischer Diktion, formuliert als Johann Nicolaus Forkel

am Schluß seiner Biographie von 1802:

Dem wahren Kunstgeist muß es verdankt werden, daß Bach mit seinem großen und erha-

benen Kunststyl auch die feinste Zierlichkeit und höchste Genauigkeit der einzelnen Thei-

le, woraus die große Masse zusammengesetzt ist, verband, die man sonst hier nicht f ür not-

wendig hält, als in Werken, bey welchen es bloß auf Schönheit abgesehen ist; daß er glaub-

te, das große Ganze k önne nicht vollkommen werden, wenn den einzelnen Theilen dessel-

ben irgendetwas an der höchsten Genauigkeit fehle; und daß  endlich, wenn er, ungeachtet

der Hauptrichtung seines Genies zum Großen und Erhabenen, dennoch bisweilen munter

und sogar scherzend setzte und spielte, seine Fröhlichkeit der Scherz des Weisen war.

29

C. Dahlhaus, Wagner und Bach, in: Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1985,S. 1–18.

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 Bach und die Idee musikalischer Vollkommenheit 

Nur durch diese Vereinigung des größten Genies mit dem unermüdetsten Studium ver-

mochte Johann Sebastian Bach das Gebiet der Kunst überall, wohin er sich wandte, so an-

sehnlich zu erweitern, daß  seine Nachkommen nicht einmahl im Stande waren, dieses er-

weiterte Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung zu behaupten; nur dadurch konnte er so zahl-

reich und vollendete Kunstwerke hervorbringen, die sämtlich wahre Ideale und unvergäng-liche Muster der Kunst sind und ewig bleiben werden30.

30

J. N. Forkel, Ueber Johann Seabstian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig1802, S. 68 f.