Communities 2.0 - virtuelle Gemeinschaft oder moderne Tauschgesellschaft?
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Communities 2.0
–
virtuelle Gemeinschaft odermoderne Tauschgesellschaft?
Richard Bretzger
Technische Universität BerlinInstitut für Soziologie
Juli 2009
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Ferdinand Tönnies und der “2.0” - Hype 3
2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffs 3
2.1 Die Gemeinschaft bei Tönnies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
2.2 Die Gesellschaft bei Tönnies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs 8
3.1 Der Begriff “Community” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3.2 Die Semantik des Buzzword “2.0” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103.3 “Community” plus “2.0” – was die Begrifflichkeit nicht leisten kann . . . . 11
4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und Community 2.0 13
4.1 Community 2.0 ist eine virtuelle Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . 13
4.2 Community 2.0 ist eine moderne Tauschgesellschaft . . . . . . . . . . . . 15
4.3 Community 2.0 ist weder noch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
5 Ausblick: Community liberated 17
Literatur 18
2
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1 Ferdinand Tönnies und der “2.0” - Hype
1 Ferdinand Tönnies und der “2.0” - Hype
Als der Soziologie Ferdinand Tönnies 1887 sein Grundlagenwerk “Gemeinschaft und
Gesellschaft” verfasste, prägte er damit elementar den Begriff Gemeinschaft , mit Hilfe
dessen er die Formen des Zusammenlebens im 19ten Jahrhundert beschrieb. Vor allem
enge familiäre Bindungen und dörfliche Strukturen prägten dabei die Perspektive auf
die Idealform der beschriebenen Gemeinschaftsformen, die der aus einer großbäuerlichen
Familie stammende Tönnies erörterte. Nun, über 120 Jahre später, taucht dieser Begriff
in seiner anglizistischen Form erneut in unzählichen Kontexten und Zusammenhängen
auf: Die Rede ist von Communities im sogenannten Web 2.0 – einer vermeintlich neu-
en Form der Vergemeinschaftung, die sich primär technisch über das Internet formiert.Während die Anfänge des Internet in den 1980er Jahren eher eine Beschleunigung der
Kommunikation (Stichwort E-Mail) bedeutete, meint das neue Web 2.0 die partizipa-
tive Form der Kommunikation im Internet. Längst haben sich die Begriffe Community
sowie das Wortanhängsel “2.0” als Zugpferde für die neue Generation der Internetnut-
zer erwiesen. Jede Innovation im Internet wird meist nur dann als wirkliche Innovation
begriffen, wenn sie eine Community besitzt oder sich als Web 2.0-Anwendung begreift.
In dieser Arbeit möchte ich nun untersuchen, ob diese Communities tatsächlich in Zu-
sammenhang mit dem Tönnies’schen Gemeinschaftsbegriffs gesehen werden können undnun lediglich eine Art durch das Internet virtualisierte Form der Gemeinschaft vorliegt,
oder ob der Begriff eher dem von Tönnies diametral entgegengesetzten Begriff der Ge-
sellschaft zuzuordnen ist. Nachdem ich anschließend darlege, warum eine trennscharfe
Einteilung nicht möglich ist, möchte ich in einem kurzen Ausblick die Perspektive für
eine neue analytische Kategorie der Community 2.0 öffnen.
2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und
Gesellschaftsbegriffs
Sobald sich Individuen in Beziehungsgeflechten zusammen finden, sind sie für die So-
ziologie interessant. Bereits seit der Begründung der Soziologie suchen Wissenschaftler
Definitionen für die verschiedenen erkennbaren sozialen Gebilde. Gerade die Begriffe Ge-
meinschaft und Gesellschaft scheinen dabei nicht nur für die Gründungsväter der Sozio-
logie von zentraler Relevanz zu sein. Der Wandel in den Beziehungsstrukturen ruft dabei
immer wieder neu die Frage nach der begrifflichen Bestimmung dieser zentralen Phäno-
3
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2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffs
mene auf. Während die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander bei Ferdinand
Tönnies (1887) noch vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der Moderne stan-den, hat der auftreibende Dienstleistungsbereich bei Max Weber (1972[1922]) bereits
einige Zeit später eine Entschärfung der kritischen Aufteilung der Tönnies’schen Defi-
nitorik zur Folge. Der Übergang zur Dienstleistungs-, später auch Wissensgesellschaft
ruft wiederum eine andere Orientierung beim strukturfunktionalistisch orientierten Tal-
cott Parsons (1967[1937]) hervor und mündet schließlich in postmodernen Konzepten
der Soziologie, wie zum Beispiel den posttraditionalen Gemeinschaften bei Ronald Hitz-
ler et al. (2008). Da die Anfänge der soziologischen Betrachtung von Gemeinschaft und
Gesellschaft wohl unumstritten, wenn auch zunächst wenig betrachtet und erst später
durch Max Webers Begriffe der Ver gemeinschaftung und Ver gesellschaftung wiederbe-
lebt, Ferdinand Tönnies zuzurechnen sind, soll der Fokus der theoretischen Einordnung
bei dessen Begriffsbestimmung liegen.
2.1 Die Gemeinschaft bei Tönnies
Für Tönnies haben alle Beziehungsgeflechte eine gemeinsame Wurzel, die sich als Basis
für drei elementare Arten von Verhältnissen erweist:
“Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang des ve-getativen Lebens durch die Geburt; die Thatsache, dass menschliche Willen,
insofern als jeder einer leiblichen Constitution entspricht, durch Abstammung
und Geschlecht mit einander verbunden sind und bleiben, oder nothwendiger
Weise werden; welche Verbundenheit als unmittelbare gegenseitige Bejahung
in der am meisten energischen Weise sich darstellt durch drei Arten von
Verhältnissen; nämlich 1) durch das Verhältniss zwischen einer Mutter und
ihrem Kinde; 2) durch das Verhältnis zwischen Mann und Weib als Gat-
ten [...] 3) zwischen den als Geschwister, d. i. zum wenigsten als Sprossendesselben mütterlichen Leibes sich Kennenden.” (Tönnies 1887: 9f)
Die Mutter-Kind Beziehung ist also der Ausgangspunkt für die Gemeinschaft, wobei der
leibliche Aspekt auch hierbei schon abstufend betrachtet werden muss: Während zu Be-
ginn der Mutter-Kind Beziehung noch die mütterliche Fürsorge und die Schutzlosigkeit
des Kindes die Bindung verursacht, löst sich diese Notwendigkeit mit fortschreitendem
Alter auf. Die conditio sine qua non wird ersetzt durch die Gewohnheit der gegenseitigen
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2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffs
Bindung, gestützt durch gemeinsame Erfahrungen, Dankbarkeit des Kindes und “Erin-
nerungen an Dinge der Umgebung, die ursprünglich angenehm oder angenehm gewordensind; so auch an bekannte, hülfreiche, liebende Menschen; als der Vater sein mag, wenn
er mit dem Weibe zusammenlebt, oder Brüder und Schwestern [...]” (Tönnies 1887: 10).
Die Gewohnheit und Erinnerung, die Tönnies sowohl bei Mutter-Kind Beziehungen, als
auch bei den Beziehungen zwischen Vater-Mutter,1 Geschwistern und zwischen nahen
Verwandten als konstituierend sieht, gleicht die abnehmende Bindung durch “Instinct”
aus. Darin begründet sich auch die hinreichende, wenn auch nicht zwingend notwendi-
ge Bedingung der räumlichen Nähe: “Verwandschaft hat das Haus als ihre Stätte und
gleichsam als ihren Leib;” (Tönnies 1887: 17). Die Verwandtschaft trennt sich nur schwer
von der räumlichen Nähe, vom gemeinsamen Haus2 in dem sie es gewohnt ist, Schutz zu
finden. Diese Bindungsform ist für Tönnies die Gemeinschaft des Blutes .
Die nächste Gemeinschaftsform ist für Tönnies die Gemeinschaft des Ortes . Auch hier
spielt die räumliche Dimension eine entscheidende Rolle: die Nähe der Wohnstätten,
die Begrenzung des Ortes nach außen hin, Begegnungen und Berührungen der Men-
schen sowie eine gemeinsame Arbeits-, Ordnungs- und Verwaltungsorganisation führen
zu Vertrautheit und Gewöhnung aneinander. Diese Gemeinschaft kann zwar in Abwesen-
heit immer noch erhalten bleiben, was aber wiederum einer Kompensation durch einen
erhöhten Aufwand an Ritualen und Bräuchen bedarf. Die bei zunehmender Entfernungfehlende räumliche Ähnlichkeit muss also umso mehr durch die Ähnlichkeit der sich in
Ritualen und Bräuchen zeigenden gemeinsamen Handlungen wiederhergestellt werden.
Während sich die Gleichheit und Ähnlichkeit in der Nachbarschaft durch die räumliche
Nähe oder eben die gemeinsamen Handlungen zeigt, zeigt sie sich bei der Gemeinschaft
des Geistes , Tönnies’ letzter Gemeinschaftsform, am ehesten im Beruf (wohl auch zu
verstehen als Berufung) und in der Kunst. Es finden sich Kunst-, Standes- und vor al-
lem Glaubensgenossen3 zusammen. Tönnies meint damit die Freundschaft. “Solch ein
Band muss aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft und erhalten wer-den[...]” (Tönnies 1887: 18), womit er neben der räumlichen Begegnung vor allem den
1Der Sexual-Instikt macht dabei nicht die bedeutende Grundlage zur Beziehungsstärke aus, diese wirdbei Tönnies erst durch die Dauerhaftigkeit der Beziehung zwischen Mann und Frau verortet.
2Über diesen Mittelpunkt des gemeinsamen Hauses steht die Tafel wiederum im Mittelpunkt desHauses, denn dort wird gemeinsam Nahrung aus dem gemeinsamen Vorrat aufgenommen und somitdie leibliche Versorgung ins Zentrum der Gemeinschaft gestellt.
3Im Folgenden wird zur Erleichterung der Lesbarkeit auf die explizite Angabe des Geschlechts in derPersonenbezeichnung verzichtet. Gemeint sind stets Personen jeden Geschlechts.
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2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffs
geistigen Austausch meint. Durch den Bund der Freundschaft entsteht ein gemeinsa-
mer Geist, der auch jenseits der räumlichen Nähe fortbesteht und sich in der Freund-schaft fortträgt: “so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer
Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine
künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen lebendig ist” (Tönnies 1887:
18). Diese Art von Gemeinschaft ist demnach nicht naturwüchsig. Sie beruht auf Zufall
oder freier Wahl und zeigt ihre Wahrheit in gegenseitigem Vertrauen und Glauben. Und
im Gegensatz zur Verwandtschaft und zur Nachbarschaft kann sie Zusammenleben auch
nur zu einem gewissen Grad vertragen, “denn die dauernde Nähe und Häufigkeit der
Berührungen bedeutet ebensowohl als gegenseitige Förderung und Bejahung, auch ge-
genseitige Hemmung und Verneinung” (Tönnies 1887: 19), die Bindung kann also nicht
mehr durch Gewohnheit des Zusammenlebens die schwankende geistige Zusammengehö-
rigkeit ausgleichen, was die Freundschaft vielmehr anfällig für Störungen macht. Sie muss
allein durch die jeweilige Individualität und durch den Zuspruch zum Anderen bestehen
bleiben. Aus dieser Argumentation heraus bezeichnet Tönnies diese Form der Gemein-
schaft auch als die menschliche , während die beiden anderen Gemeinschaftsformen eher
instinktiv-animalische Zuschreibungen bekommen.
Die drei Formen der Gemeinschaft werden also bereits auf einer, wenn auch unscharf
trennbaren, Abstufungsskala in wiederum drei Dimensionen, dargestellt: Die Dimen-sion der naturwüchsigen Konnotierung, die der räumlichen Nähe, sowie die zwischen
instinktiv-animalisch und menschlich unterscheidenden Dimension.
Von bedeutender Relevanz ist in all diesen Gemeinschaften die Unterstellung, dass jede
Handlung auf das Kollektiv bezogen ist, alle Mitglieder miteinander vertraut sind und
die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft exklusiv ist, d. h. es gibt keine Mehrfachmitglied-
schaften in z. B. mehreren Familien gleichzeitig (vgl. Hellmann 2008: 1). Den Willen zur
Gemeinschaft nennt Tönnies “Wesenwille” und ergänzt, “die Spähre des gemeinschaft-
lichen Lebens und Arbeitens [sei] den Frauen vorzüglich angemessen, ja nothwendig”(Tönnies 1887: 183). Egal in welcher dieser Gemeinschaftsformen, für Tönnies ist die
Verbundenheit in einer Gemeinschaft notwendig, herzlich, organisch, dauern und echt.
Man kann also durchaus behaupten, dass er einen unterschwelligen Pathos zur Gemein-
schaft hegt4, der ihn Stellung beziehen lässt gegen die Ausprägung des zweiten, von ihm
definierten sozialen Phänomen.
4Siehe hierzu auch die Infragestellung der nomologischen Fundierung der Tönnies’schen Terminologievon Hellmann (2008: 6).
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2 Theoretische Einordnung des Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffs
2.2 Die Gesellschaft bei Tönnies
Stellt man sich eine Skala mit zwei gegensätzlichen Polen vor, so nimmt die Gemeinschaftbei Tönnies die eine Seite ein, die Gesellschaft die diametral entgegengesetzte: Das eine
ist bei Tönnies das Gegenteil des anderen. Während die Gemeinschaft das alte, anthro-
pologische Muster des Zusammenlebens ist, in dem jeder nur zusammen existiert, ist in
der Gesellschaft jeder für sich alleine und grenzt sich zum Anderen ab. Diese negative
Grundhaltung ist für Tönnies der Zustand der Ruhe in der Gesellschaft.
“Keiner wird für den Anderen etwas thun und leisten, Keiner dem Anderen
etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder
Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet. Es
ist sogar nothwendig, dass sie ihm willkommener sei, als was er hätte behalten
können, denn nur die Erlangung eines Besser-Scheinenden wird ihn bewegen,
ein Gutes von sich zu lösen.” (Tönnies 1887: 47)
Materialität und Tausch sind also Motor der Gesellschaft. Jedes Individuum steht dabei
für sich selbst – und nur für sich selbst – und ist ausschließlicher Herrscher über seine
Güter5. Die Legitimation im Besitz von Gütern liegt nach Tönnies im Ausschluss von
Anderen, Güter werden in Gesellschaften nicht miteinander geteilt, sondern vielmehr vonAnderen verschlossen und der Besitzstand deutlich abgegrenzt. Ein Gut kann nur im Mo-
ment des Tauschen-Wollens ein gemeinsames Gut oder ein sozialer Wert werden. Wenn
Menschen in Gesellschaften zusammenkommen, so ist dies also ein zeitlich begrenzter
Akt, der keiner tiefer reichenderer Motive als des Tauschwillens bedarf. Dieser wiederum
ist immer ein Wille zur Erlangung eines Vorteils gegenüber dem Anderen. Durch dieses
Vorteils-Streben ergibt sich eine Problematik in der Objektivierung des Tauschwertes
einer Sache. Strebt jedes Individuum nur nach dem besten Gut, so existieren keine Ab-
nehmer für Güter geringeren Wertes. Der Tauschwille würde nur für hochwertige Güter
weiter existieren. Diesen Zwiespalt löst Tönnies, indem er besagt, dass sich der Wert
eines Gutes zwar aus der geteilten Wertvorstellung aller, d. h. der Öffentlichkeit, ergibt,
der subjektive Wert eines Gutes für jedes Individuum jedoch ein anderer ist. Was für
den Einen nutzlos erscheint, kann sich für den Anderen durchaus als nützlich erweisen.
5Die Beschaffenheit eines Gutes, einer Sache oder eines Tauschobjekts soll hier sowohl materiell (unddies zwar primär), jedoch auch immateriell verstanden sein. Tönnies expliziert dies in den Anfängenseiner Ausführungen nicht, weißt jedoch später auch auf die Immaterialität von Tauschgegenständenhin. Vgl. hierzu auch Bickel (2003).
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3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
Durch diese Differenz des Wertes wird der Tauschwille aufrecht erhalten.6 Die Zusam-
menkunft divergierender Willen kommt Zustande durch die gemeinsame Schnittmengedieser, dem “Contract” (vgl. Tönnies 1887: 54). Gesellschaften konstituieren sich daher
aus rein zweckrationalen Gründen, die Mitgliedschaften sind nur in der jeweiligen Situa-
tion verbindlich (vgl. Hellmann 2008: 2), es sind artifiziell geschaffene Konstrukte, die
nichts mehr mit der organischen Konstitution und mit der Emotionalität von Gemein-
schaft gleich haben. Wenn eine Gesellschaft als Ganzes gesehen wird, so besteht diese
eigentlich aus getrennten Individuen, die durch das Existieren eines Contracts für die
allgemeine Gesellschaft tätig werden (vgl. Tönnies 1887: 52). Den der Gesellschaft zu-
grunde liegenden Willen bezeichnet Tönnies als die “Willkür” (Tönnies 1887: 183), auch
“Kürwille” genannt (vgl. Knoblauch 2008: 75).
3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
Ich habe im vorangegangenen Kapitel das Werk von Tönnies zur Beschreibung von
Gemeinschaft und Gesellschaft gewählt, da dessen Schriften die wohl umfangreichste
und in der Soziologie am längsten verbreitetste theoretische Grundlage ist, um mit diesen
Begriffen arbeiten zu können. Hierauf aufbauend, möchte ich nun den Begriff Community
näher bestimmen, um anschließend seine Verortung in die dargelegten theoretischenKategorien zu ermöglichen.
3.1 Der Begriff “Community”
Der Community-Begriff, auf den ich mich hier beziehen möchte, taucht vor allem in
Zusammenhang mit Internetanwendungen auf. Die (menschlichen) Individuen, die unter
diesem Begriff zusammengefasst werden sollen, stehen nicht in erster Linie in realem
Kontakt zueinander, sondern vor allem in einem virtuellen , durch neue Technologien
vermittelten, vor allem auf Kommunikation basierenden Kontakt. Verschiedene “neue”
Internetanwendungen wie Chats , Foren, Kontaktbörsen, Weblogs etc. ermöglichen den
Benutzern eine technisch vermittelte Kommunikation miteinander. Community stellt
dabei einen Neologismus für eine gemischte Semantik aus sozialen Gruppen, sozialen
6Tönnies wählt an dieser Stelle Branntwein als Beispiel: Für den Arbeiter, der Branntwein trinkenmöchte, ist der Branntwein nützlich – für den Branntwein-Unternehmer jedoch nicht in dem erihn trinkt, sondern nur dadurch, dass er ihn verkauft und als Gegenleistung etwas anderes, für ihnnützlicheres erhält (vgl. Tönnies 1887: 50).
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3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
Netzwerken, virtuellen Gruppen oder virtuellen Freundschaften dar. Der Begriff ist also
keinesfalls als etymologisch eindeutige Ableitung des Gemeinschafts -Begriffs zu sehen.Der inflationäre Gebrauch dieses Wortes als Anglizismus verdeutlicht vielmehr die Un-
einheitlichkeit der eigentlichen Semantik, auf die sich bezogen wird. Daher soll an dieser
Stelle der Begriff, um den es sich eigentlich handelt, genauer eingegrenzt werden:
Auf formaler Ebene sind Communities nicht als “Arbeitsgruppen” zu verstehen, deren
organisatorische Zusammensetzung lediglich und primärintentional zur kollaborativen
Erreichung eines Arbeits-Ziels einer Organisation bestimmt ist. Die Mitgliedschaft in ei-
ner Community ist in der Regel nicht formal bestimmt.7 Die Betrachtungsebene der hier
untersuchten Communities fokussiert sich auf die virtuellen Kontakte, so dass Kommu-
nikation zwischen den Mitgliedern wenig im face-to-face-Kontakt statt findet, sondern
meist in virtuellem Austausch. Die Tatsache, dass Communities ebenfalls als durch reale
face-to-face-Kontakte entstandene und erst später ins Virtuelle transformierte Gebilde
betrachtet werden können, soll hier unangerührt bleiben und weiterhin als mögliche Ent-
stehungsbedingung gesehen werden.8 Bei Betrachtung der face-to-face Begegnungen in
Communities soll dabei unterschieden werden zwischen Communities, die erst in der
Realität entstanden sind und deren face-to-face-Kontakte danach zunehmend abnah-
men,9 während die virtuelle Kommunikation zunahm, und solchen, die in der Virtualität
entstanden sind und sich anschließend im Realen ebenfalls trafen10, was aber nicht zurAbnahme der virtuell vermittelten Kommunikation führte.11
Auf inhaltlicher Ebene ist die Bildung von Communities interessengebunden und af-
fektuell . In Anlehnung an die Interpretation von Reinbacher (2008: 70) ist hier der Sinn-
zusammenhang der Gruppe als “durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen
7Vgl. hierzu auch die systemtheoretische Untersuchung zur Verortung der Community zwischen einfa-chen Systemen und Organisationen von Reinbacher (2008: 67ff).
8An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass einige Autoren die Meinung vertreten, dass regelmä-
ßiges Zusammentreffen der Mitglieder eine conditio sine qua non für den Erhalt der Gruppe darstellt(vgl. Neidhardt 1999: 140f). Da hier jedoch weniger die kontinuierliche Stabilität einer sozialen Grup-
pe dargestellt werden soll, als vielmehr die durchaus auch spontane und lockere Gebundenheit derCommunity, soll dieser Behauptung im Folgenden keine weitere Beachtung geschenkt werden.
9Wie z. B. Klassenbekanntschaften, die sich nach dem Schulabschluss in virtuellen Netzwerken wiestayfriends.de zusammen finden.
10Wie z. B. Anhänger einer bestimmten Produktmarke in einem Forum, die sich zu einem regionalenEvent (Community-Camp) verabreden.
11Eine weitere Art von Community, die ich hier aufgrund der Schwerpunktsetzung auf die Web 2.0-Technologien nicht behandeln werde, ist die vom Virtuellen vollständig ins Reale transformierteGruppe, bei der nach der Konstitution in der Realität die technisch vermittelte Kommunikation nureine marginale Rolle spielt.
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3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt” (Neidhardt 1999: 135). Die Mitglieder
der Community fühlen sich durch spezifische Merkmale als zugehörig zu den anderenMitgliedern der Community. Diese Merkmale können dabei aber sehr unterschiedlichen
Ursprungs sein: Die Mitglieder können z. B. Anhänger eines bestimmten Produkts oder
eine Marke sein, gemeinsame politische Interessen vertreten, oder sich durch gemeinsa-
me Herkunft auszeichnen. Dabei manifestiert sich zumeist ein mehr oder minder stark
ausgeprägtes gemeinsames Interesse: Die Vertretung einer geteilten politischen Meinung
(z. B. die Internetcommunity der Grünen Jugend ), die Problemlösung bei Anwenderpro-
blemen zu einem bestimmten Produkt (z. B. ein Anwenderforum zu einem spezifischen
Handymodell), der Meinungsaustausch rund um eine gemeinsame Fragestellung oder ein
gesellschaftliches Anliegen (z. B. der Weblogverbund zum Mobilisierung von Anwohnern
zum Stopp eines Autobahnausbaus), der Austausch von Tipps zu einem gemeinsam ge-
teilten Hobby (z. B. ein Kochrezepte-Forum), oder der Wunsch nach Anerkennung von
Gleichgesinnten (z. B. ein Internetchat für schwule und lesbische Jugendliche). Die Stär-
ke des gemeinsamen Interesses und der Bindung innnerhalb der Community ist dabei
jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt.
3.2 Die Semantik des Buzzword “2.0”
In Grundzügen gab es bereits seit der Entstehung der ersten Formen des Internet virtuel-
le Communities. Im als Vorgänger des heute bekannten Internet geltenden ARPANET 12
bildete sich in den 1970ern der erste dokumentierte Fall einer virtuellen Community,
als sich Wissenschaftler eher beiläufig über ihr Science-fiction -Hobby austauschten. Sie
benutzten dazu die E-Mail-Funktion und gründeten eine E-Mail-Liste mit dem Namen
SF-LOVERS. Schnell stieg die Anzahl der Nutzer auch über den Kontext der wissen-
schaftlichen Mitarbeiter der ARPA hinaus und es bildeten sich auch Gruppen rund um
politische Themen wie den damals aktuellen politisierenden Vietnamkrieg (vgl. Rhein-
gold 2000: 70). Von den hier gemeinten Communities waren die damaligen jedoch noch
weit entfernt: Der Zugang zu den an das Netzwerk angeschlossenen Computern war nur
für wenige Menschen, meistens Wissenschaftler, möglich. Erst duch die weite Verbreitung
der ersten Form des WWW als Massenphänomen in den 1990ern haben sich virtuelle
Gruppen auch in weiteren Teilen der Gesellschaft ausbreiten können (vgl. Thiedeke 2007:
12Das ARPANET ist ein zu Forschungszwecken gegründeter Computer-Netzwerk der Advanced Research
Projects Agency.
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3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
29). Mit der Konsolidierungsphase des Internet als selbstverständliches Massenmedium
haben sich stetig neue Plattformen und Anwendungen für Nutzer entwickelt, die seitetwa fünf Jahren einen weiteren Entwicklungssprung erlebt haben: Die Nutzungsart ver-
ändert sich weg von einer passiven Nutzung der von einigen Wenigen zur Verfügung
gestellten Inhalte (some to many ) zu einer aktiven Nutzungsform, die dem Paradigma
der partizipativen Internetnutzung unterliegt (many to many ). O’Reilly veröffentlichte
2005 einen Artikel in dem er für Softwareentwickler einen Ausblick auf neue Internet-
Anwendungsarten vorstellte. Er fasste diese neuen Anwendungen mit dem Begriff Web
2.0 zusammen und erntete damit ein starkes Medienecho, welches fortan den Begriff
für alle Formen der aktuellen Internetplattformen prägten, die an der Beteiligung vie-
ler Nutzer orientiert sind. Schnell stellt sich heraus, dass dieses Wort durch die weite
Verbreitung und Rezeption in den unterschiedlichsten Medien keiner eindeutigen Defini-
tion unterliegt, sondern eher eine Art Buzzword darstellt. Dabei wird dieser Begriff sehr
häufig für viele Formen von Innovationen im Internet verwendet, meint meist unhierar-
chische Formen der Benutzerbeteiligung, oft auch die Möglichkeit der Benutzer, selbst
Inhalte (Text, Fotos, Videos etc.) auf einer Plattform öffentlich zu machen.
3.3 “Community” plus “2.0” – was die Begrifflichkeit nicht leisten kann
Auch wenn diese Einordnung einen mehr oder minder starken Zugriff auf die Semantik
des 2.0-Begriffs erlaubt, so ist jedoch nicht zurückzuweisen, dass diese sehr verschwom-
men und keineswegs eindeutig definierbar ist. Daher versuche ich an dieser Stelle eine
Einordnung verschiedener Web 2.0-Communities in vier (Arbeits-)Kategorien:
Inhaltsbasiert-produzierend sind Communities, die eigene Inhalte produzieren und auf
ausgewählten Plattformen anderen Benutzern zur Verfügung stellen, damit diese
Zugriff auf diese Inhalte erlangen und selbst wiederum mit erneuten Beiträgen
darauf antworten. Dies ist zum Beispiel die Foto-Plattform Flickr 13
, die Video-Plattform Youtube 14, aber auch private Weblogs 15, auf denen Anwender eigene
Inhalte (oft in Form von Text) zu vielfältigen, meist nicht spezifizierten Themen
veröffentlichen.
13http://www.flickr.com14http://www.youtube.com15Siehe eine Auswahl von privaten Weblogs z. B. auf der Weblog-Suchmaschine Technorati. Mehr zur
Typologie der Weblogs findet sich in der kommunikationssoziologischen Untersuchung von Schmidt(2006).
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3 Kritische Eingrenzung des “Community 2.0”-Begriffs
Kontaktbasiert sind Communities, die sich besonders aufgrund von gemeinsamen sozial-
relevanten Kriterien zusammenfinden und so miteinander in Kontakt kommen. Diessind beispielsweise die großen Internetanwendungen facebook 16, studiVZ 17 oder das
Karrierenetzwerk Xing 18. Oft spielen bei diesen Anwendungen Merkmale wie der
Besuch der gemeinsamen Universität, Favoritisierung einer Musikrichtung oder die
Herkunft aus der gleichen Stadt eine Rolle.19
Informell-kollaborative Communities finden sich aus persönlichen Interessen zusam-
men um gemeinsam an einem informell organisierten Projekt zu arbeiten. Dies
sind zum Beispiel die Autoren von Wikipedia 20, die gemeinsam an der Erstellung
von Artikeln in der Online-Enzyklopädie arbeiten oder eine Entwicklergruppe vonOpen-Source-Software.21
Thematisch-problemorientiert sind Communities, die sich rund um ein gemeinsames
Interesse, Problem oder Anliegen formieren. Oft finden diese Ausdruck in Foren,
Themenchats oder virtuellen Pinnwänden von Herstellern.
Die Vielzahl der Communities lässt sich in diese vier Kategorien einordnen, jedoch liegt
eine Überschneidung von verschiedenen Kategorien auch in der Beschaffenheit der In-
ternetanwendungen: Gerade die “großen” Plattformen zielen darauf ab, möglichst vieleEinzelanwendungen zu kombinieren und zu umfassen: So bietet facebook z. B. ebenfalls
die Möglichkeit, eigene thematische Untergruppen zu bilden und dort eigene Weblogs
oder Foren zu betreiben, viele thematisch-problemorientierte Communities arbeiten auch
gemeinsam an der Produktion von bestimmten Inhalten oder Artikeln. Eine trennscharfe
Abgrenzung ist also auch hier, genauso wie beim Begriff Community an sich oder beim
Web 2.0 , nicht möglich.
Um den soziologischen Blick auf die jeweiligen Communities zu ermöglichen, ist da-
her eine Trennung von Semantik und inhaltlicher Beschaffenheit notwendig: Sowohl die16http://www.facebook.com17http://www.studivz.de18http://www.xing.com19Dabei wird oft der Netzwerkeffekt der lockeren Bekanntschaften von Granovetter (1973) genutzt, um
sein persönliches Netzwerk zu vergrößern: Je mehr lockere Bekanntschaften existieren, desto höherist die Wahrscheinlichkeit diese im Bedarfsfall auch nutzen zu können. Über die Einblendung vonFreunden von Freunden erweitert sich so die eigene “Kontaktliste”.
20http://www.wikipedia.org21Zur Genese und Typologie von Communities in der Kooperation zu quelloffener Software siehe Tepe
und Hepp 2008.
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4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und Community 2.0
Ebene der Emotionalität innerhalb der Community, als auch deren spezifischen Hand-
lungen und die Art und Weise wie die einzelnen Mitglieder miteinander agieren, istbesser geeignet für die Zuordnung der Communities in die von Tönnies beschriebenen
Begriffspaare.
4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und
Community 2.0
Ist es mit dieser Art von innerem Blick nun möglich, die Web 2.0 Communities im theo-
retischen Konzept von Tönnies eindeutig zuzuordnen? Würde Tönnies mit dem Phäno-men Community 2.0 in Berührung kommen, als was würde er es bezeichnen? Bei dem
Versuch eine Antwort darauf zu liefern, werde ich nun zuerst die oben begrifflich ein-
gegrenzten Communities dem Gemeinschaftsbegriff zuordnen, um anschließend selbiges
mit dem Gesellschaftsbegriff zu unternehmen. Damit möchte ich mögliche Überschnei-
dungen, aber auch sich gegenseitig ausschließende Merkmale identifizieren.
4.1 Community 2.0 ist eine virtuelle Gemeinschaft
Von den drei bei Tönnies existenten Gemeinschaftsformen, Gemeinschaft des Blutes,des Ortes und des Geistes, eignet sich die Gemeinschaft des Blutes wohl am wenigstens
zu einer Einordnung der Community. Der naturwüchsig konnotierte verwandschaftliche
Zusammenhang tritt bei der Community 2.0 in den Hintergrund, allenfalls in kontakt-
basierten Communities ist vorstellbar, dass Verwandtschaften die örtlich getrennt sind,
durch Internetplattformen in Kontakt bleiben. Die so stark betonte räumliche Nähe in
der Gemeinschaft des Blutes fällt dagegen komplett weg. Ähnlich verhält es sich bei der
Gemeinschaft des Ortes. Die zentrale Rolle der räumlichen Dimension erfährt bei den
neuen Communities keine Bedeutung. Vielmehr zeichnen sie sich sogar dadurch aus, dass
die räumliche Nähe irrelevant wird: bei drei von den vorgestellten Kategorien der Com-
muniy 2.0 ist der Aufenthaltsort der Mitglieder meist überhaupt nicht zu erkennen, nur
bei den kontaktbasierten Communities lässt sich die Kategorie Raum einführen: Die ge-
meinsame Geburtsstadt, die gleiche Universität, die gemeinsame Schule. Gerade aber die
von Tönnies betonten Begegnungen und Berührungen der Menschen, die zu Vertrautheit
und Gewöhnung führen, sind nun nicht mehr vorhanden, da der meiste Kontakt virtuell
statt findet. Die Kompensation der räumlichen Entfernung durch Rituale und Bräuche
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4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und Community 2.0
ist zwar in einigen Communities gegeben (z. B. die Community-Treffen oder -Camps ),
jedoch dürften diese face-to-face Rituale nicht in dem vom Tönnies gemeinten erhöhtenAufwand betrieben werden, der zum Ausgleich notwendig wäre. Erweitert man jedoch
den Spielraum von Ritualen und Bräuchen von reinen face-to-face-Treffen auf ebenfalls
virtuelle, durch Kommunikation stattfindende Handlungen, so bekommt diese Dimension
wieder zunehmend Relevanz: Begrüßungsrituale, Insider-Witze oder gar Zeremonien22
sind in den meisten Formen von Communities verbreitet.
Tönnies Gemeinschaft des Geistes trifft wohl aber am ehesten auf die Community
2.0 zu: Gemeinsame Interessen sind die Grundlage dieser Gemeinschaft. Diese Com-
munity kann unabhängig von naturwüchsiger Konnotierung, räumlicher Nähe oder der
instinktiv-animalischen Dimension vollständig die von Tönnies dargestellte menschliche
Zuschreibung bekommen, die für ihn so wichtig für diese Gemeinschaftsform ist. Sind
also in der Community gegenseitiger Zuspruch, Förderung und Bejahung vorhanden,
so kann diese Kategorie zutreffen. Wenn Tönnies von der “unsichtbaren Ortschaft”, der
“mystischen Stadt und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine künstlerische
Intuition, durch einen schöpferischen Willen lebendig ist” (Tönnies 1887: 18) spricht,
erscheint dies vor dem Hintergrund der vorangegangenen Beschreibung des Web 2.0 fast
als eine Prophezeihung. Die Virtualität ist Tönnies’ gemeinte unsichtbare Ortschaft der
Freunde. Es muss an dieser Stelle jedoch darauf geachtet werden, keiner Pauschalisie-rung zu verfallen: Dieses mystische Band der Freundschaft tritt sicher nicht in allen
Communities auf. Ohne den empirischen Beleg dafür hier liefern zu können, möchte ich
eher behaupten, dass diese Art von exklusiver Verbindung in den meisten Communities
nicht auftritt, sondern nur partiell zu finden ist. Dennoch ist sie vorhanden und stellt
somit eine Zuordnungsmöglichkeit zum Begriffspol Gemeinschaft dar.
Aber, und das darf nicht außer Acht gelassen werden, ist wohl kaum eine virtuelle
Community zu finden, die Tönnies’ Unterstellung gerecht wird, sie müsse vollständig auf
das Kollektiv bezogen sein, die Zugehörigkeit exklusiv und holistisch von lebenslangerDauer: Betrachtet man verschiedene Communities so wird schnell klar, dass sie vor
allem dadurch geprägt sind, eben nicht exklusiv zu sein. Mehrfachmitgliedschaften in
mehreren Communities sind geradezu gewünscht. Die verschiedenen Internetplattformen
bieten geradezu die Möglichkeit, sich je nach Interesse den verschiedenen Communities
22Z. B. bieten einige Chats oder Foren eine Anerkennung von Mitgliedern mit vielen Beiträgen oderbesonderer Leistung für die Community in Form von Statusauszeichnungen (“User-Guru”, “Königder Beiträge” etc.).
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4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und Community 2.0
anzuschließen und dabei partiell in die Gemeinschaft einzutreten, aber mit der ständigen
Sicherheit ausgestattet zu sein, diese praktisch “per Mausklick” jederzeit wieder verlassenzu können.
4.2 Community 2.0 ist eine moderne Tauschgesellschaft
Auch der Tönnies’sche Gesellschaftsbegriff ermöglicht einen Blick auf Communities. Der
Wille zum Tausch von Gütern liegt der Gesellschaft zugrunde. Wenn dieser Tauschwille
auch auf immaterielle Güter wie Problemlösungen, Information, Wissen und den Tausch
von Anerkennung erweitert wird, so ist eine Einordnung aller vier aufgestellten Kate-
gorien von Communities in den Gesellschaftsbegriff möglich. Im Moment des Tauschen-Wollens werden die Güter zu sozialen Werten, die als Grundlage zur Zusammenkunft in
Communities dienen: Durch das Einstellen von Videos auf Youtube versuchen sich die
Mitglieder Anerkennung zu “ertauschen”, Kollaboration schafft ein gemeinsames Werk,
welches wiederum Anerkennung auf die einzelnen Mitglieder zurückwirft. Information
wird in einem Themenforum durch Tausch von ebenso wertvollen weiteren Informa-
tionen weitergegeben und selbst die Zusammenkunft in kontaktbasierten Communities
kann zweckrationalen Gründen unterworfen sein: Die Ausweitung des Bekanntenkreises
ermöglicht im Problemfall den Zugriff auf ein großes, potentiell hilfreiches Netzwerk. ImUnterschied zu Tönnies’ “Kürwille” schaffen die meisten Formen von Communities aber
nicht nur einen Nutzen für den einzelnen Teilnehmer am Tauschakt, sondern stellen das
getauschte Gut in Form von ressourcenunabhängig und beliebig reproduzierbarem Ma-
terial anderen, nicht am Tauschakt beteiligten Menschen zur Verfügung. Die durch die
Virtualität ermöglichte Reproduktion erweitert also den Bestand an Gütern (zumindest
in Form von Information) kontinuierlich weiter für die Allgemeinheit. Die gemeinsa-
me Schnittmenge, der “Contract”, kommt jedoch nicht mehr nur durch die Zusammen-
kunft von einzelnen Individuen zustande, sondern durch die Zusammenkunft mehrerer
Individuen in mehreren Communities. Im Gegensatz zur Gemeinschaft sind hier Mehr-
fachmitgliedschaften möglich, der fragmentarische Charakter einer individualistischen
Community wird oft auch offen dargestellt.
Fraglich bleibt jedoch, ob es sich gänzlich um artifiziell geschaffene (oder gar formelle)
Konstrukte handelt, die gänzlich ohne Emotionalität beschaffen sind. Die “Gruschel”-
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4 Let’s come together – ein Rendezvouz von Tönnies und Community 2.0
Funktion auf StudiVZ23 oder die oft seitenlang mit starkem Ausdruck von Emotion
geführten “Off-Topic”24
Diskussionen in Themenforen sprechen gegen einen solchen Ver-zicht auf Emotionalität. Eine vollständige und eindeutige Einordnung von Community
2.0 in den Gesellschaftsbegriff ist somit also auch nicht möglich.
4.3 Community 2.0 ist weder noch
Ich habe nun dargelegt, dass Community 2.0 sowohl einige Merkmale zur Einordnung
in den Tönnies’schen Gemeinschaftsbegriff aufweist, als auch die innere Beschaffenheit
zur Zuordnung zu dessen Gesellschaftsbegriff. Aber beiden Begriffen wird diese neue
Community nur teilweise gerecht, jede versuchte Einordnung geht auf Kosten wichtigerMerkmale wie einerseits räumlicher Nähe, kollektiver Orientierung und Exklusivität, und
andererseits formaler Artifizialität und Emotionalität. Wahrscheinlich existieren sogar
Communities, die dem einen oder anderen Pol sogar vollständig zuzuordnen sind, jedoch
ist dies immer nur in Einzelfallbetrachtung möglich. Eine pauschalisierte Zuordnung ist
daher nicht möglich. Es muss vielmehr auf die einzelnen Merkmale und Beschaffenheiten
der jeweiligen einzelnen Community geachtet werden. Die Beschaffenheit der Commu-
nity zeigt sich nicht in der Zuordnung zur Kategorie Gemeinschaft oder Gesellschaft,
sondern wahrscheinlich viel stärker in ihren Handlungen und wie sie das damit zugrunde
liegende Selbstverständnis der Community in ihren Praktiken kontinuierlich reproduzie-
ren. Die Praxistheorie böte hier eine Möglichkeit, indem sie diese Handlungen nicht als
aneinandergereihte Einzelhandlungen sieht, sondern betont:
“dass diese ‘Handlungen’ nicht als diskrete, punktuelle und individuelle Ex-
emplare vorkommen, sondern dass sie im sozialen Normalfall eingebettet sind
in eine umfassendere, sozial geteilte und durch ein implizites, methodisches
und interpretatives Wissen zusammengehaltene Praktik als ein typisiertes,
routinisiertes und sozial ‘verstehbares’ Bündel von Aktivitäten.” (Reckwitz2003: 289)
Durch diesen praxistheoretischen Blick könnte die Community 2.0 untersucht werden
und die Ergebnisse der Untersuchung einfließen in eine neue Kategorie jenseits von Tön-
nies’ Gemeinschaft oder Gesellschaft: Die community liberated.
23 “Gruscheln” ist ein Kunstwort das eine Kombination aus “Grüßen” und “Kuscheln” meint und welchessich Mitglieder im Netzwerk gegenseitig zuschicken können.
24Als “Off-Topic” wird eine Verkettung von Beiträgen in einem Forum dann bezeichnet, wenn sie sichvom eigentlichen Diskussionsthema weit entfernt.
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5 Ausblick: Community liberated
5 Ausblick: Community liberated
Die community liberated ist ein drittes soziologisch-analytisches Stadium in das die Ge-
meinschaft übertritt, nachdem sie die Stadien community lost und community saved
durchlaufen hat.25 Tönnies ließ wie bereits erwähnt mit seiner nomologischen Konno-
tierung, das erste Stadium, den Zerfall der Gemeinschaft erkennen. Fragmentierte For-
men der Gesellschaft bedrohten die Gemeinschaft in ihrer “herzlichen”, “organischen”
und “echten” Art. Durch die Moderne und die Großstädte wird das Gemeinschaftlseben
zerstört und entfremdet (vgl. Wellman 1979: 1204). Diesem Stadium folgt community
saved : die Initiativen des Kommunitarismus, wie z. B. die Kultur des Ehrenamts und
der sozialen Nachbarschaft (vgl. Wellman 1979: 1205f). Die dritte Ebene jedoch ist diecommunity liberated : Die Separation innerhalb der Stadt, z. B. von Arbeits-, Freizeit-
und Wohnareal haben zur Involviertheit in verschiedenen, locker geknüpften sozialen
Netzwerken geführt. Ein Anstieg der persönlichen und kostengünstigen Mobilität in den
Städten ermöglichen den Zugriff auf neue Freundschaftsnetzwerke. Diese Faktoren haben
die Gemeinschaft von ihrer Exklusivität befreit. Die neuen Formen von Gemeinschaft
ermutigen zur Mitgliedschaft in mehreren interessenbasierten Gemeinschaften. Die Mit-
glieder dieser Communities sind weder “anti-gemeinschaftlich”, noch besonders gesellig,
sondern sind Operatoren, die auf höchst selektive Weise miteinander soziale Netzwerkebilden (vgl. Wellman 1979: 1206ff). Die community liberated steht also für eine multi-
ple Mitgliedschaft in verschiedenen Interessengemeinschaften mit vorwiegend schwachen
Bindungen, aber gleichzeitig für Menschen, die unterschiedlichste Identitäten miteinan-
der in Einklang bringen müssen. Mit den Möglichkeiten des Web 2.0 können sie dies
gesteigert durch die Virtualität und Ressourcenunabhängigkeit in zugespitzer Art und
Weise tun: In der Community 2.0 – einer virtualisierten community liberated.
Wird diese Semantik der community liberated nun mit einem praxistheoretischen Blick
betrachtet, lässt sich die eingangs so unüberwindbar erscheinende Komplementarität vonTönnies Gemeinschaft und Gesellschaft überwinden und gleichsam ein neues Konzept
für eine theoretische Arbeit mit Begriff Community 2.0 öffnen, wofür ich mit diesem
Artikel die Perspektive öffnen wollte.
25Vor allem in der soziologischen Netzwerkanalyse und in der Stadtsoziologie werden diese drei Analy-seebenen häufig benutzt, Wellman (1979) hat das dritte Stadium dabei durch seine Untersuchungvon Bewohnern von “East York” stark geprägt.
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