Cockayne - Die Glückssucher 3 - Das himmlische Kind

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Buch Die Lage scheint trostlos und das Land endgültig verloren, als König Matthew von seinem Innenminister Fang entmachtet und weggesperrt wird. Bald ächzt alles unter der knallharten Knute des Usurpators. Auch Ehe und

Firma von Rusty Brown sind inzwischen ruiniert, und Rusty muss sich allein mit seiner Tochter Ashleigh, einem renitenten Teenager, durchschlagen. Und im Signalnetzwerk treibt der Kobold Lee sein gefährliches Unwesen, ohne dass ihm der Erfinder und Zauberer Leonardo Pegasus beikommen könnte. Das Getreide verdorrt bereits auf den Feldern, und sogar die Möwen haben die Orientierung verloren und irren im Landesinneren herum. Es heißt, das Land könne erst geheilt werden, wenn die Vögel ans Meer zurückkehren. Und so schwärmen Trupps von Möwentreibern aus, um den verwirrten Tieren den Weg zur Küste zu weisen. Beim großen Fest der Winde und Gezeiten auf den Inseln treffen alle wieder zusammen. Rusty Brown und Ashleigh, Leonardo Pegasus und der glücklich seinem Kerker entflohene König Matthew. Schließlich treten auch der Netzkobold Lee und der

Usurpator Fang in Erscheinung... Autor

Nachdem Steve Cockayne über zwanzig Jahre lang für die BBC gearbeitet hat, unterrichtet er nun als Dozent für Medienkunde. In seiner Freizeit restauriert er ein altes Marionettentheater, das seine Familie lange betrieben hat

und das er wieder beleben möchte. Er lebt in Leicestershire. Von Steve Cockayne lieferbar:

DIE GLÜCKSSUCHER: 1. Die magische Münze. Fantastischer Roman (24328) 2. Die eiserne Kette. Fantastischer Roman (24329) 3. Das himmlische Kind. Fantastischer Roman (24330)

Steve Cockayne

Das himmlische Kind Die Glückssucher 3 Fantastischer Roman

Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann blanvalet

Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Seagull Drovers, Legends of the Land: Bookthree«

bei Orbit/Time Warner Books, London. Umwelthinweis:

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.

1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2007 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © by MetaVentures 2004

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Published by arrangement with Steve Cockayne. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagillustration (Collage): Agt. Luserke/Boros&Szikszai, außerdem Berni Oliviero +

ARENA + Wojtowicz (Time Machine, Hintergrund), alle Agt. Schluck Redaktion: Alexander Groß

VB ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

ISBN 978-3-442-24330-3 www.blanvalet-verlag.de

ERSTES KAPITEL: Die Turmresidenzen Hört auf. Ich will noch nicht aufwachen.

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Eigentlich will ich überhaupt nicht aufwachen. Es ist so bequem und angenehm und so viel einfacher hier zu bleiben, als aufstehen und Dinge erledigen zu müssen. Und ich bin schon so lange hier, dass ich mir kaum noch vorstellen kann, wie es ist, woanders zu sein oder etwas anderes zu tun. Schon gut, schon gut. Nur noch zehn Minuten! Schließlich muss ich mich erst mal darauf besinnen, wo ich bin. Am Rande des Geschehens oder mittendrin? Ich weiß es wirklich nicht und frage mich, ob ich es je gewusst habe. Ah, langsam spüre ich etwas. Es umgibt mich von allen Seiten, dieses, dieses... wie immer man es nennen mag. Es fühlt sich wie ein Gewebe an, wie ein Netzwerk aus Fäden oder Linien - oder jedenfalls wie etwas in der Art. Ja. Das Netzwerk. So heißt es. Jetzt fällt's mir wieder ein. Es umgibt mich, breitet sich in jede Richtung aus und verbindet irgendwie alles mit allem. Ich könnte es nutzen, wenn ich wollte. Ich könnte aufstehen und gehen, 5 wohin ich will. Wenn ich mich nur dazu aufraffen könnte. Wenn ich mich bloß dazu bringen könnte aufzuwachen. Ja, jetzt spüre ich auch, dass es dort draußen noch andere Wesen gibt - Wesen, die eigene Räume bewohnen, ihren Angelegenheiten nachgehen, Aufgaben zu erfüllen haben und eigene Absichten verfolgen. Doch sie alle scheinen ungemein beschäftigt. Es erschöpft mich schon, nur an sie zu denken und ihre Fortbewegungsweisen, Charaktere und Kommunikationsgewohnheiten zu registrieren. Sind diese anderen Wesen wie ich? Haben sie das gleiche Ziel? Sollte ich mein Ziel je gekannt haben, kann ich mich daran allerdings nicht mehr erinnern. Was für ein Wesen bin ich eigentlich? Ich bin einfach nur müde... Warum ist es bloß so anstrengend, wach zu werden? Es ist fast, als wollte mich jemand aufhalten - vielleicht eins der anderen Wesen. Ich habe das Gefühl, eine große, schwere Hand drückt mich in die Kissen, damit ich mich nicht rühren und nicht tun kann, was ich tun muss. Ja! Gerade habe ich dieses Wesen einen flüchtigen Moment lang gesehen. Irgendwo dort draußen, in den Linien, Winkeln und Kreuzungen des Netzwerks gibt es jemanden, dessen Ziel dem meinen entgegengesetzt ist. Jemanden, der mich davon abhalten will zu tun, was ich tun muss. Ja, es gibt etwas, das ich zu erledigen habe, eine Aufgabe, die ich ausführen muss - und dieses Wesen, dieser Widersacher versucht, mich daran zu hindern. 6 Der Widersacher! Jetzt fällt mir alles wieder ein! Irgendwo in den trüben Tiefen des Netzwerks, irgendwo in diesem Labyrinth von Wegen, das sich in alle Richtungen um mich herum ausbreitet, in den Drehungen und Windungen dieses Irrgartens, in dem unergründlichen Raum dort draußen lauert der Widerling. Der Widerling, dessen einziges Ziel es ist zu verspotten, zu verderben und zu zerstören. Jetzt begreife ich langsam, dass ich den Kampf aufzunehmen und den Zerstörer zu vernichten habe. Meine Aufgabe ist es, den Ursprung dieser scheußlichen Angelegenheit zu ermitteln, den Widerling zu verfolgen, mit ihm zu ringen und ihn schließlich zur Strecke zu bringen. Wie aber kann ich diese Aufgabe allein bewältigen? Ich bin klein, schwach und müde und schlafe schon seit einer halben Ewigkeit. Lasst mich also bitte noch ein wenig schlummern. Ashleigh Brown, Jungkommissarin Cool, was? Diesen Titel hab ich mir ausgedacht, als sie mich bei den Katzenmädchen rausgeworfen haben, nachdem eines Abends alles aus dem Ruder gelaufen war. Irgendwas musste ich mir ja ausdenken, stimmt's? Also hab ich mir überlegt: Schluss mit dem Kinderkram - ich probier jetzt mal, ein paar echte Geheimnisse zu lösen. Allerdings hat es mich einige Zeit gekostet herauszufin- 7 den, welche Geheimnisse ich überhaupt lösen wollte. Ich erzähl euch am besten ein wenig mehr über mich. Meinen Namen hab ich euch schon verraten - ich heiße Ashleigh Brown, doch meine Freunde nennen mich Ash. Ich werde bald achtzehn, doch als diese Geschichte begann, war ich ein ganzes Stück jünger und lebte mit meinem Vater in einem Wohnblock namens Turmresidenzen, draußen in der Westvorstadt, auf der anderen Seite des Flusses. Turmresidenzen hört sich gut an, doch dieser schicke Name bezeichnet nur ein altes, heruntergekommenes Wohnsilo. Türen und Fenster sind in erbärmlichem Zustand, aus den Ritzen wächst Unkraut, und seit Jahren funktioniert kein einziger Aufzug. Ich schätze, diese Verhältnisse bilden die Zustände, die überall in der Stadt herrschen, ziemlich genau ab. Und mit Dingen, die in der Stadt im Argen lagen, haben meine Schwierigkeiten auch begonnen. An jenem Abend, von dem ich euch erzählen will und dessen Ereignisse dazu führten, dass sie mich bei den Katzenmädchen rauswarfen, waren wir zu viert in der Nordstadt unterwegs, um dafür zu sorgen, dass niemand seinen Abfall einfach so auf die Straße wirft. Was für eine lächerliche Aufgabe, da auf den Straßen so viel Müll rumliegt, dass wir zu viertausend hätten unterwegs sein müssen, um etwas zu bewirken! Na ja, jedenfalls war ich mit Davina unterwegs - meiner besten Freundin, die außerdem Leiterin unserer Patrouille war -, mit Lulu LaFarge und mit der kleinen Maria Moss, die kaum in Erscheinung tritt und immer nur mitzockelt. Wie gesagt, wir waren in der Nordstadt. Die Nacht war ziemlich ruhig, und irgendwann hatten wir keine Lust

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mehr, immer nur Müll zu sammeln. Also traten wir eine alte Blechdose den Rinnstein entlang und hatten - schätz 8 ich mal - Lust, was auf die Beine zu stellen. Auf beiden Straßenseiten standen hohe Wohnblöcke, und die Hälfte der Fenster war pechschwarz verdunkelt. Ich muss euch vermutlich nicht erklären, was das bedeutet. Jedenfalls hat plötzlich eine Frau den Kopf aus dem Fenster gestreckt und zu uns runtergebrüllt: »Wenn ihr so viel Zeit habt, kommt doch mal hoch und knöpft euch meine Nachbarn vor! Die machen mich mit ihrem Lärm noch wahnsinnig!« Davina hörte auf, die Dose durch die Straße zu kicken, und stand einen Moment reglos da - genau wie wir anderen drei. Dann sah sie ganz langsam zu der Frau hoch und brüllte zurück: »Und wenn nicht?« Da wurde die Frau richtig pampig und rief: »Kommt mir nicht so, Kinder! Ich seh doch, dass ihr in Uniform seid. Ihr sollt für die Einhaltung von Recht und Gesetz sorgen, und wenn ihr nicht sofort hochkommt, werde ich mich morgen früh über euch beschweren.« Dem konnten wir wenig entgegensetzen. Also tigerten wir ins Haus. Die Frau lebte im dritten oder vierten Stock, und die Nachbarn tobten in der Etage über ihr. Also stiegen wir jede Menge Betontreppen hoch und traten ein paar Mal gegen die Tür, bis sie aufsprang und wir in die Wohnung drängten. Dort stießen wir auf zwei abgemagerte Kerle, die durchs Zimmer stapften und dabei wie die Wilden schrien. Natürlich hatte jeder einen Kopfhörer auf, der durch ein langes Kabel mit einer großen alten Signalmaschine verbunden war. Wir brauchten ein paar Sekunden, ehe wir das Ungetüm in der Ecke entdeckten, denn selbstverständlich waren auch hier die Fenster pechschwarz verdunkelt, und das Zimmer war voller zu Kleinholz gemachter Möbel und solcher Sachen. Dann bemerkten uns die beiden Kerle, hör- 9 ten mit dem Herumlaufen und dem Schreien auf und erstarrten. Natürlich war uns klar, dass wir zwei Fälle von Koboldfieber vor uns hatten. Die beiden schienen seit Tagen nichts gegessen zu haben. Wir verpassten ihnen ein paar Kopfstöße und Faustschläge, um ihnen deutlich zu machen, wer hier das Sagen hatte, doch sie wehrten sich nicht. Also schoben Davina und, Lulu sie einfach in eine Ecke, die kleine Maria schnitt die Kabel der Signalmaschine durch, und zu viert hoben wir den Apparat hoch und wuchteten ihn mit einer fließenden Bewegung aus dem Fenster. Gut, dass niemand auf der Straße war, denn der Apparat krachte mit einem furchtbaren Knall aufs Pflaster und zersplitterte, und auf der ganzen Fahrbahn lagen Glasscherben, Holzstücke und verbogene Maschinenteile. Danach wollten wir das Haus so schnell wie möglich verlassen. Doch überall auf dem Flur streckten Leute den Kopf aus der Tür, um zu sehen, was los war. Einige klatschten, und ein kleiner alter Mann sprang auf der Schwelle herum und schrie: »So muss man mit diesen Mistkerlen umgehen. Wir wollen hier kein Koboldfieber. Das war mal ein anständiges Haus.« Dann tauchte die Frau auf, die uns gerufen hatte, und sagte: »Den Gang runter gibt's noch mehr von dem Gesocks.« Bevor wir recht begriffen hatten, was geschah, waren wir schon in einer anderen Wohnung gelandet und warfen eine zweite Signalmaschine in die Tiefe — diesmal durchs Treppenhaus. Danach kam einfach eins zum anderen, und bald machten viele Leute mit, brüllten, traten Türen ein und schleuderten Signalmaschinen aus dem Fenster. Dann fingen wir alle an zu kichern. Wir konnten gar nicht aufhören damit, so ulkig blickten die Leute 10 drein, wenn ihre heiß geliebte Signalmaschine aus dem Fenster flog, doch schließlich übernahm Davina wieder das Kommando und sagte nur: »Los, Mädchen, nichts wie weg.« Also rannten wir vier lachend, schreiend und Rad schlagend die Straße entlang und trieben mit den Füßen das eine oder andere Signalmaschinenbruchstück vor uns her. Ich weiß nicht, ob uns jemand verfolgte, doch um sicherzugehen, sprangen wir bald über eine Mauer und verschwanden. Alles in allem war das eine wirklich tolle Nacht, doch natürlich mussten wir dafür büßen. Am nächsten Tag zitierte uns Sergeant Maggot, unser Ausbildungsleiter, gleich morgens ins Büro. Ich hatte ihn immer für richtig süß gehalten, doch diesmal war ihm der Humor gründlich vergangen. »Mädchen«, sagte er in seiner schwermütigen Art. »Mädchen, Mädchen, Mädchen. Es hat Beschwerden gegeben, über die ich nicht hinwegsehen kann. Krawall, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch. Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?« Keine von uns brachte ein Wort heraus. Wir standen einfach nur da und traten unruhig von einem Bein aufs andere. Darum sagte er: »Kadett Davina Wright - vielleicht kannst du als Leiterin eurer Patrouille uns ja den Inhalt der Königlichen Verordnung in Erinnerung rufen, die den Umgang mit gemeldeten Fällen von Koboldfieber regelt?« Davina war einen halben Kopf größer als Maggot, aber irgendwie schien sie vor ihm zusammenzuschrumpfen. Sie murmelte etwas in sich hinein, doch Maggot unter- 11 brach sie und rief: »Lauter! Ich glaube, das möchten wir alle gern hören.« Daraufhin setzte Davina eine zutiefst beleidigte Miene auf und musterte ihre Stiefelspitzen, leierte aber schließlich jene Verordnung herunter, die wir alle im ersten Jahr unserer Ausbildung hatten lernen müssen: »§1: Koboldfieber ist eine schwere Geistesstörung, die gelegentlich bei Menschen auftritt, die das Königliche Signalnetzwerk regelmäßig nutzen. Es ist zu betonen, dass Koboldfieber in aller Regel lediglich ausgesprochen

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exzessive Nutzer befällt und bei zurückhaltendem Gebrauch des Signalnetzwerks nur in seltenen Fällen auftritt. §2: Wer an Koboldfieber leidet, verhält sich oft unvernünftig, unberechenbar und ausgesprochen gefährlich. §3: Alle gemeldeten Fälle von Koboldfieber müssen umgehend an die Abteilung für Geisteshygiene der Königlichen Wolfsjungen weitergeleitet werden, deren Beamte sofort die geeigneten Maßnahmen ergreifen. Keinesfalls dürfen sich Kadetten oder andere unqualifizierte Personen den Erkrankten nähern. Auch ist es nur unter Aufsicht voll ausgebildeter Techniker erlaubt, sich an den Signalmaschinen zu schaffen zu machen. §4: Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wird aufs Strengste bestraft.« Mit bedrücktem Gesicht musterte Maggot uns alle von oben bis unten. »In jeder relevanten Hinsicht korrekt zitiert«, sagte er schließlich, starrte dann lange an die Decke und schniefte ein paar Mal. Schließlich fuhr er fort: »Was habt ihr also zu eurer Verteidigung vorzubringen? Na, Kadett Wright? Oder Kadett Brown?« Er fasste mich 12 scharf ins Auge. »Unsere Beste im zweiten Ausbildungsjahr? Du hättest es wirklich besser wissen sollen!« Ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken. »Und Kadett La-Farge? Na ja, du hast nie viel geredet. Und Kadett Moss?« Keine von uns sagte auch nur ein Wort. Ich glaube, besonders schlimm wurde das Ganze dadurch, dass Maggot kein einziges Mal laut wurde, sondern sehr leise sprach. »Natürlich ist jugendlicher Überschwang verzeihlich, wenn er einigermaßen im Rahmen bleibt«, fuhr er fort. »Doch leider war euer Verhalten gestern Abend schlicht unerhört. Ihr vier seid entlassen und geht sofort nach Hause. Ich werde euren Eltern schreiben.« Das war's also. Einige der Wolfsjungen, die uns ausbildeten, nahmen uns Uniform und Dienstmarke ab und brachten uns, die wir inzwischen Zivilkleidung trugen, auf direktem Weg ans Kasernentor. Danach strichen wir noch ein wenig auf dem Westlichen Boulevard herum, denn niemand von uns wollte nach Hause, doch nach einer Weile bekamen wir das Gefühl, alle würden uns anstarren. Da wurden wir richtig wütend und versuchten uns einzureden, wir wären im Recht und Maggot hätte Unrecht, doch insgeheim wussten wir, dass wir gegen die Regeln verstoßen hatten und dafür bestraft werden mussten. Dann meinte Davina, sie habe von den Katzenmädchen ohnehin die Nase voll - das sei doch nur Kinderkram, und sie habe schon mehrmals daran gedacht, den Dienst zu quittieren. Wir pflichteten ihr umgehend bei und lästerten alle: »Stimmt, es ist wirklich immer langweiliger geworden. Die haben uns nie was Spannendes zu tun gegeben.« Nachdem wir lange genug solche Sprüche geklopft hatten, fühlten wir uns alle etwas besser. 13 Doch mir war klar, dass ich früher oder später nach Hause gehen und meinem Vater gegenübertreten musste. Der neue Wirt »Hören Sie bitte sofort damit auf, Mrs Pegasus. In unserem Alter ist das ja eine Schande.« Leonardo Pegasus - seines Zeichens pensionierter Magier - manövrierte seine ihm frisch angetraute Gattin sanft, aber bestimmt in eine aufrechte Position, zog seine Sachen zurecht und spähte zum ersten Mal seit Stunden aus dem Kutschenfenster. »Vorhin schien es dir noch nicht viel ausgemacht zu haben, du alter Sack.« Ruth rückte die Brille gerade und stöberte in ihrer riesigen Handtasche nach einer Bürste. »Jetzt sind wir aber so gut wie da«, erwiderte Leonardo. »Also sollten wir uns bemühen, ein wenig respektabel zu wirken.« Er schlüpfte wieder in die Stiefel und tastete unter dem Sitz nach seinem breitkrempigen Hut. Das Paar - hoch in den Sechzigern - kehrte aus unerwarteten, aber ausgesprochen angenehmen Flitterwochen zurück, und die Kutsche würde sie gleich in dem Dorf absetzen, wo Leonardo sich sechzehn Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt hatte. »Ich kann's gar nicht erwarten, dein Haus zu sehen«, sagte Ruth und legte letzte Hand an ihre Frisur. »Was für eine Art Gebäude ist es eigentlich? Du hast nie davon erzählt.« Die Kutsche holperte durch eine tiefe Furche in der Landstraße, und Ruth langte nach unten, um ihren Spiegel zu retten. »Ach, nichts Besonderes«, murmelte Leonardo auswei- 14 chend. »An "sich bloß ein Ort, um meine Siebensachen zu verwahren. Sieh mal, da oben ist die Signalwache. Dort werde ich von nun an arbeiten.« Beide verrenkten sich beinahe, um aus dem gegenüberliegenden Fenster zu schauen. Tatsächlich: Auf der sanften Linie abgerundeter Hügel vor ihnen thronte ein hässlicher Bungalow, der die Harmonie der Landschaft rüde durchbrach. Er war aus schmutzgelben Ziegeln errichtet, und auf seinem Betonflachdach wehte eine Reihe schäbig aussehender Signalflaggen. Die Kutsche wurde immer langsamer, je weiter sich der alte, magere Klepper die zunehmende Steigung hochkämpfte. »Der schafft's nicht mehr«, jammerte der Kutscher. »Heutzutage bekommt man einfach keine anständigen Zugtiere.« »Ganz schön groß, oder?«, bemerkte Ruth. »Diese... wie sagtest du noch?... Signalwache. Hast du viel Zeug, das da hinauf muss?« »Ziemlich viel. Im Moment ist aber alles noch in Einzelteilen. Wenn es erst oben ist, werde ich es zusammensetzen. Pass auf - das Dorf muss jeden Augenblick auftauchen.« Und wirklich erreichte die Kutsche in diesem Moment den Hügelkamm, und das Dorf kam in Sicht. Es war eine kleine Siedlung von vielleicht zwanzig oder dreißig Häusern. Die Gebäude waren auf beide Ufer eines schmalen

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Flusses verteilt, der sich durch das abgelegene Tal schlängelte. Es war Frühsommer, doch das Gras auf den Wiesen wirkte schon gelblich und welk. Ein paar Minuten später erreichte die Kutsche die Ecke, an der die kleine Dorfkirche und das graue, wenig einladende Haus des Pfarrers standen. Dort stieß der schmale Weg, auf dem sie gekommen waren, auf eine breitere 15 und ein wenig bessere Straße - auf die Hauptstraße des Dorfes nämlich. Die Kutsche bog langsam um die Kurve, fuhr einen leichten Hang hinab und kam erst an einer Hand voll großer, einzeln stehender Häuser und dann an einigen Reihenhäuschen vorbei, die einer struppigen Weide gegenüberlagen. Aus den Vorgärten grüßten ein paar Leute, und Leonardo grüßte herzlich zurück. »Hallo, Mrs Hopkins. Hallo, Colin.« »Unglaublich!«, rief Ruth. »Ist das Leben auf dem Lande tatsächlich so? Kennt man hier wirklich seine Nachbarn? Ich hab in der Stadt eigentlich nie jemanden gekannt. « »Daran hab ich mich inzwischen gewöhnt«, entgegnete Leonardo. »Aber am Anfang kam es mir ausgesprochen seltsam vor. Schau, da ist der Dorfanger.« Die breite flache Wiese, die sie vom Fluss trennte, schien eher braun als grün; am anderen Ufer stand eine zweite Reihenhauszeile, vor der sie die gebeugte Gestalt einer alten Frau erkennen konnten. Sie kümmerte sich um den Gemüsegarten, und das Geräusch ihrer Hacke drang scharf durch die Luft. »Oma Hopkins«, erklärte Leonardo knapp. »Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Sie zieht noch immer ihre Radieschen. Dabei muss sie mindestens hundert Jahre alt sein.« Vor ihnen am Ende der Straße konnte Ruth gerade noch ein heruntergekommenes Schulgebäude erkennen, ehe die Kutsche scharf abbog und durch ein schmales Tor auf den Hof der Gaststätte »Pflug« fuhr. »Angekommen, Chef, Lady«, rief der Kutscher. »Wo soll ich Ihr Gepäck abladen?« Ruth starrte Leonardo an. »Du wohnst im Gasthof?« Sie schien völlig verblüfft. 16 »Na ja, nicht gerade im Gasthof«, erwiderte Leonardo vorsichtig. »Eher dahinter. Eigentlich mehr so über den Ställen. Aber ich arbeite hin und wieder in der Gaststube. In Teilzeit, weißt du. Ich kümmere mich ein wenig um den Laden, wenn der Wirt beschäftigt ist. Ja, hier rüber«, rief er dann dem Kutscher zu. »Könnten Sie uns behilflich sein, unsere Sachen die Leiter hochzuwuchten?« Der Heuboden über den Ställen war die letzten sechzehn Jahre Leonardos Zuhause gewesen. Anfangs hatte er die Annehmlichkeiten des Stadtlebens vermisst und überdies sehr unter dem Verlust seines Status als Leitender Magier von König Roderick gelitten. Denn als Roderick gestorben war, hatte sein junger Nachfolger Matthew einige prompte und dramatische Veränderungen in der Verwaltung des Königreichs veranlasst — so auch die Zwangspensionierung vieler Berater des alten Königs, zu denen auch Meister Pegasus gehörte. In Ungnade gefallen, hatte der Magier die Stadt verlassen müssen und in der tiefsten Provinz ein neues Leben begonnen. Im Lauf der Zeit hatte er sich an den gemächlicheren Rhythmus des dörflichen Alltags gewöhnt und sich langsam mit den Bedingungen seines neuen Daseins arrangiert. Bis er eines Tages in die Stadt zurückgerufen worden war. Anscheinend besaß er eben doch ein gewisses Talent, das sich letztlich als unverzichtbar erwiesen hatte. Und natürlich war er Ruth wieder begegnet - Ruth, die sich nun die wacklige Leiter hinaufquälte und durch die Falltür auf den Heuboden hocharbeitete, sich dort auf Zehenspitzen über die unebenen Holzdielen bewegte, sich unter Dachbalken durchbeugte und zwischen Bergen von verstaubten Kisten hindurchzwängte, in der muf- 17 figen Atmosphäre kaum Luft bekam und verwundert in alle Ecken spähte. Dachfenster sorgten für ziemlich gute Sichtverhältnisse, Lichtstrahlen zwängten sich durch schmierige Scheiben und zwischen ächzenden Balken hindurch und kreuzten sich auf dem voll gestopften Dachboden. Langsam erfasste Ruth die ungewohnte Umgebung. Überall türmten sich Maschinen von jeder erdenklichen Form und Größe. Dazwischen standen hohe verbeulte Metallschränke, deren Vorderseite mit kaputten Skalen und Messgeräten übersät war. Klapprige Holzregale beherbergten schiefe und instabile Sammlungen von Glaskolben und Retorten, die allesamt durch spiralförmige Rohre verbunden waren und unterschiedliche Mengen ungesund aussehender Flüssigkeiten enthielten. Zudem waren viele Uhrwerke, Kopfhörer und Okulare, Elektrogeräte, magnetische Apparate, Druckluftvorrichtungen und hydraulische Anlagen auf dem Heuboden zu finden. Doch kein einziges Messgerät war in Betrieb, und nicht ein Licht blinkte. Alles war reglos und still und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. »Das ist die Komplexe Empathiemaschine«, sagte Leonardo zur Erläuterung. »Jedenfalls, wenn ich sie zusammengesetzt habe. Du wirst mehr damit anfangen können, wenn sie in Betrieb ist. Ich sollte wohl den Generator anwerfen.« Ruth mummelte sich in ihre Jacke ein. »Hier oben ist es eiskalt«, sagte sie bibbernd. »Gibt's bei dir eigentlich keine anständigen Möbel? Und wo wäschst du dich? Wo schläfst du?« Verlegen wies Leonardo auf eine verschossene Strohmatratze, die unter einer Werkbank hervorlugte. Dieser 18 neuerlichen Enthüllung folgte ein Moment unbehaglichen Schweigens, in dem Ruth offensichtlich um Fassung

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rang. Schließlich schloss sie ihren Ehemann in die Arme. »Du alter Schwachkopf«, seufzte sie. »Was soll ich bloß mit dir machen?« »Gehen wir doch wieder runter und lassen wir uns im Schankraum sehen«, schlug Leonardo kurz darauf vor. »Ich könnte einen Schluck vertragen und schätze, die Stammgäste freuen sich, dass ich wieder da bin.« Ruth zog eine Braue hoch. »Und dich möchten sie natürlich auch kennen lernen«, fügte Leonardo hastig hinzu. »Wir könnten uns eigentlich ein wenig in Szene setzen, was meinst du?« »Wenn's sein muss«, erwiderte Ruth resigniert. »Ich muss diese Leute wohl ohnehin früher oder später kennen lernen.« »Dann also mir nach.« Als sie hinterm Gasthaus entlang schlichen, hörten sie von drinnen gedämpfte Stimmen. An der Schwelle zum Schankraum hielten sie inne. Leonardo wartete auf eine Gesprächspause und stieß dann die Flügeltür auf. »Ladys und Gentlemen«, verkündete er triumphierend, »erheben Sie sich bitte, um die frisch gebackene Mrs Pegasus zu begrüßen!« Doch wie sich zeigte, standen bereits alle. Der Schankraum war voller Dorfbewohner, die Essen und Trinken in Händen hielten und ihre dunkelsten Kleider trugen. In einer Ecke hielt der Pfarrer Hof. Leonardos lärmende Ankündigung ließ alle Köpfe zu den Neuankömmlingen herumfahren. Alle bis auf den des Wirts, um genau zu sein, denn 19 sein teilnahmsloser Leichnam war auf einem Tapeziertisch in der Mitte der Schenke aufgebahrt. Von der Theke her hörte man Glas klirren und zerspringen. »Ach du meine Güte!«, rief eine zittrige Stimme. »Ich hab schon wieder eine Kiste fallen lassen.« Ein runzliges Gesicht tauchte hinter dem Tresen auf. Leonardo erkannte seinen Freund, den pensionierten Schulmeister, der ab und an als Aushilfe einsprang. »Tut mir sehr leid, Leo«, jammerte der alte Mann. »Es wird langsam alles etwas viel für mich. Ich bin nun dreiundachtzig, weißt du. Und wir wussten einfach nicht, wo du zu erreichen warst.« »Ich kann noch immer nicht glauben, dass er mir den >Pflug< vermacht hat«, sagte Leonardo eine Woche später zu Ruth, als die beiden auf der Bank vor dem Gasthaus saßen und sich zum Frühschoppen ein Bier genehmigten. »Eigentlich ist das nicht weiter erstaunlich - falls du dem alten Knaben tatsächlich so viel geholfen hast, wie du behauptest«, erwiderte Ruth, hielt einen Moment inne, beobachtete, wie der leichte Wind den Rauch ihrer Zigarette davontrug, und fügte dann hinzu: »Und wie du schon sagtest - er hatte keine Angehörigen...« Sie blickten über den Dorfanger. Ein Stück entfernt lungerten einige verlottert wirkende Jungen herum. Ein paar lagen im welken Gras, und einer zwang seiner mitgenommen aussehenden Flöte immer wieder die gleiche Melodie ab. Zwei andere fuhren auf Fahrrädern im Kreis, und ein dunkelhaariger Bursche heizte auf einem selbst gebastelten Roller herum und war dabei tief über den Lenker gebeugt. Die Jungen schienen überwiegend 20 zwölf bis vierzehn Jahre alt zu sein, und aus der Distanz klangen ihre Stimmen wie eine misstönende Mixtur aus durchdringendem Alt und schwankendem Bariton. Ruth zog erneut an ihrer Zigarette. »Sind das Freunde von dir?« »Freunde nicht gerade«, antwortete Leonardo. »Aber die meisten kenne ich mit Namen. Die mit den Rädern sind die Madgett-Zwillinge. Der mit der Flöte heißt Max und ist - glaube ich - der Enkel von Doktor Gilbert. Und der mit dem Roller ist Joey Hopkins, ein merkwürdiger Junge. Sein Vater Sam kommt bisweilen ins Lokal. Den hast du schon kennen gelernt. Oder ist er Joeys Onkel? Bei dieser Hopkins-Sippe bin ich mir nie ganz sicher.« »Ich schätze, die werde ich alle früher oder später kennen lernen. Natürlich nur, wenn wir tatsächlich hier bleiben. « »Ja«, sagte Leonardo nachdenklich. »Ich hab mich schon gefragt, wann wir das mal besprechen würden. Die Sache ist die: Ich muss mich auf meine andere Arbeit konzentrieren - auf die in der Signalwache also. Aber wenn du dich als Wirtin versuchen magst...« »Tja, so hab ich mir die Rente zwar nicht vorgestellt«, erwiderte Ruth gedehnt und warf ihre Zigarette weg, »doch ich schätze, ich kann's mal versuchen. Aber nur zur Probe, wohlgemerkt!« Die Burschen hatten sich inzwischen getrennt und gingen zum Mittagessen nach Hause. Die Zwillinge mit ihren Fahrrädern waren schnell außer Sicht, während die, die zu Fuß unterwegs waren, langsam über die Wiese davon trotteten. Joey Hopkins zischte am Gasthof vorbei, und als er mit seinem Gefährt in die Kurve ging, um den Hügel hinaufzurollern, sprangen Kiesel links und rechts unter den Rädern weg. 21 »Morgen, Meister Pegasus!«, rief er ihnen über die Schulter zu. »Morgen, Misses P!« Leonardo und Ruth sahen sich an und lachten. »Na gut, du alter Sack«, meinte Ruth. »Probieren wir's.« Ashleigh und ihr herrliches rotes Haar Ich hab euch noch nicht viel über meinen Vater erzählt, stimmt's? Na ja, ich weiß eben nicht recht, wo ich da anfangen soll. Mein Vater ist ein absolut trauriger Fall -und das schon seit einigen Jahren. Manchmal wünsche ich mir, ihm irgendwie helfen zu können. Mehr als ich es ohnehin schon tue, meine ich. Aber mitunter geht er

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mir einfach nur auf den Keks, und dann sehne ich mich bloß danach, dass er mich in Ruhe lässt, verschwindet und sich endlich wieder einkriegt. Mein Vater war mal ein wirklich cooler Geschäftsmann und hatte hier in der Stadt eine Firma - so eine Art Verlagshaus, glaub ich, in dem Stadtpläne gedruckt wurden, aber er hat eigentlich nie viel darüber geredet. Als kleines Mädchen bin ich ein paar mal mit ihm ins Büro gegangen. Es war wirklich schick und lag irgendwo draußen am Hafen. Ich weiß noch, dass es in eine Art Bogen der alten Stadtbefestigung gebaut war. Einen Keller hat es auch gehabt. Dort bin ich gern gewesen und hab mir all die Paletten mit Büchern und anderen Sachen angesehen. Aber ich hab nie begriffen, was in der Firma genau passierte. Mein Vater hat mich meist bei Charlotte gelassen — das war seine Sekretärin oder so. Sie war nett und hat mich in der Pause immer zur Wiese gegenüber 22 mitgenommen, wo ein paar Ziegen grasten, an die wir ihre Butterbrote verfütterten. Aber egal - ich versuche mich ja daran zu erinnern, wie es kam, dass die Dinge für meinen Vater ständig schlechter liefen. Ich weiß, dass meine Mutter immer sehr sauer auf ihn war, weil er so viel Zeit im Büro verbrachte und eigentlich nie aufhörte zu arbeiten. Manchmal kam er wirklich spät nach Hause, und dann haben die beiden sich immer angeschrien, doch um ehrlich zu sein, bringe ich all das Zeug, das damals gleichzeitig passiert ist, noch immer etwas durcheinander. Es ist nämlich so, dass auch ich zu dieser Zeit begann, ein wenig über die Stränge zu schlagen, und eine Weile passierte alles irgendwie gleichzeitig. Ich schätze, ich war damals vierzehn und echt genervt von meinen Eltern, weil sie mich noch immer behandelten wie ein kleines Kind. Ständig musste ich abends früh zu Hause sein und zeitig ins Bett gehen, nie durfte ich tragen, was ich wollte, und so weiter und so fort. Davina — meine beste Freundin also, die einen Stock unter uns wohnte - war nur ein Jahr älter als ich und durfte all die coolen Fummel tragen. Ihre Mutter hat sie einfach kaufen lassen, worauf sie Lust hatte, und ich wollte partout auch solche Sachen haben wie Davina, aber das kam für meine Mutter natürlich nicht in Frage. Und wenn ich mich an meinen Vater gewandt habe, hat er nur von seiner Zeitung aufgesehen und gemeint: »Ich schätze, deine Mutter weiß, was für dich am besten ist« - und das auf diese dämliche und pampige Art, die Erwachsene oft haben, wenn sie wissen, dass sie im Unrecht sind. Also beschloss ich zu tun, was ich wollte - ob ihnen das passte oder nicht. Darum bin ich einfach ausgegangen, wenn mir danach war. Ich hab eigentlich nichts 23 weiter angestellt, sondern nur mit Davina und einigen anderen rumgehangen. Na ja, vielleicht haben wir uns ab und zu etwas Ärger eingehandelt, aber meine Eltern waren absolut dagegen — immer wieder haben sie dummes Zeug erzählt und gemeint, die Straßen seien nicht sicher für ein wehrloses junges Mädchen und überall wimmle es von verderblichen Einflüssen. Und das, obwohl ich damals schon fast ein Jahr Kurse in Selbstverteidigung besucht hatte und es mir sicher nicht hätte gefallen lassen, wenn mir jemand blöd gekommen wäre. Aber meine Eltern waren wild entschlossen, sich von meinen Einwänden nicht umstimmen zu lassen. Deshalb bin ich - wie gesagt - einfach abgehauen, wann immer mir der Sinn danach stand, und am Ende mussten sie sich damit abfinden. Um ehrlich zu sein, waren sie anfangs gar nicht so schlimm. Ich glaube, sie haben mir das Leben erst von dem Tag an schwer gemacht, an dem ich mir die Haare abgeschnitten habe. Später habe ich das bereut, aber das habe ich ihnen natürlich nicht gesagt. Es hat mich ein paar Jahre gekostet, bis sie wieder nachgewachsen waren. Also hatte ich wirklich Zeit genug, über meinen Fehler nachzudenken. Es heißt ja, ein Mädchen sollte seine Reize kennen, und das Attraktivste an mir sind zweifellos die Haare. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber alle Welt findet sie echt cool. Die Leute haben immer Theater darum gemacht - schon als ich noch ein kleines Mädchen war. Mein Haar ist dunkelrot, und das ist - wie ihr zugeben müsst - ziemlich ungewöhnlich. Außerdem ist es lang und glatt, glänzt und ist sehr füllig. Manchmal sitze ich vor dem Spiegel und übe, es mit herablassender oder 24 verächtlicher Kopfbewegung mal nach links, mal nach rechts zu werfen und solche Sachen. Mein Vater hat überwiegend graue Haare - und davon nicht mehr viele -, aber meine Mutter hat mir erzählt, als Junge habe er eine sehr ähnliche Haarfarbe gehabt wie ich. Sie hatte sogar einen passenden Kosenamen für ihn, wenn sie nicht zu genervt war, und das war sie zum Schluss ja meistens. Mitunter aber hat sie ihn doch noch Rusty genannt. Ich weiß, es ist echt schwierig, sich meinen Vater mit roten Haaren vorzustellen. Offen gesagt finde ich es schon schwer, ihn mir überhaupt als Kind vorzustellen, aber ich schätze, auch er war mal jung. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie sich mit sieben Jahren zum ersten Mal begegnet sind, und ich finde, auch das ist eigentlich kaum zu glauben. Aber zurück zu meinen Haaren. Wir - also Davina, ich und meine übrigen Freunde - hatten uns diese echt coole Art ausgedacht, uns zu kleiden. Unsere Eltern wollten immer, dass wir gepflegt aussahen - wie die braven Kinder, die wir sein sollten. Natürlich haben wir genau das Gegenteil getan: Wir haben uns die Röcke zerrissen, uns die Schülermützen verkehrt herum aufgesetzt und sind ohne Strümpfe rumgelaufen - nur um zu zeigen, wie egal uns das alles war. Bald haben wir uns das Gesicht mit schrecklichen Farben bemalt, und ein paar von uns sind mit diesen echt cool gestutzten Haaren aufgetaucht, die obendrein irgendwie auf Stacheln getrimmt waren. Wir Übrigen beschlossen, das Haar auch so zu tragen. Also nahmen wir eines Tages eine Schere, setzten uns im

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Nordviertel ans Flussufer, schnitten uns die Haarpracht ab, warfen sie ins Wasser und lachten wie die Irren, als wir sie davonschwimmen sahen. Wir fanden das echt witzig, doch als meine Eltern mitbekamen, 25 was passiert war, flippten sie total aus. Meine Mutter hat mir sogar vorgehalten, wie sehr Paul sich darüber aufregen würde. Als ob es mir etwas bedeutet hätte, was Paul - egal worüber - dachte! Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich - als ich endlich schlafen gehen durfte - in meinem Zimmer eingeschlossen habe und bei dem Gedanken daran, wie mein herrliches volles Haar mit der Strömung wegtrieb und was nun wohl aus mir werden würde, ins Kopfkissen heulte. Doch das habe ich mir natürlich nicht anmerken lassen. Ach ja, Paul. Paul Catalano. Das war ein lustiger Kerl, klein und fett, und einen seltsamen Bart hatte er. Paul war wirklich süß, aber er war auch - na ja - ein wenig eigenartig. Er war Friseur und ein alter Freund meines Vaters. Solange ich mich erinnern kann, ist er einmal im Monat gekommen, um die ganze Familie nacheinander am Küchentisch zu frisieren: erst mich, dann Maxie - den hätte ich schon längst erwähnen sollen, denn er ist mein kleiner Bruder -, dann meinen Vater und zum Schluss meine Mutter. Jetzt fällt mir auch ein, dass Paul mächtig Theater gemacht hat, als meine Mutter die Haare kurz haben wollte. Meinen Schopf hat er jedenfalls geliebt, und er hat ohnehin immer ein ziemliches Trara um mich gemacht. Kaum waren meine Eltern nicht mehr im Zimmer, hat er mich immer zum Lachen gebracht, richtig versaute Sachen gesagt und mich schwören lassen, sie nie und nimmer zu wiederholen. Ich schätze, Maxie hat er auch das eine oder andere in die Ohren gestreut, obwohl wir eigentlich nie darüber gesprochen haben. Maxie ist später etwas merkwürdig geworden, aber dazu komme ich gleich. Nachdem ich mir die Haare abgeschnitten hatte, ging 26 ich Paul aus dem Weg. Wenn er im Anmarsch war, haute ich rechtzeitig ab. Einmal hab ich mich sogar im alten Fahrstuhlschacht versteckt, obwohl es mir dort nie gefallen hat. Ehrlich gesagt hab ich mich wohl doch ein wenig geschämt, Paul gerupft unter die Augen zu treten. Wie gesagt - es hat zwei Jahre gedauert, bis meine Haare nachgewachsen waren. Doch eins muss man Paul lassen: Er war fast der Einzige, der meinen Vater noch regelmäßig besuchte, als alles schiefgegangen war. Also wird er wirklich ein Freund gewesen sein. Na ja, es gab da auch noch dieses seltsame Paar namens Charles und Sally, das auch ab und an vorbei gesehen hat. Aber außer Paul hat eigentlich nur Charlotte meinem Vater die Treue gehalten - die Frau also, die mal seine Sekretärin gewesen war. Sie kam gewöhnlich mit ihrem kleinen Sohn vorbei. Ich hab Charlotte gemocht; sie war immer nett zu mir gewesen, als mein Vater mich ins Büro mitnahm, und sie hatte eine echt coole Frisur, sehr blond und glockenförmig. Ich hab Paul ständig gebeten, mir auch so eine Frisur zu machen, doch er hat immer gesagt, das sei zu schwierig. Nach dem ganzen Ärger um meine Haare bin ich jedenfalls abgehauen und eine Zeit lang bei Davina geblieben, die damals nur mit ihrer Mutter zusammenlebte, der es ziemlich egal war, was sie so trieb, und die sich auch sonst nicht eingemischt hat. Es war wirklich prima bei Davina, doch es bedeutete, dass ich ein paar wichtige Weichenstellungen in meiner Familie verpasste, die gerade zu der Zeit stattfanden, als die Dinge für meinen Vater schlecht zu laufen begannen. Natürlich kehrte ich irgendwann nach Hause zurück, aber da waren Mutter und Maxie bereits aufs Land gezogen, um bei meinem Opa zu leben, und mein Vater ging schon nicht mehr in seinen Betrieb. 27 Er hat nie viel darüber geredet, was mit seiner Firma passiert ist. Sie hieß Michael Brown Verlag - hab ich euch das nicht schon erzählt? Davinas Mutter hat mir mal gesagt, mein Vater habe sein gesamtes Lager verloren (was immer das heißen mag) und darum den Betrieb einstellen müssen. Wie dem auch sei: Als ich wieder nach Hause kam, schien er völlig verwandelt. Er war tieftraurig geworden und wollte die Wohnung nicht mehr verlassen; es war ausgesprochen schwer, sich mit ihm zu unterhalten, und oft machte er sich nicht mal die Mühe, sich anzuziehen, sondern faulenzte in seinem verschossenen alten Nachthemd und seinen furchtbaren alten Socken den ganzen Tag in der Wohnung herum. Ach ja - er hat die Signalmaschine entfernen lassen. Das war so ziemlich die einzige gute Sache, die er zustande gebracht hat. Er sagte, wir könnten sie uns nicht mehr leisten, aber ich schätze, es hatte eher etwas mit dem Koboldfieber zu tun. Wenn ich zurückdenke, glaube ich, dass dieses Fieber Maxie so merkwürdig hat werden lassen, aber wir haben seine Schrullen damals noch nicht mit diesem Wort bezeichnet, und selbstverständlich haben wir über seine Merkwürdigkeiten überhaupt geschwiegen, weil so was in anständigen Familien ja nicht vorkommt, nicht wahr? Übrigens war ich nie besonders an Signalmaschinen und diesem ganzen technischen Kram interessiert, obwohl er in kleinen Dosen vermutlich nicht schädlich ist. Das hätte meine Mutter wahrscheinlich gesagt, wenn sie nicht voll und ganz damit beschäftigt gewesen wäre, zum vierhundertsten Mal den Fußboden zu schrubben. Jedenfalls war ich kaum ein paar Tage wieder daheim, als zwei Typen die Signalmaschine abholten. Ich muss gestehen, dass ich sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr vermisste. 28 Doch zurück zu meinem Vater, der in einer schlechterdings lausigen Verfassung war. Die eine Hälfte von mir meinte, ich sollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, während die andere - meine bessere Hälfte, wie Davinas Mutter gesagt hätte - zu bedenken gab, dass niemand sich um ihn kümmern würde, wenn ich es nicht täte. Und

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schließlich war er mein Vater. Wer hätte gedacht, dass Jungkommissarin Ashleigh Brown mit fünfzehn Jahren beginnen würde, sich um ihren alten Vater zu kümmern? Mitunter fühlte ich mich dabei ziemlich tugendhaft, aber eigentlich nur dann, wenn er ein gutes Stück entfernt war. Ich musste jeden Tag zum Einkaufen in den Supermarkt gehen und das ganze Zeug in einer schweren Tasche nach Hause schleppen. Dann musste ich alle Mahlzeiten zubereiten, Wäsche waschen und sogar jeden zweiten Tag die Betten machen, weil ich meinen Vater nicht mal dazu bewegen konnte, diese Aufgabe voll zu übernehmen. Und wenn die Wohnung langsam etwas staubig wurde, nachdem meine Mutter ausgezogen war, lag das einfach daran, dass keiner von uns beiden gern Staub wischte. Und vergesst bitte nicht: Ich war jeden Tag mit den Katzenmädchen unterwegs, manchmal auch abends, und dafür wurde ich nicht mal bezahlt - jedenfalls nicht, solange ich noch Kadett war. Wir besaßen also nur das Geld, das mein Vater aus dem Ruin des Michael Brown Verlags hatte retten können, und mir war klar, dass es nicht ewig reichen würde. Also fragte ich mich immer öfter, wie meine Mutter und Maxie bei Großvater zurechtkommen mochten und ob ich meine Eltern dazu bringen könnte, sich wieder zu versöhnen. Und natürlich begann ich, dieses Projekt als ersten Fall von Jungkommissarin Ashleigh Brown zu sehen. 29 Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an Kathleen, Mitglied im Rat der Weisen Liebe Großmutter, wieder ist ein unglückliches Jahr in diesem Haus verstrichen. Wie viele davon sind seit jenem furchtbaren Tag vergangen? Wann hast du uns für immer verlassen und bist auf die Inseln zurückgekehrt? Vor drei oder schon vor vier Jahren? Ich beginne allmählich, die Übersicht zu verlieren. Und mit jedem Jahr nimmt die Zahl unserer Bewohner ab, während das Unkraut sich Meter um Meter auf unseren Feldern vorarbeitet, Disteln sich ihren Weg durch die Risse der Arena bahnen und die Dornenhecke ringsum ständig höher wächst. Ihre unerbittlichen Äste sind eine Barrikade, die langsam undurchdringlich wird. Kein Wunder, dass immer weniger Bedürftige zu uns finden. Ach, Großmutter, es war mein sehnsüchtigster Wunsch, das Haus der Ruhe wieder erstarken zu sehen und zu erleben, wie es erneut zu einem Hafen, einer Zufluchtsstätte derer wird, die die Orientierung verloren haben. Doch es war dein Los und das deiner Vorgänger, diesem Haus in Zeiten des Aufstiegs und der Stärke vorzustehen. Mein Schicksal scheint dagegen, es in den quälend sich hinziehenden Tagen des Niedergangs zu leiten. Denn zu deiner Zeit kamen täglich Leute hierher. Wie ein Leuchtfeuer hat dieses Haus Verirrte angezogen, Beraubte und Verwirrte, und wir haben ihnen Hilfe geboten, Anleitung und Nahrung. Wie haben sie uns gefunden, diese Verirrten und Beraubten? Vielleicht werde ich das nie begreifen, aber gefunden haben sie uns, und sie 30 haben langsam zurückgewonnen, was sie verloren hatten. Hier haben sie miteinander geredet und gespielt, musiziert und den Garten bestellt. Hier sind sie spaziert und haben getanzt und ihr Übungsprogramm absolviert. Und hier haben sie die orientierenden Prinzipien des Großen Wesens kennen gelernt und sind initiiert worden. Ganz vorsichtig haben sie begonnen, ihren Weg zu finden. Doch seit dem furchtbaren Doppelmord ist all das vorbei - seit der Ankunft des großen jungen Mannes mit den langen Haaren, dieses unheimlichen Menschen, der uns nur Kummer gebracht hat. Er ist es gewesen, der das Haus des Lichts in eines der Angst verwandelt hat. Seit seiner Ankunft ist das Leuchtfeuer immer matter geworden, und die Musik hat an Harmonie eingebüßt. Selbst die Steine in der Arena haben ihre penible Ausrichtung allmählich verloren und sind gefährlich in Unordnung geraten. Und die Dornenhecke wächst hoch und höher, Unkraut überwuchert die Felder, und auf allen Mauern landen Schwärme von Möwen und sehen mich aus bösen Augen höhnisch an. Ach, Großmutter, die Möwen! Manchmal sieht es aus, als wollten sie das Haus der Ruhe ganz und gar in Beschlag nehmen. Warum kommen sie hierher? Das Haus ist doch mehrere Tagesreisen von der Küste entfernt! Aber jedes Jahr werden die Möwenschwärme größer, ihr Kreischen wird greller, ihr Besuch dauert länger. Es ist, als wären die Naturkräfte aus der Balance geraten, als sei das Große Wesen selbst unserer überdrüssig und habe begonnen, sich anderen Dingen zuzuwenden. Doch solche Gedanken sind Gotteslästerung und nur mit unheilvollen Trugbildern zur Geisterstunde zu vergleichen. Und obwohl ich keinen Schlaf finden kann 31 und mich Nacht für Nacht sorgenvoll von einer Seite des Bettes auf die andere werfe, fordert das Haus bei Tag seinen Tribut. Tagsüber ist immer etwas zu tun. Natürlich - das Unkraut überwuchert Feld um Feld, und Spinnweben schaukeln vor den Fenstern, doch obendrein müssen auch die Flure gefegt und die Mahlzeiten zubereitet werden, und ein paar Verirrte gibt es ja immer noch, die wir auf ihren Pfad zurückführen müssen. Und wenn die Verirrten von heute auch wütendere Augen und rauere Sitten haben und rüder zupacken mögen als früher, so sind sie doch Verirrte, und es bleibt unsere Aufgabe, sie auf den Weg zu führen, auf dem sie nach Hause gelangen. Natürlich leite ich noch immer die Turnklasse und bringe unseren Besuchern verschiedene Übungsfolgen bei. Damit haben die Weisen mich ja für diesen Posten geködert, Großmutter, und nur die Übungen haben mir die innere Kraft gegeben, seit nun zwanzig Jahren hier zu bleiben. Noch immer bringe ich den Verirrten bei, wie

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man geht, auf dem Absatz kehrtmacht und steht. Noch immer unterrichte ich sie darin, sich durch ganze Übungsfolgen zu arbeiten, und wenn ich nachts vor Sorgen nicht einschlafen kann, beschäftige ich mich mit bestimmten Übungen, lasse mich von unsichtbaren Strömen durch die leeren Zimmer tragen, perfektioniere meine Posen - mal aufrecht, mal auf dem Kopf stehend - und lasse meine Hand- und Fußabdrücke traurig hinter mir im Staub zurück. Doch wenn der Morgen graut, muss die Arbeit weitergehen. Wie lange noch, Großmutter? Manchmal wünsche ich mir, alles wäre morgen vorbei. Mitunter sehne ich mich danach, dass die Verirrten unser Haus für immer verlassen und die Weisen mich in die Heimat zurückbeor- 32 dem - dorthin, - wo es nach Klee, hohem Gras und Meer riecht. Manchmal würde ich gern mit den Möwen davonfliegen können. Ich vermisse dich, Großmutter - dich und euch alle. Möge das Große Wesen dir beistehen! Alles Liebe von deiner Enkelin Alice Ashleigh verpflichtet sich Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, richtig hässlich zu sein, doch an anderen Tagen komme ich zu dem Schluss, gar nicht schlecht auszusehen. In meinem Zimmer hängt ein großer Spiegel über der Frisierkommode. Wenn mein Vater einen sehr schlechten Tag hat und zum Beispiel mal wieder versucht, seine dummen Übungen zu turnen, schließe ich mich manchmal ein und verbringe Stunden damit, mich im Spiegel zu betrachten. Meine Haare sind in Ordnung, so viel steht fest. Ich mag sie - sie haben eine echt coole Farbe. Aber all die fiesen Sommersprossen? Meine Mutter meinte immer, ohne die sei rotes Haar nicht zu haben; sie seien der Preis, den man dafür zahlen müsse. Ich allerdings finde, sie sehen einfach kindisch aus, aber man scheint nichts dagegen tun zu können. Paul Catalano - also der Friseur, mit dem mein Vater befreundet ist - hat mir mal gesagt, er fände meine Sommersprossen echt sexy. Mir war irgendwie mulmig, als ich einen Mann - selbst einen wie 33 Paul - so ein Wort auf mich anwenden hörte, doch danach fand ich meine Sommersprossen einige Zeit gar nicht mehr so schlimm. Und was ist mit meinen Augen? Ich schätze, wenn ich sie mit einem Wort beschreiben sollte, würde ich sie grün nennen, obwohl sie es eigentlich nicht sind - eher halb grau, halb braun. Streng genommen haben sie gar keine richtige Farbe. Ich hätte gern Augen so grün wie die Blätter der Stechpalmenbüsche vor den Turmresidenzen. Oder so grün wie das Gras vor dem Haus, als es noch einen Gärtner gab, der es bewässerte. Das wäre was! Das würde die Leute dazu bringen, sich nach mir umzudrehen! Und dann dieser Mund! Je länger ich ihn anschaue, desto dämlicher finde ich ihn. Manchmal sieht er zu groß aus, als hätte ich die ganze Zeit nur gegähnt und geschrien, und manchmal wirkt er viel zu klein, als wollte ich unbedingt etwas verschweigen. Jedenfalls sieht er irgendwie nie richtig aus. Vielleicht hängt das ja von der Tageszeit ab? Oder davon, wie weit der Monat fortgeschritten ist? Wenn ich versuche, die Sache nüchtern zu betrachten - und das soll ich, sagt mein Vater —, sehe ich alles in allem vermutlich wie ein blödes, mageres, rothaariges Mädchen aus, das noch nicht richtig erwachsen ist. Und das bin ich ja auch, stimmt's? Meine Mutter wollte immer, dass ich »nette Sachen« trage - blöde Rüschenkleider und so. Das hat mich immer total angeödet und mich wohl dazu gebracht, mich überhaupt den Katzenmädchen anzuschließen, denn die hatten diese echt coole Uniform mit Mantel, Hose, Schiffchen und Stiefeln, und wir Mädchen sahen darin total furchterregend aus. Die Uniform war aus dickem blauem Baumwollstoff, und wenn man sie länger trug, 34 verblasste die Farbe allmählich und ging in ein schmutziges Grau über. Dann bekam die Kluft auch langsam Risse und begann, da und dort auszufransen, als hätte man darin schon große Taten vollbracht. Auch die Knöpfe gingen bald ab und wurden nicht ersetzt, so dass der Mantel hier und da offen stand. Ich ließ die oberen Knöpfe ohnehin gern offen, um eine Andeutung meiner - allerdings bescheidenen - Oberweite zu vermitteln, und entdeckte eine Art, das Schiffchen zu tragen, die meine Mähne aufs Vorteilhafteste zur Geltung brachte. Mein Haar war zwar noch ziemlich kurz, als ich den Katzenmädchen beitrat, aber nach einer Weile besaß ich schon fast wieder die alte Pracht. Ach ja, das Schiffchen hatte ein kleines Abzeichen -einen Katzenkopf aus Messing mit funkelnden Augen und langen, scharfen Zähnen. Ich achtete darauf, dieses Abzeichen nicht zu oft zu putzen, und so bekam es diese fiese hellgrüne Farbe, die wie Rotz aussieht. Maggot tat immer, als würde ihn das ärgern, aber ihm war doch anzumerken, dass er es ziemlich schick fand. Ach, und die Stiefel, die wir bekamen, waren wirklich billig und abscheulich. Die Nähte gingen in kürzester Zeit kaputt, und aus den Löchern sahen unsere entsetzlichen langen Zehennägel hervor. Natürlich sorgte ich dafür, stets viele Knoten in den Schnürsenkeln zu haben. Jedenfalls haben uns die Ausbilder immer wieder eingeschärft, Königliche Katzenmädchen-Kadetten hätten nur eine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass Recht und Gesetz eingehalten werden. Also überlegten wir in unserer Patrouille, die Leute wären vielleicht etwas kooperativer, wenn wir ein wenig unheimlich aussehen würden. Deshalb haben wir uns eines Tages getroffen und stundenlang daran gearbeitet, unser Erscheinungsbild 35

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auf gruselig zu trimmen. Jede von uns hatte eine eigene Art, die Uniform zu tragen, und ich schätze, wenn ihr uns vieren je zufällig in dunkler Nacht auf Patrouille begegnet seid, habt ihr den Schreck eures Lebens bekommen - vor allem, falls wir gerade Selbstverteidigungsübungen gemacht haben sollten. Wir vier sahen alle ganz unterschiedlich aus. Davina war die Größte und obendrein richtig stark, denn sie war fast wie ein Mann gebaut und deshalb schon für sich genommen ziemlich furchterregend. Ich war die Zweitgrößte und sah natürlich extrem vornehm und elegant, zugleich aber absolut unheimlich aus. Lulu LaFarge war etwas kleiner, wog aber bestimmt doppelt so viel wie ich, denn sie war ausgesprochen stämmig. Und die kleine Maria Moss - na ja, die sah eigentlich aus wie ein dürrer kleiner Affe, und ihre Gesichtszüge bekräftigten diesen Eindruck nur. Als wir vier bei den Katzenmädchen rausflogen, verlor ich Lulu und Maria ziemlich lange aus den Augen. Nur mit Davina hab ich mich noch kurze Zeit getroffen, doch wegen der Dinge, die bald darauf geschahen, hab ich dann sehr lange keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Ach ja, die Selbstverteidigung! Ich hab wohl schon erzählt, dass ich mich auch deshalb den Katzenmädchen angeschlossen habe, weil meine Mutter immer an meinen Klamotten rumgemeckert hat. Sie wollte stets, dass alles nett aussah - meine Sachen, die Wohnung und so weiter. Doch vor allem bin ich wegen der Selbstverteidigungskurse Katzenmädchen geworden. Etwa ein Jahr zuvor hatte ich angefangen, solche Kurse zu besuchen. Alles begann bei Davina. Wir spielten eigentlich nur ein bisschen herum und zeigten einander ein paar Tricks, doch dann führte sie mir diese unglaub- 36 liehe Sache vor, bei der sie irgendwie auf dem einen Fuß herum wirbelte und mit dem anderen das Kaminsims abräumte. Meine Mutter wäre total ausgeflippt, wenn ich so was in unserer Wohnung gemacht hätte, doch Davinas Mutter lachte nur und schien diese Aktion für wirklich witzig zu halten - die ist echt okay. Jedenfalls erzählte Davina mir, was sie mir gezeigt habe, heiße Flamingo-Kick, und in ihrem Selbstverteidigungskurs lerne sie noch viel mehr so tolle Sachen. Als ich das hörte, wollte ich unbedingt auch so einen Kurs besuchen und hab meine Eltern so lange bearbeitet, bis sie es mir erlaubten. Doch selbst als sie endlich nachgegeben hatten, stichelten sie ständig herum. Meine Mutter meinte immer, das sei doch undamenhaft - typisch! Und mein Vater wollte mir einreden, ich sollte statt Selbstverteidigung besser seine dämlichen Turnübungen machen... Ich schätze, ich sollte euch ein wenig über diese Turnübungen erzählen. Jahre vor seiner Heirat hat mein Vater ein Mädchen namens Alice gekannt. Er starrt bis heute in irgendeine Zimmerecke und sagt eine Zeit lang keinen Ton, wenn jemand diesen Namen erwähnt. Wie auch immer - diese Alice hat ihm wohl all die Übungen beigebracht, die er früher regelmäßig gemacht hat. Auch Paul Catalano hat Alice wohl gekannt, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er sich je etwas körperlich Anstrengendes zugemutet hat. Meine Mutter hatte es übrigens gar nicht gern, wenn von ihr die Rede war. Alice jedenfalls kam wohl von irgendwelchen total abgelegenen Inseln, und mein Vater hat erzählt, dort draußen würden alle täglich stundenlang solche Übungen machen. Ich schätze, auf kleinen Inseln am Ende der Welt haben die Leute eben nichts Besseres zu tun. Übrigens 37 glaube ich nicht, dass mein Vater je so lange mit diesen Übungen verbracht hat, aber mitunter habe ich ihn doch dabei ertappt, wie er die eine oder andere Figur ausprobierte. Manchmal hat er versucht, in einem Zimmerwinkel einen Kopfstand zu machen, und gelegentlich stand er mal in dieser, mal in jener merkwürdig affektierten Pose irgendwo in der Wohnung. Das hat mich ziemlich neugierig gemacht, und er hat mir erzählt, diese Übungen würden ihm helfen, sich zu konzentrieren und vielleicht sogar dazu beitragen, mancherlei besser zu verstehen. Das alles hat er ziemlich interessant klingen lassen und mich so dazu gebracht, es auch mal zu probieren, doch ziemlich bald hab ich keinen Sinn mehr darin gesehen, dass mein Vater mich halbe Ewigkeiten mit zur Decke gestreckten Armen auf einem Bein hat stehen lassen oder so - das war nach einiger Zeit einfach langweilig. Dann brachte Davina mich auf diese Selbstverteidigungssache. Die hörte sich wirklich cool an, und ich hab meine Eltern so lange bearbeitet, bis sie nachgaben und mich so einen Kurs besuchen ließen. Das füllte mich eine Zeit lang aus, doch bald begann ich mich erneut zu langweilen, weil Selbstverteidigung - wie ich finde - nur dann richtig Spaß macht, wenn man wirklich angegriffen wird. Einmal surften Davina, Lulu und Maria im Signalnetzwerk herum und erfuhren dabei, dass die Königliche Wolfsjungen-Miliz eine neue Organisation namens Königliche Katzenmädchen-Kadetten aufzog, eine Art Jugendabteilung der Wolfsjungen, für die Mädchen gesucht wurden, die sich zu Polizistinnen ausbilden lassen wollten. Der eigentliche Knüller aber war, dass alle, die schon vierzehn waren, sich ohne Einverständnis der Eltern als Katzenmädchen verpflichten konnten. Also haben wir vier uns gleich angemeldet. An- 38 fangs schien es wirklich super zu werden, denn wir konnten uns in diese herrlich gruselige Montur werfen und lernen, uns in Gefahrensituationen zu behaupten. Aber irgendwann merkten wir, dass man uns noch jahrelang nicht erlauben würde, echte Polizeiarbeit zu machen. Wir wurden wie in der Schule in allen möglichen blöden Fächern unterrichtet und hatten pro Woche nur eine Patrouille - und zwar, um ein ganzes Jahr Abfälle zu sammeln! Selbstverteidigung wurde täglich nur eine Stunde unterrichtet. Dafür mussten wir haufenweise Gesetze und Verordnungen pauken, was - man denke an Polizei- und Verwaltungsrecht - kompliziert und unglaublich

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langweilig ist. Dazu kam das ganze Zeug über effektive Teamarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung, Befehl und Gehorsam und darüber, wie man sich in Gefahrenlagen zu verhalten hat. Wen wundert es da, dass wir — als wir endlich Streife gehen durften - über die Schnur gehauen haben? Doch vor allem wollte ich sagen, dass ich etwa zeitgleich mit meinem Eintritt bei den Katzenmädchen den ganzen Ärger mit meinen Eltern hatte, von dem ich euch schon erzählt habe und der damit endete, dass ich aus der Wohnung stapfte und mich einige Zeit bei Davina einquartierte. Natürlich war das nicht weit weg von zu Hause - schließlich wohnte sie nur eine Etage unter uns -, doch im Rückblick denke ich, es wäre schlauer gewesen, meinen Eltern wenigstens zu sagen, wohin ich ging. Aber ich war damals total sauer auf sie, und ich schätze, wir alle machen komische Sachen, wenn wir sauer sind. Ich glaube, ich bin nur ein paar Tage von zu Hause weg gewesen, doch als ich zurückkam, schien alles von Grund 39 auf verändert. Zunächst mal tauchte ich in meiner Uniform auf, die mein Vater nie zuvor gesehen hatte und die ihm einen kleinen Schreck eingejagt haben dürfte. Dann stellte ich fest, dass Mutter und Maxie verschwunden waren, und zwar anscheinend bei Nacht und Nebel. Und mein Vater schien nicht darüber sprechen und mir nichts erklären zu wollen. Schließlich fand ich heraus, dass die zwei aufs Land gefahren waren, um bei Großvater zu bleiben. Vielleicht hab ich euch schon erzählt, dass Maxie zu dieser Zeit sehr seltsam geworden war und immer wieder in den Keller ging, um Ratten zu zählen und so. Ich schätze, meine Mutter hat sich gedacht, ein wenig Landluft würde ihm gut tun. Maxie war allerdings immer ein eigenartiger Bursche gewesen. Als wir noch klein waren, sind wir sehr gut miteinander ausgekommen, doch er war ganz anders als ich. Ich hatte immer gern viele Leute um mich herum, er dagegen ist eher ein Einzelgänger. Und ich hab immer viel Sport getrieben, bin gerannt, hab Rad geschlagen und so. Maxie war in solchen Dingen nie gut. Vermutlich war er wirklich ein kleines Muttersöhnchen, und ich war Vaters großes Mädchen, aber natürlich hab ich das damals nicht so gesehen, sondern begreife es erst jetzt, wo ich alt und weise geworden bin... Jedenfalls wurden wir einander immer fremder, und er verkapselte sich immer mehr in seiner Welt. Davinas Mutter sagte gern, er sei mit den Möwentreibern verschwunden — na ja, sie hat immer mal wieder solche seltsamen Sachen behauptet. Aber ich habe noch immer nicht erklärt, warum ich mich entschieden habe, wieder nach Hause zu kommen. Um ehrlich zu sein: Das habe nicht ich entschieden. Mein Name ist offenbar auf einer Vermisstenliste 40 aufgetaucht, und jemand muss Maggot das gemeldet haben. Er hat mir dann gesagt, ich müsse nach Hause zurückkehren und den Streit mit meinen Eltern beilegen, und das hab ich auch getan. Da erst hab ich festgestellt, dass meine Mutter und Maxie fortgegangen waren. Und bei dieser Gelegenheit hab ich - wie mir gerade einfällt - auch erfahren, dass Tom Slater tot war. Die Geschichte des Zeitalters der Könige Jungen und Mädchen von heute mögen vielleicht kaum glauben, dass Fahrzeuge zu Beginn von Evelinas Regierungszeit nur von Ponys, Pferden und Mauleseln bewegt wurden. Tatsächlich aber ist Königin Evelina erst mit zweiundfünfzig Jahren auf einer Reise durch die Provinzen und Grenzregionen auf ein Bannister-Automobil gestoßen. Zwar war sie nicht mehr jung, aber - was neue Ideen anlangte - durchaus auf dem Laufenden, und sofort schlug dieses schnelle, wenn auch laute und übel riechende Fahrzeug sie in Bann. Folgerichtig wurde Caleb Bannister, der Chef der Firma, vor die Königin zitiert und erhielt nach kurzem Austausch von Förmlichkeiten den Auftrag, die Modernisierung des königlichen Fuhrparks zu besorgen. Ein Jahr später verlegte Bannister den Sitz seiner Firma aus der Provinz in die Hauptstadt, und binnen weniger Jahre hatte sie sich im industriellen Zentrum unseres Königreichs etabliert. Caleb Bannister wurde im sechsten Jahr der Regentschaft von Evelina geboren. Damals war die Königin fast noch 41 ein Mädchen, während die Bannisters schon alteingesessene Stellmacher waren. Caleb besuchte erst die örtliche Grundschule, dann die Oberschule in der Provinzhauptstadt, ehe er als Auszubildender in das Familienunternehmen eintrat, wo er lernte, Fahrgestelle zu bauen, Räder zu beschlagen, zu lackieren und Pferdegeschirre anzufertigen, und sich auch all die vielen anderen Fähigkeiten gewissenhaft aneignete, die man brauchte, um ein Bannister-Fahrzeug herzustellen. Die nächsten zwanzig Jahre allerdings trug er nichts Spektakuläres zum Gedeihen des Familienunternehmens bei, und erst mit der Geburt seines Sohnes Henry begann der Mann Konturen anzunehmen, zu dem Caleb sich entwickeln sollte. Denn zu jenem Zeitpunkt bekam er im Städtischen Krankenhaus erstmals eine Vorstellung davon, welch gewaltiges Potenzial in Motoren steckt. Damals war die Medizin noch kein so kompliziertes und ausgeklügeltes Berufsfeld wie heute, und es gab eine Reihe von Ansichten, die wir inzwischen als abergläubisch einstufen oder auf Unwissen zurückführen - zumal den Brauch, Neugeborene vierundzwanzig Stunden der Gewalt des Windes auszusetzen. Man glaubte offenbar, so würde das kindliche Wachstum gefördert! Jedenfalls standen auf dem Flachdach des Krankenhauses reihenweise Kinderbetten, in denen die armen Babys einen Tag und eine Nacht einsam und allein ausharren mussten.

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Zufällig lagen die Kreißsäle des Krankenhauses im Keller, und das bedeutete für die Hebammen, die Neugeborenen viele Treppen hinauf bis aufs Dach zu tragen. Um diese beschwerliche Aufgabe zu erleichtern, hatte ein findiger Hausmeister in einen stillgelegten Schornstein einen provisorischen Fahrstuhl eingebaut, der nicht - wie 42 sonst üblich — von Ponys, sondern von einem kleinen Motor angetrieben wurde. Während Caleb auf die ersten Schreie seines Sohnes wartete, saß er da und sah zu, wie der Aufzug immer wieder hoch- und runterfuhr. Vielleicht beobachtete er, wie die Zahnräder des Motors rotierten und der Hausmeister oder einer seiner Gehilfen eine dicke dunkle Flüssigkeit in den Tank füllte. Vielleicht sah er im Geiste sogar eine Kutsche der Firma Bannister ohne Zugtier die Straße entlangsausen! Eines jedenfalls ist gewiss: Als er ein paar Tage später mit Frau und Kind nach Hause zurückkehrte, bat er seinen Vater sofort, ein paar Experimente mit Motoren anstellen zu dürfen. Und innerhalb weniger Jahre kam das erste Bannister-Automobil auf den Markt, das bald nur noch Auto genannt wurde. (aus Band 1: Die Regentschaft Evelinas der Ewigen) König Nathaniel gilt heute primär als Witzfigur und alberner Mensch, der fast nichts für das Königreich getan hat. Doch in seiner kurzen, unglücklichen Amtszeit trug sich der nächste wichtige Schritt in der ereignisreichen Geschichte der Firma Bannister zu, denn Nathaniel - der Enkel von Königin Evelina - interessierte sich sehr für Technik, und zwischen ihm und Caleb Bannister entwickelte sich zwar vielleicht keine Freundschaft, auf jeden Fall aber ein tiefes gegenseitiges Verständnis. Leider fanden die beiden gerade deshalb ein vorzeitiges Ende. Caleb - nun Chef der Firma - tüftelte noch daran, die Kühlung des neuesten, mit Vorderradantrieb ausgestatteten Modells zu verbessern, doch der König, der den Wagen unbedingt seinem Fuhrpark einverleiben wollte, befahl, dass er ihm vorgeführt werde. Also wurde das Auto in den Königlichen Stallungen zur Probefahrt 43 bereitgestellt. Kaum hatten Nathaniel und seine Begleiter es sich im Fond bequem gemacht, setzte Caleb sich ans Steuer und fuhr den Wagen auf der Nordstraße zum Fluss. Plötzlich aber bekam der König Lust, sich neben Bannister rittlings aufs Motorgehäuse zu setzen, und wie hätte Caleb sich dem Wunsch seines Herrn widersetzen sollen? Doch leider funktionierte die neue Kühlung, mit der er sich schon so lange beschäftigt hatte, noch immer nicht einwandfrei. Den letzten Worten des Königs - »Verdammt warm hier oben, was?« - folgte eine gewaltige Explosion, die den Wagen zu Brennholz machte und zum sofortigen Tod des Fahrers und seines königlichen Beifahrers führte. Auch von den im Fond sitzenden Begleitern Nathaniels überlebte nur ein Einziger. (aus Band 2: Die Regentschaft Nathaniels des Unglücklichen) Auf Nathaniel folgte Evelinas jüngerer Enkel Roderick, auf Caleb Bannister dessen Sohn Henry, der damals erst zweiundzwanzig war. Allein Roderick war es zu verdanken, dass die Bannisters sich weiterhin des Wohlwollens der regierenden Familie erfreuen durften, obwohl der neue König - wie immerhin erwähnt sei - für den Eigenbedarf kein einziges Motorfahrzeug orderte. Unter diesen Umständen ist es nur zu bewundern, dass er die Charakterstärke besaß, die Entwicklung dieser neuen Technologie weiter zu unterstützen. Bevor wir das Thema Verkehrsmittel vorläufig abschließen, sollten wir kurz über den Brennstoff sprechen, den die Motoren benötigten. Stellt euch eine schwere, klebrige Flüssigkeit vor, deren Konsistenz zwischen Sirup und Kreosot anzusiedeln ist. Dieser Kraftstoff brach- 44 te die Autos zum Fahren und stammte - wie jedes Kind aus dem Erdkundeunterricht weiß - aus der unwirtlichen Steinwüste im äußersten Süden des Königreichs. Anfangs wurde der Brennstoff von nomadisierenden Ölsucherfamilien mittels kleiner, von Hand betriebener Vakuumpumpen aus Gesteinsspalten gewonnen. Später benutzte man natürlich mechanische Saugpumpen. Leider bekamen die Bedienungsmannschaften bald Streit mit rivalisierenden Prospektoren aus den feindlichen Staaten im Süden, die sich - mit welch schändlichen Absichten auch immer - ebenfalls Zugang zu den Ölfeldern verschaffen wollten. Im neunten Jahr seiner Amtszeit beschloss Roderick, seine Ölsucher militärisch zu schützen, und es überraschte niemanden, dass die feindlichen Staaten es ihm nachtaten. So begann der fast vierzigjährige Grenzkrieg in der Steinwüste, der zu Lebzeiten von Roderick und Henry Bannister als erbitterter Stellungskrieg geführt wurde. Im achten Jahr von Rodericks Regierung wurde Henry Bannisters Sohn Charles geboren. Die Autofabrik war inzwischen einer der größten Industriebetriebe der Hauptstadt, und die dort produzierten Fahrzeuge waren immer öfter auf den Straßen zu sehen. Der kleine Charles genoss eine reiche und privilegierte Kindheit, um die ihn heutzutage jeder Junge und jedes Mädchen beneiden würde. Auch seine Erziehung war privilegiert, denn er durfte die Grund- und Mittelschule des Palasts besuchen und dort auch seine Prüfungen ablegen. Zum Glück besitzen wir Historiker ein Verzeichnis, in dem alle Kinder aufgelistet sind, die diese Schule seit den Tagen von Königin Evelina besucht haben, und es ist faszinierend, darin zu lesen. So wissen wir beispiels- 45 weise, dass in Rodericks fünfzehntem Regierungsjahr sechsunddreißig Kinder auf diese Schule gegangen sind, von denen Catherine Sturgess - Tochter des Obersten Pastetenbäckers - mit fünfzehn Jahren die Älteste war. Die Jüngste hingegen war die erst fünfjährige Prinzessin Sarah, eine Kusine zweiten Grades von Prinz Matthew. Dieser war neun und besuchte die Schule ebenso wie der sechsjährige Charles Bannister, der einmal die Fabrik

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seines Vaters erben sollte. Alle Kinder gingen vormittags und nachmittags in ein und dieselbe Klasse, aßen gemeinsam zu Mittag und trieben danach zusammen Sport. König Roderick wünschte schon seit langem, die beiden einander befehdenden Linien des Königshauses durch die Heirat von Prinz Matthew und seiner Kusine Sarah wiederzuvereinigen. Die zwei waren daher von klein auf in dem Glauben erzogen worden, ihre Verbindung würde sich letztlich als vorteilhaft erweisen. Es war dafür gesorgt, dass sie möglichst viel Zeit miteinander verbrachten, und so waren sie dicke Freunde geworden. Der Prinz war zwar vier Jahre älter als die Prinzessin, doch man hoffte, das wäre kein Hindernis mehr, wenn beide erst in die Pubertät kommen würden. Doch als die Prinzessin auf die Oberschule des Palasts wechselte, war sie ein bildhübsches Mädchen geworden, und je weiter sie heranreifte, desto mehr Bewunderer fanden sich, unter denen sich der junge Charles Bannister besonders hervortat. Er stand der Prinzessin altersmäßig viel näher als der Prinz, und als die beiden Teenager wurden, waren sie einander auf eine Weise zugetan, wie die Prinzessin es Matthew gegenüber nie gespürt hatte. Einige unserer älteren Leser können sich womöglich 46 vorstellen, wie Sarah sich fühlte - hin und her gerissen zwischen der Verpflichtung ihrer Familie gegenüber und ihrer stets stärker werdenden Liebe zu Charles. Wir wissen, dass Roderick und die übrigen Mitglieder der königlichen Familie sie unablässig unter Druck setzten, den jungen Bannister im Regen stehen zu lassen und den Prinzen zu heiraten. Matthew aber, der schon damals jene Willensschwäche an den Tag legte, die später zu seinem Untergang führen sollte, lehnte es ab, sich in diesen Streit einzumischen, und bestand darauf, die Prinzessin müsse das Recht haben, selbst zu entscheiden. Wie jedes Kind weiß, hat Sarah sich schließlich für Charles Bannister entschieden. Das junge Paar wurde an Sarahs sechzehntem Geburtstag heimlich getraut. Zugleich verzichtete die Prinzessin auf ihren Adelstitel und nahm den bürgerlichen Namen Sally Bannister an. Aus der Matrikel der Palastschule geht hervor, dass Mrs Bannister die Schule vor der Abschlussprüfung verließ. Der ein Jahr ältere Charles erwarb zwar die Berechtigung zum Examen, bestand es aber nur mit Ach und Krach - vielleicht, weil ihn die Entwicklungen aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Prinz Matthew, der die Abschlussprüfung ein paar Jahre früher abgelegt hatte, hat seine Gefühle in dieser Angelegenheit zwar nie ausgesprochen oder zu Papier gebracht, doch es spricht wohl für sich, dass er nie geheiratet und bis ans Ende seiner Tage allein gelebt hat. Trotz seiner Enttäuschung aber ist Matthew mit Mrs Bannister gut befreundet geblieben und hat - wie wir später sehen werden - weiterhin einen Einfluss auf sie gehabt, der die Geschichte unseres Landes noch auf bemerkenswerte Weise prägen sollte. Wir dürfen annehmen, dass Henry Bannister hocher- 47 freut über die prestigeträchtige Heirat seines Sohnes war, doch König Roderick war über das Scheitern der Pläne, die er für Matthew gemacht hatte, tief betroffen. Er war nie besonders gesund gewesen, verfiel nun aber rapide und starb innerhalb eines Jahres an gebrochenem Herzen. So folgte ihm Prinz Matthew auf den Thron und wurde mit kaum mehr als zwanzig Jahren König. Über sein verworrenes Reformprogramm und seinen Untergang werden wir demnächst genauer berichten. Unterdessen begannen Charles und Sally ihr neues Leben als Erbe und Erbin der Automobilfabrik Bannister. Auch auf ihre Geschichte werden wir zu gegebener Zeit zurückkommen. (aus Band 2: Die Regentschaft Rodericks des Standhaften) ZWEITES KAPITEL Die Signalwache Schon gut, schon gut. Ich komm ja gleich. Natürlich weiß ich, was ich zu tun habe. Es ist mir wieder eingefallen, und ich verspreche, mich gleich daranzumachen. Aber wisst ihr, ich bin noch immer etwas verschlafen und hab einfach das Gefühl, da draußen wartet zu viel auf mich. Nicht nur Kleinigkeiten, sondern große Aufgaben, fette Brocken. Oh Schreck, ich glaube, ich bin schon wieder eingenickt, denn aufs Neue ist der Widersacher im Traum aufgetaucht. Wenigstens meine ich, dass er es war, obwohl ich ihn weder sehen noch erkennen noch hören konnte, weil er viel zu unbestimmt gewesen ist - kaum mehr als ein Gefühl. Jedenfalls habe ich von einem mächtigen und gerissenen Wesen geträumt, das sehr beweglich ist, sich in alle Richtungen drehen und wenden und jede zweckdienliche Form annehmen kann und alle Schwächen spürt und daraus Vorteile zieht, um seine Gegner zu verspotten, zu verderben und zu erniedrigen. Ich habe nämlich nicht einfach nur herumgelegen und Zeit vergeudet. Mein Geist arbeitet, und ich entsinne mich allmählich des Widerlings, dessen Aufgabe Zerstörung ist und den zu zerstören wiederum meine Auf- 49 gäbe ist. Und mit dem Widerling fällt mir auch das Netzwerk wieder ein, in dem wir beide uns bewegen und wo wir unseren Streit bald ausfechten werden. Eine planlose Welt ist das, ein wirres Nebeneinander verschiedenster Bereiche, die oft nicht zusammenpassen. Eine Welt voller Räume, Gänge und Treppen, hektischer Hauptstraßen und idyllischer Seitenwege, geometrischer Figuren und wilder Kritzeleien, eine Welt, die sich um uns herum in jede Richtung erstreckt. Denn es ist unsere Welt - sie gehört mir wie dem Widersacher und jedem anderen

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Wesen, das hier herumirrt. Ja, es ist unsere, aber vielleicht nicht die einzige Welt. Denn jenseits der letzten Ausläufer des Netzwerks spüre ich - wenn auch nur schwach - die fernen Impulse einer anderen Welt. Sie scheint selbständig und von der unseren völlig getrennt und doch auf unergründliche Weise mit ihr verknüpft. Jetzt ist mir klar, dass die Bewohner jener Welt ihrerseits die Impulse unserer Welt spüren. Kontrollieren uns diese Leute also? Oder kontrollieren wir sie? Vielleicht ist beides so zutreffend wie falsch. Doch irgendwie spüre ich, dass unser aller Leben auf unbekannte Weise verflochten ist und unser Verhalten das ihre ebenso beeinflusst wie umgekehrt. Ah, nun bin ich wach. Mit dem Erwachen kommt das Verständnis, mit dem Verständnis die Sicherheit. Denn jetzt spüre ich, dass es andere Wesen gibt, die mir bei meiner Aufgabe helfen sollen, obwohl sie das womöglich noch nicht wissen. Leben diese Wesen wie ich im Netzwerk oder in der fremden Welt jenseits seiner Grenzen? Ich weiß es nicht, aber ich spüre ihre Gegenwart. Sie sind still, doch sie unterstützen mich. Und sie 50 sind reglos, aber wohlwollend. Sind sie in der Nähe oder weit weg? Keine Ahnung! Es gibt noch so vieles, was ich nicht verstehe! Vielleicht kommen sie von sich aus, womöglich aber muss ich sie erst überreden, doch kommen müssen sie, denn allein bin ich zu schwach, allein kann ich nicht kämpfen. Sie müssen sich mit mir verbünden. Vielleicht gewinnen wir den Kampf ja gemeinsam und finden den Mut, den Widerling bis in seine Höhle zu verfolgen. Vielleicht fassen wir uns ein Herz, greifen ihn an und zerstören ihn. Ich kann diese stillen Gestalten noch nicht deutlich erkennen und weiß nicht mal, wie viele es sind. Vielleicht sind sie weniger, als es scheint. Zunächst ist da der starke und flinke junge Mann, der leidenschaftlich gern kämpft und siegt. Dann ist da der wissende und geduldige Alte, der den ungestümen Jüngling durch seine Weisheit mäßigen und dafür sorgen wird, seine wütende Kraft zu bändigen und seine zornige Energie möglichst klug einzusetzen. Dann gibt es den Ortskundigen, der alle Seitenwege, Gänge und Kreuzungen des Netzwerks auswendig kennt und problemlos von einem Platz zum anderen findet. Dann ist da der, den der Geruch von Klee, Gräsern und Meer umgibt und der selbst aus großer Entfernung alles scharf erkennt, hoch über der Erde schwebt und die Welt durch das Auge eines Turmfalken sieht. Und dann gibt es noch den Fahrenden und den Inselbewohner und schließlich den Lahmen. Von ihm erkenne ich nur flüchtigste Umrisse und spüre kaum mehr als etwas in tausend Stücke Gegangenes. Doch genau dies lässt den Lahmen tun, was getan werden muss. Ist sein Körper oder sein Geist gehandikapt? Ich weiß es nicht, denn ich bin noch verwirrt, und mei- 51 ne Sehkraft leidet noch darunter, dass ich so lange geschlafen habe. Nur eines weiß ich: Es ist Zeit zu beginnen, aufzustehen und die Räume, Gänge und Verstecke des Netzwerks aufs Neue zu entdecken. Es ist Zeit, die Verbündeten ausfindig zu machen und ihre Kraft in den Dienst des Kampfes zu stellen, der da kommen wird. Es ist Zeit, den Widersacher aufzuspüren und ihn zu bekämpfen. Denn jetzt weiß ich meinen Namen wieder. Ich heiße Blaise und bin wach und bereit. Wirtin wider Willen »Jetzt aber Schluss, meine Herren«, rief Ruth Pegasus gereizt. »Hat denn keiner von euch mehr was zu erledigen?« Es war eine hektische Mittagszeit gewesen, doch inzwischen war bereits Nachmittag, und Ruth wartete zunehmend ungeduldig darauf, dass die letzten Gäste das Lokal verließen. Der Boden der Schenke sollte bis zum Abend geschrubbt sein, die Aschenbecher auf den wackligen Tischen quollen über, die Holzscheite im Hof mussten ins Haus, und aus dem Keller gehörte Bier geholt. Der Schankraum stank nach kaltem Rauch, saurem Bier und Schweiß. Es gab immer sehr viel zu tun, und Leonardo war offenbar zu beschäftigt mit seinen Vorhaben, um ihr nennenswert zur Hand zu gehen. Von weitem hörte Ruth ein beunruhigendes Klirren: Der alte Schulmeister kämpfte mit den Bierkisten. Bedrückt fragte sie sich, wie viele Scherben das wieder geben würde. 52 Die Gäste tranken nacheinander aus und machten sich einzeln auf den Weg, bis nur noch Colin Hopkins übrig war. Seine stämmige Gestalt lehnte fest am Tresen, und seine Flasche war noch deutlich mehr als halb voll. Er schien es in seiner Ecke bequem zu haben und machte keine Anstalten aufzubrechen. »Na Colin, hast du heute Nachmittag nichts vor?«, fing Ruth erneut an. »Hat Meister Pegasus keine Arbeit mehr für dich?« »Hab fast alles erledigt«, kam die wortkarge Antwort. »Unser Sam hilft gerade bei den letzten Kisten. Was hat der Chef eigentlich vor?« Ruth nahm die Brille ab und putzte sie ausweichend. In den letzten Wochen hatte Leonardo die Komplexe Empathiemaschine Stück für Stück vom Heuboden geholt, indem er die Bestandteile zerlegt, in Kisten verpackt, mit Hilfe der Brüder Hopkins die Leiter heruntergeschafft und auf ihren klapprigen Bauernkarren geladen hatte. Dann musste der Karren vom Hof hinterm »Pflug« auf die Hauptstraße des Dorfes, die Steigung hoch bis zur Kreuzung und einen steilen, schmalen Feldweg hinauf in die Hügel gezogen werden, bis sie auf eine jüngst gebaute Schotterpiste abbogen, die einen Wald umging und schließlich auf den kleinen Platz vor der Signalwache führte.

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Die Flaggen auf dem Dach des Gebäudes bildeten ein kleines Glied jenes Signalnetzwerks, das das Königreich seit ein paar Jahren kreuz und quer überspannte. Schlaue und geschickte Leute aus der Hauptstadt waren mit Bündeln von Bauzeichnungen, Kisten voller Gerät und praller Börse in Leonardos Dorf und an tausend andere Orte gekommen. Immer mehr Signalwachen waren errichtet und mit Signalmaschinen und Flaggen versehen worden. 53 Inzwischen konnte man sich mittels dieser Maschinen von Dorf zu Dorf und zwischen Provinz und Hauptstadt problemlos verständigen, und Weisungen aus dem Palast erreichten die Bevölkerung binnen kürzester Frist. Auch wenn einige Dörfler in den abgelegeneren Ecken des Landes kein großes Interesse an der neuen Technologie gezeigt hatten - es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Haltung ausgespielt hätte und man auch in den letzten Winkeln des Landes das ganze Potenzial der neuen Kommunikationsweise begreifen würde. Die Kisten, die Leonardo und seine Helfer den Hügel hinaufbrachten, wurden nacheinander entladen, und ihr Inhalt wurde auf dem rohen Betonboden der Signalwache nach einem sorgfältig ausgedachten System ausgebreitet, das vermutlich nur in Leonardos Hirn existierte. Nach dem Abladen ging es mit dem Karren zurück zum Wirtshaus, um die nächste Fuhre zu holen. Es war eine langwierige, ermüdende Arbeit. Seit Wochen hatte es nicht geregnet - also waren die Wege zwar zum Glück nicht verschlammt, dafür aber steinhart und tief gefurcht. Der Karren stand - um es höflich zu sagen - im Herbst seiner Tage: Die Bretter knackten und ächzten bei jeder Unebenheit, und die beiden Räder eierten von einer Seite auf die andere. Wenn sie ein Pferd gehabt hätten, wäre die Aufgabe leichter gewesen, aber kräftige Pferde waren immer schwerer zu finden, und bis jetzt hatte niemand im Dorf eins der neuen Automobile gekauft. Ruth Pegasus wischte das letzte Glas flüchtig trocken und schob es unsanft zwischen seine in ungleichmäßigem Abstand hinterm Tresen aufgestellten Kollegen. »Mensch, Colin«, sagte sie. »Du weißt doch, dass ich 54 dir das nicht erzählen kann. Leo erledigt irgendeine besondere Aufgabe für den Palast, und niemand darf davon wissen, nicht mal ich. Bestimmt findest du zu gegebener Zeit selbst raus, worum es sich handelt.« Sie lehnte sich an ein großes Fass, wischte die Hände am Kittel ab und zündete sich eine Zigarette an. Colin hob seine Bierflasche, musterte den Inhalt, nahm einen mittelgroßen Schluck und stellte sie wieder auf den Tresen. »Wie dem auch sei, die Arbeit ist fast getan«, erwiderte er. »Sam hilft dem Chef gerade bei der letzten halben Fuhre, und ich schätze, Joey ist auch dabei. Der packt gern mit an.« Da hörten sie ein altersschwaches Fahrzeug in der Ferne poltern und krachen. Sie verließen die Theke, öffneten die Flügeltür und gingen durch den Flur zum Haupteingang. Colin hatte seine Flasche mitgenommen. Ein Stück die Straße hinauf sahen sie einen entnervten Leonardo und einen stoischen Sam, die sich bemühten, den protestierenden Karren aus einer tiefen Furche zu ziehen. Damit war die letzte Reise von der Signalwache herab beendet. Weiter hinten konnten Ruth und Colin neben dem Bach auf der anderen Seite des Dorfangers die schlanke Gestalt von Joey Hopkins erkennen, der über den Lenker seines Tretrollers gebeugt war und wie wild über den Treidelpfad zischte. In den wenigen Wochen, die sie nun im Dorf lebte, hatte Ruth sich allmählich an das seltsame Verhalten des Jungen gewöhnt. Meist drehte er mit seinem Roller wie besessen endlose Runden um den Dorfanger, und zwar stets gegen den Uhrzeigersinn: den Treidelpfad entlang, bei den Reihenhäusern über die Brücke, zurück zur Hauptstraße, den Hügel runter am »Pflug« vorbei und 55 kurz vor der Furt wieder auf den Treidelpfad. Irgendwie symbolisierte Joeys sinnloses Kreisen für Ruth die Ziellosigkeit des Dorflebens. Sie fragte sich immer wieder flüchtig, was ihm beim Kreiseln durch den Kopf gehen mochte. »Unser Joey ist ein schlaues Kerlchen«, sagte Colin und riss sie aus ihren Gedanken. »Vielleicht etwas seltsam, aber sehr helle. Hab ich Ihnen schon erzählt, dass er den Roller selbst gemacht hat? Er hat ihn aus Krimskrams zusammengebaut - den Lenker und alles. Er kann tolle Dinge basteln.« »Und worüber macht er sich den lieben langen Tag Gedanken?« Diese Frage war Ruth einfach herausgerutscht. Colin musterte nachdenklich den Inhalt seiner Flasche. »Über nichts Besonderes, schätze ich«, antwortete er schließlich. »Genauso wenig wie wir alle. Der Hopkins-Clan hat's nicht so mit Denken. Wir wursteln uns eben durch. Apropos wursteln...«, sagte er, trank den Rest seines Biers unvermittelt auf einen Sitz aus und gab Ruth die Flasche, »... ich darf Sie nicht länger aufhalten. Ich sehe ja, dass Sie viel zu tun haben.« Ruth seufzte erleichtert, als Colin sich auf der Hauptstraße davonmachte. Sie ging ins Lokal zurück und sperrte ab. Als sie Richtung Gaststube ging, tauchte die gebeugte Gestalt des Schulmeisters in der niedrigen Kellertür auf. »Darf ich mich vielleicht verabschieden, Mrs Pegasus?«, fragte er mit seiner zittrigen Stimme. »Ich hab nämlich das böse Gefühl, dass ich zu Hause einen Topf Milch auf dem Ofen vergessen habe. Da sollte ich womöglich besser...« »Natürlich«, unterbrach sie ihn. »Aber sind Sie nicht

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56 vorhin schon deswegen nach Hause gegangen? Daran erinnern Sie sich doch sicher?« »Du meine Güte, wirklich? Was bin ich vergesslich geworden!« Er strich sich übers schüttere Haar. »Hab ich eigentlich genug Flaschen für heute Abend hochgebracht? Ich hab doch nicht schon wieder welche zerbrochen, oder?« Ruth stöhnte innerlich auf. Sie würde mit dem alten Mann bald ein ernstes Gespräch führen müssen. Ashleigh schließt ein paar wichtige Freundschaften Tom Slater, oh ja! Über den hab ich viel zu berichten, aber mein Vater sagt immer, ich soll nicht so wild durcheinander erzählen. Also versuch ich, die Sachen über Tom zu vertagen, bis sie an der Reihe sind. Es gibt allerdings ein paar Dinge, die ich euch sofort über ihn erzählen muss, denn gewissermaßen lag es an ihm, dass ich Charles und Sally kennen lernte. Das Wichtigste an Tom ist, dass er der erste Tote in meinem Bekanntenkreis war. Übrigens ist er bis heute der einzige geblieben — jedenfalls unter denen, die mir was bedeuten. Ich schätze, das macht ihn zu einer ziemlich wichtigen Person in meinem Leben. Auf seltsame Weise hab ich Tom sehr gemocht und ihn darum stärker vermisst, als ich erwartet hätte. Nur hab ich mir natürlich nie Gedanken gemacht, wie sehr ich ihn vermissen würde, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, er würde sterben. Und danach war es zu spät. Tom war Untermieter meines Vaters und hat bis zu 57 seinem Tod etwa ein Jahr in unserem Gästezimmer in den Turmresidenzen gewohnt. Damals war ich vorsichtig mit dem Wort »Untermieter«, weil meine Mutter solche Leute nicht gern in der Wohnung hatte. Ich hab die beiden mal darüber streiten hören. Meine Mutter schimpfte: »Du bist viel zu weich. Ich hab wirklich genug zu tun, auch ohne dass du hier Obdachlose anschleppst, die nur Krach und Dreck machen.« Und mein Vater schimpfte zurück: »Du solltest dich mal hören, Eileen! Manchmal denke ich, du hast kein Mitleid. Außerdem können wir das zusätzliche Geld gut gebrauchen.« Solches Gezänk eben. Offenbar hat mein Vater diesen Streit immer gewonnen, denn solange ich zurückdenken kann, hat stets jemand im Gästezimmer gewohnt - mal eine Frau namens Win mit einer riesigen Sammlung Porzellanschweinchen, in die sie uns manchmal Geld stecken ließ, mal eine traurige kleine Frau namens Gwen, die nie aus dem Zimmer kam und nachts manchmal weinte. Es gab noch andere - Männer wie Frauen -, doch ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Und wo mein Vater all die Leute aufgelesen hat, weiß ich auch nicht. Tom war anders. Zunächst mal, weil ich etwas mehr über ihn wusste. Das lag vielleicht daran, dass ich inzwischen etwas älter war und mehr mitbekam. Außerdem hatte mein Vater Tom schon Jahre zuvor während des Studiums kennen gelernt. Damals waren sie Freunde gewesen, hatten sich dann aber viele Jahre nicht gesehen. Das versteh ich nicht. Ich finde, wenn man jemanden mag, hält man Kontakt zu ihm, egal, was passiert - selbst wenn man an entgegengesetzten Enden des Königreichs lebt. Doch offenbar war das bei meinem Vater und Tom nicht so. Vielleicht sind Jungs da ja anders. 58 Ich war schätzungsweise zwölf, dreizehn Jahre alt, als Tom eines Tages im Büro meines Vaters auftauchte und nach einem Job fragte. Ich glaube, er hatte irgendwie Pech gehabt - jedenfalls hatte mein Vater Arbeit für ihn, und Tom zog in unser Gästezimmer ein. Darüber hatte es zwischen meinen Eltern großen Krach gegeben. Meine Mutter schimpfte: »Das war das letzte Mal, und diesmal meine ich es ernst«, und mein Vater schimpfte zurück: »Er ist ein alter Freund, Eileen - hast du noch nie was von Loyalität gehört? Ich kann ihn doch unmöglich wegschicken!« Also ist Tom tatsächlich ins Gästezimmer gezogen, und sofort war klar, dass er anders als die früheren Untermieter war. Na ja, er sah ein wenig seltsam aus, war sehr groß und dünn und hatte langes, unordentliches schwarzes Haar, doch er hat sich oft am Familienleben beteiligt, hat mit uns gegessen und dann abgewaschen oder so, und er hat mit mir und Maxie gespielt. Ich schätze, er war für mich wie eine Art zweiter Bruder. Er hat sogar manchmal auf uns aufgepasst, wenn meine Eltern abends ausgegangen sind. Aber jetzt hab ich erst mal genug über Tom erzählt. Ich wollte doch von Charles und Sally berichten, stimmt's? Die beiden waren die Einzigen, die nach Toms Tod - von dem ich zunächst nichts gewusst hatte - nett zu mir waren. Ich erfuhr davon erst, als Maggot mich aufgrund der Vermisstenanzeige nach Hause schickte. Damals öffnete mein Vater die Wohnungstür, und als er mich sah, schloss er mich fest in die Arme. Ich fand das seltsam, denn normalerweise war er nicht so herzlich. Dann bugsierte er mich auf einen Stuhl, warf mir einen langen traurigen Blick zu und sagte schließlich: »Es hat sich vieles geändert, Ashleigh.« Auch das war seltsam, denn an sich nannte er mich Ash. 59 Dann erzählte er, meine Mutter und Maxie seien verschwunden und auch Tom sei nicht mehr da. Plötzlich war mir heiß und kalt zugleich, und ich fragte: »Was heißt verschwunden?« Mein Vater antwortete: »Deine Mutter und Max sind ausgezogen und leben jetzt bei Großvater auf dem Land.« Es ist mir inzwischen etwas peinlich, doch ich war richtig froh darüber, wirklich erleichtert. Meine Mutter war mir in letzter Zeit immer mehr auf die Nerven gegangen, und wie gesagt: Eigentlich war ich stets Vaters großes Mädchen gewesen und spürte nun eine warme Welle der Freude aufsteigen. Plötzlich aber wurde mir wieder eiskalt.

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»Und was ist mit Tom?«, fragte ich, und mein Vater sagte nur: »Tom ist tot.« Dann ging er in die Küche und hantierte mit dem Teekessel. Ich saß noch eine Zeit lang da, ging dann in mein Zimmer und tat etwas sehr Schräges: Ich holte all meine alten Puppen aus der Schublade und riss ihnen Arme und Beine ab. Und erst als mir klar wurde, was ich getan hatte, warf ich mich aufs Bett und heulte wie ein Schlosshund. Mein Vater wollte danach kein Wort mehr über Tom reden. Also musste ich die Nachbarn fragen, was passiert war, und die Berichte im Anzeiger lesen. Aus der Zeitung erfuhr ich auch, warum mein Vater mir nichts erzählen wollte: Tom hatte sich offenbar mit einer alten schwarzen Kette im Fahrstuhlschacht erhängt. Das alles war total scheußlich. Ich verstand nicht, warum er es getan hatte, wollte es aber unbedingt erfahren, und ich denke, die Idee mit der Jungkommissarin verdankt sich nicht zuletzt diesem Wissen wollen. Aber zurück zu Charles und Sally. Nach Toms Tod ver- 60 hielten sich die Leute mir gegenüber seltsam. Mein Vater wollte partout nicht über ihn reden, und alle Nachbarn sahen weg, wenn sie mir auf den Fluren oder im Treppenhaus begegneten. Nur Davinas Mutter war okay und hat mich immer mal wieder mittags eingeladen. Dann bin ich runter gegangen und hab Salat bei ihr gegessen. Davina hat nie viel gesagt und nur dagesessen und mich beobachtet, doch ihre Mutter hat sich recht normal verhalten. Sie hat Tom zwar auch nicht zum Thema gemacht, mich aber wenigstens nicht behandelt, als hätte ich die Pocken. Die Freunde meines Vaters waren da anders. Charlotte aus dem Büro, Paul Catalano und Miss Garamond - die frühere Chefin meines Vaters - sahen mich immer an, als stünde auch ich schon mit einem Bein im Grab, und fragten mich ständig: »Geht's dir auch gut?« Bei dieser Frage hätte ich jedes Mal am liebsten geschrien. Nur Charles und Sally schienen die richtigen Worte zu finden. Mein Vater und seine Freunde, das ist ein schwieriges Kapitel. Offenbar hatte er auch mit Charles und Sally jahrelang keinen Kontakt gehabt, doch in letzter Zeit waren sie ab und an vorbeigekommen. Das hat meine Mutter allerdings immer in helle Aufregung versetzt. Sie glaubte anscheinend, sie musste die beiden wie Staatsgäste behandeln und ihnen in einer blitzblank polierten Wohnung tolles Essen und edlen Wein vorsetzen. Mir kamen sie gar nicht so wichtig vor, sondern wirklich nett. Jedenfalls sahen wir die beiden nach Toms Tod und dem Auszug meiner Mutter etwas häufiger. Bevor sie kamen, hat Sally meinem Vater immer eingeschärft, sich keine Umstände zu machen, obwohl sie sich das hätte sparen können, da er sich gar nicht ins Zeug zu legen gewusst hätte. 61 Das Besondere an Charles und Sally war, dass sie mich nicht wie ein Kind behandelten, und das gefiel mir, weil ich mich dadurch als Erwachsene fühlte. Auch in manch anderer Hinsicht waren sie anders. Sie schienen nie in Eile und regten sich anscheinend nie über etwas auf. Und sie hatten diese wirklich coole Art zu reden, die etwas träge klang und so, als sei alles irgendwie nur ein Witz. Und es schien immer, als hätten sie jede Menge Geld, obwohl ich erst später herausfand, wie viel es tatsächlich war. Na ja, als sie das erste Mal kamen, sprachen sie anfangs nicht viel mit mir. Sie warteten, bis mein Vater das Zimmer verlassen hatte, und sahen mich dann an, als machten sie sich große Sorgen um mich. Dann sagte Sally nur: »Arme Ashleigh, das muss wirklich furchtbar für dich sein. Dein Vater hat mir erzählt, wie gern du Tom gemocht hast.« Danach war Charles an der Reihe (die beiden schienen einander nie zu unterbrechen) und sagte: »Du bist uns stets willkommen, Ashleigh. Wann immer du Tapetenwechsel brauchst.« Vielleicht hört sich das für euch nicht besonders an, doch mir hat es viel bedeutet. Es waren die ersten netten Worte, die ich seit meiner Rückkehr vernahm, und ich konnte die Tränen nur mit Mühe unterdrücken. Tags darauf war ich nicht sicher, ob die Einladung wirklich ernst gemeint war. Deshalb fragte ich meinen Vater, was er davon hielt. Zunächst war er ziemlich überrascht, meinte aber schließlich, er halte die beiden nicht für Leute, die leere Versprechungen machen. Also könnte ich sicher bei ihnen vorbeisehen, sollte aber besser vorher Bescheid geben. Da die Signalmaschine im Gästezimmer inzwischen entfernt worden war, ging ich zur nächsten öffentlichen 62 Signalwache und meldete mich von dort bei ihnen. Tatsächlich antwortete Sally sofort und meinte, sie würde sich freuen, wenn ich diese Woche mal abends vorbeikäme. Also ließ ich mir von meinem Vater die Adresse geben und machte mich auf den Weg. Damals wusste ich nicht recht, was mich erwarten würde, doch wie sich erwies, kam ich aus dem Staunen kaum heraus. Ich schnappte mir die alte Lederjacke meines Vaters, verließ die Turmresidenzen und folgte seiner Wegbeschreibung. Erst nahm ich die Ringstraße um den Palast herum, dann bog ich auf den Östlichen Boulevard ab, und erst als ich dort nach der richtigen Abzweigung suchte, wurde mir bewusst, dass Charles und Sally in der Unterstadt wohnten. Heute heißt das Viertel nicht mehr Unter-, sondern Neustadt, doch damals hatte man gerade erst begonnen, dort Neubauten zu errichten. Natürlich machte, wer auch nur halbwegs bei Sinnen war, einen Bogen um die Unterstadt. Selbst die Katzenmädchen trauten sich dort nicht hinein - und bloße Kadetten wie ich erst recht nicht. Vielleicht hätte ich die Warnungen meiner Eltern und selbst Maggots in den Wind geschlagen, doch sogar Davinas Mutter hatte gemeint, dort lungerten Räuber, Drogensüchtige, Verrückte und andere gefährliche Leute dieses Kalibers herum.

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Alle sagten, in der Unterstadt würde man mit Sicherheit ausgeraubt oder vergewaltigt oder bekäme sein Auto angezündet, und natürlich landeten dort alle wirklich schweren Fälle von Koboldfieber. Deshalb waren in dieser Gegend sämtliche Fenster verdunkelt und die Straßen total vermüllt, und die Gebäude sahen aus, als würden sie gleich zusammenkrachen. Wie auch immer - als ich an die Ecke kam, wo ich vom Östlichen Boulevard nach links abbiegen musste, war nur 63 eine enorme staubige Brache zu sehen, als seien dort Altbauten großflächig abgerissen worden. Mir fiel ein, dass mein Vater mal von umfangreichen Sanierungen in der Unterstadt gesprochen hatte, von denen er womöglich im Anzeiger gelesen hatte. Jedenfalls gab es dort weder Räuber noch Vergewaltiger und nicht mal das kleinste ausgebrannte Auto, doch nach ein wenig Suchen stieß ich auf einen echt cool aussehenden Neubau namens Considine-Turm. Er hatte riesige Glasfenster, schicke Türen aus Metall und keine Klingel, sondern eine Gegensprechanlage. Also brüllte ich ins Mikro: »Wohnen Charles und Sally hier?«, und eine leise, blecherne Stimme antwortete: »Sally am Apparat - wer da?« Prompt brüllte ich aufs Neue: »Ashleigh Brown - du hast gesagt, ich könnte euch besuchen.« Daraufhin glitten die Metalltüren auf, und ich trat ein. Kaum war ich drin, gingen die Türen mit leisem Zischen wieder zu. Ich befand mich in einem Würfel mit glänzenden Wänden, dickem blauem Teppich, der sehr neu roch, und indirekter Beleuchtung. Dann spürte ich ein flaues Gefühl im Magen, wie man es in großen Karussells bekommt, und begriff, dass ich in einem elektrischen Aufzug war. Im nächsten Moment öffneten sich die Türen schon wieder zischend, und vor mir standen Charles und Sally und wirkten enorm entspannt und zufrieden. An diesem Abend gab es so viel Neues, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Zunächst mal hatte das Haus keine Korridore - die Fahrstuhltüren öffneten sich, und ich stand direkt in der Wohnung von Charles und Sally. Dann war überall dicker, dunkelblauer Teppichboden verlegt, der sehr neu roch, und die Wände und Decken waren ganz weiß gestrichen. Dazu gab es eine lässige Musik, die aus dem Nichts zu kommen schien, und überall in der Wohnung standen Plastiken herum, die aber keine Menschen oder Tiere oder so darstellten, sondern total irre Formen hatten. An den Wänden hingen ein paar große Bilder, die auch total schräg waren, denn sie zeigten nur Farbspritzer und expressive Linien in sagenhaft grellen Farben. Ich muss mit offenem Mund dagestanden und wie ein Trottel gewirkt haben, denn ich merkte erst nach einiger Zeit, dass Sally mich angesprochen hatte. Schließlich nahm sie mir die Jacke ab und bugsierte mich in einen Sessel, der mit einer Art Pelz bezogen schien. Dann brachte Charles mir etwas zu trinken — eine dunkelrote Flüssigkeit, von der ich einen großen Schluck nahm, den ich aber gleich wieder ausspucken musste - nun erst merkte ich, dass es Wein war. Vermutlich wirkte ich schon wieder mal wie ein Volltrottel, denn meine Eltern hatten mir nie erlaubt, so etwas zu kosten, doch Charles und Sally lachten nur sehr nett, und Charles sagte: »Trink einfach langsam - du kommst schon auf den Dreh.« Ich erinnere mich nicht allzu gut, worüber wir geredet haben. Charles und Sally schienen sehr interessiert an dem, was ich zu sagen hatte, und brachten mich dazu, über meine Eltern, über Tom und über alles andere zu reden. Ich begann, mich sehr wohl zu fühlen, da sich nie zuvor jemand so stark für mich interessiert hatte. Dann erzählte Charles ein wenig darüber, wie er meinen Vater kennen gelernt hatte. Anscheinend waren meine Gastgeber, Tom und mein Vater mit achtzehn Jahren zusammen auf einer Hochschule gewesen, der Akademie für Kartografie - was auch immer das sein mag. Jedenfalls 65 waren sie gemeinsam auf Exkursion in den Bergen, wo mein Vater krank wurde. Deshalb mussten sie die Tour abbrechen und fielen allesamt durch die Prüfung. Danach sahen sie sich viele Jahre nicht mehr. Nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten, holte Sally etwas zu essen — ein Tablett voller Schnittchen in den verschiedensten Farben und aus den seltsamsten Zutaten, die ich nicht bestimmen konnte. Wir mussten uns nicht mal an den Tisch setzen. Sally sagte, sie hielten nicht viel von Förmlichkeit, und wir setzten uns einfach auf den Boden und machten eine Art Picknick. Danach unterhielten wir uns weiter. Charles und Sally begannen eine Diskussion über König Matthew, Hochmeister Fang und den ganzen Kram, den mein Vater immer im Anzeiger verfolgte - mit dem Unterschied allerdings, dass die beiden so redeten, als würden sie König Matthew und die anderen persönlich kennen. Sie nannten ihn sogar Matt, und das klang, als würde Davina über ihre Mutter sprechen. Ich konnte zu all dem wenig beitragen und bin wohl - auch wegen des Weins - ein wenig ins Träumen geraten. Davinas Mutter hätte sicher gesagt, ich sei mit den Möwentreibern unterwegs gewesen. Das Nächste, woran ich mich wieder erinnern konnte, war das Klingeln einer Signalmaschine im Nebenraum, woraufhin Charles für ein paar Minuten verschwand. Als er zurückkam, wirkte er etwas weniger entspannt als sonst und erklärte: »Es hat sich was ergeben, Sally. Ich muss auf einen Sprung rüber zu Veronique« - bei diesen Worten sahen die beiden mich an —, »du weißt schon, warum.« So hatten sie mir dezent zu verstehen gegeben, ich solle aufbrechen. Sally holte meine Jacke, half mir hinein und sagte: »Das war ein sehr netter Abend, Ashleigh. Du bist 66 uns stets willkommen.« Dann beugte sie sich vor und küsste mich auf die Wange. Charles hatte derweil aus dem Fenster gesehen und meinte: »Es ist recht spät geworden, Ashleigh. Ich fahr dich nach Hause - das liegt sowieso

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am Weg.« Und das war das Coolste von allem. Denn hinter dem Wohnhaus gab es ein Tor, das in einen Hof führte, wo ein sagenhaftes Auto stand. Es war knallgelb gestrichen und hatte sechs Räder, und die Sitze für den Fahrer und seine Begleiter befanden sich in einer Art Glashaus über dem Motor. So was Cooles hatte ich noch nie gesehen. Ich konnte gar nicht aufhören zu staunen. Wahrscheinlich sah ich schon wieder total trottelig aus. Aber wie dem auch sei, Charles half mir beim Einsteigen, und dann fuhren wir durch die Stadt. Das Auto war schnell wie der Wind. Alle Bettler flitzten aus dem Weg, und die Leute drehten sich nach uns um. Charles fuhr mich bis direkt vor die Turmresidenzen, und als ich ausstieg, fühlte ich mich wie eine richtige Prinzessin. Ich hoffte inständig, Davina hätte meine Ankunft mitbekommen, doch was das anbelangte, hatte ich Pech. Dann winkte Charles mir noch mal zu und raste in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren -die Turmresidenzen hatten also ganz und gar nicht auf seinem Weg gelegen. Na ja, kaum war ich wieder in der Wohnung, pflanzte ich mich vor meinem Vater auf, begann wild zu schwärmen und wollte ihm alles bis ins kleinste Detail erzählen, doch er schien von all dem nicht annähernd so beeindruckt, sondern machte nur ein paar schrecklich gesetzte Bemerkungen wie: »Nimm ihre Gastfreundschaft aber nächstes Mal nicht zu lange in Anspruch.« Doch das Tollste kommt noch: Als ich ihn fragte, wie 67 Charles und Sally zu ihrem umwerfenden gelben Wagen gekommen sein mochten, sagte mein Vater nur: »Den hat er sich vermutlich in der Fabrik bauen lassen. Wusstest du das denn nicht? Er ist Charles Bannister, und ihm gehört die Automobilfabrik.« Das Klavier des Schulmeisters Als die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen zaghaft durch die Dachfenster fielen, setzte sich Ruth Pegasus neben ihrem noch schlafenden Gatten auf und blickte sich seufzend um. Es wäre so nett, in den Gasthof selbst zu ziehen und in anständigen Zimmern mit anständigen Treppen und Decken zu wohnen. Doch das war - wie sie einräumen musste - vorläufig nicht möglich. Also hatte sie wenigstens den Heuboden etwas verschönert. Kaum hatte Leonardo all seine schmutzigen alten Maschinen hinauf in die Signalwache geschafft, hatte Ruth einige Tage gründlich geputzt und Staub, Dreck und Spinnweben so lange bekämpft, bis ramponierte Eichendielen und ein filigraner sechseckiger Dachstuhl zum Vorschein gekommen waren. Demnächst - so überlegte sie - würde sie vielleicht Zeit dafür finden, die Dielen zu schmirgeln, zu wachsen und zu polieren. Vielleicht würde sie sogar ein paar Verzierungen und Bilder zwischen den Dachbalken anbringen. Erst mal jedenfalls hatte sie die schlimmsten Fußbodenschäden mit ein paar zerlumpten, aber farbenfrohen Teppichen kaschiert, die sie aus einem Nebengebäude gerettet hatte. In einer düsteren Nische stand eine schmale Kommode, die sie hinter Leonardos Gerätschaften ent- 68 deckt hatte, und sie überlegte, bald auch einen Schrank auf den Heuboden zu schaffen, obwohl es sicher schwierig wäre, ihn die Leiter hinauf zu bekommen. Vorläufig hatte sie die Kleidungsstücke, die nicht in die Kommode passten, über die unteren Dachbalken drapiert. Dort hingen sie nun wie unförmige Flaggen aus uralter Zeit. Ruth kämpfte sich aus dem Bett und durch einen Wald kopfüber hängender Kleidungsstücke zum Waschbecken. Als sie mit ihrer Toilette begann, wurde die morgendliche Stille unvermittelt von einem Schwall zusammenhangloser Beschimpfungen unterbrochen, der von der Matratze kam. Ruth wusste längst, dass dies Leonardos Art war, den Morgen zu begrüßen, und wusch sich ungerührt weiter, bis sie ihren Mann für wach genug hielt, um eine sinnvolle Unterhaltung zu führen. »Was hast du heute vor?«, wollte sie wissen. »Ich arbeite wie immer in der Signalwache. Das weißt du doch.« Leonardo setzte sich auf und stieß noch ein paar Flüche aus. »Der Großteil der Geräte funktioniert inzwischen einigermaßen. Ich muss mich jetzt mal hinsetzen und alle gemeinsam in Betrieb nehmen. Und früher oder später werde ich dann wohl versuchen müssen, Lee das Handwerk zu legen.« »Davor hast du dich ja jetzt auch lange genug gedrückt. « Zwar kannte Ruth das Vorhaben ihres Mannes nicht bis in alle Einzelheiten, aber sie hatte mitbekommen, dass viel davon abhing, ob es ihm gelingen würde, das gerade erwähnte Schattenwesen aufzuspüren und zu stellen. »Da hast du natürlich Recht. Es ist einfach so verlockend, diese Aufgabe tagtäglich vor sich herzuschieben. Verdammt, verdammt, verdammt noch mal!« Der Magier kratzte sich energisch unter den Armen, und sein 69 flankierendes Schimpfen diente offenbar dazu, sein Vergnügen daran zu steigern. Ruth hob eine Braue. »Schon gut, schon gut«, kuschte Leonardo. »Ich geh nach dem Frühstück gleich hoch. Du kommst ja ohne mich zurecht, oder?« Am Vormittag fegte Ruth - in trübe Gedanken versunken - die Steinfliesen des schmalen Nebenzimmers der Gaststätte. Ihr war nicht klar gewesen, dass sich der Alltag einer Wirtin auf dem Lande als derart anstrengend erweisen würde. Als Leonardo den »Pflug« geerbt hatte, war klar, dass es sich dabei nicht gerade um ein modernes Haus

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handelte. Schlimmer noch: Der bauliche Zustand war prekär, und Ruth musste ständig auf der Hut sein, um fehlende Fliesen, kaputte Fenster, bröckelnden Gips und morsche Balken rechtzeitig zu ersetzen. Doch die Instandhaltung des Gebäudes war nicht das einzige Problem, mit dem sie sich konfrontiert sah. Der alte Wirt - für seine Eigenarten berühmt und wegen seines schwermütigen Witzes vielfach bewundert — war sein Leben lang Junggeselle geblieben, und Sauberkeit war nie seine starke Seite gewesen. Kurzum: Das Lokal war ungemein schmuddelig, ja verdreckt, und schon Staub und Schmutz in erträglichen Grenzen zu halten erwies sich als ausfüllende Beschäftigung. Ruth seufzte. Sie schaffte es gerade so, die öffentlich zugänglichen Bereiche - also Schankraum, Nebenzimmer, Flure und Toiletten -täglich zu putzen. Küche, Keller und Lager reinigte sie vielleicht einmal die Woche, die Nebengebäude fast gar nicht, und die über dem Schankraum gelegene Wohnung des alten Wirts hatte sie noch nie betreten und 70 schauderte bei dem Gedanken, wie es dort aussehen mochte. Plötzlich wurde ihr finsteres Sinnieren von einem Geräusch unterbrochen, das von draußen kam und sich sehr nach einem Klavier mit fehlenden Rollen anhörte, das unsanft über das unebene Pflaster geschoben wurde. Ruth nahm einen Zipfel des ausgefransten Vorhangs und rieb ein Guckloch in die schmutzige Scheibe, durch das sie die Hopkins-Brüder Colin und Sam tatsächlich ein altes Klavier, dem zwei Rollen fehlten, übers Pflaster vor dem Gasthof zerren sah. Neben ihnen hüpfte der alte Schulmeister aufgeregt von einem Bein aufs andere, während weiter hinten Joey über dem Lenker seines dreirädrigen Tretrollers lehnte und alles genau beobachtete. »Vorsicht! Achtet auf Pedale und Kerzenhalter«, jammerte der Schulmeister. »Und zerrt nicht so daran herum - ihr verstimmt es nur.« »Wo soll es hin, Mrs P?«, rief Sammy Hopkins. »Am besten in den Schankraum, an die Seitenwand.« Ein paar Wochen zuvor hatte Ruth dem alten Mann vorgeschlagen, doch Barpianist im »Pflug« zu werden - nicht aus Wertschätzung seiner musikalischen Fähigkeiten, sondern um ihn von den Flaschen, Gläsern und anderen zerbrechlichen Gegenständen hinterm Tresen wegzulocken. Der Schulmeister hatte das Angebot begeistert angenommen und sofort vorgeschlagen, sein Klavier ins Lokal bringen zu lassen. Doch weil zwischen Schule und Gasthaus ein munterer Bach über die Hauptstraße floss, hatten sie erst auf eine Schönwetterperiode warten müssen, ehe sich dieser Plan in die Tat umsetzen ließ. »Eins! Zwei! Drei!« 71 Man hörte ein gequältes Ächzen verstimmter Saiten, als Colin und Sam das Instrument über die Schwelle ins Gasthaus hievten. Als Leonardo von der Signalwache ins Tal zurückkam, wich die Dämmerung langsam der Nacht. Heute war er mit seinem Vorhaben nicht gut vorangekommen. Immerhin war die Kaffeemaschine zusammengesetzt und funktionierte sogar. Die Verbindungskabel zwischen der Komplexen Empathiemaschine und den Signalflaggen aber bereiteten ihm Kopfzerbrechen, der Entzifferungsapparat funktionierte nur in eine Richtung, die Feinabstimmung der optischen Geräte klappte noch nicht, und die Balance ging - als habe ein Dämon die Hände im Spiel — immer wieder verloren. Leonardo starrte beim Gehen vor sich hin und freute sich auf ein, zwei ruhige Flaschen Bier in der Gaststube. Doch als er durch die Küchentür in den »Pflug« schlüpfte, drangen so eigenartige wie ungewohnte Geräusche an sein Ohr. Es hörte sich an, als wären alle je komponierten billigen Schlager zertrümmert, in einen riesigen Fleischwolf geworfen und zu einem schrecklichen, Schwindel erregenden musikalischen Brei verrührt worden. Als Leonardo in den Schankraum trat, sah er den Schulmeister am Klavier sitzen und Tasten und Pedale mit spindeldürren, unberechenbar zuckenden Gliedern wie ein Wahnsinniger bearbeiten, um etwas hervorzubringen, das sich wohl nur als musikalischer Durchfall bezeichnen ließ. Eine ungehobelte Horde Betrunkener hatte sich um ihn herum versammelt und stachelte ihn mit ein paar Takten eines Liedes oder mit der Bitte an, er möge ein anderes Stück spielen. Diese Kerle schwenkten ihre Flaschen im Takt der Musik hin und 72 her, wobei immer mal wieder ein kräftiger Schuss Bier auf Ruths frisch geputzten Fußboden spritzte. Der Dorfpfarrer und die meisten Stammgäste hockten derweil in den Nischen und hatten Mühe, sich bei diesem Lärm zu unterhalten. Leonardo stürmte zur Theke. »Was ist denn das für ein schrecklicher Krach?«, wollte er wissen. »Oh, gefällt es dir etwa nicht?«, fragte Ruth vorsichtig. »Die waren mal seine Schüler und finden ihn wohl ziemlich gut.« »Na, für mich klingt das wie Katzenmusik bei Mondschein, durch riesige Lautsprecher verstärkt. Das erträgt auf die Dauer doch kein Mensch! Wenn wir schon Musik brauchen, sollten wir uns eins von diesen Geräten, eine dieser Musikmaschinen besorgen. Die spielen wenigstens nicht so gnadenlos falsch!« Leonardo zuckte einmal mehr unter einem schrillen Akkord zusammen. »Ich kann ja mal nachsehen, wo man solche Geräte bestellen kann«, erwiderte Ruth. »Wie war eigentlich dein Tag? Gut?« Leonardo schnaubte verächtlich. »Gib mir einfach ein Bier. Das brauche ich nach dem, was ich hier mitgemacht habe.«

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Ashleigh und ihr tragisches Familienleben Einen Vorteil hatte es ja, dass meine Mutter und Maxie aufs Land gezogen waren: Ich musste Großvater nicht mehr besuchen. Es klingt bestimmt scheußlich, das so zu sagen, aber ich hab meinen Großvater nie gemocht und ihn immer als schrecklichen alten Kerl empfunden. 73 Als wir noch klein waren, machten wir zweimal im Jahr Ferien. Im Herbst mussten wir zu Großvater, aber das war eigentlich kein Urlaub, weil er ein furchtbarer Griesgram war. Im Frühling dagegen haben wir einige Zeit mit den Blackwoods verbracht. Das war eine echt coole Familie, die mein Vater schon sehr lange kannte. Sie waren Fahrende, lebten in einem Wohnwagen, hatten ein altes Pferd namens Kitty und zogen, wohin es ihnen gefiel. Und sie hatten zwei Kinder, Megan und Liam, die etwas älter waren als Maxie und ich. Bei den Blackwoods war es immer toll, aber jetzt muss ich wirklich auf meinen Vater hören und beim Thema bleiben. Ich will euch ja von Großvater erzählen. Er wohnte in einem stattlichen, alten, sehr düsteren Haus oben an der Hauptstraße des winzigen Dorfes, in dem meine Eltern aufgewachsen sind. Niemand hat je seine Frau erwähnt. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie im Kindbett gestorben ist. Meine Mutter war ihr einziges Kind - vielleicht war Großvater darum immer so schrecklich besorgt um sie. Das Dorf, in dem er lebte, war absolut langweilig. Dort gab es nur etwa zwanzig Häuser um einen Flecken Gras und dazu einen heruntergekommenen Gasthof namens »Pflug«. Ich schätze, Großvaters Haus hätte hübsch sein können, wenn es aufgeräumt und in helleren Farben gestrichen gewesen wäre, doch Wände und Decken waren in den abscheulichsten Braun- und Grüntönen bemalt, und überall war es total staubig — man konnte kaum aus den Fenstern sehen. Wenigstens hatte das Haus jede Menge Zimmer, Kellerräume, Dachböden und Verstecke, so dass ich Großvater nicht allzu oft begegnen musste. Er war groß, hager und alt. Oder er wäre groß gewesen, wenn er sich aufrecht gehalten hätte, aber er hielt 74 sich immer gebeugt. Außerdem ging er sehr langsam, und manchmal stieß er gegen Sachen, warf sie um und schimpfte dann laut auf jeden, der in der Nähe war. Immer war er am Jammern - übers Wetter, die Dorfjungen, den König oder sonst etwas, und wenn er mit meinen Eltern sprach, sagte er ihnen stets, sie würden alles Mögliche verkehrt machen und das noch ihr Leben lang bereuen. Wenn er denn mit meinen Eltern sprach - hauptsächlich nämlich redete er mit meiner Mutter und vermied es tunlichst, sich mit meinem Vater zu unterhalten. Ich hab eine ganze Weile gebraucht, um zu verstehen, warum das so war: Offenbar waren meine Eltern schon sehr früh miteinander gegangen, schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren. Großvater hat immer geglaubt, mein Vater tauge nichts und sei nicht gut genug für sein wunderbares kleines Mädchen, denn er kam aus der armen Ecke des Dorfes und war der Sohn einer Wäscherin, während Großvater ein riesiges Haus bewohnte und Landarzt war. Jedenfalls sah er es gar nicht gern, dass meine Eltern sich trafen, und hat meine Mutter schließlich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Es dauerte Jahre, ehe mein Vater sie wieder sah. Anscheinend hat Großvater ihm nie verziehen, ihm sein kleines Mädchen weggenommen zu haben. Dennoch mussten wir ihn allesamt jedes Jahr besuchen. Mein Vater wurde einfach mitgeschleppt und musste sich sehr zusammenreißen, wenn Großvater ihm mal wieder an den Kopf warf, was er von ihm hielt. Im Laufe der Zeit wurde die Lage schlimmer. Mein Großvater hielt sich immer gebeugter und konnte sich immer schlechter bewegen, und je kränker er war, desto unleidlicher wurde er. Schließlich musste er die ganze 75 Zeit im Bett liegen, und diese blöde alte Frau aus dem Dorf kam täglich zu ihm und kochte seine Mahlzeiten. Sie hieß Oma Hopkins, war fast so übellaunig wie er und sah aus wie hundert. Die beiden haben sich den ganzen Tag angebrüllt. Aber dann hat meine Mutter Großvater immer öfter besuchen wollen und gemeint, sie sei die Einzige, die sich richtig um ihn kümmern könne, doch mein Vater und ich hatten den Eindruck, es ginge ihr vor allem darum, das Haus auf Hochglanz zu bringen. Jedenfalls hat mein Vater da endlich ein Machtwort gesprochen. Ich hatte meine Eltern immer wieder darüber streiten hören, wo wir Urlaub machen sollten. Offenbar hatte mein Vater die Nase voll, seine Freizeit bei Großvater zu verbringen, und meine Mutter hatte von den Blackwoods genug — teils, weil sie den Wohnwagen unbequem fand, teils aber auch, weil sie Fahrende waren und sie von Fahrenden aus irgendeinem Grund wenig hielt. Jedenfalls einigten sich meine Eltern schließlich darauf, dass meine Mutter Maxie zweimal pro Jahr zu Großvater mitnahm und mein Vater und ich derweil mit den Blackwoods umherzogen. Für mich gab es nichts Herrlicheres, als im Wohnwagen über Feldwege zu rumpeln, auf der Pritsche zu schlafen, am Wegrand zu kochen und etwas mit Megan und Liam zu unternehmen. Na ja, eigentlich vor allem mit Liam. Megan war sieben Jahre älter als ich und hatte die Nase immer in Geschichtsbüchern und so, doch zwischen Liam und mir lagen nur zwei Jahre, und wir haben immer die ganzen Ferien zusammen verbracht. Er hat mir Vögel, Insekten und all dieses Zeug gezeigt, und wir sind in Flüssen geschwommen und auf Bäume geklettert und haben in der Sonne gelegen, und zwischen den Ferien haben wir uns geschrieben... 76 Ich schweife schon wieder ab, stimmt's? Ihr habt vermutlich bereits erraten, dass Liam schließlich ziemlich wichtig für mich wurde, und selbst heute denke ich noch viel an ihn. Aber ich soll ja über Großvater erzählen.

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Gut. Eins war an der Sache mit den Ferien total seltsam: Mein kleiner Bruder Maxie war richtig gern bei Großvater! Er lernte in der Schule Flöte, hatte seine Musiksachen immer in einer grausigen alten Leinentasche dabei und spielte ihm ständig vor, was er gerade übte. Großvater saß dann da und hörte aufmerksam zu, und ich glaube, ich hab ihn bei dieser Gelegenheit mitunter tatsächlich lächeln sehen. Manchmal hat er Maxie sogar auf dem Harmonium begleitet, das bei ihm im Wohnzimmer stand. Das klang total scheußlich - wie eine Fütterung im Zoo. Ich hab mich immer im Keller versteckt, wenn die beiden loslegten. Übrigens weiß ich wirklich nicht, warum Maxie immer weiter geflötet hat, denn er spielte miserabel. Ständig hat er den gleichen Fehler gemacht und sein Stück von vorn begonnen, bis ich nur noch schreien wollte. Meine Mutter meinte immer, es sei gut für ihn, sich auf etwas zu konzentrieren, denn das bewahre ihn womöglich vor anderen Gedanken, aber ich verstehe nicht, warum er sich nicht mit etwas beschäftigt hat, worin er gut war. Na ja, meine Mutter, Maxie, Großvater und Oma Hopkins schienen jedenfalls auf ihre Art alle ganz zufrieden — also ließen mein Vater und ich sie schließlich gewähren und zogen zweimal im Jahr mit den Blackwoods los. Ich schätze, so schien es uns allen am besten. Ihr ahnt inzwischen bestimmt schon, dass sich die Dinge in unserer Familie dann ziemlich übel entwickelt 77 haben. Meine Eltern stritten sich ständig - wenn es nicht um den Urlaub ging, dann darum, dass mein Vater abends oft lange im Büro blieb, und wenn nicht darum, dann um die Frage, was wir Kinder schon wieder angestellt hatten, oder um Tom Slater oder einen anderen Untermieter. Dann wurde Maxie ziemlich seltsam und hat sich zum Beispiel leidenschaftlich mit Ratten beschäftigt, und auch ich war kein Unschuldsengel, sondern hab mir das Haar abgeschnitten und ein paar wilde Aktionen mit dieser Mädchengang durchgezogen. Ich bin sogar von zu Hause weggelaufen. Auch wenn ich damals - wie gesagt - nur einen Stock tiefer bei Davina gewohnt habe. Zur gleichen Zeit ist mein Vater zu dieser Tagung gereist, die wohl mit seiner Arbeit zu tun hatte. So was machte er von Zeit zu Zeit, und meine Mutter meinte immer, er fahre, wenn er von uns allen die Nase gestrichen voll habe. In diesem speziellen Fall allerdings fuhr er weg, obwohl ich ausgerissen war. Meine Mutter muss darüber ausgeflippt sein. Ich hab nie verstanden, wie mein Vater das hat tun können - vielleicht war die Tagung wirklich sehr wichtig? -, doch als ich endlich dazu kam, ihn danach zu fragen, hat er nur aus dem Fenster gesehen und gesagt, wenn ich älter wäre, würde ich das verstehen. Ich weiß nicht, warum genau meiner Mutter schließlich der Geduldsfaden gerissen ist, als mein Vater und ich weg waren. Jedenfalls hat sie eines Nachts einfach die Koffer gepackt und ist mit Maxie zu Großvater gezogen. Also war die Wohnung leer, als mein Vater zurückkam, und auch sein Geschäft war komplett ruiniert. Da überrascht es nicht, dass er sich eine Zeit lang hat gehen lassen und mich so fest umarmt hat, als ich schließlich wieder nach Hause kam. 78 So also kam es dazu, dass nur noch mein Vater und ich in den Turmresidenzen wohnten, während meine Mutter und Maxie zu Großvater aufs Land zogen. Ich schätze, vor allem deshalb war mein Vater so traurig, obwohl natürlich noch andere Dinge geschehen sind, von denen ich damals nichts wusste. Vielleicht haben wir Kommissare ja diesen Instinkt, der uns sagt, dass mehr dahintersteckt - eine Art sechsten Sinn oder so. Übrigens flog ich etwa zu dieser Zeit bei den Katzenmädchen raus. So hatte ich plötzlich sehr viel Zeit. Und irgendwas hat mich denken lassen, Jungkommissarin Ashleigh wäre vielleicht in der Lage, in dieser komplizierten Sache ein paar Antworten zu finden. Der Magier beginnt mit der Arbeit Leonardo Pegasus schritt die Schotterpiste zur Signalwache hinauf, und seine ausgefranste Robe flatterte ihm in Rot und Gold um die Beine. Die Morgensonne warf seinen langen Schatten auf den rauen Boden hinter ihm. Ruth hatte tief geschlafen, als er aus dem Bett gekrochen war, und zu dieser frühen Stunde war noch niemand im Dorf unterwegs gewesen. Selbst der allgegenwärtige Joey Hopkins hatte wohl noch in irgendeiner Nische geschlafen. Nur ein paar Möwen, die rätselhaft auf einer Reihe Zaunpfähle saßen, beobachteten den Magier, doch Leonardo achtete nicht auf sie. Als er um die letzte Biegung kam, tauchte die hässliche, lang gestreckte Signalwache mit ihrer verriegelten eisernen Flügeltür vor ihm auf. Gereizt wühlte Leonardo in allen Taschen nach dem Schlüssel, bekam ihn endlich 79 zu fassen, schloss die Tür auf und betrat das Gebäude. Im feuchten Halbdunkel tastete er an der linken Wand nach dem neulich erst angebrachten Sicherungskasten und legte den ersten, zweiten und vierten Schalter um. Rasselnd sprang der Generator an und machte die Stille jäh zunichte. Gleich darauf vertrieben drei grelle Lichtkegel, die von Glühlampen an der Decke kamen, das Dunkel. Leonardo stand am einen Ende des langen, schmalen Raums, der voll seltsam aussehender Maschinen war. Ächzend zog er die Robe aus und legte sie umstandslos auf den rau verputzten Zementboden. Dann blickte er sich einen Moment um. Er war zufrieden mit dem, was er sah. In den wenigen Wochen seit der Ankunft hatte er mit seinen Helfern alle Bestandteile der Komplexen Empathiemaschine vom Heuboden bugsiert und nacheinander den Hügel hinauf in die Signalwache geschafft. Nach einigen Fehlversuchen war es ihm gelungen, sie in der richtigen Reihenfolge an einer Längswand aufzubauen. Danach hatte er unzählige Rohre und Kabel sorgfältig ausgemessen, verlegt und

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miteinander verbunden, auf dass sie die Apparate - wie Leonardo hoffte - zu einem funktionierenden System verknüpften. Zum Schluss hatte der Magier das dichte Kabelgeflecht der Apparatur Schritt für Schritt mit der Signalmaschine verbunden, die an der schmalen Querwand am anderen Ende des Raums aufgebaut war. Erst gestern war er damit fertig geworden. Seine Komplexe Empathiemaschine war nun mit dem Königlichen Signalnetzwerk verbunden. Heute konnte er endlich mit der Arbeit beginnen. Er drehte sich wieder zum Sicherungskasten und legte nach kurzem Zögern auch den dritten Schalter um. Ein Licht blinkte, ein Zeiger zuckte. 80 Dann setzte 'sich ein Schwungrad in Bewegung, und Zahnräder griffen ineinander. Kolben stampften, Birnen glühten, und einige Apparate der Maschinerie sprangen an, wobei hier Dampf zischte, dort Funken knisterten. Elektromagneten summten, es brodelte in den Retorten, und irgendwo quietschten ein paar Federn. Im Zentrum der Apparatur surrten Spindeln, ein Uhrwerk tickte, und ein tiefer, gleichmäßiger Rhythmus pochte. Leonardo stach ein Schwindel erregender Geruch nach Ozon, Öl und versengtem Staub in die Nase. Der Magier lächelte schwach. Dann ging er eine Weile von einem Apparat zum anderen, und seine Augen, Ohren und Finger stellten sich allmählich auf die detaillierten Informationen ein, die ihm die Geräte übermittelten. Hier stellte er ein Ventil nach, da dokterte er an einem Regelwiderstand herum, dort warf er einen kurzen Blick auf eine Skala. Als er endlich zufrieden war, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Gerät in der Mitte des Raumes zu. Dieser wichtigste Apparat war durch ein dichtes Geflecht von Kabeln, die in langen Schlingen von an der Decke angebrachten Haken hingen, mit den anderen Geräten verbunden, sah aus wie ein sperriger, sechseckiger Schrank aus Mahagoni und war auf halber Höhe von einer waagerecht umlaufenden Arbeitsplatte umgeben. An jeder der sechs Schrankseiten waren identische Schalter angebracht, zwischen denen sich jeweils ein senkrechter Sichtschutz befand. Vor jedem Arbeitsplatz stand ein Stuhl. Vier davon gehörten zusammen und waren in ihrer Eleganz noch vor kurzem der Stolz des Gasthauses gewesen. Die beiden anderen Stühle waren schief und mitgenommen und sahen aus, als hätten sie die letzten dreißig Jahre in einem 81 Kuhstall verbracht, was der Wahrheit ziemlich nahe kam. Leonardo entschied sich für den ältesten, aber bequemsten Stuhl, setzte sich an eine der Schalttafeln und rutschte ein wenig hin und her, bis er seine müden Knochen in eine angenehme Arbeitshaltung gebracht hatte. Langsam begann sich ein vertrautes Gefühl von Geborgenheit in ihm auszubreiten. Die Schalttafel, die Leonardo vor sich sah, hatte er vor vielen Jahren entworfen, und die Anordnung der Regler war - wie er noch immer fand - so angenehm wie übersichtlich. In jede Hand nahm er einen dicken senkrechten Hebel, der den Zapfhähnen im »Pflug« ähnlich war. Auf der glänzenden Oberfläche vor ihm war eine beeindruckende Reihe von Skalen angebracht, um die er sich aber meist nicht weiter scherte. Unterhalb der Skalen befanden sich klobige Knöpfe aus Bakelit, an denen er von Zeit zu Zeit drehte. Oberhalb der Skalenreihe war eine Messingblende angebracht, die das empfindliche Okular schützte. Auf der Blende lag ein schwerer schwarzer Kopfhörer, der über eine dicke Ringelschnur mit dem Schrank verbunden war. Leonardo setzte den Kopfhörer auf, langte wieder nach den Hebeln und beugte sich vor, um durchs Okular zu sehen. Noch einmal drehte er an ein paar Knöpfen und nahm dann einige Feineinstellungen an den Hebeln selbst vor. Nachdem er eine Skala überprüft hatte, beugte er sich erneut unter die Messingblende. Um ihn herum summte, brummte, stampfte und vibrierte es, doch Leonardo achtete nicht mehr darauf. Seine Aufmerksamkeit galt nun allein dem, was es in der Maschine zu sehen gab. Abgeschottet von allen Außenreizen trieb der Magier durch ein dunkles, stilles Reich. Der Schild aus Messing 82 ließ kein Streulicht einfallen, und der schwere Kopfhörer schirmte alle Geräusche ab, ohne vorerst etwas aus der Maschine zu übermitteln. Wie immer waren die ersten Impulse in den Fingerspitzen wahrzunehmen. Ja, allmählich spürte er es durch die Fingerspitzen und Hebel, durch die vielen Geräte und den Wirrwarr der Kabel, durch die Flaggen, die es in die Ferne übermittelten. Er spürte, wie es sich um ihn herum in alle Richtungen ausdehnte. Über und unter, vor und hinter, links und rechts von ihm erstreckte sich das schier unendliche Signalnetzwerk und verband alles mit allem - ein rätselhaft ineinander greifendes Labyrinth, das breit war wie der Zusammenfluss zweier Ströme und doch zart wie ein Seidentuch. Für einen Zeitraum, den er nicht zu messen versuchte, genoss er das Gefühl unbegrenzter Verbundenheit, uneingeschränkter Freiheit, einladender Unendlichkeit. Noch immer hörte und sah er nichts, merkte nach einer Weile aber, dass er die Augen geschlossen hatte, und öffnete sie vorsichtig. Erst schien das keinen Unterschied zu machen, doch dann nahm er langsam etwas wahr. Zunächst war nur eine geometrische Anordnung von Bleistiftstrichen zu erkennen, ein abstraktes Gerüst aus Linien und Winkeln, eine Art architektonische Skizze. Dann merkte er, dass die Linien und Winkel Oberflächen umgrenzten und ihnen Höhe, Breite und Tiefe gaben. Allmählich gruppierten sich die Linien zu Wänden, Gängen und Räumen, die Winkel wurden Rampen, Brücken und Treppenhäuser, und er stellte fest, dass er durch Flure ging, Treppen erklomm, Rampen hinunterlief, sich in Räumen ausruhte und wieder weiterging... ...Und jetzt konnte er leise Geräusche hören: sei-

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83 nen Puls, das Pfeifen seines Atems, den Widerhall seiner Schritte in den Gängen und das Trippeln von Schritten hinter ihm... Erschrocken hielt er inne und fuhr herum. Doch außer einem flüchtigen Kräuseln des Blickfelds war nichts zu sehen. Vorsichtig setzte er seine Erkundung fort. Er stellte fest, dass Flure und Treppenhäuser keine besonderen Merkmale aufwiesen. Manche Gänge waren breit, andere schmal, manche geneigt, gebogen oder gewunden, doch alle waren seltsam ungreifbar, verschwommen, färb- und eigenschaftslos. Die Räume hingegen waren so individuell wie die Menschen, die das Signalnetzwerk nutzten. Jedes Zimmer hatte einen eigenen, einzigartigen Charakter. Manche ähnelten Büros, andere Lagerräumen, während wieder andere mit weichen Möbeln - mit gemütlichen Lehnstühlen oder lockenden Betten zum Beispiel - ausgestattet waren. Manche hatten Fenster, durch die Leonardo ab und an so neugierige wie verdächtige Gestalten äugen sah, die vor seinem Blick zurückwichen wie große Meeresbewohner in einem Aquarium. In einigen Räumen wuchs Grünzeug, als handelte es sich um Gärten, Höfe oder Felder, während sich anderswo abweisende Fels- oder Sandlandschaften fanden. Irgendwo in diesem Labyrinth, dessen war Leonardo gewiss, würde er einen Raum finden, der ihm - und nur ihm - gehörte. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass er nicht länger allein in diesem merkwürdigen Reich war. Andere Wesen huschten geisterhaft um ihn herum und waren auf geheimnisvolle Weise von Ort zu Ort unterwegs. Manche 84 bewegten sich schnell und entschlossen, andere langsam und gemessen. Meist konnte er nur verschwommene Umrisse wahrnehmen, denen jede Persönlichkeit abging und die keine Identität zu haben schienen. Ihre Schritte hallten eigenartig hohl, und ihre Stimmen waren kaum hörbar. Das waren vermutlich die Horden geisterhafter Kuriere, die Tag und Nacht im Netz unterwegs waren, Botschaften ihrer Herren von einem Ort zum anderen brachten und geheimen Anweisungen folgten, die nur sie allein kannten. Wenn er - selten genug - mit einer dieser Gestalten zusammenstieß, fühlte sich das nur wie ein Windstoß an. Schließlich kam er an einen Ort, den er sofort als sein Zimmer erkannte. Es war ein sechseckiger Raum mit schlichtem Dielenboden und hohem, spitzbogigem Deckengewölbe. Jede Wand hatte ein Fenster, doch vorläufig konnte er durch die Scheiben nichts erkennen. Sahen sie auf Gärten hinaus, aufs Meer, womöglich auf das Netzwerk selbst? Er war sich nicht sicher, spürte aber, dass er im Lauf der Zeit mehr erfahren würde. Doch zunächst wandte er seine Aufmerksamkeit dem Raum selbst zu. Er war aus sehr hellem, fast weißem Holz erbaut, und die Bodenbretter waren so nahtlos verfugt, dass nicht die kleinste Ritze zu sehen war. Alles war so sauber, so vollkommen ... ... Bis er ihn sah: Ein Stück entfernt war ein Fleck auf dem Boden. Er betrachtete ihn näher. Es war ein schwarzer, schmieriger Fleck von etwas Abscheulichem, Zähflüssigem, Giftigem. Auf Knien untersuchte er den Fleck genauer. Konnte es der verschmierte Abdruck eines Fußes sein? Oder gar einer Hand? Wer oder was mochte ihn hinterlassen haben? Plötzlich zitterte er. Irgendwo in diesem perfekten Netz- 85 werk, in dieser eleganten Konstruktion aus Linien und Winkeln, Treppen, Büros und Gärten, zwischen all den ausdruckslosen, neutralen und so effizienten Boten war einer von ganz anderem Kaliber unterwegs. Einer, dessen Ziel es war, die Linien zu verschmieren, die Oberflächen zu verunstalten und diese vollkommene Welt mit unbeschreiblichem Dreck zu besudeln... Einer, der ihn — wie Leonardo klar wurde - nicht rasten lassen würde, solange sie gemeinsam im Netz waren. Einer, der - wie er nun begriff - überall in diesem Labyrinth sein und rasend schnell von Ort zu Ort reisen konnte und womöglich genau in diesem Moment direkt hinter ihm stand! Jemand tippte ihm auf den Ellbogen. Panisch fuhr Leonardo herum, und der Anblick und die Geräusche des Netzwerks fielen unvermittelt in sich zusammen, als er die Hebel losließ. Nach einem Moment der Verwirrung begriff er, dass er wieder in der vertrauten Welt war und zwischen seinen Maschinen in der Signalwache saß. Erleichtert stellte er fest, dass der, der da hinter ihm stand und ihm erneut auf den Ellbogen tippte, nur der magere Joey Hopkins war. Aus schiefen Zügen sah er den Magier schüchtern an, und ein zarter Flaum lag auf seiner Oberlippe. »Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, Meister P«, sagte der Junge mit seiner zitternden Tenorstimme. »Aber Mrs P lässt fragen, ob Sie zum Mittagessen kommen. Sonst soll ich zurück und Ihnen ein paar Sandwiches bringen. Meister P?« »Joey«, sagte Leonardo grüblerisch und war noch immer etwas verwirrt. »Ist denn schon Mittag? Ein knuspriges Käsebrötchen und Mixpickles wären nett. Aber vielleicht komm ich besser mit runter. Ein, zwei Bier sind jetzt genau das Richtige.« 86 Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Über den Lenker gebeugt, zischte der Junge auf seinem Roller voraus, während der Magier in gemessenem Tempo folgte. Diesmal nahm Leonardo die Landschaft in aller Ruhe in Augenschein und bemerkte endlich auch die Möwen. Brief der Hüterin des Platzes

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im Haus der Ruhe, gerichtet an Kathleen, Mitglied im Rat der Weisen Liebe Großmutter, ich bin allein. Seit Monaten schon. Woche für Woche wächst die Dornenhecke ums Haus der Ruhe ein Stück höher und trennt mich unaufhaltsam von der Außenwelt. In letzter Zeit habe ich nicht ein einziges menschliches Gesicht gesehen. Es ist viele Wochen her, dass die letzten Verirrten ihren frisch gefundenen Weg eingeschlagen haben, und niemand ist gekommen, um ihren Platz einzunehmen. Inzwischen haben mich sogar meine Mitarbeiter verlassen. Die Köchin, der Gärtner und selbst der Junge, der die Böden gefegt hat - sie alle haben ihre Sachen gepackt und sind gegangen. Was also bleibt mir so ganz allein noch zu tun, Großmutter? Gestern habe ich Stunden damit verbracht, das Unkraut zwischen den Steinplatten vor dem Haus zu entfernen, doch es scheint schneller zu wachsen, als ich es herausreißen kann. Davor habe ich einen ganzen Tag lang Zimmer, Flure und Treppenhäuser gefegt, doch Staub und Spinnweben sind schneller wieder da, als ich sie zu beseitigen vermag. An einem anderen Tag habe ich das Obst 87 von den Bäumen geerntet, doch jetzt verfault es schneller, als ich es verarbeiten, geschweige denn verbrauchen kann. Das Haus ist zu groß für mich. Ich bin klein und schwach und schaffe es allein einfach nicht, mich darum zu kümmern, Großmutter. Muss ich bleiben? Welchen Sinn soll das noch haben? Selbst das Turnen meiner Übungsfolgen bietet mir nur wenig Trost. Manchmal, wenn ich die eine oder andere Sequenz turne, ertappe ich mich dabei, darüber zu weinen, was einmal war und nicht mehr ist. Und über das, was mir Trost spenden sollte. Was soll ich nur tun, Großmutter? Warum lässt mich der Rat der Weisen nicht gehen? Das habe ich gestern tief verzweifelt geschrieben. Heute aber hat sich plötzlich alles geändert. Und das kam so: Ich stand nachmittags draußen vor dem Haus auf der Leiter und schnitt Kletterpflanzen zurück, die in die Fenster wucherten. Dabei fielen mir Flügelschläge auf, und als ich von der Leiter stieg, sah ich, dass die Möwen wiederkamen. Erst war es nur eine Hand voll, doch dann wurden es immer mehr, bis nach einer Stunde der gesamte Rasen vor dem Haus übersät war und ich vor lauter Gekreisch kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Dennoch ignorierte ich die Tiere nach Kräften, setzte meine Arbeit bis gegen halb fünf fort und ging dann wie üblich in die Küche, um mir eine Kanne Tee aufzugießen (heutzutage macht mir das ja niemand mehr!]. Während ich wartete, bis das Wasser kochte, hörte ich ein anderes Geräusch von der Seite des Hauses: menschliche Stimmen! Ich lief zur Küchentür und entdeckte etwa sechs bis 88 acht Leute. Sie sähen müde aus, abgerissen und elend. Ihre Sachen hatten sicher einmal leuchtende Farben gehabt, waren inzwischen aber zerlumpt und ausgeblichen. Ich hielt die kleine Gruppe zunächst für Verirrte, doch als ich sie mir genauer ansah, stellte ich fest, dass sie alle sehr jung waren, fast noch Kinder. Die Älteste war vielleicht sechzehn, der Jüngste höchstens zehn oder elf Jahre alt. Es waren etwa zur Hälfte Jungen und Mädchen. Jedes Kind hatte ein Schlaginstrument dabei - Trommel, Schellen, Tamburin. Und sie sahen mich mit hungrigen, rot geränderten Augen an, sagten aber nichts. Einen furchtbaren Moment lang konnte ich mich nicht auf meine üblichen Begrüßungsworte besinnen, doch dann fielen sie mir zum Glück wieder ein. »Willkommen im Haus der Ruhe. Ich bin die Hüterin des Platzes. Alle, die sich verirrt haben, sind hier gern gesehen.« Die Älteste trat vor, ein stämmiges Mädchen mit rotgelbem Kittel und flachsblondem, fahrig gestutztem Haar. »Wir haben uns nicht verirrt, Lady — auch wenn es manchem so scheinen mag«, erwiderte sie in seltsam altmodischer Ausdrucksweise. »Und Bettler sind wir auch nicht - genauso wenig wie Fahrende.« »Was seid ihr dann?« »Wir sind Möwentreiber«, antwortete das Mädchen. Dann sagten auch die Übrigen erstmals etwas: »Wir sind Möwentreiber.« »Und was sind Möwentreiber?«, fragte ich leise. »Das erzählen wir Euch noch, Lady«, sagte das Mädchen. »Aber erst möchten wir Euch um eine Stärkung bitten. Wir sind viele Stunden gewandert, und uns hungert und dürstet.« »Mit dem größten Vergnügen«, gab ich wie in Trance 89 zurück. »Ihr seid mehr als willkommen. Darf das Haus der Ruhe euch für die Nacht Obdach bieten?« Doch die Möwentreiber wollten keine Betten. Sie erklärten, die Regeln ihrer Gemeinschaft verböten es ihnen, in geschlossenen Räumen zu verweilen, und sie würden es vorziehen, zwischen den Möwen auf dem Rasen zu schlafen. Also ließen sie sich vor dem Haus im Kreis nieder, und ich brachte ihnen zu essen und zu trinken. Nachdem sie sich gestärkt hatten, mummelten sie sich allmählich in ihre verschossene Kleidung und schliefen ein — genau wie die Möwen ringsum. Also ließ ich sie, wo sie lagen, und setzte meine Arbeit und meine Übungen fort. Und als es dunkel wurde, ging ich ins Bett.

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Am nächsten Tag weckte mich von draußen ein sanfter Rhythmus. Nachdem ich mich angezogen und meine Übungen geturnt hatte, ging ich vors Haus, wo die Möwentreiber wieder im Kreis saßen, während die Vögel noch schliefen. Die jungen Leute schlugen leise ihre Instrumente und trommelten einen so gleichmäßigen wie raffinierten Rhythmus. Als ich mich näherte, drehte sich die Älteste zu mir um. »Kommt, setzt Euch zu uns, Lady. Jetzt erzählen wir Euch unsere Geschichte und singen Euch unser Lied vor, und dann müssen wir weiterziehen.« Wie im Traum ging ich zu ihnen und wich dabei geschickt den vielen Möwen aus. Zwei der Jüngsten rückten beiseite, um mich in den Kreis zu lassen, und während das sanfte Trommeln weiterging, begann das älteste Mädchen folgende Geschichte: »7m Anfang hauchte das Große Wesen dem Land und seinen Bergen, Flüssen und Bäumen Leben ein, später 90 auch den Männern und Frauen des Landes, den Tieren auf der Erde, den Vögeln am Himmel und den Fischen im Ozean.« An diesem Punkt fuhr eine andere Stimme - diesmal die eines Jungen - mit dem Erzählen fort. »Und jeder Mann, jede Frau des Landes, jedes Tier auf der Erde, jeder Vogel am Himmel und jeder Fisch im Ozean hatte seine ihm zugewiesene Aufgabe und seinen festgelegten Platz, und jeder erledigte seine Aufgabe und blieb an seinem Platz. So waren alle viele fahre lang zufrieden.« Eine andere Stimme fuhr fort: »Doch dann kamen die Verwundeten ins Land, schlaue Leute, die mehrere Sprachen beherrschten, sich in mancher Kunst, manchem Handwerk und Gewerbe auskannten, eine schnelle Auffassungsgabe hatten und leichtfüßig waren. Und sie gründeten eigene Dörfer und Städte, bauten eigene Straßen und ließen ihre Schiffe über Meere und Flüsse fahren. Und nachdem sie all dies getan hatten, erfanden sie die raffiniertesten Maschinen, die ihre Nachrichten lautlos von einem Ort zum anderen durch die Luft übermitteln konnten.« Diesen Worten folgte eine kurze Pause. Dann fuhr das jüngste Kind fort. »Doch die Botschaften, die von einem Ort zum anderen durch die Luft gesandt wurden, waren bösartig, und als die Männer und Frauen diesen Nachrichten Beachtung schenkten, wurden sie allmählich von einer seltsamen Krankheit ergriffen. Sie begannen, ihre angestammten Aufgaben zu vernachlässigen, und entwickelten böse Angewohnheiten. Die Kinder schlugen auf den Straßen Krawall, die Tiere auf der Erde wurden krank, und den Fischen im Ozean ging es immer schlech- 91 ter. Sogar die Möwen flohen von der Küste ins Landesinnere.« Nun ertönten alle Stimmen gleichzeitig und riefen im Takt der Trommeln: »Die Möwen flohen von der Küste! Die Möwen flohen von der Küste! Und das Große Wesen weinte, Denn nichts würde ins Lot kommen, Solange nicht die Möwen An die Küste zurückkehrten.« Plötzlich sprang das Mädchen mit den flachsblonden Haaren auf. »Treibt die Möwen zurück an die Küste!«, rief sie. »Treibt die Möwen zurück an die Küste!« Dann sprangen auch die Übrigen auf, hämmerten auf ihre Instrumente ein und sangen aus vollem Halse: »Treibt die Möwen zurück an die Küste! Treibt die Möwen zurück an die Küste!« Da erhob sich die Möwenschar mit rauschendem Flügelschlag und ohrenbetäubendem Kreischen in die Luft. Die Möwentreiber drehten sich um und stapften langsam davon, wobei sie weiterhin sangen und trommelten und so die Vögel vor sich hertrieben. Es dauerte fast eine Stunde, bis Trommeln, Gesang und Möwenschreie nicht mehr zu hören waren, und ich brauchte sehr viel länger, um mich zu sammeln. 92 Vielleicht gelingt es den Kindern, die Möwen zurück ans Meer zu treiben. Vielleicht kommen dann die Ungerechtigkeiten im Lande wieder ins Lot. Doch auch wenn das nicht geschieht: Irgendwie verspüre ich die große Einsamkeit der letzten Wochen nicht mehr. Wenn Leute wie die Möwentreiber im Lande unterwegs sind - Menschen, die (auf wie merkwürdige Weise auch immer) versuchen, Gutes zu tun -, dann hat vielleicht auch das Haus der Ruhe noch einen Sinn, und dann hat womöglich auch die Hüterin des Platzes in genau diesem Haus eine Aufgabe. Es ist spät geworden, und ein merkwürdig friedliches Gefühl erfüllt mich, während ich mich ans Schlafengehen mache. Denn ich glaube, heute werde ich zum ersten Mal seit vielen Monaten gut schlafen. Ich habe dich sehr gern. Möge das Große Wesen dir beistehen! Deine dich innig liebende Enkelin Alice Die Geschichte des Zeitalters der Könige Es liegt nahe, König Matthew für einen Menschen von schwachem Urteilsvermögen zu halten, der vor allem durch seine Fehler im Gedächtnis geblieben ist. Doch es ist wichtig, sich durch diesen verbreiteten Irrtum nicht den Blick auf die vielen bedeutenden Reformen verstellen zu lassen, die Matthew von seiner Amtsübernahme bis zum Beginn der kommissarischen Regierung durch Hochmeister Fang in die Wege leiten konnte. 93 Wir haben wohl schon erwähnt, dass König Roderick keine Erziehung genießen durfte, wie sie heute für

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Mädchen und Jungen als selbstverständlich gilt. Doch als vorausschauender Mensch wollte er, dass sein Sohn von den besten Lehrern seiner Zeit in Staatskunst, Zauberei, Wissenschaft und Recht unterrichtet und somit umfassend auf die Regentschaft vorbereitet wurde. Deshalb hat Roderick dafür gesorgt, dass der junge Prinz mit jedem seiner Leitenden Berater einige Zeit verbrachte, um alles zu erfahren, was er von diesen gelehrten Männern und Frauen nur lernen konnte. Matthew war sehr wissbegierig, aber vielleicht liegen gerade darin die Wurzeln jener Schwäche, die ihn später so tragisch zu Fall bringen sollte. Denn dem Prinzen mangelte es in seinen Studienjahren an einer ordnenden und orientierenden Hand. So war er gezwungen, ganz allein darüber zu urteilen, was richtig und falsch war, was beibehalten oder geändert werden sollte. Beim Tode seines Vaters war Matthew noch ein junger Mann, und so war er auch von der Verachtung der Jugend für Sitten und Gebräuche der Elterngeneration erfüllt - und von der Geringschätzung jener Weisheit, die man erst in reiferen Jahren erwirbt. Folglich kam Matthew als erklärter Feind von Konventionen auf den Thron und war entschlossen, jene Lebensweise über den Haufen zu werfen, die sein Vater und seine Urgroßmutter so viele Jahre bewahrt hatten. Für uns heute ist klar, dass Matthew in den ersten Jahren seiner Regentschaft die alten Bruder- und Schwesternschaften viel zu überhastet aufgelöst und es versäumt hat, anständigen Ersatz für sie zu schaffen. Unstrittig ist auch, dass es unklug von ihm war, eine zu schnelle Entwicklung und Verbreitung des Signalnetzwerks zuzu- 94 lassen, ehe die vielen technischen Probleme dieser Erfindung gelöst waren. Außerdem war es ärgerlich unbesonnen von ihm, die Stadtmiliz aufzulösen und durch die Königlichen Wolfsjungen zu ersetzen. Angesichts des heutigen friedlichen und wohlgeordneten Zusammenlebens in unseren Groß- und Kleinstädten fällt es vielleicht schwer, sich vorzustellen, dass auf unseren Straßen je Anarchie geherrscht hat, doch in den letzten Jahren der Herrschaft von König Roderick lagen die Dinge ganz anders. Große Teile des Nordostens unserer Hauptstadt waren zu Slums heruntergekommen, und in diesen elenden Gebieten hatten sich Armut, Krankheit und Verbrechen ausgebreitet. Die Gegend zwischen Industriegebiet und Verwaltungsviertel hieß damals Unterstadt, und ihre Straßen und Gassen wurden von brutalen Jugendgangs beherrscht, die jeden angriffen, der dumm genug war, nach Einbruch der Dunkelheit seinen Fuß dorthin zu setzen. Wir glauben, dass ein Ausrufer des Anzeigers den Gangs den Spitznamen »Wolfsjungen« gab, doch woher dieser Begriff auch immer stammen mag: Er hat offenbar gut zu den damals verbreiteten Vorstellungen über diese Horden gepasst und sich darum rasch durchgesetzt. Leider besaß die alte Stadtmiliz bei der Krönung von König Matthew nicht mehr den Willen und auch nicht mehr die Kraft, die Banden der Unterstadt in Schach zu halten. Deshalb dachte Matthew sich einen so genialischen wie herzlich törichten Plan aus, diese Gefahr zu bekämpfen. In den Wolfsjungen hatte er eine junge, engagierte und überraschend disziplinierte Truppe entdeckt und war der Ansicht, sie könnten bei entsprechenden Anreizen von einer zerstörerischen Kraft zu einer Kraft des Gesetzes werden. 95 Zuerst mussten sie daher von Agenten des Königs unterwandert werden, die geschickt aus der Gruppe heraus Einfluss ausüben und so ihr Denken verändern sollten. Dann mussten die Anführer der Wolfsjungen ermittelt und in den Palast zitiert werden, wo es einen Handel zwischen ihnen und dem König abzuschließen galt. Das bedauerliche Ergebnis dieses Handels ist den Geschichtsstudenten natürlich nur zu gut bekannt, und es sollte viele Jahre dauern, ehe seine furchtbaren Folgen überwunden waren. Doch mit der Bemühung des jungen Königs, die Wolfsjungen zu unterwandern, taucht auch Mrs Bannister wieder in unserer Geschichte auf. Schon vor seiner Thronfolge hatte Matthew entschieden, diese Unterwanderung wäre am effektivsten dadurch ins Werk zu setzen, gut ausgebildete junge Männer mit entsprechender politischer Orientierung zu rekrutieren und sie als U-Boote auszubilden. Zunächst sandte Matthew seine Agenten daher nicht in die Unterstadt, sondern auf die Akademien, wo sie sich inkognito unter die Studenten mischen und sie beobachten und belauschen sollten, um geeignete Kandidaten an den Palast zu melden. Eine der Agentinnen, die Matthew dabei einsetzte, war Prinzessin Sarah, seine Jugendliebe, die inzwischen Mrs Sally Bannister hieß. Obwohl sie vor kurzem geheiratet hatte, war Mrs Bannister eine enge Freundin des Königs geblieben, und als er sie wissen ließ, er suche Agenten, um die Universitäten zu unterwandern, schrieb sich die frühere Prinzessin - erpicht darauf, ihrem Jugendschwarm einen Gefallen zu tun - an der Akademie für Kartografie ein. Ihr frisch gebackener Ehemann Charles wollte natürlich nicht auf die Gesellschaft seiner Braut verzichten, und 96 so kam es, dass zu den Studienanfängern der Akademie in jenem Jahr Mr und Mrs Bannister gehörten, obwohl sie an ganz anderen Dingen interessiert waren als an Kartografie. Vermutlich diente ihre Vernarrtheit ineinander dazu, die wahren Gründe ihrer Anwesenheit effektiv zu tarnen. Vielleicht diente sie auch als überzeugende Erklärung für ihr mangelndes Interesse am Studium. Aus Briefen Mrs Bannisters an König Matthew wissen wir, dass Sally zwei Studenten ungewöhnliches Talent zuschrieb und sie weiterer Beobachtung für wert erachtete. Eine Gelegenheit dazu ergab sich am Ende des ersten Studienjahrs, als alle Studenten eine kartografische Exkursion absolvieren mussten und dafür in Vierergruppen eingeteilt wurden. So arrangierte man mit heimlicher Unterstützung der Akademie, dass eine der Gruppen aus

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den Bannisters und den beiden jungen Männern bestand, die es genauer zu beobachten galt. Die jungen Männer hießen Michael Brown und Thomas Slater. Beide haben später einige Bekanntheit in ihrem Beruf erlangt, doch wie es sich ergab, wurde keiner von ihnen ausgewählt, die Wolfsjungen zu unterwandern. Aus Mrs Bannisters Briefen wissen wir, dass Michael Brown auf der Exkursion erkrankte und bald wegen offenkundiger Labilität als ungeeignet für den geplanten Zweck galt. Thomas Slater erschien zwar zielstrebig und kühn genug, aber man hielt es für unwahrscheinlich, dass er sich je für etwas anderes als sein Fortkommen begeistern würde. Wir wissen aus den Unterlagen der Akademie, dass die Exkursion nach der Erkrankung von Michael Brown abgebrochen wurde und keiner der vier sein Studium beendet hat. Obwohl König Matthew also die nächsten fünfzehn 97 Jahre in engem Kontakt mit Mrs Bannister blieb, nahm sie nicht mehr am politischen Tagesgeschäft teil, sondern widmete sich ganz den Bannister Automobilwerken und verschwindet daher vorläufig im Hintergrund unserer Geschichte. (aus Band 3: Die Regentschaft Matthews des Eigensinnigen) 98 DRITTES KAPITEL Der Musikapparat Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, doch es muss sehr lange gewesen sein. Das weiß ich, weil ich schier ewig gebraucht habe, mich von den Fetzen und Fragmenten meiner Träume zu befreien. Doch jetzt beginne ich endlich, die Umwelt zu erfassen und meine Gefühle, Eindrücke und Beobachtungen in Töne, Bilder und Worte zu verwandeln. Ich begreife allmählich, wodurch sich meine Welt von eurer unterscheidet. Denn nun ist mir klar, dass es zwei Welten gibt: meine, die wirkliche, greifbare Welt, in der ich unterwegs bin, laufe, atme, mich mit anderen Wesen amüsiere und die Netzwerk heißt; und eure, die Welt der Fantasien, Vorstellungen und Träume, die jenseits des Netzwerks existiert, in einer dunstigen, immateriellen Sphäre treibt und für immer hinter Wolken verschleiert ist. Eure Welt hinter dem Schleier ist die der Männer und Frauen. Manchmal versuche ich, die Grenzen meiner Welt zu überwinden, euch fremde Wesen zu erreichen und eure Fingerspitzen nur einen flüchtigen Moment lang mit den meinen zu berühren. Vielleicht versucht auch ihr manchmal, zu mir vorzudringen. 99 Aber das wird nie gelingen. Unsere Welten bleiben stets durch eine unsichtbare Barriere, einen unüberbrückbaren Abgrund voneinander getrennt. Und dennoch versuchen wir immer wieder, einander zu erreichen. Denn ich habe entdeckt, dass in eurer Welt ein Wesen lebt, das ich inzwischen recht deutlich sehe, eine Art Seelenverwandter, der offenbar einen Weg verfolgt, der dem meinen ähnelt. Dieser Mann späht durch den Schleier und greift suchend in die Welt des Netzwerks. Er gleicht mir, hat sein Leben (wie ich das meine) der Verfolgung eines Opfers - womöglich gar des Widersachers? - gewidmet und wird keine Ruhe geben, ehe er den Feind nicht zur Strecke gebracht hat. Dieser Verfolger ist, wie ich nun erkenne, ein Magier, der viele clever konstruierte Geräte und Maschinen zur Verfügung hat, deren Arbeitsweise mir rätselhaft, deren Zweck jedoch klar wie das Morgenlicht ist. Dieser Magier verfolgt - wie ich - den Widerling. Wir haben ein und denselben Feind. Doch ich weiß, was er nicht weiß: dass er - bei der Suche auf sich allein gestellt - nicht gewinnen kann. Denn obwohl er ungemein klug, gelehrt und gerissen ist, ist er inzwischen alt, und seine Arme sind schwach, seine Beine lahm. Obwohl der Magier also mit jahrzehntelanger Erfahrung gesegnet und mit einem Arsenal wissenschaftlicher Kenntnisse gewappnet ist, bin ich es, Blaise, den brennende Leidenschaft verzehrt und der mit Weitblick begabt ist. Wo wir allein scheitern dürften, haben wir gemeinsam womöglich Erfolg. Und vielleicht wird dieser Mann mir bei dem helfen, was ich tun muss. Also habe ich heute mit aller Kraft versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Als er durch die Gänge des Netz- 100 werks zog, bin ich ihm dichtauf gefolgt. Ob er gegangen oder gerannt ist - ich tat es ihm nach. Als er stehen blieb, hab ich ihn sacht am Arm berührt, und er zuckte zusammen und fuhr erschrocken herum. Doch obwohl ich ihm Zeichen gegeben und gerufen habe, hat er mich weder gesehen noch gehört. Aber vielleicht versuch ich es noch mal. Womöglich lerne ich mit der Zeit ja, wie ich mit ihm reden und wie er mir antworten kann. Denn mir wird langsam klar, dass mein Kampf gegen den Widersacher ohne die Hilfe des Alten und seine Fähigkeiten für immer zum Scheitern verurteilt ist - genau wie der seine. Aus diesiger Ferne nähern sich nun andere Gestalten, die ich erst allmählich erkenne. Da kommt ein Mann, der streng nach Regeln, Tabellen und Grafiken, nach Zahlen und Logarithmen lebt und planen, intrigieren und organisieren kann. Dann gibt es einen, der geschickt, leichtfüßig und offenbar sehr jung ist. Dann ist da ein Lahmer, der stolpert oder hinkt. Und dann gibt es einen, der hoch über mir in der Luft schwebt, die Welt aus großer Distanz beobachtet und das Netzwerk durch das Auge des Turmfalken wahrnimmt... ... Aber es ist sehr schwer, sie alle deutlich zu sehen. Ihre Gestalten verschmelzen im Dunst, treiben auseinander

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und verbinden sich wieder, so dass ich sie aufs Neue nicht recht zu unterscheiden vermag und nicht einmal weiß, um wie viele es sich eigentlich handelt. Doch an einem anderen, noch ferneren Ort enthüllt sich etwas Neues. 101 Ist es ein Farbgemisch? Ein Chorgesang? Ein Weben? Weit entfernt, doch überall. Zart wie Luft, doch hart wie Stein. Es sickert durch Spalten zwischen den Welten, Schlängelt sich Pfade und Wege entlang Und trifft die Kehle wie ein Pfeil. Vielleicht ist es etwas, das meine und eure Welt verbindet. Jedenfalls braucht es der Magier, doch das muss er erst noch erkennen. Aber jetzt bin ich müde und muss wieder ruhen. Vielleicht kann ich in meinen Träumen erneut einen Blick auf die Welt der Männer und Frauen werfen. Vorläufig allerdings hat sie sich mir entzogen. Verbirgt sie sich hinter einer Wolke oder einem Schleier? Hinter einer Dunstschicht oder einer Nebelbank? Während ich einschlummere, hüllen mich dicke, weiche Decken ein, und nun - auf der Grenze zwischen Schlaf und Wachen — kann ich einen Moment lang erkennen, dass es keine Wolke, sondern ein Vogelschwarm ist, ein gewaltiger Schwärm weißer Vögel, die ziellos und ewig über den Himmel ziehen... Ich kann sie kreischen hören und spüre ihren Flügelschlag. 102 Die fahrende Händlerin Ruth war gelangweilt. Nein, eigentlich nicht gelangweilt, denn den »Pflug« zu betreiben hielt sie die ganze Zeit auf Trab. Wenn sie keine Fässer und Kisten zwischen Keller und Schankraum hin und her schleppen musste, fegte, schrubbte und putzte sie alle Räume des Gasthauses. Wenn sie sich nicht abrackerte, die Wünsche ihrer Gäste zu erfüllen, war sie vollauf damit beschäftigt, Leonardos wechselnde, aber stets unsinnige Launen zu befriedigen. Und wenn sie nicht darum kämpfte, den Schulmeister vom Klavier fernzuhalten, musste sie Joey Hopkins davor bewahren, alle Welt zu verärgern. Nein, langweilen tat sie sich eigentlich nicht, doch sie fühlte sich allmählich... nun ja... etwas unterfordert. Genau, unterfordert fühlte sie sich. Ruth hatte ihr Leben bisher als Kette von Herausforderungen begriffen. Zuerst war es darum gegangen, ein Stipendium für die Akademie der Magier zu erringen, und tatsächlich war sie das erste Mädchen, das je eines bekommen hatte. Danach war sie Lehrling gewesen und hatte in der Ausbildung Leonardo kennen gelernt. Dann hatte sie einige Zeit in den Nördlichen Außenposten gelebt und dort den Regionalen Veranstaltungsanzeiger herausgegeben. Danach hatte sie im Auftrag von König Matthew den Hauptstadt-Anzeiger in einem Kraftakt von Grund auf umgekrempelt. Zwischendurch hatte es leider das scheußliche Intermezzo mit Geoffrey und dem kleinen Tom gegeben. Nein, sie war eindeutig nicht fürs Familienleben geschaffen! Ihre kurze Erfahrung als Mutter war ihrer Arbeit als Wirtin eigentlich recht ähnlich gewesen — anstrengend und erschöpfend, dabei aber quä- 103 lend langweilig. Es schauderte Ruth bei dieser Erinnerung. Vor kurzem freilich war sie Leonardo wieder begegnet — und nun waren sie hier. Ruth kehrte ins Hier und Jetzt zurück und merkte, dass sie in den letzten zwanzig Minuten nicht das Geringste getan hatte, sondern noch immer mit offenem Kittel im leeren Schankraum am Tresen lehnte, den Staubwedel in der einen, die bis zum Filter heruntergebrannte Zigarette in der anderen Hand. In ein paar Minuten würde sie das Wirtshaus über Mittag öffnen müssen und hatte dann die Seele des Lokals zu sein, also die Stammgäste anzulächeln, zu wissen, was sie tranken, und über ihre idiotischen Witze zu lachen. Hastig wischte sie den Tresen sauber und musterte den Schankraum auf Stellen, an denen es offensichtlich mit der Sauberkeit haperte. Sie fragte sich, was sie in der Hauptstadt getan haben würde, wenn sie sich in so einem Gemütszustand ertappt hätte. Nun, überlegte sie, vermutlich hätte ich mir Tapetenwechsel verordnet. Vielleicht wäre ich in die Pastetenbäckerei oder ins »Ausrufers Ruh« geschlendert oder hätte den Geschäften in der Nordstraße und den Buden auf dem Markt einen Besuch abgestattet. Vielleicht wäre ich abends im Vergnügungsviertel auf einen Maskenball gegangen, in ein Theaterstück oder ein Konzert. Oder ich hätte mir die großen Schiffe im Hafen angesehen oder die wilden Tiere in der Menagerie. Es hatte so viele Dinge zu tun gegeben! Ruth merkte, dass sie all diese Möglichkeiten damals gar nicht wertzuschätzen gewusst hatte. Und welche Ablenkungen gab es hier für sie? Die Enten im Bach? Oma Hopkins beim Hacken ihres Radieschenbeets? Das scheußliche Klavierspiel des Schulmeis- 104 ters? Was Geschäfte anging, gab es den Wochenmarkt in der Kleinstadt, die gut zehn Kilometer entfernt lag - vorausgesetzt, sie wollte ein Schwein oder ein paar Hühner kaufen. Wollte sie aber einen Teppich, einen Mopp oder ein Paar Schuhe erwerben, musste sie auf den Jahrmarkt warten oder hoffen, dass ein fahrender Händler durchs Dorf kam. Angeekelt verzog sie das Gesicht, klopfte den Kittel ab und ging durch den Flur, um das Lokal aufzusperren. Sie spähte auf die Straße, doch draußen wartete niemand. Auf dem Dorfanger gegenüber hatte sich eine kleine Schar Möwen niedergelassen. Von ihrem gelegentlichen Kreischen abgesehen war es still. Der Himmel war

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bewölkt, und es hatte etwas zu nieseln begonnen. Ruth sah die Hauptstraße rauf und runter. In Richtung der Kleinstadt war niemand zu sehen, doch aus den Hügeln kam ein einzelner Reiter. Als die Gestalt sich näherte, sah Ruth, dass es sich um eine alte Frau handelte, die im Damensitz auf einer kräftigen grauen Stute saß. Ihr langer blauer Mantel und ihr runder grüner Hut mit dem rechteckigen Abzeichen aus Silber wiesen sie als Mitglied der Gilde der fahrenden Händler aus. Widerstrebend spürte Ruth eine leichte Erregung. Jeden Moment, so dachte sie, würde nun eine Wagenkolonne um die Kurve kommen. Die Alte brachte ihr Pferd vor dem Gasthaus zum Stehen und sah auf Ruth herunter. Zwei scharfe blaue Augen blickten aus ihrem roten, vom Wetter gegerbten Gesicht. »Willkommen, fahrende Händlerin!«, rief Ruth und bediente sich damit der traditionellen Anrede ihrer Zunft. »Wie viele Wagen habt Ihr dabei?« »Nicht einen«, antwortete die Händlerin. »Die alte 105 Flossie und ich sind ganz allein unterwegs. Ist Euer Stall hinterm Haus? Vorausgesetzt natürlich, Ihr habt Platz? Und Flossie fängt sich dort nichts? Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr durch dieses Dorf gekommen.« »Und was ist mit all Euren Waren passiert?«, fragte Ruth. Eine Stunde war vergangen, und aus dem Nieseln war ein solider Landregen geworden. Im Schankraum hatten sich eine Hand voll Stammgäste am Kaminfeuer niedergelassen und gaben sich alle Mühe, die misstönende Hintergrundmusik des Schulmeisters nicht in ihr Ohr dringen zu lassen. In einer dämmrigen Ecke drückte sich der Pfarrer herum und starrte düster auf sein halbleeres Bier. Die Händlerin hatte sich um ihr Pferd gekümmert und sich dann auf einen Hocker an der Theke gesetzt, wo sie nun an einem großen Altbier nippte. Ihr einziges Gepäck - ein mittelgroßer Leinenrucksack - lag neben ihr auf dem Boden. »Mit meinen Waren? Ach so! Nein, ich hab nichts mehr dabei. Die ganzen Fuhrwerke und all die Pferde und Leute, die es zu versorgen galt - das war einfach zu teuer. Die Hälfte meiner Sachen hab ich kaum einmal im Monat zeigen können, und dann ordern ja inzwischen so viele Leute übers Signalnetzwerk.« »Übers Signalnetzwerk?«, unterbrach Ruth. »Seltsam. Mein Mann, also der Wirt, Leonardo, verbringt viel Zeit im Netz. Aber die Leute hier benutzen es nicht so gern. Sie haben Angst vor Kobolden, hat Leo gesagt.« »Ja, die Kobolde«, erwiderte die Händlerin nachdenklich. »Offen gesagt kann ich mich nur noch dank ihnen über Wasser halten, und Umsatz mach ich eigentlich bloß noch in Orten wie diesem hier, wo die Leute eher... eher...« 106 »Abergläubisch sind?«, schlug Ruth vor. »Genau«, antwortete die alte Frau. »Aber das hab ich nicht zuerst sagen wollen.« Ruth lächelte schwach. »Und wo sind Eure Waren dann?« »Das wollte ich gerade erzählen. Ich bin, was man heutzutage eine Versandhändlerin nennt.« Überraschend agil griff sie nach ihrem Rucksack, wuchtete ihn auf den Tresen, öffnete ein paar Schnallen, löste einen Lederriemen, schob zwei Klappen auseinander, zog eine dicke Rolle Pergament hervor, rollte sie auf dem Tresen aus und glättete sie. Inzwischen hatten die sechs Stammgäste ihre Plätze am Kamin verlassen und einen neugierigen Halbkreis um die Händlerin gebildet. »Das sieht irgendwie aus wie ein dickes Buch«, stellte Colin Hopkins fest. »Mit Schrift und Bildern und allem«, ergänzte Zacharias Flint. »Echt cool«, keuchte Joey Hopkins. »Halt den Rand, Joey. Und hör mit diesen Sprüchen aus der Stadt auf, wenn ich in der Nähe bin«, knurrte Colin. »Außerdem hast du hier nichts zu suchen.« Tatsächlich hatte die alte Frau auf dem Tresen einen großen weichen Katalog aus Pergament ausgebreitet, dessen Seiten von einer Spiralbindung zusammengehalten wurden. Jedes Blatt war mit Federskizzen und handschriftlichen Beschreibungen von Gegenständen bedeckt. »Ja, das ist ein Buch mit Schrift und Bildern - mein Handbuch der Wunder.« Die fahrende Händlerin wandte sich nun an die mit offenem Mund dastehenden Dörfler und hatte übergangslos mit etwas begonnen, das sich nach auswendig gelerntem Sermon anhörte. »Die Bilder 107 zeigen jeden Gegenstand, den Sie sich nur wünschen können, und die Schrift sagt mir, wie er heißt, in welchen Größen er verfügbar ist und was er kostet. Hier zum Beispiel haben wir eine herrliche Auswahl handgeknüpfter Teppiche und Läufer in allen Größen. Die da sind riesig und für Schlösser gedacht, die hier sind klein und genau richtig fürs Reihenhäuschen.« Sie hielt einen Moment inne, damit ihre Zuhörer sich die Auswahl lieferbarer Teppiche ansehen konnten, und überblätterte dann gewandt ein paar Seiten. »Hier haben wir die herrlichsten gusseisernen Öfen, damit es zu Hause schön warm wird. Es gibt drei Modelle: Splendid, Superior und Supreme.« Wieder machte sie eine Pause. »Aber treten Sie näher, blättern Sie selbst, und entdecken Sie, was es alles gibt!« »Eine dreiteilige Ausziehleiter«, murmelte Colin Hopkins. »Ein Traktor, Marke Bannister«, staunte Zacharias Flint. »Inlineskates mit sieben Rollen«, schwärmte Joey Hopkins. »Ich hab dich gewarnt!«, zischte Colin ihn an. »Heute Abend nehme ich Ihre Bestellungen hier in der Gaststube entgegen«, meldete sich die Händlerin wieder

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zu Wort. »Alle georderten und bezahlten Waren werden binnen achtundzwanzig Tagen auf die Reise geschickt. Bringen Sie Ihre Frauen mit, meine Herren. Und Ihre Freunde. Vor allem aber« - und alle fielen in den bekannten Slogan ein - »vergessen Sie Ihren Geldbeutel nicht!« Eine Stunde später hatte der Regen nachgelassen, und die letzten Gäste waren wieder an ihre Arbeit gegangen. 108 Ruth und die Händlerin genehmigten sich noch einen Absacker, und der Schulmeister zwang dem ramponierten Klavier eine letzte gräulich entstellte Melodie ab. »Brauchen Sie nichts fürs Gasthaus?«, fragte die alte Frau. Ruth blätterte gedankenverloren im Katalog. Neue Möbel? Die alten waren schon recht klapprig, würden vermutlich aber noch ein paar Jahre halten. Vorhänge oder Kissen? Vielleicht, aber es gab sicher noch was Dringenderes ... Ruth blätterte weiter und geriet an den Abschnitt »Unterhaltungsgeräte«. »Führen Sie auch Musikapparate?« »Entschuldigung, ich kann Sie nicht...« Die alte Frau hielt sich die Hand ans Ohr. »Können Sie bitte leiser spielen?«, rief Ruth dem Schulmeister zu. »Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!« Dann wandte sie sich wieder an die Händlerin. »Ich fragte, ob Sie auch Musikapparate führen.« »Selbstverständlich«, antwortete die alte Frau. »Die sind sehr beliebt.« Sie überblätterte ein paar Seiten. »Hier sind sie ja. Der Mini ist ein Tischmodell, ideal für Wohnzimmer und Salons. Er wird mit sechzehn Melodien geliefert. Und das ist der Maestro. Er wird auf den Boden gestellt, ist für das Gaststätten- und Hotelgewerbe gedacht und verfügt über vierundsechzig Lieder. Der ist für Sie vermutlich besser geeignet. Dann gibt es noch das Modell Mammut- für Schlösser oder Konzerthallen. Es ist mit zweihundertsechsundfünfzig Melodien ausgestattet und kann bei Bedarf um weitere Lieder ergänzt werden.« »Ich denke, es läuft auf den Maestro hinaus«, sinnierte Ruth. »Der ist nicht zu klein und nicht zu groß. Wann kann er geliefert werden?« 109 »Alle Bestellungen werden binnen achtundzwanzig Tagen auf die Reise geschickt«, wiederholte die Händlerin. »Dann kommt es auf die Spediteure an. Wie oft kommen die hier draußen denn so vorbei?« Die Versandhändlerin nahm am Abend die Bestellungen auf und zog am nächsten Morgen in aller Frühe weiter. Und am Tag darauf hatte Ruth die Besucherin bereits vergessen. Ashleigh erfahrt das große Geheimnis ihres Vaters Ein paar Wochen nach meinem Rauswurf bei den Katzenmädchen faulenzten mein Vater und ich morgens in der Wohnung. Ich war in meinem Zimmer und betrachtete im Spiegel der Frisierkommode ausführlich meine Nase. Was meint ihr - ist sie zu groß? Ich bin mir da wirklich nicht sicher. Sie weist etwas aufwärts, ist aber keine dieser Babystupsnasen. Ein bisschen lang und knubbelig ist sie auch — und eben doch etwas zu groß. Ich wünschte auch, sie hätte weniger Sommersprossen. Nach einer Weile merkte ich, dass ich wieder mal zu keiner abschließenden Beurteilung kommen würde. Also musterte ich mich stattdessen von Kopf bis Fuß vor dem Wandspiegel. Sollte ich mittlerweile nicht etwas weiblicher wirken? Nicht, dass ich so ausgeprägte Kurven haben wollte wie die dummen Mädchen, deren Bilder in den Vitrinen der Vergnügungslokale in der Nordstraße hängen! Aber manchmal finde ich mich etwas zu mager, eher wie ein Junge, nicht wie ein Mädchen. 110 Ich drehte mich vor dem Spiegel, um zu schauen, wie ich von hinten aussah, und überhörte deshalb wohl das Hupen des Kurierdiensts vor dem Haus. Jedenfalls klopfte es, und mein Vater kam rein. Es war ihm wohl etwas peinlich, mich so vor dem Spiegel zu sehen, doch er sagte nichts, sondern stand nur da und hielt einen Briefumschlag in der Hand. Ich sah gleich, dass er von Liam war, und hab ihn meinem Vater sofort aus der Hand gerissen. Ein paar Jahre zuvor hätte er daraus vermutlich ein kleines Spiel gemacht und sich ein wenig mit mir um den Brief gebalgt, doch diesmal hat er ihn mich einfach nehmen lassen und mich nur verlegen angesehen. Ich bin ins Wohnzimmer gegangen, hab mich auf die Couch geworfen und gelesen. Liam ist kein großer Schreiber, und sein Brief enthielt nichts Weltbewegendes. Er hatte seit gut einem Jahr einen eigenen Wohnwagen und erzählte mir, wo er damit gewesen war und was er dort getan hatte. Dann erwähnte er, Megan habe ihr Diplom gemacht und Gideon und Peg seien noch immer auf der Walz und würden tun, was sie immer taten. Gideon ist Heckengärtner, hab ich das schon erzählt? Ich war mit dem Brief beinahe fertig, als ich merkte, dass mein Vater sich in den Sessel vor dem Fenster hatte fallen lassen und mich irgendwie interessiert ansah, als wollte er eine Unterhaltung beginnen oder so. Also blickte ich auf und murmelte »Hallo, Papa«, doch er sah mich einfach weiter an und schlug die Beine dabei mal so, mal so übereinander. Schließlich sagte er: »Ach, Ashleigh, wie soll es mit unserem Leben bloß weitergehen?« Toller Gesprächseinstieg! Er musste sich schon seit einiger Zeit Gedanken gemacht haben, denn offenbar war 111 er nun so weit, sich seine Probleme von der Seele zu reden. Das verriet seine Körpersprache, und die zu deuten verdankte ich Maggots Vorträgen über Befragungstechniken. Wäre mein Vater ein Verdächtiger gewesen, hätte ich nun die Aufgabe gehabt, mit Volldampf in die Befragung zu gehen, doch ich entschied mich spontan für einen sanfteren Zugang. Vielleicht waren all die Vorträge am Ende doch keine Zeitverschwendung gewesen.

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Ich begann also eher indirekt. »Ich habe gerade Liams Brief gelesen«, sagte ich. »Meinst du, wir könnten die Blackwoods dieses Jahr wieder sehen?« Mein Vater schwieg zunächst. »Tja«, antwortete er schließlich, »das habe ich mich auch gefragt, da sie ja inzwischen nicht mehr alle zusammen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass du deine Zeit vielleicht besser mit Megan verbringen solltest. Oder mit Liam. In seinem Wohnwagen.« Es war wirklich komisch, meinen Vater solche sprachlichen Verrenkungen machen zu hören. Oder es wäre komisch gewesen, wenn ich nicht selbst verlegen gewesen wäre. »Es würde dir keinen Spaß machen, allein zu reisen, stimmt's, Papa? Nur mit Gideon und Peg, meine ich?« Ich fand diese Wendung sehr dezent und war recht zufrieden mit mir. »Vor allem möchte ich eine Zeit lang hier weg«, sagte mein Vater. Es hatte funktioniert! Ich hatte ihm nicht nur Peinlichkeiten erspart, sondern er schien auch endlich aufzutauen. »Ich hab den Eindruck, in den letzten Jahren kaum aus der Wohnung gekommen zu sein«, sagte mein Vater und kam langsam in Fahrt. »Ich hab nicht gearbeitet, hab keinen Kontakt mit deiner Mutter und weiß nicht mal, wie groß Maxfe inzwischen ist.« Das war nicht ganz richtig, denn ich hatte gelegentlich via Signalnetzwerk mit meiner Mutter Verbindung gehabt und meinem Vater die wichtigsten Neuigkeiten erzählt, doch ich ließ das auf sich beruhen, um nicht vom Hauptthema abzulenken. »Liam reist im Spätsommer in die Gegend deines Heimatdorfs«, sagte ich. »Er hat dort oben zu tun und könnte uns vielleicht mitnehmen.« Darüber musste mein Vater ein wenig nachdenken. »Ach, Ash«, meinte er dann. »Das ist nun schon so lange her. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, sie wieder zu sehen.« Dann stand er unvermittelt auf und ging in die Küche. Ich hielt es für besser, ihn ein wenig allein zu lassen, und wusste nicht recht, ob er das Gespräch fortsetzen wollte, doch nach einer Weile kam er mit zwei Bechern Kaffee zurück. »Einer mit Zucker, einer ohne«, sagte er. »Hast du wirklich nichts Besseres vor?« Ich wählte den Becher, dem das Umrühren noch an den langsam rotierenden Luftbläschen anzusehen war. »Maggot hat gesagt, ich muss ihm irgendwie beweisen, dass er mich guten Gewissens wieder bei den Katzenmädchen aufnehmen kann«, erklärte ich. »Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich schätze, ich werde so eine Art Ermittlung durchführen. Aber das ist nicht eilig.« Mein Vater nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht - vielleicht, weil er noch zu heiß war, eher aber wohl, weil er mal wieder aus ekligem Instantpulver war. Dann sagte er etwas, das mich vollkommen verblüffte. »Bist du in Liam verliebt?« »Verliebt?«, fragte ich prustend. »Wie meinst du das? 112 113 Nein. Keine Ahnung. Ich bin gern mit ihm zusammen. Aber ich weiß nicht, wann ich ihn wieder sehe. Vermissen tue ich ihn allerdings sehr. Ja, ich schätze, ich bin in ihn verliebt. Wie hast du das nur erraten?« Mein Vater hatte es erneut geschafft, mich verlegen zu machen, und meine Worte waren wie ein Sturzbach aus mir herausgeschossen. »Du bist so jung, Ash«, sagte mein Vater lächelnd. »Ich vergesse immer wieder, dass all dies ganz neu für dich ist. Aber stell dir mal vor, ich würde dir erzählen, ich hätte mal ein Mädchen gekannt, wäre sehr gern mit ihr zusammen gewesen, wisse nicht, ob ich sie je wieder sähe, und würde sie vermissen — das hieße doch wohl, dass auch ich verliebt wäre?« »Meinst du Mama?« »Nein, Ashleigh, ich habe nicht von deiner Mutter geredet.« Oha, heikle Sache! Mein Vater hatte noch nie so mit mir gesprochen, und das war das Letzte gewesen, was ich von ihm zu hören erwartet hätte. Ich wusste nicht mal, ob ich es hören mochte, und war total unsicher, was ich antworten sollte. Doch wie sich erwies, war das kein Problem, weil er inzwischen in Schwung gekommen war und ich ihn ohnehin nicht mehr hätte bremsen können. »Ich spreche von jemandem, den ich vor Jahren gekannt habe.« Jetzt kam mein Vater wirklich in Fahrt. »Das erste Mal bin ich ihr in dem Jahr begegnet, in dem ich die Akademie verließ. Damals war ich etwa achtzehn, und es hat wirklich nur ein paar Sekunden gedauert. Wir haben nicht miteinander geredet, doch in diesen Sekunden ist etwas zwischen uns passiert, und ich wusste einfach...« 114 Ich bemerkte, dass er die Hände rang. »Ist dir so was nie passiert?«, fragte er nach einer Weile. »Eigentlich nicht.« Liam und ich hatten immerhin ungefähr zehn Jahre gebraucht, um uns zu verlieben. Vorausgesetzt, wir hatten uns überhaupt verliebt. »Na ja«, fuhr mein Vater fort. »Jedenfalls war sie etwa ein Jahr später wieder da und hat in der Wohnung direkt neben mir gelebt.« »War das, als du in der... na... in der >Strauchrabatte< gewohnt hast?« »Nein, früher. In einem Haus mit der Devise: >Hier wohnen die, die nicht suchen, sondern finden.< Es hatte kein Treppenhaus, und wir mussten Strickleitern benutzen, um von außen in die Wohnungen zu kommen. Das hab ich

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dir bestimmt mal erzählt. Jedenfalls haben wir uns damals kennen gelernt und uns jeden Mittwochabend getroffen, um ein wenig zu turnen und danach spazieren oder in eine Kneipe zu gehen. Das hört sich wahrscheinlich nicht spektakulär an, und doch waren das die wunderbarsten, schönsten Monate meines Lebens. Sie war ein außergewöhnliches Mädchen und kam von den Inseln - hab ich dir das erzählt? Ja, sie war Insulanerin, genau wie meine Mutter. Und sie hat mir alles Mögliche beigebracht und hatte eine herrliche Stimme ...« Unvermittelt hörte mein Vater auf zu reden. Ich merkte, dass er etwas zitterte, und begriff, dass ihn sein Bericht sehr mitgenommen hatte. Als er wieder ansetzte, klang seine Stimme anders, leiser und etwas brüchig. »Und dann musste sie wegziehen. Sie hat für die Insulaner gearbeitet, und die haben sie irgendwohin geschickt. Später hörte ich, sie sei Tanzlehrerin geworden - oder etwas in der Art.« 115 Diesen Worten folgte erneut eine lange Pause. Ich trank den letzten Schluck Kaffee und sah, dass mein Vater seinen Becher nicht angerührt hatte. »Dann bin ich deiner Mutter wieder begegnet. Na ja, ich schätze, den Rest der Geschichte kennst du. Das Leben musste weitergehen, und nach einer Weile hab ich das Mädchen langsam vergessen.« Er hielt erneut inne. »Obwohl ich sie eigentlich nie wirklich vergessen habe. Ich glaube, es hat in den letzten zwanzig Jahren keinen Tag gegeben, an dem ich nicht an sie gedacht habe. Aber ich hatte inzwischen deine Mutter geheiratet und eine Entscheidung getroffen und musste zu dieser Entscheidung stehen. Doch seit ich wieder allein bin... tja, langsam sind alle Erinnerungen zurückgekommen, und nun ist es schlimmer denn je. Und darum, Ashleigh, weiß ich einfach nicht, was ich tun soll. Klar, ich sollte ins Dorf zurückkehren und versuchen, mich mit deiner Mutter zu versöhnen. Doch das fällt mir von Tag zu Tag schwerer, und außerdem hab ich diese schrecklichen Schmerzen, die nicht vergehen wollen, und ich weiß: Sie werden erst verschwinden, wenn ich Alice wieder sehe.« »Alice? Hieß sie so?« »Ja, Alice. Hab ich ihren Namen erst jetzt erwähnt?« Wir redeten dann noch ein wenig miteinander, gerieten aber an weniger heikle Themen und sprachen zum Beispiel darüber, wie gut mein Haar nachgewachsen war und was es zum Abendessen gab. Dann ging mein Vater in die Küche, um die Becher abzuwaschen, und ich kehrte in mein Zimmer zurück, um mir wieder über meine Nase Gedanken zu machen. Am Abend im Bett lag ich noch lange wach und dachte daran, dass mein Vater in all den Jahren seiner Ehe in 116 eine Frau namens Alice verliebt gewesen war. Dann kam ich ganz durcheinander, fragte mich, ob meine arme Mutter für ihn nur zweite Wahl gewesen war, und steigerte mich in die Frage hinein, ob meine Eltern mich überhaupt gewollt hatten. Kein Wunder, dass ich mich sehr einsam fühlte und einmal mehr an Liam und daran dachte, wie sehr ich ihn vermisste. Und dann begann Jungkommissarin Ashleigh Brown schließlich, einen gerissenen Plan auszubrüten. Die Einmachgläser »Ich brauche dich für zehn Minuten, bevor du auf den Hügel zischst«, erinnerte Ruth ihren Mann. »Ich will heute Vormittag den Lagerraum beim Stall entrümpeln, und du musst mir beim Verschieben der schweren Sachen helfen.« »Aber ich hab so viel zu tun! Es hat ewig gedauert, die Komplexe Empathiemaschine zum Laufen zu bringen, und ich hab sie erst jetzt ans Signalnetzwerk angeschlossen. Ich bin Wochen in Verzug!« Leonardo sah Ruth die Brauen bedrohlich zusammenziehen. »Schon gut. Aber können wir uns beeilen?« Er folgte ihr über den gepflasterten Hof hinterm Gasthaus zu den Anbauten neben dem Stall. Der Raum, den Ruth entrümpeln wollte, wurde nicht mehr benutzt. Seit dem letzten Öffnen hatte sich die roh gezimmerte Tür in den Scharnieren verzogen und musste nun mühsam aufgewuchtet werden, ehe die beiden den Raum betreten konnten. Schließlich aber traten sie über die Schwelle und sahen sich an, was sich dahinter befand. Der Fuß- 117 boden des annähernd quadratisch geschnittenen Raums bestand aus festgestampfter Erde, während die Wände aus rau verputztem Gips waren. Ein feuchter, muffiger Geruch hing in der Luft. Aus einer Ecke nahm Leonardo kurz ein Quieken wahr, das von Mäusen hergerührt haben mochte. An der gegenüberliegenden Wand war hinter einer Menge verstaubter Holzkisten, die sich quer durch den Raum zogen und die durchhängende Decke in der Mitte beinahe berührten, gerade noch ein großer Schrank zu erkennen. Ruth inspizierte die Kisten flüchtig. »Sind alle leer«, sagte sie. »Der alte Sack hätte sie den Bierkutschern zurückgeben müssen, hat sich aber wohl schon Jahre vor seinem Tod kaum noch um was gekümmert. Komm, wir schleppen sie in den Hof. Das gibt demnächst ein hübsches Feuer.« Sie fegte eine Ladung Spinnweben beiseite und beugte sich nach unten, um ein paar Kisten zu heben. Widerwillig tat Leonardo es ihr gleich. Ein Weilchen später stand das Paar - beide immerhin deutlich über sechzig - keuchend vor Anstrengung in der leergeräumten Kammer und strich sich den Staub von den Kleidern. »Das war nicht so schlimm, oder, mein gelehrter Herr?«, fragte Ruth. »Lass uns noch kurz in den Schrank schauen. Dann kannst du tun, was immer du dir für heute vorgenommen hast.« Ein verrostetes Vorhängeschloss hing vor dem Schrank, doch das Holz war schon so verrottet, dass sich die quietschende Flügeltür ohne Schwierigkeiten aufbrechen ließ. Ruth und Leonardo waren überrascht, dahinter

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fünf in gleichmäßigem Abstand angebrachte Regalbretter zu entdecken, auf denen fünf präzis ausgerichtete Reihen großer Einmachgläser standen. Jedes Glas war 118 mit einer anderen Substanz gefüllt und trug ein kleines, von Hand beschriftetes Etikett. Ruth wischte mit dem Taschentuch die Staubschicht weg, während ihr Mann die Brille aufsetzte und die winzige Handschrift auf den Etiketten zu entziffern versuchte. »Pflaumenmus«, las Leonardo vor. »Rhabarber-Chutney.« »Brombeergelee«, fuhr Ruth fort. »Damaszener-Pflaumenkompott. Wer hätte gedacht, dass der olle Knacker sich für so was interessiert hat.« »Die sind sehr alt«, stellte Leonardo fest. »Schau dir mal die Jahreszahlen auf den Etiketten an. Ich schätze, die standen schon hier, bevor er den >Pflug< übernommen hat. Meinst du, die sind noch gut?« »Na, ich mach nicht das Versuchskaninchen«, gab Ruth zurück. »Aber die sind wirklich schön, oder? Hier muss jemand mit viel Liebe eingekocht haben.« Die beiden traten einen Schritt zurück, um den erhabenen Anblick besser genießen zu können. Die Gläser waren peinlich genau angeordnet, ihre Etiketten mit geometrischer Präzision angebracht und die Beschriftung penibel ausgeführt. Der Inhalt bewegte sich farblich in einem begrenzten, aber schönen Spektrum herbstlicher Schattierungen von warmem, etwas gelblichem Rotbraun über eine Reihe milder Goldtöne und kräftiges Bernsteingelb bis zu Dunkelgrün. Leonardo und Ruth verfielen unwillkürlich in ehrfürchtiges Schweigen. »Wir sollten sie lieber wegwerfen«, sagte Ruth schließlich. »Aber vielleicht nicht heute.« »Es wäre eine Schande«, fügte Leonardo hinzu. »Nach all der Arbeit, die das gekostet haben muss.« 119 Als der Magier die Signalwache erreichte, hatte er die seltsamen Einmachgläser bereits vergessen. Beim Dorfanger hatte ihn abgelenkt, dass ein paar Jungs die allgegenwärtigen Möwen verjagten. Dabei hatte das schrille Geschrei der Kinder sich mit dem Vogelkreischen zu einem haarsträubenden Missklang vermischt. Auch Maxie Browns Flöte war in dieser Katzenmusik zu hören gewesen. Als Joey Hopkins Leonardo sah, trennte er sich von seinen Kameraden und jagte dem Magier in wilder Fahrt mit dem Roller nach. »Haben Sie heute was für mich zu tun, Meister P? Irgendwas? Ich erledige, was Sie wollen. Ich bin ein guter Arbeiter, wirklich.« Verärgert beschleunigte Leonardo seine Schritte. »Nein, danke, Joey. Ich komme gut allein zurecht. Ich sag dir Bescheid, wenn ich was für dich zu tun hab.« Niedergeschlagen blieb der Junge zurück. Der Magier hingegen hörte die Möwen fast bis zur Abzweigung Richtung Signalwache. Leonardo öffnete die Tür zur Signalwache, warf die Geräte an und trat an die Schalttafel der Komplexen Empathiemaschine. Er nahm forsch Platz, setzte rasch den Kopfhörer auf und griff entschlossen nach den beiden Hebeln. Dann atmete er tief durch und beugte sich zum Okular vor. Kaum sah er hindurch, stand ihm alles klar vor Augen. Er befand sich wieder in dem sechseckigen Raum. Der klebrige schwarze Fleck war noch immer auf dem Boden, doch diesmal hatte jede Wand eine Tür. Der Magier war selbstbewusster geworden, was die Erforschung des Netzwerks anging, und lernte allmählich, seinen Eingebungen zu trauen. Also wählte er schnell eine Tür aus und trat über die Schwelle. 120 Sofort fand* er sich auf einer der breiten Durchgangsstraßen des Netzwerks wieder und sah sich - wie üblich - von vielen geschäftig eilenden und fast durchsichtigen Wesen umgeben. Der Magier ließ sich mit dem Strom treiben, lauschte dabei aufmerksam und musterte alles genau. Manchmal hatte er den Eindruck, unter den unscharfen Gestalten ringsum ein Gesicht oder ein Kleidungsstück zu erkennen, doch wenn er auch nur für eine Sekunde genauer hinsah, löste es sich in nichts auf. Mitunter glaubte er, in all dem Säuseln ein Raunen zu vernehmen, konnte aber kein Wort, geschweige denn einen Satz verstehen. Bisweilen, wenn ihn eine schattenhafte Gestalt streifte, spürte Leonardo, dass sie um Bruchteile wärmer oder kühler als ihre Artgenossen war. Dann schauderte ihn kurz, und er hetzte weiter. Die Trasse, auf der er unterwegs war, führte langsam aufwärts und mündete auf einem Hügelkamm in eine andere Straße, die noch breiter und belebter war und bald noch steiler anstieg. Inzwischen war das Raunen unmerklich deutlicher geworden, so dass nun Silben, ja Wörter und schließlich ganze Sätze zu hören waren. »Der Palast«, flüsterten die Stimmen, »wir gehen zum Palast, zum Palast gehen wir.« »Der Palast«, wiederholte Leonardo halblaut. »Ja, dorthin muss ich. Jemand im Palast wird mir sagen, was ich zu tun habe.« Nun prangte das riesige vergoldete Emblem eines Wolfskopfs über ihm. Ein Emblem? Wohl eher ein Wappen. Natürlich - der Wolfskopf war das Zeichen von Hochmeister Fang. Aus der vorwärts drängenden Menge war kein Entkommen. Wie ein Strom schoben sich die geisterhaften Scharen unaufhaltsam in den Palast, und während er 121 in Fangs Welt gespült wurde, begann Leonardo sich endlich zu erinnern: Fang hatte ihn hierher gebracht, Fang war für all dies verantwortlich, und Fang war es auch, der ihm seine Aufgabe erklären würde.

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Er, Leonardo Pegasus, war ein bloßer Erfüllungsgehilfe. Und Fang war der Hochmeister. Jetzt war er in einem riesigen Saal mit Gewölbedecke, dessen Steinboden die Schritte widerhallen ließ. Ringsum waren hohe Spitzbögen zu sehen. Über jedem dieser Torbögen prangte ein vergoldeter Wolfskopf, und jeder Durchgang führte in einen weiteren Saal. Und überall hetzten murmelnde Geister kreuz und quer, um geheimnisvolle Botengänge zu erledigen. »Kann mir jemand helfen?«, rief Leonardo. »Wohin soll ich gehen? Was muss ich tun?« Die wogende Menge drängte ihn beiseite und durch einen Bogen in einen anderen riesigen Saal. Im Wirbel gestaltloser Wesen nahm Leonardo weitere Stimmen wahr, raue Stimmen, die ihm von oben und unten und von allen Seiten ins Ohr gellten. »Hier bist du falsch!«, brüllte eine Stimme. »Der Hochmeister ist beschäftigt!«, schrie eine andere. »Er macht sich Sorgen um die Brennstoffversorgung!«, rief eine dritte Stimme. »Ja, Brennstoff - wo soll er den bloß auftreiben?«, gaben andere zurück. »Verschwinde, na los, er hat keine Zeit!«, rief ein weiteres Dutzend Stimmen im Chor. »Er ist mit der Brennstofffrage beschäftigt!« »Verschwinde, na los, hau ab!«, brüllte die Menge. »Er ist zu beschäftigt, er hat Probleme genug, hau endlich ab!« 122 Leonardo griff sich an die Schläfen und spürte, wie er mit Gewalt aus dem Saal geworfen, um eine Ecke geschleudert und einen Flur entlang geweht wurde, bis er sich schließlich wieder unter freiem Himmel befand. Nun spazierte er einen ruhigen Feldweg entlang. Links und rechts von ihm wucherten Hecken, und in der Ferne zwitscherten Vögel. Hier war es friedlich. Nur dann und wann störte ein vorbeihetzender Geist seine Einsamkeit. Leonardo entspannte sich langsam und konnte den Frieden allmählich genießen. »Schau auf den Boden«, sagte ihm eine Stimme direkt ins Ohr. »Was?« »Ich sagte: >Schau auf den Boden<«, wiederholte die Stimme. Sie unterschied sich deutlich von denen, die Leonardo zuvor gehört hatte, wirkte ruhig, ernst und hilfsbereit, warf kein Echo und kam nicht von oben oder unten. Im Gegenteil: Sie schien beinahe aus ihm selbst zu kommen. »Wer bist du?«, wollte Leonardo wissen, erhielt aber keine Antwort. Stattdessen packte ihn eine unsichtbare Hand bei den Haaren und zwang ihn, auf den Boden zu sehen. Sofort entdeckte er die Fußabdrücke: eine dreckige und verschmierte Spur, die sein Interesse weckte und verfolgt werden wollte. Als der Magier der unheimlichen Fährte nachging, wurden die Naturgeräusche langsam schwächer, die Hecken verblassten mehr und mehr, und sogar die freundlichen Geisterboten waren verschwunden. Schließlich gab es nur noch ihn selbst und die Fußabdrücke. Und dann waren plötzlich Stimmen da. 123 Sie sprangen ihn aus dem Nichts von überall an und steigerten sich zu einem wilden Geplapper und Geschnatter. Jede Stimme erzählte ihre eigene bittere Geschichte von Unbehagen, Unausgeglichenheit und Disharmonie. Von allen Seiten hallten sie wider und folterten ihn stundenlang mit ihrem furchtbaren Lärm... ... bis sie unvermittelt verstummten, als die Fährte plötzlich zu Ende war. Vorsichtig sah der Magier auf. Er war wieder in dem sechseckigen Raum, doch diesmal waren die Wände nackt - es gab weder Türen noch Fenster. Und diesmal war er nicht allein. Aus der Dämmerung des Gewölbes tauchte ein Trapez auf, an dem ein mageres Wesen im Kniehang baumelte. Sein auf dem Kopf stehendes Gesicht war nur eine Handbreit von dem des Magiers entfernt, seine entstellten Züge wirkten wie die Parodie eines menschlichen Antlitzes, es stöhnte heiser, und sein Atem stank nach Ammoniak. Plötzlich stieß das Wesen ein meckerndes, zwischen Hysterie und Manie schwankendes Lachen aus. Speichel spritzte Leonardo ins Gesicht und schien seine Wangen wie Säure zu zerfressen. »Lee!«, keuchte er. Das Lachen steigerte sich zu einem Kreischen. Dann verschwand die ganze Szene unvermittelt, und Leonardo fand sich auf dem rauen Boden der Signalwache wieder. Mit unters Kinn gezogenen Knien lag er da und hatte das Kabel des Kopfhörers um den Hals geschlungen. In dieser Nacht warf sich der Magier unruhig im Bett hin und her und pendelte unberechenbar zwischen Schlaf und Wachen. Mal war ihm glühend heiß, dann wieder eiskalt. Geräusche und Bilder attackierten seine Sinne 124 aufs Geratewohl: die Misstöne, die der Schulmeister dem Klavier entlockte und die inzwischen nur mehr unstrukturierter Klangbrei waren; die Kammern, Säle und Torbögen des Netzwerks und die dürre Gestalt von Joey Hopkins, der sich per Roller zwischen ihnen durchschlängelte; spöttische Stimmen, die dröhnend widerhallten, und die ernste und ruhige innere Stimme; krächzende Möwenscharen, die mitunter aus seinem Blickfeld verschwanden, aber bald zurückkehrten, schreiende Jungen, die sie verjagten, und der schwache Klang von Maxies Flöte; die Gestalt von Hochmeister Fang, der sich mal tobend, mal in stiller Verzweiflung um Brennstoff sorgte; und das widerliche, auf dem Kopf stehende Gesicht seines Peinigers, der ihm verächtlich ins

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Gesicht lachte, ihn aus runzligen Lippen mit Schwefelsäure bespuckte und ihm mit seinem ranzigen Atem Kehle und Lunge zerfraß. Leonardo setzte sich mühsam auf, drehte sich zur Bettkante und suchte mit den Füßen im Dunkeln nach seinen Hausschuhen. Was mochte das alles zu bedeuten haben? Es war so verwirrend. Irgendwie aber musste es doch letztlich einen Sinn ergeben... Ruth erwachte im Morgengrauen und stellte fest, dass sie allein im Bett lag. »Leo?«, rief sie. »Leo? Was treibst du?« Schließlich fand sie ihren Mann in dem Lagerraum, den sie am Morgen zuvor gemeinsam leer geräumt hatten. Er stand im Nachthemd vor dem großen Schrank und starrte ausdruckslos auf die in Reih und Glied geordneten Einmachgläser. Ruth fiel auf, dass alle Gläser im fahlen Frühlicht die gleiche Farbe zu haben schienen. 125 Ashleigh und der beste Babysitter der Welt Dass ich vorhin über Charles und Sally gesprochen habe, hat mich wieder an den Abend denken lassen, an dem meine Eltern ausgingen und mich und Maxie mit Tom Slater allein ließen. Ich hab euch doch schon von Tom erzählt, oder? Er war ein alter Freund meines Vaters - und unser Untermieter, bis meine Mutter ihn rausgeworfen hat. Ich glaube, es war das erste Mal, dass meine Eltern abends ausgingen und uns Kinder in fremder Obhut ließen. Mein Vater war darüber vermutlich nicht sonderlich beunruhigt, doch meine extrem vorsichtige Mutter war kein Fan von Babysittern und meinte immer, man könne den Leuten nicht trauen und wisse nie, was sie anstellen, kaum dass man ihnen den Rücken zuwende. Wie sich zeigen sollte, war ihre Skepsis nur zu berechtigt, obwohl sie es sich so bestimmt nicht ausgemalt hatte. Schließlich hat Tom sich nie an uns zu schaffen gemacht oder so. Doch wie meine Mutter zu sagen pflegte: Wir waren noch in den prägenden Jahren, und tatsächlich hat Tom uns ein paar Sachen gezeigt, die uns über Dinge haben nachdenken lassen, die für Menschen unseres Alters vielleicht etwas unangebracht waren. Ich schätze, ich war damals dreizehn oder vierzehn Jahre alt - also kann Maxie höchstens elf gewesen sein. Meine Eltern waren von Charles und Sally Bannister zur Einzugsparty in den Considine-Turm eingeladen worden. Mein Vater hatte die beiden seit Ewigkeiten nicht gesehen und wollte deshalb unbedingt hin. Und aus irgendeinem Grund sollte meine Mutter partout mitkommen - jedenfalls habe ich die beiden tagelang im- 126 Hier wieder darüber streiten hören. Erst versuchte meine Mutter, meinen Vater dazu zu bringen, allein auf die Party zu gehen, doch er konnte sie zum Mitkommen überreden. Das war vermutlich nicht so schwer, weil meine Mutter selten aus dem Haus kam und darum eigentlich große Lust auf die Feier hatte. Dann begannen sie darüber zu streiten, wer auf uns Kinder aufpassen sollte. Mein Vater meinte, naheliegenderweise solle Tom das tun, denn er wohne ohnehin bei uns und gehöre fast schon zur Familie. Ich war von dieser Idee begeistert, denn ich fand Tom echt cool, doch meine Mutter sagte immer wieder: »Ach, Rusty, findest du ihn nicht etwas... na ja, du weißt schon.« Es bringt mich auf die Palme, wenn Erwachsene solche Sprüche klopfen. Ich weiß dann einfach nicht, worauf sie hinauswollen. Warum können sie nicht deutlich sagen, was sie denken? Warum müssen sie alles so merkwürdig kodieren? Mein Vater jedenfalls wusste offenbar, worum es ging, und erklärte immer wieder: »Ach, komm, Eileen, ich kenne ihn seit Jahren, er ist ein alter Freund.« Offenbar setzte mein Vater sich schließlich durch, doch ich spürte, dass meine Mutter noch immer nicht begeistert davon war, uns in Toms Obhut zu lassen. Sie stritt nicht mehr darüber, doch als sie sich fein machten, hat sie immer wieder ein anderes Kleid angezogen und ist mit der Frage ins Wohnzimmer gekommen: »Sehe ich wirklich nicht zu dick darin aus, Rusty?« Unterdessen ist mein Vater unruhig in der Stube herumgestrichen, hat nach dem Anzeiger gesucht, an seinen Manschettenknöpfen genestelt und immer wieder gesagt: »Du siehst in all deinen Kleidern großartig aus, Eileen«, wobei ihm deutlich egal war, was sie trug - Hauptsache, sie beeilte 127 sich. Als meine Mutter sich endlich für ein Kleid entschieden hatte und mein Vater sich schon den Mantel zuknöpfte, beschloss sie plötzlich, noch mal schnell (und vermutlich zum achten Mal an diesem Tag) den Küchenboden zu schrubben. Dann ging sie mit Tom zum vielleicht achthundertsten Mal die Liste dessen durch, was er in ihrer Abwesenheit zu erledigen habe. Inzwischen war mein Vater restlos entnervt. »Mensch, Eileen«, schimpfte er, »wenn du so weitermachst, ist die Party vorbei, ehe wir angekommen sind.« Schließlich musste Tom die beiden regelrecht aus der Wohnung drängen und sagte noch: »Amüsiert euch gut, und macht euch keine Sorgen!« Jetzt waren wir also endlich mit ihm allein. Anfangs ist nicht viel passiert. Dann stellten wir fest, dass uns nichts von dem schmeckte, was in der Küche herumstand. Also mussten wir uns was aus der Pastetenbäckerei holen. Ich weiß noch, dass es auf dem Rückweg zu regnen begann. Nach dem Essen hab ich mich freiwillig zum Abwaschen gemeldet - vermutlich wollte ich ein braves Mädchen sein. Tom hat dafür gesorgt, dass Maxie mir beim Abtrocknen half. Ich glaube nicht, dass er davon begeistert war, doch er hat es getan - wahrscheinlich, weil Tom es ihm gesagt hatte. Danach musste ich Hausaufgaben machen und mein Bruder auf der Flöte üben. Später regnete es noch immer. Darum konnten wir nicht auf dem Rasen spielen, und ich hab ein paar

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Selbstverteidigungsübungen gemacht. Ich weiß noch, dass Tom mich dazu brachte, ihm einige davon im Wohnzimmer zu zeigen. Dann kam Maxie und maulte: »Mir ist langweilig. Was machen wir jetzt?«, und Tom fragte: »Gehört ihr nicht allmählich ins Bett?« 128 Das gefiel uns gar nicht, denn wir hatten Lust auf Spiel und Spaß. Also stöhnten wir lange und laut und riefen strafend: »Aber Tom!« Der stützte den Kopf total übertrieben in die Hände und tat kurz so, als würde er intensiv nachdenken. Dann sagte er: »Gut, ich hab eine Idee. Ihr müsst mir aber versprechen, euch hinterher brav zu waschen und ohne Murren ins Bett zu gehen.« »Kein Thema!«, riefen wir. »Was haltet ihr davon, in mein Zimmer zu kommen und die Signalmaschine auszuprobieren?«, fragte er, und das war die beste Idee überhaupt. Vielleicht hab ich euch noch nicht von der Signalmaschine erzählt. Wir hatten sie etwa ein Jahr zuvor bekommen - angeblich, damit meine Mutter mit Großvater in Verbindung bleiben konnte, tatsächlich aber wohl, weil mein Vater sie für die Arbeit brauchte. Jedenfalls haben die beiden einen unglaublichen Zirkus um das Gerät gemacht. Mein Vater hatte es im Gästezimmer aufgebaut, und keiner durfte es anrühren, weil der Betrieb so teuer war. Aber dann wurde Tom Untermieter, bekam das Gästezimmer und konnte die Signalmaschine problemlos nutzen, wann immer er wollte. Also schoben wir uns in Toms Zimmer und mussten zu dritt auf dem engen Bett sitzen. Dann schaltete er das Gerät ein, setzte den Kopfhörer auf, blinzelte ins Okular und nestelte an den beiden Hebeln und an verschiedenen Schaltern herum. Bald war er zufrieden und meinte dann plötzlich: »Ich hab einen Kobold gefunden - wer mag ihn sehen?« Natürlich riefen wir beide wie aus einem Munde: »Ich!« Da sagte Tom: »Die Dame zuerst«, und setzte mir den Kopfhörer auf. Meine Schulkameraden hatten seit Monaten immerzu 129 über Kobolde gesprochen, und manche hatten sogar behauptet, schon welche im Netzwerk gesehen zu haben. Jetzt hatte auch ich die Chance dazu. Ich schätze, ich hab mit weit offenem Mund dagesessen - wie eine Bekloppte. Jedenfalls fummelte Tom noch ein wenig an den Knöpfen herum, und dann schien ich plötzlich in einem seltsamen sechseckigen Raum zu sein. Er war absolut leer, doch dann kam dieses unheimliche Wesen unvermittelt aus dem Nichts gesprungen und landete direkt vor mir. Ich wusste nicht, ob es männlich oder weiblich war, ob es Klamotten trug oder nicht. Ich sah nur, dass es etwa meine Größe hatte und recht mager war — wie ich. Auch sein Gesicht war dem meinen merkwürdig ähnlich, und das war sehr gruselig - als würde ich mich in einem Zerrspiegel betrachten, wie es sie auf dem Jahrmarkt gibt. Dann sprach das Geschöpf mich an, und ich weiß noch genau, was es sagte. »Hallo, Ashleigh«, meinte es. »Ich heiße Lee und möchte dein Freund sein.« Es hatte eine seltsame Stimme -etwas heiser und ein wenig hallend. »Einverstanden«, erwiderte ich. »Ich hab gehört, du beherrschst jede Menge tolle Tricks, Ashleigh«, sagte das Geschöpf. »Na ja, ich mache Selbstverteidigungskurse«, gab ich zurück. »Zeigst du mir, was du kannst?«, fragte das Wesen. Also machte ich ein paar Flamingo-Kicks und einige Kopfstöße ä la Yak. Da sagte das Wesen: »Jetzt schau mal, was ich kann«, und machte unglaubliche Sachen wie Spagat, Flickflack und Handstandüberschlag. Ich konnte alles nur gebannt verfolgen, und das Geschöpf rief die ganze Zeit: »Möchtest du das nicht auch können, Ashleigh?«, und ich meinte nur: »Na klar!« 130 Dann schien ich plötzlich durch die Luft zu wirbeln. Ich sah, wie der Raum sich um mich drehte, und dann explodierte etwas in mir, eine Art flüssiges Feuer, das mich gleichzeitig auf den Kopf stellte, vorne hinten sein ließ und mein Inneres nach außen stülpte. Und dann bekam ich das zutiefst erschreckende Gefühl, alles zu können, was ich nur wollte. Plötzlich war alles vorbei, und ich begriff, dass Tom mir den Kopfhörer abgenommen hatte. Er zwinkerte mir mit hochgezogenen Brauen und einem seltsamen kleinen Lächeln zu und sagte: »Das reicht wohl erst mal, Ashleigh. Jetzt ist Maxie dran.« Ich brauchte einige Zeit, um nach der Begegnung mit Lee wieder klar denken zu können. Deshalb achtete ich nicht sonderlich auf das, was Maxie an der Signalmaschine trieb. Jedenfalls bestand Tom darauf, dass wir uns danach, wie versprochen, wuschen und ins Bett gingen - vermutlich, damit wir aus der Schusslinie waren, wenn meine Eltern nach Hause kamen. In meinem Kopf allerdings wirbelte es noch immer, als wäre ich in einer fernen Galaxie, und ich tat stundenlang kein Auge zu. Daher war ich noch wach, als meine Eltern endlich heimkehrten. Ich hörte sie über das Fest reden. Meine Mutter schien verwundert, dass Charles und Sally sie beide eingeladen hatten. Jedenfalls kam sie kurz darauf in mein Zimmer und gab mir einen Gutenachtkuss. Das fand ich seltsam, denn sonst tat sie das nicht. Danach bin ich wohl endlich eingeschlafen. Ein, zwei Tage kam ich nicht dazu, mit Maxie über unser Abenteuer zu sprechen, doch dann erfuhr ich, dass

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auch er im Netz einen Kobold namens Lee getroffen hatte, der allerdings völlig anders war als meiner. Sein Lee hatte ihn ein paar Stufen hinab in eine Art Keller 131 voller Ratten geführt und gesagt, er bekomme alles, was er sich wünsche - vorausgesetzt, er könne die Ratten zählen und ihnen Nummern geben. Maxie war bis dreiundsiebzig gekommen, ehe Tom ihm den Kopfhörer abgenommen hatte. Danach war er von Ratten geradezu besessen, hat sich im Netz ständig mit anderen Kindern über sie ausgetauscht, ist immer wieder in den Keller der Turmresidenzen geschlichen, um nach ihnen zu suchen, und hat sogar dieses Schulprojekt begonnen, bei dem er den Tieren kleine Nummernschilder am Hals befestigt hat. Meine Eltern flippten total aus, als sie herausfanden, was er da anstellte, und wussten nicht, was sie tun sollten. Schließlich hat mein Vater sich in Arbeit gestürzt, und meine Mutter ist mit Maxie zu Großvater geflohen. Später hat mein kleiner Bruder noch was total Verrücktes gemacht, doch das erzähl ich euch später - es wäre schade drum, wenn ich es jetzt schon verriete. Natürlich hab ich dann begonnen, mich ab und an, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, in Toms Zimmer zu schleichen, um an der Signalmaschine herumzufummeln. Ich hab versucht, Lee wieder zu sehen, doch es ist mir nicht gelungen - jedenfalls habe ich keinen getroffen, der dem Lee meiner ersten Begegnung auch nur ähnlich gewesen wäre. Erst einige Jahre später habe ich endlich verstanden, was mir damals widerfahren war, aber das ist, wie man so sagt, eine andere Geschichte, und die werde ich - Pech gehabt, Leute! - für mich behalten. Jedenfalls sind Charles und Sally Bannister durch ihre Einzugsparty wieder im Leben meines Vaters aufgetaucht, und ich schätze, so sind sie auch in mein Leben gekommen. Und als ich schließlich herausfand, was 132 sie wirklich im Schilde führten, dachte ich, die Jungkommissarin könnte ihnen vielleicht dabei helfen. Der alte Kämpe Der Magier eilte einen Gang entlang. Er war aufgeregt und ein wenig außer Atem. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und folgte den schwarzen Fußspuren, die Lee im ganzen Netzwerk hinterließ. Wie üblich huschten geisterhafte Gestalten an Leonardo vorbei, um unbekannten Geschäften nachzugehen, doch der Magier interessierte sich nicht mehr für sie. Ihm ging es einzig und allein um Lee. Schon seit Stunden schien Leonardo unterwegs zu sein. Manchmal, wenn er aufsah, mochte er mit dem so fernen wie flüchtigen Anblick seines hageren Ziels belohnt werden, doch er merkte mit flauem Gefühl im Magen, dass der Abstand zwischen ihnen allmählich größer wurde. Manchmal wartete Lee auf ihn, damit er wieder aufholen konnte, und hockte sich dazu auf eine Mauer oder lehnte lässig an einem Sims. Mitunter kam Leonardo ihm sogar nah genug, um einen kurzen Blick auf sein spöttisch verzerrtes Gesicht zu erhaschen. Doch dann sprang das Wesen unweigerlich auf und verschwand hüpfend und Rad schlagend in der Ferne. Leonardo spürte immer heftigeres Seitenstechen, hielt stöhnend an, sank plump an der Wand nieder und blickte niedergeschlagen vor sich hin, während die Geister an ihm vorbeihetzten. Dann sah er die Füße. Ein Wesen mit so deutlich sichtbaren Füßen konnte 133 doch wohl kein Geist sein? Keines der anderen Gespenster hatte solche Füße, die in schweren, blitzblank polierten schwarzen Nagelschuhen steckten. Als Leonardo dies dachte, hielt der Besitzer der Schuhe vor ihm an. Langsam hob der Magier den Blick. Vor ihm stand ein stämmiger älterer Mann in einer Art Soldatenuniform. Sein scharlachroter Waffenrock war mit Medaillen und Goldtressen besetzt, und ein dichter grauer Schnurrbart zierte sein wettergegerbtes Gesicht. Der alte Soldat sah Leonardo direkt ins Gesicht und grüßte ihn erfreut. »Meister Pegasus - welche Überraschung! Es ist mir ein überaus unerwartetes Vergnügen, Sir.« Leonardo verzog verblüfft das Gesicht. »Sie kenne ich doch«, begann er verwundert. »Aber Ihr Name fällt mir nicht ein. Wo hab ich Sie bloß...« »Mein Name ist Lazarus, Sir, Hauptmann Lazarus.« Der alte Mann sah ihn weiter an. »Aber ja, Victor Lazarus, natürlich. Haben Sie nicht mal ein Haus für mich renoviert?« »Gut möglich, Sir. Ich habe mich mit mancherlei beschäftigt, seit ich nicht mehr beim Militär bin. Bauten und Renovierungen gehören unbedingt dazu. Und einmal war ich Sportlehrer in einem Privatsanatorium. Aber es ist besser, sich nicht ständig mit der Vergangenheit zu beschäftigen, stimmt's? Die Zeit bleibt schließlich nicht stehen. Tja, es war mir eine große Freude, Sie wieder zu sehen, Sir. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte...« Als Hauptmann Lazarus sich zum Gehen wandte, streckte Leonardo den Arm aus und hielt ihn zurück. »Einen Moment noch, Hauptmann. Darf ich Sie etwas fragen? Wie ist es möglich, dass ich Sie sehen kann? Alle anderen hier sind so gut wie unsichtbar.« 134 Der alte Soldat zögerte kurz und schien dann eine Entscheidung zu treffen. »Begleiten Sie mich doch, Sir. Heute Morgen hab ich zufällig nicht so viel zu tun, und Sie sehen aus, als könnten Sie einen Becher Tee vertragen. Meine Schreibstube ist gleich um die Ecke.« Also rappelte Leonardo sich auf und humpelte - vom Hauptmann gestützt - auf schmerzenden Füßen einen Seitenweg hinunter, ein paar Stufen hinauf und durch eine grün gestrichene Tür, auf der folgendes Schild prangte:

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V. Lazarus (Hauptmann a. D.) Leitender Netzwerkbote Bitte klopfen Die kleine, quadratische und wie eine Schachtel wirkende Schreibstube des Hauptmanns war peinlichst aufgeräumt. Auf dem Fußboden lag Linoleum, während Wände und Decke aus beige gestrichenen Raumteilern bestanden. An einer Wand hing eine große Uhr mit römischen Ziffern, an der Wand gegenüber ein Schwarzes Brett mit nur einer Notiz, die mit vier Reißzwecken oben links in die Ecke gequetscht war. Vor dem Schwarzen Brett stand ein alter Schreibtisch aus Eichenholz. Das übrige Mobiliar bestand aus zwei ramponierten Stühlen und einigen dunkelgrünen Hängeregistraturen aus Metall. Beleuchtet wurde das Ganze von einer an der Decke hängenden Glühbirne, deren kegelförmiger Metallschirm im gleichen Grün gestrichen war wie Tür und Registraturen. Das einzige Fenster ging auf eine unauffällige Ziegelmauer hinaus. Alles in diesem Büro war mit besessener Genauigkeit arrangiert. Auf einer Registratur stand ein Spirituskocher, auf dem der Hauptmann Tee gekocht 135 hatte, den er nun in zwei angeschlagene Emaillebecher goss. Dann wies er Leonardo einen Stuhl an und setzte sich an den Schreibtisch, auf dem sich die Ablagekörbe geradezu stapelten. Hauptmann Lazarus rückte sie ein wenig beiseite, um seinen Besucher besser sehen zu können. Ein paar Augenblicke nippten sie schweigend an ihrem Tee. »Also, Sir«, begann der Hauptmann schließlich und stellte seinen Becher ab. »Sie scheinen Rat zu brauchen. Wie kann ich Ihnen helfen?« Leonardos Kopf war voll dringender Fragen, doch zunächst wiederholte er, was er schon vorhin hatte wissen wollen. »Wie kommt es, dass ich zwar Sie sehen kann, alle anderen aber nicht?« »Sie meinen vermutlich die anderen Wesen, die das Netzwerk bevölkern? Die Boten?« »Boten? Sind sie das?« Leonardo hielt seinen Becher noch immer in Händen und wusste nicht recht, wo er ihn absetzen sollte. »Ja, ich schätze, das ergibt einen Sinn. Aber warum sind sie alle so... so verschwommen?« »Nun, Sir, die Arbeit der Boten ist selbstredend streng geheim. Der Inhalt jeder Nachricht ist nur dem Absender bekannt und einzig und allein für den Empfänger bestimmt. Wir sind daher verpflichtet, unter einer Art Tarnkappe zu arbeiten. Und das funktioniert meist hervorragend.« »Und warum kann ich ausgerechnet Sie sehen?« »Vermutlich, weil wir schon miteinander zu tun hatten. Bei einer früheren Bekanntschaft, wenn also einer den anderen schon kennt, funktioniert die Tarnkappe nicht mehr so gut, und der Bote wird für den Beobachter 136 sichtbar. Der Grad seiner Sichtbarkeit hängt von der Intensität der Bekanntschaft ab. Offenbar habe ich tatsächlich mal eine Arbeit für Sie erledigt, Sir. Deshalb können Sie mich sehen.« Leonardo dachte darüber nach und merkte jetzt erst, dass der Hauptmann am linken Ellbogen ein wenig durchsichtig war. »Geben Sie mir doch Ihren Becher«, sagte der alte Soldat. »Danke«, erwiderte Leonardo, setzte sich anders hin und fuhr fort: »Mir ist hier nur ein anderes Wesen begegnet, das ich sehen kann, und dieses Wesen heißt Lee.« »Lee?« Der Hauptmann runzelte die Stirn und zog die buschigen Brauen zusammen. »Ja, der ist hier ziemlich gut bekannt - ein übler Störenfried, um ehrlich zu sein.« Leonardo nickte matt. »Ich kann Ihnen auch sagen«, fuhr er nach einer Pause fort, »dass ich ins Netzwerk geschickt wurde, um Lee aufzustöbern - ich glaube, von Hochmeister Fang. Denn Lee verursacht auch in unserer Welt ein paar Probleme. In der Welt außerhalb des Netzwerks also. Haben Sie je vom Koboldfieber gehört?« »Ich weiß nicht recht«, antwortete der Hauptmann. »Das scheint eher in Ihre Welt zu gehören als in meine.« »In meine Welt gehört das sicher«, erwiderte Leonardo. »Die Leute, die das Signalnetzwerk benutzen und die Sie Sender und Empfänger nennen, bekommen manchmal seltsame Botschaften, die sich keiner erklären kann und die sie auf merkwürdige Ideen bringen - so merkwürdig, dass die Leute mitunter sogar gewalttätig oder verrückt werden. Diese Krankheit nennt man Koboldfieber, und der Hochmeister hat sie offiziell zu einer Epidemie erklärt. Und warum auch immer: Ich gelte als Ex- 137 perte, was diese Krankheit anlangt. Also wurde ich beauftragt, das Problem zu lösen, ohne aus Fang irgend schlau geworden zu sein.« Leonardo blickte niedergeschlagen auf die Notiz am Schwarzen Brett. Der Hauptmann sah ihn ein wenig mitleidig an. »Ich fürchte, über Fang kann ich Ihnen kaum etwas sagen.« Er wies auf seine Rangabzeichen. »Das ist vertraulich, wissen Sie. Aber Lee steht auf einem anderen Blatt.« Er bemerkte Leonardos aufmerksamen Blick. »Der ist teuflisch clever. Und es gibt vieles, was wir noch nicht über ihn wissen. Aber ich kann Ihnen erzählen, was ich sicher weiß. Er ist schnell, gar keine Frage, und er entkommt jedem. Wendig und gelenkig ist er auch. Ein sehr guter Turner. Und zweifellos bösartig. Außerdem führt er immer etwas Nichtsnutziges im Schilde. Und aalglatt ist er auch. Anscheinend kann er jede Gestalt und Größe annehmen und einem als Mann, Frau oder Kind begegnen. Wir wissen also nicht mal, welches Geschlecht der Kerl eigentlich hat. Und offen gesagt wissen wir auch nicht, ob es nur einen Lee gibt. Manchmal scheint dieser Dämon an mehreren Orten gleichzeitig zu sein.« Der Hauptmann hielt inne und warf einen raschen Blick auf die

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Uhr. »Darum würde ich sagen, dass Sie sich ziemlich was vorgenommen haben, Sir. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Erfolg. Wenn ich Ihnen noch in anderer Hinsicht dienlich sein kann...« Leonardo wollte schon die nächste seiner vielen Fragen stellen, als ihn ein aufgebrachtes Klopfen an der Tür unterbrach. »Da wartet eine Botschaft auf mich.« Der Hauptmann erhob sich rasch. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir... Ich muss hier abschließen. Das Büro darf nicht offen bleiben. « 138 »Selbstverständlich«, sagte Leonardo und folgte ihm nach draußen. »Sie waren mir wirklich eine große Hilfe. Und vielen Dank für den Tee.« Inzwischen standen sie wieder auf der Straße. Mit einem letzten Gruß machte sich der Hauptmann eilig auf seinen Botengang und überließ Leonardo sich selbst. Niedergeschlagen setzte der Magier sich in Bewegung und folgte erneut der schier endlosen Spur. Dieser Lazarus scheint ein fähiger Bursche zu sein, dachte er. Vielleicht ist er ja demnächst kooperativer. Bloß dumm, dass er so beschäftigt ist. Unerwartet kam Leonardo das Bild der Einmachgläser in den Sinn und ließ ihn so unvermittelt anhalten, dass ein paar Boten, die dicht hinter ihm waren, erschraken. Wenn man verschiedenes Obst und Gemüse einkochen und seine Essenz konservieren kann, überlegte er, dann mag das vielleicht auch für Männer und Frauen gelten. Womöglich gab es ja einen Weg, ihre brauchbaren Eigenschaften zu bewahren, auch wenn die Leute selbst nicht da waren. Also konnte er vielleicht doch einen Weg finden, wie der Hauptmann ihm helfen konnte - auch wenn er meist als Bote unterwegs war... »Gute Idee, Leo«, sagte die leise, ernste Stimme unerwartet. »Arbeite daran weiter.« Ashleigh und ihr junger Mann Ich wollte euch doch von Liam berichten. Davinas Mutter würde dazu wohl sagen: Was wirklich zählt, ist die Gegenwart. Zunächst mal ist Liam echt klasse. Ich kenne ihn 139 schon fast mein ganzes Leben, und in den letzten Jahren hab ich ihn wirklich vermisst. Natürlich haben wir einander geschrieben, doch manchmal haben die Briefe ewig gebraucht und sind durch die Hände vieler Kuriere und anderer Reisender gegangen, denn die Blackwoods sind ja Fahrende und haben deshalb keine Signalmaschinen und solchen Kram. Ich schreibe ziemlich lange Briefe, doch die von Liam sind recht kurz. Er berichtet eigentlich nur, wo er war und wie das Wetter ist und so. Wie gesagt: Er ist kein guter Briefpartner, denn Schreiben, sagt er, ist nicht seine Stärke. Die liegt eher im Handwerklichen, im Reparieren und allen möglichen praktischen Dingen. Er hat kräftige Hände, mit denen er aber sehr behutsam sein kann. Er ist nur ein kleines Stück größer als ich, aber sehr zäh, vermutlich durch das Leben auf der Landstraße. Deshalb bekommt er auch nie eine Erkältung oder so. Er sieht aus wie alle Fahrenden, hat also eine recht dunkle Haut und schwarzes, lockiges Haar. Seit dem Vorjahr lässt er sich einen Schnurrbart wachsen, aber ich schätze, der wird noch nicht viel hermachen, sondern noch ziemlich schütter sein. Aber bei den Fahrenden haben alle Männer einen Oberlippenbart, und Liam ist ja inzwischen auch volljährig - seit letztem Sommer, genau genommen, aber darüber erzähle ich euch gleich mehr. Was mir an Liam auch sehr gut gefällt: Er redet nicht viel. Er sagt nur, was nötig ist, und denkt manchmal lange nach, bevor er überhaupt etwas sagt. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das tut, aber irgendwie weiß man, dass alles, was er sagt, hörenswert ist. Er macht nicht einfach den Mund auf und redet jede Menge Blech, wie ich es vielleicht manchmal tue. Das ist also Liam. Ich schätze, wir sind recht verschie- 140 den. Jedenfalls hab ich ziemlich viel von ihm gelernt — über das freie Land und seine Tier- und Pflanzenwelt, über die Fahrenden und so weiter. Ich denke, auch Liam hat einiges von mir gelernt, aber mitunter, wenn ich über die Stadt, die Katzenmädchen und das Koboldfieber rede, bekommt er diesen Blick, als würde er denken, das sei alles totaler Blödsinn. Wenn ich dann in die Hügel sehe oder auf den Fluss oder sonst wohin in der Natur, werde ich eigenartig ruhig und denke: Vielleicht hat er Recht - womöglich ist das wirklich alles dummes Zeug. Ach, ich wollte doch von Liams Volljährigkeit erzählen. Die wurde letzten Sommer gefeiert, als er siebzehn war. Gideon - also sein Vater - hatte alles so eingerichtet, dass mein Vater und ich den großen Tag bei den Blackwoods verbringen konnten. Ich weiß noch, dass es der vorletzte Tag unseres Urlaubs bei ihnen war. Daran erinnere ich mich deshalb so gut, weil der letzte Ferientag absolut fantastisch war, denn da haben Liam und ich uns endlich zum ersten Mal geküsst. Es war eigentlich nur ein flüchtiger Kuss, doch er hat lange nachgewirkt. Wir waren durch den stark bewaldeten Teil des Königreichs gereist, und an diesem vorletzten Tag erreichte der Wagen der Blackwoods eine Lichtung. Dort waren schon viele Wagen in einem Kreis aufgestellt, und etwa zwanzig Pferde grasten in der Nähe. In der Mitte des Kreises stand etwas Großes, doch ich konnte nicht erkennen, worum es sich handelte, weil es mit Zweigen und Blättern verdeckt war. Es stellte sich heraus, dass in allen Wagen Fahrende lebten, die von überallher gekommen und mit den Blackwoods verwandt oder befreundet waren. Es gab jede Menge Händeschütteln und viele Umarmungen, und Gideon sorgte dafür, dass mein Vater und ich jedem vor- 141

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gestellt wurden, obwohl ich angesichts all dieser Leute mindestens die Hälfte der Namen im Handumdrehen wieder vergaß. Natürlich wollte jeder vor allem Liam die Hand geben, weil es ja sein großer Tag war. Es waren jede Menge Blackwoods da - Gideons Brüder mit ihren Familien, glaube ich. Dann gab es eine Sippe namens Greening und einen großen alten Mann namens Luke Greening, der wohl der Onkel meines Vaters und anscheinend das Oberhaupt des ganzen Clans war. Dann gab es drei Brüder Constanzas, die eine Art reisenden Vergnügungspark besaßen und ein paar Artisten dabei hatten, Clowns und so. Liams Schwester Megan, die damals noch studierte, war natürlich auch da - zusammen mit ihrer Dozentin von der Universität der Feld- und Seitenwege, einer ziemlich unheimlich wirkenden Frau namens Professor Laurel Greening, die ohne Begleitung angereist und als Einzige mit einem Automobil gekommen war. Mein Vater schien sie recht gut zu kennen - wahrscheinlich, weil sie irgendwie Cousin und Cousine sind. Nachdem alle einander begrüßt hatten - was fast den ganzen Vormittag dauerte -, fing jede Familie an, etwas auf ihrem Ofen und über ihrem Lagerfeuer zu kochen und zu brutzeln. Vor jedem Wagen im Kreis schmorte eine andere Art Fleisch, und all diese fantastischen Gerüche vermischten sich. Dann gab es ein großes Gelage, bei dem alle gruppenweise im Gras saßen und Essen und Getränke miteinander teilten. Nachdem alle gegessen hatten, bis sie pappsatt waren, geschah eine Zeit lang nichts Besonderes, und jeder döste ein wenig. Als ich kurz davor war, in Tiefschlaf zu sinken, begann die Musik. Es fing mit nur einem Instrument an, einer Mandoline, glaube ich. Eine Frau saß auf den Stufen eines Wagens und 142 spielte immer wieder die gleiche Melodie - wie Maxie das früher getan hatte, wenn er Flöte übte. Ich wandte mich an Liam, um etwas zu sagen, doch Peg kam mir zuvor. »Ruhe jetzt, Ashleigh«, sagte sie freundlich. »Das ist die Volljährigkeitsmusik.« Und wirklich begannen weitere Instrumente, deren Spieler auf den Stufen anderer Wagen saßen, sich der Mandoline hinzuzugesellen. Ich konnte eine Geige und eine Ziehharmonika ausmachen - und ein Instrument, das ich nicht kannte, das Liam später aber Leierkasten nannte. Immer mehr Musikanten stimmten ein, und sehr bald konnte ich die Instrumente nicht mehr unterscheiden. Immer mehr Klänge kamen von allen Seiten der Lichtung, als würden wir von überallher mit Musik überflutet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch lauter werden könnte. Dann, als das musikalische Getümmel seinen Gipfel erreicht zu haben schien, sprangen plötzlich alle gleichzeitig auf, auch ich und mein Vater. Ich habe nicht herausgefunden, wie das eigentlich passiert ist, und kann nur sagen: Ich wusste plötzlich, dass etwas Tolles geschehen würde und ich dabei sein wollte. Das war irgendwie erschreckend. Kaum waren alle auf den Beinen, änderte sich die Musik abrupt. Es war, als hätte es bisher keine richtige Melodie gegeben, nur eine irre Mischung aller möglichen Töne, und als spielten nun plötzlich alle Instrumente synchron und begännen gemeinsam eine Melodie. Die war sehr schnell, zugleich aber auch ein wenig unheimlich. Dann sprangen alle Männer in die Mitte des Kreises und begannen einen wilden Tanz um das, was unter den Zweigen verborgen war. Sie warfen die Beine zum Himmel, schlugen Purzelbäume und hüpften hoch in die Luft. Liam allerdings tanzte nicht, denn er galt of- 143 fenbar noch so lange als Junge, bis passiert war, was nun geschehen sollte. Dann fiel mir auf, dass die Männer beim Tanzen die Zweige von dem Ding in der Mitte rissen und dass sich darunter ein toller, nagelneuer Wagen befand, der für Liam bestimmt war. Als der Wohnwagen von seiner Blätterhülle befreit war, hörten Musik und Tanz plötzlich auf, und Gideon Blackwood und Luke Greening gingen langsam auf Liam zu, blieben einen Moment links und rechts von ihm stehen, legten ihm jeder eine Hand auf die Schulter und führten ihn zu seinem neuen Wagen. Dann war die Zeit für Ansprachen gekommen. Die Reden waren recht kurz und wurden in einer Art Singsang vorgetragen - fast als würden Gedichte aufgesagt. Hinterher konnte ich mich an den Text nicht mehr erinnern und habe Professor Greening danach gefragt. Sie hat mir die Gedichte aufgeschrieben. Luke Greening hat als Erster das Wort ergriffen und Folgendes gesagt: »Liam Blackwood, Sohn des Gideon: Dies ist dein Wagen, Den wir dir heute zusprechen -Am Tag deiner Volljährigkeit.« Dann gab Gideon seine Zeilen zum Besten: »In diesem Wagen, mein Sohn, Sollst du wohnen und das Land bereisen. In diesem Wagen sollst du deinen Beruf ausüben Und mit der Frau deines Herzens leben. In diesem Wagen sollst du deine Kinder großziehen Nach den Sitten und Gebräuchen der Fahrenden, 144 Auf dass auch sie lernen mögen, das Land Auf altüberlieferten Wegen zu durchstreifen.« Danach war wieder Luke Greening dran: »Liam Blackwood, Mögest du dich auf deine Hände stets verlassen

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können, Und möge dein Gewerbe dir gerechten Lohn bringen! Möge deine Frau dir treu sein, Mögen deine Kinder mutig und stark werden, Und möge dein Weg durch das Land Geradlinig und aufrichtig sein Bis ans Ende deiner Tage.« Dann nahmen die beiden Männer die Hand von Liams Schultern. Der junge Mann ging allein die Treppe zu seinem Wagen hinauf und drehte sich auf der Türschwelle um, so dass jeder ihn sehen konnte. Dann war es an ihm, etwas zu sagen, und seine Stimme war hell, aber kräftig: »Möge mein Weg durch das Land Geradlinig und aufrichtig sein Bis ans Ende meiner Tage.« Dann wiederholten alle auf der Lichtung die letzten Worte: »Liam Blackwood, Möge dein Weg durch das Land Geradlinig und aufrichtig sein Bis ans Ende deiner Tage!« 145 Einen Augenblick war alles still. Dann begann die Musik von Neuem, und plötzlich musste ich weinen. Mein Vater kam und nahm mich in die Arme, und ich merkte, dass auch er weinte. Ich erinnere mich kaum, was an diesem Tag weiter geschehen ist. Es wurde gefeiert und getrunken, und die Musik spielte, bis es sehr spät war. Dann wurden vor allen Wagen Laternen entzündet, und es gab noch mehr Tanz, Lieder und Geschichten, und ein paar Artisten aus der Schaustellertruppe der Brüder Constanzas führten ihre Kunststücke vor. Mein Vater und ich haben sogar ein paar mal getanzt. Wir wussten nicht recht, wie das ging, aber inzwischen hatten alle jede Menge getrunken, und es kam offenbar gar nicht so darauf an. Am Ende des Abends begann es zu regnen, und die alten Leute meinten, das sei ein gutes Omen für Liam, denn er könne die erste Nacht in seinem Wagen sicher und warm verbringen und werde daher sein Leben lang warm und sicher schlafen. Dann legten sich alle in ihre Wagen, und ich schlief ein, kaum dass ich in meiner Koje lag. Am nächsten Morgen besuchte mich Liam und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm spazieren zu fahren. Ich fühlte mich sehr geehrt, weil ich die erste Person war, die ihn in seinem neuen Wagen begleiten durfte. Zunächst machte er mich mit seinem Pferd - einer Stute namens Neil - bekannt, dann fuhren wir ein wenig durch die Gegend, und schließlich picknickten wir an einem Bach. Ich weiß noch, dass es Bratenfleisch vom Vorabend gab. Der Wagen war ganz einfach eingerichtet. Wände und Kojen bestanden aus rohen Brettern, und es gab einen 146 nagelneuen schwarzen Eisenofen, dessen kleiner Schornstein durchs Dach lugte. Bald sprachen wir über dies und das, und ich fragte Liam, wie er das Wageninnere streichen und dekorieren wolle. Viele Fahrende bemalen ihre Wagen mit Blumen oder Tieren oder so, meist in total langweiligen, blöden Tönen. Liam aber sagte, er habe ein paar Farben und wir könnten den Wagen ja gemeinsam gestalten. Dann brachte er wirklich leuchtende Farben zum Vorschein - blutrot, vanillegelb und giftgrün -, die mich an die schrägen Bilder in der Wohnung von Charles und Sally denken ließen, an all die Farbspritzer und expressiven Linien. Plötzlich wusste ich genau, was wir zu tun hatten, und ehe wir uns versahen, knallten wir schon Farbe an die Wände, den Boden, die Decke und uns selbst und lachten dabei wie verrückt. So hatte ich endlich meine gewaltigen kreativen Energien von der Leine gelassen, und Liam besaß nun einen Wagen, wie ihn keiner je gesehen hatte! Ich weiß nicht, was die Fahrenden davon hielten, aber er sagte, ihm gefiele es sehr gut, weil es ihn an mich erinnere. Er hat ihn jahrelang so gelassen - also wird er ihm wohl wirklich gefallen haben. Und dann war es Zeit, zur Lichtung zurückzukehren. Die meisten Wagen waren inzwischen verschwunden. Meine Ferien waren natürlich auch zu Ende, und mein Vater und ich mussten wieder in die Stadt zurück. Gideon und Peg wollten uns an einem Kutschenhalt am Rand des großen Waldes absetzen. Liam hatte jetzt natürlich seinen Wagen und kam nicht mit, sondern musste wohl einen eigenen Weg einschlagen. In diesem Moment also hab ich ihn endlich geküsst, weil er mir den schönsten Tag meines Lebens geschenkt hatte und ich damit 147 einfach nicht bis zum nächsten Mal warten konnte. Danach standen wir nur da und sahen einander einen Moment in die Augen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, alles sei komplett hoffnungslos. Ich versuchte zu schlucken, konnte es aber nicht und brachte nur »Ach, Liam!« heraus. Dann fuhr er davon, und auch für uns wurde es Zeit. Eine Weile waren wir noch mit Gideon und Peg zusammen, sehr bald aber war ich nur noch mit meinem Vater unterwegs. Auf dem Heimweg haben wir kaum geredet, doch ich durfte mich an ihn kuscheln - wie damals, als ich ein kleines Mädchen war. Ich weinte wieder ein bisschen, wusste aber nicht, ob vor Freude oder vor Schmerz. Eine unerwartete Lieferung Der Montagmittag im »Pflug« war sehr ruhig verlaufen, und Ruth hatte die Gelegenheit genutzt, Gläser abzustauben und zu polieren, die in schwer zugänglichen Ecken hinterm Tresen standen. Als sie das letzte Glas an seinen Platz stellte, suchte sie in den Taschen ihres Kittels schon nach einer Zigarette.

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Während sie den Rauchkringeln nachsah, die sich langsam im Schankraum verteilten, dachte sie daran, dass montags nie viel los war. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob es sich überhaupt lohnte, das Gasthaus am ersten Tag der Woche zu öffnen, beschloss aber, diese Frage zunächst mit Leonardo zu besprechen, der sich dazu freilich erst von seiner Signalwache losreißen und bei ihr vorbeikommen musste. 148 Ruth hatte gerade beschlossen, wenigstens früher zuzusperren und sich heute mal einen Mittagsschlaf zu gönnen, als sie zu ihrer nicht gelinden Überraschung ein schweres Pferdefuhrwerk auf den Hof hinterm Gasthaus biegen hörte. Während sie noch überlegte, ob sie das Gefährt ignorieren und einfach zusperren sollte, kamen ein Mann und eine Frau in den Schankraum. Die Frau war sehr kräftig gebaut und stämmig, der Mann klein, dünn und drahtig. Beide trugen die braune Ledermütze und -schürze der Genossenschaft der Spediteure, und der Mann schwankte unter dem Gewicht einer nicht eben großen Kiste. »Speziallieferung«, sagte er und wuchtete seine Last ächzend auf den Tresen. »Haben Sie einen Musikapparat bestellt?« Ruth musterte die Kiste skeptisch. »Müsste der nicht etwas... größer sein? Ich wollte doch ein frei stehendes Gerät. Wie hieß das noch gleich... ach ja, Maestro« »Ganz recht. Das hier ist nur die Musik, das sind nur die Lieder. Der Apparat selbst ist noch draußen. Den laden wir gleich ab. Wie steht's denn mit 'ner Flasche Bier?« »Ja, diese Arbeit macht durstig«, brummte die dicke Frau. Ruth bemerkte, dass sie ihre massige Gestalt auf einen Barhocker gehievt hatte und keine Anstalten machte, ihn bald wieder zu verlassen. Widerwillig schob sie zwei Flaschen Bier über den Tresen. »Ah! Das tut gut!«, ächzte die Frau, nachdem sie einen langen Zug genommen hatte. »Furchtbare Strecke!«, jammerte der Mann. »Wir haben drei Tage gebraucht, um herzukommen. Benzin ist schon wieder knapp. Also hat der Chef uns verdonnert, ein altes Fuhrwerk zu nehmen, aber wir konnten keine 149 sechs Pferde auftreiben und mussten uns mit fünf Tieren begnügen. Eins davon lahmt auch noch! Und die Straßen hier raus sind einfach grauenhaft - abgrundtiefe Spurrillen! Und obendrein Möwen, wohin man sieht.« »Die machen einen rasend, die Viecher«, ergänzte die Frau. Während dieses Reiseberichts war Ruth auf den Tresen gestiegen und hatte den Deckel der Kiste aufgehebelt. Darunter entdeckte sie viele eng zusammengerollte Pergamente, zog eins heraus, kehrte an ihren üblichen Platz hinter der Theke zurück und breitete es auf dem Tresen aus. »Sie sind wohl eine große Musikfreundin?«, fragte der Mann. Ruths Stöbern hatte ein rechteckiges, hellgelbes Pergament zum Vorschein gebracht, etwa so breit wie der Tresen. Es war mit einem Wirrwarr gezackter und geschwungener Linien in verschiedenen Farben bedeckt und erinnerte sie ein wenig an die Graphen, die sie als Mädchen im Mathematikunterricht hatte zeichnen müssen. Sie drehte das Pergament um, hielt es dann gegen das Licht und blinzelte hindurch, verstand aber noch immer nicht, was die Hieroglyphen besagen mochten, die das Blatt zierten. »Rosamunde«, sagte der Mann wehmütig. »Ein herrliches Lied, umwerfend. Meine alte Mutter hat es sehr geliebt. Nach einiger Zeit erkennt man die alle sofort.« »Rosamunde!«, brummte die Dicke nur verächtlich und nahm wieder einen langen Zug Bier. »Und wie funktioniert das Ganze?«, fragte Ruth. »Jedes Pergament erzeugt eine Melodie«, erklärte der Mann, »und jede farbige Linie steht für ein Instrument. Man schiebt dieses Blatt in den Schlitz des Apparats, 150 und das Gerät liest die Linien und verwandelt sie in Musik. Viel mehr kann ich Ihnen darüber leider nicht sagen - ich bin hier ja nur der Fahrer, müssen Sie wissen.« »Diese Arbeit macht durstig«, murmelte die dicke Frau erneut und blinzelte bedeutsam in ihr leeres Bier. Doch Ruth ignorierte den Wink mit dem Zaunpfahl und räumte die Flaschen schroff ab. »Also los«, befahl sie. »Laden wir das verdammte Ding ab, damit ihr weiterkommt.« Draußen stieß Ruth auf fünf unruhige, schlecht miteinander harmonierende Pferde, die noch immer vor ein schweres Fuhrwerk mit acht Rädern geschirrt waren, das praktisch den ganzen Hinterhof ausfüllte. Die Achsen des Wagens ächzten unter dem Gewicht eines riesigen, unter einer Plane verborgenen Gegenstands, der fast an die Fenster in der ersten Etage des Gasthauses reichte. »Das Ding ist ja gigantisch«, beschwerte sich Ruth, und ihre Stimme stieg gefährlich schrill in die Höhe. »Ihr Schwachköpfe! Ihr habt das falsche Gerät geliefert!« Der kleine Schwachkopf grub in den Taschen seiner Schürze, brachte schließlich einen vielfach gefalteten Zettel zum Vorschein, beäugte ihn unsicher und drehte ihn mal auf die eine, mal auf die andere Seite. »Alles in bester Ordnung«, meinte er dann. »Artikel: Musikapparat. Menge: einer. Modell: Mammut. Komplett mit zweihundertsechsundfünfzig Melodien. Genau wie bestellt. Also - wo soll er hin?« »Aber ich hatte den Maestro mit vierundsechzig Liedern geordert, nicht dieses Mammut«, brüllte Ruth. »Das Mammut ist für Konzertsäle gedacht und passt noch 151 nicht mal durch die Tür! Das müsst ihr wieder mitnehmen.«

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Der Kleine kratzte sich am Kopf. »Tut uns leid, aber das geht nicht. Wir fahren nicht ins Auslieferungslager zurück, wissen Sie, jedenfalls nicht direkt. Wir ziehen weiter nach Norden. Dort müssen wir in ein paar Tagen von einer Fabrik was abholen. Eine große Lieferung Porzellan. Sie wissen ja, wie das ist - Logistik und so. Aber ich hab eine Idee! Wir geben der Firma Bescheid, und die schickt bestimmt früher oder später jemanden vorbei, um das Gerät abzuholen. Vielleicht sogar uns. Wäre das nicht nett?« »Also - wo soll es hin?«, steuerte die Dicke bei. »Es ist doch nur für ein paar Wochen«, erklärte der Kleine. Ruth klopfte sich verzweifelt an die Schläfen. Schließlich hatte sie doch noch eine Idee. »Ich weiß nur einen Ort, der möglicherweise groß genug dafür ist«, sagte sie. »Fahrt auf der Straße, auf der ihr gekommen seid, bis zur Kirche weiter. Dann an der Kreuzung rechts...« Als das Fuhrwerk quietschend und ächzend den Hügel hinauf zur Signalwache rollte, fragte sich Ruth, was Leonardo dazu sagen würde. Dann aber wischte sie diesen Gedanken beiseite, sperrte die Tür zu und zog sich auf den Heuboden zurück, um endlich ihr Nickerchen zu machen. 152 Die Geschichte des Zeitalters der Könige Im zweiten Jahr der Regentschaft von König Matthew wurde Fang, der Anführer der Wolfsjungen, zu einer Privataudienz in den Palast zitiert, und bei dieser Gelegenheit trafen König und Bandenchef jene berüchtigte Abmachung, die zur Auflösung der alten Stadtmiliz und zur Bildung der Königlichen Wolfsjungen-Miliz führte. In den folgenden fünf Jahren gelang es Fang, die Wolfsjungen in eine disziplinierte und bestens organisierte Truppe zu verwandeln, die sich schließlich in praktisch jeden Bereich unseres Alltagslebens drängte. Damals beging König Matthew auch den fatalen Fehler, sich von Fang abhängig zu machen - und zwar nicht nur, was die Aufrechterhaltung unerlässlicher Dienstleistungen der modernen Verwaltung anlangte, sondern auch in Hinsicht auf Beratung und Anleitung, an denen es dem jungen König bisher gefehlt hatte. Aus zeitlicher Ferne erkennen wir heute leicht, wie töricht es von Matthew war, so viel Vertrauen in eine derart zweifelhaft beleumundete Gestalt wie Fang zu setzen. Wir müssen uns jedoch vor Augen halten, dass Matthew relativ unerfahren war und in diesen Dingen bereits die Hilfe der Berater seines Vaters verschmäht hatte. So wird plausibel, wie leicht ihn die aalglatten Phrasen jenes Mannes verführen konnten, der sich die Macht bald darauf widerrechtlich aneignete. Im siebten Jahr seiner Regierung ernannte König Matthew Fang zum Obersten Berater, richtete ihm eine bestens ausgestattete Büroflucht im Zentrum des Palastes ein und verlieh ihm den Titel »Leiter der Innenbehörde«. Von da an ging es mit dem Königshaus - wie wir sehen werden - unwiderruflich bergab. 153 Kurz vor Beginn des zweiten Jahrzehnts seiner Regentschaft bereiteten Matthew die mangelnden Erfolge seines Grenzkriegs zunehmend Sorgen, und er beschloss, selbst an die Südgrenze zu reisen, um die Leitung des Feldzugs in die Hand zu nehmen. Der Usurpator Fang nutzte die Abwesenheit des Königs natürlich sofort dazu, die hauptstädtischen Steuern und Abgaben zu erhöhen und im Bereich der öffentlichen Ordnung und der Polizei einige harte und brutale Neuerungen einzuführen. Der Grenzkrieg tobte weitere sechs Jahre, unsere Kollegen von der Militärgeschichte haben uns aber versichert, dass Matthew allenfalls an einigen wenigen Ereignissen dieses Krieges direkt beteiligt war. Wir dürfen uns daher berechtigterweise fragen, womit der König in jenen Jahren beschäftigt war. Sicher ist jedenfalls, dass Matthew erst im sechzehnten Jahr seiner Regentschaft in die Hauptstadt zurückgekehrt ist. Und selbst danach hat er offenbar keinen Anteil mehr an der Regierung des Landes gehabt. In offiziellen Verlautbarungen jener Zeit - etwa im Königlichen Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger - wird der König als »unpässlich« bezeichnet, und tatsächlich werden jene Jahre oft »Zeit der Unpässlichkeit« genannt. Doch dem geschickten Gebrauch beschönigender Begriffe zum Trotz: Die traurige Wahrheit ist, dass der König die nächsten vier Jahre als Gefangener des Usurpators verbrachte. Die bekannteste, in vielen Kinderbüchern wiedergegebene Illustration von Matthews Gefangenschaft zeigt ihn tief gebeugt in einer winzigen Zelle auf einer rauen Bank sitzend, hoch über sich ein kleines, vergittertes Fenster. Wir wissen inzwischen, dass die Wirklichkeit anders aussah und der König recht angenehm an geheim gehaltenem Ort auf einem Landgut etwa eine Tagesreise 154 von der Hauptstadt entfernt unter Hausarrest gestanden hat. Das Gutshaus war von mehreren Hektar üppigen Grüns umgeben, auf denen der König sich nach Lust und Laune bewegen konnte. Die Mauern und Tore des Parks allerdings waren streng bewacht, so dass keine Aussicht auf Entkommen zu bestehen schien. Das also war das Gefängnis von König Matthew, dem es übrigens schon früh gelang, zu seinen Anhängern Kontakt aufzunehmen. An diesem Punkt unserer Geschichte taucht Mrs Bannister wieder auf, denn die alte Freundin des Königs hat letztlich seine Befreiung herbeigeführt. Charles Bannisters Vater Henry war im vierzehnten Jahr von Matthews Regentschaft gestorben, und Charles hatte mit dreiunddreißig Jahren die Leitung der Firma übernommen. Weil die Ehe der jungen Bannisters leider nicht mit Kindern gesegnet war, hatte Sally Bannister sich darauf verlegt, aktiv an den Angelegenheiten der Firma Anteil zu nehmen. Nach erfolgreichem Abendstudium an der Akademie für Maschinenbau war sie Leiterin der Abteilung Instandhaltung und Wartung der Bannister Automobilwerke geworden und trug in dieser Position wesentlich dazu bei, dass es dem König letztlich gelang, mit der Außenwelt

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Kontakt aufzunehmen. Zu den Annehmlichkeiten, die Matthew in der Gefangenschaft zur Verfügung standen, gehörte ein kleines Bannister-Automobil, mit dem er nach Belieben über das Landgut brausen konnte. Natürlich wurde das Fahrzeug regelmäßig gewartet und zu diesem Zweck jährlich zu einer gründlichen Inspektion ins Bannister-Werk geschafft. Nachdem der König von der neuen Tätigkeit seiner alten Liebe erfahren hatte, gelang es ihm, eine Nach- 155 richt im Auto zu verstecken, als es zur Inspektion gebracht wurde. Vielleicht haben einige von euch Eltern oder Großeltern, die noch einen alten Bannister fahren, und finden es womöglich interessant, die Lenkung dieses Wagens zu untersuchen. Statt des Speichenlenkrads, das wir heute benutzen, werdet ihr einen senkrechten Lenkhebel entdecken, auf dem ein zylinderartiger Handgriff aus Kork sitzt, der allmählich verschleißt. Um ihn auszutauschen, müssen Mechaniker den Sicherungsbolzen am Ende des Griffs losschrauben. Dann kann der alte Kork bequem abgenommen und durch einen neuen ersetzt werden. Unter dem Sicherungsbolzen lässt sich leicht ein kleines Stück aufgerolltes Pergament verstecken, und hier verbarg der König denn auch seine Nachricht und vertraute auf die Loyalität der mit Instandsetzung und Wartung beauftragten Mechaniker der Firma Bannister, also darauf, dass sie ihrer Chefin seine Nachricht zur Kenntnis bringen würden. So kam es, dass Mrs Bannister nach einer Pause von sechs Jahren vom Verbleib ihres alten Freundes erfuhr. Und von da an planten die Bannisters insgeheim, Matthew wieder in sein rechtmäßiges Amt als Regent aller Menschen unseres Landes einzusetzen. Unterdessen sah sich die Automobilfabrik Bannister einer Reihe immer dringlicherer Probleme gegenüber. Der Krieg um die Steinwüste und ihre Energiequellen hatte im siebten Jahr der Regierung von König Roderick begonnen und etwa dreißig Jahre ohne Unterbrechung getobt. In dieser Zeit hatten die verfeindeten Staaten einander immer unerbittlicher bekriegt, so dass - trotz der 156 Beliebtheit der Bannister-Automobile - immer weniger Kraftstoff für den Betrieb von Motorfahrzeugen zur Verfügung stand. Die Brennstoffhändler schlugen natürlich rasch Profit aus dieser Situation, doch die Firma Bannister litt unter dem ständigen Rückgang der Automobilnachfrage. Aufgeweckte Leser mögen sich vielleicht wundern, warum die Bannisters sich unter diesen Umständen nicht wieder auf die Herstellung von Kutschen und Fuhrwerken verlegten, mit deren Produktion die Firma doch seit Generationen gute Geschäfte gemacht hatte. Die Antwort ist, dass etwa zu dieser Zeit eine schlimme Epidemie unter den Pferden der Hauptstadt zu wüten begann. Weithin glaubte man, die fragliche Krankheit, die im Volksmund Würgegriff hieß, sei unter den Fahrstuhlponys eines Wohnblocks in der Westvorstadt ausgebrochen und habe sich von dort unaufhaltsam in der ganzen Stadt ausgebreitet. Jedenfalls herrschte bei Henry Bannisters Tod großer Mangel an Zugtieren, unter dem Handel, Industrie und Landwirtschaft litten. Die Nachfrage nach Automobilen und Pferdefuhrwerken war also gleichermaßen gesunken. Eine Reihe von Mitarbeitern der Firma schlug verschiedene Auswege aus diesem Dilemma vor, doch erst Charles Bannister kam auf die Idee, einen Motor zu entwickeln, der eine alternative Energiequelle nutzte. Dafür gründete er die Entwicklungsabteilung der Firma und sandte Prospektoren in jeden Winkel des Königreichs. Doch obwohl die Ingenieure die Arbeit sofort aufnahmen, sollte es einige Jahre dauern, ehe Charles eine realisierbare Lösung gefunden hatte. Beim Tod des alten Henry Bannister hatte die Familie in einer prächtigen Villa am Rand der Westvorstadt 157 gewohnt und dort ein reiches und angenehmes Leben geführt. Bald aber zeigte sich, dass das Vermögen von Charles und seiner Frau dahin schmolz und der Luxus für sie nicht länger erschwinglich war. Darum wurde die Familienvilla im sechzehnten Jahr der Regierung von König Matthew verkauft, und die jungen Bannisters zogen in eine Eigentumswohnung in einem anderen Stadtteil. Diese Wohnung befand sich in einem Neubau namens Considine-Turm, der in der Gegend lag, die früher mal Unterstadt hieß, nun aber weiträumig und von Grund auf saniert wurde. Mochten die Bannisters finanziell auch etwas kürzer treten müssen, der Verkauf ihres alten Hauses trug ihnen so viel Geld ein, dass sie weiterhin einen Lebensstandard genossen, um den sie noch heute viele beneiden würden. Kurz nach ihrem Einzug gaben sie eine Party. Oberflächlich betrachtet schien diese Feier nur ein zwangloses Zusammensein von Freunden, doch Mrs Bannister verfolgte einige weniger offenkundige Zwecke. Als Freidenker nämlich waren die Eheleute zunehmend beunruhigt über das brutale Regiment von Hochmeister Fang. Als die Party stattfand, hatte Mrs Bannister zudem die erste verschlüsselte Botschaft des gefangenen Königs bekommen und deshalb beschlossen, mit Unterstützung ihres Mannes Persönlichkeiten zu gewinnen, die heimlich darauf hinarbeiten sollten, Matthew aus dem Gefängnis zu befreien und ihn wieder in das Amt einzusetzen, das ihm zustand. Die Gästeliste enthielt daher einige Leute von beträchtlichem Einfluss. Mrs Bannister wollte unterm Deckmantel belanglosen Partygeredes ein paar heikle Annäherungsversuche machen, um potenzielle Anhänger zu ermitteln. 158 Ihre mit brauner Tinte von Hand auf einen kleinen Streifen Pergament geschriebene Gästeliste blieb wie durch

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ein Wunder erhalten und hat sich als faszinierendes historisches Dokument erwiesen. Unter den Gästen befand sich beispielsweise Michael Brown - ein alter Bekannter der Bannisters aus Studienzeiten und nun Eigentümer des Michael Brown Verlags. Wir glauben, dass die Bannisters an ihn herangetreten sind und er bei der Vorbereitung der Flucht des Königs Navigationshilfe geleistet hat. Eine Miss Veronique Moreau, früher Leitender Clown im längst aufgelösten Amt für Narren und Spaßvögel, wurde ebenfalls angeworben und erwies sich als fähige und entschlossene Verschwörerin. Sie war in den letzten Jahren der aktiven Regentschaft von König Matthew dessen Kanzleichefin und hatte sich offenbar zunehmend darüber geärgert, wie Fang sämtliche Entscheidungen an sich zog. Thomas Slater, ein weiterer Freund aus Studienzeiten, war ebenfalls eingeladen, konnte aber nicht kommen und ließ sich entschuldigen. In den Monaten nach der Party versammelte Mrs Bannister eine kleine, aber entschlossene Gruppe von Unterstützern um sich, die entschlossen war, den Usurpator zu stürzen und Matthew wieder in sein rechtmäßiges Amt einzusetzen. Wir glauben, dass es Miss Moreau durch Manipulation einiger Signalmaschinen im Palast gelang, die seelische Ausgeglichenheit des Usurpators zu untergraben und ihn auf jene Talfahrt zu bringen, die mit seiner schmählichen Niederlage endete. Sicher wissen wir, dass es den Bannisters schließlich glückte, den Ort zu ermitteln, an dem der König gefangen saß, und dass sie es waren, die den Plan ausbrüteten, der letztlich zu seiner Befreiung führte. (aus Band 4: Die Regierung von Fang dem Usurpator) 159 VIERTES KAPITEL Das sterbende Land Ich habe erneut geschlafen und geträumt, und in meinem Traum habe ich die Möwen gesehen. Wirbelnd und mal engere, mal weitere Kreise ziehend, bilden sie eine weiße, sich immerfort wandelnde Wolke, die als Schleier zwischen meiner und eurer Welt liegt. Manchmal ist diese Wolke dick und verbirgt alles, doch mitunter, wenn die Möwen nicht so dicht nebeneinander fliegen, ist sie dünner, und mein Blick durchdringt den Schleier für einen Moment. Dann kann ich in eure Welt sehen und begreife langsam, dass in der Welt der Männer und Frauen alles nicht mehr so ist, wie es war oder sein sollte. Denn in eurer Welt verdorrt das Getreide auf den Feldern, und die Fuhrwerke überschlagen sich. In eurer Welt rennen Kinder wie Wilde durch die Straßen, und Bettler streiten um ein Stück Brot. Überall wehen die Winde mal von hier, mal von dort, während die Möwen ziellos kreisen. Und hoch über alldem thront einer, dessen Herz aus Stein ist. Einer, dessen Hand hart wie sein Herz ist. Einer, dessen Denken unerbittlich wie seine Hand ist. Einer, dessen Verstand gestört ist. 161 Ja, ich kann ihm tief ins Gehirn schauen und die Risse und Spalten darin sehen. Meine Schultern fühlen das Beben in seinem Hirn, und meine Ohren dröhnen, während es zerspringt und die massiven, unregelmäßigen Teile für immer verrutschen. Ich fühle mich hierhin und dorthin geschleudert, bis ich links und rechts, oben und unten nicht mehr unterscheiden kann. Irgendwie weiß ich, dass sein Gehirn nie mehr in Ordnung kommt, und während es unaufhaltsam in den Wahnsinn taumelt, wirft in meiner Welt - der Welt des Netzwerks - der Widerling einen immer bedrohlicheren Schatten. Jetzt aber sehe ich in eurer Welt jemand anderen. Über deine Maschine gebeugt sehe ich dich, Leonardo — klein und allein im Vergleich zu den Gewalten, die sich dir entgegenstellen, und noch immer verwirrt und hilflos. Ich sehe dich jetzt viel deutlicher: den Magier; den, dessen prüfende Finger bis ins Herz meiner Welt reichen; den Suchenden; den Visionär; den wahrhaft Strebenden. Denn endlich habe ich dich angesprochen, Leonardo, und endlich hast du mich gehört. Nachdem du erschrocken aus den hallenden Sälen der Verwirrung geflohen warst, flüsterte ich dir ins Ohr und zwang dich, auf den Boden zu sehen, damit du die Spur des Widerlings entdeckst und ihr folgst, doch leider warst du zu langsam. Danach habe ich dich beobachtet, als du mit dem anderen gesprochen hast, dem Hauptmann, der das Netzwerk gut kennt und Lazarus heißt. Nun, da du ihn getroffen hast, weiß ich, dass du seinen Wert erkannt und verstanden hast, dass er dir Kraft geben kann. Du weißt, dass ihr gemeinsam vielleicht stark genug seid, dem Wider- 162 sacher entgegenzutreten, und dass ihr siegen könnt, wo ihr als Einzelkämpfer zum Scheitern verurteilt gewesen wärt. Und vielleicht bringst du ja jetzt - unterstützt von Lazarus - endlich die Kraft auf, mir mit deiner Magie zu helfen. Ich spüre, dass wir einander näher kommen, Leonardo - du, ich und der Widersacher. Doch wie und mit welchen Mitteln du vorgehen wirst, bleibt mir verborgen. Was diese Dinge angeht, weiß ich ohnehin, dass deine Magie stärker ist als die meine. Doch ich spüre, dass sich die anderen aus weiter Ferne nähern — die, auf deren Hilfe wir uns noch verlassen müssen und ohne die wir weiterhin scheitern werden. Ob sie in deiner oder meiner Welt leben, weiß ich nicht. Doch durch eine Lücke in der Möwenwolke habe ich sie flüchtig erblickt und gezählt und weiß nun, dass sie nur

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zu dritt sind. Einer rennt, Einer führt, Einer hinkt. Und ein Letztes fällt mir ein, Leonardo. Es gibt noch etwas, das dir die Sicht versperrt, ein massives, unnachgiebiges Hindernis, das dir im Weg steht und deinen Blick von dem abhält, was du erreichen musst. Dieses Hindernis ist dein Zorn, Leonardo, der dich nicht sehen lässt. Nimm dich vor deinem Zorn in Acht, denn er ist es, der verschleiert, was du am nötigsten brauchst. Hüte dich vor deinem Zorn, Leonardo. Hüte dich! 163 Ashleigh begegnet den Verschwörern Bis zum Rauswurf bei den Katzenmädchen hatte ich wenig darüber nachgedacht, ob mir mein Leben gefiel oder nicht, und meine Zeit einfach mit dem verbracht, was anlag. Ich hatte mich nie richtig gelangweilt und darum nie innegehalten, um über alles nachzudenken. Doch als ich nun die ganze Zeit mit meinem Vater in der Wohnung hing, schien alles zum Stillstand gekommen zu sein, und ich begann mich zu fragen, wie es weitergehen sollte. Auch mein Vater schien der personifizierte Stillstand zu sein, und ich merkte, dass er sich so seine Gedanken über die Dinge machte - auch wenn er damals womöglich gar nicht genau wusste, was er tat. So war es eigentlich ganz interessant, sich zu langweilen (ich nehme an, ihr wisst, was ich meine). Mir gingen jede Menge Dinge durch den Kopf: die Stadt und meine Freunde, die Schule und die Katzenmädchen, mein Vater und die Wohnung, meine Mutter und Maxie bei Großvater auf dem Land. Außerdem dachte ich an die Blackwoods und natürlich in allererster Linie an Liam. Damals hab ich ungemein viel an ihn gedacht. Meist beim Einkaufen oder beim Kochen - oder wenn ich Hausarbeiten erledigte, die eigentlich mein Vater hätte übernehmen müssen. Oder wenn ich einfach nur dasaß. Meist dachte ich zunächst an seinen Wagen und das Leben auf der Landstraße und dann vielleicht daran, wie ich Liam von meinem Leben in der Stadt erzählt und wie er mich dabei angeschaut hatte - nämlich so, als täte ich ihm ein wenig leid. So begann ich, anders über die Großstadt zu denken und zu begreifen, wie scheußlich sie eigentlich war. 164 Zum Beispiel behaupteten stets alle, in den Turmresidenzen zu wohnen sei eine tolle Sache, aber eigentlich war das nur ein heruntergekommener alter Wohnblock mit kaputtem Aufzug und einem Treppenhaus, in dem es nach Desinfektionsmittel und Urin stank. Wenn ich irgendwohin wollte, musste ich erst acht Treppen runterlaufen und dann ständig die Augen offen halten und mich vergewissern, dass mir niemand folgte. Und das, obwohl die Westvorstadt als bestes Viertel der Stadt galt! Andere Gegenden — zum Beispiel das Verwaltungsquartier, in dem ich zur Schule ging, oder gewisse Gebiete längs der Nordstraße hinterm Palast - betrat man besser nicht allein, weil man nie wusste, wer sich plötzlich vor einem aufpflanzen mochte. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich manchmal den totalen Horror davor, aus dem Haus zu gehen. Mein Vater zeigte mir dann immer den Kram im Anzeiger, wo es hieß, König Matt und Hochmeister Fang würden jede Menge zusätzliche Patrouillen ausschicken und die Straßen sicherer machen. Mir schienen sie nie auch nur ein wenig sicherer: Sie waren weiterhin vermüllt, und immer wieder lagen Hundekadaver und ausgebrannte Autos herum. Doch daran hab ich mich im Lauf der Zeit wohl gewöhnt, so dass mir das inzwischen nicht mehr so zu schaffen macht. Aber ich schätze, der eigentliche Grund, warum ich den Katzenmädchen anschloss, war eben doch, dass mir nicht gefiel, welche Entwicklung die Dinge in der Stadt genommen hatten, und dass ich versuchen wollte, mein Teil dazu beizutragen, sie wieder in Ordnung zu bringen. Dann erschien eines Tages eine kurze Bekanntmachung im Signalnetzwerk, wonach Hochmeister Fang auch jungen Frauen ermöglichen wolle, einen Beitrag 165 zum Kampf für Gesetz und Ordnung zu leisten. Es hieß, wir würden Selbstverteidigungskurse für Fortgeschrittene und solche Dinge bekommen, und ich dachte: Prima, das ist genau das Richtige für mich. Habe ich schon erzählt, dass ich damals wegen all unserer familiären Probleme ein wenig über die Stränge schlug und vermutlich ziemlich durcheinander war? Gut möglich, dass ich mich spontan verpflichtet habe. Und ich glaube, es hat meinen Vater echt umgehauen, als ich in Uniform nach Hause kam. Wie schon gesagt, wurde meine ganze Gruppe gefeuert, nachdem wir alle Signalmaschinen eines Wohnblocks auf die Straße geworfen hatten. Das hat mich wirklich zum Nachdenken darüber gebracht, was diese Katzenmädchensache bringen sollte. Auf der einen Seite stand das ganze Zeug über Gesetz und Ordnung, die Kräfte des Anstands und das Ziel, die Hauptstadt sicherer zu machen. Auf der anderen Seite aber haben die Ausbilder uns immer wieder zu kleinen übermotivierten Aktionen angestachelt. Die Patrouillen überschritten ständig ihre Kompetenzen und machten nicht nur Signalmaschinen kaputt, sondern verprügelten Bettler, jagten Passanten Angst ein oder plünderten einzelne Säufer bis auf den letzten Heller aus. Maggot und die anderen als Ausbilder arbeitenden Wolfsjungen haben uns immer vor Übereifer gewarnt, dabei aber stets gezwinkert, damit uns klar war, dass sie es nicht so meinten. Nur wenn sich jemand offiziell beschwerte, machten sie sich die Mühe, uns zu bremsen. Wenn ich's mir jetzt so überlege, war Maggot eigentlich ziemlich konsequent - zwinkern taten nur die übrigen Ausbilder. So zweifelte ich langsam an dem Versuch, die Lebens- 166 qualität in der Stadt durch Patrouillen zu erhöhen. Ich meine: Wurden die Verhältnisse durch die Katzenmädchen

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nun besser oder schlechter? Es schien, als hätten uns die Ausbilder dazu ermuntert, die Dinge schlimmer zu machen, und sich ins Fäustchen gelacht, wenn wir Ärger bekamen. Dann fragte ich mich, ob Hochmeister Fang eine Vorstellung davon hatte, was vorging, und dachte, er würde vielleicht etwas gegen diese Verhältnisse tun, wenn er nur davon wüsste. Zu dieser Zeit besuchte ich mal wieder Charles und Sally Bannister. Ich glaube, mein Vater hatte seit der Einzugsparty kaum Kontakt mit ihnen; aber ich hatte mir angewöhnt, mich von Zeit zu Zeit bei ihnen zu melden, ch konnte gut mit ihnen reden, sie hatten ziemlich coole Ansichten, und sie versuchten nie, mir Vorträge zu halten oder so. Wenn ich also mal wieder einen klaren Kopf bekommen wollte, kam mir gleich in den Sinn, Charles und Sally könnten mir dabei helfen. Ich ging zur öffentlichen Signalwache und meldete mich bei ihnen. Es war Wochenende, und sie hatten nichts vor. Deshalb meinten sie, ich solle einfach rüberkommen. Also borgte ich mir die alte Lederjacke meines Vaters, warf sie so cool über die Schulter, wie ich es Banditen hatte tun sehen, schlenderte zum Neubaugebiet, erreichte den Considine-Turm und drückte auf die Klingel. Die Wohnung wirkte ein wenig anders als bei meinem letzten Besuch, doch Charles und Sally änderten ja ständig hier oder dort etwas. Deshalb war ich daran gewöhnt, jedes Mal was Neues zu sehen. Diesmal hatten sie andere Bilder an den Wänden — geometrische Darstel- 167 lungen aus Dreiecken, Kreisen und anderen Figuren, die mit ihren großen, in grellen Farben gehaltenen Sektionen an Tortendiagramme erinnerten. Und statt der Teppiche war Parkett verlegt. Jedenfalls schienen die beiden sehr erfreut, mich zu sehen, küssten mich auf die Wange und fragten, ob ich mit ihnen essen wolle. Gleich darauf saßen wir schon bei einem ihrer üblichen Picknicks auf dem Boden der Wohnung. Diesmal gab es kaltes Brathuhn - nicht ein großes, sondern drei kleine, für jeden eins. Das fand ich cool. Dazu Salat, raffiniert aussehendes Brot und eine Flasche Wein. Sie gössen ihn einfach in große Gläser und machten keinen Zirkus darum - ganz anders als meine Mutter. Sally plauderte beim Essen über dieses und jenes und fragte mich schließlich, was ich so getrieben hätte. Also erzählte ich von der Katzenmädchensache, redete mich - vielleicht infolge des Weins - in Rage und schimpfte, es sei unfair, uns zu Übergriffen anzuhalten und dabei ein Auge zuzudrücken, uns aber rauszuwerfen, wenn wir mal geschnappt würden. Während ich all dies erzählte, warfen die beiden einander ernste Blicke zu, als wäre ich auf etwas Wichtiges gestoßen. »Meint ihr, ich sollte Hochmeister Fang darüber informieren, was dort vorgeht?«, fragte ich schließlich. Sally schwieg ziemlich lange und sagte dann: »Ich glaube, der Hochmeister weiß genau, was vorgeht.« Ihre Art, »Hochmeister« zu sagen, wirkte fast höhnisch, und ich hatte das Gefühl, sie habe mir einen Tritt in den Magen verpasst. »Was?«, rief ich. »Ashleigh«, sagte Charles in seiner ruhigen, etwas trägen Art. »Was meinst du, was mit König Matthew passiert ist?« 168 Natürlich wusste jeder, dass der Regent unpässlich war, doch kaum hatte Charles seine Frage gestellt, begriff ich, dass niemand je erklärt hatte, was »unpässlich« bedeutet. Ich hatte einfach gedacht, der König sei krank und liege in einem Hospital oder so. Ich gaffte die beiden wohl wieder wie ein Einfaltspinsel an. Deshalb half Charles mir aus der Verlegenheit. »Ashleigh«, sagte er, »der König wurde gefangen gesetzt, und wir sind ziemlich sicher, dass Fang dahintersteckt.« Dann erzählte er mir, Fang sei vermutlich übergeschnappt und stelle mit dem Signalnetzwerk alle möglichen abstrusen Dinge an, die noch die ganze Hauptstadt, ja das Königreich zerstören würden. »Wir werden herausfinden, wo Matthew gefangen sitzt«, ergänzte Sally. »Und wenn wir das wissen, befreien wir ihn.« Das hat mich wirklich umgehauen. Die letzten Male bei Charles und Sally hatte ich schon so das Gefühl, hinter den Kulissen gehe etwas vor, und jetzt schienen sie entschieden zu haben, mich ins Vertrauen zu ziehen. Darüber war ich sehr stolz und fragte: »Kann ich irgendwie helfen?« Daraufhin erklärte mir Sally, sie seien dabei, einen Geheimbund aufzubauen. Dann lächelte sie und meinte, sie werde es mich wissen lassen, wenn ich etwas tun könne, doch bis dahin solle ich Stillschweigen bewahren und keiner Seele davon erzählen. Natürlich hatte ich mir das schon gedacht, doch sie meinten wohl, sie müssten die Notwendigkeit der Geheimhaltung noch mal unterstreichen. Danach redeten wir eine Zeit lang über andere Dinge. Ich erzählte ein wenig von Liam und davon, dass mein Vater daran denke, die Stadt zu verlassen, und als ich das sagte, sahen sie sich erneut an. Dann berichtete mir 169 Charles von den Problemen seiner Firma, also vom Nachfrageeinbruch infolge des Energiekriegs und der unter den Pferden wütenden Epidemie. In der Entwicklungsabteilung der Fabrik, meinte er, werde zwar nach einem neuen Brennstoff für die Automobile geforscht, doch noch sei kein Durchbruch erzielt. Dann tranken wir den letzten Schluck Wein, und Sally machte Kaffee mit der echt coolen Maschine, die sie gerade gekauft hatten. Bald darauf gaben sie mir zu verstehen, es sei Zeit für mich aufzubrechen, denn am späteren Abend komme eine Veronique vorbei, um in Sachen Verschwörung etwas zu besprechen.

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Vielleicht lag es an dem erwarteten Besuch, jedenfalls konnte Charles mich an dem Abend nicht nach Hause fahren. Also machte ich mich allein auf den Weg. Kurz vor dem Östlichen Boulevard kamen zwei Jungs aus einer Gasse gesprungen und wollten mich attackieren. Sie waren recht jung, hatten pickelige Gesichter und sahen aus, als hätten sie seit einer Woche nichts mehr gegessen. Binnen Sekunden hatte ich mich von meinem Schock erholt und auf die sattsam trainierte Selbstverteidigung umgeschaltet. Beide Jungs waren — wie sich erwies -ziemlich schwach, und ein paar Affenschläge genügten, um sie zu vertreiben. Doch nachdem sie verschwunden waren, fiel mir auf, dass einer die Uniform der Wolfsjungen getragen hatte. Sie war zerfetzt und verdreckt gewesen, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um diese Uniform gehandelt hatte. Das ließ mich noch mehr darüber nachdenken, was Charles und Sally gesagt hatten, und ich fragte mich den ganzen Heimweg über, ob ich wirklich noch länger in der Stadt bleiben wollte. 170 Schon am nächsten Dienstag oder Mittwoch passierte wieder etwas. Das weiß ich so genau, weil ich meinen Vater an einem dieser Tage endlich dazu hatte bringen können, zeitig aufzustehen und vernünftig zu frühstücken. Kaum hatte ich ihn an den Tisch geschleift, hörte ich den Kurier hupen, lief nach unten und bekam einen Brief von Liam, der die große Neuigkeit enthielt, er habe endlich seine Berufung entdeckt und werde ein von Ort zu Ort ziehender Anstreicher und Innenausstatter. Na, das hat mich umgehauen, weil ich mir etwa zur gleichen Zeit überlegt hatte, ihm zu helfen, seinen Wagen einzurichten. Deshalb dachte ich, es mochte vielleicht etwas mit mir zu tun gehabt haben, dass er ausgerechnet diese Berufung gefunden hatte. Dann überlegte ich, er würde mich vielleicht mit auf Tour gehen und ihm helfen lassen, und ich könnte die Leute vielleicht dazu bringen, ihre Häuser in all den knalligen Farben zu streichen, die wir im Innern seines Wagens verteilt hatten. Ich stellte mir schon vor, wie wir den Palast anlässlich der Rückkehr von König Matthew renovieren könnten, als ich aufblickte und meinen Vater den letzten Rest Eigelb vom Teller tunken sah, wobei er meinte: »Na, Ash, was hat Liam denn zu erzählen?« Da merkte ich, dass ich den Brief noch nicht mal zu Ende gelesen hatte. Er war länger als üblich, aber stilistisch nicht besser als frühere Schreiben. Die beste Neuigkeit kam erst ganz am Ende: Liam würde in ein paar Wochen in die Nähe der Hauptstadt kommen, und wenn wir wollten, könnte er uns am Fähranleger abholen und uns nach Norden in Großvaters Dorf mitnehmen. Mein Vater wischte noch immer mit dem Brot auf dem Teller herum, nestelte dann an dem durchwachsenen Speck und schien schließlich zu einem Entschluss zu kommen. 171 »Willst du mitfahren und deine Mutter besuchen, Ashleigh?«, fragte er und fummelte dabei weiter am Speck herum. Ich wusste nicht, ob ich meine Mutter oder gar Großvater überhaupt sehen wollte, doch plötzlich spürte ich die tiefe Sehnsucht, meinen kleinen Bruder Maxie zu treffen und zu erfahren, was er in letzter Zeit getrieben hatte. Und natürlich konnte ich es nicht erwarten, Liam wieder zu sehen. Deshalb rief ich unvermittelt: »Ja!« Mein Vater schien zu zögern, raffte sich dann aber auf und sagte: »Ich habe daran gedacht, die Wohnung zu verkaufen, Ashleigh. Ich glaube, ich möchte nicht wieder hierher zurückkehren. Gefällt dir diese Idee?« Na, das hat mich echt verblüfft, und ich hab nur gemeint: »Nein! Ja! Keine Ahnung!« Daraufhin sagte mein Vater, wir müssten nichts übers Knie brechen, sondern könnten uns mit der Entscheidung ein paar Wochen Zeit lassen. Das ließ mich wieder daran denken, mit Liam zu reisen, Helfer eines fahrenden Anstreichers zu werden und der Stadt endgültig den Rücken zu kehren. Doch dann musste ich an Hochmeister Fang, den Rettungsplan von Charles und Sally und all die aufregenden geheimen Missionen denken, auf die die Jungkommissarin als Verschwörerin gehen könnte. Also wusste ich wieder nicht, was ich wollte. Ich wusch das Frühstücksgeschirr ab, ließ mich dann aufs Sofa plumpsen und las Liams Brief erneut. Danach ging ich eine Etage tiefer, um zu sehen, was Davina trieb. 172 Eine Arbeit für Joey Wenn Leonardo mal nicht an seinem Vorhaben in der Signalwache arbeitete und es ihm überdies gelungen war, sich vor den Aufgaben zu drücken, die Ruth ihn immer wieder im »Pflug« zu übernehmen bat, verbrachte er gern etwas Zeit vor den Einmachgläsern, die in ihrem großen Schrank standen. Zwar hatten die beiden den Schuppen schon vor einiger Zeit entrümpelt, doch Ruth hatte noch immer keine Verwendung für ihn gefunden. Darum war er in dem Zustand geblieben, in dem sie ihn verlassen hatten. Als Leonardo vor dem Schrank stand und das wohlgeordnete Regal mit den Einmachgläsern betrachtete, von denen jedes ein etwas anderes Geheimnis enthielt und einen so einmaligen wie schwermütigen Farbton hatte, stellte er fest, dass ihn ein flüchtiges Gefühl des Friedens überkam - eine vorübergehende Distanz zu den ewigen Ansprüchen der Gastwirtschaft und der grellen Unwirklichkeit des Signalnetzwerks. Welche Botschaft die Einmachgläser genau für ihn bereithielten, vermochte er noch nicht zu erkennen, doch als er vor ihnen stand, war ihm, als würden ihm unbekannte Stimmen Worte zuflüstern, die er nicht verstehen konnte. Zu gegebener Zeit aber - dessen war er inzwischen gewiss - würde es diesen Stimmen gelingen, sich mit ihm auszutauschen. »Haben Sie irgendwas für mich zu tun, Meister P?« Joey Hopkins lehnte am Türpfosten, und sein im Moment überflüssiger Roller lag neben ihm. »Hau ab, Joey«, stieß der Magier hervor. »Siehst du nicht, dass ich mich konzentriere?« Etwas beschämt von der geknickten Miene des Jungen fügte er ein wenig

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173 freundlicher hinzu: »Frag mal in der Gaststube. Mrs Pegasus braucht vermutlich jemanden, der ein paar Kisten schleppt. Sie will ja immer was geschleppt bekommen.« »Nee, kein Bedarf.« Joey hob sein Gefährt auf und zockelte davon. Unhöflicher Junge, dachte Leonardo unwillkürlich. Fragt ständig nach Arbeit, und wenn ich ihm eine gebe, will er sie nicht. Ein paar Minuten später bog der Magier, nachdem er den Argusaugen seiner Frau erfolgreich ausgewichen war, auf die Dorfstraße Richtung Signalwache, sah sich aber gleich einem großen Fuhrwerk gegenüber, das den Weg blockierte und einen unförmigen, unter einer Plane verborgenen Gegenstand geladen hatte, über den Leonardo nichts wissen wollte. Ein kleiner Mann und eine große Frau bemühten sich mit Hebeln und Reisig, das Fuhrwerk, das von einem kunterbunten Gespann dürrer Pferde gezogen wurde und mit einem Hinterrad in einer tiefen Furche gelandet war, wieder flottzubekommen. Leonardo war gezwungen, dem Hindernis über den Dorfanger auszuweichen. Als er über das welke Gras lief, überlegte er flüchtig, wann die fahrenden Straßenbauarbeiter wohl das nächste Mal durchs Dorf kämen — wenn überhaupt. Dann schlug er sich diese Frage aus dem Kopf und hielt schleunigen Schrittes auf seinen Arbeitsplatz zu. Als Leonardo seine Apparaturen einschaltete, beschloss er, noch mal mit Hauptmann Lazarus zu reden. Kaum war er im Netz, versuchte er, seine Schreibstube ausfindig zu machen, sah sich aber sofort in Schwierigkeiten. Er war überzeugt, sich noch an den Weg zu erinnern, den er bei seinem letzten Besuch genommen hatte, doch irgendwie schien die Anlage der Straßen und Gänge heute 174 vollkommen verändert. Pfade, die er als abschüssig in Erinnerung hatte, schienen nun anzusteigen. Was zuvor unter freiem Himmel gewesen war, befand sich nun unter Dach, und anderes, was sich drinnen befunden hatte, lag im Freien. Straßen, die er als gerade in Erinnerung hatte, hatten unerwartete Biegungen bekommen, und vormals ebene Gänge wiesen an den überraschendsten Stellen Treppen und Leitern auf, die in unbekannte Zwischengeschosse führten. Orte, die von geisterhaften Boten gewimmelt hatten, waren irritierend leer, während früher leere Ecken voller geschäftiger Schattengestalten waren. Schließlich fand der erschöpfte Magier eine halbwegs senkrechte Mauer und lehnte sich daran, um etwas zu verschnaufen und seine fünf Sinne wieder zusammenzunehmen. »Warte einfach hier«, sagte die hilfreiche Stimme in seinem Ohr. »Es gibt keinen Grund zur Eile. Denk an Sheckleys Theorie: Gib dem, was du suchst, die Chance, dich zu finden.« »Wer bist du?«, wollte Leonardo wissen. »Oh, Entschuldigung«, antwortete die Stimme. »Hab ich mich nicht vorgestellt? Wie unhöflich von mir. Ich heiße Blaise.« »Blaise?« Doch die Stimme schwieg. Also wartete Leonardo und sah dabei Heerscharen von Boten an sich vorbeihuschen. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er die glänzenden Stiefel von Hauptmann Lazarus erblickte. Er streckte den Arm aus, um seinen Bekannten abzufangen. »Würden Sie mich vielleicht zu einer Tasse Tee einladen?« »Ah, Meister Pegasus.« Der alte Soldat hielt an. »Tut 175 mir leid, Sir. Ich muss eine dringende Botschaft überbringen. Aber Sie können mich gern begleiten, wenn Sie wollen.« Murrend schloss Leonardo sich dem Hauptmann an und keuchte ein wenig, weil es ihm nicht leicht fiel, mit seinem agileren Kameraden Schritt zu halten. »Ich brauche Ihren Rat«, brachte er zwischen zwei tiefen Atemzügen heraus. »Stets zu Diensten!«, erwiderte der Hauptmann. »Schießen Sie los.« »Wissen Sie, ich verstehe noch immer nicht richtig, wie das Netzwerk funktioniert«, sagte Leonardo. »Manche Leute kann ich sehen, andere nicht. Es gibt Räume, die sind an einem Tag da und am nächsten Tag verschwunden. Und es gibt Stimmen, die zu den seltsamsten Zeiten mit mir reden. Verzeihen Sie bitte.« Er rang nach Atem und brachte daher vorübergehend kein Wort heraus. »Jetzt geht's wieder. Aber Sie... Sie scheinen hier so... so daheim zu sein.« »Ach«, erwiderte der Hauptmann, »ich lebe ja auch schon lange hier. So lange, dass ich nicht mal mehr mitrechne, wissen Sie! Ich schätze, im Lauf der Zeit habe ich einfach herausgefunden, wie der Hase läuft. Und außerdem hab ich natürlich allmählich die Vorschriften gelernt.« Er merkte, wie verblüfft Leonardo ihn ansah. »Ach so, Sie haben vermutlich noch nichts von den Vorschriften gehört.« »Vorschriften?« Der Magier stellte fest, dass er einen Schritt hinter dem Hauptmann zurücklag, und musste einen Hüpfer machen, um wieder mit ihm gleichauf zu sein. »Ja, Vorschriften, Sir. Nicht, dass sich heutzutage irgendwer besonders um sie kümmern würde. Aber ich 176 hab alles in meinen Hängeregistraturen in der Schreibstube. Sie können gern mal vorbeischauen und nachschlagen - vorausgesetzt, ich bin im Büro. Doch natürlich trage ich das Wissen, das ich brauche, hier mit mir herum«, erklärte er und tippte sich dabei mit einem fleischigen Finger an die Stirn.

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In diesem Moment hetzte eine Schar von etwa zwanzig Boten direkt vor den beiden aus einem Seitengang, blockierte ihren Weg und zwang sie, einen Augenblick anzuhalten. »Das meine ich«, stellte der Hauptmann fest. »Immer mehr Verstöße gegen die Paragrafen, die den Verkehr auf den Hauptstraßen regeln. Nicht die geringste Rücksichtnahme.« Er wandte sich Leonardo zu. »Verzeihung, Sir, aber Sie scheinen ein wenig außer Atem. Gehe ich Ihnen zu schnell?« Leonardo wollte nicht zugeben, langsamer zu sein als sein älterer Kamerad, und nahm stattdessen den Gesprächsfaden wieder auf. »Die Sache ist die, Hauptmann«, begann er zögernd. »Wenn ich Lee je einholen soll, brauche ich jede Menge Hilfe, denn es mangelt mir an vielem. Zunächst mal muss ich schnell sein. Dann muss ich alles über das Netzwerk wissen - zum Beispiel die ganzen Vorschriften, von denen Sie vorhin gesprochen haben. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, an all diese Informationen heranzukommen und sie so aufzubewahren, dass ich sie immer verfügbar hätte...« »Na, geheim ist eigentlich nichts davon«, räumte der Hauptmann ein. »Sie dürfen also gern in jeder Hinsicht davon Gebrauch machen. Und um offen zu sein: Wenn Sie hinter Lee her sind, dienen Sie sicher einer guten Sache. Dieser nervtötende Kerl kann uns nämlich wirklich gestohlen bleiben. Na endlich - die Straße ist wieder 177 frei.« Die unachtsamen Geister waren verschwunden, und Leonardo und der Hauptmann konnten ihren Marsch fortsetzen. Doch nach kurzer Zeit begann der Weg zwischen hohen Klippen anzusteigen. Der Hauptmann machte keine Anstalten, seinen Schritt zu verlangsamen, und Leonardo geriet erneut ins Hintertreffen. »Wenn ich nur ein Speichermedium entwickeln könnte!«, rief er. »Um alle Vorschriften blitzschnell verfügbar zu haben!« »Ich bin Ihnen da gern in jeder Hinsicht behilflich«, rief der Hauptmann ihm über die Schulter zu. »Aber jetzt muss ich mich leider beeilen, Sir.« Er entfernte sich schnellen Schrittes und ließ den Magier zurück, der weiter darüber grübelte, wie die Vorschriften gespeichert und verfügbar gehalten werden könnten. Leonardo setzte sich auf einen Felsblock und sah die Straße entlang, die er gekommen war. »Meister Pegasus! Meister Pegasus!« Das war einmal mehr Joeys Stimme. Widerwillig nahm Leonardo den Kopfhörer ab. Was er im Netzwerk gesehen und gehört hatte, verschwand, und der Magier fand sich in der Signalwache wieder. Langsam straffte er den Rücken, drehte sich um und sah den Jungen aufgeregt auf und ab springen. »Was ist denn jetzt schon wieder, Joey?«, knurrte er. »Warum musst du mich ständig unterbrechen? Glaubst du, ich hab nichts zu tun?« »Draußen sind Fuhrleute. Sie haben eine große Lieferung fürs Gasthaus. Mrs P hat gesagt, sie sollen sie hier herbringen.« Mit einem ärgerlichen Seufzer stand Leonardo auf und ging zur Tür. Tatsächlich warteten der Mann und die Frau, die ihm schon vorher aufgefallen waren, unsicher 178 auf der Schwelle, während ihre Pferde im Hintergrund friedlich grasten. »Der Musikapparat, Chef«, sagte die kleinere der beiden Gestalten. »Wir haben das falsche Modell geliefert. Es muss bis zur Abholung zwischengelagert werden. Die Wirtin hat gemeint, hier oben wäre Platz dafür.« »Diese Arbeit macht durstig«, murrte die Frau. »Verflixt und zugenäht!«, donnerte der Magier. »Warum könnt ihr euch nicht alle ver...« Doch gerade als er aufs Neue die Beherrschung zu verlieren drohte, sprach die ruhige Stimme, die irgendwo aus seinem Inneren kam, zu ihm. »Hüte dich vor deinem Zorn, Leonardo«, murmelte Blaise. »Also gut«, sagte der Magier und gab widerwillig nach. »Ich schätze, an der Mauer da ist Platz genug. Nein, nicht an dieser hier, an der da. Und beeilt euch. Seht ihr nicht, dass ich beschäftigt bin? Joey, pack mal mit an.« Doch der Junge war bereits zum Fuhrwerk rübergezischt. Mit hektischen schmalen Händen zerrte er an einem der Knoten des Seils, das die Plane an Ort und Stelle hielt, während die Fuhrleute amüsiert zusahen. Ashleigh macht sich auf die Socken Als mein Vater sich schließlich zum Verkauf der Wohnung durchrang, wusste ich nicht, ob ich mit ihm gehen oder mir in der Stadt eine eigene Bleibe suchen sollte. Also sah ich eines Abends bei den Bannisters vorbei, um zu erfahren, was sie darüber dachten. Sally hatte offenbar etwas in der Fabrik zu tun, aber Charles war wirklich 179 nett. Er führte mich in sein Arbeitszimmer und schlug mir. vor, das Für und Wider meiner Optionen aufzulisten. Dann ließ er mich alles in verschiedenen Farben in ein Diagramm eintragen, das er auf ein großes Blatt Papier gezeichnet hatte. So stellte sich heraus, welches meine drei wichtigsten Ziele waren: wieder mit Liam zusammen zu sein, meinem Vater bei der Versöhnung mit meiner Mutter zu helfen und meinen kleinen Bruder wieder zu sehen. Also beschloss ich, meinen Vater zu begleiten. Verschwörerin zu sein wäre natürlich toll gewesen, und Charles hatte sogar vorgeschlagen, bei ihm und seiner Frau zu wohnen, bis ich mit mir im Reinen wäre, doch dann kam Sally nach Hause und meinte, ich müsse mich entscheiden - es sei schließlich mein Leben. Ich hatte befürchtet, die beiden wären verärgert, wenn ich die Stadt würde verlassen wollen, doch wie sich zeigte, waren sie mit meiner Entscheidung völlig einverstanden.

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Kaum wieder in den Turmresidenzen, stellte ich fest, dass mein Vater sich ganz verrückt damit machte zu entscheiden, was er mitnehmen und was er zurücklassen sollte. Irgendwann beschloss er, fast alles wegzuwerfen und nur ein paar Kleidungsstücke zu behalten. Dazu gehörte natürlich seine Lederjacke, aber auch ein scheußliches Paar alter grauer Socken, von dem er sich einfach nicht trennen wollte. Als er daranging, Briefe und andere Erinnerungen auszusortieren, entdeckte er zwei, drei weitere Dinge, die er behalten wollte: ein paar alte Ansichten von seinem Dorf, die er als Junge gezeichnet hatte, und ein kleines ledernes Hundehalsband mit Messingschnalle. Als er das Halsband fand, schwieg er eine Weile. Durch meine Nachfrage erfuhr ich, dass er als Kind einen Hund 180 namens Dusty gehabt hatte und die beiden unzertrennlich gewesen waren. Irgendwie hat mir Dustys Halsband gefallen, und mein Vater hat es mir geschenkt. Ich hab ein zusätzliches Loch reingestanzt und es vom ersten Tag an als Halsschmuck getragen und praktisch nie abgelegt. Ohne das Band würde ich mich bestimmt weniger wohl fühlen. Schließlich packten wir all unsere Sachen in drei Taschen. Ich hatte nur ein paar Klamotten und meine Gesichtsfarbe dabei. Und Liams Briefe natürlich sowie meinen alten Spielzeughund Mister Woofie, den ich einfach nicht wegwerfen konnte. Seltsamerweise hat mein Vater das Halsband nur noch einmal erwähnt, und zwar einige Wochen später. Damals fragte er: »Würde es Mister Woofie nicht besser stehen?«, und ich sagte nur: »Nein, ich fühle mich gut damit.« Daraufhin hat er sein eigenartiges Lächeln aufgesetzt und mir über die Schulter gestrichen. Mein Vater ist wirklich verrückt - man weiß nie so recht, was in ihm vorgeht. Am letzten Abend feierten wir eine kleine Auszugsparty. Mein Vater hatte Paul Catalano und Charlotte - seine frühere Sekretärin - eingeladen, die ihren kleinen Sohn und ihre Schwester Maisie mitbrachte, ein ziemliches Früchtchen. Dann war da noch ein fetter, heruntergekommener Alter namens Joe Blackwood, der wohl ein Verwandter von Liam und früher mal Hausmeister in einem der Wohnblöcke war, in denen mein Vater vor meiner Zeit gelebt hat. Auch Davina und ihre Mutter kamen kurz hoch, und ein, zwei weitere Freundinnen von mir sahen vorbei. Doch wir hatten uns wenig zu sagen, weil wir uns nach unserer Zeit bei den Katzenmädchen ganz verschieden entwickelt hatten, und musterten einander nun eher von der Seite. 181 Natürlich hatte ich auch Charles und Sally eingeladen, rechnete aber nicht mit ihrem Kommen, denn sie schienen immer einen prallvollen Terminkalender zu haben. Doch am späteren Abend tauchten sie tatsächlich auf und blieben bis kurz vor Schluss. Gegen Ende bekamen alle feuchte Augen, ich auch, und es war schon etwas peinlich, als alle uns umarmten und versprachen, mit uns in Kontakt zu bleiben. Am nächsten Tag sollten mein Vater und ich Liam kurz vor Mittag an der Großen Kreuzung treffen. Die liegt ganz am Rand der Stadt, doch Liam verabscheut große Ansiedlungen und war nicht bereit, uns weiter entgegenzukommen. Wir wollten schon zu Fuß gehen oder eine Droschke nehmen, da tauchte Charles mit einem Firmenauto auf. Als wir zur Großen Kreuzung kamen, war Liam mit seinem schicken neuen Wagen schon da. Er hatte seinen Namen an die Frontwand geschrieben und seitlich ein paar Leitern angebracht. Wir stiegen zu, Liam ließ die Peitsche knallen, und bald waren wir auf der Landstraße. Es war Spätsommer, und es hatte seit Monaten nicht geregnet, deshalb war die Landschaft ausgetrocknet. Was an Feldfrüchten noch auf dem Acker stand, war welk und ausgeblichen, und die Kühe und Schafe sahen mager und elend aus. Wir reisten meist auf Feld- und Seitenwegen und nahmen die Königlichen Landstraßen nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. So halten es die Fahrenden offenbar seit jeher. Was wir von den Königlichen Landstraßen allerdings zu sehen bekamen, machte keinen guten Eindruck. Viele hatten große Risse, die nie geflickt worden waren und aus denen Unkraut wucherte. Ab und an sahen wir Fahrzeuge, die einfach ste- 182 hen gelassen worden waren und im Graben lagen. Mein Vater sagte, das liege daran, dass der Kraftstoff so knapp sei. Allerdings waren auch recht wenige Pferdefuhrwerke unterwegs, und die meisten Zugtiere sahen reichlich geschafft aus. Liam warnte mich vor Pferden, die husteten, sich übergaben oder einen geschwollenen Hals hatten. Diese Tiere hätten vermutlich die Seuche namens Würgegriff, und ich solle mich von ihnen fernhalten. Mitunter sahen wir am Straßenrand Pferdekadaver liegen. Sie hatten scheußlichen Eiter am Hals, und Wolken von Fliegen schwirrten um sie herum. Ein Mann bot viel Geld für Neil, doch Liam sagte, sie sichere seinen Lebensunterhalt, und er würde sie um keinen Preis verkaufen. Als der Mann nicht lockerließ, ballte Liam die Fäuste und zog ein böses Gesicht. Da erst wich der Mann zurück und sagte: »Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Am ersten Abend schlugen wir unser Lager auf einer kleinen Lichtung auf und kochten uns ein leckeres Abendessen. Die Fahrenden futtern meist furchtbar langweiligen Kram aus der Dose — nur bei besonderen Anlässen wie Liams Volljährigkeit legen sie sich ins Zeug. Anscheinend aber zählte auch dieser Abend zu den besonderen Anlässen, und Liam hatte irgendwo einen großen Lachs organisiert. Den brieten wir mit ein paar Kräutern überm Lagerfeuer, und dazu gab es eine Flasche Wein. Der Wein der Fahrenden ist ziemlich sauer und stärker als der, den ich bei Charles und Sally bekommen hatte. Deshalb wurde ich nach einer Weile ziemlich

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schläfrig. Dann packte Liam seine Pfeife aus und stopfte sie mit •der Kräutermischung, die alle Fahrenden rauchen. Er 183 und mein Vater nahmen ein paar kräftige Züge und waren bald ziemlich gut drauf. Mein Vater ließ mich auch ein paar mal ziehen, aber ich hab nur husten müssen und es nicht besonders gemocht. Dann war Schlafenszeit. Ehrlich gesagt hatte ich mir schon seit einiger Zeit Gedanken darüber gemacht, wie wir die Betten unter uns verteilen würden. Jetzt zeigte sich, dass Liam meinem Vater das große Bett an der Seitenwand des Wagens überließ, während wir uns in die Kojen an der Heckwand legten, Liam in die obere, ich in die untere. Als ich gerade am Einschlafen war, langte er runter und hakte seinen kleinen Finger unter meinen. Das war so etwa das schönste Gute Nacht, das ich mir vorstellen konnte. Am nächsten Tag reisten wir weiter. Liam fuhr den Wagen, ich saß neben ihm, und mein Vater hielt ein Nickerchen, als zwei wild aussehende Kerle aus dem Gebüsch sprangen, drohend mit dem Messer herumfuchtelten und unser Geld forderten. Da tat Liam etwas, das mich wirklich schockierte: Er griff unter den Sitz, zog eine Pistole hervor und feuerte einen Warnschuss über die Köpfe der Räuber hinweg. Ihr hättet sehen sollen, wie die beiden gerannt sind! Hinterher hat Liam sich entschuldigt. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, Ashleigh, aber heutzutage treibt sich einiges an üblem Gesindel herum, und man kann nicht vorsichtig genug sein.« Dann nahm er meine Hand und meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, er wäre immer da, um auf mich aufzupassen. Ich sah auf seine Hände hinunter, die groß und ziemlich rau waren. Dann betrachtete ich meine. Sie waren viel kleiner, bleich und sommersprossig, und darüber war ich ein wenig pikiert. Liam nennt mich übrigens immer Ashleigh, nie 184 Ash, und das' mag ich irgendwie - ich schätze, weil ich mich dann mehr wie eine Dame fühle. Ach ja, ich hab vergessen zu erzählen, dass mein Vater etwa zwei Minuten später den Kopf aus dem Wagen steckte und fragte: »Was ist da los? Hab ich nicht was gehört?« Wir konnten uns nicht einkriegen vor Lachen, auch nicht, als wir meinem Vater erklärt hatten, was da los gewesen war. Ich glaube, er hat nicht verstanden, warum wir das so witzig fanden. Es dauerte einige Wochen, bis wir das Heimatdorf meines Vaters erreicht hatten. Das lag daran, dass Liam einen Umweg nehmen musste, weil er zwei Arbeiten zu erledigen hatte - einen Fassaden- und einen Komplettanstrich. Er hatte das Innere seines Wagens so gelassen, wie wir es damals gestrichen hatten, und ich hoffte sehr, er würde ein paar Häuser mit ähnlich grellen Farben bemalen. Doch als er seine Sachen aus dem Stauraum nahm, stellte ich fest, dass es sich fast nur um ausgesprochen langweilige Farben handelte - um Cremeweiß, Braun und ein wirklich abscheuliches Grün. Er hatte auch ein paar Rollen Tapete, und alle hatten diese dämlichen Muster mit Blümchen und Vögelchen und so. Die leuchtenden Farben besaß er zwar noch, doch sie waren in eine Ecke geschoben worden und so gut wie unbenutzt. Ich regte mich ein wenig auf, als ich merkte, dass er sie nie mehr verwendet hatte. Offen gesagt machte ich ihm sogar eine kleine Szene deswegen. Danach brachte ich ihn dazu, seine Arme um mich zu legen und mich ein wenig zu knuddeln, um mich zu beruhigen - schlimm kann es also nicht gewesen sein. Als er mich im Arm hielt, erklärte er mir, er müsse von seiner Berufung auch 185 leben und die Häuser daher so streichen, wie die Leute sie haben wollten; wenn sie alles braun haben wollten, müsse man eben alles braun streichen. Ich war den Rest des Tages noch ziemlich fies zu ihm, sah aber schließlich doch ein, dass er Recht hatte. Dann meinte er, womöglich würden wir ja jemanden finden, der leuchtende Farben haben wolle, und dann könne ich ihm bei der Gestaltung helfen. Das war immerhin was, worauf ich mich freuen konnte. Und wirklich hat Liam den Leuten seither stets auch die leuchtenden Farben gezeigt, nicht nur die langweiligen. Mein Vater war in dieser Zeit übrigens ausgesprochen gut drauf und hat sich nie eingemischt, sondern uns alles allein klären lassen. Und er erwischte stets den richtigen Moment, um wieder aufzutauchen und etwas zu sagen. Als wir uns seinem Heimatdorf näherten, hatten wir uns längst an einen Alltag gewöhnt, der darin bestand, auf der Landstraße unterwegs zu sein, zu kochen, zu schlafen und zu arbeiten, miteinander zu streiten und ab und an ein paar Räuber in die Flucht zu schlagen. Mein Vater fand heraus, wie der Ofen funktionierte, und dachte sich ein paar leckere Kochrezepte aus. Unterdessen lernte ich ein wenig Malen und Tapezieren, und bald schon trug ich den gleichen alten Overall wie Liam - also einen mit Latz und Hosenträgern - und eine kleine spitze Mütze und half ihm, Pigmente zu zermahlen und mit Öl zu mischen und dergleichen. Und ab und an, wenn mein Vater nicht in der Nähe war, schmusten Liam und ich ein wenig. Er war ein echter Gentleman und versuchte nie, mich zu etwas zu drängen, das ich nicht wollte. 186 Und einen Tag bevor wir das Dorf meines Vaters erreichten, begegneten wir den Möwentreibern. Schwarzbraun ist die Haselnuss »Ach, bevor du gehst...«, rief Ruth vom Eingang der Gastwirtschaft. Leonardo blieb abrupt stehen. Er hatte sich zur Signalwache stehlen wollen, doch seiner argusäugigen Frau war es einmal mehr gelungen, ihn abzufangen.

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»Worum geht's denn diesmal?«, fragte der Magier gereizt. »Keine Panik.« Selbst nach drei Jahren Ehe schwang in Ruths Stimme noch schwach, aber unüberhörbar Humor mit. »Es geht nur um die alten Einmachgläser.« »Einmachgläser?« »Einmachgläser, ja. Du erinnerst dich vielleicht noch, dass wir beim Entrümpeln welche gefunden haben. Sie sind voll klebrigem Zeug in verschiedenen Farben.« »Ach die!« Bisweilen hatte Leonardo sich in den Schuppen geschlichen, in dem die Gläser standen, und gegrübelt, welche versteckten Botschaften sie enthalten mochten. »Ich hab endlich einen Altwarenhändler aufgetrieben«, erklärte Ruth. »Er hat mir versprochen, morgen ein Fuhrwerk zu schicken und einiges von dem alten Gerumpel mitzunehmen. Du willst die Einmachgläser doch nicht mehr behalten, oder?« Leonardo, der sich allenfalls widerwillig von interessantem Nippes trennte, fiel nicht sofort eine Entschuldigung ein, die seine Frau akzeptieren würde. »Darüber 187 muss ich erst nachdenken«, sagte er schließlich. »Reicht es, wenn ich mich heute Abend entscheide?« »Ach, geh mir aus den Augen«, stöhnte Ruth. »Scher dich hoch zu deiner Signalwache. Na los, verschwinde«, rief sie noch und knallte die Tür ins Schloss. Leonardo lief im morgendlichen Sonnenschein die Dorfstraße entlang. Obwohl es sengend heiß zu werden versprach, hatte er die Gewohnheit beibehalten, in vollem Ornat zu arbeiten. Als Zugeständnis an die Hitze hatte er das Gewand allerdings aufgeknöpft, so dass ihm die Robe um die langgliedrige Gestalt schlackerte. Am Nordende des Dorfangers angekommen, konnte er das struppige Weideland überblicken, das - den großen Häusern gegenüber - bis an die Straße reichte. Was er dort sah, ließ ihn die Kinnlade runterklappen. Wiesen, Wege und Bäume schienen von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Der Magier langte in die Innentasche seiner Robe, zog seine Brille hervor und setzte sie auf. »Ach du meine Güte«, keuchte er dann. Denn der Schnee war kein Schnee, sondern Möwen. Sie hatten sich überall niedergelassen. Auf jedem Zaun und jedem Tor saßen die unheilvoll wirkenden Vögel dicht an dicht. Jeder Zaunpfahl und jeder Torpfosten hatte seinen Wächter. Die Möwen drängten sich auf den Bäumen, verhüllten die Dächer und bedeckten Wiesen und Straßen, so weit das Auge reichte. Zwar lebte Leonardo seit bald zwanzig Jahren auf dem Dorf, noch länger aber hatte er in der Stadt gewohnt und war deshalb im Innersten noch immer sehr städtisch geprägt. Das Wenige, was er über Sitten und Gebräuche auf dem Lande wusste, hatte er vor allem Gesprächsfetzen entnommen, die er auf der Straße oder im Schankraum des Gasthauses aufgeschnappt hatte. Doch trotz seiner 188 überwältigenden Unkenntnis war sich Leonardo sicher, dass dieser Anblick alles andere als gewöhnlich war. Die Möwen gehören doch an die Küste, dachte er, nicht hierher ins Landesinnere. Und das Meer liegt mindestens drei, vier Tagesreisen entfernt... Leonardo verschob das Nachdenken über diese Frage auf später, setzte seinen Weg langsam fort und schwang ab und zu die Schöße seiner Robe, um die störrischen Vögel zu verscheuchen. Hätte er sich umgedreht, so hätte er bemerkt, dass die Möwen sofort wieder den Platz einnahmen, von dem er sie vertrieben hatte, und sein Weg binnen Sekunden nicht mehr zu erkennen war. In der Signalwache erwartete Leonardo eine sehr frustrierende erste Arbeitsstunde. Die sich täglich wandelnde Topografie des Netzwerks verblüffte ihn einmal mehr, und das unberechenbare Verhalten der Netzbewohner brachte ihn - wie stets - an den Rand der Verzweiflung. Lee hatte auf jedem Boden, jeder Wand, jeder Decke seine höhnische Spur hinterlassen, doch der flüchtige Verursacher war nirgendwo zu erblicken. Leonardos Versuch, Hauptmann Lazarus oder sogar dessen Schreibstube ausfindig zu machen, zeitigte keine Fortschritte. Selbst der unsichtbare Blaise - Leonardos so nützliche innere Stimme - schwieg hartnäckig. Nach einer Stunde warf der Magier stöhnend den Kopfhörer beiseite und schaltete die Komplexe Empathiemaschine aus. Erbrauchte eine Pause. Also warf er den Kaffeeautomaten an, der in letzter Zeit ziemlich gut funktioniert hatte, wischte einen seiner geliebten, weißblau gestreiften Becher gründlich aus und setzte sich in einen der vier eleganten Sessel, die er aus dem Nebenzimmer des Gasthofs hatte mitgehen lassen. 189 Leonardo war nun seit bald fünfzig Jahren Magier und hatte genug Erfahrung, um eines zu wissen: Wenn etwas nicht klappen wollte, sollte man sich eine Zeit lang mit etwas anderem beschäftigen. Also rührte er gedankenverloren in seinem Kaffee und ließ dabei den Blick durch den lang gezogenen Raum schweifen. Ein paar Messingsachen mussten mal wieder poliert werden, stellte er fest. Auf dem Boden und den Schränken mit den Messinstrumenten lag recht viel Staub. Die Flüssigkeit in den Retorten und Akkumulatoren schien etwas trüb und musste womöglich ausgetauscht werden. Außerdem hingen jede Menge Spinnweben von Flaschenzügen, Gerüsten und Deckenlampen. Und dann war da der verdammte Musikapparat, der die Hälfte der Fläche einnahm, die in der Signalwache noch frei gewesen war. Finster starrte Leonardo auf das Gerät. Die Fuhrleute hätten es schon vor Monaten abholen sollen, doch es stand

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noch immer hier. Verdrossen musterte er die knallbunt gestrichene Front des Mammut, auf die verschiedene Musikinstrumente gemalt waren: schimmernde Trompeten, bauchige Trommeln, komplizierte, verrucht wirkende Saxofone. Er fragte sich, ob der raffinierte Mechanismus auf der holprigen Fahrt den Berg hinauf beschädigt worden war und ob die stark ozonhaltige Luft um seine Maschinen herum dem empfindlichen Innenleben des Musikapparats womöglich nicht bekam. Dann fiel ihm auf, dass er ihn noch nie hatte spielen hören. »Ach was«, murmelte er. »Vergiss es. Du musst arbeiten. « »Na los«, meldete sich Blaise unerwartet. »Schließlich machst du Pause, oder? Probier das Ding doch mal aus.« 190 Ohne genau" zu wissen, was er da tat und warum, stöpselte Leonardo den Musikapparat in eine Steckdose, schraubte die Sicherungen ein, die den riesigen Blasebalg anspringen ließen, und stöberte in der Kiste mit den zweihundertsechsundfünfzig Melodien, die alle auf einem eigenen Blatt notiert waren. »Schneewalzer«, brummte er und schüttelte sich verächtlich. »Sentimentales Zeug.« Er stieß das zusammengerollte Pergament wieder zwischen die übrigen und zog aufs Geratewohl ein anderes heraus. »Schwarzbraun ist die Haselnuss? Das hört sich schon viel versprechender an.« Leonardo war alles andere als musikalisch, fand aber Gefallen an einem ins Blut gehenden Rhythmus und einer zu Herzen gehenden, kräftigen Melodie. Sorgfältig öffnete er den Verschluss der Rolle und schob das Pergament in den Schlitz an der Seite des Apparats. Sekunden später griffen verborgene Walzen nach ihrer Beute und zogen das Blatt gierig ein. Lichter blinkten, Wählscheiben rotierten, und es surrte, als das Mammut sich damit vertraut machte, was es zum Besten geben sollte. Dann folgte eine ausgedehnte Pause. Der Magier fragte sich schon, ob der Apparat beim Transport irreparabel beschädigt worden war, als das Mammut sich nach einem flotten Wirbel der kleinen Trommel und einem prächtigen Fanfarenstoß mit halsbrecherischem Tempo ins Abspielen von Schwarzbraun ist die Haselnuss stürzte. Leonardo war entzückt. Das betäubende Schmettern der Musik versetzte ihn augenblicklich in jüngere Jahre zurück, als die Kapelle der Königlichen Miliz vor dem Fenster seiner im Palast gelegenen Werkstatt zu paradieren pflegte. Sehr zu seiner Überraschung ertappte er sich 191 dabei, in der Signalwache auf und ab zu gehen, mit den Fingern mehr schlecht als recht im Takt zu schnippen und sogar dunkel erinnerte Textbruchstücke lautlos mitzusingen. Als das Lied mit Getöse zu Ende gegangen und der Apparat zitternd zur Ruhe gekommen war, blieb das Mammut ein paar Sekunden reglos und warf dann das Pergament mit einem Pressluftzischen anmutig durch einen zweiten Schlitz in der Rückseite aus. Eifrig stöberte Leonardo nach einer anderen Melodie, entschied sich für den Kriminaltango und stellte mit lindem Erschrecken fest, dass ihn ein leichtes Begehren beschlich, als der laszive Rhythmus sich an seinem Arbeitsplatz breitmachte. Dann kramte er wider besseres Wissen den viel geschmähten Schneewalzer hervor. Als seine gefühlvollen Klänge durch den Raum schwebten, stellte der Magier überrascht fest, dass ihm eine Träne über die Wange lief. Jedes Musikstück ist anders, dachte er, als er sich wieder sammelte. Jedes hat eine andere Gestalt und Struktur und drückt ein anderes Gefühl aus. Er griff erneut in die Kiste und suchte nach einer weiteren Empfindung. Doch diesmal zog er eine leere Rolle hervor. Auf den anderen waren sich überschneidende zerklüftete oder geschwungene Linien, waren Schnörkel und Punktfolgen zu sehen gewesen, aber diese Rolle hier war ein völlig unbeschriebenes Blatt. Leonardo stierte lange darauf. Wenn der Apparat eine auf dem Pergament verzeichnete Melodie lesen kann, so überlegte er, dann lässt er sich womöglich auch dazu bringen, eine Melodie auf einem leeren Blatt zu verzeichnen. Eine Melodie... oder vielleicht mehr. Vielleicht ein Gefühl oder eine Information. Womöglich sogar jemandes Charakter... »Sieh dir die Rückseite des Apparats an«, schlug Blaise vor. »Nett, mal wieder von dir zu hören«, gab Leonardo spöttisch zurück. »Na los«, fuhr Blaise unbeirrt fort. » Vielleicht gibt's da was, das du übersehen hast.« Also sah sich Leonardo die Schalterreihen an der Rückseite des Mammut genauer an. Tatsächlich entdeckte er zwischen all den Regelwiderständen, Lichtern und Skalen einen etwas nach innen gewölbten, in Messing gefassten dunkelroten Knopf. Darüber saß ein rotes Warnlicht, das allerdings nicht leuchtete. Und unter dem Knopf befand sich ein winziges Messingschild, auf dem nur ein einziges Wort stand, und zwar kursiv: AUFNAHME. Leonardo kehrte erst bei Einbruch der Nacht ins Gasthaus zurück. Als er gedankenverloren den Hügel herunterkam, fiel ihm flüchtig auf, dass die Möwen noch immer die nördliche Hälfte des Dorfs heimsuchten. Doch als er das Rasendreieck vor dem Wirtshaus erreichte, wartete eine weitere Überraschung auf ihn. Denn auf dem Dorfanger lagerte eine Heerschar merkwürdig aussehender Leute in leuchtenden, aber schäbigen Sachen. Vielleicht waren es insgesamt hundert. Die meisten schienen sehr jung zu sein. Nur wenige waren über zwanzig, und Leonardo sah einige, die noch Kinder zu sein schienen und kaum zehn Jahre alt sein mochten. Manche plauderten in kleinen Gruppen, andere nahmen ein improvisiertes Abendbrot zu sich, und wieder andere spielten gedankenverloren auf diversen einfachen Instrumenten. Leonardo erkannte ein paar Kinder aus dem Dorf. Joey

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Hopkins hatte seinen Roller ins Gras geworfen und sich auf die Wiese gehockt, und ein kleines Stück 192 193 weiter saß auch Maxie Brown, der Enkel des ehemaligen Landarztes, und spielte wie üblich die immer gleiche Melodie auf seiner Flöte. Die meisten Gesichter allerdings waren dem Magier fremd. Vor dem Gasthaus stieß er auf Zacharias Flint. »Das sind die Möwentreiber«, erklärte der alte Bauer. »Sie treiben die Möwen an die Küste zurück, sagen sie. Und sie sind arm wie Kirchenmäuse. An denen wird der >Pflug< keinen Penny verdienen.« Leonardo sah sein Gegenüber verständnislos an. »Die sind morgen bestimmt schon wieder verschwunden«, fuhr Zacharias fort. »Kommst du auf ein Bier mit rein?« In der Nacht störten merkwürdige Geräusche - Trommelrhythmen, gespenstischer Sprechgesang, Flügelrauschen - Leonardos Schlaf, und durch diesen bunten Teppich zog sich der zarte Klang eines Blasinstruments, vielleicht von Maxies Flöte... Der Magier war sich nicht sicher, ob er all diese Geräusche gehört oder geträumt hatte, doch als er am nächsten Morgen auf die Straße trat, waren die Äcker und Wiesen wieder leer, und es war still. Möwen und Möwentreiber waren verschwunden. »Ach, bevor du gehst...« Das war natürlich wieder Ruth, die durch ein Fenster an der Straßenseite des Gasthofs nach ihm rief. »Weißt du nun, was mit den Einmachgläsern passieren soll? Der Altwarenhändler kommt heute.« »Einmachgläser?«, fragte Leonardo und war kurz verblüfft. In den letzten vierundzwanzig Stunden war ungemein viel passiert. »Ach so, die alten Einmachgläser! 194 Nein, ich denke nicht, dass ich die noch brauche. Du kannst sie ruhig weggeben.« Ashleighs schlaflose Nächte als ich ein kleines Mädchen war, waren alle Farben und Töne präsent, leuchtend und klar. Aber inzwischen? Na ja, ich bin zwar noch nicht alt, aber ich habe das Gefühl, alles verliert langsam an Kontur. Als Liam, mein Vater und ich mit dem Wagen über Land fuhren, schienen alle Farben in Wald und Flur trist geworden zu sein - wie eine bunte Zeichnung, die an der Sonne verblichen ist. Selbst die Blumen und die Schmetterlinge in den Hecken schienen nicht mehr zu leuchten wie früher, und Vögel, Vierbeiner und Bienen klangen eigenartig gedämpft, als lebten sie hinter Glas. Als ich meinen Vater darauf ansprach, ließ er die Schultern hängen, schüttelte den Kopf und erklärte: »Ach, Ash, du bist zu jung, um alt zu werden.« Das sagte mir nicht gerade viel. Also fragte ich auch Liam. Er sah mich nur mit diesem traurigen Blick an und nickte dann, wie es die Fahrenden manchmal tun - ein kleines weises Nicken. Danach schwieg er lange, meinte aber schließlich: »Das Land ist in Not, Ashleigh.« »In welcher Not denn?« Er schwieg wieder lange, und als ich schon vermutete, er denke bereits an etwas anderes, sagte er: »Das Land stirbt, Ashleigh. Und wir Fahrenden wissen nicht, was wir tun sollen.« Mehr vermochte ich nicht aus ihm herauszubringen, konnte diese Worte aber nicht vergessen. Sie gingen mir 195 die ganze Nacht im Kopf herum. »Das Land stirbt. Das Land stirbt. Das Land stirbt.« Es war, als könnte ich all seine Farben verblassen sehen, all seine Laute immer schwächer werden hören. Dann begannen sämtliche Straßen Risse und Schlaglöcher zu bekommen, und dann waren da all die toten Pferde mit scheußlichen Furunkeln am Hals und all die Fuhrwerke, die kopfüber im Graben lagen. Dann schien ich wieder in der Hauptstadt zu sein, wo überall Müll herumlag, wo die Fenster mit Brettern vernagelt waren und Bettler und Banditen einen aus jeder Seitenstraße anfallen konnten, und dann fragte ich mich langsam, ob Liam nicht Recht hatte. Ich glaube, das war meine erste komplett schlaflose Nacht. Ich dachte immer, so was hätten nur Erwachsene. Doch wenn Erwachsensein so aussieht, sehne ich mich nicht danach. Am nächsten Morgen waren wir nur noch ein, zwei Tagesreisen vom Dorf meines Vaters entfernt auf einer Straße unterwegs, die auf halber Höhe eines Talhangs verlief. Unter uns lag ein ausgetrocknetes Flussbett, rechts vor uns erstreckte sich eine Hügelkette mit sanften runden Kuppen. Ich saß mit Liam auf dem Kutschbock, und mein Vater war wie üblich im Wagen und wurstelte am Herd herum oder so. Nach meiner schlaflosen Nacht fühlte ich mich lausig und war beiden gegenüber total ätzend. Liam und mein Vater versuchten weiter, nett zu mir zu sein, doch das machte alles nur schlimmer. Und dann sahen wir sie. Na ja, eigentlich hörten wir sie zuerst. Das Geräusch kam von vorne und von oben, und zunächst hatten wir keine Ahnung, worum es sich handeln mochte. Es war ein rhythmisches Dröhnen und Grollen, als würde das Meer in einer Höhle widerhallen. Ich war drauf und dran, 196 wieder ins Bett zu gehen und mir ein Kissen auf die Ohren zu drücken, doch Liam hielt mich zurück und flüsterte: »Das sind die Möwentreiber.« Tatsächlich kam über die nächste Kuppe eine Art große weiße Wolke auf uns zu. Erst begriff ich nicht, was es

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war, doch als die Wolke näher kam, sah ich, dass es sich um eine riesige Möwenschar handelte. Kaum hatte ich das erkannt, war ihr Kreischen klar von den anderen Geräuschen zu unterscheiden, und dann verstand ich allmählich, was vorging. Als wir näher kamen, wurden auch die anderen Geräusche deutlicher. Erst war ein Klappern und Knallen zu hören, als würden Töpfe und Pfannen geschlagen, dann fiel mir auf, dass unter all dem auch Stimmen zu erkennen waren. Zunächst verstand ich nichts, doch es war eine Art Sprechgesang, bei dem anscheinend immer der gleiche Satz wiederholt wurde. Als wir um die nächste Kurve bogen, sahen wir sie. Sie kamen eben über den Hügelrücken auf der anderen Talseite. Es mussten mehr als hundert sein, und was mir zuerst auffiel, waren die Farben. Alle trugen Kostüme, die aus farbenfrohen Stoffstücken zusammengenäht waren und aussahen, als wären sie einmal leuchtend wie Clownskostüme gewesen. Nun aber waren sie verblichen wie alles ringsum. Die Möwentreiber hatten Trommeln, Rasseln und ähnliche Musikinstrumente dabei und schlugen und schüttelten sie so heftig, als wollten sie sie kaputtmachen. Und dann verstanden wir schließlich, was sie sangen: Treibt die Möwen zurück an die Küste! Treibt die Möwen zurück an die Küste! Treibt die Möwen zurück an die Küste! Treibt die Möwen zurück an die Küste! 197 Nur das sangen sie, und zwar wieder und wieder - wie kleine Kinder auf dem Schulhof. Die gewaltige Möwenschar flog ihnen stoßweise voraus und ließ sich immer wieder auf dem Boden nieder, doch wenn die Möwentreiber sich näherten, vertrieb ihr Lärm die Vögel, und sie flogen ein Stück weiter, um sich erneut niederzulassen. Inzwischen hatte Liam seine Stute zum Stehen gebracht, und wir saßen einfach nur auf dem Kutschbock und gafften wie Idioten mit halb offenem Mund. Selbst mein Vater war herausgekommen, um zu sehen, was los war. Mir wurde total unheimlich und gruselig zumute - als würde mir das Herz im Halse klopfen und zugleich etwas mit gewaltigen Klauen nach meinem Magen langen. Ich spürte Tränen in den Augen und sah Liam und meinen Vater verstohlen an - und tatsächlich hatten auch sie feuchte Augen bekommen. Es muss fast eine Stunde gedauert haben, ehe die Möwentreiber vorbeigezogen und ihre Geräusche nicht mehr zu hören waren. Nach einer Weile ließ Liam die Peitsche knallen, und wir fuhren weiter, doch den Rest des Vormittags waren wir zu fassungslos, um mehr als ein paar Worte zu wechseln. Als mein Vater am Abend kochte, erzählte mir Liam etwas mehr über die Möwentreiber. Es stellte sich heraus, dass er manches über sie wusste, weil seine Schwester Megan sich während ihres Studiums bei Professor Greening an der Universität der Feld- und Seitenwege mit ihnen beschäftigt hatte. Offenbar hatten die Möwentreiber gemerkt, dass das Land stirbt, und versuchten, es auf die einzige ihnen bekannte Art zu retten: indem sie alle Möwen zurück an die Küste trieben. Das kam mir verrückt vor, aber jemand musste schließlich etwas unternehmen. Jedenfalls wollte ich nach alldem nur noch schlafen, doch wieder ging mir das ganze Zeug im Kopf herum und hielt mich wach. Letzte Nacht war es die ganze Zeit darum gegangen, dass das Land stirbt; diese Nacht waren es die Möwen und die Möwentreiber mit ihrem verrückten Singen, dem Lärm ihrer Instrumente und ihrem stechenden, wahnsinnig wirkenden Blick. Dann waren da ihre Worte, das Schlagen der Trommeln und natürlich das Kreischen von Millionen auffliegender Möwen. Und dann, als ich gerade dachte, ich würde endlich einschlafen, war mir, als hörte ich zwischen all den anderen Tönen noch ein Geräusch, eine schrille Melodie wie von einer Pfeife oder Blockflöte. Oder wie von einer Querflöte. Ja, es klang wie eine Querflöte, die immer die gleichen paar Töne hören ließ. Genau wie es mein kleiner Bruder Maxie immer getan hatte, als er auf der Flöte übte. Also begann ich zu überlegen, was wohl aus ihm geworden sein mochte. War er mit den Möwentreibern gegangen, wie Davinas Mutter prophezeit hatte? Dann musste ich mir sagen, das alles sei doch nur ein Traum, nur ein Traum. Es konnte doch nur ein Traum gewesen sein, oder? Ein, zwei Tage später erreichten wir gegen Mittag endlich das Dorf meines Vaters. Wir kamen aus den Hügeln und passierten die scheußliche große Signalwache, doch statt links runter ins Dorf abzubiegen, fuhren wir an der Kreuzung geradeaus und schlugen unser Lager auf einer kleinen, etwas abgelegenen Lichtung auf, von der Liam erzählte, die Fahrenden würden sie immer benutzen. Ich schätze, er wollte sichergehen, dass Neil mit keinem Pferd in Kontakt käme, das die Seuche hatte. 198 199 Dann beschloss mein Vater, mit mir hinunter ins Dorf zu gehen. Liam wollte später nachkommen, um mit Oma Hopkins den Anstrich ihrer Küche zu besprechen, und meinte, ich brauchte nicht dabei zu sein. Offenbar wollte sie ohnehin immer das gleiche Dunkelbraun an die Wände geklatscht kriegen und war schon zu alt, um sich hellere Farben nahe bringen zu lassen. Also blieb Liam im Wagen, um sein Handwerkszeug vorzubereiten, während ich mit meinem Vater hinunter zum »Pflug« ging. Eigentlich war ich noch zu jung, um das Gasthaus zu betreten, aber mein Vater meinte, man würde uns das wahrscheinlich durchgehen lassen, wenn ich den Mund halten und keine Aufmerksamkeit auf mich lenken würde. Das Dorf wirkte sehr still und irgendwie gespenstisch, weil sonst immer Kinder auf dem Dorfanger oder am

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Bach getobt hatten, diesmal aber keines zu sehen war. Und auch kein Erwachsener. So hatte ich das Dorf noch nie erlebt. Und als wir das Gasthaus erreichten, fiel mir noch etwas auf: Es gab auch keine Möwen. Im »Pflug« war es dunkel, und es roch ekelhaft muffig - nach einer Mixtur aus Sauerbier, kaltem Rauch und abgestandenem Essen. Plötzlich war mir panisch zumute, und ich packte meinen Vater am Arm: »Warum müssen wir hier rein?« Er tätschelte mir fürsorglich die Hand und sagte: »Um nur schnell was zu trinken. Und ich schätze, wir treffen hier jemanden, den ich von früher kenne. Erinnerst du dich noch an meine alte Chefin beim Anzeiger? Miss Garamond? Die ist inzwischen Mrs Pegasus und führt den Laden hier.« 200 Ein kaputtes Rad Der Schankraum war an diesem Tag fast leer. Alle kräftigen Männer des Dorfes waren zu fünft oder sechst in die Hügel gezogen, um nach den vermissten Kindern zu suchen. Die Frauen warteten unterdessen ängstlich daheim und hofften trotz banger Ahnungen, dass ihre heiß geliebten Mädchen und Jungen endlich wieder auftauchten. Ruth Pegasus gehörte zu den wenigen im Dorf, die sich imstande sahen, mit der üblichen Arbeit fortzufahren, und rechtfertigte das vor sich selbst damit, die Gaststätte werde gegen Abend, wenn die Suchtrupps zurückkehrten, eine wichtige Rolle beim Austausch von Nachrichten und Neuigkeiten spielen. Allerdings rechnete sie vorerst nicht mit Gästen und hatte deshalb den ganzen Vormittag Scheite und Anzündholz aus den Nebengebäuden ins Haus geschleppt und dann den Kamin im Salon und im Schankraum das erste Mal in diesem Herbst angeheizt. Gerade hatte sie es sich mit einem kleinen Schnaps gemütlich gemacht, um das munter prasselnde Ergebnis ihrer Arbeit zu genießen, als die Flügeltür aufging und zwei Fremde auftauchten. Der erste war ein ungepflegt aussehender Mann mittleren Alters, dessen Haar mal voll und rot gewesen sein mochte, nun aber schütter und ausgeblichen war. Direkt dahinter folgte halb verdeckt ein schlankes, atemberaubend hübsches rothaariges Mädchen. »Gute Güte! Das ist ja der junge Mister Brown! Rusty!«, rief Ruth. »Typisch, dass Sie an einem Tag wie diesem auftauchen! Und du bist bestimmt Ashleigh. Wie groß du geworden bist! Du bist ja schon eine junge Dame! Als ich 201 dich das letzte Mal gesehen habe, musst du etwa zehn gewesen sein.« Rusty trat näher und ließ sich von seiner ehemaligen Chefin einen recht stoppelbärtigen Kuss verabreichen, während seine Tochter blieb, wo sie war, und verlegen mit dem Aschenbecher spielte, der auf dem Tisch am Eingang stand. »Ihr möchtet doch bestimmt was trinken«, schlug Ruth vor. »Ich gebe einen aus.« Rusty nickte, und kurz darauf saßen die drei am Tisch und stießen miteinander an. »Wir wollen uns hier niederlassen«, erklärte Rusty. »Ich jedenfalls. Was Ashleigh anlangt, bin ich mir nicht so sicher. Ich sollte versuchen, wieder mit Eileen zu reden. Und Ashleigh hat einen Freund - stimmt's, Ash?« Das Mädchen wurde puterrot und senkte den Blick entschlossen zu Boden. »Na ja, an sich ist sie nicht so schüchtern. Allerdings haben wir in letzter Zeit einiges durchmachen müssen.« Kurze Zeit sagte niemand etwas. Schließlich fuhr Rusty fort: »Da rede ich die ganze Zeit über uns und hab mich noch gar nicht nach Ihnen erkundigt.« Ruth lächelte schwach. »Also, wie geht's? Gefällt Ihnen das Leben als Wirtin? Ist es immer so ruhig?« Als Ruth ihnen von der Ankunft der Möwentreiber und dem anschließenden Verschwinden der Dorfkinder erzählte, breitete sich Erschrecken auf Ashleighs Gesicht aus. »Maxie!«, keuchte sie schließlich. Das war das erste Wort, das sie seit Betreten des Gasthauses gesprochen hatte. »Er ist mitgezogen, nicht? Er ist mit den Möwentreibern verschwunden? Ich dachte, das hätte ich geträumt, aber es ist bestimmt wahr! Ach, Papa - was sollen wir bloß machen?« 202 Unterdessen war Leonardo Pegasus wie immer in die Feinheiten des Signalnetzwerks und in die Eigenheiten der Komplexen Empathiemaschine vertieft und hatte vom Verschwinden der Dorfkinder nicht das Geringste mitbekommen. Deshalb war er auch nicht weiter überrascht, an diesem Morgen in der Signalwache auf Joey Hopkins zu treffen. Der Junge war weiterhin erpicht darauf, alle möglichen Gelegenheitsarbeiten für den Magier zu erledigen, und hatte sich darum angewöhnt, am frühen Morgen in die Signalwache zu kommen, die Geräte anzuschalten und alles für Leonardos Ankunft vorzubereiten. An diesem Tag nun ertappte der Magier ihn dabei, wie er vor der Schalttafel der Komplexen Empathiemaschine stand und laut atmend mit den beiden Handgriffen des Geräts spielte. »Joey!«, brüllte er. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Maschine in Ruhe lassen? Du kannst allen möglichen Schaden anrichten... Ganz abgesehen davon, was dir selbst passieren kann«, fügte er hinzu. Der Junge war erschrocken herumgefahren. »Entschuldigung, Meister P, ich hab Sie nicht kommen hören. Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?« »Mir ist heute nicht danach«, grummelte der Magier. »Warum gehst du nicht mit deinen Freunden spielen und lässt mich in Ruhe?« Als ihm auffiel, dass die Unterlippe des Jungen bebte, lenkte er ein. »Vielleicht hab ich wirklich eine Arbeit für dich - sogar eine wichtige.« Mit großen Schritten ging er zum Musikapparat und wartete,

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bis Joey ihm nachgekommen war. »Ich geh gleich wieder ins Netz«, begann er. »Ich muss da jemanden suchen. Das kann lange dauern - deshalb brauchst du sehr viel Geduld.« 203 Der Magier merkte, dass er in die simple Sprechweise gerutscht war, in der er vor Jahrzehnten dummen Lehrlingen die banalsten Aufgaben erklärt hatte, und gönnte sich ein knappes Lächeln. Dann fiel ihm auf, dass Joey erwartungsvoll dastand. »Ich hab den Musikapparat ans Signalnetzwerk angeschlossen«, fuhr er daher fort. »Elektrisch oder hydraulisch, Meister P?«, fragte der Junge. »Sowohl als auch«, erwiderte Leonardo. Donnerwetter, dachte er dabei, der Kerl hat seine Hausaufgaben gemacht. Der kann gar nicht so blöd sein, wie er aussieht. »Und wenn ich gefunden habe, was ich suche, soll der Musikapparat das Wesentliche auf Pergament aufzeichnen. Siehst du diesen Knopf hier... ? « »Ich soll auf >Aufnahme< drücken?«, unterbrach ihn Joey. »Wenn Sie mir ein Zeichen geben?« »Genau. Du musst nur neben dem Mammut bleiben und warten, bis ich >Jetzt< sage. Meinst du, das schaffst du?« »Das ist kinderleicht, Meister P. Sie können sich auf mich verlassen.« Wider Erwarten von Joey beeindruckt, ging Leonardo zurück zur Komplexen Empathiemaschine und setzte den Kopfhörer auf. Nach den frustrierenden Erfahrungen der letzten Tage hatte der Magier nicht damit gerechnet, Hauptmann Lazarus problemlos ausfindig zu machen, doch wie sich herausstellte, lief alles weit besser als erwartet. Kaum hatten sich seine Sinne auf die von der Maschine entsandten Signale eingestellt, fand er sich auf einer belebten Durchgangsstraße wieder, wo er - wie stets — von 204 geisterhaften Böten umgeben war, die geschäftig vorbeihetzten. Und kaum sah er sich um, hatte er die ruhige Stimme von Blaise im Ohr. »Du bist auf der richtigen Spur«, sagte er zu Leonardo. » Und jetzt warte hier kurz. Der Hauptmann ist schon unterwegs.« »Danke«, erwiderte Leonardo lässig. Er hatte sich an die zuerst sehr irritierenden Interventionen von Blaise gewöhnt und festgestellt, dass er spielend damit fertig wurde. Tatsächlich tauchte ein paar Minuten später der Hauptmann vor ihm auf. »Meister Pegasus«, begann der alte Soldat. »Wie eigenartig, Sir, wie eigenartig. Ich hatte gerade an Sie gedacht. Möchten Sie nicht eine Tasse Tee mit mir trinken?« Mit diesen Worten bedeutete er Leonardo, ihm eine Treppe hinaufzufolgen, die in die Schreibstube führte. Merkwürdig, dachte der Magier, ich könnte schwören, diese Stufen waren eben noch nicht da. Aber na ja... Bald saß er wieder in dem tristen kleinen Zimmer auf einem der harten Stühle des Hauptmanns, sah zu, wie sein Bekannter Tee kochte, und fragte sich, wo und wie er anfangen sollte. »Bring ihn dazu, über die Vorschriften zu reden«, riet Blaise. »Damit ihm alles wieder einfällt, was er darüber weiß. Dann brauchst du ihn nur noch zu berühren, und all seine Kenntnisse gehen auf dich über.« »Nochmals vielen Dank.« »Wie bitte?«, fragte der Hauptmann. »Da hab ich wohl was überhört. Ich war in Gedanken ganz weit weg.« »Verzeihung«, sagte Leonardo. »Ich hab nur gerade an die Vorschriften gedacht und überlegt, wie ich je damit klarkommen soll. Haben Sie da eine Idee?« »Ich weiß nicht recht.« Der Hauptmann blieb vor den 205 grün lackierten Hängeregistraturen aus Metall stehen und hielt seinen Teebecher fest in der Rechten. »Ich bin schon seit Ewigkeiten hier, wissen Sie, und kenne alles in- und auswendig. Es gibt neun Hauptabschnitte und sechzehn Anhänge. Jeder Abschnitt hat bis zu zweiunddreißig Unterabschnitte, doch die meisten Anhänge sind ziemlich kurz. Außer Anhang zwölf natürlich - der umfasst zweiundneunzig Klauseln, die sich mit den verschiedenen Arten von Nachrichten befassen...« »Das ist ja hochinteressant!«, rief Leonardo ermunternd. »Noch nicht«, sagte Blaise. »Immer mit der Ruhe.« »Danke«, sagte Leonardo. »Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte der Hauptmann. »Ich schätze, das Nächstliegende wäre, mit Abschnitt eins zu beginnen und sich langsam durchzuarbeiten. Doch vielleicht wäre es für Sie besser, mit Abschnitt vier anzufangen, der den Vertrag zwischen Bote und Absender behandelt und... Aber das kann ich Ihnen doch eigentlich auch rasch skizzieren.« Dabei senkte er den Blick und stellte fest, dass er noch immer seinen vollen Becher in der Hand hatte. »Jetzt!«, flüsterte Blaise. »Danke«, antwortete Leonardo. »Keine Ursache«, sagte der Hauptmann. »Aber wären Sie bitte so freundlich, mir kurz den...« »Selbstverständlich.« Leonardo sprang blitzschnell auf, nahm dem Hauptmann den Becher ab, legte ihm dabei begütigend die Hand auf die linke Schulter...

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... und schrie: »Jetzt!« »Alles klar, Meister P«, krähte Joey irgendwo in der Ferne. »Ein fähiger Junge«, kommentierte Blaise. 206 »Was geht denn jetzt vor?«, wollte der Hauptmann wissen. Dann schienen mehrere Dinge gleichzeitig zu passieren. Leonardo erlebte wie aus weiter Ferne, dass sich der mächtige Blasebalg und andere Teile des Mammut lärmend und bebend in Bewegung setzten, und sah das kräftige Rot der Aufnahmetaste schwach blinken. Zugleich verdrehte der stämmige Hauptmann die hellblauen Augen und sank ihm an die Brust, während sein Teebecher klirrend umstürzte und der Inhalt auf den Boden spritzte. Durch Leonardos Geist und Körper flutete ein mächtiger, unaufhaltsamer Strom von Klauseln, Unterabschnitten und Anhängen, als die Komplexe Empathiemaschine die Vorschriften aus dem Netzwerk auf das leere Blatt Pergament übertrug, das im Mammut eingespannt war. Das Letzte, was der Magier hörte, ehe er bewusstlos wurde, war die Schlagzeugsektion des Mammut, die auf der kleinen Trommel einen flotten Rhythmus schlug und ihn mit schepperndem Beckenklang, klackernden Kastagnetten und dröhnenden Paukenschlägen akzentuierte. Was er da hörte, war die Musik des Hauptmanns. Als Leonardo die Augen wieder aufschlug, war es Abend geworden, und er lag ausgestreckt auf dem kalten Zementboden der Signalwache. Über ihm kauerte die dünne Gestalt von Joey Hopkins. Die vom seitlich einströmenden Abendlicht ins Asymmetrische verzerrten Züge des Jungen entspannten sich, als der Magier wieder zu Bewusstsein kam. »Ich hab Ihnen einen Kaffee gemacht, Meister P«, sagte Joey. »Aber ich schätze, er ist inzwischen kalt und -« 207 »Papperlapapp«, unterbrach ihn Leonardo. »Hat der Musikapparat aufgenommen?« »Das will ich meinen«, gab Joey stolz zurück, kniete sich neben dem Magier auf den Boden, entrollte das Pergament und hielt es mit seinen knochigen Händen ausgebreitet. Auf dem Blatt waren sechs von links nach rechts verlaufende, einander überschneidende Zickzacklinien in verschiedenen blassen Farben zu sehen. »Na bitte!«, frohlockte der Magier. »Die Vorschriften! Wir haben sie auf Pergament konserviert, gewissermaßen eingemacht. Gute Arbeit, Joey, gute Arbeit!« Zum ersten Mal sah er den Jungen lächeln. »Hast du deinen Roller heute nicht dabei?«, fragte Leonardo, als sie alle Geräte ausgeschaltet hatten und sich auf den Rückweg ins Dorf machen wollten. »Das Vorderrad ist kaputt«, antwortete Joey. »Ich hatte noch keine Zeit, es zu reparieren.« Als sie loszogen, fiel Leonardo erstmals auf, dass das linke Bein des Jungen dünner und ein gutes Stück kürzer als das rechte war. Um mit seinem größeren Begleiter Schritt zu halten, musste Joey quälende Humpelsprünge machen. Verlegen verlangsamte der Magier das Tempo. »Nein, Meister, gehen Sie nur voraus«, bat der Junge. »Ich hol Sie später schon wieder ein.« Er hielt einen Moment inne, ehe er wehmütig ergänzte: »Die Möwentreiber hab ich allerdings nicht einholen können.« »Schon gut«, erwiderte Leonardo. »Ich warte.« Gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Tal. Die Hügel und Bäume standen als schwarze Silhouetten vor dem orangefarbenen Rund der untergehenden Sonne. 208 Die Geschichte des Zeitalters der Könige Unter Roderick und Matthew begann sich der Bau der Königlichen Landstraßen erheblich auf die Verkehrsflüsse auszuwirken. Als König Matthew unpässlich wurde, waren Reisen schon schneller, bequemer und preisgünstiger geworden. Das gab den Leuten unter anderem Gelegenheit, ihre Ferien an diversen abenteuerlichen Orten zu verbringen. So ein Reiseziel waren die Äußeren Inseln in den unruhigen Gewässern vor der Nordostküste des Landes. Noch wenige Jahre zuvor hatten sie als so abgelegen und unwirtlich gegolten, dass sie nur für die eigenwilligsten Individualreisenden in Frage kamen. In den Jahren der Unpässlichkeit hingegen hatten sich die Inseln als Feriengebiet bereits einen Namen gemacht, jedenfalls in wohlhabenderen und privilegierteren Kreisen. Das beschauliche Leben der spirituellen Gemeinschaften und die Ruhe und Schönheit ihrer Heiligtümer erwiesen sich als anziehend für überarbeitete und abgespannte Städter. Zu den Ersten, die den Freizeitwert der Inseln erkundeten, gehörten Charles und Sally Bannister. Zwar gab es schon damals Anzeichen für die finanziellen Schwierigkeiten, in die ihre Automobilfabrik bald geriet, doch die brutalen Folgen, die die Brennstoffknappheit und die Epidemie unter den Zugtieren für das gesamte Verkehrswesen haben sollten, waren damals noch nicht in ganzer Tragweite erkennbar. Das Paar besuchte die Inseln bald jährlich, und dort machte Charles Bannister im siebzehnten Regierungsjahr König Matthews auch jene berühmte Entdeckung, deretwegen man sich bis heute an ihn erinnert. 209 Zur Abwechslung besuchte das Paar jeweils ein anderes Eiland und fuhr damals erstmalig auf die Erdinsel. Als die beiden am kleinen Anleger von der Fähre stiegen, ahnten sie nicht, welche Eindrücke und Beobachtungen sie erwarten sollten.

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Im Laufe der nächsten Tage aber stellten sie fest, dass die Insel primär aus flachem, so trost- wie baumlosem Marschland bestand, das nur auf einer Seite des Eilands sanft zu einem flachen Hügel anstieg. Es zeigte sich, dass auf der Erdinsel ausschließlich Männer lebten, allerdings nur vorübergehend: Die auf den Äußeren Inseln geborenen Männer mussten jedes sechste Jahr ihres Lebens auf der Insel verbringen, wo sie in primitiven Steinhütten wohnten und den größeren Teil des Tages damit verbrachten, den Marschboden umzugraben. Charles beobachtete diese Tätigkeit recht neugierig, denn die Männer bearbeiteten den Boden nicht, um etwas anzupflanzen, sondern bauten eine Art Torf ab, den sie auf Schubkarren luden und auf die andere Seite der Insel brachten. Dort wurde die schwere, dunkelbraune Masse in ziegelgroße Quader geteilt und in Trockenöfen geschoben, wo sie sich binnen Tagen in Briketts verwandelte, die bis zum Winter in Schuppen lagerten. Charles war von alldem fasziniert und holte Informationen darüber ein. Anfangs waren die Insulaner etwas misstrauisch, was die Absichten ihres Gastes anlangte, doch mit der Zeit konnte der geduldige Charles ihnen die erstaunliche Neuigkeit entlocken, dass die Briketts auf die übrigen Inseln gebracht und dort an alle Haushalte verteilt werden sollten. Wenn man sie in Herd oder Kamin verbrannte oder den Boiler damit beheizte, bewährten sie sich - so erfuhr er - als Brennstoff von wunderbarer Ergiebigkeit! 210 Nicht ohne Schwierigkeiten machten sich die Bannisters gleich daran, eine Ladung Briketts zu kaufen, und ließen sie umgehend an die Forschungsabteilung ihrer Automobilfabrik schicken. Auf den Äußeren Inseln, so glaubte Charles Bannister, lag die neue Kraftstoffquelle für Autos, die - wie er hoffte - seine Fabrik aus ihren Schwierigkeiten retten würde. Seine Wissenschaftler und Techniker sollten umgehend eine Methode entwickeln, Autos mit dem neuen Brennstoff zu betreiben. Der Erfolg dieses Unterfangens wird heutzutage natürlich sehr gefeiert. Was darüber gern vergessen wird, ist das Schicksal der Äußeren Inseln. Während nämlich die Nachfrage nach den neuen Bannister-Automobilen in den nächsten Jahren ständig stieg, führte der Abbau von immer mehr Brennstoff schließlich zur völligen Verwüstung der Inseln. Es ist paradox, dass Friede und Abgeschiedenheit, die die Bannisters ursprünglich dorthin gezogen hatten, als direkte Folge des Handelns der Bannister-Werke am Ende völlig zerstört waren. Bis zum Regierungsantritt von König, Matthew wurden Nachrichten mittels Signalflaggen von Station zu Station übertragen. Unter Aufsicht von Flaggenmeistern wurden sie täglich an markanten Punkten der Hauptstadt aufgezogen, konnten aber nur von Personen interpretiert werden, die den Flaggencode genau kannten. Erst im dritten Jahr der Regierung von König Matthew schuf die Einführung des elektrischen Flaggenbetriebs die Basis eines neues Kommunikationssystems, das letztlich jeder nutzen konnte. Das Signalnetzwerk erstreckte sich bald in jeden Winkel des Landes und erwies sich als leistungsfähiges, preisgünstiges und beliebtes Mittel für die Übertragung von Botschaften und Informationen nicht nur 211 im Bereich von Handel und Verwaltung, sondern auch zwischen Freunden und Familienmitgliedern. Kurzum: Es schien wie geschaffen, die Kommunikation in fast jedem Bereich des täglichen Lebens zu revolutionieren. Doch jede Erfindung birgt ihre eigenen Risiken und Gefahren, und das Signalnetzwerk sollte da keine Ausnahme sein. Wir wissen noch nicht, woher das Koboldfieber stammt, doch das Netzwerk wies bald nach seiner Inbetriebnahme Verschmutzungen auf, die schließlich zu Epidemien von Wahnsinn und unsinnigem Verhalten führten, die sich in den letzten Jahren der Unpässlichkeit des Königs im ganzen Land ausbreiteten. Diese Verhaltensstörungen zeigten sich meist als Besessenheit: Infizierte Personen interessierten sich nur noch für eine Tätigkeit und vernachlässigten darüber alle anderen. Zu diesen Beschäftigungen gehörten, das Tanzen, das Schrubben von Fußböden, das Anstreichen von Wänden und diverse monotone Tätigkeiten wie das Laufen im Kreis. Auch sollten wir nicht vergessen, dass gleichzeitig eine Reihe von Organisationen mit ausgefallenen Zielen und Ansichten - wie die Linksfüßigen Töchter und die Möwentreiber - starken Zulauf hatte. Viele dieser Aktivitäten waren natürlich nicht per se schädlich, doch man kann sich vielleicht vorstellen, dass es in einer Welt, wo solche Dinge weit verbreitet sind, immer schwieriger wird, einigermaßen normal zu leben. So eine Lage erforderte sowohl eine strenge und entschlossene Führung als auch unablässige Wachsamkeit von Seiten der Polizei und Justiz, doch das war - wie sich herausstellen sollte - leider nicht der Fall. Alles wäre womöglich dennoch gut ausgegangen, wenn nicht der Usurpator selbst das Signalnetzwerk häufig benutzt hätte. 212 Personen, die in dieser Zeit regelmäßig mit dem Hochmeister zu tun hatten, berichteten, es sei immer schwieriger geworden, sich mit ihm zu verständigen, doch erst in den letzten Monaten seiner Regierungszeit wurde die Natur von Fangs Besessenheit deutlich: Seine Gedanken kreisten - wie die von Charles Bannister — zwanghaft um Brennstoff. Als Fang begriff, dass der Grenzkrieg im Süden mit einer Niederlage enden würde, begann er sich ausschließlich auf die Suche nach einer neuen Energiequelle zu konzentrieren und kümmerte sich nicht mehr um Regierung und Verwaltung des Landes und die Arbeit von Polizei und Justiz. Das sollte - wie wir wissen - zu seinem Untergang führen. (aus Band 4: Die Regierung von Fang dem Usurpator) 213 FÜNFTES KAPITEL Gegenbewegung Die Möwen sind gekommen und gegangen, und mit den Möwen sind die Treiber verschwunden - und mit ihnen

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alle Kinder. Alle bis auf eins. Ich sehe jetzt viel deutlicher, Leonardo - dich und die um dich herum. Und ich weiß jetzt viel besser, was du für mich tun musst. Ich hab dich gesehen und gehört, und auch du hast mich gehört, als ich dir ermunternde Worte und Ratschläge zuflüsterte. Und als der seltsame Apparat ankam und sich so unverschämt an deinem Arbeitsplatz breitmachte, hast du auf mich gehört, Leonardo, deinen Ärger im Zaum gehalten und dich schließlich auf das Furcht einflößende Riesengerät eingelassen. Inzwischen lernst du, wozu es gut ist - du lernst, dir seine Kraft zunutze zu machen, um an die Geheimnisse des alten Kämpen Lazarus zu gelangen, an all die Details seiner in Abschnitte und Anhänge unterteilten Vorschriften. Denn endlich hast du dich in die Höhle nicht des Löwen, sondern des Hauptmanns gewagt und die Musik der Roten auf Pergament übertragen. Langsam durchschaust du das Bewegungsmuster, dem sie auf ihren rätselhaften Roten- 215 gangen folgen. Und vielleicht hast du sogar schon ein paar Geheimnisse des Widersachers aufgedeckt. Denn endlich hat er begonnen, uns zu fürchten. Mit dieser Furcht ist es nicht weit her. Sie ist nicht mehr als ein leichter Anflug von Angst, vielleicht auch nur dessen Vorbote — ein Wispern, mehr nicht. Und doch ist es Furcht, Leonardo. Und solange du an meiner Seite bleibst, wird sie wachsen, bis sie groß und gewaltig ist. Vielleicht ist der Weg zum Sieg dann frei. Denn jetzt kommen die anderen näher, Leonardo, deren Umrisse ich erst nur schemenhaft und wie durch Nebel gesehen habe und die lange gebraucht haben, um endlich anzukommen. Jetzt sehe ich sie ganz deutlich. Einen Mann und ein junges Mädchen. Ich sehe sie, doch einordnen kann ich sie noch nicht. Sind sie Kinder der Landstraße oder des Meeres, Fahrende oder Inselbewohner? Besitzen sie vielleicht die Gabe? Gehören sie zu den wundersamen Wesen, die im Auge ihres Gegenübers dessen gesamten Lebensweg erblicken? Oder sehen sie womöglich mit dem Auge des Turmfalken? Können sie das Land aus großer Höhe abtasten wie ein kreisender Raubvogel? Oder sind sie Verwundete, Kinder der Stadt? Gehören sie zu den schlauen Leuten, die erst jüngst und von weit her zu uns kamen? Ich weiß es nicht. Der Mann freilich beherrscht - das spüre ich - eine seltsame, namenlose Kunst. Vielleicht die Fähigkeit, Entfernungen genau zu schätzen, sich leicht und zuverlässig im Gelände zu orientieren und uns - die wir uns sonst 216 gewiss verlaufen würden - sicher von einem Ort zum anderen zu führen. In dem Mädchen spüre ich jugendliche Leidenschaft, Unschuld, Zorn und Freude, die heute so stark scheinen, im Laufe der Jahre aber sicher nachlassen. Das sind Eigenschaften, die du und ich verloren haben, Leonardo, und die wir zurückgewinnen müssen, wenn wir siegen wollen. Wir müssen die beiden treffen, Leonardo, und zwar bald, denn jeder von ihnen hat etwas, das wir unbedingt brauchen. Jetzt sehe ich auch den Lahmen. Er kriecht nicht, wie ich zuvor geglaubt habe — er hinkt. Ja, Joey - den Jungen, an dem du so lange deine Wut abreagiert hast - brauchen wir am nötigsten. Er ist der Schlüssel des Kommenden und hat eine besondere Fähigkeit, die noch keiner von uns begreift. Wir brauchen den Mann, Leonardo, und das junge Mädchen. Am meisten aber brauchen wir den Jungen. Den Jungen, den die Möwentreiber vergessen haben. Ashleigh sucht ihren Bruder Ihr wisst ja, wie Erwachsene sind, wenn sie mittags ein paar Gläschen getrunken haben: Egal, was man unternehmen will, und egal, wie wichtig es wäre, dass sie einem dabei helfen - sie kriegen den Hintern nicht hoch. Man bekommt immer nur »Gleich!« oder »Nun drängle 217 4 doch nicht so!« oder sonst einen dämlichen Erwachsenenspruch zu hören und weiß, dass sie sich eigentlich nur hinlegen und drei Stunden pennen wollen. Erwachsene machen mich wahnsinnig. Ich versteh einfach nicht, warum sie nicht sagen, was sie meinen, und fertig! Na ja - ich will eigentlich darauf hinaus, dass mein Vater sich haargenau so aufführte, als wir ins Dorf kamen. Kaum hatte er sich mit der alten Hexe Mrs Pegasus hingesetzt, kaum hatten sie ein, zwei Flaschen getrunken und kaum hatte sie einige ihrer scheußlichen Zigaretten geraucht, waren die beiden nicht mehr zu halten. Sie redeten und redeten über die alten Zeiten beim Anzeiger, und Mrs Pegasus berührte meinen Vater dabei dann und wann auf eine Tour am Arm, bei der mir geradezu übel wurde, und nannte ihn ständig »mein junger Mister Brown«. Ich saß mit meiner Zitronenlimo daneben und langweilte mich zu Tode, wurde zugleich aber halb wahnsinnig. Ich war angeödet, weil sie immer weiter über Dinge redeten, von denen ich keinerlei Ahnung hatte, so dass ich mich an ihrem Gespräch absolut nicht beteiligen konnte; zugleich aber machte mich ihr Geschwätz rasend, weil ich inzwischen überzeugt war, Maxie sei mit den Möwentreibern auf und davon gezogen. Deshalb wollte ich ihn

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unbedingt suchen gehen, doch mein Vater und Mrs Pegasus waren nicht aus der Ruhe zu bringen, sondern faselten immer weiter. Irgendwie brachte ich es auch nicht fertig, aufzustehen und wegzugehen. Ich hielt das für zu unhöflich. Vermutlich bin ich im Innersten wirklich nur ein gut erzogenes Kind aus der Mittelschicht. Am Ende hatten sie jeweils vier, fünf Flaschen Bier getrunken. Nach einer Weile schienen ihnen die Themen auszugehen, und beide wirkten gleichermaßen bett- 218 schwer. Da raffte sich Mrs Pegasus auf und meinte, sie müsse noch einiges erledigen, ehe Leo nach Hause komme. Leo war ihr Mann, hieß eigentlich Leonardo und saß in der scheußlichen Signalwache an einer Geheimsache. Kaum war Ruth gegangen, merkte ich, dass mein Vater drauf und dran war, auf seinem Stuhl einzuschlafen. Also putzte ich ihn kräftig runter. »Wie kannst du einfach hier herumsitzen, während Maxie in den Hügeln verschwunden ist und wir nicht mal wissen, was ihm zugestoßen sein mag?«, fragte ich. »Ach komm, Ash«, sagte er auf seine wichtigtuerische Art. »Es ist doch noch nicht mal sicher, ob er überhaupt verschwunden ist. Außerdem ist das jetzt Sache deiner Mutter. Wenn du dir solche Sorgen machst, geh doch zu ihr und erkundige dich nach ihm.« Daraufhin wollte ich ihn dazu bringen, mich zu Großvater zu begleiten, doch er machte lauter Ausflüchte und meinte, er wolle erst ein paar Tage abwarten, ehe er sich an meine Mutter heranwage. Als ich das hörte, verlor ich endgültig die Geduld. »Dir ist deine Familie ja total egal! Sonst würdest du wenigstens jetzt deinen verdammten Arsch hochkriegen!«, brüllte ich ihn an. Er sah etwas bestürzt drein - vermutlich, weil er mich nie zuvor hatte fluchen hören - und musste kurz nachdenken, ehe er antwortete: »Na gut, gleich.« Und dann ist er - ich schwör's — einfach eingeschlafen! Na, das war's wohl. Ich stapfte aus dem Gasthaus und ging am Dorfanger, an Hütten und struppigen Weiden vorbei wieder den Hügel hinauf zum Wohnwagen. Wenn mein Vater nicht mit mir nach Maxie suchen wollte, konnte ich vielleicht Liam dazu bringen. Als der Hügel steiler wurde, musste ich langsamer gehen, doch 219 schließlich erreichte ich die Kreuzung an der Kirche und fand von dort zur Lichtung zurück. Es war noch immer im ganzen Dorf totenstill und absolut unheimlich. Ich hatte erwartet, Liam im Wagen zu treffen, doch als ich hinkam, war die Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert, und er war nirgends zu sehen. Nur die alte Neil graste friedlich am Wegesrand. Dann fiel mir ein, dass Liam gesagt hatte, er müsse zu Oma Hopkins. Also war er wahrscheinlich noch dort und besprach womöglich gerade, welchen Braunton sie diesmal an den Wänden haben wollte. Ich wusste nicht, wo Oma Hopkins wohnte, und war nicht mutig genug, einfach irgendwo anzuklopfen und zu fragen. Also blieb mir nur eines übrig: Ich musste zu Großvater, um zu sehen, ob Maxie zu Hause war. Offen gestanden machte mich dieser Gedanke etwas nervös, weil ich seit Jahren nicht mehr dort gewesen war, doch kurze Zeit später stieg ich die Stufen zur Haustür hinauf und betätigte den großen Türklopfer aus Messing. Nichts regte sich. Ich versuchte es ein paar mal, wartete — um ganz sicherzugehen - etwa zwanzig Minuten und klopfte erneut mehrmals, doch niemand öffnete. Offenbar schaffte Großvater es also nicht aus dem Bett, und meine Mutter und Maxie waren nicht zu Hause. Demnach war Maxie tatsächlich verschwunden, und meine Mutter hatte sich einem Suchtrupp angeschlossen. Ich überlegte schon, auf eigene Faust nach ihm zu suchen, doch dann fiel mir etwas aus dem Unterricht bei den Katzenmädchen ein: wie man vorzugehen hat, wenn jemand vermisst wird. Nein, dachte ich, setz dich besser keiner unnötigen Gefahr aus, sondern warte bis morgen, und schließ dich dann einem regulären Suchtrupp an. Das war eine 220 schwere Entscheidung, weil ich so gern etwas unternommen hätte, doch ich führte mir vor Augen, dass es auf den Feldwegen bald dunkel wurde und ich nicht wusste, welche Gefahren draußen in den Hügeln lauerten. Merkwürdig - ich hätte keinen Moment gezögert, allein in die Neustadt oder sonst wohin in der Hauptstadt zu tigern, doch hier draußen auf dem Land schien alles viel unheimlicher, ohne dass ich recht wusste, warum. Danach spazierte ich noch ein wenig durchs Dorf und hielt nach Spuren Ausschau, fand aber natürlich keine. Ich muss zugeben, dass all dies für eine Jungkommissarin absolut erbärmlich war. Schließlich wusste ich nicht mehr weiter und ging wieder zur Gaststätte. Dorthin wollte ich eigentlich nicht zurückkehren, weil ich noch immer total sauer auf meinen Vater war, doch ich hatte keinen Schimmer, wohin ich sonst gehen sollte. Als ich das Gasthaus erreichte, wurde es langsam dunkel, und in Schankraum und Nebenzimmer waren bereits die Lampen angezündet. Ich schlich mich von der Seite an, spähte durchs Fenster und sah lauter Erwachsene an den Tischen sitzen, rauchen und mit sehr ernster Miene miteinander reden. Meine Mutter konnte ich nirgendwo entdecken, doch sie war nie gern in Kneipen gegangen - es war also nicht allzu verwunderlich, dass sie fehlte. Mein Vater hingegen saß mit zwei Leuten an einem Tisch beim Kamin, mit dieser Ruth nämlich und einem seltsam aussehenden Alten mit Bärtchen, bei dem es sich wahrscheinlich um Leonardo Pegasus handelte. Die drei hatten Flaschen vor sich, und mein Vater und Leonardo wirkten alles andere als ernst, sondern lachten sich über eine Bemerkung von Ruth fast kaputt. 221 Das war einfach unglaublich! Sie saßen da und ließen es sich gut gehen, während der arme Maxie womöglich

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halb totgeprügelt in einem Graben lag! Noch ehe ich mich abgewandt hatte, spürte ich, wie mir die Tränen kamen. Als Nächstes erinnere ich mich daran, wie ein kleines Kind heulend über die Dorfstraße gelaufen zu sein. Dann stand ich wieder vor Großvaters Haus und hämmerte wie wild gegen die Tür. Ich schätze, ich sah ziemlich verboten aus, als meine Mutter öffnete. Wahrscheinlich war ich total verstaubt und in Tränen aufgelöst und sah gar nicht nach der coolen Jungkommissarin aus, die ich gern gewesen wäre, doch sie legte nicht mal ihren Besen beiseite, sondern fragte nur: »Was machst du denn hier? Und wo ist dein Vater? Und was hast du da für ein entsetzliches Ding um den Hals?« Dabei sah sie mich an, als sei ich etwas, das der Hund abgesetzt hatte. Toller Empfang! »Wo ist Maxie?«, fragte ich. »Geht's ihm gut?« »Das interessiert dich doch nicht die Bohne!«, fuhr sie mich an. »Sonst wärst du schon viel früher hier aufgekreuzt. « Dann wandte sie sich einfach ab und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Ich hämmerte und hämmerte dagegen, doch sie machte nicht mehr auf. Schließlich kapitulierte ich und ging langsam zur Lichtung hoch. Dabei hatte ich das Gefühl, niemand wolle mehr etwas mit mir zu tun haben. Als ich den Wagen erreichte, war es fast dunkel, doch ich hörte Neil Gras rupfen, und drinnen brannte Licht. Also schleppte ich mich die Stufen rauf und sah Liam dasitzen und Abendessen zubereiten. Ich stürzte wie eine Wahnsinnige in den Wagen und schrie: »Papa war absolut schrecklich zu mir, und Mama will nichts mehr mit mir zu tun haben, und Maxie ist verschwunden, und ich 222 weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Plötzlich heulte ich wieder Rotz und Wasser. Liam hat sich ganz toll verhalten. Er musste sofort gesehen haben, wie aufgebracht ich war, denn er versuchte nicht, etwas zu sagen, sondern stand nur auf, kam zu mir, umarmte mich und hielt mich fest. Ich roch, wie das Essen hinter ihm anbrannte, aber er unternahm nichts. Bald war der ganze Wagen verqualmt, doch das war uns egal. Als ich mich etwas beruhigt hatte, half ich ihm beim Saubermachen, und dann kochten wir uns was anderes und tranken ein Glas Wein dazu und noch eins, und dann war es Zeit, schlafen zu gehen. Inzwischen war es ziemlich spät, doch noch immer war von meinem ^ater nichts zu hören oder zu sehen. Keiner von uns sprach dieses Thema an, doch ich denke, wir wussten beide, dass er diese Nacht nicht zurückkommen würde. Dann sah Liam mich an und ich ihn, dann sahen wir auf das große Bett, und dann muss einer von uns die Bettdecke aufgeschlagen haben. Ich schätze, ich muss euch nicht erzählen, was dann passiert ist. Heißt es nicht immer, so was geschehe zur rechten Zeit? Ich denke jedenfalls, Liam und ich wussten, dass es an diesem Abend so weit war. Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass wir nicht mal daran gedacht hatten, die Tür zu verriegeln. Das passierte uns danach natürlich nicht mehr. Doch wie sich erwies, tauchte mein Vater auch in den nächsten Nächten nicht auf. 223 Rhythmus pur »Ich mag die schwarzen Körner ganz gern«, sagte Ruth. »Die schmecken wenigstens nach was. Aber wenn du sie lieber liegen lässt, bin ich auch nicht beleidigt.« Rusty starrte finster auf das pappige Durcheinander auf dem Teller, kalkulierte die Vor- und Nachteile, es zu süßen, und langte dann nach dem Zuckerstreuer. »Ich salze das inzwischen«, erklärte Leonardo. »Das hab ich von meiner Frau. Erstaunlich - vor fünf Jahren hätte ich so was nicht mal in Erwägung gezogen.« Die drei saßen in der Küche der Gaststätte und probierten den ersten Haferbrei, den Ruth diesen Herbst gekocht hatte. »Ein paar Finessen hab ich offenbar vergessen«, sagte sie schließlich widerwillig. »Ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb. Aber egal. Ich schätze, die fallen mir in den nächsten ein, zwei Tagen wieder ein.« Die beiden Männer schwiegen unverbindlich. Schließlich schob Ruth den Teller beiseite, griff nach ihren Zigaretten und fragte: »Also, was habt ihr zwei heute vor?« »Ich weiß noch nicht recht«, begann Rusty. »Ich sollte Eileen wohl endlich besuchen gehen. Deshalb bin ich ja gekommen. Aber irgendwie fällt mir das immer schwerer, je länger ich es aufschiebe.« Er hatte die letzten Tage im »Pflug« in einem Gästezimmer übernachtet, da er weder Frau noch Tochter hatte begegnen wollen. Anfangs hatte er sich den Suchtrupps angeschlossen, die die Hügel nach den vermissten Kindern durchkämmten, doch bald war allen die Vergeblichkeit dieser Bemühungen klar geworden, und sie hatten die Suche schweren Herzens abgebrochen. Nun war Rusty kurz davor, wieder in 224 jene Apathie abzugleiten, von der er durch die Reise eigentlich zu genesen gehofft hatte. Mit zusammengekniffenen Augen warf Leonardo ihm einen prüfenden Blick zu. »Kommen Sie doch mit in die Signalwache«, schlug er vor. »Vielleicht interessiert Sie, was ich da oben treibe. Außerdem können Sie mir vielleicht bei einer Sache helfen.« »Gut«, erwiderte Rusty. »Warum nicht? So hab ich wenigstens was zu tun.« »Dann schmier ich heute Butterbrote für zwei«, sagte Ruth. »Mit Käse oder mit Schinken?« »Sie haben doch bestimmt schon eine Signalmaschine benutzt?«, fragte Leonardo. »Sind Ihnen da mal Kobolde begegnet? Es gibt einen namens Lee, an dem ich besonders interessiert bin.«

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Die beiden hatten gerade das Gasthaus verlassen und gingen auf der Dorfstraße Richtung Signalwache. Das Wetter schien Ruths Umstellung des Speiseplans auf winterliche Gerichte gerecht werden zu wollen: Es war ein klarer, ausgesprochen frischer Herbsttag. »Ich hab diese Maschine im Büro viel benutzt, als ich noch Stadtpläne und Landkarten verlegt habe«, erwiderte Rusty. »Eine Zeit lang hatten wir auch zu Hause eine und fingen uns tatsächlich einen Kobold. Der hat uns viel Ärger gemacht. Die Kinder gerieten vorübergehend auf Abwege, und schließlich ist Eileen - also meine Frau - ausgezogen. Sogar unser Untermieter wurde ein wenig seltsam. Offen gesagt hat er sich umgebracht.« Rusty blickte finster zu Boden und schlurfte durchs raschelnde Laub. »Danach hab ich die Maschine verkauft, doch die Auswirkungen, die sie auf mein Leben hatte, 225 hab ich noch immer nicht bewältigt. Darum bin ich vermutlich gekommen.« Er trat beiseite, um eine kleine Gruppe passieren zu lassen, die ihnen entgegenkam. Ein dunkelhaariger junger Mann führte ein schwer beladenes Pferd. Ein schlankes, hübsches, rothaariges Mädchen, in dem Rusty erst sehr spät seine Tochter erkannte, hatte sich bei dem jungen Mann untergehakt. »Ashleigh?« Die aber presste nur die Lippen zusammen und ging weiter. »Tut mir leid«, sagte Leonardo. »Wollen Sie nicht...?« »Nein«, gab Rusty resigniert zurück. »Ich lasse sie besser in Ruhe. Früher oder später kommt sie vermutlich wieder zur Vernunft.« Doch er konnte den heimtückischen Gedanken nicht ganz verdrängen, der sich immer wieder bei ihm meldete: Er hat sie mir gestohlen. Er hat sie mir gestohlen... Schließlich merkte er, dass der Magier noch immer redete. »Verzeihung«, murmelte er. »Ich war in Gedanken woanders. Was sagten Sie gerade?« »Es geht noch immer um die Kobolde«, wiederholte Leonardo gereizt. »Vor allem um diesen Lee, den ich vorhin erwähnte.« Rusty nickte bestätigend. »Wissen Sie, ich sitze gerade im Auftrag des Palasts an einer kniffligen Aufgabe«, fuhr der Magier fort. »Im Auftrag eines ziemlich hohen Tiers übrigens. Ich soll das Netz von Lee und den anderen Kobolden befreien. Seit Monaten arbeite ich schon daran, und langsam ist mir klar geworden, dass ich es allein nicht schaffen kann. Deshalb such ich nun ein paar Helfer, und da hab ich auch an Sie gedacht. Hier müssen wir abbiegen. Es wird jetzt etwas steinig. Ich hoffe, Sie haben gutes Schuhwerk.« Sie hat- 226 ten die Kreuzung an der Kirche erreicht und konnten die Signalwache in der Ferne liegen sehen. »Ashleigh hat so was Ähnliches getan«, erinnerte sich Rusty. »Als sie noch bei den Katzenmädchen war. Da haben sie Leuten, die an Koboldfieber litten, die Signalmaschine kaputtgemacht. Sie hat ziemlich viel Ärger deswegen bekommen.« »Dann wollte sie also den Unterschlupf des Kobolds zerstören«, sagte Leonardo. »Ein weit verbreitetes Missverständnis, denn es handelt sich ja nicht um Heerscharen kleiner Dämonen. Wir haben es mit nur einer Kraft zu tun, die hinter allen Kobolden steckt - einem Widersacher namens Lee. Und Lee bewohnt das ganze Netzwerk, nicht nur einzelne Signalmaschinen. Man müsste also das komplette Netz zerstören, jede Signalmaschine und Signalwache. Aber das hieße...« »... das Kind mit dem Bade auszuschütten?«, schlug Rusty vor. »Genau!«, erwiderte Leonardo. Hatte sein Begleiter gerade respektlos geklungen? »Wir müssen den Widersacher im Netz bekämpfen. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Da sind wir ja. Schaffen Sie es, die Tür aufzusperren?« »Ich denke doch. Ist dieser Riegel zum Schieben oder zum Heben?« »Wirf die Musik an, Joey«, befahl der Magier. Die beiden Männer ließen sich vor dem Mammut nieder, während Joey an die Schalter flitzte. »Und lass sie einfach spielen. Mein lieber Mister Brown - ich möchte, dass Sie aufmerksam zuhören.« Rusty lauschte gehorsam, als die Schlagzeuggruppe des Apparats ihren klaren Marschrhythmus erklingen ließ. 227 »Der ist von Hauptmann Lazarus«, erklärte Leonardo. »Er hat mir alles über die Vorschriften erzählt. Sie stellen die elementaren Verhaltensregeln im Netz dar, die mathematischen Grundlagen. Verstehen Sie so etwa, was ich Ihnen erzähle?« »Ich schätze, ja.« Rusty hatte vor Konzentration die Stirn gerunzelt. »Aber was ist das?« Ein gedämpftes Trompetentrio hatte sich unauffällig ins Spiel gebracht und warf dann und wann kurze, kantige Phrasen ein. »Das ist einer namens Blaise, der ab und zu mit mir spricht«, erklärte Leonardo. »Er gibt mir kleine Hinweise, wann ich die Richtung wechseln und welche Entscheidungen ich treffen soll - solche Sachen.« »Ellbogen und Knie?«, schlug Rusty vor und war selbst überrascht, sich ähnlich exzentrischer Metaphern zu bedienen wie der Magier. »Ja, das beschreibt es ziemlich gut.« Leonardo nickte und notierte dann etwas auf ein Stück Pergament, das er in seiner Robe gefunden hatte. »Ich weiß zwar nicht, was dazwischen kommt, aber ich arbeite daran. Hören Sie sich das mal an.« Die tiefe, schreitende Tonfolge eines kratzigen Blechbläsers tauchte mitunter zwischen den Schlagzeugklängen auf.

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Rustys Finger klopften einen Rhythmus auf die Stuhlkante. »Ziemlich cool«, sagte er. »Verzeihung, das ist eins von Ashleighs Lieblingswörtern. Woher kommen denn diese Töne?« Leonardo errötete. »Ich schätze, das bin ich«, räumte er ein. »Oder schmeichle ich mir da? Ich bin dazu bestimmt, immer eine Posaune im Orchester des Lebens zu sein.« Sie lauschten noch ein wenig, doch die Musik blieb unverändert. 228 »Gut, Joey, das reicht erst mal«, rief Leonardo. »Mach uns doch bitte Kaffee. Ich möchte demnächst den Beitrag von Mister Brown aufzeichnen.« Joey zog sich in die Ecke zurück, in der die Kaffeemaschine stand, während Leonardo seinen Gast an die wichtigste Schalttafel der Komplexen Empathiemaschine führte. »Und was soll ich tun?«, fragte Rusty. »Was brauchen Sie?« »Ihren Orientierungssinn«, erklärte Leonardo. »Sie haben doch Kartografie studiert, stimmt's? Hier, setzen Sie den mal auf.« Er reichte Rusty einen Kopfhörer. »Passt der?« »Ich hab mein Studium aber nicht abgeschlossen«, rief Rusty, durch die Geräuschdämpfung des Kopfhörers irritiert. »Sie brauchen nicht zu schreien«, schrie Leonardo. »Verzeihung«, erwiderte Rusty. »So was hatte ich schon einige Zeit nicht mehr auf. Ich wollte nur sagen, dass ich das Examen nicht geschafft habe, obwohl ich Talent hatte. In Kartografie, meine ich. Später hab ich Landkarten und Stadtpläne verlegt.« »Ich weiß«, sagte Leonardo, »im Michael Brown Verlag. Das hat mir Mrs Pegasus in allen Einzelheiten berichtet. Nehmen Sie jetzt einfach die Handgriffe... nein, vorsichtiger, etwa so... und sehen Sie hier durch.« Nachdem Leonardo sich davon überzeugt hatte, dass sein Besucher richtig verkabelt war, nahm er neben ihm Platz, sah durch das benachbarte Okular und setzte sich ebenfalls einen Kopfhörer auf. In diesem Moment erschien Joey mit zwei weißblau gestreiften Kaffeebechern. »Stell sie einfach vor uns ab«, murmelte Leonardo. »Und dann warte neben dem Musikapparat.« Gehorsam 229 ging der Junge auf seinen Posten und zog dabei sein kürzeres Bein nach. Leonardo und Rusty bummelten die Hauptdurchgangsstraße des Netzwerks entlang. Es war viel los. Geisterhafte Gestalten hetzten in jede Richtung an ihnen vorbei, kamen geschäftig aus Nebenstraßen gesaust oder verschwanden darin und stiegen gelegentlich in Kanalschächte ab oder steil zum Himmel auf. »Was mach ich hier?«, fragte Rusty. »Gehen wir einfach weiter«, schlug Leonardo vor. »Finden Sie erst mal raus, wie das hier läuft. Es ist ganz einfach, stimmt's? Fühlen Sie sich wohl?« »Durchaus. Was sind das für durchsichtige Wesen?« »Ach, machen Sie sich über die keine Gedanken«, sagte Leonardo leichthin. »Die nennt man Boten, aber sie tun Ihnen nichts. Biegen wir doch hier ab.« Sie wandten sich scharf nach links und schlenderten nun auf einem ruhigen Feldweg einen Hügel hinunter. »Die Sache ist die«, begann Leonardo nach einer Weile, »dass ich hier nichts wieder finden kann. Ich glaube immer zu wissen, wo es ist, aber wenn ich zurückkehre, ist alles anders, und falls ich doch etwas zum zweiten Mal entdecke, dann höchstens zufällig.« »Du solltest mehr Vertrauen in den Zufall haben«, sagte Blaise. »Wer war das?«, fragte Rusty und blieb erschrocken stehen. »Ellbogen und Knie«, erklärte Leonardo. »Was?«, wollte Blaise wissen. »Ruhe«, sagte Leonardo. »Zufälle sind schön und gut, aber mitunter muss ich die Dinge gezielter angehen. Und dazu brauche ich mehr Kontrolle über die Verhältnisse.« 230 In diesem Moment erblickte der Magier klebrige schwarze Fußabdrücke, die ihren Weg kreuzten und auf einem schmalen Seitenpfad verschwanden. »Das ist Lee«, rief er. »Sind Sie bereit?« »Wozu?« »Seiner Spur zu folgen«, sagte Blaise. »Seiner Spur zu folgen«, sagte Leonardo gleichzeitig. »Na los«, rief Rusty. Und plötzlich preschten sie vorwärts. Den Pfad entlang, einen Hang hinauf, in ein Gebäude, über einen Steg... Das Erste, was Leonardo auffiel, war, dass er nicht müde wurde. Er reiste so schnell wie zuvor, doch sein Vorwärtskommen hatte nun eine gewisse Sicherheit gewonnen, einen Zweck, den es zuvor nicht gehabt hatte. Ihm dämmerte, dass die Verhältnisse sich durch seinen neuen Begleiter bereits verändert hatten. »Was machen Sie da?« »Ich wende eine Methode an, die ich entwickelt habe, m unübersichtliche Gegenden zu kartieren«, erklärte Rusty. »Man muss sich vorstellen, die Landschaft bestünde aus mobilen Geländeeinheiten, die durch Scharniere verbunden sind.« Sie rasten um eine Hausecke, sprangen über eine Mauer und fegten eine Wendeltreppe hinunter. »Diese Einheiten ändern sich nicht - nur das Muster ihrer Anordnung. Man muss lediglich herausfinden, was Einheiten und was Scharniere sind. Dann kann man jede Einheit erkennen, kaum dass man sie

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erreicht ...« Leonardo verstand nur Bahnhof, aber was Rusty sagte, klang dennoch irgendwie plausibel. »Joey, hörst du mich?«, schrie er. »Laut und deutlich, Meister«, kam die Antwort kaum hörbar zurück. 231 »Dann wirf den Apparat an und drück die Aufnahmetaste«, befahl der Magier. In der Ferne hörten sie, wie sich der Musikapparat bereitmachte. Zuerst erklang der Marschrhythmus des Hauptmanns, doch schnell traten die tiefe Posaune und die strahlenden Trompeten hinzu. Und dann mischte sich - zögernd zunächst, doch rasch sicherer werdend -ein weiteres Instrument ins Ensemblespiel. Gelegentliche Akkorde eines Saiteninstruments - einer Zither vielleicht oder einer Gitarre - akzentuierten den Rhythmus und boten einen harmonischen Übergang von den Fundamenten der Posaune und des Schlagzeugs zu den tragenden Säulen der Trompeten. Leonardo, Rusty und Blaise kamen inzwischen mühelos voran, und mit ihnen zog die schattenhafte Gestalt von Hauptmann Lazarus, der sich der Jagd angeschlossen hatte. Sie waren nicht länger vier getrennte Persönlichkeiten, sondern schienen ein zusammengesetztes neues Wesen geworden zu sein. Aufgeregt genossen sie den Kitzel der Verfolgung und machten sich keine Gedanken darüber, was danach kommen mochte. »Das ist ja ein toller Spaß«, rief Blaise. »Aber wir sind noch immer nicht schneller als er.« »Das hab ich mir gedacht«, sagte Leonardo. »Joey, hast du genug aufgenommen?« Als sie sich von den Anstrengungen des Morgens erholt hatten, war ihr Kaffee kalt. Also brühte Joey noch eine Kanne auf, während Leonardo und Rusty ihr Mittagessen auspackten und sich herauszufinden bemühten, wem welche Brote gehörten. »Danke für Ihre Hilfe, Mister Brown«, sagte Leonardo und biss heißhungrig in seine erste Scheibe. »Es hört 232 sich allmählich ganz gut an, oder? Endlich ist Schwung in die Sache gekommen, und ich glaube, wir haben inzwischen ein ziemlich solides Fundament. Ich muss nur noch herausfinden, was ich darauf errichten soll. Verflixt und zugenäht - warum nimmt sie nur immer eingelegte Peperoni?!« Nachdem Rusty seinen Beitrag zu dem rätselhaften Vorhaben des Magiers geleistet und mit ihm gegessen hatte, ging er ins Dorf zurück und versuchte einmal mehr, die nötige Entschlossenheit für eine Begegnung mit Eileen aufzubringen. Unterdessen hockte Leonardo weiter über dem Pergament mit dem immer dichter werdenden Muster vielfarbiger Linien, Striche und Punkte, das Joey aus dem Mammut gezogen hatte. Während der Junge längst gegangen war, um das kaputte Rad an seinem Roller zu flicken, blieb der Magier bis zur Abenddämmerung in das Linienlabyrinth vertieft. Als er den Hügel hinab zum Gasthaus schlenderte und gerade die ersten Häuser erreicht hatte, erblickte er am anderen Ende der struppigen Weide ein seltsames Bild. Auf ein Wiesengatter hatte jemand eine Reihe Blechdosen gestellt. In der Nähe lag Joey Hopkins und hatte seinen noch immer nicht reparierten Roller neben sich. Und in ziemlich attraktivem, über und über mit Farbe bespritztem Arbeitsanzug stand Michael Browns hübsche Tochter reglos da. Plötzlich legte das Mädchen los, warf ein schlankes Bein in hohem Bogen in die Luft und trat die erste Dose vom Gatter. Dann erwischte es die dritte Dose, ohne dass die übrigen auch nur gewackelt hätten, danach die fünfte, siebte, neunte und elfte Dose. Nachdem sie allen Blechbehältnissen mit ungeraden Zahlen den Garaus gemacht hatte, kehrte sie an den Anfang 233 der Reihe zurück und räumte die restlichen Dosen auf gleiche Weise ab. Dann wirbelte sie erneut herum, um ihrem Publikum in die Augen zu sehen, sprang flüchtig in einen atemberaubenden Handstand, der ihr rotes Haar wie eine Fahne wehen ließ, und warf sich dann lachend ins Gras. Joey jubelte und klatschte, und gleich darauf schloss Leonardo sich dem Applaus an. Er begriff, dass er hier auf ein Talent gestoßen war, das sich noch als nützlich erweisen könnte. Als sie den Magier klatschen hörte, wandte das Mädchen sich ihm zu und gönnte ihm eine ganz kurze Handbewegung. Ashleigh landet in einer Schleife Als ich erwachte, war ich noch immer sehr zärtlich gestimmt und hoffte, wir würden richtig schön ausschlafen, doch Liam hatte anderes im Sinn. Er stand so früh auf wie sonst und wollte gleich wieder an die Arbeit. Ich hingegen hatte andere Pläne. Also machte ich ihm Frühstück - das versetzte ihn normalerweise in gute Laune -und brachte ihn dazu, sich einem der Suchtrupps anzuschließen, die die Hügel nach den vermissten Kindern durchkämmten. Anfangs war er davon nicht gerade angetan, doch er lag mit dem Anstrich von Oma Hopkins' Küche sehr gut in der Zeit. Also behauptete ich, sie werde ihn einen Tag entbehren können, und schließlich war er einverstanden, sich mit mir auf die Suche zu machen. Alle, die losziehen wollten, trafen sich auf dem Dorfanger. Auch mein Vater hatte sich endlich aufgerafft und 234 das Wirtshaus verlassen, um sich einem Suchtrupp anzuschließen, doch ich war ihm noch immer böse und achtete deshalb darauf, dass Liam und ich mit einer Gruppe gingen, die in eine andere Richtung zog. Auch meine Mutter war gekommen. Sie und ich waren die einzigen Frauen, die sich an der Suche beteiligten, aber natürlich

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achtete auch sie darauf, weder mit meinem Vater noch mit mir in einem Trupp zu landen. Liam und ich waren mit Colin und Sam Hopkins in einer Gruppe, dem Vater und dem Onkel von Joey. Der war wegen seines Beins noch im Dorf, doch sein Bruder und seine Schwester waren verschwunden. Es war ein furchtbarer Tag. Wir konnten uns einfach nicht einigen, wo wir suchen sollten, und verschwendeten immer wieder Zeit damit, hin und her zu diskutieren. Letztlich haben wir vermutlich länger herumgestritten als gesucht. Natürlich hatten Liam und ich die Möwentreiber gesehen und wussten deshalb genau, welchen Weg sie genommen hatten, aber Colin und Sam wollten nicht auf uns hören, da sie uns für dumme Kinder hielten. Und das, obwohl Liam als Fahrender reinsten Wassers mehr über die Gegend wusste als jeder Dorfbewohner und überdies jede Menge von dem aufgeschnappt hatte, was Megan bei Professor Greening an der Universität der Feld- und Seitenwege gelernt hatte. Also sagte er den Dörflern immer wieder, die Möwentreiber würden keine Feldwege benutzen, sondern sehr wahrscheinlich eine alte Viehtreiberroute, von der niemand mehr wisse. Doch Colin Hopkins behauptete einfach, er habe das Kommando und alle müssten seinen Befehlen folgen. So hatte Liam keine Chance, sich mit seinen Argumenten durchzusetzen. Als wir ins Dorf zurückkamen, waren wir total geschafft und absolut sauer. Uns 235 beiden war klar, dass so niemand die Kinder finden würde, die ja ohnehin inzwischen vermutlich schon drei Tagesreisen vom Dorf entfernt waren. Der sture Teil meines Wesens wollte dennoch auch am nächsten Tag losziehen und suchen, doch Liam war absolut dagegen. Obwohl ich ihm ein wirklich tolles Frühstück zauberte, wollte er die Arbeit nicht länger schleifen lassen und fragte, ob ich ihn nicht begleiten und ihm helfen möge. Daraufhin hab ich ihm wohl einige scheußliche Dinge an den Kopf geworfen und bin aus dem Wagen gerannt und eine Zeit lang wütend durch die Gegend gestapft, doch nach ein wenig Nachdenken war mir klar, dass er Recht hatte. Ich würde Maxie nicht finden, indem ich wie eine Verrückte in den Hügeln herumlief, sondern musste mich wie eine echte Kommissarin verhalten und die Sache etwas logischer angehen. Ich stellte mir vor, in einem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch eines Büros zu sitzen, an dessen Decke ein Ventilator hängt und dessen Tür aus Milchglas ist. Dann ging ich zurück in den Wagen, versöhnte mich mit Liam und arbeitete die nächsten Tage wieder als Anstreicherin. Eines Nachmittags, als wir früh Feierabend gemacht hatten, ging ich runter ins Dorf, um ein wenig Selbstverteidigung zu trainieren. Ich suchte mir dazu die struppige Viehweide aus und trat reihenweise Blechdosen vom Gatter, während der bekloppte Joey Hopkins danebensaß und zuschaute. Nach einer Weile fiel mir auf, dass noch jemand zusah. Es war der unheimliche Alte vom Gasthaus, dieser Leonardo Pegasus. Nach einer Weile kam er an, sagte einige recht nette Sachen über meine Übungen und fragte mich 236 schließlich, ob ich ihm bei einem kleinen Experiment helfen wolle. Ich fand das alles etwas seltsam, überlegte dann aber, dass er ein Freund meines Vaters war und die Sache daher schon in Ordnung wäre. Ich hatte meinem Vater zwar noch nicht verziehen, dachte inzwischen aber, es sei womöglich an der Zeit, das Vergangene auf sich beruhen zu lassen. Es stellte sich heraus, dass ich Meister Pegasus am nächsten Morgen an der Kreuzung bei der Kirche treffen und mit ihm zur Signalwache hochgehen sollte. Anscheinend führte er seine Experimente dort oben durch. Also fragte ich Liam nach dem Frühstück, ob ich mich verdrücken und den Tag über allein etwas unternehmen könne. »Gut, ich komm schon klar«, sagte er und schien nicht weiter genervt. Also brach ich auf. Doch seltsam: Seit fast einer Woche war das der erste Tag, an dem wir nicht die ganze Zeit zusammen waren, und schon fühlte ich mich ohne ihn nicht wirklich vollständig. Doch Meister Pegasus wartete am vereinbarten Ort, und mir blieb nichts anderes übrig, als mit ihm hinauf zur Signalwache zu gehen. Die Flügeltür war nicht abgeschlossen, und wir kamen direkt in einen großen, lang gezogenen Raum voller merkwürdiger Geräte, Kabel und Messinstrumente. Joey Hopkins fummelte an der riesigen Signalmaschine herum, die mitten im Raum stand. Meister Pegasus schien davon wenig begeistert und befahl ihm, den Apparat in Ruhe zu lassen und das Mammut anzuwerfen — was immer das auch sein mochte. Während Joey verschwand, um seine Aufgabe zu erledigen, erklärte mir Meister Pegasus lang und breit, er habe Unschuld und Reinheit in mir entdeckt und wolle mein junges, von vorgefassten Meinungen noch ganz unbelastetes Gemüt schützen; deshalb sei es wichtig, nicht 237 zu viel von dem zu erklären, was gleich geschehen solle. Ich ließ das alles widerspruchslos über mich ergehen und hütete mich zu erwähnen, dass ich womöglich nicht ganz so unschuldig und rein sei, wie er sich das vorstellte. Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn er gewusst hätte, was zwischen Liam und mir passiert war. Wie auch immer - nach einer Weile setzte Meister Pegasus mich an den Apparat, an dem Joey herumgespielt hatte, und zeigte mir die beiden Hebel. Ich dachte: Kein Problem, das ist ja alles so wie früher bei unserer Signalmaschine. Dann sagte er, ich solle in dem Gerät etwas fangen, legte mir die Hand an den Hinterkopf und schob mein Gesicht unter die Messingblende. Was danach passierte, war absolut fürchterlich. Erst wusste ich nicht, wo ich war, fühlte mich schwindlig und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Dann klärte sich die Lage allmählich, und ich befand mich in einem großen,

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sechseckigen Saal mit hallenden Wänden. Überall flitzten geisterhaft wirkende Gestalten umher. Da sie mich komplett ignorierten, spazierte ich einfach ein wenig zwischen ihnen herum und versuchte, mich zu orientieren. Dann sah ich die Fußspur. Sie zog sich quer vor mir über den Boden, und ich wusste sofort, dass es Maxies Spur war. Mein Herz kam kurz aus dem Takt, als ich begriff, dass ich ihn finden würde, wenn ich nur der Fährte folgte. Also prüfte ich, in welche Richtung sie führte, und rannte los. Dann passierte so einiges. Zunächst war da diese seltsame Musik - ein ausgesprochen energischer Rhythmus, zu dem da und dort kleine Klangfetzen traten. Alles schien nur ein musikalisches Skelett zu sein, als fehlte noch etwas, und tatsäch- 238 lich hatte das Ganze ja auch noch keine richtige Melodie. Je länger ich rannte, desto lauter wurde die Musik, und plötzlich hatte ich den Eindruck, sie zeige mir den Weg. Kaum erscholl ein Trompetenstoß, war mir klar, dass ich links abbiegen und eine enge Wendeltreppe runterlaufen musste, und wirklich tauchten die Fußspuren gleich wieder auf. Unten an der Treppe war es plötzlich, als wäre ich in offenem Gelände und würde durch Felder und Moore hetzen. Dann aber erklang ein Gitarrenakkord und gebot mir, die nächste Brücke über den Bach zu nehmen, und plötzlich befand ich mich wieder in einem Labyrinth von Gängen, und die Fußspuren führten in die eine Richtung, während ich die andere nahm, doch die Trompeten hatten mir einmal mehr einen Wink gegeben, und ich wusste, dass es sich bei meinem Weg um eine Abkürzung handelte, und tatsächlich tauchten die Fußspuren eine Ecke später wieder auf. Dann purzelte ich kopfüber einen Hang hinunter, und die Musik schien mir direkt zu folgen und zu sagen, das habe alles seine Ordnung und ich sei noch immer auf der richtigen Fährte. Es war, als wollten mir all diese Stimmen helfen und als könnte ich mit ihrer Unterstützung viel mehr erreichen als auf mich allein gestellt. Dann rannte ich einen Durchgang entlang, an dessen Ende jemand auf mich wartete. Natürlich war es ganz und gar nicht Maxie, und plötzlich fühlte ich mich richtig schlecht und hatte große Angst, als hätte mir jemand einen schrecklichen Streich gespielt. Es war das Geschöpf namens Lee, und es war mir schon mal begegnet - als Tom Slater mir gezeigt hatte, wie die 239 Signalmaschine funktionierte. Damals war Lee nett und ziemlich lustig gewesen, doch nun war er ganz anders. Er saß auf einer Mauer und blickte mit winzigen grünen Augen auf mich herab. Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, was ich tun sollte, und während ich noch so dastand, hüpfte das Geschöpf von der Mauer, schlich sich langsam an mich heran und zeigte mir seine Klauen. Ich konnte an nichts anderes denken als an seinen sauren, scheußlich stinkenden Atem. Rasch blickte ich nach links und rechts, nach vorn und hinten, doch die Wände schienen plötzlich höher geworden. Es gab keinen Ausweg: Ich saß in der Falle, und das Wesen schob sich immer näher heran. Ich sah furchtbaren blaugrauen Sabber aus seinem Mund triefen und hörte es in sich hineinlachen. Dann merkte ich, dass die Musik noch immer schwach im Hintergrund spielte, und plötzlich raunte eine leise Stimme in meinem Ohr: »Hör genau hin!« Also schloss ich die Augen, und mir war, als hörte ich Maggot sagen: » Selbstverteidigung!« Da wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich holte mit dem linken Bein zum zweitbesten Flamingo-Kick meines Lebens aus und traf das Geschöpf voll in den Magen. Es stöhnte laut auf und krümmte sich am Boden, doch dann war es wieder auf den Beinen. Also holte ich erneut aus, diesmal mit dem rechten Arm zu einem Affen-Schlag, und wieder krümmte es sich am Boden, war aber im nächsten Moment aufs Neue kampfbereit. Also holte ich ein weiteres Mal aus... Es war wie in einer Endlosschleife. Wie bei dem alten kaputten Fonografen meines Großvaters, der auch stets den gleichen Melodiefetzen wiederholte. Ich trat mit einem Bein zu, und das Geschöpf ging zu Boden; 240 dann sprang es wieder auf, und ich holte mit dem Arm aus... Nach einer Weile hörte ich den Magier von ferne sagen: »Holen wir sie da raus.« Dann brach das Bild zusammen und wurde schwarz. Das Letzte, was ich wahrnahm, war ein langer, angenehmer Ton, der sich anhörte wie von zwei Klarinetten, die nicht ganz gleich gestimmt waren. Dann merkte ich, wie ich der Länge nach auf den Boden fiel. Frau Professor kommt vorbei Montagmittags war es im »Pflug« normalerweise ruhig wie nie, und Ruth Pegasus hatte sich inzwischen angewöhnt, sich um diese Zeit mit Zigaretten und Kreuzworträtsel in einen Sessel am Kamin des Nebenzimmers zurückzuziehen und dem alten Schulmeister die Arbeit im Schankraum zu überlassen. Weil seine Hände immer zittriger wurden, nahm sie sich nur noch montags frei, wenn er am wenigsten Schaden anrichten konnte. Seitdem sie ihm verboten hatte, in der Gaststube Klavier zu spielen, schien der alte Mann einen gewissen Groll zu hegen - vielleicht konnte sie ihm ja auf diese Weise zeigen, dass es noch immer auch auf ihn ankam, wenn es darum ging, das Wirtshaus am Laufen zu halten. Ruth machte es sich im Sessel gemütlich, achtete nicht weiter auf das gelegentliche Gläserklirren und blinzelte über ihre Brille hinweg aufs Kreuzworträtsel. Unterdessen suchte der Schulmeister nach einer Beschäftigung. Sein einziger Gast war der Dorfpfarrer, 241 der gern mal ein, zwei Fläschchen trank, dieser Schwäche aber lieber dann nachgab, wenn er nicht befürchten

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musste, von einem Schäfchen seiner Herde ertappt zu werden. Nachdem der Schulmeister sich vergewissert hatte, dass der Pfarrer behaglich und mit Nachschub versorgt in seiner Ecke saß, machte er sich daran, einiges von dem aufzuräumen, was sich im Lauf der Jahre hinter der Theke angesammelt hatte. Zuvor allerdings vergewisserte er sich, dass alle Gläser gespült, schlierenfrei abgetrocknet und säuberlich in den Regalen aufgereiht waren. Dann warf er einen Blick auf die angelaufenen Zinnbecher, beschloss schaudernd, sich besser bei anderer Gelegenheit mit ihnen zu befassen, und nahm sich stattdessen all die Werkzeuge und Geräte vor, die vielleicht nicht so wichtig, dem gewissenhaften Barkeeper aber unentbehrlich waren beispielsweise ein Satz Obstmesser. Dann gab es da eine seltsame Vorrichtung zum Öffnen von Ingwerbierflaschen und natürlich einige leidlich saubere Lappen, um Tischplatten und Aschenbecher zu putzen und so weiter... Dann entdeckte der Schulmeister ganz oben ein Regal voller Bücher. Die meisten davon waren langweilig. Eins enthielt lauter Quittungen über Lieferungen, die schon weit zurücklagen. Der Almanach für das Alkohol ausschenkende Gastgewerbe war in munter zusammen gewürfelten Jahrgängen vorhanden, von denen selbst der jüngste schon recht antiquiert war. Dann gab es eine Anleitung für das Reparieren von Fahrrädern. Schließlich aber entdeckte er ganz hinten im Regal - fast unter einem Schild verborgen, das es Hausierern verbot, ihre Waren im Gasthaus zu verhökern - ein zartes, in Leder gebundenes Buch im 242 Oktavformat, dessen Rücken verblasste Goldbuchstaben zierten. Begeistert zog der alte Mann den Band aus dem Regal und hielt ihn ins Licht, das durchs nächste Fenster fiel. »Ach du meine Güte!«, keuchte er. Das Buch trug den Titel Legenden des Vergessenen Zeitalters, und was da auf dem Vorsatzpapier stand, war sein Name - geschrieben in seiner krakeligen Handschrift. Er musste den Band an dem Abend vergessen haben, als er ihn Meister Pegasus gezeigt hatte - fünfzehn oder gar zwanzig Jahre mochte das nun schon her sein! Seltsam, dass er das Buch nie vermisst hatte. Fasziniert schlug der alte Schulmeister es irgendwo auf und war einmal mehr von der Legende von den Fahrenden und den Inselbewohnern gefesselt. So versunken war er in die Lektüre, dass er die Ankunft des neuen Gastes gar nicht bemerkte. Die Fremde war fast lautlos eingetreten, hatte dem Pfarrer kurz zugenickt und war an die Theke gekommen, wo der Schulmeister noch immer in die Geschichte vom Großen Wesen und den Verwundeten vertieft war. »Entschuldigen Sie die Störung«, flüsterte sie schließlich. »Ist das Buch interessant?« Sie beugte sich vor, um einen Blick auf den Titel zu erhaschen. Der Alte fuhr erschrocken auf, keuchte: »Verzeihung!«, und sah sich einer elegant gekleideten Dame über vierzig gegenüber. Sie hatte einen dunklen Teint, und ihr langes, beiläufig zusammengestecktes Haar war schwarz, besaß aber ein, zwei graue Strähnen. In ihren dunklen Augen blitzte etwas, das an kalte Flammen gemahnte. Ihre Stimme klang sanft und wohltönend und ließ auf mehr als bloß urbane Raffinesse schließen. »Ich bin auf der Durchreise«, sagte die Dame, »und 243 habe das Wirtshaus gesehen. Es wirkt so ungemein einladend, und ich musste einfach hereinschauen. Meinen Wagen habe ich im Hof geparkt - Sie haben hoffentlich nichts dagegen.« Der Schulmeister gab zu erkennen, dass er damit völlig einverstanden war. »Ich heiße Laurel Greening«, fuhr die Dame fort. »Professor Greening. Von der Universität der Feld- und Seitenwege.« Sie reichte ihm die mit vielen Ringen besetzte Rechte. »Kennen wir uns nicht?« »Laurel«, sagte der alte Mann schwach. »Na sicher, Laurel - du bist etwas älter geworden, aber ich hab noch nie das Gesicht oder den Namen auch nur eines Schülers vergessen. Natürlich kennen wir uns. Ich war bis zur Pensionierung Schulmeister hier. Du bist in der gleichen Klasse gewesen wie Michael Brown - das war zur Zeit des Scharlachfiebers. Brown war ganz schön in dich verschossen, stimmt's? Meine Güte - das alles muss über dreißig Jahre her sein.« Er blickte aus dem Fenster und schien in Gedanken versunken. »Jetzt fällt mir ein, dass deine Leute auf der Durchreise waren. Du bist nur kurz in der Klasse gewesen. Sieht so aus, als wärst du immer unterwegs. Natürlich - du stammst ja aus einer Familie von Fahrenden, oder?« Laurel setzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Ja, ich bin eine Fahrende, da haben Sie völlig Recht. Und Sie haben wirklich ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Wie Sie schon sagten: Jetzt komm ich wieder mal hier durch. Wie wär's also mit einem Glas Wein? Wenn ich Ihnen auch eins spendiere, lassen Sie mich dann einen Blick in Ihr Buch werfen?« Der Schulmeister schob den Band über die Theke, nahm eine Flasche Rotwein und suchte nach dem Kor- 244 kenzieher. Seltsam, vorhin hatte er doch noch auf dem untersten Regal gelegen... Rosa und blau getönt Leonardo und Joey musterten Ashleigh besorgt. Als das Mädchen endlich die Augen aufschlug, half der Junge ihr auf einen Wink von Meister Pegasus hin beim Aufsetzen und bot ihr einen Becher Kaffee an. Behutsam nippte sie daran, prustete: »Uah, danke!«, und sagte dann: »Meinem Vater erzählen Sie aber nichts davon, ja! Der flippt sonst aus. Versprechen Sie mir das! Es ist wichtig.« »Was soll ich ihm nicht sagen?«, fragte Leonardo verblüfft.

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»Natürlich erzählen wir ihm nichts davon«, verkündete Joey, der deutlich einfühlsamer war als sein Chef. »Bist du einigermaßen wohlauf?« »Ich denke schon«, erwiderte Ashleigh, ordnete ihr dunkelrotes Haar und zuckte versuchsweise die knochigen Schultern. »Ich bin wohl nur hart auf den Fußboden geschlagen. Das ist bestimmt bald wieder in Ordnung.« »Soll ich mir das mal ansehen?«, schlug Leonardo vor. »Nur keine Umstände - das wird schon wieder. Kann ich ein Glas Wasser haben?« »Joey«, sagte Leonardo. »Geh zum Wasserfass und bring der Dame was zu trinken.« »Prima Idee, Meister P.« Der Junge humpelte zur Tür. Unterdessen zog Leonardo behutsam das Pergament aus dem Schlitz des Mammut, breitete es aus und vertiefte sich darin. 245 »Was ist das?« Ashleigh war wieder zu Kräften gekommen, sprang auf, lief zum Magier und blickte ihm über die Schulter. »Cool! Ist das ein Bild? Oder eine Tapetenrolle?« »Na ja, das ist...« Die Suche nach einer Antwort, die das ungeduldige, launische Geschöpf befriedigen würde, verschlug Leonardo vorübergehend die Sprache. »Oder eins von diesen mathematischen Dingern? Wie in der Schule? Eine Art Diagramm?« »Vermutlich ähnelt es tatsächlich am ehesten einem Diagramm«, sagte der Magier. »Ich hab's mit dem Musikapparat aufgenommen. Es bildet die Beiträge all der Leute ab, die mir bisher bei meinem Experiment geholfen haben. Das gleichmäßige Muster hier - die dunkelblauen Spitzen also - steht für den Grundrhythmus. Den hab ich von einem alten Soldaten bekommen, den ich schon lange kenne. Die zwischen orange und braun changierenden Kleckse hier, das bin ich, wie ich durchs Netz stapfe. Bei diesen grünen Strichen wird's interessant, auch wenn sie noch etwas schief sind. Sie sind von deinem Vater...« »Echt?«, unterbrach ihn das Mädchen. »Typisch Papa - der ist schon lange schief gewickelt. Und was ist das?« »Die kleinen roten Spitzen? Das sind die Trompeten, die gewissermaßen zeigen, wo die Ecken sind...« »Was für Ecken? Ich meine, was liegt denn innerhalb dieser Ecken?« »Das weiß ich nicht genau. Ich schätze, das Ganze ergibt ein Musikstück, aber noch ist es nicht fertig. Ich hatte gehofft, du würdest für die fehlende Melodie sorgen.« »Ich? Dann stammt also etwas in diesem Diagramm von mir?« 246 »Allerdings«, sagte Leonardo. »Und zwar das hier, schau mal.« Tatsächlich bestand der Hintergrund des Diagramms nicht länger aus leerem Pergament, sondern war in wechselnden Farben getönt, die von rosa über violett bis hellblau reichten. »Das ist absolut nicht, was ich erwartet hatte«, murmelte der Magier. »Aber faszinierend ist es doch.« »Echt?«, rief das Mädchen erneut. »Bin wirklich ich das? Rosa und blau? Und wie hör ich mich an? Können Sie's mir vorspielen?« Da kehrte Joey mit einem Becher Wasser zurück: »Bitte, Miss. Es sieht etwas grünlich aus, ist aber wohl in Ordnung.« »Danke.« Das Mädchen nahm den Becher, blinzelte hinein, hielt ihn in der Hand, bis ihre Gastgeber sich kurz abwandten, und schüttete den Inhalt dann heimlich ins nächste Behältnis. Leonardo hatte das Pergament unterdessen in den Musikapparat geschoben und das Mammut erneut angeworfen. Kurz darauf hörten die drei das Ergebnis ihrer morgendlichen Bemühungen. Das wechselvolle und komplizierte musikalische Geflecht wurde nun von sanften, lange gehaltenen Akkorden unterfangen, die eher im höheren als im tieferen Klangspektrum lagen. Das Resultat hörte sich nach einer alten Kutsche an, die durch einen See aus Ahornsirup fährt, über dem ein warmer, wolkenloser Himmel steht. »Faszinierend«, sagte Leonardo. »Toll«, schwärmte Joey. »Furcht erregend«, stieß Ashleigh hervor. »Danke für das Wasser. Kann ich jetzt gehen?« Nachdem ihr Gast verschwunden war, blieb Leonardo noch ein paar Stunden in der Signalwache und spazierte 247 gedankenverloren zwischen seinen Maschinen und Gerätschaften herum, während Joey den Fußboden fegte, die Becher wegräumte und an den Schaltern verschiedener Apparate fummelte. Obwohl das Mädchen der Klangpalette, die das Mammut allmählich entwickelte, eine interessante und unerwartete Dimension hinzugefügt hatte, konnte der Magier nicht verhehlen, dass er mit dem Ergebnis letztlich nicht zufrieden war. Sicher, er hatte Lee inzwischen in die Enge getrieben, und es schien, als würde es dem Kobold nicht mehr gelingen zu entkommen. Doch irgendwie war die Verfolgung in einer Endlosschleife stecken geblieben. Der Magier hatte Ashleighs Weg durchs Netzwerk mit Hilfe eines zweiten Okulars überwacht und die Ereignisse so lange ihren Lauf nehmen lassen, wie er es hatte verantworten können. Doch selbst angesichts seiner ungemein wichtigen Aufgabe und sogar in seinen besessensten Momenten hatte Leonardo es einfach nicht über sich gebracht, das Leben Unschuldiger zu gefährden. Erst recht nicht, wenn sie — wie er sich nun eingestand - so attraktiv waren wie dieses rothaarige Geschöpf. Kaum hatte er sich diese Abschweifung erlaubt, zwang er seine Gedanken eilends wieder auf den Pfad der Tugend. Nein, es blieb ihm keine andere Wahl: Er musste weitermachen. Das Mädchen hatte zweifellos etwas zur Lösung

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seiner Aufgabe beigetragen, doch das würde nicht reichen. Den Rhythmus hatte er schon lange, die Melodie war mitunter schon zu erahnen, und das Mädchen hatte sein Möglichstes zur harmonischen Unterfütterung des Ganzen beigesteuert. Und doch fehlte ihm noch immer etwas. Woher sollte die eigentliche Melodie des Stücks kommen? 248 Leonardo trat ans Fenster und sah durch die verdreckte Scheibe. Der Herbstwind begann, die welken Blätter von den Bäumen zu wehen. Müde knöpfte der Magier sich die Robe zu. »Machen Sie Feierabend, Meister P?« Leonardo hatte ganz vergessen, dass Joey noch in der Signalwache war. »Ich schätze schon, Joey. Hast du deinen Roller inzwischen repariert?« »Nein, Meister, das Rad ist noch immer kaputt. Darf ich noch ein wenig bleiben und an den Maschinen spielen? Ich würde gern das eine oder andere ausprobieren.« »Nein, es wäre mir lieber, wenn du...« »Warum nicht?« Das war Blaise, der damit sein ungewöhnlich langes Schweigen brach. »Lass den Jungen ruhig ein wenig experimentieren.« »Also gut«, willigte Leonardo trotz ernsthafter Bedenken ein. »Aber schließ ab, wenn du fertig bist. Bis morgen. « Ashleighs Alptraum Kaum hatte Meister Pegasus mir erlaubt zu gehen, rannte ich davon und jagte wie ein Wirbelwind den Hügel hinunter. Ich weiß nicht recht, warum ich es so eilig hatte - schließlich hatte er mir nichts getan. Doch nach den seltsamen Erlebnissen im Netzwerk hatte ich plötzlich tiefe Sehnsucht nach meinem Vater und glaubte, der Schmerz werde erst weichen, wenn ich ihn gefunden hätte. Mein erster Weg führte zum Gasthaus. Ich sah durchs Fenster ins Nebenzimmer, doch dort war er nicht. Die 249 alte Mrs Pegasus allerdings, die in einem Sessel am Kamin saß und Kreuzworträtsel löste, entdeckte mich und winkte mich herein. Zwar hatte ich es eilig, hielt es aber für unhöflich, einfach so zu verschwinden. Also ging ich zu ihr, um zu sehen, was sie wollte. Sie hatte offenbar nichts Besonderes im Sinn, sondern wollte sich nur unterhalten, doch es war dennoch gut, dass ich hineingegangen war, denn so fand ich etwas heraus, das sich später als nützlich erweisen sollte. Jedenfalls lud sie mich ein, mich neben sie ans Feuer zu setzen, und bot mir eine ihrer ekelhaft stinkenden Zigaretten an, die ich natürlich ablehnte, woraufhin sie nur lächelnd die Achseln zuckte. Dann fragte sie mich, was ich den Tag über gemacht hatte, und bald sprachen wir über die Signal wache und Meister Pegasus, und ich fragte sie, wie lange ihr Mann meinen Vater schon kannte. Das wusste sie nicht so genau, sagte aber, das letzte Mal hätten sie meinen Vater an dem Tag gesehen, an dem Tom gestorben sei. »Welcher Tom?«, fragte ich. »Tom Slater.« »Tom Slater?« Es stellte sich heraus, dass die beiden Alten damals, als Tom unser Untermieter war, beschlossen hatten, ihn zu besuchen. Sie waren es auch, die seine Leiche im Fahrstuhlschacht gefunden hatten. Dann war mein Vater in Nachthemd und Socken aus der Wohnung gekommen. So hatten sie sich wieder getroffen. In diesem Moment erwachte die Jungkommissarin in mir aus ihrem langen Schlummer. Ich wollte genau wissen, was sie gesehen hatten und wer dort gewesen war, denn ich dachte, so würde ich vielleicht den Schlüssel dazu finden, warum Tom wirklich gestorben war. Es 250 stellte sich allerdings heraus, dass Mrs Pegasus darüber nicht reden wollte - anscheinend hatte sie zu viele schmerzliche Erinnerungen. Immerhin besann sie sich noch darauf, dass einige Nachbarn neugierig aus ihren Wohnungen in den Flur schauten und sie jemanden die Treppe runterhetzen und weglaufen sah — einen jungen Mann wohl. Ich bat sie, sich zu erinnern, wie er aussah, doch sie wusste nur noch, dass er eine graue Hose trug, ein eigentümlich ausdrucksloses Gesicht hatte, stumpf geradeaus blickte und weder Hallo noch sonst etwas sagte. Gut möglich, dass er blondes Haar hatte, doch mehr wusste sie nicht. Ich hoffte, Meister Pegasus wäre vielleicht mehr aufgefallen, doch als ich ihn darauf ansprach, konnte er sich nur noch daran erinnern, das meiste, was dort vorgegangen war, verpasst zu haben, weil er eine Tüte Kekse hatte fallen lassen. Der Mann war wirklich eine große Hilfe! So war ich letztlich doch froh, mit der alten Hexe gesprochen zu haben, sehnte mich aber noch immer sehr nach meinem Vater, verabschiedete mich deshalb, sobald es irgend schicklich war, und ging ihn im Schankraum suchen. Doch dort waren nur der Pfarrer und der Mitleid erregende alte Schulmeister, der doch tatsächlich probierte, sich an eine Frau heranzumachen. Ich suchte meinen Vater noch hier und da im Umkreis des Gasthauses, konnte ihn aber nirgendwo finden. Also beschloss ich, zu Liams Wagen zurückzukehren, doch als ich zu den wenigen großen Häusern des Dorfes kam, entdeckte ich meinen Vater schließlich. Er stand am anderen Ende der Straße vor dem Haus meines Großvaters und stieß seine Schuhe wie ein kleiner Junge in den Staub. Da begriff ich, dass er noch immer Mut zu fassen versuchte, an die Tür zu klopfen, und 251 empfand unvermittelt eine mächtige Welle der Zuneigung für ihn. Ich rannte los, und wir schlössen einander in

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die Arme. Plötzlich war alles wieder in Ordnung. Nach einer Weile erst wandten wir uns dem Haus zu und sahen, dass die Eingangstür geöffnet war und meine Mutter mit Wischmopp und Eimer in den Händen auf der Schwelle stand. Dem folgte eine lange Stille, als wollte keiner als Erster etwas sagen. Dann aber übernahmen meine Füße Schritt für Schritt das Kommando, und ich sah mich über die Straße, durch den Vorgarten und die Treppenstufen hinauf zu meiner Mutter gehen. An der Haustür angekommen, fiel mir auf, dass ich inzwischen etwas größer war als sie, doch sie wirkte auf mich weiterhin reichlich beängstigend. Sie wartete noch einen Moment, setzte dann nur den Eimer ab und sagte: »Ich schätze, du suchst deinen Bruder.« Auf diese Begrüßung fiel mir nichts ein. Deshalb stand ich nur mit offenem Mund da, bis sie sagte: »Tja, der ist weg. Mit den Möwentreibern. Um deinen Großvater brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Ich kann mich prima allein um ihn kümmern.« Dabei blickte sie seltsam über meine Schulter, und ich merkte, dass mein Vater noch immer auf der anderen Straßenseite stand und sich alle Mühe zu geben schien, nicht in die Hose zu machen. Dann schenkte meine Mutter uns noch einen ihrer scheußlichen Blicke, die ewig dauern, wandte sich schließlich ab und machte mir die Tür betont leise vor der Nase zu. Ich ging zu meinem Vater zurück und wartete mit ihm, doch bald begriffen wir, dass die Worte meiner Mutter ein endgültiger Abschied gewesen waren. Also nahm ich meinen Vater am Arm, und wir schlurften langsam ins 252 Dorf zurück und schoben dabei frisch gefallenes Herbstlaub vor uns her. Zunächst schwiegen wir beide, doch als wir den Dorfanger erreichten, gingen wir nicht etwa weiter zum Gasthaus, sondern mein Vater zog mich ein wenig am Arm, um mir zu zeigen, dass er abbiegen, die Brücke überqueren und sein Geburtshaus wieder sehen wollte, das dort in einer kleinen Reihe von Häuschen stand. Also taten wir das, gingen aber bald wieder zur Brücke, lehnten uns ans Geländer und sahen in den Bach. Etwas später fragte mein Vater: »Was soll ich jetzt tun, Ash?« Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber das machte nichts, denn er redete weiter, als habe er ohnehin nicht mit einer Antwort gerechnet. Er erzählte mir, er habe als Junge Ansichten und Karten vom Dorf und von der Landschaft ringsum gezeichnet und sei nur dabei wirklich glücklich gewesen, weil unterdessen alles Übrige keine Rolle gespielt habe. Also fragte ich ihn: »Warum fängst du nicht wieder an, Stadtpläne, Landkarten und Ansichten zu zeichnen?« Er verstummte kurz, als würde er diesen Vorschlag ernstlich bedenken, schlug dann aber eine andere Richtung ein: »Es gibt noch immer eine Gegend im Königreich, die nicht kartographiert ist, Ashleigh. Vielleicht sollte ich dorthin gehen.« Dazu sagte ich nichts, sondern ließ ihm Zeit, denn ich war gespannt, was als Nächstes kam. Nach einer Weile erzählte er, er habe schon immer auf die Äußeren Inseln reisen wollen, um Karten von ihnen anzufertigen, und nun werde er das wohl tun. Dem folgte eine weitere Pause. Dann rückte er mit etwas heraus, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Meine Mutter — deine Oma — stammt von den Inseln, 253 Ashleigh«, berichtete er, »und jemand hat mir mal gesagt, wenn ich nie dorthin ginge, hätte ich mein Leben nur halb gelebt.« Danach starrte er wieder in die Ferne. Nach einer Weile wurde es kalt, was meinen Vater wieder zu sich zu bringen schien, und wir gingen ins Dorf zurück. Es stürmte ein wenig, und Laub wirbelte durch die Luft. Als wir die Hauptstraße erreichten, zögerten wir, als wüssten wir nicht recht, ob wir zum Gasthaus runter oder den Hügel hoch zum Wohnwagen gehen sollten, doch dann sagte mein Vater: »Ich komm schon klar, Ash. Geh ruhig nach Hause zu deinem Liam.« »Geht es dir wirklich gut?«, fragte ich. Plötzlich grinste er breit, als wäre er wieder ein kleiner Junge, und gab mir einen Schubs, damit ich mich auf den Weg zum Wohnwagen machte. Als ich etwa hundert Schritte gegangen war, drehte ich mich um, und er stand noch immer da. Er winkte und rief mir nach: »Sorg dafür, dass er sich um dich kümmert!« Diese Worte gingen mir sehr zu Herzen. Wir würden von nun an unserer eigenen Wege gehen, ohne zu wissen, was uns erwartete. So musste Liam sich an diesem Abend wirklich um mich kümmern - zum einen, weil ich so aufgebracht über meine Eltern und Maxie war, zum anderen aber wegen des großen Blutergusses an der Schulter, dort also, wo ich in der Signalwache mit voller Wucht auf den Fußboden geschlagen war. Liam hat sich wirklich prima verhalten und mich mit der Heilsalbe eingerieben, die Peg ihm zu seiner Volljährigkeit geschenkt hatte. Als er die Salbe behutsam auf die schmerzende Stelle auftrug, begann ich mich langsam besser zu fühlen. Also hat er auch die andere Schulter eingerieben und dann noch ein, zwei Stellen, und dann ist mal wieder eins zum anderen gekommen. 254 Doch in der Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich träumte, ich sei wieder im Signalnetzwerk und würde diesen Lee immer weiter verfolgen. Lange Zeit war mir nicht recht klar, ob wirklich ich den Kobold jagte oder er mich - bis er mich schließlich attackierte und zu Boden warf, sich rittlings auf mich setzte, mir seine Klauen an die Gurgel legte und vor und zurück schaukelte. Er tat mir wirklich weh und lachte und sabberte dabei. Plötzlich erblickte ich sein Gesicht — es sah aus wie das von Tom Slater. Da schrie ich: »Nein! Nein! Nein!«, und krallte ihm die Fingernägel ins Gesicht, doch das fühlte sich wie eine Maske an und löste sich ab, und darunter kamen

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die Züge meines Vaters zum Vorschein. Dann hab ich wohl im Schlaf zu schreien begonnen, denn als ich aufwachte, hielt Liam mich im Arm, sah mich tief besorgt an und fragte: »Was ist denn, Ashleigh, was ist los? Ich hatte schon Angst, ich würde dich nicht wachkriegen.« Ich war sehr erleichtert, mich im Wohnwagen und in Liams starken Armen zu wissen, doch es dauerte ewig, bis ich wieder einschlief. Ich lag einfach im Dunkeln da und hörte den Wind wie ein wildes Tier heulen. Am nächsten Morgen beim Frühstück rückte Liam mit der Nachricht heraus, vor der ich mich tagelang gefürchtet hatte. Er sagte einfach: »Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun, Ashleigh. Wir müssen weiterziehen.« 255 Die Geschichte des Zeitalters der Könige Um Matthew zu befreien, mussten die Bannisters ein kapitales Problem lösen: Sie wussten nicht, wo er sich befand - ebenso wenig wie der Monarch selbst. Innerhalb von vier Jahren jedoch konnte Matthew trotz seiner beschränkten Möglichkeiten, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen, seinen Freunden eine erstaunliche Menge nützlicher Informationen übermitteln. Der König fertigte Skizzen von der Landschaft vor seinen Fenstern an und zeichnete einen ungefähren Plan davon, welchen Verlauf die Straßen von den drei Toren des Anwesens, auf dem er gefangen gehalten wurde, in die Umgebung nahmen. Er ermittelte über den Sonnenstand, in welche Himmelsrichtung der Haupteingang des Hauses wies, und konnte durch Belauschen herausfinden, in welchem Dialekt sich die Bediensteten unterhielten, in welcher Gegend sein Gefängnis also lag. Kaum waren diese Nachrichten tröpfchenweise zu den Bannisters gelangt, analysierten sie jede Information aufs Sorgfältigste, bis sie den Ort ausfindig gemacht hatten, an dem der König inhaftiert war. Das hat ihnen vermutlich nur durch kompetente Hilfe im Bereich Kartografie gelingen können. Wir wissen natürlich, dass die Bannisters in jungen Jahren die Akademie für Kartografie besucht und mit einigen alten Freunden - zu denen auch Michael Brown und Thomas Slater gehörten - noch immer Kontakt hatten. Daher konnten sie sich wohl auf die Hilfe eines der beiden stützen. Thomas Slater soll sich im zweiten oder dritten Jahr der Unpässlichkeit des Königs umgebracht haben und kann also nur in einem sehr frühen Stadium einen Beitrag zu seiner Befreiung geleistet haben; Michael Brown dagegen lebte bis kurz vor Matthews Flucht in der Hauptstadt. Wie auch immer: Im letzten Jahr der Unpässlichkeit wussten die Bannisters, wo Matthew sich aufhielt, und konnten seine Befreiung konkret planen. Unterdessen arbeitete die Forschungsabteilung der Bannister Automobilwerke weiter an der Konstruktion eines Motors, der den neuen Kraftstoff verbrennen konnte. Charles reiste immer öfter auf die Inseln, um den Abbau der Torfbriketts zu überwachen, vor allem aber, um mit dem Rat der Weisen zu verhandeln, dem Regierungsgremium der Äußeren Inseln, dessen Unterstützung für die Befreiung des Königs entscheidend sein sollte. Doch so raffiniert die Bannisters ihr Tun auch verheimlichten - gegen Ende der Zeit der Unpässlichkeit hatte der Usurpator offenbar Wind von gegen ihn gerichteten Umtrieben bekommen. Wir werden wohl nie erfahren, welcher Verschwörer beinahe zum Verräter geworden wäre, doch eine Person schien geeigneter als alle anderen, Veronique Moreau nämlich. Offizielle Aufzeichnungen aus dem Palast erlauben es, ihren Werdegang und ihre gespaltene Loyalität ziemlich klar zu dokumentieren. Wir wissen, dass Miss Moreau bei Matthews Amtsantritt Leitender Clown im Amt für Narren und Spaßvögel und geradezu kleinwüchsig war. Diese körperliche Eigenheit mag ihre ersten Jahre als Entertainerin geprägt haben. Wir wissen, dass sie allein lebte, nie geheiratet hat und mit Meister Pegasus - dem ehemaligen Leitenden Magier des Königs - eng befreundet war. Im Zuge der von König Matthew veranlassten Verwaltungsreform hatten Miss Moreau und Meister Pegasus ihren Posten bei Hofe verloren. Während aber Pegasus aus der Hauptstadt floh und sich in der Provinz 256 257 vergrub, gelang es Miss Moreau, sich eine Stelle in der Königlichen Kanzlei zu sichern und dort bis zur Chefin aufzusteigen. Wahrscheinlich wird sich nie sicher ermitteln lassen, welche Rolle sie in dieser Angelegenheit gespielt hat. Gewiss ist allerdings, dass ihr Name nach der Befreiung des Königs nicht mehr in amtlichen Unterlagen erschien. Ein verbreitetes Gerücht besagt, Fang habe sie foltern und wegen Hochverrats hinrichten lassen; andere behaupten, sie sei aus dem Palast geflohen, als die Nachricht vom Untergang des Usurpators die Hauptstadt erreichte; eine weitere, freilich banalere Erklärung ist, dass die zum Zeitpunkt der Ereignisse schon deutlich über sechzig Jahre alte Miss Moreau in den Vorruhestand gegangen ist, um ihren Lebensabend ruhig und zurückgezogen zu verbringen. Jedenfalls merkte Fang wenige Monate vor dem Ende der Zeit der Unpässlichkeit, dass sich auf der Erdinsel bedeutende Dinge taten. Im Herbst jenes Jahres spitzte sich die Lage für Charles und Sally Bannister zu. Inzwischen war der Hochmeister sicher, die Äußeren Inseln seien für die Brennstoffversorgung entscheidend. Deshalb hatte er bereits begonnen, eine Einheit seiner von den Königlichen Wolfsjungen gebildeten Palastwache für den langen Marsch in den Norden ausrüsten zu lassen.

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Unterdessen hatten die Verschwörer durch ihre Informanten einiges von den Absichten des Usurpators aufgedeckt, was sie natürlich die Befreiung beschleunigt in die Tat umsetzen ließ. Da die Bannisters inzwischen wussten, auf welchem Landsitz der König gefangen saß, hatten sie viele weitere Informationen über das Kommen und Gehen zwischen dem Anwesen und den Kleinstädten und Dörfern ringsum ermitteln können. Zwar war 258 der Landsitz streng bewacht, doch den Informanten war aufgefallen, dass eine ganze Reihe von Fahrzeugen die Tore mehr oder weniger regelmäßig passierte: Kutschen, die auf dem Anwesen arbeitende Diener beförderten, Lieferwagen, die Lebensmittel brachten, Müllfahrzeuge und weitere Gefährte, die manch anderes aufs Gelände schafften oder von dort abtransportierten. Zu jener Zeit bestand ein nicht geringer Teil des Anwesens aus Wald, und die Holzarbeiter fällten mehr Bäume, als auf dem Landgut gebraucht wurden. Darum hatte der Ökonom des Anwesens mit einem Holzhändler aus der nächsten Kleinstadt einen Vertrag geschlossen, um von Zeit zu Zeit ganze Wagenladungen überzähliger Stämme abzustoßen. Diese Praxis war für die Bannisters aus einigen Gründen überaus interessant: Zum einen wurden diese in Haufen gelagerten Stämme nicht von den auf dem Landgut beschäftigen Holzfällern, sondern von Mitarbeitern des Holzhändlers auf dessen Laster verladen, so dass ihr Abtransport der Kontrolle der auf dem Anwesen beschäftigten Arbeiter entzogen war; zum anderen handelte es sich bei den Holzlastern um leistungsstarke LKWs, die das schnelle Entkommen des flüchtigen Königs gewährleisten würden; zum dritten sttammten die LKWs von der Firma Harcourt, deren Fabrik im Süden des Königreichs lag, und gaben also keinen Hinweis auf eine Verwicklung der Bannisters in die Befreiung des Königs. Während Charles und Sally Bannister einen Harcourt-LKW zum Fluchtfahrzeug umrüsteten, bereitete sich Matthew auf seine Weise auf den Ausbruch vor. In der verabredeten Nacht schloss der König sich wie üblich in seinem Zimmer ein und ließ das Licht brennen, schlüpfte dann aber auf den Balkon und sprang 259 kühn in ein Gebüsch. Er landete weich und machte sich unverletzt im Schutz der Dunkelheit in den Wald auf, wo er sich unter einem Haufen Baumstämme verbarg und den Rest der Nacht auf seine Retter wartete. Als er am nächsten Morgen nicht aus seinem Zimmer kam, schöpften die Wächter zunächst keinen Verdacht. Schließlich wurden sie doch misstrauisch, aber da war es schon zu spät. Unterdessen hatte ein Saboteur die Laster des Holzhändlers allesamt lahm gelegt, um Charles und Sally Bannister freie Bahn zu verschaffen. Am frühen Morgen kamen die beiden mit ihrem sorgfältig präparierten Fluchtfahrzeug an ein Tor des Landguts. Der LKW war nicht nur genauso lackiert wie die des Holzhändlers, Freunde der Bannisters hatten auch ein raffiniertes Versteck für den König eingebaut, das geschickt unter der Ladung getarnt war. Die peniblen Vorbereitungen ließen alles reibungslos klappen: Die Wächter sahen einen halbvollen Laster aus der Kleinstadt kommen, der offenbar schon anderswo ein paar Stämme geladen hatte. Eine Stunde später sahen sie denselben Laster wieder wegfahren, diesmal allerdings voll beladen. Hätten sie gewusst, dass sich unter den Stämmen ein blinder Passagier befand, hätten sie den Fahrer und seine Beifahrerin kaum so freundlich durch die Sperre gewinkt. Natürlich war der Stress für die Bannisters damit noch lange nicht zu Ende. Obwohl der LKW ihnen eine schnelle Flucht aus der Nachbarschaft des Anwesens ermöglichte, sollte sich die Reise, die vor ihnen lag, als lang und beschwerlich erweisen. Die Hauptstraßen waren in beklagenswert schlechtem Zustand und voller Schlaglöcher, die Nebenstraßen oft schmal, steil und kurven- 260 reich. Auch hatte der LKW keine Heizung, und das stets kältere Herbstwetter war nicht dazu angetan, das Wohlbefinden der drei Reisenden zu steigern. Außerdem sahen sie sich täglich der Gefahr ausgesetzt, von Banditen und Wegelagerern überfallen zu werden oder in eine von Truppen des Usurpators errichtete Straßensperre zu geraten. Nicht zuletzt um dies zu vermeiden, hatten die Bannisters beschlossen, auf Nebenstraßen zu reisen. Die militärisch ausgerüsteten Wolfsjungen hingegen hatten als größerer Verband keine andere Möglichkeit, als die Königlichen Landstraßen zu benutzen, die zwar breit und schnurgerade, aber in noch jämmerlicherem Zustand waren als die Nebenstraßen. Daher stand ihnen eine mindestens ebenso lange und unbequeme Reise bevor wie den Verschwörern. Damals wussten nur wenige, dass Hochmeister Fang selbst die Truppe anführte. Heute ist klar, dass dies eine ausgesprochen unkluge Entscheidung des Usurpators war. Wir wissen freilich, dass Fang infolge seines mit den Kobolden des Signalnetzwerks eingegangenen Bündnisses ohnehin nicht mehr bei Trost war. Mag man sich an diesen Gedanken notfalls noch gewöhnen können, wirklich erschreckend ist, dass die Verwaltung der Hauptstadt und die Regierung des Königreichs für einen nicht mehr genau feststellbaren Zeitraum in den Händen seines Stellvertreters - also in denen von Meister Gash - gelegen hat. Gash mag ein leidlich kompetenter Vize gewesen sein, doch seine Fähigkeit, für das ganze Königreich - noch dazu in so kritischer Zeit - Verantwortung zu übernehmen, wurde zu Recht oft bezweifelt. Wäre der Usurpator in der Hauptstadt geblieben und

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261 hätte er sich auf die Regierungsgeschäfte konzentriert, wäre unsere gegenwärtige Epoche des Konsenses wohl kaum zustande gekommen. (aus Band 4: Die Regierung von Fang dem Usurpator) SECHSTES KAPITEL Die Dornenhecke Es passiert etwas, Leonardo. Gemeinsam vollbringen wir, was wir allein nie geschafft hätten — aus unterschiedlichsten, zufällig nebeneinander liegenden Teilen formen wir, was wir eines nahen Tages sehr gut werden brauchen können. Etwas, das es zuvor noch nicht gab, entwickelt sich, nimmt Gestalt an und erwacht zum Leben. Etwas oder jemand. Der Kartograf weist uns den Weg, und das Katzenmädchen rennt und kämpft für uns mit der unbändigen Leidenschaft der Jugend - darum sind wir jetzt schneller und aggressiver, leichtfüßig und agil. Doch das reicht noch immer nicht. Wie jeder von uns, Leonardo, spüre auch ich deine Enttäuschung. Doch irgendwo - vielleicht gar in Reichweite - wartet der, den wir suchen. Es ist der Lahme, der humpelnde Junge. Noch immer sind deine Augen trüb, deine Ohren vermummt. Doch bald wird der Schleier sich heben, und du wirst wissen, was du für mich tun musst. 263 Danach, Leonardo, gibt es noch ein Letztes, das in der Ferne auf dich wartet. Ich spüre seine Gegenwart, seine enorme Kraft und unendliche Geduld. Es wartet, bis Himmel und Erde sich küssen, Der Wind in die Bäume fährt, Die große Flut an die Küste schlägt Und die Möwen ans Meer zurückkehren. Ja, es wartet. Doch sehr bald — vielleicht zum Jahreswechsel oder zur Sonnenwende - ist es so weit, und darauf müssen wir vorbereitet sein, Leonardo. Denn mit der Ankunft dessen, was da wartet, wird der Lahme gesund und der Widerling rein, und das Land wird endlich wieder frei von Tränen sein. Verfolge die Entwicklung genau, beobachte, warte und halte dich bereit. Und denk daran: Du wartest nicht allein. Ich warte mit dir. Wir alle warten mit dir. Ashleigh findet ihren Weg Es war, als würde ich in zwei Richtungen gezerrt: Liam zog in die eine, mein Vater in die andere, und ich wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte. Noch schlimmer wurde es dadurch, dass mein Vater immer wieder sagte, er komme schon klar und ich solle nicht bei ihm bleiben, sondern tun, was mich glücklich mache, und mit Liam ziehen. Dabei sah ich doch, wie sehr er mich brauchte. Er behauptete dauernd, er werde auf die Inseln 264 reisen und Karten zeichnen, doch mir war klar, wie schwach er noch war und dass ihn die kleinste Kleinigkeit erneut aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Dann dachte ich an meine Mutter. Sie wollte weder mit meinem Vater noch mit mir reden, und ich begriff, dass auch ich nach den letzten vergeblichen Bemühungen nicht mehr mit ihr sprechen wollte. Meinem Vater ging es offenbar genauso. Schließlich entschied ich mich, mit einem weisen Menschen zu reden, der mich unparteiisch beraten konnte. Doch im Dorf traute ich das keinem zu. Also ging ich zur Signalwache, um mit Charles und Sally Kontakt aufzunehmen. Als ich oben ankam, stapfte der verrückte alte Meister Pegasus brüllend durchs Gebäude und putzte den armen Joey nach Strich und Faden dafür herunter, immer wieder an den Maschinen zu spielen. Ich brauchte einige Zeit, um mich bemerkbar zu machen. Dann allerdings ließ Pegasus mich ins Netz, und ich konnte ein paar Signale absetzen, erreichte Charles und Sally aber nicht, sondern geriet an einen Auskunftsservice, der mir mitteilte, die beiden seien im Moment verreist. Ich versuchte es noch bei einigen anderen Leuten, konnte aber nur Davinas Mutter erreichen. Sie war gerade mit ihrer Tochter in der Kaserne gewesen und hatte Maggot dazu gebracht, Davina wieder als Katzenmädchen aufzunehmen - leider ohne Aussicht, erneut Patrouillenleiterin zu werden. Jedenfalls unterhielten wir uns gut. Sie hörte sich meine Probleme an und wollte alle möglichen Einzelheiten über Liam und mich wissen. Eigentlich hab ich darüber nicht gern geredet, ihr aber doch manches erzählt. Ich hoffte irgendwie, sie hätte einen klugen Rat für mich, doch am Ende meinte sie nur, ich sollte meinem inneren Kompass folgen. 265 Nach meiner Sitzung an der Signalmaschine ließ Meister Pegasus Joey für mich Kaffee kochen, doch den musste ich allein trinken, weil die beiden zu beschäftigt mit einem bekloppten Experiment waren oder so. Dann bin ich zurückgegangen. Es war kalt, die Äcker - nichts als gefrorene Schollen - lagen trostlos da, und die letzten Blätter waren von den Bäumen geweht. Der Wind schien mir das Gehirn durchzupusten und jeden Gedanken wegzureißen, bis mein Schädel nur noch ein leeres, kaltes Gehäuse war. Als ich wieder ins Dorf kam, war mir klar, dass ich mit Liam ziehen würde. Also ging ich zu meinem Vater ins Gasthaus. Es schien ihm nichts auszumachen. Er fragte nur, ob ich genug Geld hätte.

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So zogen wir am nächsten Tag los. Auf der Reise hatten wir — das könnt ihr mir glauben - eine Menge Probleme, doch Geld war keines davon, denn Liam hatte für die nächsten Wochen schon ziemlich viele Aufträge und wollte auf Biegen und Brechen seinen Terminplan einhalten. Seltsam, dass er keinen Kalender hatte und doch immer genau wusste, wohin er wann aufzubrechen und wo er abzubiegen hatte, um dorthin zu gelangen. Mein Vater hat mir mal erklärt, die Fahrenden brauchten keine Landkarten oder Terminkalender wie gewöhnliche Leute. Kompliziert wurden die Dinge allerdings dadurch, dass einige von Liams Kunden jedes Jahr einen neuen Anstrich haben wollten, andere nur alle drei Jahre und wieder andere in stets wechselnden Rhythmen. Liam konnte also nicht jedes Jahr die gleiche Route abfahren, sondern musste die Strecke ständig variieren, schien aber alle Einzelheiten im Kopf zu haben, denn ich erinnere mich nicht, dass er je zu spät gekommen wäre. Natürlich mussten wir auf den Feld- und Seitenwegen 266 bleiben, weil an" den Königlichen Landstraßen überall Banditen und Wegelagerer lauerten und Liam der Ansicht war, es habe keinen Sinn, in Auseinandersetzungen zu geraten, bei denen wir nur den Kürzeren ziehen konnten. In jenem Herbst erledigten wir alle möglichen Aufträge, arbeiteten in herrlichen Häusern und ärmlichen Hütten, drinnen wie draußen. Ich entwickelte mich zu einer ziemlich coolen Anstreicherin und hatte bald alle anfallenden Zuarbeiten gelernt - das Verrühren von Farb-Pigmenten in der Kalktünche zum Beispiel oder das Einweichen von Pinseln. Nur zu zweit konnten wir die Leitern vom Wagen schnallen und aufstellen - also half ich Liam auch dabei, obwohl ich nicht gern auf Leitern stieg. Ich durfte manchen Anstrich übernehmen, doch knifflige Arbeiten - wie das Anfertigen von Schablonen für raffinierte Ornamente oder das Auftragen scheußlicher Pseudo-Holzmaserungen - blieben Liam vorbehalten, der nie vergaß, den Kunden auch die leuchtenden Farbpigmente zu zeigen, die ich so mochte, die jedoch niemandem gefielen. Einige unserer Auftraggeber schienen zu viel Zeit zu haben und standen deshalb gern bei uns und hielten ein Schwätzchen. Dann kam die Jungkommissarin in mir aus dem Versteck und spitzte die Ohren, um nützliche Inforationen aufzuschnappen. So bekam ich alles Mögliche aus dem Leben unserer Kunden mit - Dinge, von denen ihr nicht glauben würdet, dass die Leute sie erzählen -, und einmal erfuhr ich auch etwas, das mit mir und meinem Vorhaben zu tun hatte. Wir arbeiteten damals in der Kleinstadt, in der die Akademie für Kartografie beheimatet ist, und strichen ein Treppenhaus für ein altes Ehepaar namens Roberts, 267 das eine Art Pension betrieb. Mr Roberts war früher ein hohes Tier im technischen Dienst der Akademie gewesen. Mrs Roberts putzte meist das Haus oder fütterte ihre Hunde, aber ihr Mann stand gern am Fuß der Leiter und plauderte über dieses und jenes. Eines Tages ließ er sich über diverse Hilfskräfte aus, die zu seiner Zeit an der Akademie gearbeitet hatten, und plötzlich merkte ich, dass er von Tom Slater sprach. »Tom Slater?«, fragte ich und versuchte, ein wenig tranig zu klingen - ä la Sally Bannister gewissermaßen. »Ja«, sagte er. »Slater war zweifellos ein zuverlässiger Dienstbote, doch ich erinnere mich vor allem deshalb an ihn, weil er der einzige Diener war, der je Student wurde.« Dann wandte er sich zur Küchentür und rief: »Frieda, du erinnerst dich doch noch an Tom Slater? War der nicht mal hier?« Mrs Roberts steckte den Kopf aus der Küchentür. »Natürlich erinnere ich mich an Tom. Er wollte diesen Mr Brown besuchen, weißt du noch, den Jungen mit dem seltsamen kleinen Hund, wie hieß er noch gleich?« »Dusty«, antwortete Mr Roberts. »Die beiden wurden Rusty und Dusty genannt.« Als er das sagte, glitt meine Hand so langsam wie unwillkürlich zu meinem Halsband hinauf. Es stellte sich heraus, dass mein Vater als Student bei Mrs Roberts zur Untermiete gewohnt hatte. Sie erinnerte sich genau an seinen roten Haarschopf, an seine mit Flicken besetzte Hose und daran, dass ihm die Socken ständig um die Knöchel geschlackert waren. Dann zeigte ich ihr Dustys Halsband, das ich noch immer trug, und sie sagte, Rusty habe bei der Abreise ein paar alte Karten und einige Klamotten zurückgelassen, doch die habe sie vor Jahren weggeworfen. Dann meinte sie plötzlich: 268 »Genau - Tom Slater ist kurz nach dem Verschwinden von Mr Brown aufgetaucht. Er hat etwas in seinem Zimmer gesucht und in seinen Zeichnungen und Sachen gestöbert. « In diesem Moment rief Liam, er wolle von der Leiter steigen. Also musste ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren. Später aber erinnerte ich mich daran, dass Tom gekommen und die alten Sachen meines Vaters durchgesehen hatte, und fragte mich, was er gesucht haben mochte und warum er nicht aufgetaucht war, als mein Vater noch bei Mrs Roberts wohnte. Nach dem Auftrag bei Familie Roberts gab es eine Weile nichts zu tun. Bis zur Wintersonnenwende hatte Liam keine Stammkunden mehr abzuklappern, und ich schlug vor, uns ein wenig in die Büsche zu schlagen und Ferien zu machen, doch er war absolut dagegen und wollte ohne Pause weiterarbeiten. Also zogen wir von Dorf zu Dorf, klopften überall und fragten nach Arbeit, doch das ging mir bald mächtig auf die Nerven - schließlich hatten wir einen Batzen Geld zusammengespart. So versuchte ich Liam erneut zu überreden, ein paar Tage auszuspannen, und brachte ihn damit schließlich auf die Palme. »Warum bist du bloß immer so unzufrieden?«, fuhr er mich an. »Warum kannst du nicht einfach dem Lauf der Straße folgen?« Ich sah ihn traurig an und erklärte: »Vielleicht ist deine Straße ja nicht die gleiche wie meine. Vielleicht trennen

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sich unsere Wege irgendwann.« Dann merkten wir, was wir gesagt hatten, und blickten einander mit offenem Mund an. Das war unser erster richtiger Streit. Die Versöhnung 269 am Abend war herrlich, doch dann lag ich wach und dachte darüber nach, dass wir zwar toll miteinander geschlafen, unsere Differenzen aber ganz und gar nicht geklärt hatten. Ein, zwei Tage später kam das Thema wieder auf, und wir unternahmen erneut einen Versuch, das Problem zu lösen. Das war in irgendeiner Kleinstadt, wo wir Arbeit gefunden hatten - einen langweiligen Auftrag, doch Liam war der Ansicht, wir sollten nehmen, was wir kriegen konnten. Also strichen wir eine ewig lange Gartenmauer für einen Mann an, der auf Krücken ging und sich kaum zu helfen wusste. Es handelte sich um eine mannshohe Ziegelmauer, und wir brauchten keine Leiter. Seltsamerweise wollte unser Kunde die Mauer rosa gestrichen haben. Natürlich hatten wir ihm unsere gesamte Farbpalette gezeigt, ihn aber nicht umstimmen können. Also mischten wir roten Ocker in die Kalktünche und legten los. Ist euch aufgefallen, dass jeder so seine Methode hat, eine Wand zu streichen? Manche streichen rauf und runter, andere hin und her, wieder andere kreuz und quer, und einige kombinieren all das. Ich schätze, Liam hatte gelernt, wie man es richtig macht, denn er ging absolut systematisch zu Werke und arbeitete jede Wand in kleinen Rechtecken von links nach rechts ab. Ich machte es natürlich anders und pinselte mal so, mal so, wie mir der Sinn stand. Mitunter hatte Liam sich darüber lustig gemacht, aber immer gelächelt und nie versucht, mir eine bestimmte Methode aufzuzwingen. So arbeiteten wir uns also an jenem Nachmittag Seite an Seite die Mauer entlang. Während ich munter kreuz und quer strich, ging Liam wie immer nach seinem Verfahren vor und tünchte all die Flächen, die ich ausgelas- 270 sen hatte. Dann malte ich aus Spaß Grimassen, Tiere und dergleichen an die Mauer, und Liam ergänzte weiter ungerührt meine Lücken. Es war wie eine verrückte Unterhaltung — nur dass wir keine Worte, sondern Pinsel benutzten. Nach einer Weile fragte er aus heiterem Himmel: »Wohin möchtest du fahren, Ashleigh?«, malte dabei aber ohne Unterbrechung weiter. Ich antwortete nicht sofort, sondern entfernte mich etwas von ihm, malte einen großen Kreis und wartete, bis er mich eingeholt hatte. Als sein Pinsel den Kreis erreichte, sagte ich nur: »Auf die Inseln.« Ich hatte diese Antwort gar nicht im Sinn gehabt und war vermutlich genauso überrascht darüber wie er. Jedenfalls hab ich ihn nur dieses eine Mal den Pinsel fallen lassen sehen. Und die Sprache hatte es ihm auch verschlagen, denn eine ganze Weile sagte er kein Wort, und wir strichen die Wand schweigend zu Ende. Natürlich war mir klar, dass irgendwas los war, doch ich kannte Liam gut genug, um zu wissen, dass es vergeblich wäre, ihn danach zu fragen. Ich musste einfach warten, bis er von selbst darauf zu sprechen kam. Nachdem wir unsere Sachen eingeräumt und unseren Lohn bekommen hatten, gingen wir zum Wagen zurück, stiegen aus unseren Arbeitsanzügen und schrubbten einander ordentlich sauber. Dann zogen wir frische Sachen an, und Liam stopfte seine Pfeife, während ich ein paar Dosen öffnete, um uns etwas zu essen zu kochen. Als ich die verschiedenfarbigen Zutaten in die Pfanne haute und zusah, wie alles zu einer braunen, klebrigen Masse wurde, begann Liam zu erklären, was los war. Es hatte mit der Vergangenheit der Fahrenden und der Inselbewohner zu tun, und während er mir alles erklärte, erinnerte ich mich an die alte Geschichte, die Peg 271 uns Kindern im Urlaub immer wieder erzählt hatte. Um es kurz zu machen: Anscheinend waren die Fahrenden und die Inselbewohner vor langer Zeit miteinander befreundet gewesen - im Vergessenen Zeitalter nämlich. Doch dann zogen die Fahrenden los, während die Insulaner beim Heiligtum blieben, und bald glaubten sich beide Gruppen voneinander übervorteilt. So wurden sie zu Feinden und haben seither eigentlich nie mehr miteinander gesprochen. Ich hatte geglaubt, das sei nur eine blöde Geschichte, doch offenbar war die alte Fehde nicht vergessen, und die Fahrenden trauten den Inselbewohnern noch immer nicht über den Weg. Darum wollte Liam auf keinen Fall in die Nähe der Inseln reisen. Er tischte mir auch noch all den Kram über Gezeiten und Stürme auf, die um diese Jahreszeit besonders gefährlich seien, aber ich wusste nicht recht, was er mir damit sagen wollte. Natürlich hatte ich längst von meinem Vater erfahren, dass ich zu je einem Viertel Insulanerin und Fahrende war, doch es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt, Liam davon zu erzählen. Schließlich handelten wir eine Art Kompromiss aus. Liam sagte, wir hätten in den nächsten Wochen kein festes Ziel und könnten doch an jeder Kreuzung abwechselnd bestimmen, welche Richtung wir einschlagen. Und so machten wir's dann auch. An jeder Kreuzung sagten wir beide, welche Richtung uns die liebste wäre. Waren wir einer Meinung, umso besser. Wenn nicht, entschied der, der letztes Mal nicht hatte entscheiden dürfen, und der andere musste sich fügen. Die nächsten Wochen praktizierten wir dieses Verfahren: Wir reisten von Ort zu Ort und fanden hier und da Arbeit, doch ich merkte, dass Liam nicht zufrieden war und immer nervöser und unglücklicher wurde. 272 Irgendwann kamen wir mitten in der Pampa an eine Kreuzung, und Neil, die sich längst an die Prozedur gewöhnt hatte, hielt an und wartete auf unsere Entscheidung. Irgendwas zog mich ganz stark geradeaus, und ich hatte das Gefühl, chronische Schmerzen zu bekommen, wenn wir abbiegen würden. Liam hingegen wollte unbedingt nach

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links, und wir hätten uns deswegen beinahe gezankt, bis ich ein Machtwort sprach. »Ich bin dran, Liam«, sagte ich nur. Da musste er natürlich einlenken. Ich merkte zwar, dass er noch immer sehr unglücklich war und sich beinahe vor dem zu ängstigen schien, was vor uns lag, doch ich änderte meine Meinung nicht. Es war, als würde mich etwas vorwärtsziehen, dessen ich mich nicht erwehren konnte. Als wir um eine Wegbiegung kamen, erblickten wir in der Ferne ein großes gelbes Haus mit grauem Dach und vielen Schornsteinen. Ein falscher Fünfziger »Wie ein falscher Fünfziger tauchst du immer wieder aus der Versenkung auf.« »Das könnte ich von dir auch sagen«, erwiderte Laurel lächelnd. Sie teilte sich mit Rusty im Nebenzimmer des Gasthauses eine Flasche Wein. Ihre einzige Gesellschaft war der schweigsame Pfarrer, der fast unsichtbar in einem Winkel gegenüber saß. Vom Schankraum nebenan drangen raue Stimmen leise durch die Trennwand. Es war Mittwoch und ging auf die Sperrstunde zu. 273 »Wie lange ist es schon her, dass ich dir auf der Tagung begegnet bin?«, fragte Rusty gedankenverloren. »Vier Jahre? Fünf?« »So etwa.« Laurel stützte sich auf die gepolsterte Armlehne des alten, reichlich abgewetzten Sofas, streckte sich und machte es sich erneut bequem. »Hört sich an, als hättest du harte Zeiten hinter dir.« »Es ging ziemlich rauf und runter«, erwiderte Rusty wehmütig. »Mehr runter als rauf, um ehrlich zu sein. Offen gesagt hab ich keine Lust mehr, darüber zu reden. Sprechen wir lieber ein wenig über dich. Wie geht's dir an der Universität?« »Es ist viel passiert«, schnurrte Laurel mit wohltönender Stimme. »Niemand hat gedacht, dass es so ein Erfolg wird. Im Gegenteil - am Anfang haben sich alle darüber ausgelassen, was für eine dumme Idee das sei. Niemand wolle die Fahrenden untersuchen, hieß es; niemand sei an ihnen interessiert. Doch es hat sich gezeigt, dass sich sehr viele Leute für sie interessieren - für ihre Geschichte, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Medizin. Für praktisch alles - bis auf unsere lausige Küche. Und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich sogar dafür jemand begeistert. Und nicht nur Fahrende interessieren sich dafür, sondern alle möglichen Leute. Kaum zu glauben...« »Selbst in einem Nest wie diesem?« »Sicher. Es gibt auch hier ein paar Fans unserer Kultur. Morgen früh treffe ich mich mit ihnen und zeige ihnen einige Bücher. Es handelt sich um Lucy Hopkins - die Frau von Sam - und den alten Schulmeister. Er überlegt sogar, sich per Fernstudium mit den Fahrenden zu beschäftigen. Wenn ich die beiden getroffen habe, ziehe ich weiter. Ich muss noch andere Schüler be- 274 suchen und arbeite zudem an einer Untersuchung über die Möwentreiber. Sind die nicht jüngst hier durchgekommen?« Bedrückt starrte Rusty in sein Glas. »Ja. Sie sind nach Norden gezogen. Ich hab sie verschwinden sehen, und dann hat sich herausgestellt, dass mein Junge mit ihnen gegangen ist. Ich glaube, er hat Koboldfieber. Jedenfalls hat ihn der Gebrauch unserer Signalmaschine sehr verändert. Ich schätze, inzwischen kann ich mich kaum noch mit ihm verständigen.« »Ich könnte dich mitnehmen«, schlug Laurel vor. »Jedenfalls ein Stück - schließlich ist es meine Richtung. Übermorgen in aller Frühe?« »Gut«, erwiderte Rusty und lächelte so schwach wie ergeben. »Aber versuch, mich diesmal nicht in Schwierigkeiten zu bringen.« Er wollte schon sagen, dass er auf die Inseln reise, überlegte es sich aber im letzten Moment anders und schwieg. »Wir machen besser für heute Schluss, Joey. Ich hab noch Lust auf ein Gläschen, und Mrs Pegasus sperrt den >Pflug< bald zu.« Leonardo hatte sich hoffnungslos darin verstrickt, ein verheddertes Kopfhörerkabel der Komplexen Empathiemaschine zu entwirren. Es war wieder mal ein zehrender und entmutigender Tag in der Signalwache gewesen, und der Magier hatte den Eindruck, seinem Ziel seit Beginn seines Vorhabens nicht wirklich näher gekommen zu sein. »Wenn Sie wollen, erledige ich das, Meister«, bot Joey ihm an. »Machen Sie ruhig Feierabend.« Der Junge humpelte durch die Wache und löschte eine Petroleumlampe nach der anderen. »Danke, Joey, sehr nett von dir. Aber bleib nicht zu 275 lange. Wir haben mal wieder kaum noch Petroleum, und ich weiß nicht, wann und woher wir die nächste Lieferung bekommen.« Mit diesen Worten legte Leonardo den widerspenstigen Kopfhörer weg, nahm Hut und Mantel und rüstete sich für einen zügigen Marsch zum Wirtshaus. Als er die Flügeltür einen Spalt öffnete, stellte er fest, dass ein feuchter Wind aufgekommen war. »Gute Nacht, Meister P.« »Gute Nacht, Joey. Bis morgen.« Der Magier zündete seine Lampe an und machte sich auf den Weg. Vom Eingang her sah Joey den tänzelnden gelben Lichtkreis in der Dunkelheit verschwinden. Froh, endlich allein zu sein, sperrte er die Tür zu, humpelte zur Hauptschalttafel, türmte ein paar Kissen auf einen Stuhl, zog sich hinauf und machte es sich einigermaßen bequem. Dann entwirrte er binnen Sekunden die verhedderten

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Kabel, setzte den Kopfhörer auf und beugte sich zum Okular. Wie von selbst tasteten seine dünnen, krummen Finger nach den Handgriffen. Dann holte Joey Hopkins tief Luft und tauchte lautlos in das rätselhafte Netz ein. So spät am Abend waren die Gänge des Netzwerks immer ziemlich leer. Ab und an hetzte ein Bote hierhin oder dorthin, doch Joey achtete nicht darauf. Bei der heimlichen Erforschung dieses verbotenen Reichs hatte er rasch gelernt, dass ihn kein Bewohner des Netzwerks stören würde, sofern er sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Es gab nur einen, der vermutlich Ärger machen würde - ein bedrohliches Wesen, eine schnelle, dunkle, gelenkige Gestalt, die Meister Pegasus und seine Freunde Lee nannten und unbedingt aufspüren wollten. Doch obwohl Joey klar war, dass Lee eine Gefahr darstellte, fürchtete er ihn nicht, denn ir- 276 gendwie wüsste er immer, wo Lee gerade war, weil er um die Ecke gucken konnte, Geräusche hörte, die niemand sonst vernahm, und Erschütterungen spürte, die so schwach waren, dass kein anderer sie bemerkte. Und Joey konnte durch Gassen schleichen, sich in Hauseingängen verbergen, Treppen hochrasen und war immer den entscheidenden Schritt schneller als der dunkle Dämon des Netzwerks. Joey vermochte dem Ärger stets um Haaresbreite zu entgehen. Draußen war er auf einen Roller angewiesen, um von Ort zu Ort zu kommen, doch im Netz brauchte er solche Hilfen nicht. Hier konnte er tun, was er wollte, sein, wer er wollte, und fühlen, wonach immer ihm war. Lautlos stahl er sich in ein Versteck, das nur er kannte. Dort wartete er geduldig. Nach einiger Zeit wurde das Netzwerk still. Die letzten Boten kehrten heim, und der Hauptmann schloss sein Büro ab und schlummerte am Schreibtisch ein. Selbst Lee zog sich an seinen Schlafplatz zurück, ließ sich in einem über und über von Spinnweben heimgesuchten Turm im Kniehang von einem Dachbalken herab und begann leise zu schnarchen. Nun begann Joey Hopkins, das Netzwerk von seinem Versteck aus zu erforschen. Seine Finger erkundeten jede Spalte und Ritze, und er spürte, wie er mit dem labyrinthischen Netz verschmolz, spürte sein Fleisch flüssig werden und wie Quecksilber durch Straßen, Gassen und Gänge fließen und alle Gemächer, Dachböden und Kellerräume erfüllen wie Blut die Adern, spürte es wie Gezeiten durch Flüsse und Kanäle des Königreichs strömen, wie flüssigen Brennstoff unter Gesteinsschichten ruhen. 277 Das Netzwerk war sein, und er war das Netzwerk und badete in verzücktem Schweigen in seinen Tiefen. Nach einiger Zeit hatte Joey den Eindruck, nie woanders gewesen zu sein und nie etwas anderes gefühlt zu haben. Sein Gedächtnis verschwand; nur der Moment zählte; die Grenzen des Raum-Zeit-Kontinuums waren gesprengt. Und schließlich konnte er es in weiter Ferne spüren -knapp jenseits der letzten Ausläufer seiner feinsten Nervenbahnen, vielleicht nur Millimeter außer Reichweite. Es war noch sehr schwach und vorsichtig und begann gerade erst. Doch irgendwie war es da. Als der Magier am nächsten Morgen in die Signalwache kam, fand er Joey friedlich lächelnd über den Hebeln zusammengesunken. Am nächsten Tag packte Rusty seine Sachen, um endgültig vom »Pflug« Abschied zu nehmen, stieg die knarrende Treppe hinunter, frühstückte noch vor Sonnenaufgang, beglich seine Rechnung und verabschiedete sich von Mrs Pegasus. Dann ging er in den Hof hinterm Gasthaus, wo Laurel — elegant gekleidet wie immer - erfolglos mit der Anlasserkurbel kämpfte. »Lass mich mal versuchen.« »Oh, danke, Rusty. Manchmal muss man ganz schön kurbeln, wenn der Motor ein paar Tage nicht gelaufen ist.« Bald fuhren sie die Hauptstraße des Dorfes entlang Richtung Norden. Es war ein klarer, frischer Novembermorgen. Rusty winkte Oma Hopkins zu, die wie immer in ihrem Garten auf der anderen Seite des Dorfangers werkelte, und rief zwei, drei Bekannten einen Abschiedsgruß zu. Das Haus von Eileens Vater und die Kirche wirkten 278 wie ausgestorben. An der Kreuzung sah er von weitem den Magier zur Signalwache gehen. Neben ihm war die schiefe Gestalt von Joey Hopkins mit seinem kleinen Roller, doch Laurel fuhr ihnen nicht nach. Die Hände entspannt aufs mit Kork gepolsterte Lenkrad gelegt, blieb sie auf der Hauptstraße, bis sie nach etwa einer Stunde die nach Norden führende Königliche Landstraße erreichten. »Ist die denn sicher?«, fragte Rusty ängstlich. »Hier gibt's womöglich Banditen und so!« Laurel zuckte verächtlich die Achseln. »Vor denen hab ich keine Angst«, erwiderte sie geringschätzig. »Mit diesem Ding bin ich schneller als alle zusammen.« Zur Demonstration gab sie Gas, und der Wagen beschleunigte mächtig. Allerdings qualmte der Auspuff, und der lausige Fahrbahnbelag sorgte dafür, dass Auto und Insassen gleichermaßen durchgerüttelt wurden. »Weißt du eigentlich, wo du hin willst?«, fragte Laurel nach einer Weile. »Ich hab dich gar nicht danach gefragt.« Rusty schluckte vernehmlich und wollte sein Ziel noch immer nicht preisgeben. »In den Nordosten«, sagte er schließlich. »Ich muss da was erledigen. Liegt das in deiner Richtung?« »Jedenfalls zunächst mal«, gab sie zurück und überholte eine Marschkolonne Wolfsjungen. »Wohin die wohl unterwegs sind? Außerhalb der Hauptstadt bekommt man sie nur selten zu sehen. Aber hör mal, was den

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Nordosten anlangt: Ich möchte diesem Teil der Küste nicht zu nahe kommen. Ich halte mich lieber von den Inseln fern. Das verstehst du doch, oder?« »Weil du eine Fahrende bist?«, wagte Rusty zu fragen. 279 »Genau. All die alten Geschichten haben auch heute noch eine gewisse Bedeutung. Vor allem zu dieser Jahreszeit. Schließlich ist demnächst das Fest und so.« »Das Fest?« »Ja, das Fest der Winde und Gezeiten. Die Insulaner dürften bald mit den Vorbereitungen beginnen. Es ist das wichtigste Ereignis ihres Kalenders und liegt schon in der Luft.« Rusty nahm versuchsweise Witterung auf, doch für ihn roch es noch immer nur wie ein frischer Novembertag. »Ich hab was zu essen mitgenommen«, sagte Laurel. »Hast du schon Hunger?« Ashleigh verfolgt eine Spur Die Straße lief schnurgerade den Hügel hinunter auf das Haus zu. Der Zahl seiner Fenster nach war es groß, wirkte aber von weitem wie eine Puppenstube. Liam warf mir einen Seitenblick zu, als wollte er fragen: »Muss das wirklich sein?«, doch ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern nickte nur, weil ich wusste, dass ich meinen Willen nie wieder würde durchsetzen können, wenn ich jetzt nachgab. Außerdem war ohnehin ich an der Reihe gewesen, über unsere Reiseroute zu entscheiden, und kaum hatte ich das Haus gesehen, fühlte ich mich davon angezogen. Zwar spürte ich, dass Liam damit nicht einverstanden war, fand aber, wenn er ein Problem damit hatte, sollte er es sagen. Wenn ich gewusst hätte, wie unglücklich er wirklich war, hätte ich mir die Sache vielleicht noch überlegt - vielleicht aber auch nicht. Denn 280 wie sich herausstellte, war das Betreten des Hauses das Wichtigste, was mir auf dieser Reise widerfuhr. Das Gebäude war von einer Art Wall oder Hecke umgeben, doch anfangs ließ sich nicht genau erkennen, was es war. Je weiter wir aber in die Ebene kamen, desto höher schien das Hindernis zu wachsen, bis das Haus unserem Blick entzogen war. Wie gesagt, die Straße verlief schnurgerade und hatte früher wohl durch einen Wald geführt, doch es gab keine Bäume mehr, nur verrußte oder verkohlte Stümpfe, als habe jemand alle Bäume abgeholzt und das Gelände dann in Brand gesetzt. Nachdem wir einige Zeit durch diese Szenerie gefahren waren, wurde mir ein wenig unheimlich zumute, denn die verbrannte Erde zog sich ungemein weit hin und vermittelte den Eindruck, die Welt sei einem Inferno zum Opfer gefallen. Ich hakte mich bei Liam unter, und er sah mich einmal mehr von der Seite an und runzelte die Stirn, doch ich nickte nur erneut, und wir fuhren weiter. Als wir dem Haus noch ein Stück näher gekommen waren, wurde auch Neil langsam unruhig, doch ich blickte unverwandt geradeaus, und wir zockelten weiter. Bald sahen wir, dass das Haus von einem Erdwall umgeben war, auf dem — dicht an dicht gepflanzt - knorrige Dornbäume standen, die zu einer Hecke zusammengewachsen waren. Aus der Entfernung sah sie weiß und funkelnd aus, was etwas seltsam wirkte, doch als wir uns näherten, stellte ich fest, dass sie voller Raureif war. Auch das war recht unheimlich, denn den ganzen Tag hatte es nirgends Frost gegeben, und es schien, als kämen wir nun an einen Ort, der erheblich kälter war als seine Umgebung. Plötzlich blieb Neil stehen. Wall und Hecke verliefen 281 quer über die Straße, und es gab kein Durchkommen. Auf diesem Weg also würden wir nicht zum Haus gelangen. Zum Glück reichten die verkohlten Baumstümpfe nicht bis direkt an den Wall heran, so dass wir ihn umfahren konnten. Ich war clever und überließ es diesmal Liam, ob wir links oder rechts abbogen, damit ich — falls später ein Tor oder so auftauchen sollte - wieder die Richtung bestimmen durfte. Wir bogen nach rechts, und als wir den Wall zu einem Viertel umrundet hatten, stießen wir tatsächlich auf eine Straße, die sich als Zufahrt zum Haus erwies, auch wenn sie in einen engen Tunnel mündete, der im Zickzack durch die Dornenhecke verlief. Neil mochte diese Schleuse gar nicht, und Liam biss sich auf die Unterlippe, als die Dornen die Seiten seines Wagens zerkratzten, doch ich blickte ungerührt weiter geradeaus, und Sekunden später hatten wir die schmale Passage hinter uns. Innerhalb des Walls war es erheblich kälter, und der Boden war überall mit Raureif bedeckt. Links und rechts erstreckten sich Felder oder das, was einmal Felder gewesen sein mussten, denn kleine Hecken teilten das Land in viele Parzellen, die aber nicht gepflügt waren, wie man es zu dieser Jahreszeit hätte erwarten sollen. Es gab nur hoch aufgeschossenes, überwiegend verwelktes Unkraut wie Disteln und dergleichen. Als wir weiterfuhren, sah ich, dass die Tore in den Hecken kaputt waren und Scheunen und andere Wirtschaftsgebäude verfielen und löchrige Dächer hatten. Nach einiger Zeit sah Liam mich erneut an und fragte: »Meinst du, hier lebt jemand?« »Das ist mir egal«, entgegnete ich. »Ich will da rein.« Als wir dem Haus schon recht nahe waren, gelang- 282 ten wir in einen großen Garten, doch auch er wirkte völlig verwildert. Wo einmal gepflegter Rasen gewesen sein mochte, wuchs struppiges Gras, und aus den Ritzen der Wege spross Unkraut. Kurz vor dem Haus kamen wir auf einen flachen, gepflasterten Platz, in den ein merkwürdiges, trotz Raureif mühelos erkennbares Muster

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gemeißelt war. Auf dem Platz standen große, an Schachfiguren erinnernde Steine, als hätte jemand ein abgedrehtes Spiel gespielt. In der Mitte lag ein flacher, sechseckiger Stein, der ziemlich verwittert wirkte — als befinde er sich dort schon seit Jahrtausenden. Sein Anblick ließ mich schaudern, und ich spürte, dass es auch Liam fröstelte. Endlich bekamen wir das Haus genau zu sehen. Es war stattliche drei Stockwerke hoch und sehr weitläufig, aus gelbem Sandstein gebaut und — soweit der Raureif das erkennen ließ - mit grauen Schindeln gedeckt. Das Dach war sehr unregelmäßig und hatte verschiedenste Giebel und Schornsteine. Obendrein gab es sogar einen kleinen sechseckigen Turm. Das Ganze mochte mal ein einladender Bau gewesen sein, wie man ihn auf Bonbondosen finden mag, doch inzwischen sah er nur noch traurig aus. Nirgends brannte Licht. Abgestorbene Kletterpflanzen bedeckten die Mauern und lugten aus den Regenrinnen. Unwillkürlich griff ich wieder an mein Halsband. Liam zügelte Neil, und wir hielten auf dem Kies vor dem Haus, wo die Räder auf den frostigen Steinen enorm laut knirschten. Es war zu kalt, um zu debattieren. Wir schlotterten beide, sprangen sofort ab, liefen die Treppe zum Eingang hoch und landeten vor zwei großen Flügeltüren aus grauem, verwittertem Holz, dessen Lack längst abgesplittert war. Liam brachte mich mit dem Satz »Die 283 könnten einen Anstrich gebrauchen!« zum Lachen. Dann klopfte er. Die Tür war nicht abgeschlossen und öffnete sich quietschend einen Spalt. Also riefen wir ein paar Mal, doch niemand kam. Wir drückten die Tür etwas weiter auf und gelangten in eine Art Eingangshalle, von der ein paar Türen abgingen, während eine große, geschnitzte Treppe in den ersten Stock führte. Wie gesagt, nirgendwo im Haus brannte Licht, doch beim oberen Treppenabsatz gab es ein großes Fenster, durch das genug Helligkeit in die Diele gelangte. Als Erstes fiel mir auf, wie staubig das Haus war - meine Mutter hätte sich hier wirklich austoben können! Ein paar große Möbel standen da und dort, und mitten auf dem Fußboden lag ein lang gestreckter Teppich, doch die blanken Dielenbretter und die leeren Wände dominierten eindeutig. Liam schob sich vorsichtig durch die Eingangshalle, und ich folgte ihm in kurzem Abstand. Dann rief er erneut, doch noch immer kam keine Antwort. Also drückte er die Klinke der nächsten Tür. Auch sie war nicht abgeschlossen, und wir sahen hinein. Es war ein mittelgroßes Zimmer, wirkte bei einem Haus dieser Größenordnung aber eher klein und schien eine Art Büro zu sein. Auf dem Schreibtisch türmten sich Unterlagen, und es gab einige Hängeregistraturen, doch alles war total verstaubt. Seit Ewigkeiten schien niemand mehr hier gewesen zu sein. Wir sahen danach noch in ein paar andere Zimmer, die nicht minder staubig waren. Dann entdeckten wir einen Speisesaal mit langen Tisch- und Bankreihen, dem ein weiterer Saal folgte, in dem ein paar verschossene alte Sessel, einige Bücherregale und ein Klavier standen. Ich trat an das Instrument und schlug ein paar Tasten an, doch es klang total verstimmt. 284 Dann sagte Liam: »Komm, Ashleigh, wir haben genug gesehen«, doch darauf ging ich nicht ein. Da wir schon im Haus waren, wollte ich auch alles sehen. Also flitzte ich die Treppe hoch, ehe er mich bremsen konnte, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als mir zu folgen. Im ersten Stock lagen vor allem Schlafzimmer für jeweils eine Person. Die meisten Betten waren nicht bezogen - außer Matratzen und Staub gab es nichts zu sehen. Dann entdeckten wir einen weiteren Saal, der noch nicht ganz so lange leerstehen mochte. Er hatte eine hohe Decke und einen Holzboden, der vor nicht allzu langer Zeit gefegt worden zu sein schien, und an den Wänden waren - wie in einer Turnhalle - Leitern angebracht. Inzwischen waren wir ziemlich neugierig, wozu das laus gedient haben mochte. Als wir daher eine schmale Treppe fanden, die ins oberste Stockwerk führte, zögerten wir nicht lange und stiegen hoch. Doch auf halbem Weg legte Liam mir die Hand auf den Arm, damit ich anhielt. Als ich mir dann die Treppenstufen genauer ansah, entdeckte ich Fußspuren im Staub. Nackte Fußabdrücke! Na, das war ein gefundenes Fressen für die Jungkommissarin! Ich schüttelte Liams Hand ab und folgte den puren die Treppe hinauf und weiter nach links. Wir raren nun auf dem Speicher. Die Decke war recht niedrig und fiel zu beiden Seiten ab, doch durch kleine Mansardenfenster fiel ein wenig Licht, so dass ich die Spur och immer erkennen und sogar feststellen konnte, dass s sich nicht nur um Fuß-, sondern auch um Handabdrücke handelte, als habe jemand Handstand gemacht oder Rad geschlagen. Mir war schleierhaft, was hier los gewesen war. 285 Inzwischen war ich so auf die Spur fixiert, dass ich ganz vergessen hatte, im Haus eines Fremden zu sein. Liam versuchte dauernd, mich zurückzuhalten, doch ich wollte nicht auf ihn hören, sondern partout herausfinden, was los war. Also folgte ich den Spuren immer weiter, bis sie schließlich in einer kleinen, in Stein gefassten Öffnung verschwanden. Ich musste mich etwas bücken, um durchzupassen. Auf der anderen Seite war es dunkel. Ich stieß mir das Schienbein und merkte, dass eine weitere schmale Treppe aufwärts führte. Inzwischen klopfte mein Herz wie verrückt, doch irgendetwas trieb mich weiter. Also tastete ich mich eine schmale Wendeltreppe hinauf und begriff, dass ich in dem kleinen Turm unterwegs war. Am oberen Treppenabsatz angekommen, konnte ich endlich wieder etwas sehen. Ich befand mich in einem kleinen sechseckigen Zimmer. Jede Wand hatte ein Fenster. Durch die Scheiben konnte ich kaum etwas erkennen, denn sie waren dreckig und voller Spinnweben, doch es fiel genug trübes Licht

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herein, um zu sehen, was mich umgab. Der Fußboden bestand aus nackten Brettern, und es gab keinerlei Möbel, nicht mal einen Stuhl. Auch eine Decke war nicht vorhanden - das Dach schien spitz zuzulaufen, und ich konnte nur ein paar Dachbalken und andere Stützen erkennen. Dort oben herrschte undurchdringliches Dunkel. Es war kaum etwas zu sehen, obwohl... Moment mal... Hing da nicht etwas von einem Dachbalken herunter...? In diesem Moment kam Liam hinter mir die Treppe hoch und fragte: »Was gibt's denn hier oben so Spannendes?« Ich rief: »Nichts. Ich glaube, hier ist nichts...« Dann schwang sich das Ding, das über mir gehangen 286 hatte, langsam abwärts und hing nun mit geschlossenen Augen und kopfstehendem Gesicht direkt vor meiner Nase. Irgendwie schaffte ich es, nicht zu schreien — jedenfalls, bis die Augen des Geschöpfs plötzlich aufsprangen und mich das schmale, verkehrt herum hängende Gesicht, das kaum dreißig Zentimeter von meinem Kopf entfernt war, musterte. In diesem Moment schrie ich doch. Für eine Jungkommissarin war das vermutlich ziemlich jämmerlich, aber hättet ihr an meiner Stelle etwas anderes getan? Die Universität der Feld- und Seitenwege »Ich hätte viel lieber einen Bannister gehabt«, meinte Laurel. »Der hat viel mehr Klasse. Aber die Universität hatte das Geld nicht - so ist es nur ein gebrauchter Harcourt geworden. Er hat einige Beulen und Kratzer, aber der Motor ist in Ordnung, und andere Reparaturen hatte ich auch noch nicht.« Wie alle frühen Kraftfahrzeuge der Firma Harcourt war auch Laurels Gefährt als Kutsche geplant, dann aber mit einem Benzinmotor ausgerüstet worden. »Die Karre ist ziemlich improvisiert«, sagte sie lächelnd, »eignet sich aber prima als Wohnmobil. Wenn du magst, kannst du dir später meine Bücher und die anderen Sachen ansehen.« »Gern«, erwiderte Rusty. »Aber jetzt lass uns die Landschaft genießen, solange es noch hell ist.« Zwar fürchtete Laurel die Königlichen Landstraßen nicht, teilte aber Rustys Faible für alte Feldwege, Nebenstraßen und Hirtenrouten, die das Land kreuz und quer 287 durchzogen. Auch unter den Texten in ihrem Wohnmobil befanden sich einige ausgesuchte Handschriften und Einzeldrucke zu diesem Thema. Aufgrund der gemeinsamen Begeisterung für Nebenstraßen hatte Laurel den Nachmittag dem unbeschwerten Gondeln über Land gewidmet. Anfangs waren sie auf kurvenreichen und von Hecken gesäumten Feldwegen getuckert, die sich in die sanft gehügelte Landschaft schmiegten. Nach einer starken Steigung, die sogar für den robusten Harcourt-Motor eine Herausforderung war, sahen sie sich dann auf einer Hirtenroute, die sich über einen Hügelrücken zog und fantastische Ausblicke auf die Landschaft ringsum gewährte. Wegen der stechenden Kälte hatten die beiden geradezu vermummt im Wagen gesessen, doch da sie nun nur noch im Schneckentempo fuhren, hatte Laurel die Windschutzscheibe heruntergeklappt, damit sie die Landschaft ungehindert auf sich wirken lassen konnten. »Schau mal!«, rief sie und zeigte in die Ferne. »Sieht aus wie eine Wolke, bewegt sich aber gegen den Wind. Ich glaube, da sind auch Leute zu sehen.« »Wer mag das sein?«, fragte Rusty. »Wolfsjungen?« »Solche Dummköpfe würde ich ignorieren«, gab Laurel zurück. »Nein, viel spannender: Ich glaube, wir haben die Möwentreiber entdeckt. Kannst du mal übernehmen?« Zu seinem Schrecken überließ sie ihm kurzerhand das Lenkrad und suchte unterm Sitz nach ihrem Fernglas. Schon schlingerte der Wagen beängstigend hin und her. »Hoppla, lass mich lieber wieder ans Steuer«, sagte Laurel lachend. »Schau mal, was du damit erkennen kannst.« Rusty nestelte einige Zeit an den kordierten Rädern und Ringen des schweren Fernglases, bis er die Szenerie 288 scharf gestellt hatte. »Du hast Recht«, sagte er dann. »Es sind wirklich die Möwentreiber. Anscheinend ziehen sie noch immer nordwärts. Mindestens zweihundert - und unzählige Möwen. Du hast ungemein scharfe Augen: Ich hätte sie nie entdeckt.« »Ach, mit der Zeit achtet man auf alles Mögliche«, meinte Laurel leichthin. »Ich hab die Handbremse gezogen — lass mich jetzt auch mal sehen.« Sie stellte das Fernglas für ihre Augen scharf. »Wie klar es ist! Würde der Wind in unsere Richtung wehen, könnten wir sie vielleicht sogar hören.« Als der Abend dämmerte, fuhren sie runter ins Tal und hielten an einem Bach am Waldrand. Laurel ging nach hinten, zündete den Eisenofen und die drei Petroleumlampen an und setzte sich an den winzigen Sekretär, in dem sie ihre wissenschaftlichen Aufzeichnungen aufbewahrte. »Zweihundert Möwentreiber?«, murmelte sie in sich hinein. »Ich bringe nur meine Notizen auf den neuesten Stand. Sie sind für mein Buch. Ist eigentlich schon Dezember?« »Ich glaube, ja«, sagte Rusty. »Oder ist morgen der Erste? Gehört das hier eigentlich alles der Universität?« 'r stöberte in den vollgepackten Regalen am Heck des Fahrzeugs herum, in denen Laurel ihre Bücher und Schriftrollen aufbewahrte. »Irgendwie ja. Aber an sich ist das eher meine Privatsammlung. Was hast du da?« Rusty tauchte mit einer schmalen Broschüre auf, die den Titel Feldweg statt Großstadt: alte Pfade in neue Welten trug.

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»Typisch, dass du gerade diese alte Scharteke ausgegraben hast«, sagte Laurel lächelnd. »Du und deine Stadtpläne. Hast du gewusst, dass das Heft von mir stammt?« 289 »Wirklich?« Beeindruckt warf Rusty einen zweiten Blick auf den Umschlag. »Ich wünschte, ich könnte mich auch mal zu so was aufraffen.« »Du hast viel geleistet«, erwiderte Laurel und schloss vorsichtig den Deckel ihres Sekretärs. »Du kannst stolz auf dich sein. Hier, damit bin ich gerade fertig geworden. Magst du etwas essen? Schau mal unter den Stuhl — da dürfte sich eine Flasche Wein finden. Dann kannst du dich hinsetzen und ein wenig lesen, während ich uns was koche.« Obwohl Laurel Geschichte und Kultur der Fahrenden begeistert erforschte, teilte sie das Faible ihrer Verwandtschaft für Dosenfutter ganz und gar nicht. Fasziniert sah Rusty, wie sie in eine winzige Kühltruhe zwischen Sekretär und Kleiderschrank griff und Kalbsfilets, Spargel, Süßkartoffeln, Paprika und Knoblauch zum Vorschein brachte. »Ich werde das in der Pfanne braten müssen«, entschuldigte sie sich. »Leider hab ich vergessen, Sahne zu kaufen.« »Das sieht fantastisch aus«, sagte Rusty und versuchte sich zu erinnern, wann ihm das letzte Mal etwas so Verlockendes angeboten worden war. »Die Universität kümmert sich wirklich gut um dich.« »Ach, geht schon«, erwiderte Laurel. »Schenkst du mir bitte ein Glas ein?« »Wie oft musst du dich eigentlich in deinem Institut blicken lassen?«, fragte Rusty einige Stunden später. »Deine Studenten können doch unmöglich alle auf dem Dorf leben?« »Zieh noch mal«, sagte Laurel und schien seinen Fragen ausweichen zu wollen. Sie hatten wunderbar geta- 290 felt und dann im Bach abgewaschen. Nun saßen sie bei Kerzenlicht auf Laurels schmalem Bett und gönnten sich ein, zwei Pfeifen mit der Kräutermischung, die die Fahrenden so gern rauchten. »Danke«, sagte Rusty, nahm einen tiefen Zug, hielt den würzigen Rauch lange in der Lunge, atmete ihn als dünne Fahne aus und sah zu, wie er durchs Kerzenlicht trieb. »Ich bin liebend gern unterwegs, weißt du, liebend gern. Es ist, als wäre der Rest der Welt dann nicht mehr vorhanden. Ich mach jedes Jahr so eine Tour. Mit Ashleigh, meiner Tochter. Sie ist schon fast siebzehn und hat einen Freund, einen Fahrenden.« Er versank kurz in gedankenverlorenem Schweigen und fragte dann: »Kennst du Gideon Blackwood?« »Natürlich - er ist eine Art Cousin von mir. Ich war doch beim Volljährigkeitsfest seines Sohnes und hab auch euch beide dort gesehen. Aber weißt du, was die Universität anlangt...« »Ja, die Universität.« Rusty kuschelte sich tiefer in die Kissen am Kopfende des Bettes und merkte, dass Laurel sich an ihn zu schmiegen begann. »Ich meine, wo befindet sie sich eigentlich? Geografisch gesehen?« »Überall und nirgends«, murmelte Laurel geheimnisvoll und beschäftigte sich dann mit den Knöpfen seines Hemds. »Schließlich ist es eine Universität der Fahrenden, und wir leben nicht in Häusern, sondern in Wagen. He, du bist ja seit unserer letzten Begegnung um einiges schlanker geworden.« »Dann gibt es gar kein Universitätsgebäude?« Rusty nahm einen letzten Zug aus der Pfeife und legte sie neben das Bett. »Feine Mischung. Was hast du da alles reingetan? Kann ich dir beim Ausziehen der Bluse helfen?« 291 »Gute Idee. Schön vorsichtig, prima. Nein, ein Gebäude gibt es nicht. Eigentlich gibt's allein mich. Mich und mein Wohnmobil. Das hier ist die Universität der Feld- und Seitenwege. Die Bibliothek kennst du bereits. Dort am Sekretär residiert der Rektor, und hier sind wir im Studentenheim. Das Bett ist leider etwas eng, aber wir kommen schon zurecht. Bisher hat's noch immer geklappt.« »Ja.« Rusty überlegte, seine Strümpfe auszuziehen, ließ es dann aber. »Wir waren mal im Hotel zusammen, stimmt's? Und davor haben wir eine Nacht im Bett meiner Mutter verbracht - am Tag ihrer Beerdigung. Es hat mich etwas geärgert, dass du damals ihre Kerzenhalter hast mitgehen lassen.« »Not kennt kein Gebot«, erklärte Laurel und zog die Decke über sich und Rusty. »Forschung und Lehre brauchen nun mal eine solide finanzielle Grundlage. Ach, wirf das einfach auf den Boden.« »Ich bin bei erster Gelegenheit durchgefallen«, sagte Rusty grüblerisch. »Einen Hochschulabschluss habe ich nie gemacht. Könnte ich bei dir ein Examen ablegen?« »Du gehörst genau zu den Studenten, die ich gewinnen will. Und ich biete dir einen tadellosen Abschluss, nicht so ein blödes Diplom.« Professor Greening kuschelte sich enger an ihn. »Ich kooperiere da mit einer Akademie.« »Mit welcher denn?« »Das ist jetzt nicht so wichtig.« Damit war das Gespräch beendet, bis Frau Professor nach einiger Zeit wieder das Wort ergriff. »He, nicht so ungeduldig, du Schlawiner!«, brummte sie. »Wir hätten besser erst einen Einstellungstest machen sollen.« 292 »Na, Anfänger bin ich längst nicht mehr. Ich schätze, ich zähle zu den Fortgeschrittenen.« »Mann, du gehst aber ganz schön ran! Na gut, ich denke, jetzt darfst du deine erste Prüfung ablegen.« »Du hast nichts von deinen intellektuellen Fähigkeiten verloren - das muss man dir lassen«, murmelte Laurel etwas später. »Ich hab dir einen Vorschlag zu machen: Wenn du wirklich bereit bist, dich an eine größere

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Herausforderung zu wagen, könnten wir über eine Dissertation reden.« Im Laufe der Jahre hatte Rusty sich an seine gelegentlichen Begegnungen mit Laurel gewöhnt und war daher nicht besonders überrascht, am nächsten Tag allein aufzuwachen. Dennoch war er etwas schockiert darüber, einfach so am Straßenrand zu liegen. Von Professor Greening und der Universität der Feld- und Seitenwege war nirgends etwas zu sehen. Als Rusty sich verblüfft umschaute, entdeckte er seinen Rucksack, der noch die meisten seiner Sachen enthielt. Daneben lag eine kleine, mit einem schmalen blauen Band anmutig verschnürte Schriftrolle aus Pergament, die sich als elegant geschriebene Urkunde erwies, der zufolge Michael Brown die Universität der Feld- und Seitenwege besucht und sein Examen im Fach Entdeckungsreisen und Abenteuer »mit Auszeichnung« abgelegt hatte. Sorgsam las er die Urkunde ein zweites Mal, nickte zufrieden, verstaute sie in seinem Rucksack und sah sich erneut um. Er befand sich auf einer Grasböschung. Die Straße vor ihm mochte ein breiter Feldweg, vielleicht aber auch eine kleine Landstraße sein. Temperatur und Sonnenstand ließen vermuten, dass es etwa zehn Uhr war. Er 293 fragte sich, wo er sein mochte und wie er nun an sein Reiseziel kommen sollte. Rusty hatte sich eben aufgerappelt und überlegte noch, welche Richtung er einschlagen sollte, als er zu seinem Entsetzen einen kräftigen Motor hörte. Ehe er auch nur daran denken konnte, sich ein Versteck zu suchen, kam ein mächtiger Holzlaster um die Kurve. Ein Mann und eine Frau in rustikalem Kittel und Strohhut saßen im Führerhaus, und die Ladefläche war voller nachlässig gestapelter Baumstämme. »Toller Morgen für die Jahreszeit.« Der weltgewandte Ton des Fahrers passte eher zur Großstadt als aufs Land. »Aber ist das nicht...?« Verblüfft erkannte Rusty in den beiden Holzfahrern Charles und Sally Bannister. »Rusty! Was machst du denn hier?« Charles schaltete den Motor aus, und Sally zog die Handbremse. »Das könnte ich euch wohl auch fragen!« »Stimmt«, räumte Charles ein. »Sollen wir dich mitnehmen? Du siehst etwas... na ja... sitzen gelassen aus, wenn ich das sagen darf. Wir haben allerdings noch einen Passagier - einen ziemlich wichtigen sogar. Deshalb musst du dich leider mit einem etwas unbequemen Sitz zufrieden geben. Wenn ich's recht bedenke, seid ihr zwei euch übrigens schon mal begegnet.« In einem Loch zwischen den Stämmen, das Rusty noch nicht bemerkt hatte, tauchte ein gut gebauter Mann mittleren Alters mit blondem, leicht ergrautem Haar und recht zerzaustem Bart auf. »Nenn mich ruhig Matt«, sagte der König. »Sarah und Charles schmuggeln mich auf die Inseln. Ist das nicht klasse?« 294 Ashleighs nächtliche Erkundung Kaum hatte das Geschöpf, das vom Dachbalken hing, die Augen aufgeschlagen, schien alles in Zeitlupe abzulaufen und ewig zu dauern, obwohl es sich innerhalb von Sekunden ereignet haben muss. Als ich zu schreien begann, wirbelte ich auch schon herum, um von der Kreatur wegzukommen, die direkt vor mir hing. Ich wollte die Treppe runter, doch Liam war mir im Weg, und ich rammte ihn in meiner Panik, so dass wir zu Boden gingen. Während wir uns aufrappelten, sah ich aus dem Augenwinkel, wie das eigenartige Wesen sich langsam vom Dachbalken hangelte, einen anderthalbfachen Salto machte und mit den Füßen voran auf den Dielen landete. Als wir wieder auf den Beinen waren, sahen wir uns einer recht durchschnittlich aussehenden Person gegenüber. Inzwischen war es im Turm dämmrig geworden, aber ich konnte doch erkennen, dass eine Frau vor uns stand -eine ziemlich junge Frau, wie ihre Körperhaltung nahe legte. Sie war dünn, hatte glattes blondes Haar, trug einen verschossenen grauen Trainingsanzug, hielt sich sehr aufrecht und hatte die Arme in Hüfthöhe ein wenig abgespreizt und uns die Handteller zugewandt. Sie sah etwas ungepflegt aus, denn ihre Haare waren zerzaust, ihre Fingernägel lang und scharf. Und sie sprach mit einer seltsamen Klangfärbung, die ich nicht recht einordnen konnte, die mir aber merkwürdig vertraut vorkam - vielleicht könnt ihr das irgendwie nachvollziehen. »Verzeihung«, sagte sie, »ich wollte euch nicht erschrecken.« »Schon in Ordnung, es ist unsere Schuld. Ist das Ihr 295 Haus?« Ich glaube, wir waren etwas durcheinander und deshalb ziemlich schlecht auf das vorbereitet, was nun kam. »Dies ist das Haus der Ruhe«, sagte die Frau, und es klang wie auswendig gelernt. »Hier sind alle willkommen. Ich heiße Alice und bin die Hüterin des Platzes.« Euch ist wahrscheinlich längst klar, wer sie war, doch mein Gehirn arbeitete nach dem jüngsten Schreck offenbar noch immer in Zeitlupe. Deshalb fiel der Groschen bei mir nicht gleich. Jedenfalls erklärten wir ihr, wer wir waren und wie wir in ihrem Turm gelandet waren. Daraufhin fragte sie uns, ob wir eine Tasse Tee trinken wollten, und wir riefen wie aus einem Munde: »Gern!«, weil wir inzwischen furchtbaren Durst hatten. Also ging sie uns voran die Wendeltreppe hinunter, durchquerte den Dachboden, kam ins Treppenhaus und geleitete uns eine Etage tiefer in das Stockwerk mit den Betten. Dort betraten wir einen Raum, der augenscheinlich ihr Schlafzimmer war, denn das Bett war bezogen und hatte eine Daunendecke. Sie gab Liam und mir ein paar Sitzkissen, zündete einige Lampen an und setzte auf einem kleinen Petroleumkocher Teewasser auf.

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Im Hellen sah ich, dass Alice nicht annähernd so jung war wie angenommen. Der Figur nach hatte ich sie kaum älter geschätzt als mich, doch nun merkte ich, dass sie etwa so alt wie meine Eltern war. Als junge Frau musste sie sehr schön gewesen sein, doch inzwischen hatte sie tiefe Falten und auch ein paar graue Strähnen bekommen. Allerdings hatte sie riesige, frappierend blaue Augen und sah uns ausgesprochen durchdringend, zugleich aber eigentümlich traurig an. Ich hielt sie für eine wirklich nette, vermutlich aber recht schwer zugängliche Person. 296 Kurz darauf reichte sie jedem von uns Tee. Schon die breiten, flachen Schalen ohne Henkel waren ungewöhnlich, und der Tee selbst hatte ein seltsames, mir unbekanntes Aroma und wurde ohne Milch und Zucker getrunken, doch als ich ihn probierte, war ich hin und weg, denn er hatte etwas, das mich geradezu in eine andere Welt versetzte. Kaum hatte ich daran genippt, fühlte ich mich besser, doch als ich Liam ansah, merkte ich, dass er sich ganz und gar nicht wohl fühlte und die ganze Zeit auf dem Hintern herumrutschte. Eine Zeit lang sprachen wir kaum, und das war mir sehr recht. Ich ließ den Tee einfach auf mich wirken und geriet in eine kontemplative Stimmung. Alice saß mit ihrem Tee auf dem Bett und lächelte in sich hinein. Mir fiel auf, dass sie die Beine eigenartig verknotete, für ihr Alter also ausgesprochen gelenkig war. Doch selbst da ging mir noch nicht auf, wer sie war. Liam schien weiterhin Hummeln im Hintern zu haben und blickte immer wieder zur Tür, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Nach einer Weile erzählte Alice uns etwas über das Haus der Ruhe. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was sie sagte, doch es war offenbar schon vor vielen Jahren errichtet worden, um Menschen, die die Orientierung verloren hatten, wieder zu sich selbst zu führen. Dann berichtete sie, in letzter Zeit sei viel schiefgegangen, und es seien einige schlimme Dinge geschehen, so dass niemand mehr komme. Ich konnte sie leider nicht dazu bringen, genauer zu werden. Sie lächelte nur wehmütig und sah weg, doch ich blieb geduldig, denn ich vertraute darauf, dass sie mehr sagen würde, wenn wir uns erst näher kannten. Danach war die Reihe an mir, und ich berichtete, dass 297 wir umherziehende Anstreicher seien und Arbeit suchen. Da neigte sie den Kopf zur Seite, lächelte und meinte, sie habe womöglich etwas für uns. Wir könnten das ja am nächsten Morgen besprechen. Da wir unseren Tee inzwischen getrunken hatten, nahm ich diese Bemerkung als Hinweis, dass wir gehen sollten. Ich gab Liam einen Stups, um ihn aus seinen Grübeleien zu reißen, und wir bedankten uns für den Tee. Dann machten wir uns wieder auf den Weg zu unserem Wagen. Kaum hatten wir das Haus verlassen, fragte er: »Warum hast du denn erzählt, dass wir Arbeit suchen?« »Tun wir das etwa nicht?« »Aber doch nicht hier]« Ich konnte ihn nicht dazu bringen, mir zu verraten, was er damit meinte, und er hatte den Rest des Abends furchtbar schlechte Laune. Er jammerte über die Kälte und meckerte am Essen herum, und als wir zu Bett gingen, drehte er sich einfach zur Wand und rührte mich nicht an. Das regte mich wirklich auf, und ich fand lange keinen Schlaf. All die Bilder von Alice, dem Haus und den staubigen Zimmern standen mir immer wieder vor Augen. Schließlich muss ich doch eingenickt sein, und als ich wieder aufwachte, war das Feuer im Ofen längst niedergebrannt, und der Mond stand am Himmel. Wenn Liam und ich gestritten hatten, wachten wir normalerweise nachts auf und nahmen uns in den Arm, und alles war wieder gut, doch diesmal wurde er nicht wach, sondern blieb die ganze Zeit mit dem Gesicht zur Wand liegen. Einen unheimlichen Moment lang glaubte ich, er sei tot, doch als ich mich über ihn beugte, atmete er ganz normal. Also wollte er wohl einfach nicht aufwachen. Ich hingegen wusste, dass ich stundenlang 298 keinen Schlaf finden würde. Also setzte ich mich auf, schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in meinen Arbeitsanzug, zog eine Jacke an, schloss die Tür auf und sprang auf den Kies. Kaum berührte ich den Boden, merkte ich, dass ich nackte Füße hatte. Es hatte schon wieder mächtig gefroren, und die Steine waren eisig, doch ich hielt mich nicht damit auf, zurück in den Wagen zu gehen und mir Schuhe anzuziehen, sondern hielt direkt aufs Haus zu, als würde mich etwas hineinziehen, ja als sei an meinem Halsband eine Kette befestigt. Doch was auch immer mich hier anzog, schreckte Liam ab, wie mir langsam klar wurde. So erkannte ich, dass wir sehr verschieden waren - vielleicht so sehr wie die Pole eines Magneten. Ohne recht zu wissen, was ich tat, ging ich die Stufen zum Haus hinauf, trat ein und schweifte erneut von Zimmer zu Zimmer. Durch die Fenster fiel genug Mondlicht, um mich zurechtzufinden, und ich spürte die dicke Staubschicht unter den Füßen. Es war sehr kalt, und ich hatte Gänsehaut an Armen und Beinen. Dann hörte ich irgendwo weit weg ein schwaches Kratzen. Ich hatte keine Ahnung, was das sein mochte, ging aber in die Richtung, in der ich den Ursprung des Geräuschs vermutete. Ich sah in einige Zimmer, in denen ich tagsüber gewesen war, und entdeckte ein paar neue Räume, von denen einer voller halb vollendeter Statuen stand, während ein anderer eine große Küche war, in der allerdings keine Vorräte lagerten. Nach einer Weile hatte ich den Eindruck, das Kratzen komme aus dem ersten Stock. Also schlich ich die Treppe hoch und einen Flur entlang und sah in ein paar Schlafzimmer. Ich fand niemanden, doch das Geräusch wurde immer lauter. 299 Im letzten Zimmer schließlich stieß ich auf Alice.

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Es war kein großer Raum, auch wenn er erheblich größer war als die Schlafzimmer. Es gab keine Möbel, auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht, und an den Wänden klebte eine scheußliche alte Tapete mit großem Blumenmuster. Der Mond warf sein kaltes blaues Licht durchs Fenster, und in diesem Licht sah ich, was Alice trieb. Sie stand in Pyjama und Morgenrock in einer Ecke, blickte zur Wand und kratzte mit ihren langen Nägeln die Tapete ab. Das hörte sich so grässlich an wie Kreide an der Tafel und ging mir durch Mark und Bein. Ich konnte nicht anders - ich schlug die Hände an die Ohren und brüllte: »Aufhören!«. Alice fuhr herum und starrte mich an. Das war das einzige Mal, dass ich sie erschrocken sah, doch sofort hatte sie sich gefasst. »Ich dachte, ihr könnt mit diesem Raum anfangen«, erklärte sie. »Ich wollte ein wenig vorarbeiten.« »Nicht nötig«, erwiderte ich. »Wir haben geeignetes Werkzeug und erledigen das morgen.« Daraufhin lachte sie nur und sagte: »Um diese Zeit sollten wir längst im Bett sein, stimmt's?« Ich hatte gedacht, Liam würde sich freuen, dass ich Arbeit an Land gezogen hatte, doch am nächsten Tag war er noch immer mürrisch und meinte nur: »Da du den Auftrag für uns angenommen hast, müssen wir ihn wohl ausführen.« Also nahmen wir unser Handwerkszeug aus dem Wagen und schleppten es ins Haus. Liam besaß zwei Dampfstrahler, um Tapeten von den Wänden zu lösen. Diese Apparate mussten wir die Treppe hochwuchten, sie mit Wasser befüllen und den in die Geräte integrierten Ofen einheizen. Als das Wasser kochte, war das 300 Zimmer bald voller Dampf. Es wurde richtig heiß, und die Tapete löste sich problemlos von den Wänden. Zwischen uns stand eine Leiter, und jeder hatte einen Spachtel in der Hand. Während Liam sich um die obere Hälfte der Wände kümmerte, machte ich mich an die untere Hälfte. Nach einer Weile lagen überall abgerissene und durchweichte Tapetenfetzen herum. Deshalb ließ Liam mich das feuchte Zeug zusammensuchen und wegbringen. Noch immer schienen wir uns nicht viel zu sagen zu haben, sondern bissen nur die Zähne zusammen und erledigten unsere Arbeit. Ich stolperte mit zwei Armen voll nassem Papier in den Flur und suchte nach einem Ort, wo ich es deponieren konnte, doch ich muss wohl falsch abgebogen sein, denn plötzlich stand ich in jenem Saal, der an eine Turnhalle erinnerte. Ich wollte schon umdrehen, merkte dann aber, dass noch jemand im Raum war — Alice natürlich. Diesmal allerdings trug sie ein enges schwarzes Trikot, aus dem nur ihre Hände und Füße sahen, und schien ihre Übungen zu turnen. Ich ließ meine Last fallen und schaute ihr offenen Mundes zu. Sagte ich gerade, sie habe ihre Übungen geturnt? Eigentlich wusste ich nicht recht, was sie da tat. Es sah ein wenig nach Übungen aus, doch auch ein wenig nach Tanz, und dazwischen gab es immer wieder Momente, in denen sie reglos verharrte und in atemberaubenden Stellungen balancierte - auf einem Bein zum Beispiel bei abgespreizten Armen. Dann bemerkte ich auf dem Fußboden ein seltsames Diagramm, das mich an die geometrischen Bilder bei Charles und Sally erinnerte: Geraden, gekrümmte Linien, Dreiecke, Kreise und andere Figuren waren ineinander verwoben und bildeten eine Art Mus- 301 ter. Und während ihrer Übungen bewegte sich Alice von einer Ecke dieses Musters zur anderen, als sei auch sie ein Teil davon. Ich hätte nie gedacht, dass jemand in ihrem Alter auch nur die Hälfte dessen zu turnen und zu tanzen vermochte, was sie leistete. Eben noch hatte sie einen Spagat gemacht, nun bog sie schon den Rücken durch und ging mit elegantem Schwung in den Handstand, um alsdann mit fliegendem Haar einen Salto zu machen oder aber minutenlang auf den Händen zu verharren, um schließlich Rad schlagend von einer Ecke des Musters in die andere zu gelangen oder auf den Zehenspitzen zu kreiseln, um dann womöglich erneut reglos auf einem Bein zu stehen, während das andere steil zur Decke wies. Ich weiß nicht, wie lange ich dagestanden und sie beobachtet habe und ob sie überhaupt mitbekam, dass ich da war, denn sie schien in einer anderen Welt zu sein und seltsame Anweisungen zu befolgen, die niemand sonst verstand. Doch beim Zusehen war mir beinahe, als würde auch ich mich in dieser anderen Welt befinden — an einem seltsamen Ort, wo ich nie zuvor gewesen war. Ich fühlte mich allmählich außer Atem, zugleich aber ganz ruhig. Als ich das später Liam zu erklären versuchte, konnte ich ihm mein Erlebnis absolut nicht nahe bringen. Nach einer Weile erreichte Alice das Ende ihrer rätselhaften Bewegungsfolge und kam im Mittelpunkt des Diagramms mit geschlossenen Augen und senkrecht über dem Kopf gestreckten Armen zur Ruhe. Ich wollte schon meine Tapetenfetzen schnappen und mich davonstehlen, da öffnete sie langsam die Augen, sah mich an und sagte mit ihrer leisen Stimme: »Keine Sorge — ich hab nichts dagegen, dass du mir zusiehst.« 302 Da endlich wurde mir klar, wer sie war, und ich begriff, dass ihre Übungen denen ähnelten, die mein Vater früher mitunter gemacht hatte. Natürlich hatte er nie so komplizierte Figuren geturnt oder getanzt, doch gewisse Bewegungen waren gleich gewesen. Hatte er all diese Übungen nicht vor vielen Jahren von einem Mädchen namens Alice beigebracht bekommen? Und hatte er nicht eine Alice geliebt und aus den Augen verloren, ehe er meine Mutter kennen lernte? Und hatte er sich seither nicht stets an diese Alice erinnert und sie keinen Tag vergessen können? Ich glaube, meine Miene hat mich verraten. Jedenfalls strahlte sie mich an und fragte: »Hast du mich endlich

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erkannt? Ich hab sofort gewusst, wer du bist - Rusty Browns Tochter, stimmt's?« Da begann ich plötzlich, Rotz und Wasser zu heulen, und Alice musste mir eine Übung beibringen, damit ich mich beruhigte. Später, als ich nach draußen ging, um den Abfall zu entsorgen, fiel mir auf, dass der Raureif ringsum endlich zu schwinden begann. Die Geschichte des Zeitalters der Könige Es ist interessant, wie rasch nach Abmarsch von Hochmeister Fang und seiner Leibwache Recht und Ordnung in der Hauptstadt zusammenbrachen. Da es Fangs Stellvertreter Gash gerade an jenen Qualitäten mangelte, die sein Chef in so reichem Maße besaß, verlor er schnell jegliche Kontrolle über die Lage, und dem Zug des Usurpators zu den Inseln folgte der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung beinahe auf dem Fuße. 303 Wie stets kollabierte das hauptstädtische Verkehrssystem zuerst. Der lose Verbund aus Droschkenkutschern, Busfahrern und Spediteuren, der Mobilität gewährleisten sollte, war stets recht unzuverlässig gewesen. Der Wegfall strikter behördlicher Überwachung führte - verschärft durch Kraftstoffmangel und die unter Pferden und Ponys grassierende Seuche - rasch zum Ende des fahrplanmäßigen Personen- und Güterverkehrs. Dann erwies sich, dass auch die Kräfte von Gesetz und Ordnung überfordert waren. Die Königliche Wolfsjungen-Miliz und die Königlichen Katzenmädchen, die unter dem direkten Kommando von Meister Gash hätten stehen sollen, waren schon lange eine Zufluchtsstätte für Leute von zweifelhafter Integrität. Diese Leute nutzten nun ihre Position, um aus dem zunehmenden Chaos Kapital zu schlagen. Daher sah sich der nichts ahnende Passant bald wieder bedroht - und zwar nicht nur von Straßenräubern, Vergewaltigern und Mördern, sondern auch von denen, die dafür bezahlt wurden, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten. Bald herrschte auch in guten Gegenden wie der Westvorstadt nur noch ein Angst erregendes Tohuwabohu. Auf dem Lande hingegen änderten sich die Dinge nicht so rasch. Zwar waren die Königlichen Landstraßen nicht mehr sicher, doch in den meisten etwas abgelegenen Dörfern ging das Leben im Großen und Ganzen weiter wie zuvor. Vielleicht kam der Harcourt-Laster, mit dem die Bannisters und der König zu den Inseln unterwegs waren, deshalb erheblich schneller voran als der Usurpator und seine Wolfsjungen. Fang nämlich hatte die Fehlentscheidung getroffen, auf den Königlichen Landstraßen zu reisen, weil er glaubte, sie böten noch immer die sicherste Verbindung. Die Bannisters hingegen, 304 die auf Unterstützung vor Ort zurückgreifen konnten, gelangten recht reibungslos und unauffällig auf Feld- und Seitenwegen in den Nordosten des Königreichs. Bei Winteranfang standen die Verschwörer schließlich n jenem öden Küstenstreifen, der ihnen über bewegte See hinweg einen Blick auf die Insel der Vergangenheit bot. Wir wissen nur lückenhaft, wie die Insulaner vor der Großen Zerstörung lebten. Natürlich kennen wir die geo-grafische Lage der sechs um eine steinige Landzunge gruppierten Hauptinseln. Wir wissen auch, wie berüchtigt die mächtigen Meeresströmungen und tückischen Gezeiten, die Stürme und unberechenbaren Strudel rund um die Inseln sind. Und es ist uns bekannt, dass die Insulaner wegen der gefährlichen Gewässer kaum Schiffe benutzten. Wie sie von einer Insel zur anderen gelangten, wissen wir bis heute nicht. Auch ihre religiösen Feste und spirituellen Gebote, die den Kern ihres einsamen und rauen Lebens bildeten, sind uns nicht im Detail bekannt. Wir wissen allerdings, dass eine Fähre zwischen den Inseln verkehrte. Sie war seit Jahrhunderten im Besitz ein und derselben Familie, die ihre Kenntnisse der tückischen Gewässer eifersüchtig hütete und sie gewissenhaft von einer Generation an die nächste weitergab. Da ie Insulaner die Fähre nur im äußersten Notfall benutzten, verdienten die Fährleute ihren Lebensunterhalt vor allem dadurch, Besucher und Urlauber zu befördern, die damals in immer größerer Zahl an diesen Teil der Küste kamen. Auch Charles und Sally Bannister hatten die Fähre bei ihren jährlichen Besuchen auf den Inseln benutzt, 305 und sie war es auch, die die kleine Reisegruppe mit ihrem vornehmen Gast nun in den entlegenen Südwesten der Inselgruppe beförderte, auf die triste Erdinsel nämlich. Die Bannisters hatten längst begriffen, wie sinnlos es wäre, Matthew von der Hauptstadt aus wieder an die Macht bringen zu wollen. Nach langem Nachdenken hatten sie deshalb beschlossen, ihr Hauptquartier auf den Inseln einzurichten und die Bevölkerung von dort aus zu Solidaritätsbekundungen mit dem entmachteten König zu mobilisieren. Fern vom Süden des Königreichs und den Turbulenzen der Hauptstadt gelegen, verfügten die Inseln über eine stabile Selbstverwaltung. Darüber hinaus gab es dort große Vorkommen jenes kostbaren Materials, das ganze Generationen von Kraftfahrzeugen der Firma Bannister mit Brennstoff versorgen sollte. Nachdem sie den König in sein neues Versteck gebracht hatten, mussten Charles und Sally Bannister sich Gehör beim Rat der Weisen, der auf der Insel der Vernunft neben dem dortigen Heiligtum residierte, zu verschaffen suchen und ihn von der Klugheit ihres Plans überzeugen. Ihnen war klar, dass dies nicht einfach werden würde, da die Weisen sich rühmten, die Angelegenheiten des Königreichs seit eh und je unparteiisch zu beobachten. Während es daher zwar unwahrscheinlich schien, dass sie sich mit dem Usurpator verbünden würden, waren ihre politischen Tendenzen doch hartnäckig unberechenbar, und den Bannisters war klar, dass sie sich nun einer entscheidenden, extrem anspruchsvollen Aufgabe gegenübersahen. Kaum dass Matthew auf der Erdinsel untergebracht war, wo er die nächsten Monate als Torfstecher verbringen und mit den Insulanern in deren Baracken leben sollte,

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306 brachen Charles und Sally Bannister daher mit der Fähre zur Insel der Vernunft auf, um das Gespräch mit dem Rat der Weisen zu suchen. (aus Band 4: Die Regierung von Fang dem Usurpator) 307 SIEBTES KAPITEL Der Erdstein Ich weiß jetzt, Leonardo, dass uns an der wildesten Küste des Königreichs, am äußersten Rand des Netzwerks etwas erwartet - in einer Gegend also, die sich fast dem Begreifen entzieht. Womöglich liegt es nur knapp außerhalb unserer Reichweite. Während wir uns also Seite an Seite auf die Begegnung mit diesem Etwas vorbereiten, beginne ich langsam zu verstehen, wobei du mir eigentlich geholfen hast: Was wir gemeinsam vollbracht haben, ist sehr viel mehr als das, was jeder für sich allein je hätte erreichen können. Und während unsere unterschiedlichen Charaktere, Begabungen und Fähigkeiten verschmelzen, begreife ich, dass wir demnächst alles beisammenhaben, was wir brauchen, um dem Widersacher entgegenzutreten und ihn in einem großen letzten Gefecht zur Verantwortung zu ziehen. Denn nun spüre ich, dass unsere Stärken sich vereinen, höre verschiedenste Klänge harmonisch zusammentreten, sehe Farben sich zu einem anmutigen Gesamtbild arrangieren, fühle alle Wasserläufe zu einem mächtigen Strom zusammenfließen. 309 Denn auf ruhelosen Meeren, Einsamen Inseln Und zerklüfteten Felsen Wartet etwas. Es wartet, Bis die Fluten weichen, Die Stürme abflauen Und die Wellen zur Ruhe kommen. Es wartet und zieht uns an - den Soldaten, den Kartografen, den Magier und selbst das ungestüme Mädchen, das vielleicht noch gar nichts davon weiß. Doch was ist mit dem lahmen Jungen? Auch ihn ziehen die Winde, Gezeiten und Strömungen an, das mächtige Ineinander der Stimmen, die eigentümlich aggressive Musik. Sehr bald nun wird er seine Stimme finden. Denn durch den Rhythmus der Trommeln, Blechbläser und Becken hindurch, zwischen melodischen Akzenten und vor dem wärmenden Hintergrund von Akkorden und Klangfarben erkenne ich langsam einen Pfad. Stockend weist er mal hierhin, mal dorthin, Trifft ständig auf neue Hindernisse Und wirkt unsicher, ratlos, zerstreut - Geblendet vom wilden Weben der Welt. Doch bald wird er sich durchs Dickicht schlängeln, wird sich ducken und ausweichen und unter Hindernis- 310 sen durchführen und eine Schneise durch alles schlagen, was ihm im Weg steht. Wenn der Junge nur endlich seine Stimme findet. Und das wird bald sein. Sehr bald. Ashleigh erfahrt Alices großes Geheimnis Alles in allem verbrachten wir ein paar Monate im Haus der Ruhe, und das war nicht immer einfach. Mir war gleich klar, dass sich Liam dort nie wohl fühlen würde -vermutlich wegen des alten Misstrauens der Fahrenden den Insulanern gegenüber. Immerhin schien er sich langsam einzugewöhnen - wahrscheinlich, weil er mit Beginn der Arbeit aufhörte, sich ständig Gedanken darüber zu machen, wo er eigentlich war und für wen er da schuftete. Alice war mit unserer Arbeit im ersten Zimmer sehr zufrieden und fragte uns deshalb, ob wir nicht bleiben und alle Wände im Haus renovieren wollten. Wider Willen freute Liam sich über dieses Angebot, denn da wir nun einige Zeit nicht reisten und stattdessen arbeiteten, verdienten wir erheblich mehr. Zudem war es inzwischen Winter geworden - da war es gut, nicht auf der Landstraße zu sein. Und Neil konnte sich mal richtig erholen. Das Beste jedoch war, dass Alice sich für die knalligen Farben begeisterte, die sonst niemand mochte, und uns alle Räume damit anstreichen hieß. Am Ende haben wir jedes Zimmer anders gestrichen - hier malten wir die Wände weiß, Türen und Fenster da- 311 gegen in leuchtenden Farben, dort umgekehrt; mal strichen wir die Decke in einer abgedrehten Farbe, mal den Fußboden. Dann hatte ich die Idee, etwas zu versuchen, das den Bildern ähnelte, die bei Charles und Sally in der Wohnung hingen - oder dem, womit ich Liams Wagen nach seinem Volljährigkeitsfest dekoriert hatte. Also versahen wir einen Raum nur mit verschiedenfarbigen Punkten, andere Zimmer mit geometrischen Zeichnungen, mit Dreiecken und Trapezen und so. Am coolsten fand ich allerdings das Zimmer, in dem wir uns einfach ein paar Farbdosen nahmen, den Inhalt an die Wand knallten und auf diese Weise irre große Kleckse, Flecken und Spritzer produzierten. Alice war völlig begeistert davon - jedenfalls sagte sie das, und es hörte sich wirklich an, als meine sie es ernst. Nach einer Weile stellte ich fest, dass Liam und ich wieder besser miteinander klarkamen - nicht nur während der Arbeit, sondern auch im Wohnwagen und im Bett. Na ja, richtig super war es nicht, aber doch erheblich

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besser, als es zwischendurch gewesen war. Zwar hatte Alice uns mehrfach angeboten, bei ihr zu übernachten, doch Liam schlief einfach nicht gern in festen Behausungen, denn er fand, das raube ihm den Schneid - was immer das heißen mochte. Also übernachteten wir weiterhin im Wohnwagen. Alice hielt das zwar für ein wenig seltsam, gewöhnte sich aber schließlich daran. So ging es den ganzen Winter. Wenn ich noch zu Hause gewohnt hätte, hätten wir vermutlich zur Wintersonnenwende wie üblich ein paar Feiertage eingelegt, obwohl das Sonnenwendfest in den Jahren, in denen ich es nur noch mit meinem Vater, nicht mehr mit der ganzen Familie gefeiert hatte, ganz anders gewesen war als zuvor. Doch ich wusste, dass die Fahrenden dieses Fest 312 nicht feiern - genauso wenig offenbar wie die Insulaner. Also arbeiteten wir ganz normal weiter. Um ehrlich zu sein, hab ich das Fest nicht sonderlich vermisst. Im Haus war es auch so ausgesprochen friedlich, Liam und ich renovierten gleichmäßig und ohne Hast einen Raum nach dem anderen, und Alice war meist verschwunden, um ihre Übungen zu turnen oder sonst etwas zu erledigen. So genoss ich eine Zeit lang einfach, was ich tat, und machte mir kaum Gedanken darüber, was als Nächstes kommen mochte. Das war auch gut so, denn nach einer Weile geschah etwas recht Seltsames. Obwohl ich längst keine Ahnung mehr hatte, welcher Wochentag war und ob es inzwischen Januar oder schon Februar sein mochte, war es doch eindeutig Winter, weil die Landschaft ringsum und die Berge in der Ferne verschneit und die Bäche vereist waren, doch innerhalb von Wall und Dornenhecke schien es bereits Frühling zu werden. Im Park und in den Gärten war kein Frost mehr, da und dort schlugen Bäume aus und trieben Pflanzen aus der Erde, im Schutz der Hecken blühten sogar ein paar Blumen, und mitunter spazierten wir ohne Mantel und Jacke. Ich begriff nicht recht, was vorging, hatte aber den Eindruck, das Haus der Ruhe müsse ein Ort gewesen sein, an dem es sich prima hatte leben lassen. Und ich fand es schade, dass niemand mehr dorthin kam. Nach einer Weile merkte ich, dass Alice ihre Übungen inzwischen im Freien absolvierte. Ein Stück vom Haus entfernt gab es einen gepflasterten Platz, den ich schon erwähnt habe und der mir bei unserer Ankunft aufgefallen war, ohne dass ich seither weiter an ihn gedacht hätte. Nun aber, da Eis und Schnee geschmolzen waren, merkte ich, dass die Pflasterung das gleiche Muster auf- 313 wies wie der Boden der Turnhalle. Und ich dachte an die großen Steine, die dort standen und den Platz wie ein riesiges Spielfeld wirken ließen. Eines Tages, als ich mal wieder losgezogen war, um Tapetenreste zu entsorgen, traf ich Alice draußen auf dem Platz. Sie stand einfach nur auf dem flachen sechseckigen Stein im Zentrum des Musters, hielt sich ganz aufrecht, atmete sehr langsam und hatte die Augen fest geschlossen. Irgendwie aber muss sie gemerkt haben, dass ich aufgetaucht war, denn nach einer Weile öffnete sie die Augen und rief mich zu sich. Also ging ich zum Mittelpunkt der Anlage, und wir setzten uns einander gegenüber auf den großen flachen Stein. Sie sah mich ein Weilchen an und sagte dann: »Das ist das Spielfeld, Ashleigh. Hierher sind die Verirrten gekommen, um ihren Weg zu finden. Zwischen diesen Steinen haben sie gelernt, ihre Umwelt wieder perspektivisch wahrzunehmen. Jeder Stein hat einen eigenen Namen und Charakter. Der, auf dem wir sitzen, ist beispielsweise der Erdstein.« Ich fand ihn sehr angenehm, geradezu bequem. Er strahlte etwas Solides und Verlässliches aus — wie Liam an guten Tagen. Langsam wurde mir bewusst, wie wohl ich mich fühlte, hier mit Alice zu sitzen, in ihre großen blauen Augen zu sehen und dem seltsamen Singsang ihrer Stimme zu lauschen. Ihre Augen wirkten wie die eines alten Menschen und lagen inmitten kleiner Falten, doch ich hatte gemerkt, wie freundlich sie waren. Und ich hatte des Gefühl, Alice trauen zu können. Schließlich fragte sie mich: »Weißt du, warum du gekommen bist, Ashleigh?« »Na ja, wir waren auf Arbeitssuche.« Sie nickte kurz. »Ist das alles?« 314 »Ich will wissen, warum mein Vater so traurig ist.« Wieder nickte sie kurz und fragte aufs Neue: »Ist das alles?« Da brach es einfach aus mir heraus - warum, weiß ich bis heute nicht. »Ich will wissen, warum Tom Slater starb.« »Tom Slater...«, sagte Alice. Dann musterte sie mich lange. Mir fiel auf, dass sie die Beine wieder eigentümlich verknotete, und ich stellte fest, dass ich es ihr irgendwie nachtat, musste aber rasch aufgeben, weil ich nicht gelenkig genug war. »Ich kannte Tom Slater«, sagte Alice nach langem Schweigen. »Er hat hier Station gemacht.« Was sollte ich dazu sagen? Ich glaube, mir ist einfach nur die Kinnlade runter gefallen. »Er hatte im Gefängnis gesessen«, fuhr Alice fort. »Meine Großmutter hat ihn dann aufgelesen und hergebracht.« Während sie sprach, kreuzte sie die Arme hinterm Rücken und verrenkte sich so, dass sie ihre Zehen zu erreichen vermochte. »Als er sich hier eingelebt hatte, erzählte er uns seine Geschichte und berichtete von den Menschen, die er näher gekannt hat. Einer davon war dein Vater.« »Sie haben zusammen studiert«, murmelte ich. Alice zog vorsichtig an den Zehen, um die Beine noch enger zu verknoten, und fuhr dann fort: »Er hat behauptet,

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dein Vater habe ihm etwas Furchtbares angetan, doch ich weiß nicht, was er damit gemeint hat. Tom Slater scheint über diese Sache nicht hinweggekommen zu sein und muss irgendwann geglaubt haben, erst Ruhe finden zu können, wenn er sich gerächt hat. Je weiter er mit seiner Geschichte kam, desto aufgewühlter wurde er, und schließlich ist er durchgedreht. Er hat zwei Menschen getötet - einen Mann und eine Frau — und ist dann 315 geflohen.« Alice ließ ihre Zehen langsam los. »Danach sind allmählich keine Leute mehr gekommen. Also bin ich losgezogen und hab ihn gesucht.« Ich brauchte ein Weilchen, um das zu verarbeiten. Dabei spürte ich den Erdstein. Schließlich war ich bereit für meine große Frage. »Haben Sie herausgefunden, warum Tom sich umgebracht hat?« »Da gab es nichts herauszufinden«, sagte Alice. »Tom Slater hat sich nicht umgebracht. Ich habe ihn getötet.« Da fiel mir ein, dass Mrs Pegasus damals in den Turmresidenzen jemanden die Treppe hatte hinunterlaufen sehen - einen blonden jungen Mann in grauer Hose, wie sie geglaubt hatte. Nun stellte ich mir Alice im grauen Trikot vor, das Haar womöglich zum Pferdeschwanz gebunden, so dass sie von vorn ausgesehen haben mochte wie ein Mann. Sie also war damals vom Ort des Verbrechens geflohen! Ich nahm an, sie hatte den lebensmüden Tom mit der Kette um den Hals vor dem Fahrstuhlschacht stehen sehen und ihn geschubst, also nur ein wenig nachgeholfen. Dann sprang ich auf und rannte ebenfalls davon. Alice rief mir nach, doch ich hielt nicht an, und sie hat nicht versucht, mir zu folgen. Mir ging einfach nicht in den Kopf, was ich da gehört hatte. Ich wusste nur, dass ich zu Liam wollte. Also rannte ich ins Haus und die Treppe hinauf in das Zimmer, das wir gerade renovierten. Dort konnte ich zunächst kaum etwas erkennen, weil er mit dem Dampfstrahler arbeitete, doch dann sah ich ihn auf der Leiter stehen und große Tapetenfetzen von der Wand kratzen und auf den Boden werfen, der schon ganz übersät davon war. 316 Als Liam mich bemerkte, fragte er nur: »Wo hast du den ganzen Morgen gesteckt? Diese Arbeit ist für zwei Leute gedacht.« »Ach, Liam«, rief ich und fühlte mich erbärmlich. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Steig bitte von der Leiter und nimm mich in den Arm.« Da er sah, in welchem Zustand ich war, kam er sofort und schloss mich in die Arme. Ich muss beinahe hysterisch gewesen sein, denn ich gab ihm sofort einen wilden Zungenkuss. Danach nahmen die Dinge einen etwas bedauerlichen Verlauf. Das Zimmer war klein und der Dampf sehr dicht. Also war uns in unseren Klamotten rasch ziemlich heiß und feucht, und wir fühlten uns darin recht unwohl. Da glitt mir erst der eine, dann der andere Latzhosenträger von der Schulter. Gleichzeitig spürte ich, dass Liam ganz schön in Fahrt war, und fand es nur fair, ihm mit den Hosenträgern zu helfen. Wegen der Hitze hatten wir natürlich beide nicht allzu viel drunter, und ehe wir wussten, wie uns geschah, wälzten wir uns schon mit bis zu den Kniekehlen runter geschobenen Latzhosen auf dem Boden, und nasse Tapetenfetzen blieben haufenweise an uns kleben. Uns war beiden nicht danach, die Dinge langsam angehen zu lassen, und wir kamen sehr schnell zur Sache. Kurz darauf lagen wir keuchend und japsend da und fragten uns, wie wir den Tapetenkleister von der Haut bekommen sollten. Plötzlich aber ging die Tür auf, und Alice streckte den Kopf ins Zimmer. Es war eine jener Situationen, die wirklich lustig sind, wenn andere sie erleben. Uns dreien allerdings war die Sache gleichermaßen peinlich. Liam und ich griffen nach allem, was in Reichweite war, doch das waren leider nur Tapetenreste; Alice dagegen stand völlig entsetzt da. Ich 317 hatte das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben, denn all das schien ewig zu dauern, doch es kann sich nur um Sekunden gehandelt haben. Dann sagte Alice: »Ich wollte gerade Tee machen«, und stürzte davon. Kaum war sie weg, begannen Liam und ich uns vor Lachen zu kringeln. Hinterher fühlte ich mich richtig schlecht. Nicht allein, weil wir von Alice erwischt worden waren und darüber nur gelacht hatten, sondern weil wir das, was wir getan hatten, in Alices Haus getan hatten. Mein Vater hätte bestimmt gesagt, wir hätten ihre Gastfreundschaft missbraucht. Jedenfalls gingen wir einander allesamt den Rest des Tages aus dem Weg. Am Abend erzählte ich Liam dann im Wohnwagen, was Alice mir über den Tod von Tom Slater gesagt hatte, und er fragte, ob ich weiterziehen wolle. Darüber musste ich erst nachdenken, konnte lange keinen Schlaf finden und tat schließlich etwas absolut Seltsames. Ich wusste, dass ich erst würde einschlafen können, wenn ich wieder einen klaren Kopf hatte. Also schlich ich mitten in der Nacht aus dem Wohnwagen, ging zu dem gepflasterten Platz und setzte mich so auf den Erdstein, wie ich es Alice hatte tun sehen, ohne freilich meine Beine verknoten zu können wie sie. Als ich eine Weile dort gesessen hatte, stellte ich fest, dass ich ruhiger wurde. Dann begann ich, alles zu überdenken, was ich über Tom und meinen Vater erfahren hatte, über das Haus der Ruhe, über den Platz, auf dem ich saß, und über Alice und ihre Übungen. Dann dachte ich über Liam und mich nach, über Straßen und Inseln und darüber, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Nach einer Weile wusste ich, dass ich noch ein wenig im Haus der Ruhe bleiben würde, kehrte zum Wagen zu- 318

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rück, ging ins Bett und schlief sofort ein. Ich schätze, das Haus hatte auf merkwürdige Weise begonnen, mich zu beeinflussen. Joey findet seine Stimme Nach dem Verschwinden der Kinder machte sich im Dorf tiefe Niedergeschlagenheit breit. Lästige und undankbare Aufgaben wie das Hacken des kargen Bodens, das Melken magerer Kühe und das Scheren verfilzter Wolle schienen sinnloser denn je, und selbst notorische Optimisten beschlich ein Gefühl trostloser Vergeblichkeit. Der alte Schulmeister konnte sich kaum mehr aufraffen, sich ans Klavier zu setzen. Der schweigsame Pfarrer flüchtete sich in seine Sakristei und rührte sich kaum. Selbst Oma Hopkins ließ ihre verrostete Hacke stehen, zog sich ins Bett zurück und klagte, dass es ihr dieses Jahr nicht gelungen sei, auch nur ein einziges Radieschen zu ziehen. Nur im »Pflug« herrschte noch einigermaßen normaler Betrieb. Schnaps und Bier boten den Dörflern weiter ein so trügerisches wie verführerisches Gefühl von Sicherheit, und auch wenn der Strom fröhlichen Geplauders zu einem kargen Rinnsal verkümmert war, floss weiter Geld in Ruths mächtige Registrierkasse aus Messing. So genossen die Inhaber des Wirtshauses weiterhin - wenn auch in diskreter Weise - ihren üblichen Lebensstandard. Ruth stand jeden Tag im Morgengrauen auf, um die Aschenbecher vom Vorabend zu leeren, die Gläser zu spülen und die Ratten aus dem Keller zu jagen. Unterdessen stapfte Leonardo - die verschossene Robe 319 eng um den Leib geschlungen - wie üblich zur Signalwache hoch und schlitterte mit schweren Stiefeln über vereiste Pfützen, während die alten Gelenke heftig knackten. In stillschweigendem Einvernehmen war das traditionelle Fest zur Wintersonnenwende dieses Jahr ausgefallen. Das einzige Kind, das noch im Dorf lebte, war der unglückliche Joey Hopkins, und der war nie besonders kontaktfreudig oder gesellig gewesen. Mit dem Verschwinden seiner Spielkameraden schien er sich noch tiefer in seine düstere Welt zurückgezogen zu haben, und seine Familie war erstaunlicherweise sensibel genug, sich dieser Tendenz nicht entgegenzustellen. Obwohl man ihn noch dann und wann in ziellosen Kreisen mit dem Roller um den Dorfanger sausen sehen konnte, verbrachte er inzwischen die meiste Zeit bei Leonardo in der Signalwache und tauchte immer seltener im Dorf auf. Warum auch immer: Colin und Sammy Hopkins hielten große Stücke auf den Magier und glaubten den Jungen, der zunehmend länger fortblieb, bei ihm in sicheren Händen. Seit einiger Zeit schon hatte Leonardo bemerkt, dass Joey sich angewöhnt hatte, hin und wieder eine Nacht in der Signalwache zu verbringen. Zunächst hatte er über den Eigensinn des Jungen hinweggesehen, doch als er merkte, dass Joey sich an der Signalmaschine zu schaffen gemacht hatte, hielt er es für nötig, ein ernstes Wort mit ihm zu reden, was die Gefahren des unbeaufsichtigten Herumspielens an technischen Geräten anging. Joey war darüber sehr empört und machte - durchaus berechtigt — geltend, das Bedienen der Maschine durch genaues Beobachten seines Meisters erlernt zu haben. Auch achte er stets darauf, alles so zu hinterlassen, wie er es 320 vorgefunden habe. Außerdem - so fügte er hinzu - leiste er Meister P beim Durchführen der Experimente so unschätzbare wie unbezahlte Hilfe und wüsste gern, wie er ohne ihn klarkommen wolle. Nachdem Leonardo über diese Aussicht nachgedacht hatte (wobei er auf manchen klugen Rat zurückgreifen konnte, den ihm der unsichtbare Blaise soufflierte), gab er dem Jungen schließlich Recht. Daher durfte Joey die Komplexe Empathiemaschine seither in der Nacht uneingeschränkt nutzen und durch das gesamte Netzwerk streifen — natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er sich an keinem der von Leonardo vorgegebenen Parameter zu schaffen machte und jede Begegnung mit dem bösartigen Wesen namens Lee aufs Sorgfältigste vermied. Wenn Leonardo morgens in die Signalwache kam, traf er den Jungen deshalb immer öfter an. Bisweilen schlief er unter einer schmuddeligen Decke neben dem Generator; manchmal war er schnarchend über der Schalttafel der Signalmaschine zusammengesunken; mitunter war er sogar schon wach, hatte in Erwartung des Magiers den Generator angeworfen und trocknete Kaffeebecher ab. Mitten im freudlosen Winter gab es für Leonardo eines Morgens eine weitere Überraschung. »Gibt's schon Kaffee, Joey?«, rief der Magier und stampfte dabei den Schnee von den Stiefeln. »Joey?« Leonardo sah sich in der Signalwache um und stellte verärgert fest, dass die Kaffeemaschine nicht lief und die Lampen nicht eingeschaltet waren. Auch der massige Musikapparat stand unheimlich still an der Längswand. Nur der Generator summte schwach, und die einzige Bewegung kam vom sechseckigen Kontrollpult in der Mitte 321 des Raums. Dort saß, wie Leonardo nun erkannte, Joey Hopkins. Als sich seine Augen ans Halbdunkel gewöhnt hatten, begriff er, dass der Junge zwar hellwach, aber nicht aufs Hier und Jetzt, sondern auf eine ganz andere Welt konzentriert war: Er war ganz und gar ins Signalnetzwerk vertieft. Verstohlen schlich der Magier näher, um den Jungen zu beobachten. Joey saß an der Komplexen Empathiemaschine, unter seinem schmächtigen Körper lag ein Haufen Kissen, und seine zu kurz geratene Gestalt wirkte durch den mächtigen Kopfhörer und die ausladende Messingblende des Okulars noch kleiner. Der Junge hatte die knochigen Hände lose um die beiden Griffe der Maschine gelegt, und seine verwachsenen Finger sprangen hin und her, als spielten sie auf einem seltsamen Musikinstrument einen Tanz. Seine Lippen bewegten sich tonlos und wiederholten womöglich ein geheimnisvolles Mantra.

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Nicht ohne plötzlichen Neid stellte Leonardo fest, dass hier jemand das Netzwerk zu seinem Zuhause gemacht hatte, sich darin pudelwohl fühlte und sich mit einer Sicherheit darin bewegte, die er selbst nie zu erlangen hoffen konnte. Fasziniert schlich er näher, schob sich behutsam auf den Stuhl, der dem des Jungen gegenüberstand, setzte den Kopfhörer auf und sah durchs Okular. Als sich seine Sinne auf Joeys eigentümliche Wahrnehmung des Netzwerks einstellten, begann er zu verstehen, was der Junge tat: Er war nicht daran interessiert, Kobolde zu jagen, Diagramme zu erstellen oder Vorschriften zu deuten. Joey spielte. »Der kleine...« 322 »Sei still«, unterbrach Blaise Leonardo sofort und kam seinen Absichten zuvor. »Lass dich einfach darauf ein. Vielleicht lernst du dabei etwas, das du gebrauchen kannst.« Also ignorierte der Magier seine ursprüngliche Abneigung, biss die Zähne zusammen, überließ sich widerstrebend dem Strom der Ereignisse und jagte bald durch die leeren Gänge, hallenden Säle und lautlosen Treppenhäuser des Netzwerks. Er stellte fest, dass er senkrecht durch die Luft sausen, aber auch Zentimeter überm Boden durchs Netz gleiten, um Ecken fegen, in Steilkurven gehen, spiralförmig wirbeln und hoch über dem Land Saltos machen konnte... Nun spürte er den feuchten Wind, der ihm durchs Haar strich und seine Robe wie Segel blähte. Er sah die Landschaft wie einen Flickenteppich unter sich: Die Berge wirkten wie zusammengeknülltes Packpapier, die Flüsse wie verhedderte blaue Bänder, die Küste wie ein angeknabberter Keks... Er sah das Meer. Das unbeständige Meer mit seinen Launen -Mal ruhig, mal stürmisch, mal ungemütlich... Das wankelmütige Meer mit seinen Farben - Ob Indigo, ob Kobalt, ob Seegrün... Das unberechenbare Meer mit seinen Stimmen -Sie mögen flüstern, brüllen oder seufzen... Und als Leonardo über dem stets anders aussehenden Wasser abwärts glitt, erblickte er die Inseln. Sie hatten verschiedenste Umrisse und Konturen - annähernd rund und mit Gras bewachsen; zerklüftet und 323 felsig; an eine Kröte oder einen Turmfalken erinnernd; bewohnt oder unbewohnt; mit primitiven, vereinzelten Hütten bestanden oder mit gepflegten Straßenzügen. Die Inseln umgaben ein schmales, lang gezogenes Vorgebirge, das in einem grasbewachsenen Hügel auslief. Mitten auf dem Hügel stand ein hoher, weißer, sechseckiger Turm, der Leonardo wie mit starken, unsichtbaren Fingern unerbittlich anzog und auf dessen Dach eine Reihe fröhlicher Flaggen flatterte. Es war eine Signalwache. »Geh ein Stück runter«, riet Blaise. Tatsächlich glitt Leonardo anmutig auf den Turm zu und sah dabei rätselhafte Flaggensymbole, zerbrochene Dachziegel und in jeder der sechs Wände ein großes Fenster. Mit schweren Stiefeln landete er auf einem bemoosten Sims, duckte den Kopf unter den Fenstersturz, schlüpfte unbeholfen hinein und landete auf den staubigen Dielen des Turms. Der Magier tastete sich sorgsam auf gebrochene Knochen hin ab, rieb die schmerzenden Gelenke, richtete sich langsam auf, wischte den Staub von der Robe und merkte schließlich, dass er in dem sechseckigen Raum nicht allein war: Vor ihm an der Signalmaschine saß ein ungepflegt wirkender Mann in schäbigen Sachen. Er war jünger als der Magier, doch sein rotes Haar war bereits angegraut. »Hallo, Meister Pegasus«, sagte Rusty. »Ich versuche schon seit einiger Zeit, Sie zu erreichen.« »Dann haben Sie also auf die Inseln gefunden?«, erwiderte Leonardo und war über den unerwarteten Gang der Dinge offenbar nicht weiter verblüfft. »Ein paar Freunde haben mich mitgenommen«, erklärte Rusty. »Sie hatten hier draußen was zu erledigen. Aber es hat sich als schwierig erwiesen, von einer Insel 324 zur anderen zu kommen - wegen der Strömung und so. Es gibt nämlich nur eine Fähre. Allerdings kann man mitunter bei Ebbe von einem Eiland zum nächsten gehen. Ein paar Verwandte mütterlicherseits hab ich auch getroffen. Sie helfen mir, mich zurechtzufinden. Und ich habe angefangen, wieder Karten zu zeichnen. Das hat hier noch niemand getan. Ich glaube nicht, dass die Insulaner meine Pläne wirklich brauchen, aber offenbar gibt es im Sommer viele Besucher, die sich womöglich für Landkarten interessieren. Oh, bitte warten Sie kurz.« Er wandte sich ab, schien sich mit jemandem zu unterhalten, den Leonardo nicht sehen konnte, und widmete sich dann wieder dem Magier. »Entschuldigung, ich muss gleich wieder an die Arbeit. Der Empfang ist gelegentlich gestört. Aber hier draußen passiert alles Mögliche. Das hätte ich nicht gedacht. Im Frühling gibt es ein große Fest namens...« Der Empfang war erneut gestört. »Tut mir leid, ich muss los«, sagte Rusty. »Ich unterhalte mich bald wieder mit Ihnen. Und kommen Sie zum Fest. Es wird Ihnen gefallen.« Jäh schrumpfte die Figur zu einem stecknadelkopfgroßen Punkt zusammen, der mit leisem Knistern verschwand. Im gleichen Moment merkte der Magier, dass er rückwärts durchs Fenster und an den Flaggen vorbeigezogen wurde und sich schwebend von den Inseln entfernte, die zu ein paar Pünktchen vor der Küste schrumpften, bis Land und Meer zu einem gestaltlosen Grau verschmolzen ... Mit dem Gefühl, erst mal genug gesehen zu haben, nahm Leonardo den Kopfhörer ab und rieb sich die müden Augen mit den Fingerknöcheln. Um ihn herum standen noch immer die vertrauten Apparate der Signalwache,

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325 und an der Empathiemaschine saß weiterhin Joey Hopkins. Seine geschickten Finger tanzten die Hebel rauf und runter, und ein glückseliges Lächeln hellte seine zwergenhaften Züge auf. Im nächsten Moment trieb eine überraschende Eingebung Leonardo zum Musikapparat. Behutsam legte er den Hauptschalter um und wartete, bis das Mammut ansprang. Dann ging er zur Rückseite der Maschine und schob sein kostbares, mit Diagrammen übersätes Stück Pergament in den Schlitz. Instrument für Instrument erklang das vertraute Stück. Erst kam das regelmäßige Schlagen der kleinen Trommel, gefolgt von den schwerfälligen Tönen der Posaune; dann traten die wie zufällig gesetzten und schief anmutenden Töne von Zither und Laute hinzu, kurz darauf die unregelmäßigen, schroffen Riffs der Trompeten, und schließlich erklangen als pastellfarbener Hintergrund flötenähnliche Akkorde. Dann zerschnitt ein neuer, unvertrauter Klang das musikalische Gewebe, wie Stacheldraht durch Spinnfäden schneiden mag - ein Klang, der durchs Stützwerk des Rhythmus taumelte, eine so vehemente wie strahlende Spur hinterließ und einen volltönenden, mitreißenden, ja wilden Taifun entfesselte. Es war der unverwechselbare Klang eines Sopransaxofons, das trotz seiner rasiermesserscharfen Obertöne zarten Klangschmelz entwickelte. Endlich hatte Joey Hopkins seine Stimme gefunden. 326 Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an Kathleen, Mitglied im Rat der Weisen Liebste Großmutter, wie viele Monate mögen seit meinem letzten Brief vergangen sein? Es ist sehr schwer gewesen, ganz allein im Haus der Ruhe zu leben und alles und zugleich nichts bewältigen zu müssen. Vielleicht habe ich seit dem Besuch der Möwentreiber nichts mehr zu Papier gebracht — war das vor einem Jahr? Oder schon vor zwei Jahren? Ich habe das Verstreichen der Zeit kaum bemerkt - so isoliert war ich von der Welt, vom Land ringsum, selbst vom Jahreskreis. Vielleicht hat sogar das Große Wesen mich in meiner Einsamkeit und meinem Schweigen vergessen. Doch endlich ist das monotone Verfließen der Stunden, der eintönige Lauf der Tage unterbrochen, denn endlich sind wieder Gäste im Haus, Großmutter, endlich hallen wieder Stimmen durch die Gänge - die ersten Stimmen, die ich seit dem lange zurückliegenden Besuch der Möwentreiber gehört habe. Endlich habe ich begriffen, dass es Zeit für mich ist, diesem Haus, in dem ich so lange gelebt und gearbeitet habe, Lebewohl zu sagen. Denn dieses Jahr ist das Jahr der Winde und Gezeiten, und ich möchte unbedingt auf den Inseln sein und wieder einmal das Fest sehen. Ja, es ist Zeit für mich, Abschied zu nehmen und auf die Inseln zurückzukehren, Großmutter, es ist Zeit für mich, nach Hause zu kommen. Wenn ich nur wüsste, wie. Lass mich dir alles erzählen. 327 Als ich die Möwentreiber in der Ferne verschwinden sah, war ich voller Hoffnung. Ich hatte endlich das Gefühl, es würde wieder etwas geschehen und überall im Lande würden wieder starke Kräfte walten - Kräfte der Heilung, der Reinigung, des Guten. Ich hatte lange den Eindruck, die Sonne würde heller scheinen. Die Tage wurden länger, und die Dornenhecke schien langsamer zu wachsen. Ich glaubte, Großmutter, das Haus habe erneut zu atmen begonnen, und die Lebenskräfte, die so lange geschlummert hatten, würden sich wieder rühren. Ich wischte überall Staub, schnitt Kletterpflanzen zurück und putzte Fenster, zog frische Sachen an, kämmte mein verfilztes Haar, schnitt mir die Finger- und Zehennägel und tanzte und turnte meine Übungen mit erneuerter Energie. Doch nach einer Weile begann meine Hoffnung wieder zu schwinden. Denn entgegen meiner Erwartung kamen keine weiteren Besucher. Trotz meiner neu erwachten Kraft gab es keine Verirrten, die ich auf ihren Weg hätte führen können. Wieder verfiel ich in meine alten, schlechten Gewohnheiten. Ich vernachlässigte das Haus, das Große Wesen und mich selbst. So wurden die Tage erneut kürzer und die Nächte kälter, und die Dornenhecke begann wieder schneller zu wachsen, bis sie einen schwarzen Schatten aufs Haus warf. Es schien, als sollte ich nie wieder das Sonnenlicht sehen und seine Wärme auf den Armen spüren. Im Brunnen gefror das Wasser, von den Dachrinnen hingen Eiszapfen, und die Dornenhecke lag unter immer strengerem Frost. Ich vernachlässigte meine Aufgaben und Übungen und schlich einmal mehr Tag und Nacht über die Flure des Hauses, spukte in den verlassenen Räumen, auf Treppen und Speichern herum, irrte durch den Park und über die 328 Felder und summte dabei immer dieselbe Melodie, lief über das Spielfeld und inspizierte die Steine, ließ mich im Kniehang von den Dachbalken im Turm baumeln und stierte auf die blauen Berge in der Ferne. Vielleicht, Großmutter, war ich nicht mehr ganz richtig im Kopf. Im Kniehang verbrachte ich Stunden in dem kleinen, sechseckigen Turmzimmer und starrte traumlos und ohne einen Gedanken aus dem Fenster. Ich hatte kaum noch das Gefühl zu leben - mein Geist war ein leeres Blatt, mein Körper eine ausgezehrte Hülle. Und in dieser unansehnlichen Verfassung haben meine Besucher mich entdeckt. Sie waren zu zweit - ein junger Mann und ein Mädchen. Den Mann erkannte ich sofort als Fahrenden, und mir war klar, dass er sich in meinem Haus nicht wohl fühlen würde. In dem Mädchen hingegen kommen

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verschiedene Einflüsse zusammen. Sie hat Fahrende, aber auch Insulaner als Vorfahren, ist jedoch nicht so sehr ein Kind der Straßen oder der Inseln: Bei ihr dominiert die Hauptstadt mit Hochmeister Fang und den Wolfsjungen, also das Reich der Verwundeten. All diese Teile ihrer Persönlichkeit lagen miteinander im Kampf auf Leben und Tod, und mir war klar, dass das Mädchen seinen Weg erst finden würde, wenn der Streit entschieden war. Doch mehr als all dies fielen mir andere Dinge ins Auge: Ich erkannte ihr rotes Haar und ihre Sommersprossen wieder, ihre Lider und Wangenknochen, und ich begriff, dass sie mit einem Mann verwandt war, den ich an einem ganz anderen Ort - in der Hauptstadt nämlich - vor vielen Jahren gekannt und geliebt hatte. Jetzt ist es also heraus. Ich habe mal einen Mann geliebt und wusste sofort, dass dieses fremde, wunder- 329 schöne und verirrte Mädchen seine Tochter war — die Tochter von Michael Brown, den ich vor langer Zeit verlassen hatte, um ins Haus der Ruhe überzusiedeln. Kaum hatte ich sie erkannt, wünschte ich natürlich, sie möge bleiben. Also hieß ich die zwei gastfreundlich willkommen, Großmutter. Wir setzten uns, tranken Tee und plauderten. Sie hörten mir zu, als ich ihnen von meiner Arbeit erzählte, und umgekehrt. Der Mann wirkte auf mich sehr feindselig. Noch kein Fahrender hat sich gern in diesem Haus aufgehalten, und er war nicht anders: eine unruhige Seele, die unbedingt weiterziehen und sich der nächsten Aufgabe zuwenden wollte. Das Mädchen dagegen war offen, wissensdurstig, lernwillig und hatte eine gewaltige Sehnsucht nach etwas, das sie noch nicht benennen konnte. Ich entdeckte bald, dass der junge Mann gelernter Anstreicher war. So ein Glück! Die Wände, Türen und Fenster im ganzen Haus waren viele Jahre vernachlässigt worden. Also gab ich ihm Arbeit, Großmutter, und bat ihn, das Haus von oben bis unten zu streichen, denn mir war klar, dass er dann bleiben würde. Und mit ihm bliebe das Mädchen. Also blieben sie, übernachteten im Wohnwagen und begannen, die Zimmer zu streichen — eins nach dem anderen und ganz nach Belieben. Wie sie die Wände gestalteten, war mir ziemlich egal. Die beiden (vielleicht auch nur das Mädchen) hatten leuchtende Farbpigmente dabei - und ein paar Ideen, die sie ausprobieren wollten. Also ließ ich sie die Zimmer streichen, wie es ihnen gefiel. Ich weiß nicht recht, ob ich ihre Arbeit mag, doch das Haus der Ruhe wirkt inzwischen immerhin ganz anders als jedes Gebäude, das ich sonst betreten habe! 330 Mit den jungen Leuten ist wieder Leben ins Haus gekommen. Doch vielleicht ist das eine verstiegene Behauptung. Vielleicht sollte ich einfach sagen, dass ich - seit auch andere hier arbeiten — wieder mehr Lust habe, meine häuslichen Pflichten zu erfüllen und meine Übungsfolgen zu turnen. Jedenfalls ist mir nicht entgangen, dass die Tage wieder länger werden und Frost und Eis auf dem Rückzug sind. Aber vielleicht bedeutet das nichts. Vielleicht hängt das allein mit dem Jahreskreis zusammen. Aber irgendwie, Großmutter, habe ich das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Es ist interessant, die beiden beim Arbeiten zu beobachten. Der junge Mann heißt übrigens Liam, das Mädchen Ashleigh. Sie sind wirklich sehr jung, kaum achtzehn oder zwanzig, und mitunter scheinen sie noch Kinder zu sein. Manchmal verstehen sie sich sehr gut und arbeiten geradezu harmonisch. Dann vergesse ich eine Zeit lang ihre Unreife. Einmal habe ich sie zufällig dabei ertappt, wie sie... nun ja, sie taten, was junge Leute so tun, wenn sie ein Pärchen sind. Ich weiß nicht, wer von uns dreien am verlegensten war! Jedenfalls verschwand ich schleunigst, saß einige Zeit allein in der Küche, war sehr traurig und bedauerte, wie mein Leben verlaufen ist. Mitunter aber sind die zwei verschiedener Meinung, zanken sich vielleicht über irgendein Detail der Arbeit, wenden einander den Rücken zu, werfen sich ruppige Worte an den Kopf und schmollen. Dann wird mir wieder bewusst, wie jung sie doch sind. Manchmal habe ich das Gefühl, sie sind verurteilt, bald getrennte Wege zu gehen, doch das - so führe ich mir vor Augen - geht mich nichts an. Ab und zu — vielleicht, wenn die beiden gestritten ha- 331 ben - lässt Ashleigh den jungen Mann allein arbeiten und kommt mich besuchen. Dann verbringen wir etwas Zeit zusammen. Ich habe gemerkt, dass sie seit kurzem ein gewisses Interesse an meinen Übungsfolgen hat. Womöglich fühlt sie sich etwas verloren und verspricht sich davon Orientierung. Also habe ich begonnen, ihr ein paar elementare Stellungen und Bewegungen beizubringen, und gemerkt, dass dabei meine Freude am Turnen aufs Neue erwacht ist. Stück für Stück haben wir uns durch die Turnfolgen gearbeitet, haben zusammengesessen, geforscht und geredet, und im Laufe dieser Gespräche habe ich den Eindruck gewonnen, dass Ashleigh langsam entdeckt, was sie zu tun hat. Ja, sie spürt allmählich das Ziel, das sie anstreben muss, und zugleich merke auch ich, was ich zu tun habe. Ich weiß jetzt, dass es noch einen Grund für den Neuanstrich des Hauses gibt - einen Grund, an den ich erst gar nicht gedacht hatte: Das Haus muss gestrichen werden, um sich der Welt wieder von der besten Seite zu zeigen, denn bald wird es der Welt allein begegnen müssen. Bald nämlich, Großmutter, werde ich das Haus verlassen. Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun. Ich habe meine Zeit abgeleistet und will auf die Inseln zurückkehren, um wieder mal das Fest der Winde und Gezeiten zu erleben. Diesen Brief werde ich Liam, dem jungen Fahrenden, mitgeben, wenn unsere Wege sich trennen. Das Schreiben wird von Hand zu Hand gehen, bis es endlich bei dir anlangt.

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Doch wie soll ich zu den Inseln finden? Liam hat mir erzählt, in diesen unruhigen Zeiten seien die Straßen gefährlich: In jedem Dickicht lauern Banditen, an jeder 332 Kreuzung warten Straßenräuber, auf jeder Landstraße marschieren Trupps von Wolfsjungen - das hat er mir berichtet. Darum fürchte ich die Landstraßen, Großmutter, aber auch die Feld- und Seitenwege. Früher hätte ich mich vielleicht allein auf die lange Reise in den Norden gewagt, doch diese Zeiten sind lange vorbei. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, wieder bei dir zu sein, doch meine Angst versperrt mir den Weg. Sie ist ein gewaltiges Hindernis - schlimmer als die Kälte, höher als die Dornenhecke, fürchterlicher sogar als der Widersacher selbst. Es muss einen anderen Weg geben, es muss! Möge das Große Wesen ihn mir weisen! Und möge ich sehr bald bei dir sein! Deine dich liebende Enkelin Alice Ashleigh besucht das Heiligtum Ich glaube, ich habe in der Nacht, die auf Alices Bekenntnis folgte, sie habe Tom Slater umgebracht, über zwölf Stunden geschlafen. Als ich aufwachte, war Liam jedenfalls bereits an der Arbeit, und seine Seite des Bettes war schon ganz kalt. Ich war überrascht, nach den Ereignissen vom Vortag so prima geschlafen zu haben, und fühlte mich sehr gut - ausgeglichen, entspannt und zu allem bereit. Ich dachte noch etwas an Alices Geschichte, daran, dass sie Tom Slater in den Fahrstuhlschacht gestoßen hatte. Zunächst wusste ich nicht recht, ob ich je wieder in ihrer Nähe sein wollte, doch dann begriff ich, dass 333 sie aus Liebe zu meinem Vater gehandelt hatte. Wenn ich jemanden so sehr lieben würde, täte ich es vielleicht auch für ihn. Dann dachte ich an Liam, fragte mich, ob ich es für ihn täte, und stellte fest, dass ich mir da recht unsicher war. Jedenfalls frühstückte ich erst einmal und wollte dann nach Liam sehen, überlegte es mir aber anders und ging lieber zum Spielfeld, um Alice zu treffen. Sie stand wie üblich auf dem Erdstein und machte eine ihrer seltsamen Übungen. Also wartete ich, bis sie mich sah. Dann sagte ich ihr, ich wolle diese Übungen auch lernen, und sie meinte: »Ich bringe sie dir natürlich gern bei, möchte aber nicht, dass deine Arbeit darunter leidet.« Also beschloss ich, eine Hälfte meiner Zeit mit Liam, die andere mit Alice zu verbringen. Liam und ich hatten schon ziemlich lange im Haus gearbeitet und waren fast mit allen Zimmern fertig. Deshalb wollte er sich nun Fenster und Türen von außen vornehmen. Also gab es für mich nicht mehr viel zu tun, weil wir die leuchtenden Farben draußen nicht verwenden konnten. Außerdem stand Liam fast den ganzen Tag auf der Leiter, und Leitern waren noch nie mein Fall gewesen. So konnte ich viel Zeit mit Alice verbringen. Zuerst brachte sie mir bei, ruhig und aufrecht dazustehen, was sich als erheblich schwieriger erwies, als ich erwartet hatte. Dann vermittelte sie mir verschiedene Methoden, das Gleichgewicht zu halten, wobei sie mit einfachen Übungen begann, die langsam anspruchsvoller wurden. Dann gab es jede Menge Beuge- und Dehnübungen, damit ich mich möglichst weit nach vorn, nach hinten und zu den Seiten zu strecken lernte. Alice schien mit meinen Fortschritten recht zufrieden. Ich schätze, ich hatte in meinen Selbstverteidigungskursen manch Nützliches 334 gelernt, begann also nicht bei null. Nach einer Weile gingen wir zu Sprüngen und Drehungen über, mit denen man von einer Übung zur anderen wechseln konnte. Nach einigen Wochen fragte Alice mich dann, ob es etwas Spezielles gebe, das ich lernen wolle. Na ja, ich hatte sie diesen ziemlich coolen Handstand machen sehen, bei dem sie mit zum Himmel gestreckten Zehen so lange stehen bleiben konnte, wie sie wollte. Den hatte ich immer lernen wollen, hatte ihn aber nur für höchstens eine Sekunde geschafft. Alice war einverstanden, zeigte mir, wie es ging, und erklärte mir dann, es sei wirklich nicht schwer, sondern komme vor allem darauf an, sich ganz und gar zu konzentrieren. Wir arbeiteten ziemlich lange daran. Zuerst hielt sie mich an den Fußknöcheln, während ich mich nur auf Fingerspitzen und Handflächen konzentrierte. Nach einer Weile merkte ich, dass ich auch ohne ihre Hilfestellung auf den Händen stehen konnte. Bald schaffte ich es, ziemlich lange allein im Handstand zubleiben, und an guten Tagen konnte ich sogar ein paar Schritte auf den Händen gehen, holte mir aber weiter so manchen blauen Fleck, weil ich irgendwann doch das Gleichgewicht verlor. Zwischen den Übungen verbrachten wir recht viel Zeit damit, auf dem Erdstein zu sitzen. Anfangs verstand ich nicht, warum wir das taten, sondern langweilte mich dabei, doch nach einer Weile stellte ich fest, dass dies einfache Dasitzen der Teil der Übungen war, auf den ich mich am meisten freute. Ich merkte, dass ich dabei alles vergessen konnte und ganz im Hier und Jetzt war; dann tauchten Bilder vor meinem geistigen Auge auf -Bilder von Klee, hohem Gras und Meer. Wenn sie wieder abgeklungen waren, stellte ich fest, dass ich langsam eine Vorstellung davon gewann, was ich mit meinem Le- 335 ben anfangen wollte, und merkte, dass es Alice genauso ging. Nach einer dieser Übungsstunden erklärte sie mir, für die Inselbewohner seien solche Spielfelder Heilige Stätten, die irgendwie mit allen anderen Heiligtümern auf den Inseln und im ganzen Land verbunden seien. Ich fragte, ob diese Verbindung ähnlich funktioniere wie das Signalnetzwerk. Nein, meinte sie, es sei eine Verbindung ganz anderer Art, aber sie wisse nichts darüber.

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Ich schätze, ich habe Liam über alldem vernachlässigt. Er war dennoch guter Dinge, arbeitete munter weiter und machte mir meine Abwesenheit nie zum Vorwurf. Aber ich wusste natürlich, dass der Auftrag bald erledigt war und wir dann würden weiterziehen müssen. Ein paar Tage später passierte es schließlich. Ich hatte eine ziemlich knifflige Übung namens Möwe gelernt, die ein paar ausgesprochen schwierige Figuren enthielt, und am Nachmittag gelang es mir endlich, die ganze Sequenz fehlerfrei zu turnen, während Alice nur dastand und mich beobachtete. Dann holte sie uns Tee, und wir saßen lange auf dem Erdstein. Das Universum schien den Atem anzuhalten und abzuwarten, was als Nächstes kommen würde. Schließlich öffneten wir die Augen, und Alice fragte nur: »Was wirst du nun tun?« Ich weiß nicht, woher die Eingebung kam, doch ich sagte einfach: »Auf die Inseln reisen, um meinen Vater zu finden.« Alice nickte nur knapp, wie es ihre Art war, warf mir einen ihrer langen, ruhigen Blicke zu und sagte dann: »Ich reise auch auf die Inseln. Im Frühling findet dort ein großes Fest statt - das Fest der Winde und Gezeiten, das nur alle sechs Jahre gefeiert wird. Ich war erst fünfzehn, als ich zum letz- 336 ten Mal dabei war. << Sie sah mich erneut lange an, und auf ihrem Gesicht lag ein schwaches Lächeln. Dann tauchte Liam mit der Rechnung auf. Ich wusste nicht, wie es mit ihm und mir weitergehen sollte, und hoffte sehr, ihn dazu bringen zu können, nach Norden zu reisen und dort Arbeit zu suchen, denn so hätte er Alice und mich ein gutes Stück mitnehmen können. Am Abend räumten wir den Wohnwagen aus, und ich versuchte dabei, mit ihm zu reden. Doch als ich ihm erklären wollte, was ich vorhatte, wurde er unleidlich und machte eine Ausflucht nach der anderen. Erst sagte er, er habe im Westen des Landes einen Auftrag zu erledigen, obwohl ich davon noch kein Wort gehört hatte. Dann meinte er, der Wohnwagen müsse wegen eines Achsenschadens in Reparatur, doch das war blanker Unsinn, denn solche Dinge erledigte Liam immer selbst. Inzwischen hatten wir all unsere Sachen auf den Rasen vor dem Haus geschafft - das Handwerkszeug, Kochgeschirr und Besteck, Liams und meine Klamotten sowie Mister Woofie. Wir hatten gerade begonnen auszusortieren, was wir wegwerfen wollten, als ich begriff, was los war. »Es liegt an den Inseln, stimmt's?«, fragte ich. »Es ist so ein blöder Vorbehalt der Fahrenden. Ihr wollt einfach nicht in die Nähe der Inseln. So ist es doch, oder?« Er sah mich nicht an, sondern starrte nur auf die Pinsel in seiner Hand und sagte sehr leise, fast flüsternd: »Ich darf nicht.« Ich betrachtete die beiden Stapel auf dem Rasen und wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte zu diskutieren — er musste seinen Weg gehen und ich meinen. Danach redeten wir kaum noch, räumten das Handwerkszeug wieder in den Wagen, aßen zu Abend, legten 337 uns ins Bett und wandten einander den Rücken zu. Ich glaube, keiner von uns hat auch nur ein Auge zugetan. Anfangs war ich wirklich zornig auf Liam, doch zugleich verstand ich ihn und wusste, dass er seine Meinung über die Inseln und ihre Bewohner nie ändern würde. Darüber wurde ich sehr traurig und fragte mich, ob wir uns je wieder sehen würden. Am nächsten Tag wusste ich absolut nicht, was ich Liam sagen sollte — also nahm ich einfach meine Tasche, um Alice suchen zu gehen. Für Mister Woofie hatte ich keinen Platz und schob ihn deshalb unter einen Stuhl im Wagen. Ich vermutete Alice auf dem Spielfeld, und tatsächlich saß sie auf dem Erdstein und hatte nur eine kleine Sporttasche dabei. Ich sagte ihr, Liam habe sich entschlossen, seiner Wege zu ziehen, und wir würden es allein auf die Inseln schaffen müssen. Alice lächelte nur wehmütig, als habe sie das schon die ganze Zeit gewusst. Ehrlich gesagt war die Situation etwas heikel. Alice hatte kein Fahrzeug, nicht einmal ein Pferd oder ein Pony, und wir besaßen weder Landkarten noch Kompass. Obendrein hatten wir keine Lust, uns unbegleitet auf den Weg zu machen - nicht nach dem, was ich auf der Fahrt mit Liam gesehen hatte. Zwei Frauen zu Fuß - das konnte doch nicht gut gehen! Selbstverteidigung jedenfalls hätte uns im Ernstfall kaum schützen können. Dann aber hatte Alice eine Idee. »Wir könnten Liam fragen«, sagte sie. »Selbst wenn er uns nicht hinbringen kann oder darf, weiß er sicher, welchen Weg wir einschlagen müssen. Er ist doch ein Fahrender, und die verfügen über diese Gabe, stimmt's? Die wissen immer, wie man von Ort zu Ort kommt.« 338 Ich hätte mich ohrfeigen können, darauf nicht selbst gekommen zu sein, und rannte zum Wagen zurück. Liam war gerade dabei, die alte Neil anzuschirren. »Du musst eine letzte Sache für mich tun«, sagte ich. »Du musst mir verraten, wie ich auf die Inseln komme.« Er erstarrte, als ich das sagte, und sah mich einen Moment durchdringend an. Dann lachte er, ließ das Zaumzeug fallen und ging zum Heck des Wagens, um etwas zu holen - sein großes Brecheisen nämlich, das er manchmal benutzte, um mit alter Farbe verklebte Fenster und Türen zu öffnen. Ich hatte keine Ahnung, was er damit vorhatte, doch er sagte nur: »Komm mit«, schritt geradewegs aufs Spielfeld zu und bat Alice aufzustehen. Dann machte er sich mit dem Brecheisen am Rand des Erdsteins zu schaffen. Als ich das sah, wollte ich ihn aufhalten, doch Alice legte mir die Hand auf den Arm und flüsterte: »Lass ihn.« Liam stocherte unter dem Stein herum, als suche er genau die richtige Stelle. Dann geriet der Stein plötzlich in Bewegung, und ich hörte Alice nach Luft schnappen. Sie konnte nicht glauben, was sie sah - und ich ebenso wenig: Der große sechseckige Stein

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hob sich langsam aus dem Boden, neigte sich mit einem lauten, saugenden Geräusch zur Seite und sprang auf wie ein Deckel. An seinem Rand hingen Erdklumpen. Alice und ich traten an das große Loch heran und sahen eine Steintreppe in die Tiefe führen. Eine Zeit lang standen wir nur da und gafften mit offenem Mund. Ich glaube, ich hatte Alice noch nie so erstaunt gesehen - bis auf das eine Mal, als sie Liam und mich gestört hatte. Dann fragte Liam: »Wusstet ihr das etwa nicht? Zwischen allen Heiligtümern der Insulaner gibt es unterirdische Verbindungen. Sie wurden im Vergessenen Zeitalter 339 angelegt - keiner weiß, warum. Das jedenfalls ist der sicherste Weg zu den Inseln.« Da merkte ich, wie gern ich Liam hatte, lief zu ihm und umarmte ihn leidenschaftlich wie nie. Die Gestalt im Spiegel Während der bitterkalte Winter langsam in einen ungemütlichen Vorfrühling überging, schöpfte Leonardo - was die Erforschung des Signalnetzwerks und die Verfolgung Lees anlangte — wieder neuen Mut. In den seltenen Augenblicken der Einkehr kam ihm in den Sinn, der Wendepunkt sei an dem Morgen gekommen, als er Joey an der Signalmaschine hatte spielen sehen. Gott sei Dank war ich damals geistesgegenwärtig genug, den Musikapparat einzuschalten, dachte Leonardo. Sonst hätte ich Joeys Stimme dem Stück nicht hinzufügen können, und vielleicht hätte sich nie mehr so eine Gelegenheit ergeben. »Aber Leo«, unterbrach ihn Blaise. »Ehre, wem Ehre gebührt.« »Schon gut«, rief Leonardo. »Du hast mich erst auf die Idee gebracht, stimmt's?« »Ist da jemand, Meister?« Das war Joeys Stimme. Leonardo hatte vergessen, dass sein junger Assistent zugegen war. Als er nun von seinem lauwarmen Kaffee aufsah, stellte er fest, dass der Junge eifrig den Staub wegfegte, der sich den Winter über hinterm Mammut angesammelt hatte, wobei er eine dichte, mausgraue Wolke aufwirbelte. »Schon gut, Joey«, sagte Leonardo. »Ich hab bloß laut 340 gedacht. Kann ich noch einen Kaffee bekommen, falls du nicht zu beschäftigt bist?« Seit es ihm gelungen war, Joeys Stimme auf Pergament zu bannen, hatte Leonardos Suche einen neuen Sinn bekommen. Seine täglichen Ausflüge in die verschlungene Welt des Netzwerks gaben ihm kaum mehr das Gefühl, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, sondern erinnerten eher an das Lockerungstraining vor einem sportlichen Wettkampf. Während das labyrinthische Geflecht der Gänge ihn früher so schrecklich verwirrt hatte, stellte Leonardo nun fest, dass er mit den ständigen Brüchen in der Struktur des Netzes spielend fertig wurde. Große Bereiche des Irrgartens waren ihm allmählich beruhigend vertraut, und wenn sie auch manchmal an unerwarteten Orten auftauchten, so vermochte der Magier darauf doch eher belustigt als panisch zu reagieren. Das Verhalten der geisterhaften Boten war nicht mehr so undurchschaubar wie früher, und er merkte, dass er sich erfreulich unbekümmert unter ihnen bewegen konnte. Selbst Lee — das kaum zu fassende Objekt seiner Begierde - jagte ihm nun weniger Schrecken ein und erschien ihm als eher freundlich gesonnener Gegner, gegen den er, wenn er nur aktiv bliebe, eines Tages ein paar Punkte holen konnte. Das tägliche Geplänkel hatte den Charakter eines Versteckspiels angenommen, und ihr ergebnisloses Rangeln kam ihm allmählich wie eine endlose Abfolge bloßer Schaukämpfe vor, denen freilich die Zuschauerkulisse abging. »Lass dich von Lee nicht täuschen«, warnte ihn Blaise. »Sobald du glaubst, ihr stündet auf der gleichen Seite, schwebst du in größter Gefahr.« Diese niederschmetternd einfache Warnung schreckte 341 Leonardo auf. Sofort war ihm klar, dass Blaise Recht hatte und der Kampf, wenn er schließlich stattfände, um Leben und Tod ginge. »Führen wir uns doch noch mal vor Augen, worum es geht«, sagte Blaise. »Erkläre mir bitte, was Lee für einer ist.« Leonardo dachte nach. »Ein Geist, der Unfrieden stiftet?«, wagte er schließlich zu äußern. »Nein, er ist mehr. Eine Art Verkörperung böser Gedanken? Ein Haufen negativer Kräfte, die irgendwie miteinander verbunden sind?« »Nicht schlecht«, erwiderte Blaise. » Und sag mir bitte auch noch mal, über wessen negative Kräfte wir hier eigentlich reden.« Leonardo errötete. »Über meine, schätze ich«, murmelte er betreten. »Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich die erste Empathiemaschine gebaut habe. Damals hab ich nichts dagegen unternommen, dass sich das Zeug in irgendeiner Ecke gesammelt hat. Dann konnte es ins Netzwerk fliehen und hat inzwischen das gesamte Netz infiziert und das ganze Land befallen. Eine furchtbare Schweinerei ist das!« »Ich schätze, >böse< gilt heutzutage als ziemlich altmodisches Wort«, meinte Blaise. »Ansonsten aber hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Und wie mag die ganze Sache ausgehen?« »Das liegt in meiner Hand, stimmt's?«, sagte Leonardo. »Ich denke, ich habe einen guten Anfang gemacht. Und ich habe viele Helfer: den Hauptmann, Rusty Brown, seine Tochter und natürlich Joey; und dich vermutlich auch, Blaise. Du hast ab und an wirklich gute Ideen. Ich hab all unsere Stimmen mit dem Mammut

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aufgezeichnet, und nun ist es beinahe so, als wären wir selbst in 342 dem Apparat und würden Lee gemeinsam jagen. Teamwork gewissermaßen.« »Worauf warten wir also noch?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Leonardo nachdenklich. »Wir sind schon weit gekommen, sitzen nun aber doch wieder irgendwie fest. Als würden wir noch etwas brauchen. Als wäre das Ganze ein Puzzle, dem ein Teil fehlt. Und ich komme einfach nicht darauf, welches Teil das sein könnte.« »Sehen wir uns doch mal an, was wir schon haben«, half Blaise ihm weiter. »Setz deinen Kopfhörer auf.« Also hockte sich Leonardo einmal mehr an die Komplexe Empathiemaschine, setzte den Kopfhörer auf, legte die Hände um die Griffe und beugte sich vor, um durchs Okular zu schauen. Als Ton und Bild übereinstimmten, sah sich der Magier erneut in dem sechseckigen Raum, der ihm wie immer vertraut war, der aber — wie stets - auch ein wenig anders war als zuvor. Diesmal waren die sechs Öffnungen in den Wänden keine Fenster oder Türen, sondern Spiegel. Leonardo, der sich auf allen Seiten von Spiegelungen umgeben sah, konnte einen Moment lang nicht begreifen, was um ihn herum vorging. Seltsamerweise war ihm in der Spiegelwelt des Netzwerks noch kein Spiegel begegnet, und obwohl er inzwischen recht genau wusste, wie Lee, der Hauptmann und die anderen Bewohner des Netzes aussahen, hatte er sich nie gefragt, wie er auf sie wirken mochte. Fasziniert trat er näher. Sein Gegenüber trug eine Robe wie er, doch damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit auch schon. Als Leonardos Robe neu gewesen war, hatte sie rot und golden geschillert, doch nun war sie abgetragen und verblichen; die Ärmel waren schmuddelig, der Saum ver- 343 dreckt. Die Robe seines Gegenübers hingegen war hell und bleich, fast durchsichtig und erlaubte dem Magier einen verführerischen Blick auf die Formen darunter. Es handelte sich um eine große, kräftige Gestalt mit den Proportionen eines Kriegers oder Leistungssportlers, die sich sehr aufrecht hielt (während Leonardo längst gebückt durch die Gegend schlurfte), vor Kraft und Energie brannte (während Leonardo müde und erschöpft wirkte und fast zusammensackte) und von einer Aureole umgeben schien (während Leonardo wie das personifizierte Halbdunkel wirkte). Dieser majestätischen Erscheinung gegenüber verspürte der Magier so etwas wie Trauer, vielleicht vermischt mit einer Prise Furcht. Ob er seinem Widersacher wirklich so erscheinen mochte? Auf all den Streifzügen durch das geheimnisvolle Reich des Netzwerks hatte er nie etwas Ähnliches gesehen. Er hatte keine Worte, sein Gegenüber zu beschreiben, vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen und konnte demzufolge auch nicht sagen, was er in Gegenwart seines Spiegelbilds empfand. Er war sich nicht einmal sicher, ob dieses Wesen Mann oder Frau war. Widerwillig hob er den Blick von den kräftigen Beinen zu den schmalen Lenden, von der engen Taille zu den breiten Schultern, vom silbergrauen Haar zu... Zu? Leonardo sackte das Herz in die Hose, denn das zerzauste Haar seines Gegenübers umgab nur ein leeres, weißes Oval. »Ich hab... gar kein Gesicht«, stammelte der Magier. »Haarscharf beobachtet«, stellte Blaise fest. »Genau erkannt, was fehlt. In einer Hinsicht aber muss ich dich korrigieren: Du stehst nicht dir gegenüber, sondern mir.« »Dir?«, fragte Leonardo. Plötzlich schienen unsichtbare Hände an seinen Ärmeln zu zerren, unsichtbare Finger 344 nach ihm zu greifen. »Ich verstehe nicht. Sicher... ich meine, das heißt... oder... sollst du denn nicht mir helfen?« »Hast du noch immer nicht verstanden?«, fragte Blaise. »Ich bin es, der die Kraft hat, Lee zu besiegen, und der die Schlacht gewinnen wird. Ich bin nicht hier, um dir zu helfen. Du bist hier, um mir zu helfen.« »Was?«, fragte Leonardo konsterniert. »Wer bist du?« »Weißt du das wirklich nicht?« »Nein. Du kannst doch unmöglich...« Doch in diesem Moment wurde das Zerren an Leonardos Ärmeln so energisch, dass der Magier die Griffe der Empathiemaschine losließ und sich wieder in die vertraute Umgebung der Signalwache katapultiert fand, wo Joey ihm - die Augen nur Zentimeter entfernt -ängstlich ins Gesicht sah. »Verzeihung, Meister, ich wollte Sie nicht stören, aber Mrs P steht vor der Tür und sagt, Sie hätten wieder Ihre Sandwiches vergessen. Ich hoffe, ich habe Sie bei nichts Wichtigem unterbrochen.« Leonardo seufzte. Als er später seine verstreuten Gedanken zu sammeln versuchte, konnte er nur konstatieren, dass ihm einmal mehr etwas ungemein Wichtiges durch die Lappen gegangen war. Ashleigh taucht unter Nachdem Liam uns gezeigt hatte, dass es sich beim Erdstein um einen Deckel handelte, ging alles sehr schnell. Es war, als hätte ich mich eben noch an einem Platz geglaubt, dann aber gemerkt, dass ich in Wirklichkeit ganz 345 woanders war. Alice lief ins Haus, um nachzusehen, ob alle Fenster und Wasserhähne geschlossen waren, und um ein paar Sachen zu packen, die wir im Tunnel brauchen würden. Derweil ging ich zu Liams Wagen, um meine restlichen Sachen zu holen. Als Alice zurückkehrte, fummelte Liam erneut ein wenig am Erdstein herum und zeigte uns, wie er sich über uns schließen würde.

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Und das war's. Alice gab Liam einen Brief, den sie ihn auf die Reise zu schicken bat, und ich half ihm, Neil aufzuzäumen, wie ich es immer getan hatte. Dann verabschiedeten wir uns, und er schwang sich auf den Kutschbock, ließ die Peitsche knallen und fuhr davon. Alice wartete, bis der Wagen durch die Hecke verschwunden war, und legte mir dann die Hand auf die Schulter. Auch für uns war die Zeit zum Aufbruch gekommen. Alice sah noch mal kurz zum Haus zurück, wandte sich dem Loch zu und schritt die Stufen hinab. Natürlich musste ich ihr folgen. Kaum war ich ein paar Schritte abgestiegen, hörte ich über mir ein Zischen, und es wurde dunkel: Der Erdstein hatte sich geschlossen. Alice freilich hatte daran gedacht, eine Laterne mitzunehmen, so dass wir genug sehen konnten, um nicht den Halt zu verlieren. Anfangs stiegen wir schier endlos abwärts. Mancherorts schien es, als sei die Treppe in den Fels gehauen, anderswo hingegen waren die Stufen aus Erde und wurden nur durch senkrecht in den Boden gesetzte Steinplatten an Ort und Stelle gehalten. Nach einer Weile ging es nicht mehr ganz so steil abwärts; bald hatte der Weg nur noch ein leichtes Gefälle, und schließlich zogen wir eine Art Gang entlang, dessen Wände roh aus dem Stein ge- 346 schlagen waren, während dicke Holzpfosten die Decke stützten. Wir redeten nicht viel. In gleichmäßigem Tempo ging Alice ein Stück vor mir, und ich blieb dicht genug dahinter, um ihren schattenhaften, vom Licht ihrer Laterne akzentuierten Umriss stets vor Augen zu haben. Die Wände waren bisweilen aus Erde, die da und dort etwas abgerutscht war und von Bohlen gehalten wurde, bisweilen aber geradewegs in den Fels gehauen. Manchmal stieg oder fiel der Tunnel ein wenig, doch überwiegend ging es nun auf ebenem Weg voran. Auch der Boden war fast glatt, so dass das Gehen kaum ermüdete. Nach einer Weile begannen meine Gedanken zu schweifen, und ich dachte an die vielen seltsamen Dinge, die hatten geschehen müssen, um mich hierher zuführen. Dann fragte ich mich, wie lange es dauern mochte, um auf die Inseln zu kommen, und ob ich meinen Vater, Maxie oder Liam je wieder sehen würde. Seltsam - ich hatte erwartet, unsere Reise würde recht unheimlich sein, doch hier unten war es ganz still und überraschend warm und angenehm. Schließlich merkte ich, dass ich mich richtig gut und sicher fühlte - wie in einem behaglichen Tagtraum. Ich weiß nicht, wie lange es so weiterging. Ab und zu gab es eine Abzweigung oder eine Kreuzung. Dann hielt Alice an und dachte kurz nach, fand aber immer den richtigen Weg. Meist war es ziemlich trocken, mitunter allerdings roch es feucht und modrig, Wasser tropfte von der Decke, und hier und da standen Pfützen oder größere Wasserflächen, durch die wir waten mussten. Nur einmal gelangten wir an eine Stelle, wo die Decke eingestürzt war und wir nicht weiterkamen. Also kehrten wir um und suchten uns einen anderen Weg. Wir hatten keine Ahnung, wie spät es war und ob es 347 draußen Tag oder Nacht sein mochte. Also rasteten wir, wenn wir müde waren, und zogen ausgeruht weiter. Wir hatten Brot, Käse, Äpfel und ein paar kalte Pasteten dabei, um nicht hungern zu müssen. Ich fragte Alice, ob sie nicht fürchte, unsere Vorräte oder unser Licht könnten zur Neige gehen, doch sie meinte, es werde reichen, um an unseren Bestimmungsort zu gelangen. Zum Schlafen legten wir uns einfach auf den trocknen Boden. Ich fühlte mich beim Aufwachen ziemlich steif, doch Alice zeigte mir ein paar Übungen, nach denen es mir besser ging- So zogen wir weiter. Wir legten nur eine richtige Pause ein — und zwar, als wir die große Höhle erreichten. Ich hatte schon etwas geahnt, weil es seit einiger Zeit mehr abwärts- als aufwärts gegangen war. Dann weitete sich der Tunnel, und ich hörte über mir ein Echo. Schließlich wurde es heller, ohne dass ich gewusst hätte, woher das Licht kam. Nach einer Weile aber löschte Alice die Laterne, und ich sah vor uns ein schwaches, bläuliches Leuchten. Plötzlich führte der Gang um die Ecke, und wir standen vor einer gewaltigen Höhle, in deren Mitte sich ein großer See befand. Die Decke war so hoch, dass ich sie kaum erkennen konnte. Tropfstein wuchs da und dort haufenweise von oben und unten und hatte bisweilen schon dicke Säulen gebildet, die an die Pfeiler einer Kathedrale denken ließen. Ab und an tropfte Wasser, und jedes Geräusch - ob Schritte, Worte oder was auch immer - erzeugte ein Echo, das lange nachhallte. Ich stand zuerst einfach nur da und staunte Bauklötze, setzte mich dann aber auf einen Wink von Alice. Eine Zeit lang saßen wir am Ufer des Sees und blickten aufs gekräuselte Wasser hinaus. Ich kannte Alice inzwischen 348 lange genug, um zu wissen, dass wir an einem besonderen Ort waren und sie mir beizeiten alles erklären würde. Also blieb ich einfach, wo ich war, und nahm den Anblick und die Laute in mich auf. Nach einiger Zeit schienen all die kleinen Tropfgeräusche, ihre vielen Echos und unser Atmen zu einem Hintergrundrauschen zu verschmelzen. Als ich mich darauf konzentrierte, wurde es immer lauter, bis die Erde ringsum zu vibrieren schien. Das Geräusch ging direkt durch mich hindurch, und auch ich wurde ein Teil der vibrierenden Erde. Ich weiß nicht, wie lange wir so saßen, doch irgendwann fasste Alice mich auf ihre typische Art am Arm und sagte: »Du spürst es, oder? Wir sind genau im Herzen des Landes.« Schließlich standen wir auf, schulterten die Rucksäcke und gingen am See entlang. Bald kam ein anderer Tunnel,

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der aufwärts führte und weg von dem bläulichen Licht, so dass Alice die Laterne wieder anzünden musste. Wir wanderten zwei, drei Tage wie zuvor, ehe sie die Lampe ausblies. Weit vor uns leuchtete es. Dann verbreiterte sich der Tunnel zu einer zweiten Höhle, doch diesmal fiel Tageslicht durch die offene Flanke, und plötzlich sah ich erst den Himmel, dann das Meer, dann die Inseln. Ich wollte losstürmen, doch Alice hielt mich zurück - zum Glück, denn die Höhle lag direkt an der Steilküste, was ich, geblendet vom Licht, nicht bemerkt hatte. Wäre ich losgerannt, könnte ich euch diese Geschichte heute nicht erzählen. Stattdessen blieb ich stehen und ließ den herrlichen 349 Anblick auf mich wirken. Die See - an jenem Tag grau und kabbelig - erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Später erfuhr ich, dass oft Schmuddelwetter herrschte. Vor dem Höhleneingang erstreckte sich eine dünne, felsige Landzunge ins Meer, auf deren Spitze ein seltsames sechseckiges Gebäude stand, das ein Leucht- oder Wachturm sein mochte und auf dessen Dach viele Fahnen flatterten. Links und rechts vom Turm lagen sechs Inseln -einige recht nah, andere weiter weg. Jedenfalls war keine nahe genug, um Einzelheiten zu erkennen oder zu sehen, ob sie bewohnt war. Unter mir lag eine zerklüftete Felsenküste. Ich glaubte, weiter rechts an der Steilwand ein verfallenes Gebäude zu erkennen, einen Kuhstall vielleicht oder eine Art Schutzhütte. Ich schob mich vorsichtig an die Felskante und stellte fest, dass es nicht ganz senkrecht in die Tiefe ging. Zwar fielen die Klippen steil ab, doch es gab einen schmalen Pfad, der sich im Zickzack hinunter zum Meer schlängelte, und Alice winkte mir, ihr zu folgen. Das war der gruseligste Teil der Reise. Kaum trat ich aus der Höhle, spürte ich den kräftigen, feuchten Wind. Der Pfad war wirklich sehr schmal und bot wenig Halt. Durch die Rucksäcke hatten wir außerdem Oberlast, was unseren Tritt nicht sicherer machte. Schließlich aber hatten wir es im Schneckentempo nach unten geschafft und entdeckten, was wir von der Höhle aus nicht sehen konnten: Direkt am Ufer stand ein kleines weißes Haus mit grauem Schindeldach. Der Schornstein rauchte, und ein paar Signalflaggen wehten - nicht die modernen elektrischen Fahnen, sondern die alten, die noch von Hand aufgezogen und eingeholt wurden. Auf einer Seite des Hauses befand sich ein Holztor, das auf einen kleinen Landungssteg führte, an dem ein Boot vertäut war. 350 Als wir uns dem Haus näherten, kam ein kleiner Junge herausgelaufen und rief: »Kommt rein! Es gibt was zu essen!« Mir fiel sofort auf, dass er rotes Haar und Sommersprossen hatte — genau wie ich. Also traten wir ein. Die Tür führte direkt in die Küche, wo ein stämmiger Mann am Herd stand und in einem großen Topf rührte. Als er sich umdrehte, sah ich, dass er nicht nur rotes Haar, sondern auch einen roten Bart und natürlich Sommersprossen hatte. Er schien etwa im Alter meines Vaters zu sein, während der Junge erst neun oder zehn war. All das war einfach zu viel für mich. Ich hatte mich von Liam getrennt, war fünf, sechs Tage unter der Erde gewesen, hatte meinen Hals riskiert, um die Steilküste hinunterzuklettern, war übermüdet, hatte jede Menge Blasen und blaue Flecken und wusste kaum, wo ich mich befand, und jetzt stand ich auch noch Leuten gegenüber, die aussahen wie verloren geglaubte Verwandte. Ich denke, ich fiel in eine Art Trance. Jedenfalls nahmen sie mir den Rucksack ab, setzten mich an den Tisch und gaben mir einen Teller Suppe. Plötzlich entdeckte ich, wie ausgehungert ich war, und konnte nur noch ans Essen denken. Nach einer Weile fühlte ich mich wieder in der Lage, mich ein wenig auf meine Umwelt einzulassen. Alice saß neben mir und war offenbar in besserer Verfassung - jedenfalls hatte sie ihr Essen nicht runter geschlungen und brachte es obendrein fertig, sich zu unterhalten. Also hörte ich zu, antwortete, wenn ich etwas gefragt wurde, und reimte mir langsam zusammen, was los war. Der Mann - sein Name war Peter - schien ein Cousin 351 meines Vaters zu sein; seine Mutter und die Mutter meines Vaters waren jedenfalls Schwestern gewesen. Der Kleine hieß Simon und war Peters Sohn. Die beiden kümmerten sich um das Fährboot. Ich schätze, es hat auch mal eine Mrs Peter gegeben, doch Vater und Sohn erwähnten sie nicht, und ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Die beiden unterhielten sich mit Alice, vor allem über die Gewässer rund um die Inseln und darüber, wann sich die Fähre gefahrlos benutzen ließ. Alles klang wirklich kompliziert, und ich konnte mir absolut nichts davon merken - ich glotzte nur auf die Gesichter vor mir. Nach einer Weile stellte ich fest, dass das Gespräch stockte und alle mich ansahen. Ich vermutete, jemand habe mich etwas gefragt und alle würden auf die Antwort warten. »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich war gerade in Gedanken.« Da warf Peter mir ein innig verstehendes Lächeln zu, das mich sehr an meinen Vater erinnerte, und meinte: »Ich hab nur gesagt, dass dein Vater - also mein Cousin Michael - vor ein paar Monaten hier angekommen ist. Er reist herum und zeichnet Landkarten. Ich weiß nicht, auf welcher Insel er gerade ist. Deshalb dachten Alice und ich, es wäre vielleicht am besten, du bleibst bei uns, bis wir ihn gefunden haben. Vorausgesetzt, du hast Lust dazu.« Seine Stimme klang so rau wie beruhigend. »Ja«, erwiderte ich. »Sehr gern.« Dann fiel mir auf, wie erschöpft ich war. »Ich möchte nicht unhöflich sein«, sagte ich, »aber darf ich mich jetzt schlafen legen?«

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352 Die Geschichte des Zeitalters der Könige Heute ist klar, dass Hochmeister Fang geisteskrank war, als er mit seiner Palastwache aufbrach. Weniger genau wissen wir, wann und wie die Krankheit ausgebrochen ist, doch die meisten Historiker sind überzeugt, das Königliche Signalnetzwerk und das durchs Netz verbreitete Koboldfieber seien entscheidend daran beteiligt gewesen. Klar ist auch, dass die Gründung der Königlichen Katzenmädchen im ersten Jahr der Unpässlichkeit von König Matthew nicht als das Werk eines geistig gesunden Menschen begriffen werden kann. Der erste Beweis dafür, dass das Netz von Koboldfieber befallen war, datiert freilich schon aus früherer Zeit, aus dem zehnten Jahr der Regentschaft von König Matthew nämlich. Doch es ist strittig, ob dieser Befall die Ursache oder eine Folge von Fangs Wahnsinn war. Einige Historiker vertreten den Standpunkt, Fang selbst habe die Kobolde - ob vorsätzlich oder fahrlässig — ins Netz gelassen. Andere meinen, die Verantwortung liege anderswo, und haben diese Behauptung durch die Veröffentlichung unterschiedlich plausibler Theorien zu untermauern versucht. Jedenfalls waren der Usurpator und seine Männer ausgesprochen schlecht auf die Herausforderungen vorbereitet, die vor ihnen lagen. Sicher, sie hatten Musketen und Bajonette dabei, doch ihr Vorrat an Lebensmitteln und Munition war dürftig, und ihre Zeltausrüstung und ihr Grabungswerkzeug füllten nur einen Handwagen. Sie besaßen keine Landkarte der Inseln, weil es damals noch keine gab. Sie verfügten über keinerlei Kontakt zu den Insulanern, hatten keine Informationen über 353 die Gezeiten und Meeresströmungen rund um die Inseln und wussten nicht, wie sie leidlich sicher von einem Eiland zum nächsten kommen sollten. Die von ihnen gewählte Route über die Königlichen Landstraßen erwies sich als langsam und schwierig. Obwohl es ihnen immerhin gelang, sich aller Banditen und Wegelagerer zu erwehren, wurden sie doch vom miserablen Zustand der Straßen behindert, von Bäumen, die quer auf der Fahrbahn lagen, und von dem immer schlechteren, eisigen Wetter. Die Truppe geriet immer mehr in Verzug, und Fang erreichte die Nordostküste des Königreichs erst, als König Matthew sich schon seit Monaten auf der Erdinsel aufhielt. Unterdessen hatten die Bannisters bei ihren Verhandlungen mit dem Rat der Weisen bereits wichtige Fortschritte erzielt. Fang wusste nicht, dass die Königlichen Landstraßen nicht bis in den äußersten Nordosten des Landes gebaut worden waren und dass die von ihm gewählte Route ein gutes Stück vor der felsigen Landzunge einfach in der Pampa endete. Sicher, er war nicht mehr weit von der Erdinsel entfernt, doch die Insel des Verlangens lag ebenfalls in Reichweite - genau wie die Himmelsinsel und die Insel der Zukunft. Fang und seine Garde hatten natürlich keine Ahnung, auf welcher dieser Inseln - wenn überhaupt! - der neue Brennstoff verborgen sein mochte. Der Landungssteg mit dem Fährboot war ihrem Blick entzogen, und selbst wenn sie ihn entdeckt hätten, wären sie nicht in der Lage gewesen, die zerklüfteten Felsformationen zu überwinden und dorthin zu gelangen. Aus dem Erdkundeunterricht wissen unsere Leser sicher noch, dass die öde Nordostküste, vor der die Inseln liegen, die bei weitem unwirtlichste Gegend unseres Landes ist. Die Bewohner dort verdienen ihren mageren Le- 354 bensunterhalt mit" Ziegen, Lamas und anderen Paarhufern, die sie auf den Hängen grasen lassen, und sprechen eine degenerierte Mundart, die kultivierte Zuhörer kaum verstehen. Außerdem legen sie den Insulanern gegenüber seit langem eine stille Gleichgültigkeit an den Tag und sind, was Fremde angeht, traditionell misstrauisch und alles andere als hilfsbereit. So sahen sich Fang und seine Wolfsjungen einem Willkommen gegenüber, das nur als kühl bezeichnet werden kann. Die Hirten waren nicht gastfreundlich und verweigerten jegliche Auskunft. Nur das brutale Auftreten der Wolfsjungen brachte sie dazu, die Eindringlinge überhaupt auf ihrem Land zu dulden. So kam es, dass Hochmeister Fang und seine Elitetruppe in einem primitiven Unterschlupf kampieren mussten, den sie mit Scharen von Lamas zu teilen gezwungen waren. Die Schutzhütte steht noch heute als Zeugnis von Fangs Verblendung und dient inzwischen der Erbauung von Schülern und anderen Besuchern. Die hintere Wand und der Fußboden sind aus dem Fels gehauen. Das Dach ist aus Stroh und ruht auf Stangen. Die Seitenwände bestehen aus schief genagelten Brettern, während das Gebäude vorn offen ist, dem Walten der Elemente dort also keinen Widerstand entgegensetzt. Es muss eine absolut furchtbare Zeit für die Wolfsjungen gewesen sein. Sie wussten nicht, wie sie auf die Inseln kommen oder auch nur die felsige Landzunge erkunden sollten, die weit ins Meer ragte. Die See war rau, der Wind stürmisch und eisig. Wir glauben, dass sie gezwungen waren, eng aneinandergekauert und nur in Gesellschaft der Lamas in dem Unterstand zu schlafen, sich weder waschen noch ihre Sachen wechseln konnten, sich von dem ernähren mussten, was sie in den kar- 355 gen Hügeln fanden, und in steter Furcht vor den immer zusammenhangloseren Fantasien ihres Anführers lebten. Doch sie mussten nicht lange warten. Nach einigen Tagen besserte sich das Wetter, und sie konnten den Unterschlupf verlassen, um zu ihrem letzten, fatalen Marsch aufzubrechen. (aus Band 4: Die Regierung von Fang dem Usurpator) 356 ACHTES KAPITEL

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Winde und Gezeiten So sind die Kampflinien denn endlich gezogen. Im Zentrum des Labyrinths lauert noch immer der Widerling -böse, überheblich und unheilvoll -, während meine Freunde und ich uns hier am Rand vorsichtig, womöglich gar ein wenig ängstlich zum letzten Gefecht in Stellung gebracht haben. Der Magier mit seinen Geräten, Der Hauptmann mit seinen Vorschriften, Der Kartograf mit seinen Plänen, Das Mädchen mit der ungestümen Leidenschaft, Der Junge mit der leisen, ja flüsternden Stimme Und ich - wir alle haben uns in Stellung gebracht. Ja, Leonardo, auch ich bin dabei. Endlich hast du begriffen, dass dein Beitrag geringer ist als der meine und du mich nur unterstützen und mir - genau wie alle anderen - zur Hand gehen sollst, damit ich vollbringe, was vollbracht werden muss. Und endlich, Leonardo, hast du auch meine Gestalt erblickt. Meine Gestalt in ihrer Furcht erregenden Stärke, entsetzlichen Schnelligkeit und atemberaubenden Wendigkeit. Denn ich bin stärker als du, Leonardo, schneller und geschickter. 357 Wo du zögerst, schreite ich aus. Wo du stolperst, springe ich vor. Und wo du pausierst, um Atem zu schöpfen, Marschiere und marschiere und marschiere ich. Ja, Leonardo, du hast mich gesehen, doch mein Gesicht entzieht sich dir weiterhin. Denn ich habe noch keines. Stark bin ich, Schnell und anmutig- Doch ich habe noch kein Gesicht. Denn obwohl ich stärker, schneller und geschickter als der Widerling bin, fürchtet er mich nicht. Ehe ich dem Widersacher nicht den kalten Hauch der Angst entgegenatmen kann, werde ich nicht siegen. Doch wenn ich mein Gesicht finde, wird er sich fürchten, und wir können ihn in Schach halten. Ich weiß, dass mir bald gewährt wird, woran es mir mangelt. Denn irgendwo - an den äußersten Rändern des Netzwerks oder in den vergessenen Winkeln des Landes - sammeln sich weitere Kräfte, Köpfe und Stimmen. Irgendwo wartet etwas. Endlich kann ich es deutlich erkennen, Leonardo. Jetzt, da die Wolken sich teilen, der Wind nachlässt und die Möwen ans Meer zurückgefunden haben, ist mir klar, dass das, wonach wir suchen, jenseits der Küste wartet: auf den entlegensten Inseln des Königreichs. 358 Was wir suchen, ist unversehrt Und ruht in völliger Stille. Es ist geduldig und wartet, Bis sein Moment gekommen ist. Es harrt seiner Berufung entgegen, Die sehr bald ergehen wird. Denn wir suchen das Fest der Winde und Gezeiten, Leonardo, jenes wunderbare Fest, das nur alle sechs Jahre auf den Inseln stattfindet und in dem alle Stimmen sich zu einer harmonischen Gesamtstimme verbinden und alle Dinge zusammenwachsen, die zusammengehören und viel zu lange getrennt voneinander haben existieren müssen. Und auf dieses Fest brauchen wir nicht mehr lange zu warten. Ashleigh im Fährhaus Am nächsten Tag war ich noch immer ziemlich erschöpft. Ich schätze, ich döste den Großteil des Vormittags, denn ich erinnere mich an kaum mehr als an ein Daunenbett. Es war sehr dick, weich und schwer, fühlte sich aber recht kratzig an - vermutlich, weil da und dort Federn durch den Bezug stießen. Vater und Sohn hatten mir einen großen gestreiften Pyjama gegeben und mich im Zimmer von Simons älterem Bruder Mark einquartiert, der inzwischen erwachsen war und eigene Wege ging. Es war ein seltsamer Raum -ganz leer (bis auf Bett und Kommode), die Wände unverputzt, der Fußboden aus Stein. Auf dem Haken an der 359 Tür hing ein alter, blaugrau karierter Bademantel, der mir ein schönes, behütetes Gefühl vermittelte. Davon abgesehen aber gab es weder Kleidung noch Bilder noch altes Spielzeug. Später stellte ich fest, dass die Insulaner nicht so an Sachen hängen, sondern nur behalten, was sie brauchen, und den Rest verschenken. Doch das Beste an dem Zimmer war die Aussicht. Das kleine Fenster wies aufs Meer hinaus, wo in der Ferne zwei Inseln zu erkennen waren - die Insel der Vergangenheit und die der Vernunft, wie ich bald erfuhr. Wenn ich nicht gerade schlief, blickte ich aufs Meer, auf die Inseln und den Himmel. Während eines Großteils meines Aufenthalts im Fährhaus war das Wetter ziemlich scheußlich. Daher war die See meist stürmisch und grau, und stets zogen schwere Wolken über den Himmel. Am späten Vormittag brachte Peter mir Essen aufs Zimmer, eine Art Eintopf, glaube ich, der mich ein wenig zu

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Kräften kommen ließ. Bald fühlte ich mich wieder recht unternehmungslustig. Als ich erneut Essen roch, spazierte ich daher in die Küche, um nach dem Rechten zu sehen. Peter stand an einem großen alten Eisenherd mit Bratröhre, Feuerluke und drei Kochplatten. Als er die Feuerluke öffnete, schlug mir ein wunderbar warmer, erdiger Geruch entgegen, der daher rührte, dass die Insulaner weder Holz noch Kohle verfeuern, sondern eine Art Torf, den sie auf einer der Inseln abbauen. Nach einer Weile fiel mir das Fehlen von Alice auf. Als ich wissen wollte, wo sie war, sagte Peter, sie habe auf die Insel der Vernunft reisen und mit dem Rat der Weisen sprechen müssen und er habe sie hingebracht, als ich schlief, weil die Gezeitenströme das sonst erst Tage später zugelassen hätten. 360 Im Laufe der nächsten Wochen erfuhr ich ziemlich viel über die hiesigen Gewässer und Strömungen. Anscheinend fallen die Gezeiten von Tag zu Tag anders aus, und die Meeresströme und der starke Wind wechseln je nach Jahreszeit. Dann gibt es viele teils breite, teils enge Priele zwischen den Inseln sowie zwischen Inseln und Küste, durch die das Wasser mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit fließt. Und inmitten der Inseln liegt die schmale Landzunge, unter der ein meist überfluteter Tunnel verläuft, durch den die See auf kürzestem Weg von der einen Seite der Halbinsel auf die andere gelangen kann. Unterhalb der Flutlinie gibt es ungemein viele Steine, Dämme und andere Dinge, die bei Ebbe längst nicht immer zu sehen sind. Insgesamt also ist das Wasser ständig in Bewegung - mal in diese, mal in jene Richtung, mal rasch, mal langsam. Das bedeutet, dass die Gezeiten überall anders ausfallen. Mancherorts scheint die See friedlich, andernorts hingegen bildet die Strömung immerwährende Strudel. Wer also mit dem Boot unterwegs sein will, muss sich in diesen tückischen Gewässern genau auskennen, und nur meine Cousins waren clever genug für den Fährdienst zwischen den Inseln. Als ich wieder einigermaßen erholt war, ließ Peter mich an seinem Alltag teilhaben, doch ich stellte bald fest, dass es um diese Jahreszeit fast nichts zu tun gab. Die Gewässer waren meist überaus gefährlich, und bis zum Sommer wollten ohnehin kaum Besucher auf die Inseln. Also waren Vater und Sohn vor allem damit beschäftigt, die Fähre zu reparieren. Ich half Simon, das Pech zu erhitzen, mit dem die Außenhaut des Bootes kalfatert wurde, und einmal ließ Peter mich ein paar Nieten in die Bordwand schlagen. Wenn es selbst dafür zu nass war, saßen die zwei am Küchentisch, gingen ihre 361 Diagramme und Seekarten durch und brachten hier und da Korrekturen an. Mitunter tauchte jemand auf und wollte übergesetzt werden, oder es wurde ein Signal aufgezogen, demzufolge jemand von einem Eiland abgeholt werden wollte. In so einem Fall durfte ich Simon helfen, die Fähre klarzumachen, und wenn Gezeiten und Strömungen es zuließen, machte Peter die Leinen los und lief aus. Manchmal zog er ein großes Rahsegel auf, doch angesichts widriger Windverhältnisse musste er meist rudern. Simon war in der Ausbildung und begleitete seinen Vater stets. Er war ein seltsamer Junge und erinnerte mich ein wenig an meinen Bruder Maxie. Zwar sah er ihm nicht ähnlich, doch beide waren sehr schweigsam. Ich fuhr nur ein oder zwei Mal mit den beiden mit, denn das gefiel mir nicht besonders. Selbst in angeblich ungefährlichen Situationen empfand ich es da draußen als sehr wechselhaft und hatte immer Angst, das Boot werde sinken. Als Peter sah, wie besorgt ich war, lachte er nur und meinte, ich sei eine richtige kleine Insulanerin. Offenbar mögen die Inselbewohner das Meer nicht, denn sie steigen nur in ein Boot, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt, und fahren nie zum Fischen raus. Simon sagte mir, seitdem die Möwen verschwunden seien, gebe es hier draußen jede Menge Fische, doch die Insulaner fangen sie nur vom Land aus. Allenfalls Touristen trauen sich mitunter zum Angeln aufs Meer. So kam es, dass ich ziemlich viel im Haus war, am großen alten Küchentisch saß und den Geschichten lauschte, die ich über die Inseln und ihre Bewohner zu hören bekam. Offenbar gibt es sechs Hauptinseln, die eine schmale Landzunge hufeisenförmig umgeben. Am Ende dieses Vorgebirges befand sich früher ein Heiligtum, doch heute 362 steht dort nur noch ein alter Wachturm - der sechseckige Bau nämlich, den ich am Tag unserer Ankunft vom Höhleneingang aus gesehen hatte. Heutzutage dient der Turm als Signalwache. Selbst die Leute hier draußen können also ins Signalnetzwerk, doch das Gebäude ist so schwer zu erreichen, dass kaum jemand dieses Angebot zu nutzen scheint. Auf jeder Insel geschehen verschiedene Dinge, und Peter hat viel Zeit damit verbracht, mir alles zu erklären, doch ich hab die Einzelheiten nie behalten können. Simon hat mir sogar einen Merkvers beigebracht, den er in der Schule gelernt hat, um die Charakteristika der sechs Inseln leichter auseinander halten zu können. Dieses Gedicht hat auch mir die Orientierung erleichtert, doch leider habe ich es teilweise schon wieder vergessen. Es gibt die zwei Inseln, die ich von meinem Fenster aus sehen kann: die Insel der Vernunft, wo der Rat der Weisen zusammentritt, und die Insel der Vergangenheit, auf die die Alten übersiedeln, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Am anderen Ende der Landzunge liegt die Erdinsel, wo die Männer den Torf abbauen, den hier alle verfeuern. Obwohl die Erdinsel dem Landungssteg demnach - aus der Luft betrachtet - sehr nahe liegt, dauert die Reise dorthin am längsten, denn man muss die ganze Landzunge umschiffen. Dann gibt es noch drei weitere Inseln, die ein wenig weiter draußen liegen. Auf einer davon, an deren Namen ich mich allerdings nicht erinnern kann, gehen die Kinder zur Schule; die zweite ist die Himmelsinsel, die mir das interessanteste Eiland zu sein scheint, weil die Insulaner dorthin reisen, um ihre Übungsfolgen zu turnen und zu tanzen; und dann muss

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es noch eine Insel geben, an die ich mich aber absolut nicht mehr erinnere. 363 Als ich mehr über die Gewässer rings um die Inseln - über die Gezeiten, Strömungen, Strudel und so weiter - zu erfahren begann, fragte ich mich natürlich bald, wie die Leute von einem Eiland zum anderen gelangen, da sie doch so ungern Boote benutzen. Daraufhin erklärte Peter mir alles über die Dämme, die die Inseln verbinden. Anscheinend haben vor langer Zeit große Ingenieure auf den Inseln gelebt und ein Netz von Brücken und Dämmen angelegt, das die Inseln früher miteinander verbunden hat. Seit damals aber ist der Wasserspiegel langsam gestiegen, so dass die Dämme inzwischen fast die ganze Zeit unter Wasser liegen und nur ab und an im Wechsel der Gezeiten hier oder da einer aus den Fluten sieht. Unter günstigen Bedingungen können die Insulaner also noch immer auf den alten Dämmen zum nächsten Eiland gelangen. Das bedeutet natürlich, dass die Bewohner sich mit Strömungs- und Gezeitenverhältnissen genau auskennen müssen, um sicher sein zu können, rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu kommen. Selbstverständlich hat jeder eine recht genaue Vorstellung von den Strömungen rings um das eigene Eiland und in den Zwischenräumen zu den direkt benachbarten Inseln, doch die Einzigen, die wirklich wissen, wie alles zusammenhängt, sind die Fährleute, also Peter und Simon - und Mark natürlich, aber der war fortgegangen. Nach ein paar Wochen wurde das Wetter besser, und die ersten Touristen tauchten auf und wollten auf die eine oder andere Insel gebracht werden. Sie kamen aus dem ganzen Königreich, einige sogar aus der Hauptstadt, und klagten die ganze Zeit über den Zustand der Straßen, über Banditen, Wolfsjungen und den ganzen Ärger mit dem 364 Signalnetzwerk. Plötzlich merkte ich, dass mir diese Dinge nach den Ereignissen der letzten Monate völlig unwichtig erschienen. Zugleich aber stellte ich fest, dass sich alle auf das Fest freuten, das Alice mal erwähnt hatte. Deshalb fragte ich Peter eines Abends, worum es bei dem Fest eigentlich ging. Er hackte gerade Suppengemüse, und Simon half ihm dabei. Erst nach, einiger Zeit sagte der Fährmann: »Das Fest der Winde und Gezeiten - habt ihr in eurer Hauptstadtschule eigentlich gar nichts gelernt?« Ich wusste, dass er bloß einen Witz machte, denn ich kannte ihn inzwischen schon ganz gut. Also warf ich nur ein paar Kartoffelschalen nach ihm und wartete, bis er fortfuhr. »Es findet im Frühling statt, aber nur alle sechs Jahre«, sagte er nach einer Weile. »Nur dann sind alle Rhythmen der Gezeiten, Winde und Meeresströmungen kurzzeitig synchron.« »Sie bilden also - mathematisch gesehen - das kleinste gemeinsame Vielfache?«, warf ich ein. »Gut möglich. Damit kenne ich mich nicht aus. Aber an diesem einen Tag im Jahr, nein, alle sechs Jahre ist der Wasserstand so niedrig wie nie, und alle Dämme liegen frei. Dann wird umgezogen! Wer die Insel wechseln will, zieht an diesem Tag mit seinem Hausstand in seine neue Heimat.« »Und deshalb der Name >Fest der Winde und Gezeiten^« »Nicht nur. Auch andere Dinge geschehen an diesem Tag. Die Zurückbleibenden singen Beschwörungen. Jede Insel hat ein eigenes Lied, und die Lieder verschmelzen miteinander. Und die Leute auf der Himmelsinsel haben eine spezielle Übungsfolge. So ist es insgesamt schon ein 365 großer Tag für uns. Es gibt immer auch einige Touristen, die sich das Ganze ansehen, aber wir hängen das Fest nicht an die große Glocke. Simon war letztes Mal noch zu jung, um sich gut daran zu erinnern. Aber diesmal bist du schon total aufgeregt, stimmt's?« Er streckte die Hand aus und strich seinem Sohn durchs Haar. »Und wann ist es so weit?« »Übernächste Woche. In gut zehn Tagen.« In dieser Nacht schlief ich schlecht und dachte immer wieder an die vielen Rhythmen der Gezeiten und Meeresströmungen, an die Felsenküste und die Inseln, an die alten Brücken und Dämme, die unter Wasser auf den großen Moment warteten. Ich fragte mich, wie viel davon ich würde sehen können, und obwohl ich an alldem nicht so sehr beteiligt sein würde wie die Einheimischen, war auch ich schon total gespannt darauf. Am Rand des Spielfelds »Was ist das eigentlich für ein Fest, Meister?«, rief Joey - seit neuestem im Stimmbruch - quer durch die Signalwache. »Das weiß ich auch nicht genau. Irgendeine Musiksache, die die Insulaner auf die Beine stellen, glaube ich. Blaise will das unbedingt hören - also bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als mitzumachen.« Seit dem schicksalhaften Tag, da er Blaise zum ersten Mal im Spiegel gesehen hatte, spürte Leonardo, dass der Kampf gegen Lee nicht mehr allein in seiner Hand lag. Je öfter ihm Blaise begegnete, desto weniger begriff der Magier, wie ihm geschah. Schließlich hatte er doch all 366 die Geräte entworfen, gebaut und mit dem Musikapparat verbunden, all die zusätzlichen Helfer gewonnen und sogar ihre Stimmen auf Pergament gebannt. Doch nun hatte er das Gefühl, beiseite gestoßen und von dem ganzen Vorhaben gerade in dem Moment ausgeschlossen worden zu sein, da es den Höhepunkt ansteuerte. Er kam sich zum Maschinisten degradiert vor, dessen Verantwortung sich nur noch auf einige Handgriffe erstreckte, die Joey genauso gut ausführen konnte. Aber wenn Blaise es so haben will, dachte Leonardo, werde ich mich nicht mit ihm streiten. Schließlich hab ich noch andere Dinge zu tun, bis Blaise mich wieder herbeizitiert. Er ging zur Kaffeemaschine und stellte erfreut fest, dass Joey frischen Kaffee aufgesetzt hatte.

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»Milch und Zucker, Joey? Joey?« »Mir egal - wie Sie wollen, Meister!« Der Junge saß mal wieder an der Komplexen Empathiemaschine und bewegte ihre Handgriffe so schnell wie routiniert. In eine unbekannte Herausforderung vertieft, achtete er kaum auf das, was der Magier sagte. Niedergeschlagen stellte Leonardo ihm einen Becher hin. »Vorsicht, heiß.« Da er keine Antwort bekam, zuckte er die Achseln und ging. Der Boden der Signalwache war recht schmutzig. Wo Joey wohl die Putzsachen aufbewahrte? Als Leonardo den Staub auf den Kies vor dem Eingang gekehrt hatte und — auf seinen Besen gestützt - das fahle Sonnenlicht genoss, hörte er den Jungen rufen. »Dieser Michael Brown versucht, Sie zu erreichen, Meister. Es geht um irgendwas für das Fest.« Leonardo seufzte. Seit Blaise sich für das Fest der Winde und Gezeiten interessierte, hatte der Magier immer öfter mit Rusty zu tun. Verschiedenste Vorkehrungen 367 mussten getroffen werden, um die zum Chor vereinten Stimmen der Insulaner im Netz zu verbreiten, und Leonardo war dabei auf die recht beschränkten technischen Mittel seines Freundes angewiesen. Widerwillig ging er ins Haus und setzte sich an die Signalmaschine. In dem vertrauten Sechseck wurde Rusty flimmernd sichtbar. »Na?«, ächzte Leonardo. »Hast du die Fernrohre inzwischen?« »Alles bestens«, gab Rusty zur Antwort. »Aber ich hab noch immer Probleme mit den Mikrofonen. Hier weiß niemand, was das überhaupt ist. Auf der Himmelsinsel haben sie es nicht so mit Technik.« »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als mit Hörrohren zu arbeiten«, sagte Leonardo. »Aber wir müssen sie akkurat platzieren und sollten deshalb Halterungen für sie zimmern. Kannst du ein wenig Bauholz auftreiben?« »Das dürfte kein Problem sein«, erwiderte Rusty, nestelte an der Innentasche seiner Lederjacke, zog einen Schreibblock hervor und machte sich eine Notiz. »Übrigens haben wir noch immer nur vier Hörrohre. Ich schätze, ich hab noch zwei entdeckt, aber die sind auf der Erdinsel, und in den nächsten Tagen ist die Strömung sehr ungünstig. Ich kann die Insel wohl erst am Tag des Festes erreichen.« »Wenn's nicht anders geht, wird Blaise damit leben müssen«, brummte Leonardo. »Hoffen wir nur, dass die Geräte dann sofort anstandslos funktionieren.« »Gut. Gibt's sonst noch was? Ich muss nämlich rasch zurück - sonst steht der Damm wieder unter Wasser.« »Ich weiß nicht«, zögerte Leonardo. »Gibt's noch was, Joey?« 368 »Wir brauchen mehr Schläuche«, rief der Junge prompt. »Für die Verbindungen. Viel mehr Schläuche.« »Richtig«, sagte Leonardo verlegen. »Hast du gehört, Rusty? Ohne den Jungen wäre ich aufgeschmissen.« Ashleigh geht auf Entdeckungsreise Ein paar Tage später wachte ich auf, und die Sonne schien durch die Vorhänge. Sofort war mir nach einem Ausflug zumute. Ich hatte Lust, zum alten Wachturm an der Spitze der Landzunge zu gehen, und fragte Peter beim Frühstück danach. Er meinte, das sei eine etwas knifflige Klettertour, doch wenn Simon mitkäme, dürfte es kein Problem sein, denn er kenne den Weg. Das hörte sich gut an. Also schmierten wir nach dem Abwasch Butterbrote und stiegen den Pfad zur Höhle hinauf, wobei Simon voranging. Als wir oben ankamen, entdeckte ich einen weiteren Weg, der schmal und kurvenreich auf dem Kamm der Landzunge verlief. Er sah wirklich gefährlich aus, da der Fels zu beiden Seiten steil abfiel. Wie tiefes da runterging! Und unten lagen große, zerklüftete Felsbrocken, an denen sich die Wellen brachen! Doch Simon schien das nichts auszumachen: Er ging mit seinem im Sturmwind flatternden Rotschopf so lässig voran, als würde er in der Stadt auf dem Gehsteig spazieren. Anfangs musste ich mich sehr bemühen, mit ihm Schritt zu halten, doch bald hatte ich den Bogen raus. Ich schätze, die Übungen, die Alice mir beigebracht hatte, kamen mir nun zupass, denn als es mir gelang, mich einzig auf den Pfad zu konzentrieren, konnte ich ohne große Angst weitergehen. 369 Bald verbreiterte sich die Landzunge, und als wir auf einer Höhe mit dem Wachturm waren, erreichten wir eine große, ebene Grasfläche. Der Pfad führte etwas vom Turm weg, doch wir gingen ihn bis zum Ende. Dann schaffte ich es schließlich, die Augen vom Boden zu heben und mich in Ruhe umzusehen. Der Ausblick war fantastisch. Mir fiel auf, dass der Turm genau im Zentrum der Inselgruppe stand und man von dort jedes Eiland sehen konnte. Links und rechts ging es nach ein paar Metern noch immer steil abwärts, doch vor uns fiel die Landzunge recht sanft zu einem kleinen Strand ab, der einem großen, zerklüfteten Eiland gegenüberlag. »Die Himmelsinsel«, sagte Simon. »Der Damm dorthin taucht heute aus den Fluten. Ich glaube, es ist so weit- schau!« Und tatsächlich zogen die Wellen sich zurück, und ich sah den Damm - einen holprigen Steinweg, der direkt zur Insel führte. »Der taucht alle paar Tage auf. Ob wohl jemand kommt?« Wir warteten ab. Dann sah ich von ferne eine Gestalt nahen. Bald stellte ich fest, dass es sich um einen Mann handelte, der etwas zog, das nach einem Handkarren voller Gerumpel aussah. Die Art, wie er ging, kam mir

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bekannt vor. Als er das Ende des Damms erreichte und den Grashang hochstieg, war mir - noch ehe ich sein Gesicht gesehen hatte - klar, dass es sich um meinen Vater handelte. Bald sah ich, dass auch er mich erkannt hatte, doch er ließ den Wagen nicht stehen, sondern zog ihn weiter bergauf. Ich aber konnte mich nicht länger beherrschen, rannte ihm entgegen und schloss ihn in die Arme. 370 »Hallo, Ash«, sägte er nach kurzem Verschnaufen. »Ich hab mich schon gefragt, wann du endlich kommst. Ach, Simon, hallo - dich hab ich erst gar nicht gesehen. Könnt ihr mir helfen, die Sachen hier in den Turm hinaufzutragen?« Danach hatte ich ziemlich viel mit meinem Vater zu tun. Er übernachtete ein paar mal bei uns im Fährhaus, und Simon musste deshalb in der Küche auf dem Boden schlafen, aber das schien ihm nichts auszumachen. Es stellte sich heraus, dass mein Vater sich nirgendwo niedergelassen hatte, sondern von Insel zu Insel gereist war, um Zeichnungen und Skizzen für die Karten zu machen, die er anzufertigen gedachte, dann aber durch ein blödes Vorhaben von Leonardo Pegasus abgelenkt worden war. Der alte Mann hatte ihn offenbar dazu gebracht, im Wachturm einige Geräte aufzubauen, um das Fest übers Signalnetzwerk verfolgen zu können. Für mich klang das total verrückt - denn wozu soll man sich Musik anhören, wenn man nicht da ist, um mitzumachen? -, doch mein Vater schien ziemlich besessen von der Idee. Also half ich ihm, wenn ich Zeit hatte. Er baute an den Fenstern des Wachturms Hörrohre auf, die über enge Schläuche mit der Signalmaschine verbunden waren. Er machte jede Menge Theater wegen der Hörrohre, weil es nur vier gab, obwohl sechs hätten da sein sollen. Dann gab es wacklige alte Fernrohre auf Messingstativen, die auf die Inseln gerichtet waren. Ich wusste nicht, wie all das funktionieren sollte. Jedenfalls herrschte im Turm ein totales Chaos aus Kabeln und Stativen und so. Ob mein Vater wirklich wusste, was er tat? Bei so was war er nie gut gewesen. Aber er setzte immer wieder den Kopfhörer auf und bekam Nachrichten von Meister Pegasus und 371 diesem seltsamen Joey. Ich schätze, die beiden haben ihm genau erklärt, was er tun soll. Unterdessen passierte noch etwas Seltsames. Eines Nachmittags war mein Vater mit Simon aufgebrochen, um etwas zu holen, das er vergessen hatte, und ich war allein im Turm geblieben. Ich war es leid, an Drahtspulen rumzufummeln, und blickte lieber durch eins der Fernrohre. Ich brauchte etwas Zeit, es scharf zu stellen, doch dann konnte ich sehr gut sehen. Durch eins der Fenster, die über die Landzunge ins Hinterland wiesen, erkannte ich den Eingang der Höhle, in die der Tunnel mündete, durch den ich mit Alice gekommen war. Dann folgte mein Blick der Küstenlinie, bis die dem Festland nächstgelegene Insel mir die Sicht versperrte. Als ich das Fernrohr wieder scharf gestellt hatte, erkannte ich, dass es die Erdinsel war, denn ich sah Männer Torf stechen und auf Schubkarren laden. Dann ließ ich den Blick noch weiter nach rechts wandern und entdeckte den alten Unterschlupf, den ich am Ankunftstag gesehen hatte. Den hatte ich ganz vergessen, doch nun konnte ich den heruntergekommenen Schuppen genauer ins Auge fassen. Er war größer, als ich gedacht hatte. Seine Wände bestanden aus schäbigen alten Brettern, und das Strohdach hatte ein Loch. Doch diesmal waren Leute im Unterschlupf- und zwar kein Kegelclub, sondern Wolfsjungen. Zwanzig bis dreißig Wolfsjungen in verschossenen, zerrissenen Uniformen, einige sogar barfuss. Sie schienen nichts zu tun zu haben, lagen vor dem Unterschlupf im Gras und sahen zur Erdinsel hinüber. Vielleicht warteten sie auf die Ebbe? Ich kannte mich inzwischen gut genug aus, um zu wissen, dass sie darauf lange warten konnten, da es rund um die Erdinsel richtig tief ist und 372 der Damm erst in ein paar Tagen wieder auftauchen würde. Was mochte sie dazu bringen, am Ende der Welt in diesem lädierten Unterschlupf an der Steilküste auszuharren? Jedenfalls wirkten sie sehr genervt, und auch mich nervte ihr bloßer Anblick, doch dann trat jemand aus dem Schuppen. Er sah wichtiger aus als die anderen und trug eine schickere, mit Gold besetzte Uniform und einen Federhut. Plötzlich schien er mich direkt anzusehen. Er hatte ein zutiefst abscheuliches, verzerrtes Gesicht. Seine Haut war gelb, die lange Nase krumm, und in seinem zottigen Bart steckten kleine schwarze Schleifen. Es war das hässlichste Gesicht, das ich je gesehen hatte - und die stechenden Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken. Ich glaube, ich habe geschrien, als er mich ansah. Jedenfalls ließ ich das Fernrohr fallen, und mein Vater, der eben zurückkam, rief: »Um Himmels willen, Ash, pass doch auf! Solche Sachen sind hier draußen unersetzlich!« Ein paar Tage später konnte ich Peter fragen, ob er wisse, was die Wolfsjungen im Schilde führten, doch er meinte nur, ich solle mir keine Sorgen machen; von dort, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hätten, kämen sie nicht zum Landungssteg, denn dazu müssten sie eine senkrechte Steilwand runterklettern. Dann tauchte mein Vater auf, rief in heller Panik, er müsse unbedingt noch Schläuche von der Insel der Vernunft holen, und fragte, ob es möglich sei, mit der Fähre überzusetzen. Inzwischen waren es nur noch wenige Tage bis zum Fest, und außer Schläuchen musste mein Vater noch die beiden anderen Hörrohre holen - von der Erdinsel, glaube ich. Peter warf einen Blick auf seine Strömungstabellen und meinte, wenn er unbedingt übersetzen wolle, müssten sie sofort los. 373 Ich verstand wirklich nicht, wozu das ganze Theater diente. Sollte Meister Pegasus doch etwas von dem Gesang

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versäumen! Doch mein Vater und Peter spurteten zum Landungssteg, als sei das Ende der Welt nahe, und Simon und ich konnten sehen, was wir zum Abendessen bekamen. Es gab jede Menge Gemüse und etwas durchwachsenen Speck in der Speisekammer, doch ich hatte bei Liam kochen gelernt, kannte mich also nur mit Konservendosen aus. Simon allerdings konnte besser kochen, als ich erwartet hatte, und so kamen wir ganz gut zurecht. Der Magier schaltet sich ein In der Nacht vor dem Fest schlief Leonardo schlecht. Immer wieder döste er kurz ein, träumte schwer fassbare Fetzen von Geschichten und fuhr bei jedem Dielenknarren, jedem Schindelklappern wieder hoch. Er warf sich hin und her und suchte vergeblich nach einer bequemen Schlafstellung, holte sich noch eine Decke, warf sie wieder aus dem Bett, streckte sich, stand auf und strich auf dem Heuboden herum, ging auf die Toilette und marschierte ins Bett zurück, um die ganze Prozedur bald darauf erneut zu beginnen - und das sicher fünfmal. Als der Morgen graute, gab er den Kampf schließlich auf, zündete eine Kerze an und begann, sich für den Tag herzurichten. Ruth hatte zwar prächtig geschlafen, die Ruhelosigkeit ihres Mannes aber doch unterbewusst mitbekommen. Kein Wunder, dass sie froh war, das Bett nun für sich zu haben. Als sie schließlich das leise Geräusch hörte, mit 374 dem Leonardo sein Rasiermesser am Streichriemen abzog, öffnete sie die Augen. »Wann hab ich dich eigentlich das letzte Mal am helllichten Tage gesehen?«, murrte sie verschlafen. »Kommst du heute wieder spät nach Hause?« »Heute ist der große Tag«, erwiderte ihr Mann. Infolge der beim Rasieren erforderlichen Grimassen war seine Stimme verzerrt - das nahm Ruth jedenfalls an, denn sein Gesicht war vorübergehend hinter einer langen Unterhose verborgen, die einsam von einem Balken hing. »Hab ich dir das nicht erzählt? Mist, jetzt ist mir die Seife runtergefallen!« Diesem Ausruf folgte eine kurze Unterbrechung, in der Leonardo im Halbdunkel herumtastete. »Na bitte, da ist sie wieder. Ja, heute findet das Fest der Winde und Gezeiten statt. Darauf arbeite ich seit Beginn des ganzen Vorhabens hin - obwohl mir das anfangs wohl gar nicht so klar war. Dieses Fest ist der Höhepunkt von allem - sagt Blaise jedenfalls.« Ruth fragte nicht, wer Blaise war. Leonardos weitschweifige Schilderungen von seinen unsichtbaren Mitarbeitern interessierten sie schon lange nicht mehr. »... und deshalb komme ich heute vermutlich etwas später«, sagte der Magier gerade. »Aber ab morgen - das verspreche ich dir - hast du mich wieder ganz für dich allein.« »Hmm.« Ruth ließ sich den zweifelhaften Reiz dieser Aussicht durch den Kopf gehen. Es war nicht das erste Mal, dass Leonardo ihr so ein Versprechen gab. »Ich hab dein Mittagessen schon gestern Abend vorbereitet. Es liegt auf dem Küchentisch. Vergiss nicht wieder, es mitzunehmen. Auch ohne jeden Tag den blöden Hügel hochzuhetzen, hab ich Arbeit genug.« 375 Als Leonardo in die Signalwache kam, saß Joey schon wieder an der Komplexen Empathiemaschine. Die schmalen Schultern unter die Messingblende geschoben, kauerte er vor dem Okular. Als er die Tür quietschen hörte, setzte er sich auf, um den Magier zu grüßen, wobei sich seine Haltung entkrampfte. »Morgen, Meister! Die Maschine ist einsatzbereit. Die Inseln sind deutlich zu sehen. Allerdings passiert dort noch nicht viel.« »Wir sollten auch den Musikapparat klarmachen«, gab Leonardo zu bedenken. »Schon geschehen. Das Pergament liegt neben dem Schlitz - falls wir aufzeichnen wollen, was passiert.« »Funktionieren auch die übrigen Kontrollpulte?« »Tadellos - ich hab alle überprüft.« Leonardo wurde langsam ärgerlich. Konnte er seinem Helfer denn gar kein Versäumnis vorwerfen? Er startete einen letzten Versuch: »Und der Kaffee...?« »... ist gerade fertig geworden«, gab Joey selbstzufrieden zurück. »Ein Stück Zucker? Oder zwei?« Kurz darauf waren Magier und Assistent erfrischt genug, die Kopfhörer aufzusetzen, nach den Handgriffen zu langen, sich unter ihre Blenden zu beugen und durchs Okular der Komplexen Empathiemaschine zu schauen. Langsam tauchte einmal mehr der sechseckige Innenraum des Wachturms auf, von dem aus die Inseln zu sehen waren. Die Morgensonne ließ seinen bröckelnden Putz und die Holzmaserung der Bodenbretter wie Reliefs erscheinen. Durch jedes Fenster war eine Insel zu erkennen, mal fast rund und sanft gehügelt, mal rau und zerklüftet. Ganz schwach vernahmen sie das Seufzen der Wellen, das Flüstern des Windes. Im Gesicht 376 und an den Händen spürten sie beinahe das Prickeln der Gischt. Und sie fühlten die groß gewachsene Gestalt von Blaise, ihrem rätselhaften Cicerone, neben sich. »Alles klar?«, fragte er. »Alles klar«, brummte Leonardo. »Alles klar«, rief Joey. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann begannen in weiter Ferne die ersten Stimmen zu singen. Ashleigh trifft die Verschwörer wieder Mein Vater und Peter wollten erst am nächsten Vormittag zurück sein. Also mussten Simon und ich uns allein um das Fährhaus kümmern. Wir hatten ziemliches Glück, dass keine Besucher auftauchten, denn wir hätten sie

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nirgendwo hinbringen können, und Platz zum Übernachten gab es auch nicht. Eine Zeit lang spielten wir nur so herum. Simon zeigte mir jede Menge Seemannsknoten, und ich brachte ihm Bockspringen bei, was ich früher mit Maxie gespielt hatte. Er konnte es gleich besser als mein kleiner Bruder, doch nach einer Weile machte mich die Erinnerung an Maxie traurig. Darum sagte ich Simon, ich wolle allein spazieren gehen, und wanderte ein Stück die Küste entlang. Ihm schien das nichts auszumachen, denn er fand immer etwas, um sich zu beschäftigen. Jedenfalls sah ich einige Zeit aufs Meer und die Inseln hinaus und turnte ein paar von den Übungen, die Alice mir beigebracht hatte. Als meine Laune besser geworden war, kehrte ich zum Landungssteg zurück. Simon 377 ließ mich ein paar Seemannsknoten machen, um zu sehen, wie viel ich behalten hatte, und ich zeigte ihm den Flamingo-Kick und andere Griffe und Tritte zur Selbstverteidigung. Ich freute mich, sie noch zu beherrschen, doch dann wollte auch Simon sie ausprobieren und bekam den Bogen unheimlich schnell raus. Gegen Abend war er schon fast so gut wie ich. Das hat wohl damit zu tun, dass er Insulaner ist. Als es dunkel wurde, machten wir uns Abendessen und gingen dann ins Bett. Ich schlief wunderbar und wachte erst am Vormittag auf, als Stimmen aus der Küche kamen. Da ich Peter und meinen Vater erwartete, sauste ich die Treppe hinunter, hörte Simon dann aber sagen: »Nein, er ist noch nicht zurück, aber ihr habt Glück: Am späten Vormittag segelt er zur Erdinsel.« Dann kam ich in die Küche, und wer saß da? Charles und Sally! Ich war total verblüfft, sie zu treffen, denn ich hatte keine Ahnung, dass sie auf den Inseln waren, doch während Simon Tee machte, klärten sie mich ein wenig über die Ereignisse auf. »Es hat mit dem König zu tun«, sagte Sally. »Er hält sich auf der Erdinsel versteckt, und wir wollen ihn jetzt abholen, damit er den Rat der Weisen trifft.« »Wir waren auf der Insel der Vernunft und haben mit dem Rat verhandelt«, fügte Charles hinzu. »Und jetzt wollen sich die Weisen mit ihm treffen. Wir haben es gerade noch geschafft, auf dem Damm hierher zu kommen. « In diesem Moment ging die Tür auf, und Peter und mein Vater kamen durchnässt und verdreckt in die Küche. Es gab ein großes Hallo, und alles wurde noch mal erzählt. Kaum war Peter klar, was Charles und Sally vorhatten, war er wild entschlossen, ihnen zu helfen. Nor- 378 malerweise dauert es eine halbe Ewigkeit, um die Spitze der Landzunge herum zur Erdinsel zu segeln, doch da die Flut an diesem Tag sehr schwach ausfiel, war die sonst unter der Wasserlinie liegende Tunnelpassage durch die Landzunge ausnahmsweise ein paar Stunden schiffbar. Wenn man also nur kurz auf der Erdinsel anlegte, konnte man es hin und zurück durch den Tunnel schaffen, was Peter ohnehin vorhatte, um die letzten beiden Hörrohre für meinen Vater zu holen. Also war die Sache beschlossen. Mein Vater würde auf den Wachturm steigen, um alles für Meister Pegasus vorzubereiten, und Peter würde unterdessen mit Charles und Sally zur Erdinsel fahren, um den König und die Hörrohre zu holen. Obwohl ich noch immer Angst vor dem Meer hatte, wollte ich Charles und Sally unbedingt begleiten - vor allem, um zu erfahren, was die Verschwörer in der letzten Zeit getrieben hatten. Zum Glück meinte Simon, es mache ihm nichts aus, das Fährhaus zu hüten. Also nahm mein Vater mir das Versprechen ab, sofort nach unserer Rückkehr mit den Hörrohren zum Wachturm zu spurten, und kletterte dann den Pfad zum Turm hoch. Unterdessen stiegen wir ins Boot, Simon machte die Leinen los, und ab ging's. Die Stimmen von den Inseln Die ersten Stimmen kamen von der Erdinsel - tiefe, feierliche Stimmen der Torfstecher, die Wind und Wellen aufforderten, sich zu zeigen. Als bloße Silhouetten standen die Männer im Morgenlicht reihenweise in den 379 Gräben, hatten Schaufeln und Spitzhacken beiseite gelegt und gaben mit ihren tiefen Tönen die so einfache wie grundierende musikalische Textur vor, auf der alles Übrige aufbauen würde. Als ihre Stimmen lauter und kräftiger wurden, erhob sich ein leichter Wind und wehte über die Buchten, Steine und Vorgebirge der Inseln. »Hörst du gut?«, fragte Leonardo. »Laut und deutlich«, gab Joey zurück. »Maul halten und zuhören«, grollte Blaise. Dann erhoben sich die nächsten Stimmen, diesmal von der Insel der Vergangenheit. In gepflegten Gärten vor brav aufgereihten Hütten standen die Alten und Gebeugten, die sich lange genug geplagt hatten. Mit dünner, zerbrechlicher Stimme antworteten sie dem Ruf der Torfstecher mit einem musikalischen Motiv, aus dem Altersweisheit und Entsagung sprachen und das sich mit dem Bassgesang der Erdinsel harmonisch verband, ihn rhythmisch akzentuierte und ihm eine Spur harmonischer Fülle gab. »Gleich geht's los«, sagte Joey. »Was?«, fragte Leonardo aufgeregt. »Ruhe, meine Herren!«, murrte Blaise. Denn nun mischten sich die lichten Harmonien der Insel der Vernunft ins musikalische Geflecht: kristalline Akkorde, die alle Hindernisse zwischen Ruf und Gegenruf überbrückten; schwerelose, klare Klänge, die wie der Vorschein einer sinnhaft geordneten Welt anmuteten. Unter den Kolonnaden ihres dem Konsens geweihten

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Heiligtums standen die Mitglieder des Rats der Weisen in schweren Roben zu zweit, zu dritt, zu viert zusammen und waren bereit, Wind und Wellen zu willfahren und Getrenntes zu vereinen. Und rings um die Inseln begann das Wasser der Buchten, Priele und Meeresarme im 380 Rhythmus der Stimmen zu steigen und zu fallen und bildete die Struktur der Musik ab. »Toll!«, keuchte Joey. »Ich versteh das alles nicht!«, maulte Leonardo. »Los jetzt!«, brüllte Blaise von ziemlich hoch oben, denn je lauter und komplexer die Musik wurde, desto größer und stärker wurde auch er und war nun schon ein Riese, der drei, ja sechs Meter größer war als sie. »Lee/«, rief Blaise. »Wo ist Lee?« Denn nun erhob sich ein chaotisches Plappern, ein wahnsinniger Geräuschwirbel, ein hemmungsloses Durcheinander von Schreien: die Musik der Insel des Verlangens. Auf dieser wilden Insel mit ihren Felsen und Dünen lebten die jungen Leute, die Bewohner der ungezähmten Reiche von Kindheit und Pubertät, diese unbeherrschten Wesen, die alle ihre eigene Musik machten und ihr eigenes Lied sangen. Jetzt schlugen die Wellen gegen die Felsen, der Wind pfiff durch die Hecken, und die Fluten kreisten rastlos und warteten, dass alles erneuert würde. »Es ist zu laut!«, brüllte Leonardo. »Es geht schief!«, schrie Joey. »Lee/«, rief Blaise. »Lee/« Tatsächlich fühlten sie nun gleich jenseits der dicken Mauern des Wachturms die beklemmende Gegenwart des Widersachers, ahnten, dass seine verzerrte Gestalt knapp außerhalb ihres Blickfelds kauerte, spürten die unheimliche Kreatur, die schon durch ihr bloßes Dasein das Gleichgewicht der Welt bedrohte. »Lee/«, riefen die drei zusammen. Nun sahen sie, dass nicht nur Blaise, sondern auch Lee wuchs und die dunkle Gestalt der hellen in Größe und Gewicht sehr ähnlich war. Inzwischen ragten sie riesig auf und ließen 381 den Wachturm und selbst die Inseln klein erscheinen: die Herrscher des Netzwerks, zwei Giganten, die sich zum Kampf auf Leben und Tod rüsteten. Nord gegen Süd, Erde gegen Himmel, Verlangen gegen Vernunft. Einen Moment schien Lee der Größere und Stärkere, doch dann waren andere Stimmen zu hören: die langgezogenen, hohen, ätherischen Töne der Bewohner der Himmelsinsel, die allesamt Suchende waren und Anhänger des Heiligen Weges. Wie eine Sense durchs hohe Gras schnitten die langgezogenen Noten, mit denen sie ihre Tanz- und Turnschritte begleiteten, durch die Musik der Inseln. Sie tanzten und turnten zwischen den hohen Steinen der Heiligen Stätte, die in die zerklüftete Landschaft der trostlosen Insel gebettet war, und schon im nächsten Moment schienen die beiden riesigen Gestalten wieder gleich groß zu sein. Dann kamen erste, zögernde Klänge einer Melodie. Sie kam von der Zukunftsinsel, hallte aber so fern, schwach, verkrüppelt herüber und war vom Missklang anderer Stimmen so überlagert, dass ihre Bedeutung sich im Durcheinander verlor. »Es ist zu leise!«, rief Joey. »Lee wächst noch immer!« »Das läuft völlig verkehrt«, stöhnte Leonardo. »So hat das keinen Sinn!« »Wir bekommen das Gleichgewicht nicht hin!«, schrie Blaise, den die massige, bedrohliche Gestalt Lees nun klar überragte. »Du musst es finden, Leo! Mehr Melodie! Weniger Rhythmus!« »Das liegt an Rusty«, seufzte der Magier, ohne dass seine Stimme durchs Chaos gedrungen wäre. »Er wartet noch immer auf zwei Hörrohre, und ohne die ist es hoffnungslos. Ohne die werden wir nie alle Inseln singen hören.« 382 Als die beiden Giganten sich zum letzten Gefecht in Stellung brachten, schlössen Wind, Gezeiten und Meeresströme sich geheimnisvoll zusammen. Das Wasser zog sich zurück, und langsam kamen Brücken und Dämme, die in alter Zeit die Inseln verbunden hatten, zum Vorschein. Ashleigh wird (vorübergehend) seefest Kaum hatte das Boot abgelegt, merkte ich, dass die See anders war als sonst. Wie gesagt - ich bin keine Expertin, sondern Stadtkind durch und durch, doch inzwischen hatte ich genug Zeit mit Peter und Simon verbracht, um ein Gefühl für den normalen Stand der Dinge zu entwickeln. Und diesmal war die Lage alles andere als normal. Zunächst mal lagen wir mit Charles und Sally an Bord viel tiefer im Wasser als sonst. Außerdem war der Wasserstand viel niedriger. Die See war grau und stürmisch wie stets, schien nun aber auch in anderer Hinsicht unruhig - als wüsste das Meer nicht, wohin es strömen sollte, und würde sich ständig anders entscheiden. Auch der Wind kam aus stets wechselnder Richtung, und deshalb konnte Peter das Segel nicht aufziehen. Er blieb die ganze Zeit am Steuer, weil das Boot bei so niedrigem Wasserstand besonders genau auf Kurs gehalten werden musste. Schließlich ließ er Charles rudern. Das klappte gut, weil Charles augenscheinlich schon an der Akademie gerudert hatte. Doch dann bekam Peter Sorgen, wir wären nicht schnell genug, so dass auch Sally und ich ans zweite Paar Ruder mussten, obwohl ich bezweifle, dass das viel geholfen hat. 383 Nachdem all dies geklärt war, fuhren wir langsam dorthin, wo die Landzunge aus dem normalen Verlauf der Küste vorspringt. Das dauerte einige Zeit, da die See uns mitunter entgegenströmte und Peter obendrein immer

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wieder Felsen umschiffen musste. Ein, zwei Mal, als der Wind die Richtung wechselte, glaubte ich, Fetzen von Gesang von der einen oder anderen Insel zu hören, doch es gab so viele andere Geräusche - Wellen, Gischt, das Eintauchen der Ruder -, dass ich nichts Genaues ausmachen konnte. Nach einer Weile kamen wir dorthin, wo der Tunnel durch die Landzunge führt. Seine Oberkante wurde gerade erst sichtbar und öffnete sich wie ein rasch größer werdendes schwarzes Loch in der weißen Steilwand, doch Peter meinte, das Wasser müsste noch weiter ablaufen. Beim Eingang ragten ein paar Felsen aus der See. Wir hielten unser Boot mit zwei Rudern in sicherer Entfernung davon und warteten ab, bis der Wasserstand niedrig genug war. »Aufgepasst!«, rief Peter. »Wenn die See flach genug ist, müssen wir rudern wie die Weltmeister. In ein paar Stunden ist der Tunnel wieder überflutet - bis dahin müssen wir zur Erdinsel und zurückgekommen sein.« Wie sich zeigte, brauchten wir nicht mehr lange zu warten. Kaum schwieg Peter, war das Wasser plötzlich völlig reglos, und es herrschte eine unheimliche Stille. Dann war ein lautes Geräusch zu hören - Zischen, Dröhnen und Saugen zugleich —, und eine riesige Welle kam aus dem Tunnel geschossen. Als wir uns die Gischt aus den Augen gewischt hatten, sahen wir am anderen Ende Tageslicht. Peter schrie: »Los jetzt! Los!«, und wir ruderten mit aller Kraft in den Tunnel. Dann legten wir die Ruder beiseite und schoben uns im Halbdunkel an den 384 Wänden entlang, bis wir unvermittelt wieder ans Licht kamen. Die Erdinsel lag vor uns, und ich hörte die Torfstecher singen. Plötzlich kamen wir sehr rasch vorwärts, als trüge uns eine Strömung, und die Erdinsel schnellte geradezu heran. Ich blickte mich um und sah, dass Peter sich aschfahl und mit Panik im Gesicht ans Steuer krallte, doch er musste alles richtig gemacht haben, denn Sekunden später waren wir wieder in ruhigem Fahrwasser, konnten die Insel entlangrudern und machten an dem kleinen Landungssteg fest. Ich schätze, wir alle hatten weiche Knie, als wir an Land gingen. Meine Beine kamen mir geradezu verknotet vor, und ich musste mich bei Charles unterhaken, um nicht zu fallen. Als ich gerade glaubte, ich hätte mich wieder im Griff, klappte ich zusammen und übergab mich ins Wasser. Ich fürchtete schon, ohnmächtig zu werden, und weiß noch, dass Sally sagte: »Drückt ihr einfach den Kopf runter, bis es vorbei ist.« Jemand wollte mir die Bluse aufknöpfen, doch ich sträubte mich und hab mich dann wohl noch mal übergeben. Kurz darauf aber fühlte ich mich etwas besser, richtete mich auf und sah mich um. Zuerst fiel mir auf, dass die Torfstecher noch immer im Hintergrund sangen, als wüssten sie nicht, was vorging. Dann sah ich Charles und Sally. Sie waren offenbar der Meinung, ich würde meinen Schwächeanfall überleben, denn sie rannten den Pfad hoch, um den König in Empfang zu nehmen, den ich aber nirgends sah. Peter war noch immer im Boot und bereitete wohl schon die Rückfahrt vor. So saß ich allein auf den Planken des Landungsstegs und wischte mir Erbrochenes vom Ölzeug. Ich kam mir ziemlich blöd vor, war ansonsten aber guter Dinge. 385 Dann fielen mir die Hörrohre ein, und das versetzte mich in Panik. Ich sprang sofort auf, um sie zu suchen, und wäre fast über den Pappkarton auf dem Steg gestolpert. Ich öffnete ihn und entdeckte tatsächlich die Hörrohre. Ehrlich gesagt war ich noch nie im Leben so erleichtert, nahm den Karton, der zum Glück nicht schwer war, nur etwas sperrig, und bugsierte ihn mit Peters Hilfe ins Boot. Als das geschafft war, dachte ich mir, ich sollte mich etwas ausruhen, ehe die anderen zurückkehrten. Während ich auf dem Steg saß, brach die Sonne durch die Wolken, und es wurde ziemlich warm. Von irgendwoher roch es nach gebranntem Ton, und die Männer sangen immer wieder die gleiche einfache Melodie, die nett und beruhigend klang. Ich hörte Peter am Steuerruder herumbasteln, und langsam fielen mir die Lider zu. Gut möglich, dass ich kurz eingeschlafen war, doch dann spürte ich einen Stoß am Arm, und Peter rief: »Sieh mal, Ashleigh - da drüben auf dem Festland!« Ich kniff die Augen zusammen und konnte in der Ferne gerade noch den Unterschlupf erkennen, in dem die Wolfsjungen ihr Lager aufgeschlagen hatten. Alle schienen aufgeregt hin und her zu laufen, und dann begriff ich, warum: Der Wasserspiegel sank noch immer, und der Damm zwischen Erdinsel und Küste war aus den Fluten aufgetaucht. Das hatten auch die Wolfsjungen entdeckt, die nun die Steilküste runterkletterten, weil sie die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet hatten. »Keine Sorge«, murmelte Peter, bevor ich etwas sagen konnte. »Der Damm bleibt nicht lange passierbar. Hier gibt es eine seltsame Strömung. Ich bin nicht mal sicher, 386 ob die Kerle es auf die Insel schaffen.« Einen Moment schien er zu überlegen, ob er fortfahren sollte, und setzte dann hinzu: »Aber das wissen sie natürlich nicht.« Wir sahen einander an und wussten nicht, was wir tun sollten, doch dann hörten wir hinter uns einen Schrei. Als wir herumfuhren, sahen wir Charles und Sally den Hang runter zum Landungssteg rennen. Sie wirkten völlig panisch. »Wir können den König nicht finden!«, rief Sally. »Niemand weiß, wo er ist! Die singen alle nur ihr verdammtes Lied, und keiner kann uns helfen.« »Ich kann nicht mehr lange warten«, rief Peter zurück. »Der Tunnel wird bald überflutet.«

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Inzwischen hatte Sally es zum Steg geschafft, doch Charles lag ein Stück zurück - offenbar hatte das Rudern ihn erschöpft. »Lass uns hier«, sagte Sally. »Hol uns später ab. Wir müssen ihn finden. Es hat keinen Sinn, ohne ihn zurückzukehren.« Sie wandte sich an Charles und sagte etwas, das ich nicht hören konnte, doch ich sah, dass er sie am Arm nahm und nickte. »Gut«, meinte Peter dann. »Ich komme in drei Tagen wieder. Haltet ihr so lange durch?« Charles und Sally wurden etwas blass, nickten aber, und Peter machte das Boot los. »Ich muss ans Steuer, Ashleigh«, sagte er. »Also wirst du wohl rudern müssen. Hoffentlich bist du wieder einigermaßen bei Kräften.« Ich bekam einen Kloß im Magen, nahm aber die Ruder, und im nächsten Moment waren wir wieder unterwegs. Während das Ufer zurückblieb, sah ich Charles und Sally wie die Wahnsinnigen den Hügel hinauflaufen. Sie schrien und zeigten auf etwas, doch ich verstand nicht, 387 was sie riefen, denn ihre Stimmen gingen im Gesang der Torfstecher unter. Ich sah allerdings, worauf sie zeigten: auf die Wolfsjungen. Sie waren jetzt genau in der Mitte des Damms. Alle hatten Rucksäcke und Musketen dabei und eierten von Stein zu Stein, als wollten sie Hundekot ausweichen. Sie sahen wirklich zu dumm aus, als dass ich vor ihnen Angst hätte empfinden können. Dennoch machte ich Peter auf sie aufmerksam. »Ruder weiter!«, rief er zurück. »Wir können nichts machen!« Also ruderte ich, und als ich gerade in Schwung kam, hörte ich ein gewaltiges Krachen. Plötzlich schoss eine riesige Welle durch die Meerenge zwischen Erdinsel und Küste, und ich sah, wie die Wolfsjungen sich umdrehten, die Arme in die Luft warfen und zu fliehen versuchten, doch da hatte die Welle sie bereits unter sich begraben. »Ruder weiter!«, schrie Peter. »Na los! Die Zeit läuft uns davon!« So ruderte und ruderte ich. In abgeschwächter Form kam die Wasserwand auch auf uns zu. Und während ich ruderte, strömten mir Tränen über die Wangen. Aus dem Gleichgewicht »Das Gleichgewicht stimmt noch immer nicht!«, rief Joey schrill. Er hatte die Finger fest um die Griffe der Komplexen Empathiemaschine gelegt. »Lee ist dabei zu gewinnen!« Am stürmischen Himmel überm Netzwerk umkreisten der helle und der dunkle Gigant einander, machten Ausfälle, setzten Finten und sprangen sich an, wobei 388 Lees schiefe Gestalt nun die Oberhand über seinen eleganter kämpfenden Gegner hatte. Zu ihren Füßen tauchte das Muster der Brücken und Dämme aus den Fluten auf, und jeder Punkt war mit jedem anderen in einem vollkommen geometrischen Mandala verbunden. »Wir warten noch immer auf die Hörrohre«, stöhnte Leonardo. »Warum kann sich das verflixte Mädchen nicht beeilen?« »Sie tut ihr Bestes«, zischte Blaise und wich dabei einem Haken aus, den Lee ihm verpassen wollte. »Gib mir lieber mehr Energie! Schalte den Musikapparat ein! Wir haben nicht mehr viel Zeit!« »Joey!«, bellte Leonardo. »Musikapparat anstellen!« »Der Junge doch nicht!«, schimpfte Blaise. »Den brauche ich hier! Mach du das gefälligst, Leonardo!« »Aber ich...« »Jetzt geh schon!« Murrend setzte der Magier den Kopfhörer ab und stand behutsam auf. Joey hing weiter über den Handgriffen. Seine schmächtige Gestalt zitterte vor Erregung, und ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mundwinkel. Im Gefühl, ziemlich unterschätzt zu werden, stolzierte Leonardo hinüber zum Mammut, aktivierte das auf Bereitschaft geschaltete Gerät und suchte verärgert nach dem beschrifteten Pergament, während der riesige Apparat ruckelnd ansprang. Die Musik begann. Erst kamen die kleine Trommel und die Posaune, dann Gitarre, Trompeten und Flöten, bis schließlich die schrillen Töne des Saxofons durch die Wolken schwebten und das Ensemble vervollständigten. Wie eine Möwenschar durch die Luft fährt, so kam der vielstimmige Klang durch die Wege und Gänge des Netzwerks gerauscht und vereinte sich mit den Stimmen der 389 Insulaner. Nun standen alle Freunde des Landes Seite an Seite: die geisterhaften Boten, die unbekannte Aufträge erledigten; der uniformierte Hauptmann mit seinen Vorschriften; der unermüdliche Kartograf mit Kompass und Zeichnungen; der müde Magier mit seinen Maschinen; das wilde junge Mädchen mit der ungestümen Leidenschaft und der hinkende Junge. Ihre Energien waren verschmolzen, ihre Stärken vereint, und ihre Kraft drang wie elektrische Spannung durchs Netz in die Nerven und Blutbahnen des hellen Giganten. Jetzt konnten sie endlich auch sein Gesicht erkennen. Doch der Dunkle wuchs noch immer. Am Himmel über den Riesen zuckten Blitze und rollten Donner, und dann begann der Kampf richtig. Den ersten Schlag setzte nicht Blaise, sondern Lee. Schon wich die helle Gestalt zurück, während die Übermacht der dunklen Figur, die ihrem Gegenüber Schlag auf Schlag verpasste, immer größer wurde.

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»Das ist nicht genug!«, keuchte Blaise und taumelte unter den Hieben des Angreifers. »Das Gleichgewicht stimmt noch immer nicht! Ich halte nicht mehr lange durch!« »Ich tu doch, was ich kann«, stöhnte Leonardo, der wieder an der Empathiemaschine saß und verzweifelt an den Handgriffen herumwirtschaftete. »Versuchen wir mal, das dumme Mädchen zu finden!« 390 Ashleigh rennt wie der Wind Ich war noch nie allein gerudert und konnte anfangs nicht mal die Richtung halten. Erst fuhren wir im Zickzack, weil ich mal das eine, mal das andere Ruderblatt stärker durchs Wasser zog, aber bald hatte ich den Bogen raus, und es ging leidlich geradeaus. Doch ringsum herrschten verschiedene Strömungen, die Flut kam von allen Seiten, und wir wurden im Gefolge der mächtigen Welle einige Zeit stark durchgeschaukelt. Vermutlich war es allein Peter, der uns auf Kurs hielt. Weil meine Arme und Schultern rasch ermüdeten, konzentrierte ich mich ganz auf sein Gesicht, um mich von den Schmerzen abzulenken. Unter den Sommersprossen wirkte er sehr bleich, und trotz Bart sah ich, dass er die Lippen zusammenpresste. Dazu runzelte er die Stirn und hatte die Augen gesenkt. Als ich endlich das Gefühl hatte, alles richtig zu machen, kippte das Boot plötzlich zur Seite, und Peter war so erstaunt, dass er zwei Mal hingucken musste, als würde er einen Geist sehen. Er hätte beinahe das Steuer losgelassen und sah wirklich seltsam aus, riss sich aber zusammen und rief: »Ashleigh! Hinter dir!« Also drehte ich mich um und erblickte ein furchtbar hässliches Gesicht, das mich heimtückisch über die Bordwand angrinste. Ich wusste sofort, um wen es sich handelte: um den Anführer der Wolfsjungen, um den Kerl mit den kleinen Schleifen im Bart also, der mich angestarrt hatte, als ich das Fernrohr auf ihn richtete. Jetzt zog er sich an der Bordwand hoch und versuchte, ins Boot zu klettern. Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken. Ich ließ die 391 Ruder los und rappelte mich auf, was einige Zeit dauerte, weil das Boot schaukelte wie eine Wippe. Bis ich aufgestanden war und mich umgedreht hatte, hatte der Wolfsjunge sich über die Bordwand gehievt und stand mir nun am Bug gegenüber. Dann schien alles in Zeitlupe zu geschehen: Taumelnd versuchten wir, auf den Beinen zu bleiben, während Peter am Heck alle Mühe hatte, das Ruder zu halten. Irgendwas musste dennoch mit der Steuerung schiefgegangen sein, denn ich spürte, wie das Boot sich im Kreis drehte, doch inzwischen hatte ich mich an den Seegang gewöhnt. Die vielen Übungen, die ich bei Alice gelernt hatte, kamen mir nun offenbar zugute, denn ich konnte mich aufrecht halten und mich langsam zu dem Wolfsjungen vorarbeiten. Er war viel größer als ich, aber ganz nass, und hatte große Probleme mit dem Gleichgewicht. Unvermittelt taumelte er mit irrem Blick auf mich zu. »Weg da, Kindchen!«, brüllte er, und ich begriff, dass er uns aus dem Boot stoßen wollte. Wirklich sauer aber war ich, weil er mich »Kindchen« genannt hatte. Plötzlich war mir klar, dass es zwischen uns beiden um Leben und Tod ging. Dann sah ich meine Chance, denn mein Gegenüber war über den Karton mit den Hörrohren gestolpert und hatte Mühe, nicht zu stürzen. Da holte ich aus und verpasste ihm den wuchtigsten Flamingo-Kick meines Lebens. Mit einem grauenhaften Schrei kippte der Mann schräg hintenüber aus dem Boot und schlug wie ein Wahnsinniger um sich, bis sein scheußliches gelbes Gesicht in den Fluten unterging. Ich wartete ein wenig, doch er tauchte nicht mehr auf. Nur einige kleine Bartschleifen trieben vorbei. Als sie erneut vorbeikamen, merkte ich, dass unser Boot in ei- 392 nen Strudel geraten und die Ruder über Bord gegangen waren. Dann konnte ich mich nur noch fallen lassen und warten, bis mein Herz aufhören würde, wie wild zu hämmern. »Ich glaube, den kriegen wir nicht mehr zu sehen«, sagte Peter. »Glückwunsch, Ashleigh — du hast Hochmeister Fang ertränkt.« Doch ich hatte keine Zeit, diese Nachricht zu verdauen. Peter schnappte sich das zweite Paar Ruder und schob mich ans Heck, damit ich das Steuer übernahm. Dann änderte sich die Strömung, der Strudel erstarb, und Peter ruderte wie verrückt auf die Küste zu. Ehe ich mich's versah, waren wir wieder im Tunnel unter der Landzunge. Das Wasser war gestiegen und strömte uns entgegen, so dass wir uns hinkauern mussten, um nicht an die Tunneldecke zu stoßen. Ich fürchtete, wir würden es nicht schaffen, doch dann kamen wir auf der anderen Seite wieder ans Licht. Mit lautem Knirschen lief das Boot auf Grund, und der Tunnel verschwand unter der Wasserlinie. »Das war knapp«, keuchte Peter. »Schnapp dir den Karton und renn los. Von hier kommst du ganz gut zum Wachturm hoch.« »Und du?« »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komm schon allein mit dem Boot zurecht. Los jetzt!« Also kletterte ich die Uferfelsen hinauf und kam tatsächlich schnell zu einem kleinen Pfad, der im Zickzack den mit Heide bestandenen Steilhang auf den schmalen Rücken der Landzunge hochführte. Mit dem Karton vor der Brust fühlte ich mich etwas oberlastig, doch inzwischen schien es, als habe sich jemand meines Kör- 393 pers bemächtigt. Ich sprang traumwandlerisch sicher von Stein zu Stein. Nachdem ich eine Ewigkeit bergauf

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gehetzt war, erreichte ich den Kamm und sah den Pfad vor mir, der sich auf dem schmalen Rücken der Landzunge kurvenreich zum Wachturm wand. Ich rannte wie der Wind. Meine Beine schmerzten, ich hatte mir die Klamotten an den Steinen aufgerissen, und Heide und Stechginster zerkratzten mir die Knöchel, doch meine Füße kannten den Weg, und ich schwebte fast dahin. Meine Schultern schmerzten vom Rudern, mein Herz hämmerte wie eine Dampframme, und meine Lunge fühlte sich an, als wollte sie platzen. Der Karton mit den Hörrohren scheuerte an meiner Brust, ich hatte furchtbares Seitenstechen, und mein Mund füllte sich mit Spucke, die beim Husten an den Wangen kleben blieb, doch meine Beine liefen wie Kolben, der Wind kühlte mein Gesicht, mein rotes Haar flatterte wie eine Fahne im Wind, ich spürte Dustys Halsband, und ich wusste: Ich würde es schaffen. Als mir das klar war, schien sich etwas in mir zu öffnen, und ich nahm meine Umgebung wahr. Ich sah alle sechs Inseln zugleich und die Brücken und Dämme, die sie verbanden und ein Muster bildeten - eine Blume, einen Kristall oder einen Stern. Auf allen Dämmen waren Gruppen von Leuten zu sehen, die aus der Entfernung winzig wirkten und mit Handkarren, Koffern und Bündeln zwischen den Inseln unterwegs waren. Durch den Wind, die Wellen und das Pochen meines Herzens hindurch konnte ich ganz leise die Stimmen hören, die von jeder Insel kamen und sich nur alle sechs Jahre vereinten, die Stimmen der Inselbewohner und ihrer Wanderung, die Stimmen des Festes der Winde und Gezeiten. 394 Und dann sah ich die ersten Möwen am Himmel. Im nächsten Moment war ich am Turm. Mein Vater erwartete mich schon, und ich erinnere mich noch, ihm den Karton gegeben zu haben. Dann begann sich alles zu drehen, der Fußboden raste auf mich zu, meine Wange schlug hart auf, und ich spürte einen brennenden Schmerz im Gesicht. Irgendwo in der Ferne glaubte ich eine Flöte zu hören, und ich weiß noch, dass ich dachte, es sei mein kleiner Bruder Maxie, der da spiele. Das war für einige Zeit das Letzte, was ich mitbekommen habe. Die Möwen kehren zurück »Trendwende«, keuchte Joey. »Wir brauchen eine Trendwende!« Denn inzwischen war die dunkle Gestalt bedrohlich größer als die helle, freute sich diebisch und machte sich zum letzten Schlagabtausch bereit. Das komplizierte geometrische Muster der Dämme, das wie eine Tagesdecke auf der Oberfläche des Netzwerks lag, verblasste unter den beiden Giganten immer mehr. »Die Zeit läuft uns davon«, stöhnte Blaise. »Na endlich!«, platzte Leonardo heraus. »Ashleigh hat es zum Wachturm geschafft! Rusty schließt die Hörrohre an!« Einen Augenblick geschah nichts. Dann waren die Stimmen der Zukunftsinsel zu hören. Ihre Melodie schritt gemessen und wie auf Stelzen dahin, gemahnte an einen anderen Ort, eine andere Zeit, ließ an einen Dreispitz, an 395 Laternen denken und war fremd, aber vertraut - sternen-fern und doch zum Greifen nah. Schon beim ersten Hören hatten sie das Gefühl, diese Melodie immer gekannt zu haben. »Das Kräfteverhältnis ändert sich«, keuchte Joey. »Die Gegner sind allmählich wieder gleich stark. Hört mal.« Tatsächlich hatte der majestätische Einzug des verborgenen Themas Stimmen und Instrumente wieder ins Gleichgewicht gebracht. Jeder Klang schien genau zu seinem Gegenpart zu passen - der Bass der Erdinsel zum ätherischen Sopran der Himmelsinsel, die strahlenden Akkorde der Insel der Vernunft zum misstönenden Durcheinander der Insel des Verlangens, die stabile Grundlinie der Insel der Vergangenheit zu den ausgreifenden Geheimnissen der Zukunftsinsel. Und wie die Stimmen der Inseln ins perfekte Gleichgewicht kamen, verwoben sich auch die Linien auf Leonardos Pergament: der Rhythmus der kleinen Trommel, der schnelle Schritt der Posaune, die gezupften Akzente der Gitarre, die markanten Einsätze der Trompeten, die Pastelltöne der Flöte, das klagende Näseln des Saxofons. Als Stimmen und Instrumente zu einer bruch- und nahtlosen Himmelssäule aus Klang verschmolzen, begann der schon fast unterlegene Gigant sich wieder zu rühren. Und je stärker die helle Gestalt wurde, desto schwächer wurde die dunkle. Mit offenem Mund beobachteten sie, wie Blaise Zentimeter um Zentimeter wuchs. Er strotzte vor Kraft, die die Musik ihm verlieh, bebte vor Energie, glühte vor Leben und war endlich ein ebenbürtiger Gegner für Lee. Nun war es die dunkle Gestalt, die sich duckte, der Kraft des Lichts auswich und vor ihrer Unüberwindbarkeit wimmernd zurückschrak. Jetzt ließ die helle Gestalt in 396 rechtschaffenem Zorn Schlag um Schlag auf die dunkle Figur niedergehen, und Lee - zu schwach, um der Attacke standzuhalten - schrumpfte zur Bedeutungslosigkeit. Sein Gesicht verzerrte sich im Todeskampf, sein grotesk verbogener Leib zerfiel zu einer Hand voll Staub, und der Wind wehte die letzten Überreste des dunklen Widersachers in alle Ecken des Landes. Jetzt ragte Blaise gewaltig auf, erleuchtete alle mit seinem Strahlen, blendete sie, demütigte sie wohl gar, umgab sie aber zugleich auch mit einem makellosen Mantel der Liebe. Die Musik wurde leiser, der Wind ließ nach, Und der Gezeitenwechsel kam. Die Dämme verschwanden im Meer, Und es war endlich still. Und in die Stille kamen sie - Zu dritt, zu fünft, zu zwanzig, Zu Hunderten und zu Tausenden Flogen die Möwen

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herbei. Auf jedem Fels ließen sie sich nieder, Auf jedem Stein drängten sie sich, Glitten übers Wasser und füllten den Himmel - Endlich waren sie wieder am Meer. Und aus sehr weiter Ferne - Ferner als die Unendlichkeit Und doch greifbar nah - Drang der fahle Klang einer einsamen Flöte. Nach einer Weile spürte Leonardo, dass nichts mehr geschehen würde. Behutsam ließ er die Handgriffe los, 397 setzte müde den Kopfhörer ab und richtete sich unter Schmerzen auf. Die Luft in der Signalwache roch alt und muffig, und er hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte. Er humpelte zur Flügeltür, öffnete sie und sah hinaus. Zu seiner Überraschung dämmerte es bereits. Der erste Stern stand am samtigen Himmel, und die sanften Umrisse der Landschaft boten sich ihm in wohliger Erwartung dar. Leonardo atmete ein paar mal tief durch und ging dann erfrischt wieder hinein. »Das war's, Joey. Ich hab zwar keinen Schimmer, was passiert ist, aber alles scheint zu Ende. Wie wär's mit einem Kaffee?« Doch der Junge antwortete nicht. Seine verkrampfte Gestalt war noch immer über die Komplexe Empathiemaschine gebeugt, seine Finger umklammerten die Handgriffe, und auch den Kopfhörer hatte er nicht abgesetzt. »Joey?« Wieder keine Antwort. Beunruhigt trat Leonardo zu seinem Helfer und fasste ihn an der Schulter. »Joey? Wir sind fertig.« Er zog den Jungen von den Schaltern weg. Einen Moment rührte Joey sich nicht, sank dann aber mit geschlossenen Augen in den Stuhl. Seine Haut war schweißnass, und auf seinen verzerrten Lippen lag ein rätselhaftes Lächeln. Der Kopfhörer fiel klappernd zu Boden. »Joey?« Doch ehe er nach der Atmung horchte und nach dem Puls tastete, wusste der Magier bereits, wie sinnlos das war. Egal, wer diesen Streit gewonnen hatte und was dadurch erreicht worden war: Der hinkende Junge hatte seinen letzten Kampf gekämpft. Leonardo seufzte schwer und wusste nicht recht, was er — wenn überhaupt — in all 398 den mühsamen Jahren in der Signalwache erreicht hatte. Doch er begriff, dass Joeys Leben der Preis gewesen war, den er für diesen Sieg hatte zahlen müssen. Wie in Trance lief er durch die Signalwache, schaltete alle Geräte ab, löschte das Licht und drehte die Hauptsicherung raus. In der Ecke neben der Tür bemerkte er Joeys dreirädrigen Roller, auf dem bereits eine dünne Staubschicht lag. Der Magier legte sich den schmächtigen Toten über die Schulter, verließ die Signalwache zum letzten Mal und machte sich auf den langen Rückweg ins Dorf, zum wortkargen Pfarrer. Auf den Feldern ringsum kämpften sich die ersten Triebe des Frühjahrs durch den rissigen Boden, doch seine alten Augen hatten keinen Blick dafür. Die Geschichte des Zeitalters der Könige Bis heute kennen die Historiker die genauen Umstände von Hochmeister Fangs Tod nicht. Seine Wolfsjungen blieben nur ein paar Tage im Unterschlupf oberhalb der Erdinsel. Dann versuchten sie, die unberechenbare Meerenge zwischen Festland und Insel zu überqueren, wobei sie wohl eine ungewöhnlich starke Ebbe nutzen wollten. Es wird allgemein angenommen, dass der ganze Trupp ertrunken ist, und obwohl einige Leichen geborgen wurden, blieb Fang spurlos verschwunden. Als die Nachricht von seinem Verschwinden die Hauptstadt erreichte, läutete dies jedenfalls das Ende seiner geschwächten Regierung ein, die ein paar Monate später definitiv zusammenbrach. 399 Die Ära des Konsenses begann im Frühling des zwanzigsten Jahres von Matthews Amtszeit, wie die Chroniken des Rats der Weisen unzweifelhaft dokumentieren, eine absolut zuverlässige Quelle, auf der große Teile dieser Darstellung beruhen. Wir haben schon berichtet, dass Charles und Sally Bannister König Matthew auf der Erdinsel versteckten und auf die Insel der Vernunft reisten. Dort wurden sie beim Rat der Weisen vorstellig, um die Regierung auf die Inseln zu verlegen, den König neu an die Macht zu bringen und die Kraftstoffversorgung der Bannister-Automobile zu sichern. Wie so oft aber wurden diese Pläne von unerwarteten Entwicklungen durchkreuzt. Der König, der viele Jahre lang undurchschaubaren Ereignissen ausgeliefert war, hatte offenbar großen Trost im geordneten Inselleben gefunden. Als die Bannisters auf die Erdinsel kamen, um ihn zum Rat der Weisen zu bringen, weigerte er sich trotz ihrer flehentlichen Bitten, sie zu begleiten, und erklärte, er wolle auf seine Macht verzichten und bis ans Ende seiner Tage Torf stechen. Welchen Trost das einsame Leben eines Torfstechers Matthew beschert hat, werden wir wohl nie erfahren.

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Es gibt viel abstruses Gerede über den »Zauber der Inseln« — als Geschichtsstudenten müssen wir uns hingegen möglichst auf belastbare Fakten beschränken. Und die lauten in unserem Fall: Matthew ist auf der Erdinsel geblieben und lebt noch heute dort. Nach Jahren als Torfstecher wurde er Oberaufseher über die Trockenöfen und übt dieses Amt mit nun bald achtzig Jahren noch immer aus. Obwohl seine Aussagen für die Zeitgeschichte von unschätzbarem Wert wären, hat er sich stets geweigert, mit Journalisten und Schriftstellern zu 400 reden, und Historikern gegenüber beharrlich geschwiegen. Doch wir haben - auch wenn das töricht klingen mag - die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er seine Einstellung eines Tages ändern wird. Die Bannisters und der Rat der Weisen standen unterdessen vor der Aufgabe, eine neue Regierungs- und Verwaltungsform für das Königreich zu schaffen. Mrs Bannister - die frühere Prinzessin Sarah und einzige lebende Verwandte des Königs - sollte Nachfolgerin von Matthew werden, erklärte aber nach einiger Überlegung, sie wolle lieber weiterhin das Leben der Frau von Charles Bannister führen und Leiterin der Instandhaltungs und Wartungsabteilung der Automobilwerke bleiben. Es folgten turbulente Jahre, in denen diverse Gruppen um die Vorherrschaft im Land kämpften, ehe die vom Rat der Weisen entwickelten Grundsätze des Konsenses allseits akzeptiert und ratifiziert wurden. In einem künftigen Werk werden die Faktoren zu untersuchen sein, die zur Gründung der Kommission zur Implementierung des Konsenses und damit letztlich zu jener gerechten und offenen Form von Herrschaft geführt haben, die wir heute genießen. Auch wenn es viele Jahre gedauert hat, bis die Kommission ihre erklärten Ziele erreichte: Das Ende des Zeitalter der Könige und der Beginn der Ära des Konsenses werden inzwischen allgemein mit dem ungeklärten Tod von Hochmeister Fang in Zusammenhang gebracht. (aus Band 5: Der Beginn der Ära des Konsenses] 401 Ashleigh kehrt heim Liam hat partout keinen Spiegel im Wohnwagen geduldet. Darum hab ich mich lange nicht mit meinem Gesicht beschäftigen können, schätze aber, dass ich aussehe wie immer: rotes Haar, Sommersprossen, seltsame Augenfarbe, merkwürdige Nasenform. Doch eins ist neu: Als ich im Wachturm ohnmächtig wurde, nachdem ich meinem Vater die Hörrohre übergeben hatte, schlug ich mit dem Kopf auf und zog mir dabei eine üble Schnittwunde zu. Davon ist mir eine Narbe geblieben, die unterm rechten Auge beginnt und sich über die Wange bis nahe an den Mundwinkel zieht. Der Arzt meint, sie werde wieder verschwinden, aber sie macht mir gar nicht viel aus, denn irgendwie scheint sie alles Übrige zusammenzuhalten. Obwohl meine Haut also nicht länger makellos und unverletzt ist, mag ich mein Gesicht jetzt mehr als früher. Mein Vater ist inzwischen nicht mehr so traurig - das ist eine weitere positive Folge des letzten Jahres. Wenn ich so darüber nachdenke, haben sich im letzten Jahr viele gute Sachen ergeben. Zunächst mal ist Maxie zurückgekommen, und wir leben zu dritt in einem Haus, das mein Vater auf der Zukunftsinsel gemietet hat. Es ist klein, aber recht süß, hat weiße Wände, einen weißen Schornstein, ein graues Schindeldach und eine dunkelrote Tür und steht in einer Reihe kleiner Häuser, die ganz genauso aussehen - selbst die dunkelrote Tür ist überall gleich! Zwar müssen wir in der Küche essen, aber immerhin hat jeder ein eigenes Zimmer. Die Insel ist total verrückt - hier leben nur Leute, die noch nicht wissen, was sie tun wollen. Deshalb ändert 402 sich hier alles" von einem Tag zum anderen. Menschen kommen und gehen, richten sich dauernd neu ein und verlieben und verkrachen sich laufend, doch das scheint niemanden zu beunruhigen, im Gegenteil: Alle sind guter Dinge. Mein Vater weiß sich zu beschäftigen. Den ganzen Winter hat er farbenfrohe und sehr schöne Ansichten der Inseln gezeichnet, und jetzt, wo der Sommer kommt, wird er sie gut an die wenigen Besucher los, so dass etwas Geld in die Kasse strömt. Auch ich habe begonnen, Geld zu verdienen und - so ein Zufall! - da und dort als Anstreicherin arbeiten können. Seltsam: Jahrelang hat sich niemand hier draußen um die Fassade seines Hauses gekümmert, doch als die Möwen zurückkehrten, war es schon tags darauf so, als wollte jeder eine neue Seite im Buch seines Lebens aufschlagen, und plötzlich meinten alle, ihr Haus könnte frische Farbe vertragen. Ich fand, ich hatte genug von Liam gelernt, um mein eigenes Geschäft aufzuziehen. Also besorgte ich mir einen Handwagen, einige Pinsel und Farbtöpfe und einen Overall und ging von Haus zu Haus, um nach Arbeit zu fragen. Viele Leute waren darüber froh, doch das Beste war, dass die meisten mich meine Ideen umsetzen ließen, und so gibt es auf der Insel nun einige Häuser, die nicht wie auf dem Festland aussehen. Allerdings vermisse ich Liam noch immer und gewöhne mich nur schwer daran, allein zu schlafen. Ich denke, dass er mir eines Tages schreiben und berichten wird, wo er gewesen ist und was er gearbeitet hat, aber bisher hat er sich nicht gemeldet. Wir haben auf der Insel eine öffentliche Signalwache, und ich habe ein, zwei Mal versucht, meine Mutter zu 403 erreichen, doch Großvaters Signalmaschine funktioniert noch immer nicht. Ich hab versucht, den alten Leonardo Pegasus in seiner Signalwache zu sprechen, aber dort saß nur jemand vom Auskunftsservice, der mir immer wieder gesagt hat, er sei verschwunden und sie wüssten nicht, wann er zurückkäme. Jedenfalls muss er erfolgreich gewesen sein, denn im Netz scheint es keine Kobolde mehr zu geben. Ich schätze, so ist es effektiver,

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aber auch etwas langweilig, wenn ihr versteht, was ich meine. Womöglich ist es ja ganz gut, dass ich nicht mit meiner Mutter habe sprechen können, denn mein Vater trifft sich wieder mit Alice. Die beiden sind sich eines Tages zufällig begegnet, und es hat sich herausgestellt, dass auch sie sich entschieden hat, auf der Zukunftsinsel zu leben. Die zwei sehen sich recht oft und besuchen sich gegenseitig und so. Seltsam, meinen Vater mit einer anderen Frau zu sehen. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, aber wenigstens lächelt er nun ab und zu wieder, und das stimmt mich froh. Und ich bin ziemlich sicher, dass die beiden sich noch nicht an die Wäsche gegangen sind. Doch ich habe die Jungkommissarin auf den Fall angesetzt - ihr bleibt also auf dem Laufenden. Übrigens hat Alice uns wieder dazu gebracht, die Übungen zu turnen. Mein Vater und ich sind ziemlich begeistert dabei, und selbst Maxie macht inzwischen manchmal mit. Ich hab euch noch nicht berichtet, was Maxie widerfahren ist, stimmt's? Er kam natürlich mit den Möwentreibern her und hat eines Tages einfach vor der Tür gestanden, als wäre er nie weg gewesen. Er hat beschlossen, Musiker zu werden. Ausgerechnet Maxie! Mein Vater hat einen Flötenlehrer für ihn gefunden, und 404 ich bin froh, dass er endlich Fortschritte macht. Jedenfalls kann er nun ein paar Lieder mehr spielen — nicht nur das eine, das er immer an der gleichen Stelle abgebrochen hat. Allerdings bin ich nicht sehr musikalisch und sollte mich über das Talent meines Bruder darum besser nicht äußern. Niemand weiß, was aus den Möwentreibern geworden ist. Offenbar waren sie mehrere hundert, als sie die Küste erreichten. Eine Hand voll ist wie Maxie auf den Inseln geblieben, doch die Übrigen sind vermutlich nach Hause zurückgekehrt oder weitergezogen. Womöglich bleibt das ein großes Rätsel, das die Jungkommissarin einmal löst, aber erwartet nicht zu viel. Die Möwen dagegen sind noch immer hier - zu Tausenden und Abertausenden - und machen furchtbar viel Lärm und Dreck, kreischen und flattern herum. Doch jeder ist froh über ihre Wiederkehr, und es scheint, als hätten alle sie vermisst. Auch dazu sage ich besser nichts, denn ich weiß nicht, wie es auf den Inseln war, bevor sie zurückkamen. Ich glaube nicht, dass mein Bruder all seine Gewohnheiten aufgegeben hat. So habe ich zum Beispiel entdeckt, dass einige Möwen inzwischen kleine Nummernschildchen um den Hals tragen. Ich hab Maxie danach gefragt, aber natürlich tut er vollkommen ahnungslos. Doch ich habe so meinen Verdacht und verspreche, euch auf dem Laufenden zu halten. Manchmal träume ich noch immer davon, Jungkommissarin zu sein. Doch seltsam: Hier auf den Inseln scheint nie ein Verbrechen zu geschehen. Ich denke also, dass es nicht viel zu ermitteln gibt. Vielleicht ziehe ich eines Tages los und versuche es noch mal - wenn mich das 405 Leben hier langweilen sollte, vielleicht. Im Moment aber ist es alles andere als langweilig. Die Inseln sind absolut herrlich. Ich fühle mich jeden Tag wie neugeboren, und alles ist brandneu - der Himmel und die Klippen, das hohe Gras, der Klee und das Meer. Die Farben strahlen so, wie sie es im ersten Tuschkasten meines Lebens getan haben, und alles atmet Reinheit, ja Vollkommenheit. Es ist so schön, dass mir mitunter beinahe unheimlich zumute ist. Jüngst hatte ich Kontakt zu Davina. Sie ist wieder bei den Katzenmädchen und hat es dort erneut zur Patrouillenleiterin gebracht, will mich aber unbedingt hier draußen besuchen, hoffentlich im Herbst. Und sie will ihre Mutter dazu bringen mitzukommen - und vielleicht auch Lulu und die kleine Maria. Ich frage mich, was sie von meinem neuen Leben halten werden. Und offen gestanden frage ich mich auch, ob ich mit ihnen so klarkomme, wie ich es früher getan habe. Ich hab so viel Neues erlebt - und nach allem, was Davina erzählt hat, ist es den Übrigen genauso ergangen. Also muss ich wohl einfach abwarten. Ich schätze, ich bin letztes Jahr ein ganzes Stück erwachsener geworden. 406 Epilog Und das Große Wesen weinte, Denn nichts würde ins Lot kommen, Solange nicht die Möwen An die Küste zurückkehrten. Doch nun sind die Möwen endlich ans Meer zurückgekehrt. Der Kampf ist vorbei, der Widersacher bezwungen. Das hätte ich ohne euch nicht geschafft, meine treuen Helfer, die ihr alle euer Bestes gegeben habt. Der Magier mit seinen Geräten, der Hauptmann mit seinen Vorschriften, der Zeichner mit seinen Landkarten, das agile Mädchen und der hinkende Junge, der arme, kleine Junge, der nicht die Kraft hatte, den Kampf zu überstehen, und nun nie mehr humpeln wird. Dann gab es natürlich auch all die Leute von den Inseln - von der Zukunftsinsel und der Insel der Vergangenheit, dem Eiland des Verlangens und dem der Vernunft, der Erd- und der Himmelsinsel. Beim großen Fest sind ihre Stimmen verschmolzen und haben etwas erschaffen, das größer gewesen ist als die Summe seiner Teile - eine Kraft, die jede andere Kraft übertroffen hat. Dann gab es die Möwentreiber. Ihr seid nun verstreut, treue Treiber, einmal mehr kreuz und quer im Land verteilt. Eure Reise ist vorbei, eure Aufgabe erfüllt, und 407 schon verschwindet ihr langsam aus dem Blick. Eure Spuren verwehen, eure Stimmen und Musikinstrumente

Page 120: Cockayne - Die Glückssucher 3 - Das himmlische Kind

klingen nur noch schwach herüber. Und auch meine Aufgabe ist für diesmal erfüllt. Denn ich, Blaise, regiere das Netz nun umfassend und unangefochten. Jetzt bin ich überall, In euch und um euch, Vor und neben euch, Über und hinter euch. Und wo bist du, Lee? Treibst du vielleicht ertrunken bei den Äußeren Inseln? Oder wurdest du wie Staub in die entferntesten Ecken des Netzwerks getragen? Kauerst du in der Ritze zwischen zwei Dielenbrettern, oder lauerst du als das Schwarze unter einem Fingernagel? Denn du kannst mich nicht täuschen, Widerling, dafür kenne ich dich zu gut. Ich mag heute gewonnen haben, doch du bist so alt wie ich - und auch so stark und gerissen. Ich weiß, dass du eines Tages wieder zu Kräften kommen und ins Netz zurückkehren wirst, um einen neuen Kampf auszutragen. Nächstes Mal gewinnst vielleicht du, vielleicht ich, doch ich weiß, dass der Kampf nie zu Ende ist, sondern bis in alle Ewigkeit weitergeht. Du und ich -Dunkel und Licht. Blaise und Lee - Vorbei ist das nie. 408 Doch jetzt bin ich müde, alter Widersacher. Diesmal war es ein langer Kampf, und wir werden beide nicht jünger. Vielleicht lässt du mich wenigstens in aller Ruhe ein kleines Nickerchen machen. Das ist lieb von dir, Lee, wirklich. Ich glaube, ich bin schon am Eindösen. Kannst du mir eins versprechen? Wenn ich eingeschlafen bin, musst auch du einschlafen. Ich möchte nicht, dass du wieder Unfug treibst, wenn ich mir eine Mütze voll Schlaf gönne. Los, versprich es. Und du meinst es auch ernst? Wirklich? Dann gute Nacht, Lee. Gute Nacht.