Dahlhaus, Der Rhetorische Formbegriff

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Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform Author(s): Carl Dahlhaus Source: Archiv für Musikwissenschaft, 35. Jahrg., H. 3. (1978), pp. 155-177 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/930814 . Accessed: 27/03/2014 15:10 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv für Musikwissenschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 132.248.9.8 on Thu, 27 Mar 2014 15:10:07 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der SonatenformAuthor(s): Carl DahlhausSource: Archiv für Musikwissenschaft, 35. Jahrg., H. 3. (1978), pp. 155-177Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/930814 .

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Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenformn

von

CARL DAHLHAUS

I

Die Theorie der Sonatenform, wie sie im 19. Jahrhundert durch Antonin Reicha, Heinrich Birnbach und Adolf Bernhard Marx entwickelt wurde, geriet als geschichtsfremde Konstruktion in Verruf, die der musikalischen Wirklich- keit der klassischen Sonate, als deren Zuriistung fiir pidagogische Zwecke sie gemeint war, nicht gerecht werde. Statt lediglich die Tatsache hervorzuheben, daB ein Lehrbuchschema, in dem der Themenkontrast als primares und der tonale GrundriB3 als sekundires Moment erscheint, die Verhiltnisse in einer Haydn- oder Mozart-Sonate verzerrt und ins Gegenteil verkehrt, kdnnte man allerdings auch den Umstand erwahnen, daB die Verlagerung des Akzents vom Harmonischen auf das Thematische einem Entwicklungszug der Sonate im 19. Jahrhundert entsprach (der dann im 20. Jahrhundert zu dem Extrem einer Sonatenform unter den Bedingungen einer atonalen Satztechnik fiihrte). Und daB Lehrbiicher der Komposition - trotz des geschichtlichen Charakters der Demonstrationsexempel - eine aktuelle Tendenz spiegeln, ist vielleicht nicht so illegitim, wie es einem Historiker erscheinen mag, der iiber pidagogische Bii- cher einzig nach der geschichtlichen Substanz urteilt, die sie enthalten. An- dererseits gewinnt man erst dadurch, daB man piadagogische Absichten als sol- che erkennt und gelten la3t, statt sie als historiographische miB3zuverstehen, iiberhaupt die Mdglichkeit, didaktisch begriindete Kategorien zu suspendieren und sich zu einer nicht mehr durch sie beherrschten historischen Analyse von Sonatenformen des spiteren 18. Jahrhunderts vorzutasten.

Voraussetzungslosigkeit, wie sie naiven Historikern immer noch vorschwebt, ist allerdings unerreichbar. Die Hoffnung, daB ein musikalisches Gebilde von sich aus, ohne Herausforderung durch Kriterien und Kategorien, die der Ana- lysierende herantrigt, eine Formidee ausspreche, waire triigerisch. Musikalische Fakten sind, als kategoriale Formungen des akustischen Substrats, immer ,,eine Sache der Auffassung und des beziehenden Denkens" (Carl Stumpf). In welche Teile sich ein Stiick Musik gliedert, welche diastematischen und rhythmischen

11 Archiv fiir Musikwissenschaft, Jahrgang XXXV, Heft 3 (1978)

? Franz Steiner Verlag GmbH, D-6200 Wiesbaden

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Beziehungen (aus der nahezu unendlichen Menge der theoretisch konstruier- baren) formal konstitutiv sind und welche Merkmale als iiber-, welche dagegen als untergeordnet gelten sollen, steht nicht ,,objektiv" und a priori fest, sondern

hiingt, mindestens partiell, von dem Formkonzept ab, das der H6rende oder Analysierende mitbringt. (BloB3e Statistik, die sich neutral diinkt, wiirde sich einerseits ins Unendliche verlieren und andererseits niemals zu einem Form- begriff gelangen, da bereits die scheinbar unverfingliche Voraussetzung, das Hiufigste sei das Wesentliche, eine ?isthetische Vorentscheidung wire, die an den statistisch erfa3baren Tatbestand von au3en herangetragen werden miiB3te.)

Ist aber ,,Unmittelbarkeit zur Sache selbst" eine Illusion, so bleibt nichts anderes iibrig, als die Sonatentheorie des 19. Jahrhunderts - von der das Form- denken der Musikhistoriker noch in der Polemik gegen sie weitgehend abhiangig geblieben ist - zu theoretischen Entwiirfen des 18. Jahrhunderts ins Verhiltnis zu setzen: zu Entwiirfen, deren radikal andere, ungewohnte Pramissen sich keineswegs mfihelos erschlie3en. (Je genauer man die friiheren Theorien rekon- struiert, um so befremdender wirken sie: Geschichtliches Verstandnis macht die Kluft, die es zu iiberbriicken trachtet, andererseits erst erkennbar.)

Das besagt nicht, daB ein Musikhistoriker, der Formen von Sonatensitzen aus dem Zeitalter der Klassik geschichtlich angemessen zu beschreiben ver- sucht, sich die Kategorien und Kriterien Heinrich Christoph Kochs, des zwei- fellos bedeutendsten Formtheoretikers der Epoche, umstandslos und uneinge- schrinkt zu eigen machen mii3te. Kochs Formbegriff ist vielmehr, wie sich zeigen wird, zu eng, als daB eine schlichte tbernahme und analytische Anwen- dung sinnvoll wire. Anders ausgedriickt: Man brauchlt, um die Realitfit des 18. Jahrhunderts begreifen zu kdnnen, die Theorien des 19. nicht zu vergessen und darf es nicht einmal. Erst dadurch, daB man friihere und spitere Konzep- tionen - im Bewul3tsein ihrer geschichtlichen Lage und Bedingtheit, ihrer Aisthetischen Implikationen und ihrer pidagogischen oder historiographischen Zielsetzungen - gleichsam zueinander in Konfiguration bringt, kann man iiber- haupt hoffen, zu Begriffen zu gelangen, durch die sich vergangene musikalische Wirklichkeit in einer Weise erschlieB3t, die als ,,zweite Unmittelbarkeit" - als eine durch ein Labyrinth von Vermittlungen hindurch erreichte Nahe zur Sache - gelten darf.

Die Theorie der Sonatenform, die aus der Kompositionslehre in die Musik- geschichtsschreibung iberging, stiitzte sich-unabh5ingig davon, ob das Thema- tische oder das Harmonische akzentuiert wurde - auf Voraussetzungen, deren Rechtfertigung iiberfliissig erschien, die aber, wie eine Rekonstruktion von Kochs abweichenden Primissen zeigt, keineswegs selbstverstaindlich waren.

DaB der eigentliche, prim~ire Gegenstand der musikalischen Formenlehre die autonome - asthetisch wie kompositionstechnisch in sich selbst begriindete - Instrumentalmusik sei, wurde im 19. Jahrhundert niemals bezweifelt. ,,Die Vokalmusik", heiB3t es apodiktisch bei Stephan Krehl, ,,hat auBer Betracht zu

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bleiben, da die Sonatenform ausschlieBlich Instrumentalform ist"1. DaB aber die These E. T. A. Hoffmanns, einzig die Instrumentalmusik spreche ,,das eigen- tiimliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein aus"2 - eine These, die 1810, als sie proklamiert wurde, durchaus revolutioniir war -, bereits im 18. Jahrhundert die tragende asthetische Voraussetzung der Formtheorie ge- wesen sei, ist eine durch nichts gerechtfertigte Unterstellung (die man nur aus- zusprechen, also der Daseinsform einer verschwiegenen Implikation zu ent- reifen braucht, um sie als fragwirdig kenntlich zu machen). Koch behauptete jedenfalls, obwohl er dann primar Instrumentalstiicke analysierte, unmifver- st~indlich einen asthetischen Vorrang der Vokalmusik3. Das besagt nicht, die Formen der Instrumentalmusik seien genetisch von denen der Vokalmusik ab- geleitet worden; aber es bedeutet, dal3 der Formbegriff - die Auffassung davon, was Form iiberhaupt sei und welche Momente als essentiell, welche als akzi- dentell gelten sollen - durch vokale Vorbilder geprigt wurde. Und es wire un- historisch, sich fiber die formtheoretischen Konsequenzen eines musikalischen Denkens, das iisthetisch vom Modell der Vokalmusik ausging, ohne die kompo- sitionstechnische Selbstiindigkeit der Instrumentalmusik zu leugnen, umstands- los hinwegzusetzen.

Mit der isthetischen Orientierung - entweder am Vokalen oder am autonom Instrumentalen - hiingt ein zweites Moment, die schwachere oder stirkere Ak- zentuierung des Themas, eng zusammen: Der ,,moderne Themabegriff" bildet, wie Hugo Riemann nachdriicklich hervorhob4, die zentrale Kategorie einer selb- stindigen Instrumentalmusik; und umgekehrt ist mit einer Minderung der asthetischen Autonomie des Instrumentalen ein Zuriicktreten des Themabe- griffs verbunden. - DaBl von der Sonatentheorie des 19. Jahrhunderts das Thematische - der Themenkontrast - in den Vordergrund geriickt wurde, ist, wie erwahnt, in primiir historisch statt padagogisch orientierten Untersuchun- gen lingst als Einseitigkeit, die der musikalischen Wirklichkeit des 18. Jahr- hunderts nicht gerecht wurde, erkannt worden 6. Und tatsichlich streiften die Konsequenzen der Uberakzentuierung manchmal ans Absurde. Adolf Bernhard Marx lieB Haydnsche Seitensiitze, die an die Hauptthemen anknfipfen, nicht als eigentliche Seitensatze gelten, sondern unterschied gewaltsam zwischen einem Wiederaufgreifen des Hauptgedankens ,,im Gebiete des Seitensatzes"

1 St. Krehl, lMusikalische Formenlehre (Kompositionslehre), Teil I, Leipzig 1905, S. 112.

2 E. T. A. Hoffmnann, Schriften zur Musikc, hg. von F. Schnapp, M1iinchen 1963, S. 34.

SH. Chr. Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Band II, Leipzig 1787, Reprint Hildesheim 1969, S. 29ff.

4 HI. Riemann, Grof3e Kompositionslehre, Berlin 1902, Band I, S. 413ff. SL.G. Ratner, Harmonic Aspects of Classic Form, JAMS II, 1949; J.P. Larsen,

Sonatenform-Probleme, in: Festschrift Friedrich Blume, Kassel 1963; F.Ritzel, Die Entwicklung der ,,Sonatenform" im musiktheoretischen Schrifttum des 18. und 19. Jh., Wiesbaden 1968.

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und einem daran anschlieBlenden ,,wirklichen Seitensatz"'. Und in der For- menlehre von Klauwell und Niemann wird der Tonartengegensatz der Sonaten- exposition als bloB sekundires Moment des Themenkontrasts - als ein Mittel zu dessen Verdeutlichung - beschrieben . - Auch die Sonatentheorie des 20. Jahr- hunderts, die das Thematische mit dem Tonalen ins Gleichgewicht brachte, hielt jedoch - trotz einiger Schwierigkeiten bei der Analyse von Mozart-Sonaten - an der These von der fundamentalen Bedeutung des Themas - in Korrelation zur aisthetischen Autonomie des Instrumentalen - fest. Der Themabegriff ist im musikalischen Formdenken so tief eingewurzelt, daB es schwerfiallt, iiber- haupt wahrzunehmen, daB er in Kochs Theorie kaum eine Rolle spielt. Nicht die Kategorie Thema, die lediglich fliichtig gestreift wirds, sondern der - primir von vokalen Vorbildern abstrahierte - Begriff der ,,Anlage", von dem noch ausfiihrlich die Rede sein wird, bildet das Zentrum und den Ausgangspunkt der Kochschen Formenlehre.

Eine dritte scheinbare Selbstverstaindlichkeit, die man preisgeben mu3, wenn man Kochs Theorie der Sonatenform zu verstehen sucht, ist die durch den Vergleich von Musik und Architektur gestiitzte Vorstellung, daB Wiederholun- gen das Geriist musikalischer Formen ausmachen. ,,Die Wiederholung", heil3t es bei Klauwell und Niemann, ,,das Zuriickkommen auf schon Dagewesenes - in allen seinen Formen als einfache Wiederholung oder Versetzung oder Nach- ahmung u. dgl. - bildet in der Tat den Haupthebel musikalischer Formbil- dung"'. Nicht, daB Koch - was absurd wire - die Entstehung musikalischer Formen durch Repetitionen und Reprisen leugnen oder verschweigen wiirde. Aber Wiederholungen sollen, obwohl sie zur Verdeutlichung oder Emphase un- umginglich sind, nicht als essentiell, sondern als akzidentell gelten. Sie stellen nicht eine Hauptsache, ein wesentliches Moment der - durch ein Buchstaben- schema ausdriickbaren - Formel des musikalischen Verlaufs dar, sondern er- scheinen als Zusatze, die zwar der FaBlichkeit und Nachdriicklichkeit der ,,Klangrede" dienen, aber zur Substanz nichts beitragen. Statt von einem archi- tektonischen geht Koch, wie noch gezeigt werden soll, von einem rhetorischen Formkonzept aus, in dem Wiederholungen als Fiillsel oder als Bekraftigungen, nicht als tragende Pfeiler eines Gebaudes erscheinen.

Eine vierte - zwar unauffillige, aber in den Konsequenzen weitreichende - Differenz besteht zwischen den Methoden der harmonisch-tonalen Formanaly- se. Moderne Theoretiker gehen - gleichgiiltig, ob sie eine Sonatenexposition in

6 A.B.Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, Band III, Leipzig "1857, S. 595 und 597.

7 O. Klauwell, Die Formen der Instrumentalmusik, erweiterte Ausgabe von W.Niemann, Leipzig 1918, S. 66:,,...daf das zweite Thema, umrn auch tonartlich einen Gegensatz zum ersten zu bilden, in der Tonart der Dominante stehen mu...."

8 Koch, Band II, S. 347f.; Band III, Leipzig 1793, Reprint Hildesheim 1969, S. 371.

* Klauwell und Niemann, S. 47.

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zwei Tonartregionen und ein modulierendes Zwischenstiick gliedern oder wie Jens Peter Larsen die Mdglichkeit offen lassen, daB der Obergang von der Grund- zur Dominanttonart als dritter Hauptteil erscheint0 -_ prinzipiell (und von Zweifeln unangekrinkelt) von dem Unterschied zwischen tonal geschlosse- nen und modulierenden Partien aus: Dem Haupt- und Seitensatz steht die

Oberleitung, der Exposition und Reprise die Durchfiihrung gegeniiber. Fiir Koch dagegen - der vom Modell der Rede den Begriff der ,,interpunctischen Form" abstrahierte - bilden nicht Differenzen zwischen Tonartregionen und zwischen tonal geschlossenen und modulierenden Teilen, sondern vielmehr Un- terschiede zwischen Kadenzformen - Grade der Vollkommenheit oder Unvoll-

kommenheit von Schliissen - das primare Kriterium der Formgliederung. Und so eng die ,,interpunctische Form" mit dem tonalen GrundriB zusammenhingt: sie gleichzusetzen, ware eine Simplifikation, die das musikalische Formdenken des 18. Jahrhunderts - die Pramissen teilt Koch mit Mattheson, Riepel und Forkel - verzerren wiirde.

II

Der Griff zur Metapher scheint bei Versuchen, iiber musikalische Form zu re- den, unvermeidlich zu sein; ,,Unmittelbarkeit zur Sache selbst" ist, wie gesagt, nicht erreichbar. Andererseits ist jedoch die Divergenz zwischen den Verglei- chen, auf die sich musikalische Formtheorien des 18. bis 20. Jahrhunderts

stiitzten, um das Bleibende im Transitorischen der Musik in ein Bild zu fassen, verwirrend groBl3. Und wenn man bedenkt, daB die Metaphorik keineswegs eine

bloBle Einkleidung von Gedanken darstellt, die sich auch in ,,eigentlicher" Rede ausdriicken lieBl3en, daB sie vielmehr zur Substanz gehdrt, von der musika- lische Formvorstellungen zehren, so liegt die Versuchung nahe, sich in die skep- tische tberzeugung zuriickzuziehen, daB musikalische Form in nichts anderem als den wechselnden, austauschbaren Formkonzepten bestehe, die tdnenden Gebilden aufgepriigt werden kdnnen.

Bereits bei einem fliichtigen Uberblick iiber die Entwicklung der Formen- lehre - einem tfberblick, der zu nichts anderem dienen soll, als einen kontra- stierenden Hintergrund fiir Kochs Auffassung der Sonatenform zu skizzieren - zeichnen sich einige Modelle, die als asthetische Primissen in Formtheorien des 18. bis 20. Jahrhunderts eingingen, in deutlichen Umrissen ab. Antonin Reicha, der neben Birnbach und Marx die im 19. Jahrhundert herrschende, von Fred Ritzel ,,pragmatisch" genannte Sonatentheorie begriindete", begriff 1826 den Sonatensatz als musikalisches Abbild eines Dramas. Die drei Teile des Satzes -

10 Larsen, S. 226f. x Der Terminus ,,pragmatisch" wird, offenbar als Gegenbegriff zu ,,isthetisch",

von Ritzel S. 7 als Bezeichnung fiir die auf den Themenduajismus fixierte Sonaten- definition eingefiihrt, ohne daB er erlautert wiirde.

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da3 Reicha noch, nach ilterer Gewohnheit, zwei Hauptteile unterschied, deren zweiter in zwei Sektionen zerfillt 12, ist von geringer Bedeutung - entsprechen der ,,Exposition der Vorgeschichte", der ,,Schiirzung des Knotens" und der ,,Auflisung des Knotens", die nach der klassischen, im Ansatz auf Aristoteles zuriickgehenden Theorie die innere Form eines Dramas ausmachen. ,,La pre- miere partie de cette coupe est l'exposition du morceau; la premihre section [de la deuxibme partie] en est l'intrigue, ou le noeud; la seconde en est le d6nofie- ment"'3. Reichas Interpretation der Sonatenform, die von Carl Czerny 1844 iibernommen wurde14, geht unverkennbar von der Durchfiihrung aus, deren dramatischen, auf Konflikte zielenden Charakter sie - offenbar mit dem Blick auf Beethovensche Symphonien - akzentuiert. (Im 18. Jahrhundert war es eher iiblich, von bloBlen Abwandlungen, Umformungen oder Erweiterungen der Thematik oder der ,,Anlage" zu sprechen.) Die Metapher ,,d6nofiement", die fiir die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklun- gen in der Durchfiihrung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erin- nerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama

prel3t und vom Anfang der Reprise als einer ,,iiberraschenden Katastrophe" spricht.

Zu dem Bild einer Peripetie, in die das Drama der Themen am Ende der Durchfiihrung gerit, ist kaum ein schrofferer Kontrast denkbar als die Inter- pretation, die Vincent d'Indy 1909 aus der traditionsreichen Architektur- metapher - dem Vergleich einer musikalischen Form mit einem Gebaude - ab- leitete. Exposition und Reprise - von d'Indy ,,r6exposition" genannt - bilden gleichsam die Pfeiler (,,piliers"), die das Gewolbe der Durchfiihrung - ,,la soup- lesse infinie dans le d6veloppement de sa courbe m6diane" - tragen. Die archi- tektonische Formauffassung hat mit der dramatischen die Akzentuierung der Thematik gegeniiber der Harmonik gemeinsam; sie ist jedoch, formelhaft ge- sprochen, statisch statt dynamisch: d'Indy betont die thematische ,,Symme- trie" von ,,exposition" und ,,r6exposition" sowie die Differenz zwischen tonal geschlossenen Eckteilen und modulierendem Mittelteil, schitzt dagegen die Be- deutung des Tonartenkontrasts in der Exposition (der in dynamischen Form- interpretationen als Gegensatz erscheint, der gleichsam die modulierende Be- wegung der Durchfiihrung hervortreibt, um schliel31ich in der Reprise ausge- glichen zu werden) offenbar gering ein. ,,Cette coupe ternaire, qui caractdrise le morceau de Sonate par excellence, consiste dans sa division en trois parties, dont la premiere et la derniere, sym6trie 1'une de l'autre, contiennent immuab-

12 A. Reicha, Traitd de haute composition musicale, Band II, Paris 1826, S. 296: ,,La premiere partie sert a l'exposition des id6es inventies. La seconde partie se subdivise en deux sections dont la premiere sert au ddveloppement des id6es, et la seconde & leur transposition".

13 Reicha, S. 298. 14 Ritzel, S. 233.

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lement 1'exposition et la r6exposition du ou des thbmes, tandis que la seconde, contrastant surtout par sa forme et son 6tat tonal, rev~t une infinit6 d'aspects diff6rents, suivant l'6poque ou le style de la piece et surtout suivant son mouve-

ment"Ls. Ist demnach die Interpretation als Drama, die zur Verleugnung der Reprise

tendiert, ebenso einseitig dynamisch wie die Architekturmetapher, aus der sich eine tberakzentuierung des Reprisenbegriffs ergibt, einseitig statisch, so kann der Riickgriff auf das Organismusmodell als Versuch einer Vermittlung zwischen den Extremen verstanden werden. Wenn Ebenezer Prout behauptet, daB Musik durch ,,organisches Wachstum" entstehe - ,,that all music is an organic growth, and that the binary and ternary forms are developed from the simplest motives by as natural a process of evolution as that by which an oak grows out of an acorn"'Is -, so meint er das ,,logische" Moment der musikalischen Form - den thematisch-motivischen Prozel - zugleich und ineins mit dem ,,tektonischen" - dem Aufbau von Phrasen aus Motiven, von Perioden aus Phrasen und grol3en Formen aus Perioden. Und daB manche Komponisten (wie Mozart) das tekto- nische, andere dagegen (wie Haydn) das logische Moment dominieren lassen, sollte nicht daran hindern, prinzipiell die von Prout gesuchte Vermittlung - mag man auch der biologischen Analogie miBtrauen - als das verniinftige Konzept zu akzeptieren, das sie ist.

Die Idee einer ,,Klang-Rede" schlieBlich, die ein viertes Modell neben der Dramen-, der Architektur- und der Organismusmetapher darstellt, ist das lilteste Interpretationsschema fiir musikalische Formen: ein Interpretationsschema, dessen Vorherrschaft im 18. Jahrhundert damit zusammenhing, daB man die Aisthetische Emanzipation der Instrumentalmusik einstweilen nur zdgernd ak- zeptierte: Nicht daB Instrumentalmusik etwas ganz anderes, sondern daB sie eigentlich, wenn auch in schwiicherer Auspriigung, dasselbe sei wie Vokalmusik, war die zaghafte Hypothese, mit der man ihr iisthetisches Daseinsrecht zu be- griinden versuchte.

Der rhetorische Formbegriff, der die Instrumentalmusik - als ,,Klang-Rede" - iiberhaupt erst zu einem Gegenstand der Asthetik und Theorie erhob, mani- festierte sich bei Johann Mattheson einerseits in dem Versuch, musikalische Formen nach dem Muster einer Gerichtsrede zu gliedern, andererseits in der Gbertragung syntaktischer Kategorien von der Sprache auf die Musik. Das Unterfangen, die Teile einer Arie oder eines Konzertsatzes als ,,Exordium, Narratio, Propositio, Confirmatio, Confutatio & Peroratio" zu erkliren17, ist in- sofern frappierend, als unter den verschiedenen Namen die immer gleiche The- matik erscheint, der nacheinander einleitender, erzihlender, behauptender, be-

15 V. d'Indy, Cours de composition musicale, Band II/1, Paris 1909, S. 153. 1s E.Prout, Applied Forms, London 1895, S. 1. 17 J.Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Reprint Kassel

1954, S. 235.

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stitigender und abschlieBender Charakter zugeschrieben wird. Und so ein- leuchtend die tragende Idee sein mag, dab ein Thema erst durch eine Entwick- lung, die es durchliuft, iiberhaupt zeigen kann, was in ihm steckt, so pedan- tisch mutet der Versuch an, die Phasen der Entwicklung in die Nomenklatur einer Gerichtsrede zu pressen, obwohl nicht geleugnet werden soll, daB einzelne Merkmale - etwa der Unterschied zwischen instrumentalem Ritornell und vokaler Exposition (Exordium und Narratio) oder die Differenz zwischen Ex- position und best~itigender Wiederkehr (Propositio und Confirmatio) - von der rhetorischen Terminologie durchaus getroffen werden.

Das Formdenken, das hinter der tbertragung des rhetorischen Schemas steht, zeichnet sich bei Johann Nikolaus Forkel, der sich an Mattheson anlehn- te, ohne ihn jedoch zu kopieren, deutlicher ab. ,,Die Hauptempfindung", heiBt es 1788 in der Einleitung zur Allgemeinen Geschichte der Musik, ,,der Hauptsatz, das Thema ... muB vorziiglich genau bestimmt werden; daher bedient man sich 1) der Zergliederung, um sie auf allen mbglichen Seiten zu zeigen; 2) passender Nebensiitze, um sie damit zu unterstiitzen; 3) m6glicher Zweifel, das heiBt im musikalischen Sinn, solcher Siitze, die der Hauptempfindung zu widersprechen scheinen, um durch die darauf folgende Widerlegung derselben den Hauptsatz desto mehr zu bestimmen; und endlich 4) der Bekriiftigung durch Vereinigung, oder nihere Zusammenstellung aller Sitze, die vereint dem Hauptsatze die stirkste Wirkung verschaffen kdnnen" 18. Die Instrumentalmusik ist als,,Klang- Rede" prinzipiell denselben Kategorien unterworfen wie die Vokalmusik; For- kel spricht ausdriicklich sowohl von Sonaten als auch von Arien'9. Unter ,,Zer- gliederung" versteht er auBl3er der thematisch-motivischen Arbeit, die man in Durchfiihrungsteilen erwartet, auch Arten der entwickelnden Variation, wie sie fiir Fortspinnungspartien charakteristisch sind. (Schdnbergs Terminus ,,ent- wickelnde Variation" ist, Thnlich wie Forkels Ausdruck ,,Zergliederung", um- fassender als der Begriff der thematisch-motivischen Arbeit). Das Wort ,,Ne- bensatz" zielt auf Phrasen oder Perioden, die vom Hauptgedanken verschieden sind, ohne daB sie entweder als Varianten oder als Kontraste erkliirbar wiren; und Forkels Kategorie verdient es, ernst genommen zu werden, denn daB die neuere Formenlehre - unter dem Zwang der Gewohnheit, Relationen durch Buchstaben und Indizes auszudriicken (a a bedeutet gleich, al a2 Thnlich, a b verschieden) - dazu tendiert, Verschiedenheit und Kontrast gleichzusetzen, ist kein Vorzug, sondern ein Mangel. - Melodische Kontraste, wie das kantable Moment in Seitens~itzen, begriff Forkel als ,,Einwiirfe", die eine ,,Wider- legung" herausfordern. Sie wurden also keineswegs - wie von manchen Histo- rikern behauptet worden ist - verleugnet oder unterdriickt. Das isthetische Postulat der Einheit in der Mannigfaltigkeit, von dem die Sonatentheorie des

18 J.N.Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788, Reprint Graz 1967, Band I, S. 50.

10 Forkel, S. 51.

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18. Jahrhunderts beherrscht wurde, verhinderte zwar, dab Sonatensiitze ,,dialektisch", als Austragung eines Themendualismus, interpretiert wurden, bewirkte jedoch keine Vernachlissigung des Kontrastmoments schlechthin. Und welche der konkurrierenden Erklirungen fiir die Integration von Gegen- sitzlichem in die Gesamtform - die dialektische, die den Widerstreit als Prinzip und die Integration als Resultat eines Prozesses auffaBl3t, oder die rhetorische, die den Gegensatz als bloBle Folie fiir eine bestitigende Wiederkehr des Hauptge- dankens behandelt - im Hinblick auf Sonatensitze des 18. Jahrhunderts triftiger ist, steht durchaus nicht fest.

Das Prinzip der ,,interpunctischen" Form, wie Koch die sprachanaloge Glie- derung von Musik in Kommata, Semikola und Perioden nannte, reicht im An- satz bis in Melodielehren der Antike und des Mittelalters zuriick. Der Grundge- danke der sprachlichen Syntax, daB die Sinngliederung einer Rede und das ver- schiedene Gewicht der Redeteile durch eine abgestufte Interpunktion ausge- driickt und sinnfillig gemacht werden kdnnen, wurde dadurch auf Musik iiber- tragbar, daB man einerseits die Grade der Vollkommenheit oder Unvollkommen- heit von Kadenzen, andererseits deren Nihe oder Ferne zur Grundtonart in Analogie zur sprachlichen Interpunktion setzte. Was von Seth Calvisius um 1600 unter den Bedingungen des polyphonen Tonsatzes und des Systems der Kirchentonarten entwickelt worden war20, wurde von Mattheson anderthalb Jahrhunderte spiter im Hinblick auf einen homophonen Tonsatz und die Dur- Moll-Tonalitit formuliert21. Die Lehre von den musikalischen ,,Gelenken" (Commata), ,,halben Gliedern" (Semicola), ,,Gliedern" (Cola), ,,Sitzen" (Perio- den) und ,,Zusammensitzen" (Paragraphen) bezieht sich zwar primair auf Vo- kalmusik; doch iibertrug Mattheson, indem er die ,,interpunctische Form" eines Menuetts analysierte, die syntaktische Nomenklatur auch auf Instrumental- musik22. Die Analyse ist allerdings nicht selten miBverstanden worden. D)ie Gliederung des ,,gantzen Zusammensatzes" in zwei (mit Reprise drei) Perioden (8 + 8 Takte), der Perioden in je zwei Semicola (4 + 4 Takte) und einiger (nicht siimtlicher) Semicola in je zwei Commata (2 + 2 Takte) besagt keines- wegs, daB Mattheson, wie spiter die musikalischenMetriker des 19. Jahrhunderts, eine Periode ,,quadratisch", aus metrisch regelmilBig korrespondierenden Tei- len aufbaute. Seinem Periodenbegriff liegt vielmehr - in der Instrumental- nicht anders als in der Vokalmusik - ein Prosa-, nicht ein Versprinzip zugrunde: Konstitutiv sind Endigungsformeln, nicht Lingen. Das letzte Semicolon des Menuetts wird, da eine Zasur fehit, nicht in Commata unterteilt: Ein Comma ist also fiir Mattheson nicht eine metrische Einheit, eine Zweitakt-Phrase, sondern - gleichgiiltig, wieviele Takte es umfalBt - eine Sinneinheit mit unvollkommenem SchluB. Die ,,Quadratur" des Menuetts ist lediglich in der Natur des Exempels, nicht in der des syntaktischen Systems, das durch das Exempel demonstriert

20 S. Calvisius, Melopoiia sive Melodiae condendae ratio, Erfurt 1602, cap. 18. 21 Mattffheson, S. 180ff. 22 Mattheson, S. 224.

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164 Carl Dahlhaus

werden soll, begriindet: DaB ,,der geometrische Verhalt 4 ist", beruht, wie Mattheson ausdriicklich sagt, auf der Eigenart von ,,Tantz-Melodien" und darf nicht zu einem Wesensmerkmal des Matthesonschen Periodenbegriffs verall- gemeinert werden.

Koch unterscheidet an den Einschnitten oder Absitzen, aus denen eine Pe- riode besteht, ,,drey verschiedene Eigenschaften": die ,,interpunctische", die ,,rhythmische" und die ,,logische" Beschaffenheit 23. ,,Interpunction" nennt er die Ordnung und Abstufung der ,,Endigungsformeln", ,,Rhythmus" die Kor- respondenz der Taktanzahl, ,,Logik" den inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Teilen.

Er ist sich bewul3t, daB weder die ,,Anzahl der Tacte" - deren GleichmaBl durch Zusammenziehungen oder Dehnungen, Auslassungen oder Zusitze ver- deckt sein kann - noch die ,,Endigungsformeln der Theile" fiir sich genommen geniigende Kriterien darstellen, um siimtliche musikalischen Ziisuren - ,,Ruhe- puncte des Geistes"-kenntlich zu machen 24. Musikalische Sinneinheiten miissen vielmehr inhaltlich erfal3t und voneinander abgegrenzt werden; ohne musika- lische ,,Logik" greifen ,,Rhythmik" und ,,Interpunction" nicht selten ins Leere. (Um eine ,,Tacterstickung", die Unterdriickung einer Kadenz durch

Verschrinkung eines Endes mit einem Anfang, iiberhaupt als solche zu erken- nen, muB3 man sich die Geschlossenheit der ersten Sinneinheit, die eigentlich eine Kadenz erfordert hitte, zuvor bewuBlt gemacht haben: das ,,interpuncti- sche" und das ,,rhythmische" Moment - die Verdeckung der Kadenz und die Verkiirzung des Satzes - implizieren das ,,logische"). Kochs Versuch, durch Ubertragung der Begriffe ,,Subjekt" und ,,Pridikat" die ,,Logik" der Musik ex- plizit zu machen, wurde allerdings nach wenigen, spiirlichen Andeutungen ab- gebrochen25, als w/ire es Koch zu BewuBtsein gekommen, daB die scheinbar

prizise grammatische Terminologie streng genommen nichts anderes als eine vage Metapher fiir bloBl3e Gefiihlsurteile iiber die Vollstandigkeit oder Unvoll- sttindigkeit musikalischer Sinneinheiten ist. (Der Gedanke, eine musikalische ,,Logik" aus der Dialektik zwischen motivischen und harmonischen Strukturen zu entwickeln, scheint Forkel zwar vorgeschwebt zu haben, blieb aber rudi-

mentiir). Die ,,melodische Interpunction", von der Koch ausgeht, um musikalische

Gebilde als Formen zu begreifen, ist ein System von vollkommenen und unvoll- kommenen Schliissen in Haupt- und Nebentonarten: ein System von Kadenzen, die dadurch, daB sie differenziert werden, ein in sich zusammenhingendes Gan- zes bilden. Endigungsformeln, postuliert Koch, sollen nicht unmittelbar repe- tiert werden; geschieht es dennoch, so ist der zweite Teil, der die Kadenz des

23 Koch, Musikalisches Lexikon, Frankfurt 1802, Reprint Hildesheim 1964, Sp. 13 f.

24 Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Band II, S. 350, Anm. 25 Koch, Band II, S. 352ff.

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Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform 165

ersten aufgreift, dadurch als blo3er Appendix charakterisiert: ,,Oft ist zwar nach der Cadenz desselben (des Hauptperioden) noch ein erklirender Periode

angehingt, der aber in derselben Tonart fortmoduliert und schlieBt, in welcher der vorher gehende auch geschlossen hatte; daher kdnnen wir ihn fiir nichts anders, als blos fiir einen Anhang des ersten Perioden erklliren" 26a. Kochs Auf-

fassung mag angesichts von Sonatenexpositionen, in denen einem Seitensatz eine analog kadenzierende SchluBgruppe mit eigenem Thema folgt, inadtiquat und gewaltsam erscheinen. Doch bringt sie andererseits einen Gesichtspunkt zur Geltung, den die neuere Formenlehre vernachlkssigt, obwohl er, wie bereits die fliichtigste Analyse von Sonatensitzen des 18. Jahrhunderts zeigt, durchaus wesentlich ist oder sein kann: den Gesichtspunkt der formalen Integration durch

Differenzierung der Kadenzformeln und -stufen. Christian Gottlob Neefe

schlielBt im ersten Satz seiner D-Dur-Klaviersonate Nr. XI27 den ersten Vier- takter mit einem - allerdings nicht fdrmlichen - Ganzschlul3 in D-Dur, den zweiten mit einem HalbschluBl in D-Dur, den dritten mit einem HalbschluBl in A-Dur und den folgenden Achttakter mit einem firmlichen GanzschluB in A- Dur. Die gewohnten, aus der Sonatentheorie des 19. Jahrhunderts stammenden

Analyse-Kategorien werden dem Satz nicht gerecht: Die Takte 1-8 schlieBen sich weder zu einer ,,Periode" noch zu einem ,,Satz" im Sinne von Adolf Bern- hard Marx zusammen, so daB der Begriff ,,Hauptsatz" seine syntaktische Sub- stanz verliert; und die Takte 9-12, die modulierende ,,tUberleitung", sind von den Takten 13-20, dem ,,Seitensatz", nicht im mindesten durch geringere motivi- sche Pragnanz abgehoben. Erst wenn man die Differenzierung der Endigungs- formeln - die ,,interpunctische Form", die genau dem Kochschen Schema einer

Sonatenexposition entspricht28 - als Integrationsprinzip begreift und gelten 1•ht, erscheint die lockere Reihung musikalischer Gedanken (eine Reihung, der man nicht dadurch historisch gerecht wird, daB man den Mangel an Konnex zum Stilmerkmal erklrt und als ,,galant" bezeichnet) als in sich zusammen-

hiingende musikalische Form. (DaB der ,,Grundabsatz" - ein nicht fdrmlicher

SchluB in der Grundtonart - dem ,,Quintabsatz" vorausgeht, statt ihm zu fol-

-6 Koch, Band III, S. 305; die Gleichheit der Kadenz soll, wenn nicht als Grund,

so doch als Zeichen fiir die Unterordnung des zweiten Abschnitts gelten. 27 Chr. G. Neefe, Zwolf Klavier-Sonaten, Nr. VII-XII, hg. von W. Thoene, Denk-

miler Rheinischer Musik XI, S. 26. 28 Nach Koch (Band III, S. 342) ist ,,eine gewisse Hauptform dieses ersten

Perioden" - der Exposition - ,,allen ersten Perioden der grl3ern Tonstiicke ge- mein. Sie bestehet darinne, daB der Periode vier interpunctische Haupttheile, oder vier Hauptruhepuncte des Geistes enthalt. Zwey derselben sind der Haupttonart eigen, und werden von den zwey ersten melodischen Theilen vermittelst des Grund- und Quintabsatzes gemacht" - ein ,,Grundabsatz" ist ein unvollkommener Schlu3 auf der I., ein ,,Quintabsatz" ein HalbschluB auf der V. Stufe -; ,,in dem dritten aber wird die Modulation nach der Tonart der Quinte hingeleitet, in welcher er mit dem Quintabsatze geschlossen wird, worauf der vierte interpunctische Haupttheil mit der Cadenz in dieser Tonart den Perioden schlieBt".

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gen, widerspricht einerseits dem Periodenbegriff des 19. Jahrhunderts und er- innert andererseits an eine ,,Interpunktionsregel" der modalen Vokalpolypho- nie29, an die Regel, daB die erste Kadenz eines Satzes dessen Tonart ausprigen soll).

III

Die Akzentuierung der ,,interpunctischen Form", der Integration durch Ab- stufung der Endigungsformeln, erscheint als Konsequenz eines rhetorischen Formbegriffs, der das technische Korrelat zur Aisthetischen Rechtfertigung der Instrumentalmusik als Abbild der Vokalmusik, als ,,Klang-Rede", darstellt. Instrumentalmusik war fiir Koch, so eindringlich er sie technisch analysierte, aisthetisch ein bloBer Schatten, ein defizienter Modus von Vokalmusik. ,,Aus diesem allen sehen wir, daB die Tonkunst eigentlich nur in Verbindung mit der Dichtkunst ihre hlchste Absicht und ihren eigentlichen Endzweck erreichen kann; und daB es ihrer Wiirkung hochst nachtheilig ist, wenn man sie von der Poesie trennt"30

Mit der primairen Orientierung an Vokalmusik hangt es zusammen, daB Kochs Formenlehre nicht vom Begriff des Themas - der nach Riemann a3 die tragende Kategorie einer selbstindigen Instrumentalmusik darstellt -, sondern von dem der ,,Anlage" ausgeht. (Der Terminus stammt aus Johann George Sulzers Allgemeiner Theorie der Schanen Kiinste, die Koch zitiert32, und ist eng verflochten mit dem Begriff des musikalischen ,,dessein", wie er von Jean- Jacques Rousseau 1754 in der Enzyklopidie entwickelt worden war33, ohne daB jedoch von einer schlichten Adaption die Rede sein kdnnte). Die Anlage ist nach Koch der Inbegriff der ,,schon mit einander in Verbindung gebrachten Hauptgedanken des Satzes, die sich zusammen dem Tonsetzer als ein vollkom- menes Ganzes darstellen, nebst den harmonischen Hauptziigen desselben"34 (unter ,,harmonischen Hauptziigen" sind wesentliche, etwa konzertierende Nebenstimmen in einer Arie zu verstehen). Koch exemplifiziert35 an der Arie ,,Ein Gebet um neue Stirke" aus Grauns Der Tod Jesu. Von den 143 Takten, die der erste Teil der Arie umfaBt, werden 22 zur Anlage gezthlt; der Rest ist ,,Ausfiihrung". Die Anlage stellt die thematisch-melodische Substanz dar: ohne Wiederholungen und Fiillsel, Ausspinnungen und Zergliederungen, aber mit vollstaindigem Text. (Die Kriterien geraten manchmal in Konflikt miteinan- der: Koch tilgt zwar die Wiederholungen T. 39-40 und T. 59-60, aber nicht T. 29-32, ohne die der Text fragmentarisch bliebe). Wihrend Analytiker, die sich auf eine Formenlehre des 20. Jahrhunderts stiitzen, dazu tendieren wiir-

29 CalVisius, cap. 18. 30 Koch, Band II, S. 33. s1 Riemann, Band I, S. 424ff. 32 Koch, Band II, S. 52f. "* Ritzel, S. 77. *4 Koch, Band II, S. 53. 36 Koch, Band II, S. 59ff.

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Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform 167

den, das Instrumentalritornell der Arie als deren eigentliche ,,Thematik" anzu- sehen und die Vokalmelodik, von der die Instrumentalmotive gleichsam iiber- formnt werden, als sekundir zu betrachten, geht Koch gerade umgekehrt vom Vorrang der vokalen Fassung aus, zahlt jedoch auch die Instrumentalmotive - die ,,harmonischen Hauptziige" -, wenngleich erst in zweiter Linie, zur Sub- stanz der Anlage.

Den Begriff der Anlage mit dem des Themas gleichzusetzen, wire allerdings eine grobe Vereinfachung. UmfaBt die Anlage samtliche Hauptgedanken und deren inneren Zusammenhalt (etwa durch ,,kontrastierende Ableitung"), so ver- steht Koch unter einem Thema nichts anderes als den ersten ,,Satz" oder ,,Ab- satz" eines Tonstiicks. ,,Der erste Satz, oder das sogenannte Thema ..."3 ; ,,unter den verschiedenen Absatzen einer Melodie enthilt gemeiniglich der erste derselben den Hauptgedanken, das ist denjenigen, der gleichsam die Empfindung bestimmt, welche das Ganze erwecken soll, und dieser wird das Thema oder der Hauptsatz genennet"3. DaB von ,,Hauptgedanken" sowohl im Plural als auch im Singular die Rede ist - daB ,,der" Hauptgedanke das Thema und ,,die" Hauptgedanken die Anlage bilden -, mag verwirrend wir- ken, liiBt sich aber verstindlich machen, wenn man beriicksichtigt, daB form- theoretische Erdrterungen im 18. Jahrhundert fast immer mit asthetischen ver- quickt waren. Der Terminus Thema bezeichnete, als sowohl technischer wie isthetischer Begriff, einen in Tone gefaBten Affekt oder Charakter, dessen musi-

kalische Formulierung durch mehrfache Wiederkehr die Einheit eines Satzes verbiirgt38. Manche Theoretiker und Asthetiker betonten das inhaltliche39, andere das formale Moment des Begriffs; auch unausgesprochen implizierte jedoch eine technische Bestimmung immer eine isthetische und umgekehrt. DaB von ,,dem" Thema als ,,dem" Hauptgedanken eines Satzes die Rede ist, als wire eine Sonate prinzipiell monothematisch, kann demnach als Konse- quenz eines asthetischen Postulats aufgefalt werden: des Postulats der Einheit des Affekts oder Charakters. Andererseits wurde die Moglichkeit eines Kontrast- moments (das in Forkels rhetorischer Formtheorie, wie erwahnt, unter den Be- griff des ,,Einwurfs" fiel, der eine ,,Widerlegung" herausfordert) von Koch keineswegs verleugnet. Der ,,singbare", ,,cantable Satz", in der Sonatenexposi-

3s Koch, Band III, S. 371. "7 Koch, Band II, S. 347f. 38 J.G.Sulzer, Allgemeine Theorie der Sch6nen Kiinste, Leipzig 21792, Reprint

Hildesheim 1967, Band II, S. 488: ,,Hauptsatz. (Musik.) Ist in einem Tonstiik eine Periode, welche den Ausdruk und das ganze Wesen der Melodie in sich begreift, und nicht nur gleich anfangs vorkammt, sondern durch das ganze Tonstiik oft, in ver- schiedenen Tinen, und mit verschiedenen Verinderungen, wiederholt wird. Der Hauptsatz wird insgemein das Thema genennt".

39 C.L.Junker, Tonkunst, Bern 1777, S. 25: ,,Thema ist fast das, was Held in der Malerey ist. Thema ist urspriingliche Grundempfindung, auf die sich alle, in der Folge entwickelte Nebenempfindungen, beziehen; in die sie verwebt seyn miissen, wie Theile in das Ganze, um Einheit festzusetzen. Die Nebenthemata haben eben das Verhiltni3 zum Hauptthema, das Beywerke in der Malerey zum Helden haben".

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168 Carl Dahlhaus

tion gewdhnlich nach dem ,,Quintabsatz in der Quinttonart" plaziert40, wird zwar nicht als ,,Thema" bezeichnet, weil der Terminus Thema an die Vorstel- lung einer ,,Hauptempfindung" gekniipft ist, von der das Seitenthema gerade abweicht. Doch muBl das Kontrastmoment zweifellos zu den ,,Hauptgedanken" (im Plural) geziihlt werden, aus denen die Anlage eines Sonatensatzes besteht. Negativ ausgedriickt: Den ,,cantablen Satz" zur ,,Ausfiihrung" oder ,,Form" zu rechnen, 1iBt deren Beschreibung durch Koch nicht zu. (Der Versuch, aus einem Sonatensatz, ihnlich wie aus der Graunschen Arie, die Anlage zu abstra- hieren, wurde von Koch nicht unternommen).

Musikalische ,,Form", wie Koch sie auffaBt, entsteht durch ,,Ausfiihrung" einer Anlage. ,,In der Anlage wurden die wesentlichen Theile des Ganzen fest- gesetzt, und das Geschift der Ausfiihrung ist, diese Theile in verschiedenen Wen- dungen und Zergliederungen durch verschiedene Hauptperioden durchzufiih- ren; und dieses Verfahren giebt dem Tonstiicke seine Form" 41.,,Die Form hiingt theils von der bestimmten Anzahl der Hauptperioden, theils von der Tonart, in welche dieser oder jener Periode hingeleitet wird, theils aber auch von dem Orte ab, wo dieser oder jener Haupttheil wiederholt wird"42. Koch beschrinkt den Formbegriff auf Momente, die er ,,mechanisch" - im Unterschied zu ,,poetisch", zur Erfindung geh6rig - nennt. Den Zusammenhang der ,,schon mit einanderin Verbindung gebrachten Hauptgedanken eines Satzes" zaihlt er nicht zur Form, sondern zur Anlage. Waihrend die Theorie des 19. und 20. Jahrhunderts, und zwar die schematisierende ebenso wvie die individualisierende, unter Form siimtliche Beziehungen der Teile zueinander und zum Ganzen versteht, diffe- renziert Koch die (nach neueren Begriffen) ,,formalen" Relationen in die ,,poeti- schen" der Anlage und die ,,mechanischen" der Ausfiihrung (der ,,Form" in seinem Sinne). Die Abgrenzung muB einem Analytiker, dessen Kategorien von Beethovens Sonaten abstrahiert sind, willkiirlich und gewaltsam erscheinen; sie liiBt sich jedoch verstiindlich machen. Der Zusammenhang zwischen einem Haupt- und einem Seitengedanken ist individuell und unwiederholbar; dagegen ist die ,,interpunctische Form" einer Exposition, in der, wie Koch postuliert, einem Grund- und einem Quintabsatz in der Haupttonart ein Quint- und ein Grundabsatz in der Dominanttonart folgen sollen, prinzipiell immer gleich. Mit anderen Worten: Die Unterscheidung zwischen einem ,,poetischen" und einem ,,mechanischen Theil" der Komposition ist sachlich fundiert; und solange einem individuellen Moment ein generelles gegeniibersteht, ist es sinnvoll, An- lage und Ausfiihrung (,,Form") voneinander zu trennen. Erst wenn die ,,inter- punctische Form" ihre regulierende Funktion einbiil3Bt, verliert die Kochsche Differenzierung ihren Sinn. (Man kann zwar die Themen einer Beethovenschen Sonatenexposition zusammen mit dem Prinzip der ,,kontrastierenden Ablei-

40 Koch, Band III, S. 306, 334 und 385. 41 Koch, Band II, S. 97. 42 Koch, Band II, S. 103.

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Der rhetorische Formbegriff I. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform 169

tung", das der ,,Verbindung der Hauptgedanken" zugrundeliegt, ohne Gewalt- samkeit als ,,Anlage" bezeichnen; doch ist der GrundriB der Exposition nicht mehr durch eine immer gleiche ,,interpunctische Form" bestimmt, sondern er- wichst aus der Besonderheit der Thematik, und sofern die Form selbst ,,poe- tisch" - zu einer Sache der ,,Erfindung" statt der Konvention - wird, ist die Dichotomie zwischen dem ,,poetischen" und dem ,,mechanischen Theil", also auch die zwischen Anlage und Ausfiihrung aufgehoben: Der Sonatensatz wird gleichsam insgesamt zur Anlage, zum individualisierten Entwurf.)

Die Behauptung, daB Koch von einem giinzlich schematisierten Formbegriff ausgehe, wiare allerdings eine Jibertreibung. Zwar scheint es zunichst, als teile er die Auffassung mancher Inhaltsiisthetiker, daB die musikalische Form gerade darum, weil sie unwesentlich sei, konventionell sein diirfe und sogar sein solle. (Musikalischen Konventionalismus mit Formalismus gleichzusetzen, ist ein- seitig: Sowohl Schematik als auch die Lust am Experiment laBt sich einerseits form- und andererseits inhaltsiisthetisch motivieren). ,,Ich komme zu der Form der Siitze eines Tonstiicks. Es ist nicht zu leugnen, daB eines Theils die Form derselben etwas Zufilliges" - das heiBt, Akzidentelles, nicht Essentielles - ,,ist, welches eigentlich wenig oder gar keinen EinfluB auf den innern Charakter des Tonstiicks hat, und andern Theils hat man auch eben keinen Grund wider die Form unserer Siitze, sowohl in den groBern als kleinern Tonstiicken vieles einzu- wenden. Und dieses ist vermuthlich die Ursache, warum viele groBe Meister z.B. ihre Arien beynahe alle nach einer und eben derselben Form gearbeitet haben" 43. Andererseits fiihlt sich Koch in seiner musikalischen Intelligenz ge- krinkt durch eine Mechanik der Ausfiihrung, die es erlaubt, aus einer Exposi- tion einen ganzen Satz vorauszusagen. Und zwischen einer Strenge, die das Genie fesselt, und einer Regellosigkeit, die den Unsinn ermutigt, sucht er dadurch einen Ausweg, daB er rit, die herk6mmliche Form zu bewahren, wo es mdglich, und sie zu verindern, wenn es ndtig ist 44. DaB er demnach Modifika- tionen zuliiBt, iindert jedoch nichts an der Tatsache, daB die Norm, die das Be- zugssystem der Lizenzen bildet, prinzipiell erhalten bleibt; der Begriff einer individuellen Form - der die Differenzierung in Anlage und Ausfiihrung durch- kreuzen wiirde - war Koch wie dem 18. Jahrhundert insgesamt fremd.

IV

Eine der festen, unreflektierten Voraussetzungen eines Formbegriffs, der sich an der Architekturmetapher orientiert, besteht in der Vorstellung, dab Wiederholungen, als gleichsam ,,tragende" Teile des musikalischen ,,Gebaiu- des", zum Wesen musikalischer Formen gehdren, so daB sich das Geriist in

4* Koch, Band II, S. 117. 44 Koch, Band II, S. 118f.

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170 Carl Dahlhaus

letzter Reduktion durch Chiffren wieA...A oder A...A...A...A abbilden

liBt, in denen die Substanz der Lied-, Sonaten-, Rondo- und Konzertform aufbewahrt sein sell. Demgegeniiber wirkt eine Formtheorie wie die von Koch

entworfene, in der Wiederholungen und Reprisen als sekundire Momente der

musikalischen ,,Rede", als bloBe Fiillsel oder Bekr~iftigungen, aber nicht als GrundriB des Ganzen erscheinen, irritierend, weil sie scheinbare SelbstverstPind- lichkeiten fragwiirdig macht. Und die Diskrepanz der Theorien ist um so selt- samer, als in der musikalischen Praxis gerade umgekehrt das 18. Jahrhundert

ein Zeitalter der durch Repetitionen und Reprisen geprigten Formtypen dar-

stellt, wihrend den Komponisten des 19. Jahrhunderts die Reprise in der als ProzeB gedachten Sonatenform zum Problem wurde.

Das Ritornell bildet nach Koch sowohl in der Konzertform als auch in der

fiinfteiligen Da-capo-Arie (A' A2 B A' A2) einen blolen ,,Einleitungs- oder Vor-

bereitungssatz" 45. Wihrend die neuere Formenlehre dazu neigt, es als Exposi- tion der Thematik zu betrachten, setzt Koch, der vom Modell einer Rede aus-

geht, das Ritornell zur Introduktion herab46; und er erklirt nicht den Soloteil als Ausspinnung des Ritornells als der eigentlichen Substanz, sondern umgekehrt das Ritornell als antizipierende Zusammenziehung des Soloteils47. Kochs Auf-

fassung, in der das Ritornell zur ,,Nebenperiode" absinkt, statt mit seinen Wiederholungen das tragende Geriist der Form zu bilden, widerspricht der ge- wahnlichen Interpretation der Konzertform als Rondo mit transponierbarem Ritornell; doch ist das Konzept, so iiberraschend es wirkt, keineswegs willkiir- lich. Denn erstens stimmt die Akzentuierung der - vokalen oder instrumentalen - Solopartien mit der isthetischen Wirkung iiberein, die von einem Konzertsatz oder einer Arie ausgeht, w~hrend die Auffassung des Ritornells als ,,Haupt- periode" dazu zwingt, zwischen dem kompositionstechnischen Primat des Or- chestersatzes und dem ~isthetischen des Soloparts - also gleichsam zwischen einer Innen- und einer AuBenseite - zu unterscheiden. (Das besagt nicht, die

Differenzierung sei iiberfliissig - bei Bach-Arien diirfte sie vielmehr unumg~ing- lich sein; aber es macht begreiflich, daB eine Interpretation, in der sie vermie- den wurde, durch Simplizit~it zu bestechen vermochte). Zweitens riicken in der

45 Koch, Band III, S. 421. 4s Koch, Band II, S. 68. ,,Mul3 sich nicht der Redner nothwendig erst den Inhalt

seines Vortrags auf das genaueste bestimmt haben, bevor er in der Einleitung seiner Rede die Zuhorer auf den Inhalt derselben aufmerksam machen kann? Und steht nicht das erste Ritornell eines Concerts mit dem Inhalte der Solostimme in eben demselben Verhiltnisse, wie die Einleitung einer Rede mit dem Inhalte derselben?"

47 Koch, Band III, S. 421f.: ,,In Ansehung der Beschaffenheit der melodischen Theile desselben (des Ritornells) ist zu bemerken, daB, ob es gleich Theile des Haupt- perioden enthilt, dennoch (besonders im Concerte) nicht alle und jede Theile des Hauptperioden, sondern nur diejenigen darzu schicklich sind, die von mehrern Instrumentisten zugleich mit Leichtigkeit und mit der nithigen Bestimmtheit des Vortrages ausgeiibt werden kinnen. Mit diesen Theilen werden oft andere zufallige, aber zum Hauptvortrage passende melodische Theile verbunden". (,,Zufillig" heiBl3t: nicht in der ,,Anlage" enthalten).

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Page 18: Dahlhaus, Der Rhetorische Formbegriff

Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform 171

Formtheorie des 18. Jahrhunderts die Hauptformen des Zeitalters, die Kon-

zert-, die Arien-, die Suitensatz- und die Sonatenform, eng zusammen48. Das

Schema, daB (in Dur) ein erster Tell von der Grund- zur Dominanttonart mo- duliert und ein zweiter mit analoger Motivik von der Dominanttonart zur Grundtonart zuriickmoduliert, sei es unmittelbar oder auf dem Umweg iiber die

Paralleltonart, ist der Suitensatz- und der Sonatenform sowie den Solopartien der Konzertform und dem Da-capo-Teil der Arie (A' A2) gemeinsam. Geht man

aber, unbekiimmert um Kriterien der Formenlehre des 19. Jahrhunderts, von dem skizzierten GrundriBl als gemeinsamer Substanz der verschiedenen Form-

typen des 18. Jahrhunderts aus - und betrachtet man das Generelle, tberein- stimmende als das Wesentliche -, so erscheint erstens das Ritornell in der Kon- zert- und der Arienform als blolBer ,,Zusatz" zum Grundschema, also als ,,Ne-

benperiode". Zweitens erweist sich der Unterschied, ob der zweite Tell der prin- zipiell binaren Form einen ununterbrochenen Modulationsgang bildet (D-T oder D-Tp-T) oder ob er in zwei Sektionen mit je einer ,,formlichen Cadenz"

geteilt wird (D-Tp und Tp-T oder auch T-T), als durchaus sekundar: das eine

geschieht im Suitensatz und im A2-Teil der Da-capo-Arie, das andere im Sona- tenformschema und im zweiten und dritten Solo der Konzertform. (Das zahe Festhalten der Theorie an der biniren Formauffassung, die sogar im 19. Jahr- hundert, bei Reicha, noch iiberlebte, ist in der Orientierung an dem skizzierten Grundschema als gemeinsamer Substanz der verschiedenen Formtypen des 18. Jahrhunderts begriindet: Man erklarte gewissermalBen die Dreiteiligkeit der Sonatenform durch Hilfshypothesen, um ein Theorem, das eine zusammen- fassende Interpretation divergierender Formen erlaubte, nicht preisgeben zu

miissen). Drittens ist in der Theorie des 18. Jahrhunderts das - nach spaterer Auffassung - fiir die Sonatenform entscheidende Kriterium, daB die zweite Sektion des zweiten Tells (die Reprise) mit dem Hauptthema in der Grundton- art einsetzt (statt bloB mit Motiven der ,,Hauptperiode" von der Parallel- zur Grundtonart zu modulieren), von geringer Bedeutung49. Man unterschied nicht tonal geschlossene von modulierenden Teilen, sondern gliederte in - entweder modulierende oder nicht-modulierende - Perioden, die in eine ,,f6rmliche Ca- denz" miindeten: und ob nach einer Durchfiihrung mit GanzschluB in der

Paralleltonart die dritte Periode ex abrupto in der Grundtonart einsetzte oder modulierend von der Parallel- in die Grundtonart zuriicklenkte, galt als sekun- d~ir.

48 Koch, Band III, S. 381: Die Differenz zwischen Arie und Sinfonie wird ,,nicht durch die Verschiedenheit der interpunctischen Form" bewirkt.

* Entscheidend ist die Kadenz in der Paralleltonart (J.Riepel, Anfangsgritnde zur musicalischen Setzkunst, Band II, Frankfurt 1755, S. 94; Koch, Band III, S. 309). Ob dann das Hauptthema unmittelbar, durch Tonartsprung, oder nach einer modu- lierenden tberleitung in der Grundtonart einsetzt und ob die tfberleitung zur ersten oder zur zweiten Sektion des zweiten Teils - zur Durchfiihrung oder zur Reprise - gezihlt oder als bloBl3es Zwischenstiick ohne feste Zugeh6rigkeit behandelt wird, scheint als durchaus sekundir gegolten zu haben.

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Unter den Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts wird eine Formanalyse Johann Friedrich Daubes50, die zunichst als bloBes ,,Versehen" erscheint51, mindestens verstPindlich, ohne daB man als Historiker gezwungen wire, sie zu iibernehmen. Ein kurzer Symphoniesatz in B-Dur, der nach modernen Begrif- fen aus einer Exposition (1-12) - mit Hauptthema (1-4), tberleitung (5-8) und Nebengedanken (9-12) -, einer Durchfiihrung (13-28) und einer regulkiren Re- prise (29-40) besteht, wird von Daube in drei Perioden gegliedert: Die erste moduliert von der Grund- zur Dominanttonart (1-12), die zweite von der Do- minant- zur Paralleltonart (13-24) und die dritte von der Parallel- zur Grund- tonart (25-40). Eine ,,fdrmliche Cadenz" innerhalb der Durchffihrung (24) konstituiert einen PeriodenschluB, also das Ende des zweiten Te;ls; und die Riickleitung (Sequenzierung des Themenkopfes auf den Stufen c-moll: V-I und B-Dur: V-I) wird mit der Reprise zur dritten Periode zusammengezogen. Statt der tonal in sich geschlossenen Reprise ist es die zwischen zwei ,,farmlichen Cadenzen" stehende - modulierende -Periode, die Daubes Formurteil bestimmt.

Das besagt keineswegs, daB ein Historiker gezwungen wire, die Kriterien des 18. Jahrhunderts - oder die Hierarchie, in die man die Kriterien brachte - als die einzig triftigen zu iibernehmen. So verfehlt es wire, sich iiber sie hinwegzu- setzen, so iibertrieben wire andererseits eine einspruchslose Unterwerfung unter die Gesichtspunkte der Mlteren Formtheorie. Sich die von den neueren Prinzi- pien abweichenden Pramissen versuchsweise zu eigen zu machen, ist jedoch in- sofern niitzlich, als dadurch ein Vorurteil durchschaubar wird, das im 19. Jahr- hundert entstanden ist, ohne daB es jemals gerechtfertigt worden wire: das Vorurteil, daB es prinzipiell die nicht-modulierenden Teile einer musikalischen Form seien, die deren tragendes Geriist bilden.

Koch weicht der Alternative, in der Daube eine extreme Entscheidung fillte, insofern aus, als er riickmodulierende lberleitungen nach einer ,,f6rmlichen Ca- denz" in der Paralleltonart weder (wie die neuere Formenlehre) zur zweiten noch (wie Daube) zur dritten ,,Hauptperiode" zihlt. Einerseits kann er die Primisse, daB eine ,,f6rmliche Cadenz" einen PeriodenschluB darstellt, nicht preisgeben, ohne die Grundlagen seiner Formauffassung anzutasten; andererseits dringte sich ihm die Einsicht auf, daB die Wiederkehr des Themas einen Periodenanfang markiert. ,,Mit diesem zweyten Hauptperioden der Sinfonie ist gemeiniglich ein kurzer Satz verbunden, der aus einem Gliede eines melodischen Haupttheils be- stehet, welches auf eine der Progression ihnliche Art fortgesetzt, und ver- mittelst dieser Fortsetzung die Modulation wieder zuriick in den Hauptton gefiihrt wird, in welchem der lezte Hauptperiode anzuheben pflegt" 52

Die wesentlichen Differenzen zwischen der Mlteren und der neueren Form- auffassung entstehen nicht dadurch, daB Tatsachen vernachlissigt oder unter- driickt wiirden, sondern daB auf Grund eines isthetischen Paradigmenwechsels -

5o Abgedruckt bei Ritzel, S. 141f. 51 Ritzel, S. 143. 52 Koch, Band III, S. 309.

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einer Orientierung entweder am Modell der Rede oder an dem Bild einer tbnen- den Architektur - die Formkriterien in einer anderen Hierarchie erscheinen: Was in der einen Theorie als Hauptsache gilt, wird in der anderen zur Neben- sache herabgesetzt und umgekehrt. Koch akzentuierte die Periodengliederung der ,,Klang-Rede" durch ,,fdrmliche Cadenzen", behandelte dagegen die fiir eine architektonische Forminterpretation ausschlaggebende Differenz, ob die Reprise vollstindig oder unvollstindig ist, mit auffilliger Gleichgiiltigkeit. ,,Wenn der zweyte Theil oder die zweyte Reprise" - Reprise im iilteren Wort- sinn eines zwischen Wiederholungszeichen stehenden Tells - ,,eines Tonstiickes nur einen einzigen Hauptperioden enthilt, das hei3t, wenn in diesem zweyten Theile keine Cadenz in einer mit dem Haupttone verwandten Tonart" - im allgemeinen der Paralleltonart - ,,gemacht wird, so zerfillt der ganze Periode in Riicksicht des Ganges seiner Modulation in zwey Hilften. Die erste Hilfte ist einer oder zwey verwandten Tonarten gewidmet, jedoch dergestalt, daB keine Cadenz in denselben gemacht, sondern statt derselben die Modulation wieder zu- riick in den Quintabsatz der Haupttonart geleitet wird, mit welchem die erste Hilfte, als mit ihrem Hauptruhepuncte schlieBt, und nach welchem in der zweyten Hi~lfte des Perioden die vorziiglichsten melodischen Theile in der Haupttonart wiederholt werden" 5. Ob mit den ,,vorziiglichsten melodischen Theilen", die am Ende des Satzes wiederkehren sollen, die gesamte Thematik der Exposition oder lediglich ein Auszug aus ihr gemeint ist, bleibt einstweilen offen; und wenn Koch an anderen Stellen54 erwahnt, daB entweder die unge- teilte erste Hauptperiode oder nur deren zweiter Abschnitt die Reprise bilden kdnne, so zeigt die Fliichtigkeit, mit der er die Alternative behandelt, daB der Unterschied zwischen unvollstindiger und vollstindiger Reprise, also die Diffe- renz zwischen Suitensatz- und Sonatenform, von ihm nicht als wesentlich emp- funden wurde. Nach Koch unterscheidet sich eine dreiteilige Form von einer zweiteiligen nicht durch das AusmaB, in dem die Thematik der Exposition re- kapituliert wird, sondern durch die Anzahl der ,,fdrmlichen Cadenzen": Ein Satz mit Kadenz in der Paralleltonart am Durchfiihrungsende, aber unvoll- stindiger Reprise ist dreiteilig, ein Satz ohne Kadenz in der Paralleltonart, aber mit vollstindiger Reprise dagegen zweiteilig.

Die Akzentuierung der Periodengliederung, die sich aus dem rhetorischen Formbegriff ergibt, hingt andererseits mit einem Unterschied, der zwischen dem Begriff der ,,Anlage" und dem der ,,Themen-Exposition" besteht, eng zu- sammen. Die Vorstellung, daB eine Thematik zunichst exponiert, dann durch- geffihrt und schlieBlich rekapituliert werde, war Koch durchaus fremd. Eine Anlage ist eine melodische oder motivische Substanz, die der Komponist in immer wieder anderen Fassungen - ,,Zergliederungen" und ,,Wendungen" - vortrigt, um zu zeigen, was in ihr steckt. Und daB Koch, wie erwihnt, in der

"8 Koch, Band III, S. 394f. " Koch, Band III, S. 245f., 313 und 399.

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Konzert- und der Arienform weniger das Ritornell als die erste Solopartie her- vorhob, um aus ihr die Anlage zu rekonstruieren, besagt unmi3verstandlich, daB von einer Exposition streng genommen nicht die Rede sein kann. Die An- lage wird nicht - wie eine Thematik - in einem der Teile exponiert, sondern bil- det einen Gedankenkomplex, der - in verschiedener Ausfiihrung - beiden Teilen zugrundeliegt. ,,Das erste Ritornell pflegt man in den modernen Con- certen sehr lang auszufiihren. Es bestehet aus den vorziiglichsten melodischen Theilen, die zur Anlage des Allegro gehdren, welche in andere Verbindung ge- bracht, und durch andere Hiilfsmittel erweitert werden, als es im Solo der Concertstimme geschieht" 55. Der Primat der Solopartie, also des zweiten Tells gegeniiber dem ersten, hitte von Koch gar nicht behauptet werden k6nnen, wenn er, wie die neuere Formenlehre, zwischen der Aufstellung der Thematik und den Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden, unterschieden hitte. Eine Anlage, wie Koch sie versteht, wird nicht exponiert, um dann durchgefiihrt und schlieBlich rekapituliert zu werden, sondern ist nirgends anders als in den verschiedenen Ausprigungen, die sie erhilt, iiberhaupt gegenwirtig. Man kann sie zwar, wie es Koch bei der zitierten Graun-Arie unternahm, aus den wech- selnden Fassungen zu extrahieren versuchen; doch ist sie eigentlich ein Kom- plex, der nicht vor den Ausfiihrungen, sondern einzig in ihnen existiert.

Das Prinzip, musikalische Form dadurch entstehen zu lassen, daB man eine Anlage in immer wieder anderen Versionen vortrigt, hatte zur Folge, daB die Differenz zwischen Durchftihrung und Exposition schwicher und der Unter- schied der Reprise gegeniiber der Exposition nachdriicklicher betont wurde, als es in der spiteren Formenlehre geschah. (Die Divergenz der Theoreme ist aller- dings nicht allein im musikisthetischen Paradigmenwechsel, sondern auch in der Geschichte der Sache selbst, in der Entwicklung der Durchfiihrung von einer anders modulierenden Variante des Expositionsverlaufs zu einer Phan- tasie iiber herausgeliste Themen und Motive begriindet). Die Vorstellung, daB die Motivik der ersten ,,Hauptperiode" in der zweiten mit anderem Modula- tionsgang wiederkehrt, geht von einer anderen Hierarchie der Kriterien aus als die Gliederung in Exposition und Durchfiihrung. Ob die melodische Substanz im zweiten Teil in ahnlicher oder ganz anderer Anordnung erscheint und ob der zweite Teil mit einer ,,fdrmlichen Cadenz" in der Paralleltonart schlieBt oder ohne Zasur in die Reprise iibergeht, ist nach den Begriffen des 18. Jahrhunderts essentiell, nach denen des 19. akzidentell.

Andererseits akzentuiert Koch, wie gesagt, die Unterschiede der Reprise ge- geniiber der Exposition. Durch die tonale Verinderung in der dritten ,,Haupt- periode" erhilt die Anlage eine ,,neue Wendung" 58. Nicht, daB der Tonarten- gegensatz der Exposition in der Reprise aufgehoben ist, nachdem er in der Durchfiihrung ausgetragen wurde, sondern daB der harmonische Gang in der

55 Koch, Band III, S. 333. 56 Koch, Band III, S. 245.

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dritten Periode anders ist als in der ersten, soll als wesentlich gelten. Form - ,,Ausfiihrung" der ,,Anlage" - entsteht dadurch, daB in ,,verschiedenen Haupt- perioden" - den Hauptteilen der ,,Klang-Rede" - die melodische Substanz durch motivische Arbeit (,,Zergliederungen") und verinderte Modulations- g~inge (,,verschiedene Wendungen") in wechselndem Licht gezeigt wird. ,,In der Anlage wurden die wesentlichen Theile des Ganzen festgesetzt, und das Ge- sch~ifte der Ausfiuhrung ist, diese Theile in verschiedenen Wendungen und Zer- gliederungen durch verschiedene Hauptperioden durchzufiihren" 57. Zu den ,,Hauptperioden" aber, in denen die Anlage ,,durchfiihrt" wird, gehdrt auch die erste, die ,,Exposition". Form ist, als ,,Klang-Rede", eine durch ,,fdrm- liche Cadenzen" in ,,Hauptperioden" gegliederte Reihe von Paraphrasen iiber die melodische Substanz der ,,Anlage".

V

Von der Formenlehre des 19. und des friihen 20. Jahrhunderts, in deren Klassifikationssystem die Formen des Sonaten-, des Suiten-, des Arien- und des Konzertsatzes wie zoologische Spezies nebeneinanderstehen, unterscheidet sich Kochs Entwurf dadurch, daB die ,,interpunctische Form", die Gliederung durch Kadenzen und Modulationsginge, ein in den verschiedenen Formtypen wieder- kehrendes Grundmuster bildet. Hinter der Vielfalt der Schemata, die im 19. Jahrhundert hervorgehoben wurde, entdeckte man im 18. eine Einheit des Formprinzips.

Gerade umgekehrt aber wurden bei Versuchen, aus der Formenlehre eine Gattungstheorie - als ,,angewandte Formenlehre" - zu entwickeln, im 18. Jahr- hundert die differierenden und im 19. die gemeinsamen Ziige akzentuiert. Nach Koch unterscheidet sich ein Andante dadurch von einem Allegro, daB - bei analogem UmriB - im Andante ,,die melodischen Theile weniger erweitert, und nicht so oft zusammen gezogen, und daher mehr fSrmliche Absitze gebraucht werden, als in dem Allegro. Dieses ist der Natur derjenigen Empfindungen ge- mBiB, die in Sitzen von langsamer Bewegung vorgetragen zu werden pflegen" 58. Und durch ihnliche Differenzen in der ,,inneren Beschaffenheit", wie sie zwi- schen den Satztypen bestehen, lassen sich auch die Gattungen, Sinfonie und Sonate, voneinander abheben. ,,So iihnlich aber auch einander die Formen der Sonate und der Sinfonie in Ansehung der Anzahl der Perioden, und der Fiih- rung der Modulation seyn migen, so verschieden ist im Gegentheil unter bey- den die innere Beschaffenheit der Melodie. Diese Verschiedenheit 1Ca8t sich aber besser empfinden, als beschreiben; nur dieses kann mnan mehrentheils als ein ulBerliches Unterscheidungszeichen wahrnehmen, daB in der Sonate die me-

5 Koch, Band II, S. 97. 58 Koch, Band III, S. 312.

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lodischen Theile nicht so fortstrimend zusammen h~ingen, wie in der Sinfonie, sondern 6fterer durch farmliche Absitze getrennt, und weder so oft durch die Fortsetzung eines Gliedes dieses oder jenes melodischen Theils, noch durch Progressionen, sondern mehr durch erkliirende, und die Empfindung auf das genaueste bestimmende Zus~itze erweitert sind" 59. Der ,,fortstrdmende" Cha- rakter entsteht, wie Koch an anderer Stelle erwihnt, durch ,,Tacterstickung" so0 Und daB sich Sinfonien dadurch von Sonaten unterscheiden, daB die Hauptge- danken in Sinfonien eher durch motivische Fortspinnungen oder Sequenzen, in Sonaten dagegen durch Nebengedanken erginzt werden, ist eine fiir das

spiitere 18. Jahrhundert durchaus triftige Beobachtung. Im Gegensatz zur Theorie des 18. Jahrhunderts tendierte die neuere Formen-

lehre, die einerseits aus Klassifikationsdrang die Unterschiede zwischen den Formtypen oder Schemata hervorhob, andererseits zu der generalisierenden Behauptung, daB eine Form in den verschiedenen Gattungen, in denen sie mit wechselnden Mitteln realisiert werde, substanziell immer gleich bleibe. ,,The forms of orchestral compositions and of chamber music ... are in all essentials identical with the forms of pianoforte music. When, later, we come to speak of the orchestra, we shall not have to concern ourselves at all with the form of the music, but only with the means by which it is presented" 6l. Und sogar von den Formen der Vokalmusik heiBt es, daB sie in den wesentlichen Ziigen mit denen der Instrumentalmusik iibereinstimmen. ,,Though there will be found to be little that is new in the forms of vocal music, these being for the most part near- ly or quite identical with the instrumental forms with which the student may now be assumed to be familiar, there are several important considerations to be borne in mind in writing for voices, quite irrespective of the form of the mu- sic" 62

Die These von der Identitit der Formen in der Verschiedenheit der Gattun- gen als veraltet und irrig zu durchschauen und die Differenz symphonischer Formen von kammermusikalischen zu erkennen63, ist im Riickblick leichter, als begreiflich zu machen, wie es iiberhaupt mdglich war, daB die These ge- glaubt werden konnte. Die Abstraktheit und Schematik, die man der Formen- lehre des 19. und des friihen 20. Jahrhunderts vorwerfen kann, li3Bt sich jedoch historisch durchaus verstehen (ohne daB sie dadurch akzeptabler wiirde): Sie ist, wie es scheint, dreifach begriindet, und zwar erstens in der lberzeugung von der Substanzialitit des Generellen, zweitens in der Korrelation zwischen For- menlehre und Asthetik und drittens in der Orientierung der Didaktik am Prin- zip des Lehrsatzes.

* Koch, Band III, S. 319; Band III, S. 305f. wird mit ~ihnlichen Worten - in der JUmkehrung - die Sinfonie von der Sonate abgehoben.

60 Koch, Band III, S. 384. e61 Prout, S. 4. 62 Prout, S. 272. 3 P. Giilke, Zur Bestimmung des Sinfonischen bei Beethoven, in: Deutsches Jahr-

buch der Musikwissenschaft ftir 1970.

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1. Die Formenlehre des 19. Jahrhunderts ging von der - fiir die Begriindung ihrer Daseinsberechtigung fundamental erscheinenden - Vorstellung aus, daB die gemeinsamen - und nicht die unterscheidenden - Ziige musikalischer Werke die formtheoretisch und formanalytisch wesentlichen Merkmale seien. Der Ak- zent fiel auf das Allgemeine, nicht auf das Besondere. Demgegeniiber setzte sich in der Formtheorie der letzten Jahrzehnte die Tendenz durch, generelle Sche- mata entweder ginzlich zu verwerfen oder als bloBe Hilfsmittel zu benutzen, um durch fortschreitende Differenzierung zur Erkenntnis der individuellen Form musikalischer Gebilde vorzudringen. Die Schemata gleichen also nicht mehr einem inneren Geriist, von demn ein Bau getragen wird, sondern einem iuBeren, das man abreiBt, sobald der Bau vollendet ist.

2. DaB man im 19. Jahrhundert formtheoretisch das Generelle als das Wesentliche ansah, war allerdings nur mdglich, weil man die Form listhetisch als

sekundiir betrachtete und die Individualitit musikalischer Werke, die deren Kunstcharakter ausmachte, im ,,Inhalt" und in einer Thematik, die den ,,In- halt" in Tdne fal3Bte, suchte. Das Korrelat einer zur Schematik tendierenden Formenlehre bildete eine Inhaltsisthetik, die am Begriff des Themas das inhalt- liche Moment, den Charakter oder Affekt, hervorhob. Bestimmt man dagegen, wie die Formlisthetik seit Eduard Hanslick, musikalische Individualitait als formal ausgepriigte Individualitiit, versucht man also des Kunstcharakters in formalen Kategorien habhaft zu werden, so erscheint die Thematik nicht mehr primiir als Ausdruck von ,,Inhalten", sondern als Substanz der Form: und zwar einer als ProzeB - als Entwicklungsgeschichte der Thematik -, nicht als Schema begriffenen Form. Aus der Formisthetik erwichst eine individualisierende Formtheorie.

3. Die Konsequenz einer Theorie, die musikalische Form als IndividualitIit und musikalische Individualitiit als Form auffaBt, ist allerdings eine Auflasung der Formenlehre in Analyse. Und wenn es iiberhaupt noch einen Rest an Lehr- barem gibt, der es rechtfertigt, von einer Formenlehre zu sprechen, so besteht er nicht in einer Doktrin, die festsetzt, was die Sonatenform schlechthin sei, son- dern lediglich in einer Methode, die dazu anleitet, Sonatensitze formal zu analy- sieren. Mit anderen Worten: die Ailtere Didaktik, die sich am Prinzip des Lehr- satzes als dem Inbegriff des Lehrbaren orientierte, mul3te durch die neuere, von der Idee exemplarischen Lernens ausgehende Didaktik ersetzt werden, wenn es noch sinnvoll sein sollte, daB ein Analysebuch wie das von Erwin Ratz als ,,Formenlehre" figuriert 64.

64 E. Ratz, Einfilhrung in die musikalische Formenlehre, Wien 1968.

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