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DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER POLNISCHEN VERFASSUNG EIN AUSLEGUNGSVERSUCH MIT RECHTSVERGLEICHENDEN BEZÜGEN Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina vorgelegt von Adam Jakuszewicz Erstberichterstatter: Prof. Dr. Bogusław Banaszak Zweitberichterstatter: Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff

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DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT

IN DER POLNISCHEN VERFASSUNG

EIN AUSLEGUNGSVERSUCH

MIT RECHTSVERGLEICHENDEN BEZÜGEN

Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades

der Juristischen Fakultät

der Europa-Universität Viadrina

vorgelegt von

Adam Jakuszewicz

Erstberichterstatter: Prof. Dr. Bogusław Banaszak

Zweitberichterstatter: Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff

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Das Verfassungsrecht als Lehre muss, um seinen Auftrag zu erfüllen,

unabhängig von den a priori aufgestellten Schemata,

Dogmen und Geboten funktionieren und sich entwickeln.

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 8.

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III

Inhaltsübersicht

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................... IV

Verzeichnis der Abkürzungen ............................................................................................... XI

Einführung ................................................................................................................................ 1

Kapitel I. Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und

Rechtsprechung ........................................................................................................................ 7

Kapitel II. Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung ................................ 58

Kapitel III. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut ..................................... 99

Kapitel IV. Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen Auslegungsmethoden ... 133

Kapitel V. Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der Grundrechtstheorien ........ 204

Kapitel VI. Schutzumfang der Gewissensfreiheit ............................................................. 245

Kapitel VII. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin .......... 305

Kapitel VIII. Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit ................................................ 353

Kapitel IX. Schranken der Gewissensfreiheit .................................................................... 384

Zusammenfassung ................................................................................................................ 427

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 440

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IV

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................... IV

Verzeichnis der Abkürzungen ............................................................................................... XI

Einführung ................................................................................................................................ 1

Kapitel I. Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und

Rechtsprechung ........................................................................................................................ 7

1. Allgemeines ............................................................................................................................ 7

2. Der Begriff der Verweigerung aus Gewissensgründen .......................................................... 9

2.1. Begriffsbestimmung ................................................................................................ 9

2.2. Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen ................................................. 13

2.3. Arten der verweigerungsfähigen Rechtspflichten ................................................. 16

2.4. Abgrenzung der Verweigerung aus Gewissensgründen von dem zivilen

Ungehorsam .................................................................................................................. 21

3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtsystem ....................................... 25

3.1. Rechtsstand ............................................................................................................ 25

3.2. Bewertung der Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit

in der polnischen Verfassung ....................................................................................... 30

3.3. Konsequenzen der terminologischen Änderungen für die Auslegung

der Gewissensfreiheit ................................................................................................... 37

4. Auslegungsansätze der Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und Rechtsprechung ... 40

4.1. Allgemeines ........................................................................................................... 40

4.2. Die Auslegung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit „in religiösen

Angelegenheiten“ ......................................................................................................... 41

4.3. Gewissensfreiheit als forum internum der Glaubens- und

Weltanschauungsfreiheit .............................................................................................. 42

4.4. Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit bzw. als „das Recht

der Nichtgläubigen“ ...................................................................................................... 47

4.5. Gewissensfreiheit und Bekenntnisfreiheit als allgemeine

Überzeugungsfreiheit. .................................................................................................. 49

4.6. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der Erfüllung

einer Rechtpflicht in der polnischen Lehre und Rechtsprechung ................................. 54

5. Fazit ..................................................................................................................................... 56

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V

Kapitel II. Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung ................................ 58

1. Allgemeines .......................................................................................................................... 58

2. Verständnisansätze des Auslegungsprozesses...................................................................... 58

3. Besonderheit der Grundrechtsvorschriften als Determinante der Verfassungsauslegung ... 62

4. Verfassungsauslegung als Prozess der Normkonkretisierung .............................................. 64

5. Auslegungsergebnis als Zusammenspiel der Rechtsvorschriften, der Subjektivität des

Interpreten und der sozialen Wirklichkeit ................................................................................ 67

6. Pluralität der vertretbaren Auslegungsergebnisse ................................................................ 69

7. Beschränkte Begründbarkeit der Auslegungsentscheidung ................................................. 73

8. Verfassungsauslegung als Rekonstruierung der „politischen Formel“ ................................ 74

9. Die schöpferische Rolle des Interpreten bei der Auslegung der Verfassung ....................... 76

10. Die Reihenfolge der einzelnen Interpretationsmethoden ................................................... 79

11. Bestimmung des Endpunkts des Auslegungsprozesses ..................................................... 84

12. Notwendigkeit der dynamischen Auslegung der Verfassung ............................................ 86

Kapitel III. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut ..................................... 99

1. Grundsätze der Auslegung nach Wortlaut und ihre Folgen für die Auslegung des

Gewissensbegriffs .................................................................................................................... 99

2. Notwendigkeit der Definierung des Gewissensbegriffs ..................................................... 100

3. Alltagsverständnis des Gewissens als Ausgangspunkt für die Auslegung des

Gewissensbegriffs .................................................................................................................. 101

4. Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates als Auslegungsdirektive

des Gewissensbegriffs ........................................................................................................... 105

5. Autonome und heteronome Gewissenskonzeptionen......................................................... 107

6. Beitrag der Philosophie für das Verstehen des Gewissensbegriffs

in Rechtswissenschaft ............................................................................................................ 108

7. Ethische Dimension als Spezifikum einer Gewissensentscheidung................................... 111

8. Die höchstpersönliche Dimension des Gewissens ............................................................. 114

9. Psychologische Beiträge zum Verständnis des Gewissensbegriffs

in der Rechtswissenschaft ...................................................................................................... 116

10. Die Gewissenskonzeption von Niklas Luhmann und ihre Konsequenzen für die

Rechtsanwendung ................................................................................................................... 122

11. Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung ..................................................................... 125

12. Situationsbezogenheit der Gewissensentscheidungen...................................................... 127

13. Mindestmaß an Rationalität der Gewissensentscheidung ................................................ 129

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VI

14. Fazit .................................................................................................................................. 131

Kapitel IV. Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen Auslegungsmethoden ... 133

1. Allgemeines ........................................................................................................................ 133

2. Systematische Auslegung der Gewissensfreiheit ............................................................... 133

2.1. Auslegung der Verfassung als axiologisches System ......................................... 133

2.2. Systematische Auslegung der Grundrechte in der polnischen Verfassung ......... 137

2.3. Systematische Auslegung der staatskirchenrechtlichen

Verfassungsbestimmungen ......................................................................................... 140

3. Teleologische Auslegung der Gewissensfreiheit ............................................................... 141

3.1. Voraussetzungen der teleologischen Auslegungsmethode .................................. 141

3.2. Die Rolle der Verfassungsgrundsätze bei der Verfassungsauslegung ................ 145

3.2.1. Allgemeines .......................................................................................... 145

3.2.2. Die Bedeutung der Klausel der Menschenwürde für die Auslegung

der Gewissensfreiheit ...................................................................................... 147

3.2.3. Grundsatz der Freiheit des Einzelnen ................................................... 155

3.2.4. Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung der Grundrechte .... 157

3.2.5. Die Gewissensfreiheit und Gleichheitssatz .......................................... 172

4. Die rechtsvergleichende Auslegung ................................................................................... 178

4.1. Voraussetzungen der rechtsvergleichenden Auslegung ...................................... 178

4. 2. Modelle der Regelung der Gewissensfreiheit ..................................................... 182

4.2.1. Keine ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit

in der Verfassung ............................................................................................ 182

4.2.2. Anerkennung des allgemeinen Rechts auf Gewissensfreiheit bei

gleichzeitigem Verbot der Verweigerung aus Gewissensgründen ................. 188

4.2.3. Die eindeutige Verknüpfung der Gewissensfreiheit

mit Religionsfreiheit ....................................................................................... 189

4.2.4. Ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit als das von der

Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrechts ........................................... 194

4.2.5. Fazit ...................................................................................................... 195

5. Berücksichtigung der sozialen Folgen einer Auslegungsentscheidung ............................ 195

6. Fazit .................................................................................................................................... 203

Kapitel V. Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der Grundrechtstheorien ........ 204

1. Die Rolle der einzelnen Grundrechtstheorien als Hilfsmittel der Auslegung

der Gewissensfreiheit ............................................................................................................. 204

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VII

2. Die Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie ...... 206

2.1. Ausgangspunkt .................................................................................................... 206

2.2.Gewissensfreiheit als geistige Grundlage der demokratischen Ordnung ............. 209

2.3. Legitimationsfördernde Funktion der Gewissensfreiheit in der Demokratie ...... 210

2.4. Förderung des Pluralismus durch Gewissensfreiheit .......................................... 211

2.5. Die Gewissensfreiheit als das Recht auf Mitverantwortung

für das Gemeinwesen ................................................................................................. 212

2.6 Die Stiftung des öffentlichen Diskurses im Bereich des Ethischen ..................... 215

2.7. Gewissensfreiheit als Katalysator des moralischen Vorschritts

des Gemeinwesens ...................................................................................................... 220

2.8. Die Würdigung der demokratisch-funktionalen Auslegungstheorie der

Gewissensfreiheit ....................................................................................................... 222

2.9. Skeptische Meinungen gegenüber demokratisch-funktionalen Auslegung

der Gewissensfreiheit ................................................................................................. 226

2.10. Schlussfolgerung ............................................................................................... 227

3. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach der liberalen Grundrechtstheorie................... 228

4. Die institutionelle Grundrechtstheorie ............................................................................... 229

4.1. Voraussetzungen der institutionellen Grundrechtstheorie ................................... 229

4.2. Gewissensfreiheit als Mechanismus der Stabilisierung des sozialen Systems

nach Niklas Luhmann ................................................................................................. 231

4.3. Die Pflicht des Gesetzgebers, Gewissenskonflikte zu vermeiden ....................... 233

4.4. Die Gewissensschonenden Handlungsalternativen ............................................. 236

5. Die Wertetheorie ................................................................................................................ 242

Kapitel VI. Schutzumfang der Gewissensfreiheit ............................................................. 245

1. Subjekte der Gewissensfreiheit .......................................................................................... 245

1.1. Allgemeines ......................................................................................................... 245

1.2. Kinder und Jugendliche als Rechtssubjekte der Gewissensfreiheit .................... 246

1.3. Juristische Personen ............................................................................................. 253

2. Der Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit ...................................................... 258

2.1. Die rechtliche Relevanz des forum internum der Gewissensfreiheit ................... 258

2.2. Der Schutzumfang des forum internum ............................................................... 259

2.2.1. Allgemeines .......................................................................................... 259

2.2.2. Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen ............................................. 261

2.2.3. Das Recht auf Gewissensbildung ......................................................... 267

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VIII

2.2.3.1. Allgemeines ........................................................................... 267

2.2.3.2. Das Recht auf Gewissensbildung im schulischen Bereich .... 268

2.2.3.3. Die Gewissensbildung und das Beachtungsgebot des sog.

„christlichen Wertsystems“ im Rundfunkwesen und Fernsehen ........ 272

2.3. Fazit zum Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit ............................. 275

3. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit...................................................... 275

4. Der Umfang der Gewissensbetätigungsfreiheit .................................................................. 286

4.1. Die Bekenntnisfreiheit der Gewissensinhalte ...................................................... 286

4.2. Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang ......................................................... 287

4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit

nach der Überzeugung des Einzelnen ......................................................................... 290

4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit im moralischen Bereich ...................... 292

5. Die Abgrenzung der Gewissensfreiheit von anderen Grundrechten .................................. 292

6. Nachweis der Gewissensentscheidung ............................................................................... 295

6.1. Indizien der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung .......................... 295

6.2. Die Rechte des Grundrechtsträgers im Anerkennungsverfahren ........................ 303

Kapitel VII. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin .......... 305

1. Allgemeines ........................................................................................................................ 305

2. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ............................................... 305

2.1. Begriffsbestimmung der Verweigerung der Abtreibung

aus Gewissensgründen ................................................................................................ 305

2.2. Die Regelung der Zulässigkeit der Abtreibung

in der polnischen Rechtsordnung .............................................................................. 306

2.3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im Bereich der Medizin

im polnischen Recht ................................................................................................... 309

2.4. Der Schutzbereich der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ... 312

2.5. Das Verfahren der Inanspruchnahme der Gewissensklausel ............................... 318

2.6. Das Diskriminierungsverbot ................................................................................ 324

2.7. Schranken der Gewissensklausel ......................................................................... 326

2.8. Die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals und Arbeitsrecht ............... 328

2.9. Fazit ..................................................................................................................... 329

3. Die Verweigerung aus Gewissensgründen des Pharmazeuten ........................................... 330

3.1. Allgemeines ......................................................................................................... 330

3.2. Die Interessenabwägung ...................................................................................... 331

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IX

4. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen ...................... 332

4.1. Allgemeines ......................................................................................................... 332

4.2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Leben und der Verweigerung

einer medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen .......................................... 334

4.3. Rechtsgrundlage der Einwilligung des Patienten als Voraussetzung

einer legalen medizinischen Behandlung .................................................................. 337

4.4. Subjektiver Schutzbereich und Umfang des Verweigerungsrechts einer

medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen ................................................... 340

4.5. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung im Fall

der Minderjährigen ..................................................................................................... 350

Kapitel VIII. Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit ................................................ 353

1. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen .............................................................. 353

2. Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen ................................................. 356

2.1. Problemstellung ................................................................................................... 356

2.2. Objektiver Ansatz (Perspektive der Rechtsordnung) .......................................... 357

2.3. Subjektiver Ansatz (Perspektive des Grundrechtsträgers) .................................. 358

2.4. Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen und das Prinzip der

parlamentarischen Repräsentation .............................................................................. 361

2.5. Rechtsvergleichende Bestätigung des erzielten Ergebnisses .............................. 363

2.6. Die Vorschläge der gesetzgeberischen Anerkennung der Steuerverweigerung

aus Gewissensgründen ................................................................................................ 365

2.6. Fazit ..................................................................................................................... 367

3. Der Schutz der Gewissensfreiheit im Privatrecht............................................................... 367

3.1. Die Drittwirkung der Grundrechte in der polnischen Verfassung ....................... 367

3.2. Die Auswirkung der Gewissensfreiheit im Zivilrecht ......................................... 372

3.2.1. Die Gewissensfreiheit im Vertragsrecht ............................................... 372

3.2.2. Die Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut ............................... 375

3.2.3. Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht ......................... 378

4. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Strafrecht .................................................... 380

Kapitel IX. Schranken der Gewissensfreiheit .................................................................... 384

1. Allgemeines ........................................................................................................................ 384

2. Das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel der Grundrechte

(Art. 31 Abs. 3 Verf.) zur speziellen Einschränkungsklausel

der Religionsfreiheit (Art. 53 Abs. 5 Verf.) ........................................................................... 385

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X

3. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Einschränkung der

Gewissensfreiheit ................................................................................................................... 389

3.1. Die Rolle des Gesetzgebers und der Gerichtsbarkeit im Prozess der

Güterabwägung ........................................................................................................... 389

3.2. Einzelne Kriterien der Güterabwägung ............................................................... 392

3.2.1. Allgemeine Kriterien der Güterabwägung ............................................ 392

3.2.2. Das Verhältnis der Gewissensfreiheit zu anderen Verfassungswerten

und anderer formaler Grundsätzen ................................................................. 393

3.2.3. Die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Einzelnen .............. 396

3.2.4. Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts .............................. 396

3.2.5. Art der verweigerten Rechtspflichten ................................................... 397

3.2.6. Handlungs- und Unterlassungspflichten ............................................... 399

3.2.7. Die Gewissensfreiheit der Funktionsträger .......................................... 400

3.2.8. Erreichbarkeit des Zweckes der verweigerten Rechtspflicht ................ 402

4. Der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit ........................................................................... 403

5. „Weltanschauungsneutrale“ Gesetze als Grenze der Gewissensfreiheit ........................... 406

6. Einzelne Einschränkungstatbestände des Grundrechts der Gewissensfreiheit .................. 410

6.1. Allgemeines ......................................................................................................... 410

6.2. Das geltende Recht .............................................................................................. 411

6.3. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage

der Grundrechtseinschränkung ................................................................................... 413

6.4. Staatssicherheit .................................................................................................... 414

6.5. Öffentliche Ordnung ............................................................................................ 415

6.6. Gesundheit ........................................................................................................... 417

6.7. Moral .................................................................................................................. 419

6.8. Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer .......................................................... 423

7. Fazit .................................................................................................................................... 425

Zusammenfassung ................................................................................................................ 427

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 440

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XI

Verzeichnis der Abkürzungen

ACRMV

AEMR

AMRK

App.

AöR

Art.

AuR

BAG

BJ

BVerfG

BVerfGE

BVerwG

BVerwGE

DÖV

DR

DStZ

DVBl

DuR

Dz.U.

EMRK

EuGH

GG

GGBfG

i.d.R.

IPbpR

JuS

JZ

NJW

Nr.

NSA

NvwZ

OTK

para.

PiM

PiP

poz.

S.

Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Amerikanische Menschenrechtskonvention

Application (Beschwerde)

Archiv des öffentlichen Rechts

Artikel

Arbeit und Recht

Bundesarbeitsgericht

Betrifft Justiz

Bundesverfassungsgericht

Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts

Die Öffentliche Verwaltung

Decissions and Reports

Deutsche Steuer-Zeitung

Deutsches Verwaltungsblatt

Demokratie und Recht

Dziennik Ustaw

Europäische Menschenrechtskonvention

Europäischer Gerichtshof

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GGBfG das Gesetz über Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit

in der Regel

Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Juristische Schulung

JZ Juristenzeitung

Neue Juristische Wochenschrift

Nummer

Naczelny Sąd Administracyjny (Polnischer Oberer Verwaltungsgerichtshof

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Orzeczenie Trybunału Konstytucyjnego (Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs)

Paragraph

Prawo i Medycyna

Państwo i Prawo

Pozycja

Seite

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XII

SN

STC

StuW

TK

Verf.

VVDStRL

ZaöRV

z.B.

ZeuP

ZP

Sąd Najwyższy (polnischer Oberster Gerichtshof)

Sentencias del Tribunal Constitucional (Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals)

Steuer und Wirtschaft

Trybunał Konstytucyjny (polnischer Verfassungsgerichtshof)

Verfassung der Republik Polen

Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

zum Beispiel

Zeitschrift für Europäisches Privatrecht

Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention

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1

Einführung

Die Verfassung der Republik Polen von 2. April 19971 hat zum einen das auf dem

Mehrheitswillen beruhende Demokratieprinzip sowie den Grundsatz des Rechtsstaates zu den

Hauptprinzipien des politischen Staatssystems der Republik Polen erklärt. Zum anderen

bekennt sich die polnische Verfassung zum Schutz der Freiheit und Menschenwürde; bereits

die Präambel enthält eine Aufforderung an Alle, „die diese Verfassung zum Wohl der Dritten

Republik anwenden werden,“ dass sie „dabei die dem Menschen angeborene Würde, sein

Recht auf Freiheit und seine Pflicht zur Solidarität mit anderen Menschen beachten.“ Zu den

wichtigsten Ausprägungen der durch die Verfassung geschützten Menschenwürde und

Freiheit gehört die Freiheit des Gewissens, die neben der Religionsfreiheit gemäß Art. 53

Abs. 1 Verf. jedermann gewährleistet ist. Mit dieser Regelung hat die Verfassung das

Potenzial für schwer zu lösende Konfliktlagen von Richtigkeitsauffassungen der Einzelnen

und der Richtigkeitsauffassung der Mehrheit geschaffen. Da der Bereich des Gewissens für

jeden Grundrechtsträger eigens geprägt ist, ruft die praktische Verwirklichung der

Gewissensfreiheit immense Probleme und Kontroversen hervor. Insbesondere wegen der

fortschreitenden Prozesse der Säkularisierung und der damit einhergehenden

Individualisierung der einzelnen Moralpositionen kann vorhergesehenen werden, dass in der

Zukunft Widerstreite zwischen Gewissensnormen der einzelnen Bürger und Rechtsnormen

zunehmen werden.

Die Gewissensfreiheit als Inhalt einer positiv-rechtlichen Norm ist somit ein Paradoxon;

einerseits ist sie ein Faktor der Verfeinerung und Humanisierung der Rechtsordnung, weil sie

die Bereitstellung einer Ausnahmeregelung von der Erfüllung der allgemeinen Rechtspflicht

zugunsten des Einzelnen ermöglicht, um ihn von dem Konflikt zu schonen, der aus den

Divergenzen zwischen seiner zutiefst gehegten Moralvorstellungen und einer

allgemeingültigen Rechtspflicht resultiert. Andererseits kann wegen des individuellen und

höchstpersönlichen Charakters der Gewissensimperative praktisch jede Rechtsnorm von dem

Einzelnen als mit seinem Gewissen unvereinbar in Frage gestellt werden. Das individuelle

Gewissen drängt nach Verwirklichung seiner Gebote in Außenwelt, was in den Extremfällen

auf den Anspruch auf „die hegemonische Herrschaft über das Recht“2 hinauslaufen kann. Die

1 Dz.U. 1997, Nr. 78 poz. 483.

2 R. J. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 45. Die Übersetzungen der Zitate,

falls nicht anders angegeben, stammen vom Autor der Arbeit.

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2

Untersuchung der Gewissensfreiheit muss sich daher mit der Auseinandersetzung mit dem

Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und dem Staat befassen, welches das

individuelle Gewissen mit seinen Ansprüchen herstellt. In diesem Zusammenhang taucht die

Frage auf, ob sich die staatliche Rechtsordnung, welche die Gewissensfreiheit garantiert,

selbst nicht in Widerspruch setzt und die durch das Gesetz vorausgesetzte Allgemeingültigkeit

des Rechts nicht untergräbt.

Die Gewissensfreiheit ist seit der Märzverfassung von 1921 in einem Begriffspaar mit der

Bekenntnisfreiheit in den polnischen Verfassungen geregelt. Außerdem wird sie neben der

Religions- und Weltanschauungsfreiheit in den durch Polen ratifizierten völkerrechtlichen

Abkommen zum Schutz der Menschenrechte gewehrleistet. Gleichwohl schenken ihr die

polnische Rechtsprechung und Doktrin kaum Beachtung. Sowohl die polnische

Verfassungslehre als auch die Staatskirchenrechtslehre befasst sich vornämlich mit den

einzelnen Problemen der Glaubensfreiheit, die vor allem im Zusammenhang mit der

Transformation des ideologisch atheistischen Staates in die weltanschaulich pluralistische

Demokratie aufgetreten sind, wie etwa die Fragen der Verhältnisse des Staates zur Kirchen

und der Bekenntnisgemeinschaften oder des Religionsunterrichts in den öffentlichen

Schulen.3 Es ist sogar streitig, ob der Gewissensfreiheit über die Religionsfreiheit hinaus

überhaupt Bedeutung zukommt. Die Gewissensfreiheit ist eine Norm, deren Bedeutung und

Potenzial im Rahmen der polnischen Rechtsordnung weitgehend ungeklärt sind. Dies ist zum

einen darauf zurückzuführen, dass die Gewissensfreiheit als das Recht auf moralische

Selbstbestimmung außer Fragen der Wehrdienstverweigerung (die mit der Einführung in

Polen seit 2010 einer Berufsarmee an praktischer Bedeutung verloren hat) sowie der

Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin in der polnischen Wirklichkeit

geringe soziologische und rechtliche Relevanz aufweist. Zum anderen ist die Bestimmung des

Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung durch ihre

lakonische Erwähnung im Sachzusammenhang mit der Religionsfreiheit erheblich erschwert.

Der Verfassungsgeber hat nämlich den Schwerpunkt auf den Schutz der privaten und

3 Dies bezeugt vor allem die in Deutschland erschienene Dissertation von Ewa Schwierskott: Das Grundrecht der

Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001. Die Autorin geht zwar vom Verständnis der

Gewissensfreiheit als die Handlungsfreiheit des autonomen Individuums im Bereich des Ethischen aus,

konzentriert sich aber auf ihre religiösen Aspekte. Diese Betrachtungsweise begründet sich ohne Zweifel mit der

polnischen Rechtswirklichkeit, lässt jedoch einzelne rechtsdogmatische Fragen, wie etwa die Fundierung der

Gewissensausübungsfreiheit in der polnischen Verfassung und vor allem die „säkularisierte“ Seite des

Grundrechtschutzes oder die Problematik der Behandlung der Verweigerung aus Gewissensgründen im

polnischen Rechtssystem weitgehend ungeklärt. In dieser Hinsicht versteht sich die vorliegende Dissertation als

eine Fortsetzungs- und Ergänzungsarbeit.

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3

öffentlichen Religionsausübungsfreiheit gelegt. Der Schutz der Gewissensfreiheit als ein

selbständiges, von der Religionsfreiheit abgelöstes Grundrecht könnte lediglich in der

allgemeinen Fassung des Art. 53 Abs. 1 Verf. eine Stütze finden. Dort wird die

Gewissensfreiheit neben der Religionsfreiheit als das jedem Einzelnen zustehende Recht

erwähnt. Die folgenden Absätze des Art. 53 Verf. regeln ausführlich einzelne Aspekte der

Religionsausübung, ohne dass die Freiheit der Äußerung nichtreligiöser Weltanschauungen

oder moralischer Überzeugungen ausdrücklich thematisiert wird. Auch die durch die

Verfassung vorgesehenen Schranken der Ausübungsfreiheit beziehen sich ausdrücklich nur

auf die Religionsfreiheit.

Da die Gewissensfreiheit lediglich als „Spurelement“ in der polnischen Verfassung erscheint,

erhebt sich die Frage, inwieweit ihre Garantie greift. Es ist nämlich zu prüfen, ob die

Gewissensfreiheit so wie sie in der polnischen Verfassung garantiert ist, lediglich eine Facette

der Glaubensfreiheit darstellt, was zur Folge hätte, dass deren Betätigung nur im Rahmen der

allgemein anerkannten Formen der Religionsausübung möglich ist, oder ob ihr eine von

einem religiösen Glauben unabhängige und autonome Bedeutung zukommt. In diesem

Zusammenhang gewinnt die Ermittlung, ob und inwieweit das Recht gemäß den Diktaten

seines Gewissens leben zu dürfen, das seinen Inhalt nicht notwendig aus einem religiösen

Glauben schöpft, durch die polnische Verfassung geschützt wird, an Relevanz.

Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, eigenständige Merkmale der Gewissensfreiheit in der

polnischen Verfassung von 1997 herauszuschälen. Dabei wird aufgezeigt, welche Bedeutung

die Gewissensfreiheit sowohl für den Einzelnen als auch für das demokratische Gemeinwesen

hat bzw. haben kann. Zum Ausgangspunkt der Analyse wird die Darstellung der Entwicklung

der Auslegung der Gewissensfreiheit in der polnischen Rechtslehre und Rechtsprechung

gemacht. Daraufhin wird geprüft, inwieweit die bisher aufgearbeiteten Lehrmeinungen zum

Umfang und Bedeutung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung im Lichte der

durch die allgemeine Methodenlehre erarbeiteten Auslegungsregeln der Rechtsvorschriften

sowie der für die Auslegung der Verfassung spezifischen Interpretationsdirektiven haltbar

sind. Der Ergründung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit geht der

Versuch voraus, ein möglichst präzises Verständnis des Gewissensbegriffs zu gewinnen und

es für die rechtsdogmatische Diskussion fruchtbar zu machen. Die Arbeit wird mit

Darstellung der wichtigsten Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen und Erforschung

deren Schutzmöglichkeiten durch die Gewissensfreiheit abgeschlossen.

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4

Die Gewissensfreiheit wird in den Fällen relevant, wo bestimmte Rechtspflichten mit den

Diktaten des eigenen Gewissens nicht vereinbar sind und daher der Konflikt zwischen der

Rechtsordnung und einer individuellen Moralvorstellung entsteht. Es wird deshalb zu prüfen

sein, ob die Rechtsordnung, welche die Religions- und Gewissensfreiheit gewehrleistet, neben

den typischen Modalitäten des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen auch das

allgemeine Verweigerungsrecht, d.h. das Recht von irgendeiner Rechtspflicht befreit zu

werden, die gegen das Gewissen des betroffenen Individuums verstößt, implizite vorsieht oder

ob es zumindest begründete Argumente für diese These gibt.

Die Erforschung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit erfolgt unter

Berücksichtigung der einschlägigen völkerrechtlichen Rechtsprechung und Lehre. Die

Einbeziehung der völkerrechtlichen Perspektive bei der Auslegung des einheimischen Rechts

wird in erster Linie mit dem Verfassungsgebot begründet, dass die Republik Polen das für sie

verbindliche Völkerrecht befolgen soll (Art. 9 Verf.). Der Bezug auf völkerrechtliche

Regelungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit befindet sich auch in der Präambel zum

Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit.4 Danach besteht der Zweck

des erwähnten Gesetzes nicht nur darin, die verfassungsrechtlichen Schutzbestimmungen der

Religions- und Gewissensfreiheit zu konkretisieren, sondern auch die interne Rechtslage in

diesem Bereich an völkerrechtliche Schutzstandarte anzupassen.

Während die Betrachtung der Gewissensfreiheit als die von ihrem „Muttergrundrecht“ der

Religionsfreiheit verselbstständigte Freiheitverbürgung in der polnischen Verfassungslehre

nur ansatzweise zu verzeichnen ist, ist die mit dem Prozess der Säkularisierung verbundene

Ablösung der Gewissensfreiheit von ihren religiösen Wurzeln in vielen westlichen Ländern

bereits weitgehend fortgeschritten. Die Auslegung der Gewissensfreiheit hat im Ausland eine

erhebliche Evolution vom Verweigerungsrecht der religiösen Minderheiten zu einem

allgemeinen Grundrecht erfahren, das auch diejenigen ethischen Positionen schützt, die mit

keiner Religion in Verbindung stehen. Deshalb wird aus methodologischer Sicht zwecks der

Erweiterung der Argumentationsbasis und des Problembewusstseins die Rechtsprechung und

Lehre anderer Länder einbezogen. Dabei wird vor allem auf den Forschungsstand des

deutschen und spanischen Schrifttums und Rechtsprechung rekurriert. Die Auswahl der

4 Ustawa z dnia 17 maja 1989 o gwarancjach wolności sumienia i wyznania, Dz.U. 1989, Nr. 29, poz.155.

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5

Rechtsordnungen Deutschlands und Spaniens wird damit begründet, dass dort die Problematik

der Gewissensfreiheit seit langem heftig diskutiert wird. Die unterschiedlichen

rechtsdogmatischen Betrachtungsweisen der Gewissensfreiheit in den genannten Ländern

kann sich für die polnische Grundrechtslehre als besonders bereichernd erweisen. Während in

Spanien der Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Formen der

Verweigerung aus Gewissensgründen gelegt wird, die als eine Ausnahme von allgemeiner

Pflicht der Rechtsbefolgung profiliert werden, geht die Diskussion in Deutschland von einer

freiheitsrechtlichen Perspektive, d.h. von der Erfassung des Handelns nach Maßgabe seines

Gewissens als Ausübungsform des allgemeinen Grundrechts auf Gewissensfreiheit aus. Die

beiden Ansätze ergänzen sich gegenseitig, deswegen scheint es dienlich, sie als Impulse und

Wegweiser auf den polnischen Grund zu übertragen und für die Auslegung der

Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung fruchtbar zu machen.

Die Annahme des rechtsvergleichenden Ansatzes lässt sich auch mit soziologischen Gründen

rechtfertigen; die Verweigerung der Erfüllung einer Rechtspflicht wird nämlich immer

weniger an die Zugehörigkeit zu einem religiösen Kredo gebunden.5 Der Gewissensträger

wird nicht mehr als Hüter der überzeitlichen, objektiven Wahrheit angesehen; die

Verweigerung der Erfüllung einer Rechtspflicht aus Gewissensgründen wird nicht mehr für

eine Konfliktlage zwischen ius und lex gehalten. Der Verweigerer wird vielmehr als Schöpfer

der historischen und subjektiven Wahrheit und seine Gewissensverweigerung als ein

Spannungsverhältnis zwischen Recht und Praxis betrachtet.6 Darüber hinaus scheint es „dass

in den letzten Jahren die Forderung nach der Anerkennung des Rechts auf Verweigerung aus

Gewissensgründen seitens der Gesellschaft zugenommen hat. Derartige Forderungen werden

voraussichtlich auf Fälle ausgedehnt werden, die heutzutage unvorhersehbar sind.“7 Diese

Tendenz ist bereits in der Rechtsprechung der Europäischen Kommission und des

Gerichtshofs für Menschenrechte ersichtlich, wonach die Mehrzahl der durch die

Konventionsorgane entschiedenen Beschwerden wegen der Verletzung des Art. 9 EMRK

nicht den Schutz des traditionellen Glaubens oder Religion, sondern vielmehr philosophische

Überzeugungen und Anschauungen zum Leben betreffen.8 Die genannten Phänomene

5 J. L. Guzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 17.

6 R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español, Pamplona 1993,

S. 478f. 7 A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos

Nr. 4, Madrid 1986/87, S. 400 f. 8 M. Sobczak, Wolność sumienia i wyznania, jej gwarancje w systemie prawnym Rady Europy oraz w

orzecznictwie Europejskiego Trybunału Praw Człowieka w Strasburgu, in: Ius Novum, Nr. 3, 2003,S. 94.

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6

betreffen zwar vor allem die Sozialwirklichkeit der westlichen Länder, welche mit der

Anwendung der Gewissensfreiheit wesentliche Erfahrungen gemacht haben, es ist aber zu

vermuten, dass ähnliche Probleme in vorhersehbarer Zukunft auch in Polen auftreten werden.

Deswegen ist notwendig, außer den in der polnischen Lehre bereits weitgehend erforschten

religionsbezogenen Aspekten der Gewissensfreiheit ihre „säkularisierte“ Dimension zu

untersuchen.

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7

Kapitel I

Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen

Lehre und Rechtsprechung

1. Allgemeines

Im polnischen Konstitutionalismus war die Gewissensfreiheit zuerst an die Bekenntnisfreiheit

gekoppelt. Der Rechtsbegriff „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ erscheint zum ersten Mal

in der Märzverfassung von 1921, dann wurde er durch die Verfassung von 1952

aufgenommen. In der Verfassung von 1997 wurde allerdings dieser in der polnischen

Verfassungs- und Staatskirchenrechtslehre verwurzelte Rechtsbegriff durch einen bis dahin

sowohl in dem einheimischen als auch im Völkerrecht unbekannten Terminus „Gewissens-

und Religionsfreiheit“ ersetzt. Die folgenden Ausführungen haben zum Zweck, das

Verständnis der betroffenen Rechtsbegriffe in der polnischen Lehre aufzuzeigen. Daraufhin

wird geprüft, inwieweit sich die erwähnte terminologische Änderung auf die Auffassung des

Schutzbereichs des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit ausgewirkt hat. Letztlich

wird versucht zu ermitteln, ob und inwieweit die Gewissensfreiheit als das Recht auf

moralische Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in der polnischen Lehre und

Rechtsprechung geschützt wird. Dabei wird von dem allgemeinen d.h. von einer bestimmten

Rechtsordnung abstrahierten Konzept der Gewissensfreiheit als klassisches Grundrecht

ausgegangen. Danach bezieht sich die Gewissensfreiheit „auf die Überzeugungen jedes

Einzelnen von dem moralisch gesollten Verhalten. Sie schützt diese Überzeugungen der

Individuen von den Konsequenzen, welche sie wegen ihres Verhaltens gemäß ihren

Anschauungen leiden müssten.“9 Es wird somit vorausgesetzt, dass sich der Schutzberiech der

Gewissensfreiheit nicht auf den Bereich der Bildung der eigenen moralischen Überzeugungen

beschränkt, sondern dass er sich auch auf die Sphäre ihrer Verwirklichung, d.h. auf die

Handlungsfreiheit gemäß den unbedingten Diktaten des eigenen Gewissens erstreckt. Mit

anderen Worten enthält die Gewissensfreiheit das Recht, nicht nur eine bestimmte

philosophische, axiologische oder religiöse Position für sich zu wählen und anzunehmen,

9 M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256.

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8

sondern auch das Recht, das persönliche Verhalten an die genannten Überzeugungen

innerhalb der durch andere schützenswerte Rechtsgüter abgesteckten Grenzen anzupassen.10

Derart definiert kommt der Begriff der Gewissensfreiheit als ein Oberbegriff zur Erscheinung,

in dem das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen umfasst wird. Die Gewissensfreiheit

schützt nämlich den Einzelnen nicht nur vor den Eingriffen seitens des Staates und

gegebenenfalls seitens der Dritten in seine Handlungsfreiheit, gemäß den angenommenen

moralischen Überzeugungen in der Sphäre des rechtlich Erlaubten (Gewissensfreiheit im

engeren Sinne) zu leben, sondern auch eröffnet ihm eine Möglichkeit, sich auf sein Gewissen

zu berufen, um die Erfüllung einer Rechtspflicht zu verweigern, wenn sie mit den Diktaten

seines Gewissens unvereinbar sind (Gewissensfreiheit im weiteren Sinne). Es wird somit

vorausgesetzt, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen „eine Konkretisierung der

Gewissensfreiheit ad extra“11

d.h. eine Verwirklichungsform der letzteren in den Situationen

ist, in denen die tiefen moralischen Überzeugungen des Einzelnen mit den geltenden

Rechtspflichten in einen Konflikt geraten. Weder die polnische Rechtstheorie noch die

Verfassungslehre und Staatskirchenrechtslehre thematisieren die Problematik des allgemeinen

Verweigerungsrechts als Hauptanwendungsfall der Gewissensfreiheit: nur gelegentlich wird

dieses Recht mit dem Hinweis verneint, dass die Berufung auf die Gewissensklausel lediglich

in den gesetzlich reglementierten Fällen möglich ist.12

Unter diesen Umständen sind die

nachfolgenden Ausführungen mit einer rechtstheoretischen Darstellung dieser Figur zu

beginnen, wobei auf ausländische Lehre zurückgegriffen wird.

10

Á. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 38. 11

Ebenda, S. 37. 12

A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2000, S. 127; J. Godlewski, Obywatel a religia.

Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 27.

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9

2. Der Begriff der Verweigerung aus Gewissensgründen

2.1. Begriffsbestimmung

Das Leitmotiv der Gewissensfreiheit ist der Konflikt zwischen Gewissensgeboten und

Rechtsgeboten.13

Dieser Konflikt wird mit der Rechtsfigur der Verweigerung aus

Gewissensgründen beschrieben. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist eine

Widerstandsform gegen eine Rechtsnorm, falls sie mit „moralischen, religiösen oder

Gerechtigkeitspflichten eines Einzelnen“ 14

in den Widerstreit gerät. Dem wird insbesondere

in der Lehre der Länder des romanischen Sprachraums dadurch Rechnung getragen, dass dort

vielmehr von Verweigerung aus Gewissensgründen (objeción de conciencia) als von der

Gewissensfreiheit die Rede ist. Die Fokussierung auf den Konflikt zwischen der

Rechtsordnung und den Moralvorstellungen des Einzelnen bei der rechtstheoretischen

Behandlung der Gewissensfreiheit kann damit begründet werden, dass der Einzelne nicht

braucht, sich auf Gewissensfreiheit zu berufen, wenn es keine (gesetzliche oder vertragliche)

Rechtsnorm gibt, die ihm verpflichtet, sich im Widerspruch zu seinem Gewissen zu verhalten,

oder wenn ihm eine Möglichkeit offensteht, ein anderes Recht in Anspruch zu nehmen, um

dadurch dem Gewissenskonflikt zu entgehen.15

Als Beispiel für die zweite Möglichkeit wird

in der Lehre auf die Vorschriften über den Ausschluss der Richter aus einem gerichtlichen

Verfahren angegeben. Es wird nämlich argumentiert, dass es Fälle geben kann, in denen die

Gewissensgründe des Richters seine Unparteilichkeit insoweit beeinträchtigen, dass der

Ausschluss des Richters mit Hilfe von diesbezüglichen Regelungen erreicht werden kann.16

Wenn der Richter die Teilnahme in einem Verfahren aus Gewissensgründen verweigert, etwa

eine Genehmigung zu der Abtreibung im Fall der Minderjährigen zu erteilen, liegt ein

Sonderfall der Parteilichkeit vor, weil die Gewissensnot ihn zu einer Entscheidung contra

legem bewegen kann. Die Ausschließung des Richters ist somit mit dem Grundsatz des

Rechtsstaates kohärent.

13

J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana

deAnestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 156; U. K. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2, in: E.

Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik

Deutschland, Art. 4, Rn. 34, Frankfurt 1989. 14

Á. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 36. 15

J. López Gózman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 83; A. Ruiz Miguel, Sobre la

fundamentación de objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, Madrid 1986/87, S. 407. 16

R. Asís Roig, Juez y objeción de conciencia, in: Sistema, 1993, S. 113.

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10

Einige Autoren haben die Ansicht geäußert, dass die Anerkennung der allgemeinen

Gewissensfreiheit, d.h. des Rechts des Einzelnen, in jedem Lebensbereich nach Diktaten

seines eigenen Gewissens handeln zu können, zur Negation des allgemeinverpflichtenden

Charakters der Rechtsnormen und daher zur Negation des Staats- und Rechtswesens führen

würde,17

weil damit die Erfüllung jeder Rechtspflicht von der Gewissensentscheidung des

Einzelnen abhängig gemacht wird. Aus diesem Grund wird das allgemeine

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen gelegentlich mit der Rechtsfigur des zivilen

Ungehorsams gleichgestellt.18

Das Postulat von John Rawls, dass das Recht immer die

Diktate des Gewissens respektieren muss,19

scheint somit unerfüllbar zu sein. Das

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen kann nur in den konkreten Falltypen durch die

Norm „des adäquaten Ranges“20

anerkannt werden.

Nach einer Ansicht besteht die Verweigerung aus Gewissensgründen in einem rechtswidrigen

Verhalten (Tun oder Unterlassen), das mit axiologischen – und nicht bloß psychologischen –

Gründen vom religiösen oder ethischen Inhalt motiviert wird und das zum Zweck hat,

entweder eine für das Gewissen weniger lästige der gesetzlich vorgesehenen Alternativen in

Anspruch zu nehmen, oder die Erfüllung einer Rechtspflicht und/oder die mit der

Nichterfüllung zusammenhängende Sanktion zu vermeiden. Darüber hinaus kann sich die

Gewissensverweigerung durch die auf Herbeiführung einer mit der individuellen

Gewissensposition konformen Rechtsänderung zielenden Maßnahmen zum Ausdruck

kommen.21

Diese Begriffsbestimmung ist wegen ihres unpräzisen Charakters und ihrer inhaltlichen Breite

nicht anzunehmen. Zum einen wenn davon ausgegangen wird, dass die Verweigerung aus

Gewissensgründen eine rechtswidrige Handlung ist, kann nicht behauptet werden, dass diese

Handlung u.a. in einer Entscheidung für eine durch das Gesetz vorgesehene weniger lästige

Alternative besteht. Weder im rechtstechnischen noch im umgangssprachlichen Sinn wird

behauptet, dass sich im Fall einer Entscheidung für eine gesetzlich anerkannte Option, etwa

17

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 43; Entscheidung des spanischen

Verfassungstribunals STC 161/1987. 18

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 43. 19

J. Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1971, S. 370. 20

J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del

derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 370. 21

R. Navarro–Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,

S. 482; J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 105.

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11

für eine weltliche Eidesform, um Verweigerung aus Gewissensgründen handelt. Zum anderen,

wenn angenommen wird, dass die Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen

Maßnahmen umfasst, die darauf ausgerichtet sind, die von dem Einzelnen für „gerecht“

gehaltene moralische Position etwa durch eine Rechtsänderung den Anderen aufzuerlegen,

verwischt sich die Grenze zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem

zivilen Ungehorsam.22

Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Befolgung eines

Gewissensimperatives lediglich „die (Wieder)Herstallung des Friedens mit sich selbst und

Aufbewahrung eigener Identität“23

zum Ziel hat. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist

deshalb immer direkt; d.h. sie richtet sich gegen diejenige Rechtspflicht, die für den Einzelnen

gewisse moralische Relevanz aufweist, und damit geeignet ist, den Gewissenskonflikt

hervorzurufen. Die Verweigerung, die gewissensneutralen Rechtspflichten zu erfüllen, etwa

als Druckmittel, um die Befreiung von der gewissensverletzenden Rechtspflicht zu erlangen

(indirekte Verweigerung), steht wegen einer anderen Finalität außerhalb des Begriffsbereichs

der Verweigerung aus Gewissensgründen.24

Die Verweigerung stützt sich auf eine zwingende

Gewissensnorm, die vom Einzelnen als hochrangiger gegenüber einer verweigerten

Rechtsnorm angesehen wird. Die Geltung der Gewissensnorm geht aber über den personellen

Bereich nicht hinaus. Auch der Versuch, eine Sanktion wegen Nichterfüllung einer

Rechtspflicht zu vermeiden, kann in den Fällen der nachträglichen d.h. ein rechtswidriges

Verhalten folgenden Berufung auf das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zwar für

den Einzelnen von Bedeutung sein, gehört aber nicht zu den konstitutiven Elementen dieser

Rechtsfigur. Die Vermeidung der Sanktion leistet nämlich keinen wesentlichen Beitrag zur

Aufrechterhaltung der moralischen Identität des Gewissensträgers.

Der dargestellten Begriffsbestimmung ist allerdings insoweit zuzustimmen, dass die

Rechtswidrigkeit der Handlung das Wesen der Verweigerung aus Gewissensgründen

ausmacht. Damit unterscheidet sie sich von der Gewissensfreiheit im engeren Sinne, die

ihrerseits als eine Handlungsfreiheit gemäß den Diktaten des Gewissens zu verstehen ist, die

sich im Bereich des rechtlich Erlaubten abspielt und zu keinen Konflikten mit dem geltenden

22

Zur Abgrenzung zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen Ungehorsam siehe:

Kapitel 1, Punkt 2.4. 23

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 31. 24

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 54.

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12

Recht führt.25

Die Verweigerung aus Gewissensgründen besteht somit in einer Absage des

Einzelnen, eine mit den Diktaten seines Gewissens kollidierende Rechtspflicht zu erfüllen.

López Guzmán situiert die Figur der Verweigerung aus Gewissensgründen in das Spektrum

der möglichen Haltungen des Einzelnen gegenüber der Rechtsordnung und hebt sie von dem

sog. passiven Gehorsam ab.26

Mit dem passiven Gehorsam wird die Nichterfüllung einer

Rechtsnorm bei gleichzeitiger Hinnahme der vorgesehenen Sanktion gemeint. Obwohl in

diesem Fall eine Rechtsnorm nicht befolgt wird, wird diese Haltung als eine Gehorsamsform

dem Recht gegenüber mit der Begründung angesehen, dass das Individuum die Anwendung

einer Sanktion ohne Widerstand und mit Resignation hinnimmt. Die Verweigerung aus

Gewissensgründen weist die Eigenschaften des passiven Gehorsams auf. Dazu kommt aber

der öffentliche Charakter der Verweigerung, welcher die differentia specifica dieser

Rechtsfigur ausmacht. Dem Verweigerer kommt nämlich nicht nur darauf an, sein Leben mit

den angenommenen Grundsätzen kohärent zu machen, sondern auch darauf, diese Grundsätze

zu offenbaren und sich zu ihnen zu bekennen.

Diesem Ansatz ist entgegenzuhalten, dass die Absicht, die anerkannten ethischen Grundsätze

öffentlich kundzutun, zum Wesen der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht gehört,

sondern lediglich die Nebenfolge ihrer Inanspruchnahme darstellt. Auch die Bereitschaft, die

von der Rechtsordnung vorgesehene Sanktion hinzunehmen, ist für die Verweigerung aus

Gewissensgründen nicht begriffsnotwendig. Darüber hinaus ist die Bezeichnung „passiver

Gehorsam“ wenig geeignet, um den genus proximus der Verweigerung aus Gewissensgründen

zu beschreiben, weil eine Rechtsnorm doch verletzt wird und die eventuelle Bereitschaft, sich

der Sanktion zu unterwerfen, daran nichts ändern kann.

Eine präzise Definition der Verweigerung aus Gewissensgründen wurde von Gascón

Abellán27

vorgeschlagen. Die Autorin weist dabei auf zwei Elemente hin, die für die

Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen konstitutiv sind:

25

M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas,

Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 76. 26

J. Guzmán López, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 23ff, siehe auch: S. Pau Agulles,

La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 26ff. 27

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 245.

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13

a) Das Vorliegen einer konkreten Rechtspflicht: Wenn dagegen eine Handlung dem freien

Ermessen des Einzelnen überlassen ist, oder wenn verschiedene Erfüllungsalternativen einer

Rechtspflicht zur Verfügung gestellt werden, kann vom Optieren und nicht vom Verweigern

die Rede sein.

b) Die Befreiung von einer Pflicht erfolgt gerade wegen Gewissensgründen und nicht wegen

anderen Motiven.

Darüber hinaus handelt sich bei der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht um die

Ausübung einer Freiheit, die eine Unterlassungspflicht des Staates fordert, sondern um einen

Anspruch, dass der Staat eine individuelle Norm der Anerkennung erlässt, aufgrund deren

dem Einzelnen entweder die Befreiung von der verweigerten Rechtspflicht oder die

Freistellung von der Sanktion wegen ihrer Nichterfüllung erteilt wird. Die Sanktion kann

dabei sowohl einen öffentlich-rechtlichen (strafrechtlichen, verwaltungsrechtlichen) als auch

einen privatrechtlichen (zivilrechtlichen, arbeitsrechtlichen) Charakter haben. Die eventuelle

Auferlegung einer Ersatzpflicht hat dagegen für die Rechtsfigur der Verweigerung aus

Gewissensgründen keine konstitutive Bedeutung.28

2.2. Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen

Es können folgende Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen unterschieden werden:

a) Direkte und indirekte Verweigerung aus Gewissensgründen.

Bei der direkten Verweigerung aus Gewissensgründen wird die Haltung des Gewissensträgers

damit begründet, dass die Erfüllung des betroffenen Rechtsgebots an sich sein Gewissen

verletzen würde. Dagegen im Fall der indirekten Gewissensverweigerung behauptet der

Einzelne, dass die verweigerte Rechtspflicht zwar keinen gewissensverletzenden Charakter

hat, ihre Erfüllung verursacht aber (zumindest gemäß dem vom Gewissensträger unterstellten

Ursachenzusammenhang) bestimmte Folgen, die von seinem Gewissen nicht getragen werden

können. Es ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass das Kriterium der Unmittelbarkeit eines

Eingriffs in die Gewissensfreiheit für die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs

untauglich ist. Die Frage, ob das Gewissen der Betroffenen unmittelbar oder mittelbar tangiert

ist, muss von dem einzelnen Grundrechtsträger entschieden werden. Würde sich das Gericht

28

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 245, 249.

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diese Entscheidung anmaßen, so liefe dies letztlich auf die unzulässige Kontrolle oder

apriorische Festlegung von akzeptablen Gewissensinhalten hinaus.29

b) Allgemeine und situationsbezogene Verweigerung aus Gewissensgründen.

Die allgemeine Verweigerung aus Gewissensgründen besteht in einer absoluten Ablehnung

der Erfüllung einer Rechtspflicht unabhängig von den Umständen und Folgen der

Gewissensbetätigung. Bei der situationsbedingten Verweigerung handelt es sich dagegen um

die Relativierung der Gewissensnormen hinsichtlich der konkreten Umstände.

c) Absolute und relative Verweigerung aus Gewissensgründen.

Bei dieser Differenzierung wird auf konkrete Modalitäten der Pflichterfüllung abgestellt. Im

Fall der absoluten Verweigerung lehnt der Einzelne jede durch den Gesetzgeber zur

Verfügung gestellte Modalität der Pflichterfüllung ab, während bei der relativen

Verweigerung der Betroffene bereit ist, eine bestimmte Modalität der Rechtspflicht zu

erfüllen (z.B. der Einzelne lehnt den Wehrdienst mit der Waffe ab, der waffenlose Wehrdienst

würde dagegen sein Gewissen nicht verletzen).

d) Totale und partikuläre Verweigerung aus Gewissensgründen.

Diese Unterscheidung setzt an die Motivation des Verweigerers an. Bei dem ersten

Verweigerungstyp wird die Anerkennung der Gewissensbetätigung des Einzelnen mit der

Glaubhaftmachung keiner speziellen Kategorie der Gewissensgründe verbunden. Bei der

partikulären Verweigerung aus Gewissensgründen macht der Gesetzgeber die Anerkennung

der Gewissensposition vom Bestehen der bestimmten (z.B. religiösen, ethischen)

Motivationstypen abhängig.30

In der historischen Entwicklung der Verweigerung aus

Gewissensgründen lassen sich zwei Etappen ihrer Anerkennung durch den Staat

unterscheiden: In der ersten Phase wird die Befreiung von einer Rechtspflicht aus

Gewissensgründen ausschließlich aus religiösen Gründen denkbar. In diesem Zusammenhang

ist erwähnenswert, dass die erste Modalität der Verweigerung aus Gewissensgründen, also die

Kriegsdienstverweigerung mit dem Christentum in die Erscheinung tritt.31

Zurzeit lässt sich in

verschiedenen Staaten eine deutliche Tendenz beobachten, die Verweigerung aus

29

C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, Die öffentliche

Verwaltung 1984, S. 797. 30

V. Reina, A. Reina, Lecciones del derecho eclesiástico del estado, Barcelona 1983, S. 417. In Deutschland

wird dagegen die totale Verweigerung, die Ablehnung sowohl des Kriegs- als auch Ersatzdienstes bezeichnet. 31

J. O. Araújo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 54.

Page 27: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

15

Gewissensfreiheit an die Gewissen- oder Weltanschauungsfreiheit und nicht an die

Religionsfreiheit anzuknüpfen.

e) Die Verweigerung secundum legem und contra legem.

Das Unterscheidungskriterium ist hier der Umstand, ob ein Verweigerungstyp durch den

Gesetzgeber anerkannt ist oder nicht. Gelegentlich wird vertreten, dass die echte

Verweigerung aus Gewissensgründen eine rechtsverletzende Handlung voraussetzt; wenn

eine Verweigerungsmodalität durch den Gesetzgeber anerkannt ist, soll vielmehr von einer

Option des Gewissens und nicht von der Verweigerung aus Gewissensgründen gesprochen

werden In diesem Fall erhalten die Bürger in der Tat eine Wahlmöglichkeit zwischen den

alternativen Rechtspflichten. Damit verliert die Verweigerung aus Gewissensgründen ihre

konstitutiven Eigenschaften, d.h. ihren individuellen und höchstpersönlichen Charakter.32

Durch die Schwerpunktsetzung auf die Rechtswidrigkeit einer Handlung verkennt diese

Auffassung allerdings, dass nicht die Rechtswidrigkeit, sondern das Vorliegen der

Konfliktsituation zwischen einer Rechtsnorm und Gewissensnorm den Kern der

Verweigerung aus Gewissensgründen ausmacht. Die eventuelle Anerkennung eines

Verweigerungstyps durch den Gesetzgeber ist für die Definition dieser Rechtsfigur ohne

Bedeutung.33

Es ist nämlich zu betrachten, dass aus Gewissensfreiheit keine rechtliche Unverbindlichkeit

einer Rechtsnorm für den Einzelnen ableitbar ist, welcher der Überzeugung ist, dass sie sich

mit seinem Gewissen nicht vereinbaren lässt. Die objektive Gültigkeit einer demokratisch

verabschiedeten Norm hängt von keinen subjektiven Maßstäben ab, sondern gründet sich

darin, dass sie gemäß dem in der Verfassung vorgesehenen Verfahren zustande gekommen

ist. Die Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann deshalb nur die

Beschränkung der Erzwingbarkeit des Rechts zur Folge haben. Die im demokratischen

Willensbildungsprozess zustande gekommenen Normen sind verbindlich auch für das

Individuum, dessen Gewissen sie widersprechen. Sie dürfen allerdings ihm gegenüber nicht

erzwungen werden.34

Eine Rechtspflicht wird daher mit ihrer Verweigerung automatisch nicht

aufgehoben. Wenn der Pflichtadressat die Verweigerung nicht zur Kenntnis gibt, ist diese

Pflicht weiter bindend. Das konstitutive Element der Verweigerung aus Gewissensgründen,

32

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 336; R. Navarro - Valls, Las

objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993, S. 482. 33

R. Navarro - Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario de

Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 261, Fn. 9. 34

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230.

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16

also die Ablehnung, eine Rechtspflicht aus moralischen Gründen zu erfüllen, ist somit nicht

berührt, wenn die Verweigerung in einem Fall gesetzlich anerkannt ist. Im Unterschied zu

einer bloßen Wahlalternative, etwa zwischen Religions- und Ethikunterricht oder zwischen

der religiösen und weltlichen Eidesform, wo der Einzelne für eine der angebotenen

Alternativen optieren kann, handelt es sich bei der Verweigerung aus Gewissensgründen um

eine Ablehnung oder Negierung einer Rechtspflicht. Darüber hinaus wird die Befreiung von

der Rechtspflicht nicht aus einem beliebigen, sondern aus Gewissensgründen erteilt, daher

kann von einer gänzlichen Entscheidungsfreiheit des Verpflichteten nicht die Rede sein.35

2.3. Arten der verweigerungsfähigen Rechtspflichten

Bei der Bestimmung der Reichweite der Rechtsfigur der Verweigerung aus

Gewissensgründen ist die Feststellung von Bedeutung, welche Kategorien der Rechtspflichten

zum Gegenstand der Verweigerung werden können. Da die Meinung, wonach sich die

Verweigerung aus Gewissensgründen gegen irgendeine Rechtspflichten richten kann36

, in der

Lehre aus verschiedenen Gründen nicht geteilt wird, ist zu prüfen, ob es Rechtspflichtarten

gibt, die naturgemäß „verweigerungsunfähig“ sind. Darunter ist zwischen folgenden

Kategorien der Rechtspflichten zu unterscheiden:

a) Absolute und relative Rechtspflichten

Fraglich ist zunächst, ob zum Gegenstand der Verweigerung aus Gewisssensgründen lediglich

die sog. absoluten Rechtspflichten werden können, deren Nichterfüllung mit einer Sanktion

versehen ist, oder ob damit auch die sog. relativen Rechtpflichten umfasst werden, die in der

Tat keine echten Rechtspflichten sind, sondern nur eine unerlässliche Voraussetzung für die

Erlangung eines Rechts oder einer Begünstigung darstellen. Die Antwort auf die so gestellte

Frage hängt von dem zugrundegelegten rechtstheoretischen Konzept der Sanktion ab. Wenn

unter einer Sanktion die Herbeiführung jeder ungünstigen Situation für den Einzelnen zu

verstehen ist, d.h. dieser Begriff nicht nur auf eine Bestrafung, sondern auch auf den Verlust

eines Vorteiles erstreckt wird, müssen die relativen Pflichten konsequenterweise als

35

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 48; A. Ruiz Miguel,

Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, Nr. 4, Madrid

1986/87, S. 406 ff. 36

J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana de

Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 156.

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17

verweigerungsfähig angesehen werden.37

Zum Kern des Sanktionsbegriffes gehört zwar die

Versetzung eines Individuums in eine Zwangslage, die darin besteht, dass ihm im Fall der

Nichtbefolgung einer Norm ein gewisses Übel angetan wird, die Sanktion wird aber nicht

gegen eine beliebige Person, sondern gegen den konkreten Normadressaten einer

Rechtspflicht gerichtet.38

Die sog. relativen Pflichten sind allerdings keine echten

Rechtspflichten, sondern lediglich Voraussetzungen an deren Erfüllung die Ausübung eines

Rechts oder die Zulassung zu einem Dienst angeknüpft wird. Da niemand rechtlich

verpflichtet ist, sich etwa um bestimmte Stellen zu bewerben oder bestimmte Begünstigungen

in Anspruch zu nehmen, werden die sog. relativen Pflichten von der Rechtsfigur der

Verweigerung aus Gewissensgründen nicht erfasst. Diese Sachverhalte sollen vielmehr als

Diskriminierungsfälle wegen religiösen oder weltanschaulichen Gründen thematisiert

werden.39

b) Öffentlichrechtliche und privatrechtliche Pflichten

Weiterhin umfasst der Begriff der verweigerungsfähigen Rechtspflicht sowohl

öffentlichrechtliche als auch privatrechtliche Rechtspflichten, weil aus der Perspektive des

Verweigerers die Quelle und Entstehungsart der verweigerten Rechtspflicht irrelevant ist. Die

verweigerungsfähigen Rechtspflichten können sich daher unmittelbar aus einem generellen –

abstrakten Rechtsakt sowie aus einem individuellen richterlichen und behördlichen

Rechtsanwendungsakt ergeben.40

c) Handlungs- und Unterlassungspflichten

Weiterhin können sowohl die Handlungs- als auch die Unterlassungspflichten zum

Gegenstand der Verweigerung aus Gewissensgründen werden. In der Praxis richtet sich die

Verweigerung allerdings gegen die Handlungspflichten,41

weil das Gewissen primär in seiner

Abwehrfunktion auftritt. Seine Imperative sind vor allem Gebote des Unterlassens den

Anforderungen von außen gegenüber.42

Deshalb wird gelegentlich der Schutzbereich der

37

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 44. 38

S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 206f. 39

I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,

Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S.396. 40

P. A. Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital,

in: Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264

(01.09.2010). 41

Z. B. die Verweigerung eines Arztes, die gerichtlich gebotene Behandlung durchzuführen, für welche die

Einwilligung des Patienten fehlt. 42

S. Sieira Mucientes, La objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y

función pública, Madrid 2007, S. 46.

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18

Gewissensfreiheit in ihrer abwehrrechtlichen Dimension auf das Recht auf Freistellung „von

der Pflicht zur Erfüllung gewissensbelastender staatlicher Gebote, sofern diese dem

Individuum einen gravierenden Konflikt aufzwingen (...)“43

beschränkt. In diesem

Zusammenhang wird argumentiert, dass die Gesellschaft im größeren Maße zustande ist, sich

auf die Folgen des gewissensbedingten Unterlassens als auf die Konsequenzen des

„aggressiven“ Tuns einzustellen, deshalb muss sich die Gesellschaft im Fall des

gewissensgeleiteten Unterlassens den Ausfall einer Leistung kompensieren. Im Fall der

Handlung muss dagegen der Einzelne nach alternativen Ausweichmöglichkeiten suchen; „Die

Folgen muss tragen, wer über die Alternativen verfügt.“44

Bei der Beschränkung der

Verweigerung aus Gewissensgründen auf gesetzliche Handlungsgebote wird auch auf gewisse

Passivität und den friedlichen Charakter dieser Rechtsfigur sowie kleinere Gefahr für die

Gesellschaft im Fall ihrer Anerkennung hingewiesen.45

Die Kategorie der Handlungspflichten

ist allerdings sehr weit und umfasst die Pflichten, welche von dem Einzelnen verschiedene

Verhaltensweisen verlangen, nämlich ein aktives Tun (facere), eine Vermögensleistung zu

erbringen (dare) oder das Verhalten Anderer oder einen Zustand zu dulden46

(pati).47

Obwohl die Verweigerungsfälle aus Gewissensgründen, einem Rechtsverbot zu folgen,

„Laborbeispiele“ sind, die keine beträchtliche statistische Relevanz aufweisen, lässt sich das

gewissensmäßige Verhalten nicht auf Tun und Unterlassen aufspalten und damit dem

unterschiedlichen Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit unterstellen. Es ist daher der

Meinung nicht zu folgen, wonach gesetzliche Verbote prinzipiell Vorrang vor

gewissensmotiviertem Handeln haben. Die grundsätzliche Beschränkung des Schutzbereichs

der Gewissensfreiheit auf das gewissensbedingte Unterlassen ist schon deshalb unzulässig,

weil die Rechtsordnung dem Gewissen nicht vorschreiben darf, in welchen Situationen es

herausgefordert wird. Es lässt sich auch kein Grund finden, weshalb ein Gewissenskonflikt

bei einer Verweigerung, ein Rechtsgebot zu erfüllen grösser sein sollte, als wenn ein

43

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. Siehe auch: J. Daniska, Wolność

sumienia na Słowacji, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 1, 2006, S. 232; M. J. Falcón y Tella,

Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de Derechos Humanos.

Nueva Época, vol. 10, 2009, S.181. 44

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283. 45

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 30. 46

Ein Beispiel für das Abwehrrecht gegen eine staatliche Duldungspflicht bildet der Fall, in dem

Grundstückbesitzer nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, auf seinem Grundstück die Jagt tolerieren zu

müssen, weil er Gegner der Jagt ist. (App. 25088/94, Chassagnou et Lasgrezas v. France; App. 28443/95,

Montion v. France.). 47

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 34.

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19

gewissensmäßiges Tun staatlicherseits verboten ist.48

Der Ausdehnung des Schutzes der

Gewissensfreiheit auf das gewissensbedingte Handeln liegt ein Verständnis dieses

Grundrechts zugrunde, wonach es die für das Gewissen charakteristischen Funktionen der

Kontrolle, der Abwehr und der Reaktion auf aufgezwungene Situationen schützen soll.

Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass gesetzliche Gebote, etwas zu tun oder zu dulden,

hinter einer dagegen getroffenen Gewissensentscheidung zurücktreten können, wenn die

Möglichkeit besteht, eine andere Handlung oder Duldung ersatzweise gesetzlich zur Pflicht zu

machen, ohne dass die gesetzlich geschützten Belange der Allgemeinheit oder Dritter dadurch

beeinträchtigt werden, während die Nichtbefolgung der gesetzlichen Verbote, aus welchen

Gründen auch immer, in der Regel dem Dritten oder der Allgemeinheit einen erheblichen

Schaden zufügt, sodass die Sanktion seitens des Staates durchaus gerechtfertigt ist.49

Darüber

hinaus ergibt sich zwischen dem gewissensbedingten Tun und Unterlassen ein qualitativer

Unterschied: beim gewissensgeleiteten Tun können individuelle Handlungsalternativen

vorhanden sein, wenn der dem Gewissensgebot zugrundeliegende Zweck verschiedenweise

erreicht werden kann. Beim positiven Tun verfügt das Gewissen selbst über

Handlungsalternativen, weil sich die positiven Prinzipien und Gebote in der Regel auf

verschiedene Weise realisieren lassen.50

Dieser Umstand ist bei der Abwägung der ins Spiel

kommenden Interessen auf der Schrankenebene zu berücksichtigen.51

Erst wenn die anderen

individuellen Handlungsalternativen durch das Gewissen verboten sind, oder wenn die

gewählte Handlungsweise durch das Gewissen geboten ist, dann besteht zwischen Handlung

und Unterlassung kein Unterschied mehr; beide Modalitäten sind im Hinblick auf

Schutzintensität der Gewissensfreiheit gleichwertig.52

48

G.U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 159. 49

Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,

Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, S. 472, Rn. 91. 50

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 68. 51

M.Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 201; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im

Recht, Berlin 2000, S. 220f; G. U. Freihalter, Die Freiheit des Gewissens. Aspekte eines Grundrechts, Berlin

1973, S. 158. 52

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München, 1993, Rn. 140; derselbe, Die

Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, in: DVBL, Nr. 84, 1969, S. 720; U. K. Preuß, in: AK,

Neuwied, Frankfurt 1989, Art. 4, Abs. 1, 2, S. 377, Rn. 43.

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20

d) Persönliche Pflichten und Vermögenspflichten

Es ist anzunehmen, dass sowohl persönliche als auch Vermögenspflichten zum Gegenstand

der Verweigerung aus Gewissensgründen werden können53

, obwohl der letzte Punkt in der

Lehre streitig ist. Einige Autoren wollen nämlich die Vermögenspflichten aus dem

Schutzbereich der Gewissensfreiheit mit dem Hinweis ausschließen, dass der durch das

Gewissen des Einzelnen erlittene Schaden infolge der Erfüllung einer Vermögenspflicht

relativ geringfügig ist. Die gewissenswidrigen persönlichen Rechtspflichten verletzen das

Gewissen des Einzelnen im höheren Grade als der indirekte Beitrag zur Verwirklichung eines

für ungerecht gehaltenen Zweckes oder Situation, deswegen verdienen sie den höheren

Schutz.54

Die Verengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das Recht auf

Verweigerung der persönlichen Pflichten wird auch mit dem Demokratieprinzip begründet;

von der Erfüllung der durch die politische Mehrheit verabschiedeten Rechtspflichten kann

lediglich in der Ausnahmesituation abgewichen werden.55

Das Problem der Qualifizierung der Vermögenspflichten ist vor allem im Zusammenhang mit

der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen von Bedeutung. Bei der Entscheidung solcher

Fälle ist in Betracht zu ziehen, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen immer einen

direkten Charakter hat, d.h. es wird die Erfüllung derjenigen Rechtspflicht verweigert, die

vom Individuum als unmoralisch betrachtet wird. Die Verweigerung der Steuerzahlung hat

dagegen einen indirekten Charakter, weil die Zahlung der Steuer an sich gegen das Gewissen

des Einzelnen nicht verstößt, sondern die dadurch mitfinanzierten Ausgaben. Darüber hinaus

werden durch die Einnahmen alle staatlichen Aufgaben pauschal finanziert. Durch ihren

mittelbaren Charakter nähert sich die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen

der Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams.

53

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam , in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 496; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006,

S. 34. 54

J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del

derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 370; A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de

conciencia, Anuarios de Derechos Humanos, Nr. 4, S. 408; I. Iban, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho

eclesiástico, Madrid 1989, S. 160. 55

L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,

1984, S. 54.

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21

2.4. Abgrenzung der Verweigerung aus Gewissensgründen von dem zivilen Ungehorsam

Einige Autoren betrachten die Verweigerung aus Gewissensgründen als Unterfall des zivilen

Ungehorsams. Z. B. Biały beschreibt diese Rechtsfigur als ein Ungehorsam, der in

öffentlicher, augenfälliger Nichtbefolgung einer Rechtsnorm besteht, welche im Gewissen für

ungerecht und unglimpflich gehalten wird. Ihr wohnt die Bereitschaft inne, eventuelle

negative Folgen der Nichterfüllung der Rechtspflicht zu tragen, weil sein Zweck nicht nur in

der Absage an dem Bösen teilzunehmen liegt, sondern auch sie bildet eine Handlung, die auf

Änderung der ungerechten Norm durch Anrufung des Gewissens (Sensibilität) der

Öffentlichkeit ausgerichtet ist.56

Um die Klarheit über die Charakteristika der Verweigerung

aus Gewissensgründen zu verschaffen, ist sie allerdings von der „benachbarten“ Rechtsfigur

des zivilen Ungehorsams abzugrenzen.57

Der zivile Ungehorsam ist eine illegale, nichtgewaltsame, öffentliche Handlung, welche auf

die Vereitelung eines als unmoralisch oder ungerecht empfundenen Rechtsaktes oder einer

politischen Entscheidung ausgerichtet ist.58

Das entscheidende Unterscheidungskriterium des

zivilen Ungehorsams von der Verweigerung aus Gewissensgründen ist daher die Zielsetzung

der beiden Rechtsfiguren.59

Während der Bürger, der sich auf den zivilen Ungehorsam beruft,

56

S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 339f. 57

Statt vieler: M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in:

Anuario de Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 171ff; G. Escobar Roca, La objeción de

conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 58 ff.; M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil,

Barcelona 2000, S. 77 ff; H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2,

Santiago de Chile 2008, S. 15; S. Mosquera Molenos, El derecho de libertad de conciencia y de religión en el

ordenamiento jurídico peruano, Lima 2005, S. 164f; J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-

Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 363ff. Skeptisch zur

Abgrenzung zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen Ungehorsam spricht sich

Navarro-Valls aus, der vom Selbstverständnis des Gewissensträgers als maßgebliches Abgrenzungskriterium

ausgeht, die Unterscheidungsmaßstäbe zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen

Ungehorsam (individuell – kollektiv, öffentlich – privat) für irrelevant hält, sowie den Druck auf

Gesetzesveränderung als eine der Zielsetzungen der Verweigerung aus Gewissensgründen zulässt. Dabei

argumentiert er, dass die Abgrenzung zwischen dem zivilen Ungehorsam und der Verweigerung aus

Gewissensgründen theoretisch zwar zutrifft, in der Praxis verwischt sich aber die Grenze zwischen den beiden

Konzepten: R. Navarro–Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español,

Pamplona 1993, S. 481.

Zippellius betrachtet dagegen die Verweigerung aus Gewissensgründen als eine Sonderform des zivilen

Ungehorsams: „Soweit aber einer schwerwiegenden Gewissenspflicht der Vorrang vor einer sonnst bestehenden

Rechtspflicht zugesprochen wird, ist der so motivierte und begrenzte „zivile Ungehorsam“ durch die Verfassung

legalisiert, im strengen Sinn also kein Rechtsgehorsam“ (R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch.

Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52). 58

E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista de la Facultad de

Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S.102. 59

L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 16; derselbe, La objeción de conciencia como forma de

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22

die Veränderung einer bestimmten Rechtsnorm oder Politik herbeizuführen bezweckt, strebt

der Verweigerer aus Gewissensgründen nur danach, durch die Befreiung von der

Rechtspflicht sein Gewissen zu entlasten und dadurch seine Identität zu bewahren, selbst

wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die Verweigerung aus Gewissensgründen

in bestimmten Fällen in das Instrument der politischen Waffe umwandelt.

Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist in dem Sinne direkt, dass der Verweigerer sich

gerade gegen diejenige Rechtsnorm widersetzt, die gegen sein Gewissen verstößt. Der

Gegenstand einer Verweigerung kann lediglich, auf den konkreten Rechtsadressaten

gerichtete Rechtspflicht sein. Der Bürger, der auf den zivilen Ungehorsam greift, verletzt

dagegen eine Rechtsnorm, um damit zu erreichen, dass eine andere Rechtsnorm oder

Maßnahme, die er für ungerecht oder unmoralisch hält, aufgehoben oder verändert wird.60

Der

zivile Ungehorsam kann sich somit nicht nur gegen eine Rechtsnorm, sondern auch gegen

eine politische Maßnahme oder Institution richten. Daher sind die dem zivilen Ungehorsam

zugrunde liegenden Gründe immer der politischen Natur, wenn auch beim Rückgriff auf diese

Rechtsfigur in der Mehrzahl der Fälle auch moralische Motive wesentliche Rolle spielen,

wodurch sich der zivile Ungehorsam zur Verweigerung aus Gewissensgründen verdichten

kann.61

Weiterhin ist der zivile Ungehorsam immer illegal und stellt eine faktische Situation dar. Ihre

Anerkennung in den demokratischen Gesellschaften ist nur unter Voraussetzung der

„gravierenden Entstellung (desvirtuación transcendental) des demokratischen Systems und

absoluter Verkehrung der ihm unterliegenden Werte denkbar.“62

Die Legalität der

Verweigerung aus Gewissensgründen hängt dagegen von ihrer Anerkennung durch den

Rechtsgeber ab. Einige Autoren sprechen allerdings nicht vom illegalen, sondern vom

paralegalen Charakter des zivilen Ungehorsams. Damit soll diese Rechtsfigur von anderen,

insbesondere strafrechtlichen Rechtsverstößen abgehoben werden. Diese Bezeichnung wird

desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 50; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la

constitución española, Madrid 1993, S. 58; A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de

conciencia, in:Anuario de Derechos Humanos, Nr. 4, Madrid 1986/87, S. 402; S. Pau Agulles, La objeción de

conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 31. 60

L. Prieto Sanchís, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,

1984, S. 49. 61

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo,

Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, 254. 62

J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del

derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 369.

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23

mit der allgemeinen Anerkennung des demokratischen Verfassungsstaates und freiwilligen

Hinnahme der Sanktion wegen der mit Ausübung des zivilen Ungehorsams verbundenen

rechtswidrigen Handlungen begründet.63

Das folgende Unterscheidungskriterium zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen

und dem zivilen Ungehorsam knüpft an die betroffenen Subjekte und seine

Handlungsmotivation an. Die Verweigerung aus Gewissensgründen hat vornehmlich den

individuellen Charakter, selbst wenn sich die Verweigerer zu einer Organisation

zusammenschließen, die ihre Interessen vertritt. Im Gegenteil nimmt der zivile Ungehorsam

wegen seiner Finalität am häufigsten die Form einer kollektiven Handlung an. Aus diesem

Grund basiert er auf politischen oder moralischen Grundsätzen, die dem jeweiligen

Gemeinwesen zugrundeliegenden. Die Fundierung des zivilen Ungehorsams ist niemals

subjektiv; er wird vielmehr immer in Übereinstimmung der persönlichen Gewissenspositionen

mit den anerkannten objektivierbaren und verallgemeinerbaren Grundsätzen der Moral und

Gerechtigkeit ausgeübt, auf denen die Rechtsordnung basiert und die in einem konkreten Fall

von der Mehrheit außer Acht gelassen worden sind. Deshalb können im Unterschied zur

Verweigerung aus Gewissensgründen weder subjektivistische Positionen, noch religiöse

Lehren als Basis für den zivilen Ungehorsam dienen.64

Der Bezug auf universale Werte wird

auch in der Zielsetzung des zivilen Ungehorsams deutlich: durch diese Tätigkeit wird

versucht, das demokratische System von Unregelmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten zu

bewahren.65

Bei der Berufung auf den zivilen Ungehorsam wird gestrebt, die Mehrheit für

einen bestimmten Standpunkt zu gewinnen, wobei die Freiheit Anderer geachtet wird. Der

zivile Ungehorsam ist eine politische Handlung nicht nur deswegen, weil mit seiner

Ausübung an die jeweiligen Mehrheiten appelliert wird, sondern auch, weil diese Maßnahme

mit den politischen Prinzipien, d.h. mit den Prinzipien der Gerechtigkeit, welche die sozialen

Institutionen regulieren, gerechtfertigt wird.66

Die Verweigerung aus Gewissensgründen hat

dagegen seinen Ursprung in den subjektiven moralischen Auffassungen, die von dem

63

M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de

Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 173. 64

E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista de la Facultad de

Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S.105; M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Barcelona 2000, S.

79; M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de

Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 178; G. Peces- Barba Martínez, Derecho y derechos

fundamentals, Madrid 1993, S. 360. 65

J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del

derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 367f. 66

L. Prieto Sanchís, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,

1984, S. 44f.

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24

Moralverständnis der Gemeinschaft abweichen können,67

obwohl auch sie in der Mehrzahl

der Fälle aus den universellen moralischen Quellen schöpfen

Darüber hinaus nimmt der zivile Ungehorsam am häufigsten die Form eines aktiven

Verhaltens (Verstoß gegen Rechtsverbote), während die Verweigerung aus Gewissensgründen

vor allem den passiven Charakter hat d.h. sie kommt vornehmlich durch Verletzung von

Rechtsgeboten zum Ausdruck.68

Die beiden Rechtsfiguren (vorausgesetzt, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen

durch die Rechtsordnung nicht anerkannt ist) sind Formen des Ungehorsams dem Recht

gegenüber, deshalb weisen sie zahlreiche Ähnlichkeiten auf. Die Individuen, die auf beide

Konstellationen greifen, bringen die „minimale Treue“69

der rechtlichen und politischen

Ordnung entgegen. Der Staat und die Rechtsordnung werden von ihnen als legitim angesehen,

ihre Ablehnung richtet sich lediglich gegen eine bestimmte Norm. Betrachtet aus der

Perspektive des Einzelnen stellt sowohl die Verweigerung aus Gewissensgründen als auch der

zivile Ungehorsam eine bewusste und absichtsvolle Handlung dar. Die beiden

Handlungsformen sind nicht gewaltsam. Sowohl der zivile Ungehorsam als auch die

Verweigerung aus Gewissensgründen haben den öffentlichen Charakter, wenn auch die

Verweigerer nach der öffentlichen Manifestierung nicht streben. Im Fall der privaten oder

geheimen Verweigerung sollte vielmehr von einer Rechtsumgehung aus Gewissensgründen

und nicht von Verweigerung gesprochen werden.70

Die Betroffenen nehmen in der Regel die

durch ihr Verhalten hervorgerufene Sanktion hin. Insbesondere im Fall des zivilen

Ungehorsams kann die Bereitschaft, die Sanktionen für den Verstoß gegen eine Rechtsnorm

hinzunehmen, von Bedeutung sein. Dies geschieht, wenn durch Vergegenwärtigung der

Beschwerlichkeit einer Sanktion die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die zu Tage

gebrachte Unregelmäßigkeit gelenkt werden soll. Die Bereitschaft der Ungehorsamen für eine

causa bona Opfer zu erleiden, kann dazu benutzt werden, die Sympathie der übrigen Bürger

67

L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 16, Fn. 6. 68

M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de

Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 181. 69

M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Barcelona 2000, S. 77. 70

M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de

Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 176.

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25

hervorzurufen und sie zur Mitwirkung zu bewegen, welche zum Zweck hat, die zuständigen

Behörden zur Problemlösung zu veranlassen.71

3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtsystem

3.1. Rechtsstand

Die wichtigste Bestimmung betreffs der Gewissensfreiheit befindet sich in Art. 53 Abs. 1

Verf., wonach die Gewissens- und Religionsfreiheit jedem Einzelnen gewährleistet ist. Die

übrigen Absätze des Art. 53 Verf. beschäftigen sich jedoch ausschließlich mit Regelung der

einzelnen Aspekte der Religionsausübung. Im Vergleich zur Normierung anderer Grundrechte

in der polnischen Verfassung hat sich der Verfassungsgeber für ziemlich detaillierte

Beschreibung von einzelnen Modalitäten der Glaubensfreiheit entschieden, während er von

der ausdrücklichen Normierung der Ausübungsfreiheit des Gewissens und der

Weltanschauung völlig abgesehen hat. Auch die in Art. 53 Abs. 5 Verf. vorgesehenen

Schranken des Grundrechts beziehen sich lediglich auf die Freiheit der Religionsausübung.

Für die Regelung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist auch die Verankerung in der

polnischen Verfassung des Erziehungsrechts der Eltern von Bedeutung: gemäß Art. 53 Abs. 3

Verf. haben die Eltern das Recht, die moralische und religiöse Erziehung und Unterrichtung

ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren Anschauungen sicherzustellen. Die erwähnte

Vorschrift enthält einen Verweis auf Art. 48 Verf., der bestimmt, dass die Eltern bei der

Ausübung des Erziehungsrechts den Grad der Reife, die Gewissens- und Religionsfreiheit

sowie Anschauungen ihrer Kinder berücksichtigen sollen.

Die Gewissensfreiheit ist weiterhin im Zusammenhang mit dem Recht auf Religionsunterricht

(Art. 53 Abs. 4 Verf.) erwähnt; gemäß dieser Bestimmung kann Religion einer Kirche oder

einer anderen rechtlich anerkannten Glaubensgemeinschaft zum Gegenstand des schulischen

71

J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del

derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 368.

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26

Unterrichts werden, wobei die Freiheit des Gewissens und der Religion Anderer nicht berührt

werden darf.

Von großer Bedeutung für die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem

ist auch Art. 25 Abs. 2 Verf. Danach wahrt die öffentliche Gewalt die Unparteilichkeit in

Angelegenheiten der religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Anschauungen und

gewährleistet die Freiheit, diese im öffentlichen Leben zu äußern. Die erwähnte Bestimmung

setzt die Gewissens- und Religionsfreiheit implizit voraus, ansonsten hätte sie keinen Sinn. In

diesem Zusammenhang wird vertreten, dass Gewissens- und Religionsfreiheit nicht nur einen

Grundrechtscharakter hat, sondern auch zum Rang eines der staatsorganisatorischen

Prinzipien erhoben worden ist.72

Winiarczyk - Kossakowska steht sogar auf dem Standpunkt,

dass Art. 25 Verf. „die wichtigste Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit darstellt.“73

Dieser Meinung ist allerdings die folgende Auffassung des Verfassungsgerichtshofes

entgegenzusetzen: „Die im ersten Kapitel der Verfassung enthaltenen Grundsätze des

Staatssystems der Republik Polen sind Vorschriften, die keinen höheren Rechtsrang im

Verhältnis zu anderen Verfassungsvorschriften genießen. Angesichts dessen finden sie in

denjenigen Situationen Anwendung, die nicht in anderen konkreteren Regelungen normiert

sind, sie können aber die letzteren nicht ‚ersetzen„. Sie können auch nicht zur Umgehung der

konkreten Verfassungslösungen führen, obwohl die letzteren in Übereinstimmung mit den

fundamentalen Systemgrundsätzen und nicht abgesehen von ihnen interpretiert werden

müssen.“74

Die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie der Grundsatz der Unparteilichkeit der

öffentlichen Gewalt in Angelegenheiten der religiösen, weltanschaulichen und

philosophischen Anschauungen bilden eine systematische Ganze, indem sie sich gegenseitig

bedingen und ergänzen. Die Gewissens- und Religionsfreiheit bildet „das allerletzte

Fundament, das die Neutralität des Staates und damit die Existenz des nichttotalitären Staates

sichert.“75

Das an den Staat gerichtete Neutralitätsgebot ist dagegen „eine objektive Garantie

72

P. Sarnecki, Idee przewodnie Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z 2 kwietnia 1997 r., in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5(22), 1997, S. 12; derselbe in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz,

Art. 53, Warszawa 2003, S. 2. 73

M. Winiarczyk - Kossakowska, Państwowe prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 27. 74

Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes von 29.04.2003: SK 24/02, OTK-A 2003/4/33. 75

M. Beneyeto, Art. 16. in: Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de 1978,

Band 2, Madrid 1984, S. 337.

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27

der politischen Art“76

der Religions- und Gewissensfreiheit. Die Sicherung dieser

Grundrechte wäre in einem konfessionellen Staat erschwert, wenn nicht unmöglich. Der enge

Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der religiös - weltanschaulichen Unparteilichkeit

des Staates und der individuellen religiösen Freiheit wurde von Böckenförde wie folgt

expliziert: „Wie die Gewissensfreiheit am Beginn der Freiheit des Individuums, so steht die

Nichtidentifikation (Neutralität) am Beginn des modernen Staates; beide korrespondieren

einander. Durch den zunehmenden Abbau der existierenden Identifikationen ist der Staat zum

Wegbereiter der individuellen Freiheit und im eigentlichen Sinn zum gemeinsamen Haus aller

seiner Untertanen und Bürger geworden. Aus der Nichtidentifikation bezieht er daher im

hohen Maße seine Legitimität. Damit wird die Neutralität nicht nur als bloße

Nichtidentifikation gegenüber Identifikationsansprüchen der Religionen oder Ideologien

gedeutet, sondern auch als eine übergreifende, offene Neutralität, in deren Rahmen der

Einzelne sich in seiner Eigenart als geistige und sittliche Persönlichkeit in seinem Staat

unberührbar und geborgen weiß.“77

Darüber hinaus hat das Neutralitätsgebot als Interpretationsprinzip eine Ausstrahlungskraft

auf andere Verfassungsvorschriften. Das Neutralitätsgebot beeinflusst die Auslegungsrichtung

der Gewissensfreiheit dahingehend, dass es das weite über die bloße Glaubensfreiheit

hinausgehende Verständnis der grundrechtlichen Verbürgung als neutrale, ideologische

Freiheit, die zwar den religiösen Aspekt umfasst, sich aber in ihm nicht erschöpft, fördert.78

Aus dem Grundsatz der Neutralität des Staates ist geboten, den Begriff der Religion so weit

zu interpretierten, dass er neben Religionsfreiheit auch Weltanschauungsfreiheit mitumfasst.79

Die Hauptmanifestation der Gewissensfreiheit ist sowohl aus der historischen Perspektive als

auch in der Gegenwart die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen.80

In der

polnischen Verfassung ist dieses Recht in Art. 85 Abs. 3 gewährleistet. Danach kann ein

Staatsangehöriger, dessen religiöse Anschauungen oder moralische Überzeugungen die

Ableistung des Wehrdienstes nicht zulassen, zu einem Ersatzdienst gemäß den im Gesetz

bestimmten Grundsätzen verpflichtet werden. Für den Charakter des Art. 85 Abs. 3 Verf. als

76

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 456. 77

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 267. 78

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 456. 79

J. Ipsen, Staatsrecht II. Grundrechte, Neuwied, Kriftel 2001, S. 122, Rn. 371. 80

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 201.

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28

Rechtgrundlage des Rechts auf Wehrdienstverweigerung spricht die Nichtberücksichtigung

dieser Modalität bei der Aufzählung anderer Ausübungsformen der Gewissens- und

Religionsfreiheit; hätte der Verfassungsgeber das Recht auf Wehrdienstverweigerung als

Ausfluss der allgemeinen Gewissens- und Religionsfreiheit regeln wollen, hätte er diese

Problematik in Art. 53 Verf., also neben anderen Ausübungsformen der Gewissens- und

Religionsfreiheit normiert. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung stellt eine Konkretisierung

der Gewissens- und Religionsfreiheit aber nur dann dar, wenn der Schutzbereich des in Art.

53 Verf. verankerten Grundrechts der Gewissensfreiheit vom Denken über das Äußern bis

zum Handeln reicht.81

Deshalb falls das Recht auf Wehrdienstverweigerung oder Ersatzdienst

weder in der Verfassung ausdrücklich erwähnt noch vom Gesetzgeber geregelt worden wäre,

wäre ihre Einräumung insbesondere für diejenigen Personen, die den Kriegsdienst aus

moralischen Gründen ablehnen, von der Annahme der weiten Auslegung der

Gewissensfreiheit abhängig.

Letztlich befindet sich der Bezug auf das Gewissen in der Präambel zur Verfassung. Danach

ist von dem Bewusstsein „der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen“ die

Rede. Der Text der Präambel liefert Hinweise und Orientierungshilfe für die Interpretation

des Grundrechts der Gewissensfreiheit, worauf noch einzugehen sein wird.

Auf der gesetzlichen Ebene wird die Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem

ausführlich in dem Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit

behandelt. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass obwohl dem Gesetzgeber die primäre

Interpretionskompetenz der Verfassung zusteht, bedeutet dies nicht, dass er der einzige und

endgültige Ausleger ist. Der Inhalt der Grundrechte wird nicht vom Gesetzgeber, sondern von

der Verfassung selbst bestimmt. Die Verfassungsvorschriften werden zwar von dem

Gesetzgeber konkretisiert, seine konkretisierende Tätigkeit schöpft aber nicht immer alle

potenziellen Sinndeutungen einer verfassungsrechtlichen Verbürgung aus, ansonsten hätte der

81

Vgl. die Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals von 23.April 1982, STC 15/1982, die sich unter

anderen auf die Auslegung von Art. 9 der EMRK durch konsultative Versammlung des Europarates (Resolution

337 von 1967) beruft.

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29

Gesetzgeber (und sein Schweigen) bei der Inhaltsbestimmung der Grundrechte das letzte

Wort.82

Art. 1 GGBfG gewährleistet jedem Bürger die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Nach Abs.

2 des Art. 1 umfasst diese Freiheit das Recht, eine Religion oder Überzeugung zu wählen

sowie das Recht, sie individuell oder kollektiv, privat oder öffentlich zu äußern. Abs. 3 sichert

die gleichen Rechte im öffentlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen

Leben für Gläubige aller Religionen sowie für Nichtgläubige.

In Art. 2 GGBfG werden die einzelnen Manifestierungsformen der Religion und

Weltanschauung aufgezählt, wobei wie in der Verfassung der Schwerpunkt auf die

Religionsausübung gelegt wurde. Für die Ausübung der Gewissensfreiheit in ihrer weltlichen

Dimension sind die folgenden Betätigungsmodalitäten von besonderer Bedeutung: das Recht

der freien Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft (Nr. 2a), das Recht, seine Religion

oder Überzeugungen kundzutun (Nr. 3), das Recht, seine Kinder in Übereinstimmung mit

eigenen Überzeugungen zu erziehen (Nr. 4), das Schweigerecht in religiösen Angelegenheiten

(Nr. 5), das Recht laizistische Verbände zu bilden, die zum Zweck der Erfüllung von

Aufgaben dienen, die mit der Ausübung einer Religion oder Überzeugung zusammenhängen

(Nr. 11), das Diskriminierungs- und Privilegierungsverbot aufgrund der Überzeugungen in

religiösen Angelegenheiten (Art. 6), die Gleichstellung der Ausländer in den Staatsbürgern

zustehenden Rechten (Art. 7).

Art. 3 GGBfG regelt die Schranken der Betätigung eines Glaubens oder der Überzeugungen.

Die Beschränkung der Ausübungsfreiheit kann lediglich durch das Gesetz erfolgen, wenn dies

notwendig zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, der öffentlichen

Moral sowie der Rechte und Freiheiten Anderer ist. Besonders problematisch für die

Gewissensfreiheit ist die Regelung des Art. 3 Abs. 2 GGBfG, wonach die Inanspruchnahme

der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht dazu führen kann, dass sich der Rechtsträger von

den durch das Gesetz auferlegten öffentlichen Pflichten entzieht. Diese Regelung macht die

Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine gesetzliche Pflicht zu erfüllen,

nicht möglich. Ihre Verfassungsmäßigkeit wird noch zu prüfen sein.

82

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 186.

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30

3.2. Bewertung der Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit in der

polnischen Verfassung

In den Arbeiten des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung wurde zuerst der

überkommene, auf die Märzverfassung von 1921 zurückgehende Begriff „Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit“ für die Bezeichnung der geregelten Freiheiten erwogen. Dann hat sich

aber der Verfassungsausschuss für den Begriff „Gewissens- und Religionsfreiheit“

entschieden.83

Die letztgenannte Bezeichnung wurde in den Art. 53 Verf. aufgenommen.

Sowohl die terminologische Änderung der Grundrechtsbezeichnung als auch die Ausrichtung

der bezüglichen verfassungsrechtlichen Verbürgungen auf den Schutz der Religion lässt sich

als Reaktion auf die Benachteiligung der Rechte der Gläubigen in der Epoche der

Volksrepublik Polen erklären. In diesem Zusammenhang wird die Ansicht vertreten, dass der

Ersatz des Begriffes „Bekenntnisfreiheit“ durch den engeren Begriff „Religionsfreiheit“ zum

politischen Ziel hatte, die Unterstützung der katholischen Kirche für die Verfassung zu

gewinnen.84

Die traditionelle Bezeichnung der besprochenen Grundrechte ist allerdings im

Rechtsbewusstsein sowohl der Rechtskundigen als auch der Laien sehr tief eingewurzelt,

sodass ihre Beseitigung durch die Verfassung von 1997 in der Rechtsprechung und Lehre nur

sehr langsam nachfolgt. Der Rechtsbegriff „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ wird im

Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit beibehalten. In dem nach

dem Inkrafttreten der Verfassung vom 1997 entstandenen Schrifttum zur Problematik der

Glaubensfreiheit werden die beiden Begriffspaare alternativ benutzt.85

Die interpretatorischen Probleme der die religiösen und weltanschaulichen Fragen

normierenden Vorschriften der Verfassung lassen sich allerdings nicht nur auf die einseitige

Fokussierung des Verfassungsgebers auf den Schutz der Religion und eine hintergründige,

nahezu beiläufige, Erwähnung der Gewissensfreiheit und der nichtreligiösen Überzeugungen

83

Das Protokoll der gemeinsamen Sitzung vom Justizausschuss und Gesetzgebungsausschuss des polnischen

Sejm des 10. Wahlperiode von 13. Februar 1991. 84

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka) in: B. Oliwa – Radziłkowska,

Obywatel - jego wolności i prawa. Zbiór studiów przygotowany z okazji 10 lecia urzędu Rzecznika Praw

Obywatelskich, Warszawa 1998, S. 163; J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in:

Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 53. 85

E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w

III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 207.

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31

zurückfuhren. Die Auslegung der betroffenen Bestimmungen wird noch damit erschwert, dass

in der Verfassung die terminologische Einheit nicht bewahrt wurde. Bereits in Art. 53 Verf.

gibt es verschiedene Bezeichnungen für die Gewissens- und Religionsfreiheit. Neben dem im

Abs. 1. Art. 53 Verf. befindlichen Terminus „Gewissens- und Religionsfreiheit“, der als eine

generelle Schlüsselbezeichnung der geschützten Rechte betrachtet werden kann, erscheinen in

diesem Artikel auch andere Bezeichnungen: Gemäß Art. 53 Abs. 3 Verf. haben die Eltern das

Recht die religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder gemäß ihren Überzeugungen 86

sicherzustellen. Das an den Staat gerichtete Verbot der Auferlegung einer Offenbarungspflicht

bezieht sich auf die Weltanschauung, religiöse Überzeugungen und Konfession (Art. 53 Abs.

7 Verf.). In Art. 48 Verf., der das Erziehungsrecht der Eltern regelt, ist von Überzeugungen

der Eltern und von der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit der Kinder die Rede. Außerdem

spricht Art. 25 Abs. 2 Verf. von der Unparteilichkeit der öffentlichen Behörden im Bereich

der „religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Überzeugungen“.

Die Gründe für eine solche terminologische Vielfalt sind nicht einzusehen.87

Das Fehlen der

vereinheitlichten Terminologie in der Verfassung wurde als Ausdruck der Nachlässigkeit und

sogar der Ignoranz des Verfassungsgebers bewertet.88

Wenn der Begriff „Überzeugungen“ als

nichtreligiöse Anschauungen zu interpretieren ist, die für den Einzelnen einen mit dem

religiösen Glauben vergleichbaren Wert haben, bleibt die Frage offen, warum dieser Begriff,

dessen Reichweite offenkundig weiter als diejenige der Religion ist, in Art. 53 Abs. 1 Verf.

nicht eingeschlossen wurde. Wenn dagegen der Begriff der Überzeugungen als Synonym der

Gewissens- und Religionsfreiheit zu verstehen wäre, müsste angenommen werden, dass sich

der Verfassungsgeber für eine synonymische Wiederholung entschieden hat. Diese Lösung ist

aber sowohl unter dem Gesichtspunkt der rationalen Gesetzgebung (die Vorschriftsprache soll

unnötige Wiederholungen vermeiden) als auch aus der Perspektive der Auslegungsdirektiven

(verschiedenen Wörtern und Ausdrücken soll unterschiedliche Sinndeutung im Weg der

Auslegung zugeschrieben werden) nicht akzeptabel. In Art. 48 Verf., der das elterliche

86

Das polnische Wort „przekonania” wird manchmal in den Übersetzungen der polnischen Verfassung ins

Deutsche mit „Anschauungen“ wiedergegeben. Siehe: http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm.

(20.06.2010). 87

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka), in: B. Oliwa - Radziłkowska,

Rzecznik Praw Obywatelskich, Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 163. 88

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S.53.

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Erziehungsrecht regelt, wird die adäquatere Terminologie, nämlich „Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit“ sowie die Überzeugungsfreiheit benutzt.

Gelegentlich wird vertreten, dass sich der Verfassungsgeber bei der Formulierung des Art. 53

Verf. mit den entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmungen inspiriert hat.89

Die

Vereinheitlichung der verfassungsrechtlichen Terminologie mit den völkerrechtlichen

Bezeichnungen der Gewissens- und Religionsfreiheit war zwar Anliegen einiger

Verfassungsentwürfe, dieses Vorhaben wurde aber durch den Verfassungsgeber nicht

berücksichtigt.90

Die völkerrechtliche Formel „Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit“

ist so umfassend, dass die Gefahr eines engen oder begrenzten Verständnisses dieser

Freiheiten ausgeschlossen ist. Die Anwendung des weiten Begriffs in den völkerrechtlichen

Menschenrechtsabkommen hat zum Zweck, das möglichst weite Spektrum der menschlichen

Gedanken, Anschauungen, Verhalten und Handlungen umzufassen, „also alles, was die

menschliche Aktivität in der moralischen, philosophischen und – ganz allgemein gesagt –

weltanschaulichen Sphäre betrifft.“91

Die dargestellte terminologische Änderung bedeutet allerdings das Abkommen von der

überkommenen Klausel in der polnischen Verfassungs- und Staatskirchenrechts, die als

Synonym für die weite völkerrechtliche Musterformulierung der Gedanken-, Gewissens, und

Religionsfreiheit interpretiert war.92

Die angenommene Formel ist sowohl im Lichte des

polnischen Rechtssystems als auch aus der völkerrechtlichen Perspektive eine Neuheit, die

den Bereich der weltanschaulichen Tätigkeit nicht vollständig umfasst und einen Anstoß zur

Kontroverse in der Lehre bildet. Sie ist somit als Regress in dem polnischen

Konstitutionalismus zu bewerten.93

89

Polski Raport na XI Konferencje Europejskich Sądów Konstytucyjnych, Wolność sumienia i religii w

orzecznictwie polskiego Trybunału Konstytucyjnego, in: Biuletyn Trybunału Konstytucyjnego, Nr. 1 (7), 1999,

S. 51; J. Krukowski, Kościół i Państwo. Podstawy regulacji prawnych, Lublin 2000, S. 293; derselbe, Polskie

prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 64. 90

M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo prawne, Warszawa 1999, S. 269.

Die völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen erwähnen neben Gewissens- und Religionsfreiheit auch die

Gedanken- und Weltanschauungsfreiheit. Der Hauptunterschied zwischen den völkerrechtlichen

Rechtsinstrumenten und der polnischen Verfassung besteht darin, dass sich in ersteren die Ausübungsfreiheit

nicht nur auf die Religion, sondern auch auf die Weltanschauung erstreckt, während sich der Schutzbereich der

Betätigungsfreiheit in der polnischen Verfassung zumindest nach Wortlaut des Art. 53 Abs. 2 lediglich auf den

religiösen Glauben beschränkt. 91

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 41

ff. 92

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 9. 93

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 48.

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33

Der Verfassungsgeber hat nämlich weder Gedanken- noch Weltanschauungsfreiheit von den

völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte übernommen. Gleichzeitig hat

er den weiten Bekenntnisbegriff, der sich auf jede Weltanschauung bezieht, mit dem engeren

Begriff „Religionsfreiheit“ ersetzt. Bei der Annahme seiner Rationalität und bewusster

Anwendung der Sprache ist daher davon auszugehen, dass er das weite Konzept der

Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit im weltanschaulichen Bereich nicht annehmen

wollte94

und dass er den Schutzbereich auf den religiösen Glauben de iure verengt hat. Art. 53

Abs. 2 Verf. kann somit als Legaldefinition der Religionsfreiheit verstanden werden.95

Die

folgenden Absätze des Art. 53 Verf. enthalten eine kasuistische Aufzählung der einzelnen

Ausübungsformen der Religion. Darüber hinaus beginnt die Aufzählung mit der

Formulierung: „Die Religionsfreiheit enthält“, was nahelegt, dass sie enumerativ ist. A

contrario kann man argumentieren, dass die nichterwähnten Aspekte der Religionsfreiheit

nicht geschützt werden. Eine solche Regulierungsart ist allerdings für die Staats- und

Rechtskonzeption charakteristisch, wo der Staat als Quelle der Freiheit und der

Freiheitsrechte angesehen wird. In diesem Fall werden die Freiheit und Freiheitsrechte nicht

als eine vorstaatliche Wirklichkeit anerkannt, sondern von dem Verfassungsgeber konstituiert.

In dem demokratischen Staat, welcher Menschenrechte achtet, besteht dagegen die

Regulierung der menschlichen Freiheit nicht in Bestimmung, was dem Einzelnen erlaubt,

sondern was verboten sein soll.96

Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass die durch den

polnischen Verfassungsgeber gewählte Regelungsart der Glaubensfreiheit eine Auslegung

zulässt, dass die Freiheit areligiöser und antireligiöser Anschauungen und Verhalten aus dem

Schutzbereich des Art. 53 Verf. völlig ausgeschlossen ist.97

Bei der Annahme dieser

Interpretation wären freilich auch die ethischen Positionen der Nichtgläubigen d.h. die

Gewissensfreiheit in ihrer säkularen Dimension durch den Schutzbereich des Art. 53 Verf.

nicht erfasst.

94

M. Zieliński, Klauzule prawnowyznaniowe jednolitego projektu Konstytucji RP.(Uwagi de lege ferenda), in:

PiP, Nr. 2, 1997; J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr.

2(73), 2006, S. 49. 95

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 52. 96

K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd

Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 228f. 97

B. Banaszak, M. Jabłoński, in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej Polskiej, Kraków 2003, S. 104; J.

Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, Band 8., 2005, S. 34;

M. Zieliński, Klauzule prawnowyznaniowe jednolitego projektu Konstytucji RP.(Uwagi de lege ferenda), in:

PiP, Nr. 2, 1997, S. 83; H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 134f.

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34

Die Normierung der Religionsausübung in der polnischen Verfassung ist aber auch deswegen

inadäquat, weil sich das Phänomen der Religiosität auf rituelle Handlungen nicht reduzieren

lässt. Die Religiosität ist ein vielschichtiges Phänomen, das neben der kulutischen auch eine

kognitive, emotionale, moralische und praktische Dimension aufweist.98

Die

verfassungsrechtlichen Regelungen verkennen die Erkentnisse der Religionssoziologie.

Danach bildet die postmoderne Religiosität einen Bereich der sich stets verändernden

unverbundenen Elemente, ohne eine deutliche Entwicklungsrichtung anzunehmen. Sie soll

vielmehr in den prozessualen Kategorien als ein unvollendeter Entwurf aufgefasst werden.

Bemerkenswert ist auch die Entinstitutionalisierung und Individualisierung der Religiosität,

welche durch die Zunahme des Skeptizismus gegenüber den institutionalisierten Kirchen,

ihrer Dogmen und Lehren zum Ausdruck kommt. Religiöse Bedürfnisse in der sich

differenzierenden pluralistischen Gesellschaft nehmen immer häufiger individualisierte

Ausdruckformen an: sie kommen zunehmend als Konglomerate der unbestimmten

Anschauungen außerhalb der religiösen Organisationen und ihrer Autoritäten zur

Erscheinung. Die gedanklich komfortable Trennung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen

wirkt für die Zwecke der Beschreibung der Entwicklung der Religiosität anachronistisch. Mit

den Tendenzen zur Situierung der Religion in der Sphäre „der kreativen Autonomie des

Einzelnen“99

werden voraussichtlich die Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit in ihrer

individualistischern Ausprägungen an Bedeutung gewinnen. Die verfassungsrechtlichen

Regelungen der Glaubensfreiheit tragen allerdings den geschilderten Phänomenen nicht

genügend Rechnung. Die damit verbundenen Anwendungsprobleme der betroffenen

Vorschriften könnten zwar durch erweiternde Auslegung behoben werden, es ist aber zu

befürchten, dass der Schutz der wenig bekannten Minderheiten oder Individuen verkürzt wird.

Aus den genannten Gründen hat die Wortfassung des Art. 53 Verf. eine vehemente Kritik in

der Lehre ausgelöst. Pyclik100

argumentiert, dass die Bezeichnung „Bekenntnisfreiheit“ besser

geeignet ist, die Annahme und Ausübung einer säkularen Grundanschauung im Vergleich

zum Begriff Religionsfreiheit zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff „Bekenntnisfreiheit“

kann sowohl im Sinne der Kundgabe einer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung

98

K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd

Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 230. 99

K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd

Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 230f. 100

K. Pyclik, Wolność sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej (założenia filozoficzno-prawne), in: B.

Banaszak , A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 457, Rn. 10.

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35

(vgl. lateinisch confiteri) als auch im Sinne der Ausrichtung des ganzen Lebens gemäß den

Grundsätzen einer Religion oder Weltanschauung (vgl. lateinisch profiteri) interpretiert

werden. Er vermag somit den ganzen Bereich des forum externum der Glaubens,- Gewissens-

und Weltanschauungsfreiheit wiederzugeben. Pietrzak hat in diesem Zusammenhang die

verfassungsrechtliche Terminologie als „archaisch“ und nicht präzise genug bewertet, um den

Schutzbereich der zu schützenden Rechte genau festzulegen.101

Leszczyński hält die

Formulierung der Gewissens- und Religionsfreiheit für „fehlerhaft“. Gemäß diesem Autor

entspricht die Beschränkung der Ausübungsfreiheiten auf religiöse Überzeugungen den

Anforderungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht und kann zur Diskriminierung der

Nichtgläubigen führen.102

Die Verengung des Schutzbereichs des Art. 53 Verf. zum Schutz der Religion ist zwar nach

dem Wortlaut des Art. 53 Verf. durchaus vertretbar, sie lässt sich aber mit dem Grundsatz des

demokratischen ergo pluralistischen Rechtsstaates nicht in Einklang bringen. Bereits in der

Präambel, welche als „Akt des Selbstbewusstseins des Souveräns – der polnischen Nation“ 103

erscheint, wird der Grundsatz des weltanschaulichen Pluralismus zum Ausdruck gebracht. In

der Tat wird die Weltanschauung zum grundsätzlichen Unterscheidungskriterium der Polen

erhoben. Sowohl Gläubigen als auch Nichtgläubigen werden als gleichberechtigte Bürger des

Staates anerkannt, der das gemeinsame Gut aller Polen darstellt. Die Position des

Nichtglaubens wurde nicht als negativ oder schlechter im Verhältnis zum Glauben angesehen.

Ebenso wenig wird sie als amoralisch oder nihilistisch geschildert.104

Die ausdrückliche

Anerkennung der Betätigungsfreiheit des Gewissens und der Weltanschauung in der

polnischen Verfassung wäre gerade Ausdruck der Toleranz und Pluralismus, welche sich

dagegen richten, dass die Mitbürger herabgewürdigt und zur Preisgabe seines Gewissens

gezwungen werden.105

Die Begünstigung der Gläubigen in Art. 53 Verf. verstößt auch gegen

den Grundsatz der Unparteilichkeit des Staates in religiösen, philosophischen und

weltanschaulichen Fragen, der die Äußerung derartigen Überzeugungen im öffentlichen

101

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 242, 254. 102

L. Leszczyński, Zagadnienia wyznaniowe w Konstytucji RP, Warszawa 2001, S. 61f. 103

P. Borecki, Kompromis końca wieku. Klauzule wyznaniowe w Konstytucji z1997 r., in: Res Humana, Nr. 2,

2007, S. 12. 104

Ebenda, S. 12. 105

D. Lipsic, Argumenty prawne w sprawie klauzuli sumienia, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 4,

2006, S. 172f.

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36

Leben gewehrleistet (Art. 25 Abs. 2 Verf.). Die Gegenüberstellung der beiden Vorschriften

legt nahe, dass der Verfassungsgeber „sich selbst widerspricht“106

Die Einengung des Schutzes des Art. 53 Verf. auf Gläubige würde auch den Bestimmungen

der Verfassung widersprechen, welche den Vorrang des Völkerrechts und dessen unmittelbare

Geltung festlegen.107

In diesem Zusammenhang wird auf die Inkonsistenz der

grundrechtlichen Regelung der Glaubensfreiheit mit dem Verfassungsgrundsatz der

Befolgung des die Republik Polen bindenden Völkerrechts hingewiesen. Pietrzak sieht die

angenommene Terminologie im Hinblick auf den in Art. 91 Abs. 2 Verf. normierten Vorrang

der ratifizierten völkerrechtlichen Verträge im Verhältnis zu Gesetzen als

„kontroversstiftend“108

an.

Nach einer anderen Meinung sollen die terminologischen Änderungen in der Verfassung von

1997 lediglich dahingehend verstanden werden, dass der Verfassungsgeber die Qualifizierung

der Gewissens- und Religionsfreiheit als das durch den Staat reglementierten Bürgerrecht

aufgegeben hat. Da die traditionelle Terminologie in Art. 48 Verf. sowie in der ordentlichen

Gesetzgebung beibehalten wurde, ist zu schließen, dass der Verfassungsgeber den

Schutzgegenstand der betroffenen Freiheiten nicht ändern wollte.109

Es ist daher der Ansicht

zuzustimmen, dass aus der rechtlichen Perspektive die terminologische Änderung nicht

relevant ist.110

Winiarczyk-Kossakowska hat den Ersatz des Begriffs „Bekenntnis“ durch den

Terminus „Religion“ zum Wechsel des in der Märzverfassung von 1921 vorhandenen

Begriffs „Religionsgemeinschaft“ durch den in der Verfassung von 1952 eingeführten Begriff

„Bekenntnisgemeinschaft“ verglichen. Sie argumentiert, dass wie die damalige Änderung

keinen Einfluss auf die Auslegung der Verfassung von 1952 gehabt hat, wird auch die

Einführung des Begriffs „Religionsfreiheit“ keine beträchtlichen Konsequenzen für die

Auslegung dieses Grundrechts in der Verfassung von 1997 haben.111

Beiden Begriffspaaren

106

J. Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, Band 8., 2005, S.

35. 107

E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.

84. 108

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 242. 109

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 62. 110

Diese Schlussfolgerung kann anhand der Lektüre von L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys

wykładu, Warszawa 2008, S. 111, sowie P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne Rzeczypospolitej

Polskiej, Warszawa 1995, S. 75f gezogen werden. 111

M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28.

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37

ist daher bei der Rechtsauslegung die gleiche Bedeutung beizumessen, obwohl die in der

Verfassung. vorhandene Terminologie bevorzugt werden soll.112

Die Tatsache, dass der Verfassungsgeber keine Ausübungsformen der Gewissensfreiheit

aufgezählt hat, lässt sich mit der Natur dieses Freiheitsrechts erklären; die Gewissensfreiheit

betrifft den inneren Bereich, der einer wirksamen rechtlichen Regelung nicht zugänglich ist.

Das Wesen der Gewissensfreiheit besteht in dem Recht, eine religiöse oder nichtreligiöse

Weltanschauung zu wählen. Darüber hinaus bietet die Gewissensfreiheit einen normativen

Anhaltspunkt für die Behauptung, dass trotz der Schwerpunktsetzung auf dem Schutz der

Religionsfreiheit auch die Nichtgläubigen durch die Verfassung geschützt werden. Die

Ausübung der nichtreligiösen Überzeugungen ist nämlich vermittels anderer Freiheitsrechte

garantiert. Die ratio legis für die grundrechtliche Einseitigkeit zugunsten der Religionsfreiheit

ist allerdings nicht einzusehen.113

3.3. Konsequenzen der terminologischen Änderungen für die Auslegung der

Gewissensfreiheit

Die Interpretationsprobleme des Art. 53 Verf. werden nicht nur durch die terminologische

Veränderungen und der Fokussierung des Verfassungsgebers auf den Schutz der Religion,

sondern auch durch die lakonische Regelung der Gewissensfreiheit verursacht. Die

Gewissensfreiheit wird in der polnischen Verfassung nämlich nicht definiert. Es werden auch

keine Ausübungsformen und keine Garantien ihrer Achtung bestimmt.114

Durch die

Verbürgung der Gewissensfreiheit in einem Begriffspaar mit der Religionsfreiheit in Art. 53

Abs. 1 Verf. wird eine enge Verbindung beider Rechte geschaffen. Die enge Verflechtung der

Gewissensfreiheit mit der Religionsfreiheit ist zwar unleugbar (wie ein brasilianischer Autor

bildhalft schreibt, „die Freiheit des Gewissens und des Glaubens sind zwei Wangen desselben

112

P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne, Warszawa 1995, S. 76, Rn. 93; M. Makarska, Przestępstwa

przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997 roku, Lublin 2005, S. 19. 113

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 65. 114

H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 135; J.Hołda, Z. Hołda, D.

Ostrowska, J. A. Rybczyńska, Prawa człowieka. Zarys wykładu, Warszawa, Kraków 2008, S. 130.

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38

Gesichts (…). Das Gewissen manifestiert sich im Glauben; der Glaube fundiert sich im

Gewissen. Man kann nicht an eine denken, wenn man an die andere zu denken aufhört.“115

) es

ist aber nicht zu verkennen, dass die verfassungsrechtliche Regelung der Glaubens- und

Gewissensfreiheit in Polen der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass infolge des Prozesses der

zunehmenden Pluralisierung und Säkularisierung der polnischen Gesellschaft immer mehr

Rechtspflichten mit immer diversifizierteren Begründungen als gewissensverletzend in Frage

gestellt werden können, was voraussichtlich zur größeren Bedeutung von Gewissensfreiheit

führen wird.

Nach einer anderen Meinung hat sich die Aussonderung der Gewissens- und Religionsfreiheit

nicht eindeutig vollzogen, was gerade den Impuls für Kontroversen gibt.116

Dieser Ansatz war

unter Geltung der Verfassung von 1952 zutreffend, wenn das Begriffspaar „Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit“ wegen seiner Breite als ein einheitlicher Terminus verstanden war und

seine Teilung in die einzelnen Begriffselemente der Auslegung nicht zunutze kam. Der

Begriff „Gewissens- und Religionsfreiheit“ in der Verfassung von 1997 bildet dagegen keine

terminologische Einheit. Er besteht vielmehr aus zwei selbstständigen Formeln, bzw. zwei

stilistischen Figuren.117

Daraus ergibt sich, dass in der Formulierung „Gewissens- und

Religionsfreiheit“ zwei getrennte Freiheiten verborgen werden. Die Verbindung der beiden

Elemente in einem Begriff verleiht ihm keinen selbstständigen normativen Gehalt; die

Nebeneinanderreihung beider Freiheiten bildet keine neue Begriffskategorie und stellt keine

normative Bedeutungsanreicherung dar; es ist keine neue normative Funktion oder neue

Inhaltsbedeutung der Begriffskonstruktion „Gewissens- und Religionsfreiheit“ ersichtlich.

Die Rolle des neuen Begriffspaars „Gewissens- und Religionsfreiheit“ erschöpft sich somit

mit der technischen Artikulierung der voneinander unabhängigen Freiheiten.118

Die ausdrückliche Erwähnung beider Freiheiten und die Annahme ihrer Disjunktion und

eventuell ihrer Komplementarität begründet die Notwendigkeit ihrer autonomen Auslegung.

Bei der disjunktiven Betrachtung der Gewissens- und Religionsfreiheit scheint bereits auf den

ersten Blick, dass ihre Schutzbereiche trotz fehlerhafter sprachlicher Artikulierung nicht

115

C. Silva Costa, A interpretacão constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988

(Princípios de interpretacão jurídica e princípios de interpretacão constitucional em especial), Rio de Janeiro

1992, S.155. 116

E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w systemach prawnych Polski i Niemiec, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 61. 117

P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, S. 73. 118

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S.55.

Page 51: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

39

verengt worden sind. Bei der Annahme des Grundsatzes der sog. wohlwollenden Auslegung

der Verfassung ist vielmehr von einem maximal weiten Schutzbereich der Gewissens- und

Religionsfreiheit auszugehen. Die interpretatorische Ausweitung des Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit, wenn überhaupt vertretbar, müsste jedoch infolge kreativer, sogar

„halsbrechender“119

Auslegung erfolgen. Sie sollte dabei durch das erste Begriffselement –

also die Gewissensfreiheit – erfolgen. Diese Vorgehensweise scheint damit gerechtfertigt zu

sein, dass der Verfassungsgeber keine Ausübungsformen der Gewissensfreiheit aufgezählt

hat. Außerdem hat die Gewissensfreiheit hinsichtlich der Religionsfreiheit einen

ursprünglichen Charakter; die Religionsfreiheit stellt nur einen Aspekt oder eine

Erscheinungsform der Gewissensfreiheit dar.

Die lakonische Erwähnung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung verursacht

jedoch interpretatorische Schwierigkeiten. Zuerst ist die Klärung notwendig, ob das

Grundrecht auf ethische Selbstverwirklichung überhaupt in den Grundrechtskatalog durch den

Verfassungsgeber einbezogen worden ist. Mit anderen Worten es ist zu ermitteln, ob der

Gewissensfreiheit eine selbständige Schutzfunktion neben der Religionsfreiheit zukommt und

inwieweit sich die in der Verfassung aufgezählten Formen der Religionsausübung auf die

Freiheit der Gewissensbetätigung übertragen lassen. Bei der Beantwortung der Frage,

inwieweit die nichtreligiösen Überzeugungen durch die polnische Verfassung geschützt

werden, hat die Auslegung der Hauptnorm des Art. 53 Abs. 1 Verf. die Schlüsselrolle. Den

übrigen Verfassungsvorschriften kommt lediglich eine konkretisierende Bedeutung zu.120

Bevor aber zur Klärung der interpretatorischen Fragen der Gewissensfreiheit übergegangen

wird, sind die in der polnischen Literatur bereits vorhandenen Interpretationsansätze

darzustellen. Es wird dabei geprüft, inwieweit sie im Verhältnis zur Gewissensfreiheit

„tragfähig“ sind, d.h. inwieweit sie einen Anhaltspunkt für die weite Auslegung der

Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung bieten.

119

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 56. 120

Ebenda, S. 54.

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40

4. Auslegungsansätze der Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und

Rechtsprechung

4.1. Allgemeines

Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Analyse des polnischen

verfassungsrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Schrifttums zum Grundrecht der

Glaubensfreiheit vorzunehmen, um die Bedeutung und Funktion des Begriffselementes

„Gewissensfreiheit“ zu ermitteln. Zum Gegenstand der Untersuchung wird dabei die Frage,

ob sich in der polnischen Rechtsprechung und Literatur Ansätze finden lassen, worauf eine

weite Auslegung der Gewissensfreiheit als das Recht, gemäß Geboten des eigenen Gewissens

zu leben, beruhen könnte.

In Bezug auf die polnische Lehre lässt sich verallgemeinernd feststellen, dass die Mehrheit

der Autoren von einem einheitlichen Rechtsbegriff der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit,

bzw. Gewissens- und Religionsfreiheit ausgeht. In ihren Kommentierungen kommt häufig

darauf nicht an, einzelne Begriffselemente präzise zu definieren bzw. deren

Regelungsbereiche abzugrenzen, sondern vielmehr um eine generelle Darstellung des

Schutzbereichs des Grundrechts der Religionsfreiheit. Auch in denjenigen Fällen, wo die

Abgrenzung versucht wird, wird sie nicht konsequent durchgeführt. Es ist daher schwierig,

die Bedeutung und Funktion der einzelnen Begriffselemente herauszuschälen.

In der vorliegenden Arbeit werden auch die unter Geltung der Verfassung von 1952

entstandenen Lehrmeinungen zur Gewissens- und Bekenntnisfreiheit berücksichtigt. Dies

wird damit begründet, dass die Auswirkungen der aus der Zeit der Volksrepublik Polen

stammenden Interpretationsvorschläge der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit auf die

Auslegung der verfassungsrechtlichen Begriffe der Gewissens- und Religionsfreiheit in der

Verfassung von 1997, also in der radikal veränderten soziopolitischen Wirklichkeit,

wesentlich spürbar sind. Die wichtigsten Auslegungsansätze der Glaubensfreiheit in der

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41

sozialistischen Verfassung haben nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 ihre

Fortsetzung in der neueren Lehre gefunden.

4.2. Die Auslegung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit „in religiösen

Angelegenheiten“

Nach der engsten Auslegung des Schutzbereichs der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in der

polnischen Literatur wird dieses Recht als positive und negative Freiheit in Bezug auf das

Religiöse aufgefasst. Diese Ansicht wird von Świątkowski vertreten, der keine

Begriffsbestimmungen der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vorschlägt, sondern beschränkt

sich nur auf eine Aufzählung der einzelnen Ausübungsformen der Glaubensfreiheit. In seiner

Darstellung sind allerdings keine deutlichen Bezüge auf die Weltanschauungsfreiheit oder auf

die Freiheit der ethischen Selbstbestimmung zu finden. Gemäß dem zitierten Autor ergeben

sich aus der Gewissensfreiheit für den Einzelnen folgende Rechte: das Recht, eine Konfession

zu wählen, zu wechseln, aus einer Kirche auszutreten und in keine einzutreten; das Recht,

keiner Konfession anzugehören; das Recht, eine neue Religion zu gründen; das Recht, privat

und öffentlich Gottesdienste zu feiern und daran teilzunehmen. Diese Berechtigungen können

unter Wahrung der öffentlichen Ordnung in Anspruch genommen werden.121

Gemäß der dargestellten Auffassung wird der Schutzbereich der Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit auf die positive und negative Religionsausübung verengt. Die Ausübung

der weltlichen Weltanschauung oder Betätigung einer Gewissensentscheidung wird von

Świątkowski überhaupt nicht thematisiert. Durch Schwerpunktsetzung auf die Beziehung des

Individuums zu den religiösen Fragen nähert sich seine Auffassung dem Verständnis der

Gewissens- und Glaubensfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil als „libertas in

religiosa“ (Freiheit in religiösen Angelegenheiten).122

121

H. Świątkowski, Wyznaniowe prawo państwowe, problematyka prawna wolności sumienia w PRL,

Warszawa 1962, S. 9; derselbe, Wolność sumienia i wyznania w Polsce Ludowej, Warszawa 1949, S. 17f. 122

In der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Dignitatis Humanae ist von der „religiösen Freiheit“ die

Rede. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen von jedem Zwang sowohl seitens Einzelner und

gesellschaftlicher Gruppen sowie seitens jeglicher menschlichen Gewalt frei sein müssen, so dass niemand in

religiösen Dingen gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und

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42

4.3. Gewissensfreiheit als forum internum der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit

Im polnischen Schrifttum wird die Gewissensfreiheit oft dem Bereich des forum internum

sowohl der Religions- als auch der Weltanschauungsfreiheit zugeordnet. Die

Bekenntnisfreiheit wird entsprechend mit der Betätigungsfreiheit des Glaubens und der

Weltanschauung gleichgesetzt. Sie wird dabei weit ausgelegt; sie umfasst nicht nur das Recht,

seine Überzeugung kundzutun, sondern auch das Recht, das gesamte Leben danach

auszurichten.123

Illustrativ für diesen Ansatz ist die Begriffsbestimmung Winiarczk-

Kossakowskas, wonach die Gewissensfreiheit als Freiheit „eine Überzeugung, eine

Anschauung über das Wesen der Welt zu haben (psychologische Freiheit)“ aufzufassen ist,

„während die Bekenntnisfreiheit die Freiheit ihrer Ausübung nach außen bedeutet.“124

Gemäß

Jabłoński bietet die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit eine Möglichkeit, „eine beliebige

Weltanschauung zu wählen und gemäß dieser Wahl zu handeln. Die Gewissensfreiheit

beinhaltet die Möglichkeit der Annahme, Entwicklung, Bildung und Wechsels der

Überzeugungen in Angelegenheiten des Glaubens und der Weltanschauung. Die

Bekenntnisfreiheit ist die Freiheit, seine Weltanschauung individuell oder kollektiv zu

manifestieren, sowie das Recht, im Alltag in Übereinstimmung mit den Geboten seines

Glaubens zu handeln.“125

Die Bekenntnisfreiheit ist nach diesem Ansatz ein „untrennbares

Element der Gewissensfreiheit, ihr Bestandteil und Konsequenz“126

, ihre „Konkretisierung

und Vollendung.“127

In diese Richtung argumentieren auch Mezglewski, Misztal und Stanisz. Sie verstehen die

Gewissensfreiheit als eine allgemeine „Freiheit der Selbstbestimmung in religiösen

Angelegenheiten.“128

Dies bedeutet vor allem die Annahme einer beliebigen Weltkonzeption,

öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem

Gewissen zu handeln. 123

Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania w relacji: człowiek – kościoły – państwo, in: L. Wiśniewski,

Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa 1997, S. 83ff; derselbe, Wolność sumienia i

wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr. 3, 2001, S. 33;

K. Małek, Realizacja konstytucyjnej zasady wolności sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej, in:

Wrocławskie Studia Politologiczne, Nr. 7, 2006, S. 78. 124

M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28. 125

K. H. Jabłoński. Wolność sumienia i wyznania. Konstytucyjne prawo człowieka, in: Wiek XXI, Nr. 2/3,

2006, S. 37. 126

J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 18. 127

Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr.

3, 4, 2001, S. 56. 128

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 82.

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eines Lebensziels und eines Wertesystems.129

Nach Winiarczyk-Kossakowska ist unter der

Gewissensfreiheit „die Möglichkeit, eine bestimmte Religion oder nichtreligiöse

Überzeugung zu bewerten, sowie eine Wahl zu treffen, welche das Resultat dieser Bewertung

ist“130

, zu verstehen.

Eine andere Systematisierung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit wurde von Misztal 131

vorgeschlagen. Der Autor geht bei seiner Analyse der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit von

dem Oberbegriff der Religionsfreiheit aus, der sich aus der Gewissensfreiheit, der

Kultusfreiheit und der Freiheit der Kirche zusammensetzt. Dabei beinhaltet die

Gewissensfreiheit das forum internum der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie die

innere Freiheit der ethischen Selbstbestimmungsfreiheit, also der Gewissensfreiheit im

eigenen Sinne. Die Kultusfreiheit wird mit dem Recht auf Religionsausübung gleichgesetzt.

Die Freiheit der Kirche umfasst dagegen die organisatorische Freiheit der

Religionsgemeinschaften. Dieser Ansatz ist allerdings dahingehend ungeeignet, weil ihm die

Zuordnung des forum externum der Weltanschauungsfreiheit fehlt.

Krukowski versteht die Gewissensfreiheit als das Recht, „die moralischen Entscheidungen

aufgrund der von dem Menschen erkannten und anerkannten Werte der Wahrheit und des

Guten, einschließlich der religiösen Wahrheiten (…) zu treffen. Die Gewissensfreiheit betrifft

somit die souveräne Sphäre der Erlebnisse jeder menschlichen Person, den Bereich ihrer

Akten der Vernunft und des Willens, in dem der Gesetzgeber nicht eingreifen darf.“132

In

diesem Interpretationsansatz wird der Schwerpunkt auf die inneren Vorgänge des Menschen

gelegt. Es entsteht allerdings die Frage, inwieweit danach die Verwirklichung der mit keiner

Religion verbundenen moralischen Gewissenspositionen in der Außensphäre

verfassungsrechtlich geschützt wird. Es lässt sich in dieser Hinsicht eine Evolution der

Ansichten des zitierten Verfassers nachweisen. In der ersten Auflage seines Werkes Polskie

prawo wzynaniowe geht nämlich Krukowski davon aus, dass die Gewissensfreiheit trotz ihres

inneren Charakters naturgemäß an die äußere Betätigung der religiösen und moralischen

Überzeugungen des Einzelnen im Privatleben sowie im öffentlichen Bereich orientiert ist. Um

129

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 82. 130

M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, 2000, S. 27. 131

H. Misztal, Prawo wyznaniowe, Lublin 1996, S. 46. 132

J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77.

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44

diesem Bedürfnis gerecht zu werden, steht dem Individuum die Religionsfreiheit zur

Verfügung. Gerade in diesem Punkt tauchen interpretatorische Probleme auf: der Autor

versteht die Religionsfreiheit als Möglichkeit, zwangsfreie Entscheidungen betreffs

Aufnahme und Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Gott zu treffen, sowie die Freiheit,

dieser Beziehung auf der Ebene der menschlichen Verhältnisse Ausdruck zu verleihen.133

Obwohl diese Freiheit dem Einzelnen sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen

Aspekt zusteht, ist sie eindeutig im Bezug auf eine Religion und nicht auf eine

Weltanschauung oder ein ethisches System definiert. Es ist somit nicht möglich, das Recht auf

die Ausübung nichtreligiöser Positionen der derart beschriebenen Religionsfreiheit zu

entnehmen. Dieses Ergebnis wird trotz der Bemerkung Krukowski, dass der Katalog der

einzelnen Ausübungsformen der Religion „aus der Natur der Sache“ nicht enumerativ ist,

obwohl die Verfassung etwa durch Einführung der Formel „insbesondere“ dies ausdrücklich

nicht vorschreibt,134

nicht geändert. In der 4. Auflage des zitierten Werkes präzisiert jedoch

der Verfasser ausdrücklich, dass die Gewissensfreiheit einen weiteren Umfang als die

Religionsfreiheit hat, weil der Mensch in seinem Gewissen nicht nur religiöse, sondern auch

philosophische und weltanschauliche Überzeugungen annehmen kann. Die Ausübung der

letzteren erfolgt analog zur Religionsfreiheit: „Die Gewährleistung der Gewissensfreiheit

umfasst somit Gläubige und Nichtgläubige, also diejenigen, welche ihre existenziellen

Probleme mit Ausschluss religiöser Prämissen lösen.“135

Ähnlich Pietrzak sieht die Gewissensfreiheit in der inneren Sphäre des Menschen angesiedelt

und definiert sie als das Recht des Einzelnen, „die Anschauungen in religiösen Fragen frei zu

wählen, zu bilden und zu ändern.“136

Um den Entwicklungstendenzen der Glaubensfreiheit in

den völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen gerecht zu werden, wonach ihr

Schutzbereich auch auf die Freiheit der nichtreligiösen Weltanschauungen ausgedehnt wird,

erstreckt Pietrzak seine Ausgangsdefinition ebenfalls auf nichtreligiöse Weltanschauungen.

Diese Auslegung der Gewissensfreiheit wird von Waszkiewicz übernommen, die bemerkt,

dass das Gewissen des Einzelnen nicht nur durch eine Religion, sondern auch durch

133

J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77. 134

Ebenda, S. 78; derselbe, Kościół i państwo. Podstawy regulacji prawnych, Lublin 2000, S. 293. 135

J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 64. 136

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 20.

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nichtreligiöse Strömungen geprägt werden kann.137

Im Bezug auf Bekenntnisfreiheit schreibt

die zitierte Autorin jedoch, dass diese Freiheit unmittelbar mit einer Religion verbunden ist

und am häufigsten als das Recht, eine Religion durch Kultushandlungen auszuüben,

verstanden wird.138

Aus dieser Auffassung ergibt sich eine Asymmetrie zwischen dem

Schutzumfang der inneren Gewissensfreiheit und der äußeren Freiheit ihrer Betätigung;

während die Gewissensfreiheit die Annahme, Bildung und Änderung sowohl einer Religion

als auch einer Weltanschauung umfasst, bezieht sich die Bekenntnisfreiheit auf die Betätigung

der Religion und vor allem auf die Freiheit zur Vornahme der kultischen Handlungen. Auch

Pietrzak schließt die Betätigung einer nichtreligiösen Weltanschauung aus dem Schutzbereich

der Bekenntnisfreiheit aus. Nach seiner Auffassung beinhaltet die Bekenntnisfreiheit neben

den strikt kultischen Handlungen das Recht, Religionsgemeinschaften zu bilden. Darüber

hinaus schützt die Bekenntnisfreiheit die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften, die darauf

abzielt, die religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigenn139

Die Identifizierung der Gewissensfreiheit mit der inneren Sphäre der Religions- und

Weltanschauungsfreiheit wird gelegentlich damit begründet, dass das Gewissen als

anthropologische Kategorie allen Menschen eigen ist. Dagegen kann die

Weltanschauungsausübungsfreiheit nicht aus der Religionsausübungsfreiheit abgeleitet

werden, weil der Wortlaut des Art. 53 Verf. lediglich auf die Manifestation der Religion

zugeschnitten ist; die Weltanschauungsausübungsfreiheit wird vielmehr durch andere

Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

gedeckt.140

Dem ist entgegenzuhalten, dass der Verweis auf andere Grundrechte als Rechtsgrundlage für

den Schutz der Ausübung einer Weltanschauung oder einer ethischen Position und Ablehnung

des Zugriffs auf Vorschriften, die Religionsausübung regeln, zur Privilegierung der Religion

führen kann. Nach dieser Meinung könnte z.B. ein Weltanschauungssystem in der

öffentlichen Schule nicht zum Gegenstand des Unterrichts werden, weil in Art. 53 Abs. 4

137

E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w

III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 209. 138

Ebenda, S. 209. 139

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 20. 140

Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania w relacji: człowiek – kościoły – państwo in: L. Wiśniewski,

Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa 1997, S. 86 – 87.

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Verf. die Unterrichtungsmöglichkeit auf die Religion einer Kirche oder

Glaubsnsgemeinschaft beschränkt wurde.

Zum Schluss dieses Abschnitts sei noch die im Schrifttum vertretene Ansicht dargestellt,

wonach die Gewissensfreiheit als Freiheit, eine eigene moralische Bewertung einer Situation,

einer Haltung oder eines Verhaltens aufgefasst wird. Dabei wird bemerkt, dass die Personen,

welche derselben Konfession angehören oder dieselbe Weltanschauung teilen, häufig den

gegebenen Sachverhalt unterschiedlich bewerten, obwohl sie dieselben Bewertungsmaßstäbe

anwenden.141

Ähnlich argumentiert Szewczyk, der das Gewissensphänomen als eine

Bewertungsfähigkeit „in Bezug auf den Wert einer konkreten Religion oder areligiöser

Überzeugungen sowie die Wahlfähigkeit aufgrund der vorgenommenen Bewertung

versteht.“142

Die Zugrundelegung des dargestellten Gewissensverständnisses der Bestimmung

vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit hätte zur Folge, dass diese Freiheit als das Recht,

eine Religion oder Weltanschauung zu wählen, d.h. als forum internum der Religions- und

Weltanschauungsfreiheit zu verstehen ist. Die beiden Autoren bestimmen zwar den

Bewertungsgegenstand, es wurde aber nicht geklärt, welche Typen der Maßstäbe der

Bewertung (philosophische, religiöse, praxeologische, u.a.m.) zugrunde gelegt werden sollen,

um die Bewertungstätigkeit des Einzelnen als Ausübung der Gewissensfreiheit zu

qualifizieren. Eine präzisere Begriffsbestimmung im Hinblick auf die Bewertungskriterien

wurde von Dębowski vorgeschlagen. Danach wird das Gewissen als moralisches Bewusstsein

und Fähigkeit verstanden, die moralische Qualität des menschlichen Handelns, insbesondere

des Handelns des wertenden Subjektes zu bewerten.143

Der ganze Ansatz greift allerdings zu

kurz; danach wird zwar die urteilende Funktion des Gewissen hervorgehoben, sein

imperativischer Charakter d.h. der Gewissensdrang in Bezug auf die Umsetzung der

Gewissensentscheidungen ins praktische Verhalten wird aber völlig außer acht gelassen.

141

T. Sokołowski, in: A. Kidyba, Kodeks cywilny. Komentarz. Tom 1. Część ogólna. Art. 23, Warszawa 2009,

S. 111. 142

H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 509. 143

J. Dębowski, Mała encyklopedia filozofii. Pojęcia, problemy, kierunki, szkoły, Bydgoszcz 1996, S. 448f.

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4.4. Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit bzw. als „das Recht der

Nichtgläubigen“

Łopatka interpretiert die Gewissensfreiheit als Berechtigung des Einzelnen, eine

Weltanschauung, die den persönlichen Überzeugungen entspricht, anzunehmen und zu

manifestieren. Dabei nimmt er an, dass die Gewissensfreiheit die Toleranz den

weltanschaulichen Haltungen anderer Bürger gegenüber voraussetzt. Die Bekenntnisfreiheit

versteht der zitierte Autor als eine Freiheit, in Übereinstimmung mit dem Willen des

Einzelnen eine Religion kundzutun und auszuüben oder keine Religion zu bekennen. Die

Gewissens- und Bekenntnisfreiheit umfasst danach auch die Möglichkeit, eine Religion oder

Weltanschauung zu wechseln.144

Nach einer anderen Ansicht besteht die Gewissensfreiheit in der Möglichkeit, eine beliebige

Weltanschauung anzunehmen, womit die Annahme eines bestimmten Wertsystems verbunden

ist. Die Religionsfreiheit besteht dagegen in der Annahme einer Weltanschauung, welche die

Existenz Gottes voraussetzt.145

Präziser formuliert beinhaltet die Gewissensfreiheit das Recht,

irgendeine Weltanschauung (religiös oder areligiös) zu haben und auszuüben, während die

Bekenntnisfreiheit auf das Haben und Ausüben einer Religion beschränkt ist.146

Aus der

Gegenüberstellung mit der Religions- bzw. Bekenntnisfreiheit ergibt sich, dass die zitierten

Autoren die Gewissensfreiheit als Freiheit der nichtreligiösen Weltanschauung definieren.

Die „weltanschauliche“ Dimension der Gewissensfreiheit wird von Winczorek ausdrücklich

bejaht. Der zitierte Autor definiert nämlich die Gewissensfreiheit als „das Recht der

Nichtgläubigen“ bzw. als „die andere Seite“ der Religionsfreiheit und beschreibt sie als eine

Freiheit zur Annahme und Bekennen von philosophisch-weltanschaulichen Überzeugungen,

welche religiös, areligiös oder antireligiös sein können, wie Deismus, Agnostizismus oder

Atheismus. Die Gewährleistungen der Verfassung bezüglich der Religionsausübungsfreiheit

sind nach diesem Auslegungsvorschlag per analogiam auf eine so verstandene

144

A. Łopatka, Wolność sumienia i wyznania, in: Prawa człowieka. Model prawny, Wrocław 1991, S. 415. 145

W. Brodziński, Wolność sumienia i religii (Art. 53), in: W. Skrzydło, S. Grabowska, R. Grabowski,

Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz encyklopedyczny, Warszawa 2009, S. 658. 146

M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28.

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Gewissensfreiheit auszudehnen.147

Skrzydło setzt den säkularen Charakter der

Gewissensfreiheit voraus, indem er bemerkt, dass dieses Recht in Polen einen engeren

subjektiven Schutzbereich im Vergleich zur Religionsfreiheit hat. Dies ist darauf

zurückzuführen, dass sich die Mehrheit der Bürger zu einem religiösen Glauben bekennt. Die

Gewissensfreiheit soll zwar in der Verfassung ähnlich wie die Religionsfreiheit behandelt

werden, die Rechte der Nichtgläubigen werden aber in der Verfassung nur zurückhaltend

erwähnt.148

Garlicki interpretiert die Gewissensfreiheit als das Ergänzungsrecht im Verhältnis zur

Glaubensfreiheit; danach kann jeder Einzelne eine beliebige philosophische, moralische und

soziale Überzeugungen annehmen und danach handeln. Die Gewissensfreiheit hat dabei die

besondere Bedeutung für Nichtgläubige. Sie ist aber auch für Gläubige in den

Lebensbereichen relevant, die von einer Religion nicht erfasst werden.149

Die Auslegung der Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit hat seine Stütze in der

Präambel zur Verfassung, wo von der Verantwortung vor Gott oder vor eigenem Gewissen

die Rede ist. Die durch das Wort „oder“ eingeführte Disjunktion war zwar ein Zeichen des

weltanschaulichen Kompromisses, sie erweckt aber den Anschein, dass sich die Gläubigen

lediglich vor Gott und nicht vor seinem Gewissen verantwortlich fühlen.150

Die Konsequenz

der Interpretation der Gewissensfreiheit als Freiheit, eine nichtreligiöse Weltanschauung zu

haben und auszuüben, ist die Annahme, dass die Rechte der Nichtgläubigen im Vergleich zu

der Rechtsstellung der Gläubigen in der Verfassung „nicht zufriedenstellend normiert

wurden.“151

Der gänzlichen Gleichsetzung von Gewissensfreiheit mit der Weltanschauungsfreiheit ist

nicht beizupflichten. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Gewissensfreiheit eine

147

P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Art. 53, Abs. 1 – 2, Warszawa 2000, S.

73. 148

W. Skrzydło, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Art. 53, Kraków 2000, S. 63 f. 149

L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 110. 150

H. Misztal , P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 190. 151

J. Hołda, Z. Hołda, D. Ostrowska, J.A. Rybczyńska, Prawa człowieka. Zarys wykładu, Warszawa, Kraków

2008, S. 130.

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Freiheit ist, ethische Entscheidungen zu treffen und danach zu leben. Dabei ist ohne Belang,

ob der Rechtsträger gläubig oder nichtgläubig ist. Dies erklärt sich zum einen damit, dass das

religiöse Gewissen ebenso als das weltliche schutzbedürftig ist. Darüber hinaus muss

berücksichtigt werden, dass Religionsgrundsätze lediglich als eine der möglichen Quellen der

Gewissensentscheidung zugrundegelegt werden können. Viele Gläubigen bilden ihre

autonomen Gewissensentscheidungen auch aufgrund anderer Prämissen und Werte, die

manchmal der Lehre ihrer Religion wiederstreiten. Anzunehmen ist hingegen die Ansicht,

wonach die Vorschriften bezüglich der Religionsausübung auf Weltanschauung

entsprechende Anwendung finden sollen.

4.5. Gewissensfreiheit und Bekenntnisfreiheit als allgemeine Überzeugungsfreiheit

Einige Autoren152

gehen bei der Darstellung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit von

einem weiten Oberbegriff der Weltanschauung aus, welche sowohl religiösen als auch

philosophischen Überzeugungen umfasst. Bujny definiert die Gewissensfreiheit als das Recht,

eine beliebige Weltanschauung, welche den persönlichen Überzeugungen entspricht,

anzunehmen und ihr in der Außenwelt Ausdruck zu verleihen.153

In eine ähnliche Richtung

argumentiert Osuchowski: gemäß diesem Autor beinhaltet die Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit das Recht, jegliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu

haben, und die Möglichkeit, sie frei zu äußern und im öffentlichen Leben auszuüben.154

Die

derart verstandene Weltanschauungsfreiheit umfast somit nicht nur den Schutz der

weltanschaulichen Innenwelt des Einzelnen, sondern auch die Ausübungsfreiheit.155

Piekarski fügt zu seiner Auffassung der Weltanschauung noch einen ethischen Bestandteil

hinzu. Danach ist die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit eines der fundamentalen

152

A. Merker, Indywidualna wolność sumienia w ustawodawstwie PRL, in: M. Staszewski, Wolność sumienia.

Szkice i polemiki, Warszawa 1973, S. 24; zustimmend: J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w

PRL, Warszawa 1971, S. 11; A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o

zawodach lekarza i lekarza dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa

medycznego, Poznań 2008, S.15. 153

J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 104. 154

J. Osuchowski, Prawno – teoretyczne problemy ochrony wolności sumienia i wyznania, in: Dylematy

wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 12. 155

Die zitierten Autoren sprechen vom „prawo do wyznawania“, was wörtlich als Recht, die Weltanschauung zu

bekennen, übersetzt werden könnte. Der polnische Rechtsbegriff „wolność wyznania“ hat jedoch nach dem

üblichen Verständnis einen weiteren Bedeutungsumfang als das deutsche Gegenstück „Bekenntnisfreiheit“ und

ist vielmehr mit der Ausübungsfreiheit gleichzusetzen.

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Menschenrechte, das die Freiheit umfasst, eine gewählte religiöse bzw. areligiöse

Weltanschauung auszuüben. Der Einzelne ist berechtigt, „diejenigen Bedürfnisse zu

befriedigen, die aus weltanschaulichen Überzeugungen ausfließen. Das ist eine Freiheit, seine

Stellungnahme betreffs der Glaubensfragen zum Ausdruck zu bringen, eine Freiheit, gemäß

seinem eigenen Gewissen zu handeln.“156

Die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit

gewährleistet die Äußerung der weltanschaulichen Haltungen im Rahmen der

Glaubensgemeinschaften oder ohne Verbindung mit derartigen institutionalisierten

Gruppierungen. Die Gewissensfreiheit ist ein Bestandteil des Prozesses der individuellen

Selbstbestimmung. Der Staat soll daher dem Einzelnen reale Möglichkeiten bereitstellen, eine

freie Wahl in Weltanschauungsfragen zu treffen.157

Dieser Auslegungsansatz hat auch unter Geltung der Verfassung von 1997 Fortsetzung

gefunden: die Gewissens- und Religionsfreiheit wird danach als ein einheitliches Grundrecht

interpretiert, dessen Schutzbereich generell weltanschauliche Aktivität des Einzelnen umfasst,

d.h. die Sphäre sowohl der inneren Überzeugungen, die religiös und nichtreligiös sein können,

als auch die Sphäre ihrer Betätigung.158

Die Begriffe des Gewissens und der Religion weisen

dabei keine wesentlichen Unterschiede auf.159

Die Analyse der einzelnen Begriffselemente des Begriffspaares „Gewissens- und

Religionsfreiheit“ wird dagegen von Sarnecki unternommen, der die Gewissensfreiheit als das

Recht deutet, eine beliebige Weltanschauung anzunehmen, „die sich auf die Sphäre des Seins

und die Sphäre des Bewusstseins erstreckt, und deren Genese, Entwicklung, gegenseitige

Relationen, und Zweck erklären soll. Damit wird die Annahme eines bestimmten

Wertsystems vorausgesetzt.“160

Der zitierte Autor definiert dabei die Weltanschauung mit

dem Verweis auf die Präambel als „eine Überzeugung in Bezug auf die metaphysische

Struktur und Quelle der Wahrheit, des Guten, der Gerechtigkeit und des Schönen.“161

Das so

156

A. Piekarski, Wolność sumienia i wyznania w Polsce, Warszawa 1979, S. 73. 157

Ebenda, S. 51f. 158

K. Pyclik, Wolność sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej (założenia filozoficzno-prawne), in: B.

Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 438 – 439, Rn. 3;

H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 511. 159

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 17. 160

P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.

3. 161

Ebenda, S.3.

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51

weite Verständnis der Weltanschauung setzt voraus, dass sie auch ethische oder sogar

ästhetische Werte umfasst. Die Religionsfreiheit bildet nach diesem Ansatz eine der

Verwirklichungsformen der Gewissensfreiheit. Sie müsste in der Verfassung überhaupt nicht

erwähnt werden; die Erwähnung und sogar die Hervorhebung der Religionsfreiheit in den

modernen Verfassungen hat lediglich eine historische Bedeutung.162

Sarnecki unterscheidet zwischen dem forum internum und dem forum externum der

besprochenen Freiheiten nicht. Einerseits definiert er die Gewissensfreiheit als Freiheit, eine

Weltanschauung anzunehmen, was nahelegen könnte, dass er ihren Schutzbereich auf die

innerliche Sphäre reduziert, andererseits spricht er von der Religionsfreiheit als eine der

Verwirklichungsformen der Gewissensfreiheit. Aus seiner Interpretation ergibt sich, dass er

die Gewissensfreiheit als einen Oberbegriff deutet, welcher Religions-, Weltanschauungs- und

Bekenntnisfreiheit sowie Gewissensfreiheit im engeren Sinne, d. h. die Freiheit der ethischen

Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umfasst. Ähnliche Interpretationsvariante lässt

sich auch in der Literatur zum ausländischen Verfassungsrecht nachweisen. Z.B. Hesse

vertritt die Auffassung, dass heutzutage Glaubens-, Bekenntnis- und Weltanschauungsfreiheit

als Ausformung des allgemeinen Grundrechts der Gewissensfreiheit erscheint.163

Schwierskott geht von der völligen Emanzipierung der Gewissensfreiheit von ihrem

„Muttergrundrecht“ in der polnischen Verfassung aus: „War ursprünglich die

Gewissensfreiheit in Polen als Religionsfreiheit zu verstehen, so wurde sie jetzt aus diesem

Zusammenhang herausgelöst. Heute erscheint die Freiheit des religiös motivierten Gewissens

als Anwendungsfall einer allgemeinen Überzeugungs- und Gewissensfreiheit.“164

Schwierskott steht dabei unter Einfluss der deutschen Lehre und Rechtsprechung zur

Gewissensfreiheit als selbstständiges Grundrecht und überträgt ihre Errungenschaften auf das

polnische Rechtssystem. Sie nimmt an, dass im polnischen Rechtsystem neben dem forum

internum auch die Betätigungsfreiheit der Gewissensfreiheit geschützt wird.165

In ihrer

Dissertation konzentriert sie sich allerdings auf ihren religiösen Aspekten; die „weltliche“

Facette der Gewissensfreiheit wird dagegen kaum besprochen. Dies wird damit begründet,

dass in Polen vor allem die Glaubensfreiheit in Anspruch genommen wird.166

162

P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.3. 163

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 158. 164

E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.77. 165

Ebenda, S. 77. 166

E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.73.

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Makarska vertritt die Auffassung, dass der Rechtsbegriff „Gewissensfreiheit“ einen breiteren

Umfang als Religionsfreiheit hat. Die Gewissensfreiheit umfasst das Recht, sowohl einen

religiösen Glauben, als auch philosophisch-weltanschauliche Überzeugungen anzunehmen,

die religiös, areligiös oder antireligiös sein können. Sie können analog zur Religion nach

außen manifestiert werden.167

Die Gewissensfreiheit erscheint dabei als ein Oberbegriff, der

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit in sich vereinigt. Zu dieser terminologischen

Klarstellung fügt Makarska die ethische Dimension der Gewissensfreiheit hinzu und setzt den

Schwerpunkt auf den Bildungsprozess der Gewissensentscheidungen: „Die Gewissensfreiheit

ist eine Fähigkeit des Individuums, moralische Entscheidungen aufgrund der erkannten und

anerkannten Werte der Wahrheit und des Guten, einschließlich der religiösen Wahrheit zu

treffen, die ihm Antworten auf seine existenziellen Fragen nach Lebenssinn liefern. Im

Gewissen gelangt der Mensch zur Erkenntnis des moralischen Guten und Bösen. Aufgrund

dieser Erkenntnisse trifft er eine freie moralische Entscheidung und verleiht ihr den Ausdruck

durch sein Verhalten. Die innere Autonomie in der Erlangung der Wahrheit, die

Entscheidung, diese Wahrheit zu bekennen sowie die Freiheit von Zwang seitens der andern

Subjekte wird Gewissensfreiheit genannt.“168

Das weiteste Konzept der Gewissensfreiheit in der polnischen Literatur, wonach sich die

Gewissensfreiheit bei seiner Ausübung „in die Überzeugung verwandelt“169

wird von

Czahora und Banaszak vertreten. Gemäß Czahora bedeutet die Gewissensfreiheit die

Autonomie der freien Wahl. Sie „kommt in der zwangsfreien Bildung und Äußerung der

Gedanken von dem Individuum sowie in ihrer Verwirklichung im Handeln und Haltung zum

Ausdruck. Die Gedankenfreiheit setzt die Bekenntnisfreiheit voraus.“170

Banaszak dagegen

behauptet, dass die Gewissensfreiheit die Autonomie des Einzelnen im Bereich der

philosophischen, axiologischen, moralischen sowie religiösen und politischen Anschauungen

beinhaltet. Dieses Grundrecht ermöglicht dem Einzelnen die individuelle Selbstbestimmung

in Bezug auf seine „eigene intellektuelle Identität.“171

Was die äußere Dimension der

Gewissensfreiheit angeht, scheint der zitierte Autor die möglichst weite Auslegung dieses

167

M. Makarska, Przestępstwa przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997 roku,

Lublin 2005, S. 21. 168

Ebenda, S. 21f. 169

B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,

Toruń 2005, S. 324. 170

A. Czahora, Mechanizmy ochrony wolności sumienia i wyznania w państwach Europy Zachodniej, in:

Dylematy wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 48. 171

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 279, Rn. 1.

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Grundrechts zu befürworten: „In der äußeren Sphäre bedeutet die Gewissensfreiheit, ähnlich

wie die Glaubensfreiheit, nicht nur das Recht, die gewählte Weltanschauung frei zu äußern

(zu vertreten). Der Gewissensfreiheit ist vor allem das Recht zu entnehmen, gemäß seinem

eigenen Gewissen zu handeln und die Freiheit von dem Zwang, gegen sein Gewissen zu

handeln. Von diesem Verständnis der Gewissensfreiheit geht sowohl der Verfassungsgeber (z.

B. Art. 85 Abs. 3 Verf.) als auch der Gesetzgeber (Art. 39 des Gesetztes über den Beruf des

Arztes und des Zahnarztes) sowie der Verfassungsgerichtshof aus.“172

Dieser Auslegungsansatz liefert für die Gewissensfreiheit als Recht auf moralische

Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine solide rechtsdogmatische Fundierung Da

dieses Konzept der Gewissens- und Religionsfreiheit die Gleichstellung der Rechtsposition

der Gläubigen und Nichtgläubigen voraussetzt, trägt es unter dem Gesichtspunkt der Toleranz

und Neutralitätspflicht des Staates den modernen Entwicklungstendenzen der Auslegung der

Gewissensfreiheit am besten Rechnung. Die Religions-, Weltanschauungs- und

Gewissensfreiheit entwickelten sich aus dem Stammgrundrecht der Religionsfreiheit.

Systematisch gesehen stellen die drei Freiheitsrechte den Ausfluss des übergeordneten

Grundrechts der freien Überzeugungsbildung dar. Deshalb wäre es nicht sachgerecht, der

Weltanschauung und dem Gewissen des Individuums einen engeren verfassungsrechtlichen

Schutz als der Religion einzuräumen.173

Auch aus den anderen Regelungen der Verfassung

lässt sich ableiten, dass der Verfassungsgeber die Religion und Weltanschauung prinzipiell

gleichstellen wollte. Art. 25 Abs. 2 Verf. enthält ausdrücklich den Grundsatz der

Unparteilichkeit der staatlichen Gewalten in Fragen der religiösen, weltanschaulichen und

philosophischen Überzeugungen und die Garantie ihrer Äußerung im öffentlichen Leben.

Dem Anliegen, Religion und Weltanschauung gleichzustellen entspricht auch der Wortlaut

des Art. 48 Abs. 1 Verf, wonach den Eltern das Erziehungsrecht ihrer Kinder gemäß ihren

Überzeugungen zusteht. Daher ist nicht notwendig, auf den allgemeinen Gleichheitssatz zu

greifen, was gelegentlich vertreten ist, um die Gleichstellung der nichtreligiösen moralischen

und weltanschaulichen Überzeugungen mit dem religiösen Glauben und Überzeugungen zu

sichern.

172

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 279, Rn. 1. 173

A. Bleckmann, Staatsrecht II, Die Grundrechte, Köln, München 1997, S. 741f., Rn. 8.

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4.6. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der Erfüllung einer

Rechtpflicht in der polnischen Lehre und Rechtsprechung

Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass die Mehrheit der polnischen Autoren der

Gewissensfreiheit keine autonome Bedeutung zugeschrieben hat. Die Gewissensfreiheit wird

vielmehr im begrifflichen und funktionalen Zusammenhang mit Bekenntnis- bzw.

Religionsfreiheit betrachtet. Es verwundert daher nicht, dass an die Frage, ob die

Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung das Verweigerungsrecht enthält, nur

vereinzelt herangegangen wird. Nach einer Ansicht bedeutet die Gewissensfreiheit als eines

der fundamentalen Menschenrechte „das Recht, etwas in Übereinstimmung mit seinem

Gewissen zu tun oder zu unterlassen, ohne den äußeren Drücken zu unterliegen“174

Diese

Ansicht wirkt wegen der isolierten d.h. von der Religionsfreiheit abstrahierten Betrachtung

der Gewissensfreiheit im polnischen Schrifttum original. Der zitierte Autor nimmt aber keine

Stellung zur Frage ein, ob die Gewissensbetätigungsfreiheit das Verweigerungsrecht umfasst

oder ob sie nur im Rahmen des geltenden Rechts ausgeübt werden kann.

Einige Autoren verneinen ausdrücklich die Möglichkeit, das allgemeine Verweigerungsrecht

aus Gewissensgründen aus der Gewissensfreiheit abzuleiten, obwohl sie den Schutzbereich

dieses Rechts weit bestimmen. Godlewski steht zwar auf dem Standpunkt, dass die Freiheit

der weltanschaulichen Überzeugungen zu „einer leeren Floskel“175

würde, wenn sie keine

Ausübungsfreiheit enthielte, die Gewissensfreiheit kann aber nicht so weit reichen, dass sie

das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen schützt. Sie ist lediglich im Rahmen des

geltenden Rechts garantiert und bildet keine Rechtsgrundlage für die Befreiung des Einzelnen

von den geltenden Rechtspflichten.176

Lang argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die

Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen zur Privilegierung einer

Weltanschauung führen würde und deshalb gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht

unabhängig von den Überzeugungen des Einzelnen verstößt.177

Auch unter Geltung der

Verfassung von 1997 wird vertreten, dass das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen

lediglich in Ausnahmesituationen Anwendung findet, nämlich dann, wenn der Gesetzgeber

dem Einzelnen das Recht garantiert, eine durch das Gesetz gebotene oder erlaubte Handlung

174

T. Płoski, Prawo do wolności sumienia i religii w Polsce, in: Prawo kanoniczne, Nr. 3/4, 2003, S. 88. 175

J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 18. 176

J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 27. 177

W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1989, S. 259.

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55

verweigern zu können. In diesem Fall wird der Konflikt zwischen der Gewissensnorm und

dem Recht durch den Gesetzgeber zugunsten des Einzelnen gelöst. Im polnischen

Rechtssystem hat die Gewissensklausel als das Wehrdienstverweigerungsrecht und

Verweigerungsrecht, eine medizinische Leistung zu erbringen, ihre normative Entfaltung

erfahren.178

Für diesen Ansatz ist die Meinung Pietrzaks charakteristisch, der davon ausgeht,

dass der Schutzgegenstand der Gewissens- und Religionsfreiheit das Recht des Einzelnen auf

die Selbstbestimmung in religiös-weltanschaulichen Fragen, sowie das Recht, „gemäß den

Geboten seines Gewissens zu handeln“, umfast.179

Nach diesem Ansatz ist sie vor allem als

Freiheit vom Zwang zu verstehen, was im Grundsatz nemo cogatur, nemo impediatur zum

Ausdruck kommt. Die Ausübung der Gewissens- und Religionsfreiheit kann allerdings nicht

darin bestehen, sich von der Erfüllung der gesetzlichen Pflichten entziehen zu dürfen. Im

Konfliktfall hat vielmehr der Einzelne der gesetzlichen Pflicht Folge zu leisten. Die Regelung

der Wehrdienstverweigerung wird nur als ein „Zugeständnis“ den religiösen Pflichten

gegenüber betrachtet.180

Die weite Interpretation der Gewissensfreiheit, die das Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen zu enthalten scheint, wird dagegen vom Verfassungsgerichtshof vertreten.

In der noch vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 gefällten Entscheidung hat der

Verfassungsgerichtshof die Ansicht geäußert, dass dem Arzt erlaubt ist, sowohl die

Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs als auch die Ausfertigung der Bescheinigung

über die Zulässigkeit der Abtreibung unter Berufung auf das Grundrecht der

Gewissensfreiheit zu verweigern. Die Ableitung des Verweigerungsrechts des Arztes

unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Gewissensfreiheit wird damit

begründet, dass die Gewissensfreiheit „nicht nur das Recht bedeutet, eine bestimmte

Weltanschauung zu vertreten, sondern vor allem das Recht, gemäß seinem Gewissen zu

handeln, sowie die Freiheit von dem Zwang, gegen sein Gewissen zu handeln.“181

Der

Verfassungsgerichtshof argumentiert, dass eine solche Auslegung der Gewissensfreiheit seine

Bestätigung in Art. 18 Abs. 2 IPbpR findet, wonach niemand einem Zwang ausgesetzt werden

darf, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung nach seiner Wahl zu haben

oder anzunehmen, beeinträchtigen würde. Es ist bemerkenswert, dass obwohl der

178

H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 514. 179

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania, in: Res Publica Nowa, Nr. 1, 1998, S. 27; derselbe, Wolność

sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno – Historyczne, 2001, Heft 1,

S. 129. 180

Ebenda, S. 128f. 181

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs: U 8/90 von 15.01.1991; OTK 1991 Nr. 1 poz. 8.

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56

Verfassungsgerichtshof in seiner Definition den Schwerpunkt auf die Freiheit vom Zwang zu

legen scheint, was eine Konsequenz der Berufung auf Art. 18 IPbpR zu betrachten ist,

erwähnt er auch die positive Gewissensfreiheit, d.h. das Recht, gemäß den Diktaten des

eigenen Gewissens handeln zu können.

Im Schrifttum zeichnen sich auch vorsichtige Tendenzen auf, die Einbeziehung des

Verweigerungsrechts in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu erwägen: „Das Streben

nach einer vollen Gewährleistung der Freiheit in religiösen Angelegenheit fordert die

Anerkennung des Rechts, eine gewissenswidrige Handlung zu verweigern.“182

Die allgemeine

verfassungsrechtliche Pflicht, das Recht der Republik Polen zu befolgen, erlegt den Bürgern

keine absolute Befolgungspflicht des durch den Staat beschlossenen Rechts auf. Ihre

Formulierung in der Verfassung schließt etwa das Widerstandsrecht grundsätzlich nicht

aus.183

5. Fazit

Aus der obigen Darstellung der Auslegungsvarianten der Gewissensfreiheit in der polnischen

Lehre ergibt sich, dass die Bemerkung Osuchowskis von 1996, dass der Rechtsbegriff der

Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht einheitlich verstanden wird und in der Lehre weiterer

Klärung bedarf,184

an Aktualität nicht verloren hat. Die Mehrzahl der dargestellten

Lehrmeinungen bietet keine präzise Begriffsbestimmung der Gewissens- und Bekenntnis-

bzw. Religionsfreiheit und konsequenterweise liefert keine scharfe Abgrenzung der den

beiden Begriffselementen entsprechenden Schutzbereiche. Die einzelnen Lehrmeinungen

nehmen vielmehr die Form der Annäherungen oder Beschreibungen an. Dies ist darauf

zurückzuführen, dass Gewissens- und Bekenntnisfreiheit ein überkommenes Begriffspaar ist,

das vielmehr als das unteilbare Ganze besser verstanden ist, als bei der Analyse der Einzelnen

Begriffselemente.185

182

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 104. 183

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 415f., Rn. 2, 3. 184

J. Osuchowski, Prawno – teoretyczne problemy ochrony wolności sumienia i wyznania, in: Dylematy

wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 12. 185

M. Winiarczyk- Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 27.

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57

In dem älteren Schrifttum wird die Gewissensfreiheit entweder mit dem forum internum der

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit oder als eine „weltliche Seite“ der Religionsfreiheit

aufgefasst. Die einzelnen Autoren unternehmen jedoch keinen Versuch, die einzelnen

Betätigungsformen unter die konkreten Begriffselemente zu subsumieren. In der neueren

Lehre überwiegt dagegen die Auffassung, dass Gewissens- und Religionsfreiheit allgemein

die Sphäre der religiös-weltanschaulichen Überzeugungen und ihrer Betätigung schützt. Die

Gewissensfreiheit als das von der Religionsfreiheit verselbstständigte Recht, ethische

Gewissensentscheidung zu treffen und danach sein Verhalten zu gestalten, wird nur selten

erwähnt (Schwierskott, Banaszak). Was das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen

angeht, wird es von einigen Autoren (Godlewski, Pietrzak und Łopatka), welche den Schutz

der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem bejahen, ausdrücklich abgelehnt, während

aus der neusten Kommentierung der Verfassung von Banaszak entnommen werden kann, dass

dieses Recht zumindest nicht ausgeschlossen ist. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen wurde dagegen ausdrücklich durch den Verfassungsgerichtshof anerkannt.

Da die Gewissensfreiheit in Polen bisher nur ansatzweise thematisiert wurde, sind ihre

Konturen noch nicht näher bestimmt. Mit der Säkularisierung der polnischen Gesellschaft ist

allerdings nicht auszuschließen, dass die Religionsfreiheit allmählich zur allgemeinen

Weltanschauungsfreiheit unabhängig von ihrer Provenienz evolvieren wird. Die

Gewissensfreiheit wird dabei einige Funktionen der Religionsfreiheit immer mehr

übernehmen. Die weitesten Auffassungen der Gewissens- und Religionsfreiheit bieten den

Anhaltspunkt für die Annahme, dass Art. 53 Verf. neben den auf die religiösen Fragen

bezogenen Anschauungen auch ethische Positionen schützt. Im Folgenden wird geprüft,

inwieweit sich diese Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der allgemeinen und

spezifisch verfassungsrechtlichen Auslegungsdirektiven bestätigen lässt. Im Gegensatz zur

richterlichen Auslegung, die darin besteht, anhängende Rechtsstreite zu lösen, erfüllt die

Auslegungstätigkeit der Lehre u.a. die Funktion der Erforschung vom Anwendungspotenzial

der Rechtsnormen auch im Hinblick auf diejenigen Sachverhalte, die in absehbarer Zukunft

zu aktuellen Streitfragen werden können. Gerade wegen ihrer Zukunftsorientierung kann sich

die wissenschaftliche Auslegung als besonders fruchtbar erweisen, den Schutzberiech der

Gewissensfreiheit präziser zu bestimmen sowie die Potenzialitäten ihrer Entwicklung im

Rahmen der Regelung in der polnischen Verfassung zu ergründen.

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58

Kapitel II

Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung

1. Allgemeines

Im Schrifttum wird gelegentlich postuliert, dass die Freiheit des Individuums, gemäß seinen

tiefen moralischen und anderen Überzeugungen zu leben, „angenommen werden soll“186

. In

diesem Zusammenhang wird die These aufgestellt, dass die Fokussierung der normativen

Regelungen der polnischen Verfassung auf die Religionsfreiheit eine weite Auslegung ihres

Schutzgegenstandes nicht ausschließt: „Zurzeit soll der Schutz dieser Freiheiten im höheren

Grade gestrebt werden, indem neben dem Aspekt des Glaubens auch der moralische und

intellektuelle Aspekt berücksichtigt wird.“187

Bis dahin wurde jedoch die These von dem so

weiten Schutzbereich des Art. 53 Verf. hinsichtlich ihrer Vertretbarkeit im Lichte der

allgemeinen Auslegungsregeln des Rechts sowie der Auslegungsmethodologie der

Verfassung nicht geprüft. Die folgenden Ausführungen haben zum Zweck festzustellen, ob

die Bestimmungen der polnischen Verfassung dahingehend interpretiert werden können, dass

sie das Recht auf moralische Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umfassen. Da die

Auslegungsresultate von dem angenommenen Verständnis der Auslegung, der Rolle des

Interpreten im Auslegungsprozess und – selbstredend – von den angenommenen

Auslegungsdirektiven und ihrem Vorgang weitgehend determiniert werden, beginnen die

nachstehenden Ausführungen mit der Auseinandersetzung mit dieser Problematik.

2. Verständnisansätze des Auslegungsprozesses

Jeder Akt der Rechtsanwendung setzt eine Auslegung voraus.188

Die Interpretation sichert,

dass das Recht seine Funktion der Regulierung des sozialen Verhaltens erfüllt. Sie ist ein

186

L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne, Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 111. 187

T. Sokołowski, Wolność myśli, sumienia i wyznania dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach

dziecka. Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 261. 188

In der polnischen Lehre wurde eine Ansicht geäußert, die heute als überholt git, dass das Recht gewöhnlich

„unmittelbar” d.h. intuitiv verstanden wird. Erst wenn Zweifel zur Bedeutung des Rechtstextes auftauchen,

kommt das „mittelbare“ Verständnis des Rechts im Wege der Auslegung zum Zuge. Die eventuellen Zweifel

haben einen pragmatischen Charakter, d.h. sein Vorliegen ist mit der Rechtsanwendung in einer bestimmten

Situation verbunden; je nach Kontext kann derselbe Rechtstext hinreichend „klar“ oder „unklar“ betrachtet

werden. Die Rechtsanwendung, insbesondere die gerichtliche, beruht auf dem buchstäblichen Verständnis der

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59

Faktor, der in der Regel das Rechtssystem dynamisiert.189

„Der Rechtstext bekommt

Lebenskraft und wird erläutert, wenn er nach der durchgeführten Auslegung mit der sozialen

Wirklichkeit in Berührung kommt. Ohne die Auslegung versteinert das Recht und wird

ineffizient. Mit der Auslegung erhält sich das Recht am Leben und alles, was das Leben hat,

ändert sich ohne Unterlass. Ohne Auslegung gibt es kein Recht.“190

Mit der Auslegung oder Interpretation des Rechts wird ein gedanklicher Prozess gemeint,

„mittels dem (verbindlich oder unverbindlich) festgestellt wird, welche Handlungsnormen

d.h. die Äußerungen, die besagen, wer, wann und unter welchen Umständen etwas tun oder

unterlassen soll, im gegebenen Rechtstext enthalten worden sind (...)“191

Die Rechtsauslegung

ist somit die Sinnrekonstruierung oder Sinndeutung einer Norm.192

Es handelt sich dabei um

diejenige Sinndeutung, welche die Norm in einem konkreten historisch-sozial bedingten

Moment ihrer Anwendung hat.193

Der Gegenstand der Interpretation ist eine Vorschrift, d.h.

ein Text, welcher mit einer normativen Sinnbedeutung (significación normativa) ausgestattet

ist. Die Normen sind dagegen die für die Vorschriften festgestellten Bedeutungen und

konkreten Verhaltensdirektiven.194

Im Unterschied zur klassischen Konzeption der

Auslegung, wonach lediglich nicht genügend klare Vorschriften zu ihrem Gegenstand werden

sollen,195

ist anzunehmen, dass jede Vorschrift einer Auslegung bedarf,196

wenn auch in

Rechtssprüche clara non sunt interpretanda sowie interpretatio cessat in claris. Siehe Dazu: J. Wróblewski,

Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 58f.

Dem wird entgegengehalten, dass die Bezeichnung einer Vorschrift als „klar“ eine zumindest unbewusste

Auslegung voraussetzt. Das sog. „unmittelbare“ Verständnis des Rechtstextes ist bereits Resultat seiner

Auslegung. Darüber hinaus können die Kriterien des „unmittelbaren“ Rechtsverständnisses veränderlich sein. Es

ist aber noch wichtiger, dass die Erreichung eines „unmittelbaren“ Verständnisses von individuellen Fähigkeiten

des Interpreten abhängt; eine Vorschrift, die für einen Subjekt verständlich ist, kann für einen anderen

Interpreten unklar sein. Die genannten Gründe führen zum Ergebnis, dass die Theorie des „unmittelbaren“

Verständnisses der Rechtsvorschriften nicht angenommen werden kann. Siehe dazu statt vieler: J. Oniszczuk.

Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 30f. 189

J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 151. 190

A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría General del Derecho, Bogota 2001, S. 528. 191

Z. Ziembiński, Teoria prawa, Warszawa – Poznań 1973, S. 95. 192

Statt vieler: S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro

1981, S. 13; J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S.137. 193

S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 29;

E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 129. 194

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 390. In der polnischen Lehre wird

die Unterscheidung zwischen Vorschrift und Norm allgemein anerkannt, was sich in dem Verständnis der

Auslegung wiedrspiegelt. statt vieler: S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań

2003, S. 73; J. Jabłońska - Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 147; J. Krukowski, Wstęp do

nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 137. 195

In der gegenwärtigen polnischen Methodenlehre wird diese Ansicht etwa von Łopatka repräsentiert: A.

Łopatka, Prawoznawstwo, Warszawa – Poznań 2000, S. 209. 196

Statt vieler; S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro

1981, S. 32; P. Bonavides, Curso de Direito Constitucional, São Paulo, S. 398; A. Squella Narducci,

Introducción al derecho, Santiago de Chile 2000, S. 377 ff.; Anders: J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego

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60

einigen Fällen die Rekonstruierung der Norm wegen der sprachlichen Eindeutigkeit der

ausgelegten Vorschrift mittels des „unmittelbaren Verständnisses“ relativ einfach ist.197

In der Methodenlehre wird zwischen drei Verständnisströmungen der Interpretation

unterschieden, die als ein kognitiver, nichtkognitiver und gemischter Ansatz bezeichnet

werden können.

Nach der kognitiven Auffassung ist die Auslegung eine Erkenntnistätigkeit, wobei

vorausgesetzt wird, dass es immer möglich ist, den Sinn des ausgelegten Texts eindeutig

festzustellen. Die Aufgabe des Interpreten besteht somit in der Entdeckung der Bedeutung der

Norm, welche der auszulegenden Vorschrift innewohnt. Seine Behauptungen haben den

Charakter eines Satzes im Sinne der Formallogik, d.h. ihnen kommt die Kategorie „wahr“ und

„falsch“ zu. Jede Rechtsfrage hat nach diesem Konzept eine einzige korrekte Antwort. Diese

Position hat z.B. Dworkin angenommen: „ (...) auch wenn keine festgesetzte Norm den

Rechtsstreit löst, ist möglich, dass eine der Rechtsparteien ihn obsiegt. Die Pflicht des

Richters zu entdecken, welche Rechte den Parteien zustehen, statt neue Rechte rückwirkend

zu finden, bleibt auch in den schwierigen Fällen bestehen. Allerdings muss ich unverzüglich

hinzufügen, dass diese Theorie in keinem seiner Teile behauptet, dass es eine mechanische

Prozedur gibt, um festzustellen, welche Rechte die Streitparteien in den schwierigen Fällen

haben.“198

Gemäß dem nichtkognitiven Ansatz wird die Auslegung als eine Entscheidungstätigkeit

begriffen. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass keine Rechtsfrage eine einzig korrekte

Antwort hat, bevor die richterliche Entscheidung gefällt worden ist. Die Aufgabe des

Interpreten besteht deshalb darin, einer Rechtsnorm ihren Sinn zu geben. Die Behauptungen

des Interpreten orientieren sich somit nicht nach Kategorien „wahr“ und „falsch“ und

deswegen sind keine Sätze im Sinne der Formallogik. Diese Position wird von Guastini wie

folgt verteidigt: „Die interpretatorischen Äußerungen (der Text „T“ bedeutet „B“) sind weder

wahr noch falsch. Diese Äußerungen haben dieselbe tiefe Struktur wie die sog. persuasiven

Definitionen, d.h. diejenigen Definitionen, die den effektiven Gebrauch eines Begriffs nicht

wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 65ff., der das Konzept eines „unmittelbaren

Verständnisses“ der Rechtsvorschriften annimmt und folglich die Notwendigkeit der Interpretation lediglich in

denjenigen Fällen bejaht, wo die auszulegenden Vorschriften nicht genügend klar sind. 197

J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 137f. 198

R. Dworkin, Taking rights seriously, London 1977, S. 146.

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61

beschreiben, sondern vorschlagen, dem Begriff oder der Äußerung eine Bedeutung

zuzuschreiben, die im Verhältnis zu anderen Bedeutungen bevorzugt wird.“199

Der gemischte Ansatz versucht die beiden Positionen zu versöhnen. Danach nimmt die

Auslegung je nach Einzelfall entweder die Form der Sinnfindung, bzw. Sinnentdeckung oder

die Gestalt der Sinndeutung. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die Rechtstexte partiell

unbestimmt sind. Daraus ergibt sich, dass für typische Anwendungsfälle das Recht eine

korrekte Antwort bereitstellt. Für atypische Fälle ist das Recht dagegen nicht genügend

bestimmt, deshalb liefert es keine korrekte Antwort. Der Vertreter dieser Konzeption ist z. B.

Hart: „Ich habe die Rechtstheorie geschildert, die durch zwei Extremen verfolgt wird: den

Alptraum und den noblen Traum; den Gesichtspunkt, dass die Richter immer das Recht, das

sie den Parteien im gerichtlichen Verfahren auferlegen, schaffen und niemals vorfinden,

sowie den gegenteiligen Gesichtspunkt, wonach die Richter niemals Recht schaffen. Meiner

Meinung nach sind die beiden Gesichtspunkte - wie andere Träume und Alpträume -

Illusionen, wenn auch sie die Juristen in ihrer Wachezeit viel zu unterrichten haben. Die

Wahrheit – vielleicht trivial – ist, dass die Richter manchmal das Eine, manchmal das Andere

tun.“200

Das kognitive und nichtkognitive Interpretationskonzept ist wegen seiner Einseitigkeit

abzulehnen. Die beiden Konzeptionen halten nämlich eine Alternative für wahr: der kognitive

Ansatz geht davon aus, dass die Rechtsvorschriften mit Genauigkeit die Totalität des durch

sie geregelten menschlichen Verhaltens normieren, während die nichtkognitive Konzeption

alle Normen auf das individuelle Entscheidungsresultat reduziert. Angesichts dieser

Disjunktion scheint im Allgemeinen der Mittelweg richtig zu sein; die Rechtsvorschriften

erfüllen eine unabweisbare Rolle bei der Rekonstruktion des Rechts, sie bestimmen allerdings

nicht immer präzise das ganze normierte Verhalten. Es gibt daher eine Zone, innerhalb deren

der Interpret nach seiner Verantwortung entscheiden muss, ob der zu lösende Fall durch den

Normtatbestand erfasst ist. Die Interpretation hat somit in bestimmten Fällen einen

kognitiven, informatorischen Charakter, in anderen ist die Auslegung konstitutiv und

entscheidungsabhängig.201

Was dagegen die grundrechtlichen Bestimmungen angeht, ist bei

199

R. Guastini, Le fonti del diritto e l‟interpretatione, Milano 1993, S. 109. 200

H. L. Hart, American Jurisprudence through English Eyes; the Nightmare and the Noble Dream, in: Essays in

Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 144. 201

D. Mendonca, Interpretación y argumentación, in: P. E. Navarro, A. Bouzat, L. M. Esandi, Interpretación

constitucional, Bahia Blanca 1999, S. 12.

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62

ihrer Auslegung dem nichtkognitiven Ansatz der Vorrang einzuräumen. Dies lässt sich mit

ihrer prägnanten Formulierung sowie mit ihrem offenen, erfüllungsbedürftigen Charakter

rechfertigen. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, inwieweit die spezifische Wortfassung der

Grundrechte die Schwerpunktsetzung bei der Wahl der Auslegungsmethoden determiniert.

3. Besonderheit der Grundrechtsvorschriften als Determinante der

Verfassungsauslegung

Die Besonderheit der Verfassungsauslegung ergibt sich aus der Stellung der Verfassung auf

dem Gipfel der Normenpyramide und ihrer Funktion als heteronome Determinante im

Verhältnis zum unterverfassungsrechtlichen Recht sowie aus dem Charakter der einzelnen

Verfassungsnormen. Die Verfassungsnormen, insbesondere die Grundrechtsbestimmungen,

charakterisieren sich mit einer bestimmten Offenheit. Dabei wird zwischen horizontaler und

vertikaler Offenheit unterschieden. Die horizontale Offenheit bedeutet, dass die

Verfassungsvorschriften den fragmentarischen und nichtkompletten Charakter haben. Die

vertikale Offenheit bezieht sich dagegen auf die Unbestimmtheit vieler

Verfassungsregelungen,202

was ihre Konkretisierung unentbehrlich macht.203

Die

Unbestimmtheit einer Norm bedeutet das Mangel an Informationen, die für den

Deutungsgehalt der interpretierten normativen Formulierung notwendig sind, wie z.B. die

Individualisierung der Normadressaten, die Spezifizierung der Umstände, unter denen das

geforderte Verhalten gesollt ist, und ähnliche Daten.204

Außer einigen staatsorganisatorischen Bestimmungen, die einen hohen Grad an Konkretheit

aufweisen, haben die Verfassungsvorschriften den Charakter der „lapidaren

Generalklausel“205

„und Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit

weithin entbehren.“206

Die große Unbestimmtheit der Verfassungsnormen ist auch darauf

202

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 189f.. Die textliche Offenheit wird von einigen

Autoren auf alle Rechtstexte bezogen, z. B. E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 130. 203

K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik

Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 231. 204

D. Mendonca, Interpretación y argumentación, in: P. E. Navarro, A. Bouzat, L. M. Esandi, Interpretación

constitucional, Bahia Blanca 1999, S. 18. 205

E. W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: NJW, 1976, S. 2091. 206

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 115. Nach einer anderen

Ansicht ist die Verfassung nicht durchgehend unbestimmter und vager formuliert als andere Rechtssätze,

deswegen nimmt Verfassungsrecht unter methodologischen Gesichtspunkten keine Sonderstellung ein. Vgl. Ch.

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63

zurückzuführen, dass sie Kompromißformeln darstellen, welche Ausdruck der breiten

gesellschaftlichen Verständigung sind.207

Sie sind Zielbestimmungen, „die nur das – zuweilen

in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität ihrer

Verwirklichung offen lassen; Lapidarformeln, die – oft aus der Verfassungstradition

überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck

findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind und die

Entscheidung vertagen.“208

Daraus ergibt sich, dass um aus den Grundrechten unmittelbar

anwendbare Rechte herleiten zu können, bedürfen sie einer nicht nur explizierenden, sondern

auch einer ausfüllenden, konkretisierenden Interpretation: „Mit der Verfassung ist das

Gerippe oder das Gerüst der verfassungsrechtlichen Gebäude errichtet.(…) Es obliegt den

konstituierten Gewalten, diese Struktur auszufüllen.“209

Trotz ihrer Offenheit sind die Verfassungsnormen, darunter die Grundrechte, ein unmittelbar

anwendbares Recht; gemäß Art. 8 Abs. 2 Verf. sind die Vorschriften der Verfassung

unmittelbar anzuwenden, es sei denn, die Verfassung bestimmt es anders. Gerade in dem

„Auseinanderfallen zwischen Form und Verbindlichkeit“210

der Verfassungsnormen liegen

die Schwierigkeiten ihrer Auslegung.

Die Auseinandersetzung zur Auslegung der Grundrechte in der Lehre zielt zur Beantwortung

der folgenden Grundfragen: ob und inwieweit die Grundrechte des Einzelnen durch die sich

verändernde soziale Wirklichkeit determiniert werden und inwieweit die vorhandenen

grundrechtlichen Bestimmungen mittels der Interpretation an die sich verändernde

Wirklichkeit angepasst werden können.211

Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik

Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 192, 200. 207

P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej – postulaty Kościoła

katolickiego, in: Prawo kanoniczne, Nr. 3/4, 2008, S. 372. 208

E. W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, Bestandsaufnahme und Kritik, in: derselbe:

Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, S. 58. 209

F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294. 210

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 597. 211

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 48.

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64

4. Verfassungsauslegung als Prozess der Normkonkretisierung

Da die Verfassung ein Rechtsakt in der Form eines Gesetzes ist, muss bei ihrer Auslegung

von den klassischen Interpretationsmethoden ausgegangen werden, wenn auch die einzelnen

Auslegungskriterien weder klar sind, noch es einen Maßstab gibt, wonach zu entscheiden

wäre, welcher Methode im Konfliktfall der Vorrang einzuräumen ist.212

Bei der Auslegung

der Verfassung ist allerdings das Spezifikum ihrer Bestimmungen zu berücksichtigen, was zu

Modifikationen der Anwendung von überkommenen Auslegungsmethoden führen kann.213

Die Grundrechtsvorschriften weisen keine „wenn A, dann B“ Struktur auf, wie es bei den

Gesetzesvorschriften der Fall ist, deswegen lässt sich bei strikter Anwendung des

interpretatorischen Kanons kein kategorisches Auslegungsergebnis finden.

Die Konsequenz des offenen Charakters der Verfassungsvorschriften ist das Bedürfnis einer

solchen Auslegung, die im Wesentlichen in Konkretisierung der den hohen Abstraktionsgrad

aufweisenden Verfassungsnormen besteht. Der Rechtanwender hat bei der Interpretation der

Verfassung wenige textliche Kriterien, welche den Auslegungsprozess orientieren könnten.

Bei der Anwendung der Verfassung muss zwar immer ein deutlicher Bezug auf ihren Text

genommen werden, die Verfassungsregelungen stellen aber nur selten dem Rechtsanwender

eine komplette und präzise Antwort auf seine Rechtsfragen bereit. Diese Antwort ist häufig in

den etablierten Präzedenzfällen und in der Rechtsprechungspraxis befindlich.214

Der

Verfassungstext bietet bei der Wahl einer aus vielen rationalen und mit der Verfassung

vereinbaren Auslegungsalternativen lediglich einen „Ausgangspunkt auf der langen Reise der

Argumentation und Erörterung.“215

Die offene Struktur der Verfassungsvorschriften, ihre

synthetische Sprache und abstrakter Charakter verleiht ihnen große Elastizität, was ihre

Anwendung in unterschiedlichen historischen Kontexten ermöglicht. Die normativen

212

B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 52; G. Peces- Barba

Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 581; M. Pavcnik, Interpretation

and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa 2005,

S.180; P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur

Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916; J. Carpizo, H. Fix-Zambudio,

Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento mexicano, in: Instituto de

Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.15. 213

F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,

Madrid 2004, S. 58f.; E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat,

Verfassung, Demokratie, Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S.

115. 214

L. Garlicki, Aksjologiczne podstawy reinterpretacji konstytucji, in: M. Zubik, Dwadzieścia lat transformacji

ustrojowej w Polsce, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 2010, S. 101. 215

M. J. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 16.

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65

Elemente, die nicht deutlich im Verfassungstext ausgedrückt wurden, werden mittels der

Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit bestimmt. Der Inhalt der anzuwendenden Norm wird

durch die Interpretation ergänzt. Die Konkretisierung ist somit mehr Sinngebung als

Sinndeutung. „Sie bezeichnet Verfassungsentfaltung, -ausschöpfung und –anreichung, mithin

das Heranbilden eines aktuellen, problembezogenen Normsinns.“216

Gerade in diesem

Hinblick hat die Verfassungsauslegung einen schöpferischen Charakter.217

„Das Bedürfnis,

angesichts der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten den Umfang der Verfassungsklausel

(…) zu konkretisieren, ist etwas relativ Normales. Dies erlaubt der Verfassungsinterpretation

den evolutionären Rhythmus zu geben.“218

Die überkommenen Auslegungsmethoden haben zum Zweck, den Willen des Gesetzgebers

wiederzugeben. Dabei wird vorausgesetzt, dass dieser Wille in Gestalt von einer

Entscheidung in den auszulegenden Vorschriften niedergeschrieben ist, die hohen Grad an

Konkretheit aufweisen. Gleichwohl fällt der Verfassungsgeber in vielen Fällen absichtlich

derartige konkrete Entscheidungen nicht und überlässt dem Gesetzgeber den

Entscheidungsspielraum.219

Die Abstellung auf das aus der Pandektenlehre in das Staatsrecht

übernommene Willensdogma erweist sich somit als Verschleierung der wirklichen Sachlage.

Für die Fälle, für welche die Verfassung keine eindeutigen Maßstäbe der Problemlösung

enthält, hat der Verfassungsgeber in der Tat keine Entscheidung getroffen, sondern lediglich

„mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung

gegeben.“220

Wenn kein objektiver Wille der Norm, oder subjektiver Wille des Normgebers

vorhanden ist, ist der Zweck der Auslegung, diesen Willen zu rekonstruieren, schon im

Ansatz verfehlt.

216

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 217

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panama 1987, S. 961. 218

E. Camacho, Lecciones de derecho constitucional, Tomo 1, Asunción - Paraguay 2001, S. 108. 219

A. M. García Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1991, S. 327. Die Entscheidungsmacht des Gesetzgebers kann am Beispiel des

Rechts auf Leben verdeutlicht werden. Der Verfassungsgeber regelt absichtlich die Fragen des zeitlichen

Schutzbereiches dieses Rechts nicht; die Entscheidung, ob etwa das Recht auf Leben das Recht auf Sterbehilfe

beinhaltet soll, wurde dem Gesetzgeber überlassen. 220

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 22;

derselbe, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panama 1987, S. 959. Siehe auch: M. Caetano, Direito constitucional, Volume II.

Direito constitucional brasileiro, Rio de Janerio 1978, S. 12; H. Bethge, Aktuelle Probleme der

Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 357.

Page 78: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

66

Jede Rechtsvorschrift ist zwar mit den ihr unterliegenden Zielverfolgungen, Intentionen und

Wertungen des Gesetzgebers verabschiedet, deswegen kann in diesem Zusammenhang von

dem Willen des Gesetzgebers die Rede sein. Wenn aber die Vorschrift in Kraft tritt, entfaltet

sie ihren eigenen von dem Willen des Gesetzgebers immer entfernteren Sinngehalt, indem sie

sich an die verschiedenen und wandelnden sozialen Situationen anpasst, welche von dem

Gesetzgeber nicht vorgesehen wurden. Es ist somit festzuhalten, dass sowohl die

Zielsetzungen und Absichten des Gesetzgebers, als auch Wertungen und Ziele, welche in der

Zeit der Normanwendung vorhanden sind, in die Norm zusammenfließen. Daraus ergibt sich,

dass der Interpret nicht braucht, sich mit dem Willen des historischen Gesetzgebers zu

identifizieren, darf er allerdings nicht, von diesem Willen gänzlich loskommen.221

Da die Verfassung ein Rechtsakt ist, finden bei ihrer Interpretation die üblichen canones der

Auslegung Anwendung. Die allgemeinen, grundsatzartigen Vorschriften der Verfassung und

die Notwendigkeit ihrer Konkretisierung lassen eigentlich für den Interpreten weiteren

Spielraum zu.222

Der Prozess der Verfassungsauslegung besteht aus der Kombination der

klassischen und der ergänzenden, verfassungsspezifischen Auslegungsmethoden.223

Wegen

des „klauselartigen“ Charakters vieler Verfassungsbestimmungen öffnet sich nämlich die

Verfassung – gemäß dem Willen des Verfassungsgebers – in die Richtung der Grundsätze und

Werte, welche außerhalb des geschriebenen Verfassungstextes situiert sind. Diese

außerverfassungsrechtlichen Werte und Grundsätze erfüllen die Aufgabe, die

Verfassungsvorschriften axiologisch zu präzisieren. Allgemeine Rechtsgrundsätze,

universelle Standards der Demokratie, oder Elemente des Verfassungsnaturrechts werden in

das positive Recht „eingesaugt“, weil nur mit deren Hilfe die Bedeutung der geschriebenen

Verfassungsgrundsätze ermittelt werden kann.224

221

A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S.531. 222

Ebenda, S. 583. 223

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 50; G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006,

S.109. 224

L. Garlicki, Normy konstytucyjne relatywnie niezmieniane, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm

konstytucji, Warszawa 1997, S. 153; M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P.

Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 180.

Page 79: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

67

5. Auslegungsergebnis als Zusammenspiel der Rechtsvorschriften, der

Subjektivität des Interpreten und der sozialen Wirklichkeit

Die Aufgabe des Interpreten im Prozess der Auslegung besteht darin, den in der Vorschrift

enthaltenen Sinngehalt objektiv zu erfassen und zu kommunizieren, mag dieser Sinngehalt

verdeckt sein. Mit anderen Worten, der Interpret hat „die Norm über den konkreten

Sachverhalt sprechen zu lassen, für welchen die Norm angewendet werden soll.“225

Es lässt

sich jedoch nicht verkennen, dass die Wiedergabe dessen, was die Norm „wirklich sagt“ ohne

die Vermittlung der Subjektivität des Interpreten nicht realisierbar ist. Der Interpret ist kein

bloßes Rezeptionssubjekt eines normativen Textes, „weil der Text demjenigen nichts sagt, der

nicht fragen kann.“226

Die Partizipation des Interpreten an dem Auslegungsergebnis taucht

bereits mit der Formulierung der Interpretationsfrage auf. Die Interpretation ist kein

Rezipieren des absolut objektiven Sinnes einer Norm; im Wege der Auslegung wird vielmehr

der Norm ein aus dem komplexen System der Bedeutungen entnommener Sinngehalt gegeben

oder zugeschrieben. Das gesetzte Recht hat somit keinen objektiven Sinn, sondern nur

denjenigen, welcher von dem Interpreten attribuiert wird.227

Bereits aus diesem Grund ist die

Meinung nicht haltbar, wonach die Auslegung „zu einem einzigen und eindeutigen

Festlegung des Vorschriftinhalts führen muss.“228

Die Antinomie zwischen der Subjektivität

des Verständnisses und der Objektivität des normativen Sinngehalts wird durch die

Auslegungsmethoden gelöst.

Die Auslegung wird weiterhin im Verhältnis zu den konkreten sozialen Tatsachen

vorgenommen, in Bezug auf welche die Norm Anwendung finden sollte. Der Sinngehalt der

Norm wird somit nicht in abstracto, sondern in Bezug auf den konkreten Sachverhalt

ermittelt.229

„Der reale Kontext der Fälle gewinnt eine große Bedeutung bei der Festlegung

des Umfangs einer Charta der Grundrechte. Ansonsten würden die Probleme konzeptuell fast

nichthandhabbar und so abstrakt, dass es unmöglich wäre, sie in eine überzeugende Weise zu

lösen.“230

Die Normanwendung und Norminterpretation bilden somit einen einheitlichen

Prozess; die Normanwendung kann nicht als eine nachträgliche Anwendung vom etwas

225

A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 529. 226

Ebenda, S. 529. 227

Ebenda, S. 514. 228

A. Łopatka, Prawoznawstwo, Warszawa – Poznań 2000, S. 202. 229

A. Torres Vasquez, Introducción al. Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 511. 230

M. H. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 16.

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68

Gegebenen oder Allgemeinen, das zunächst unabhängig von einem Sachverhalt verstanden

wird.231

Die Einbeziehung der außertextlichen Kontexte in den Prozess der Auslegung wird auch von

dem Verfassungsgerichtshof für notwendig gehalten. Der Verfassungsgerichtshof

argumentiert zwar, dass die Auslegung keine Rechtsfortbildung ist, „sondern bildet die

Festlegung des korrekten Verständnisses des in den Rechtvorschriften ausgedrückten Inhalts

der Normen in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und bei der

Anwendung der in der Kultur des demokratischen Rechtsstaates angenommenen

Interpretationsregeln. Der Verfassungsgerichtshof, wie auch die anderen Gerichte,

berücksichtigt aber bei der Interpretation der Vorschriften ihren Sprachkontext, ihren

Systemkontext, den sozialen Kontext, den axiologischen Kontext und den Zweck der

Vorschriften.“232

Daraus ergibt sich, dass der Verfassungsgerichtshof das geltende Recht mit

dem Wortlaut der Rechtsvorschriften nicht gleichstellt. Das Recht gewinnt vielmehr den Sinn

nur durch seine Bezugnahme auf bestimmte Kontexte.233

Um die Frage, was das geltende

Recht ausmacht, beantworten zu können, müssen verschiedene Faktoren in Betracht gezogen

werden. Zum einen gehören dazu die von dem Verfassungsgerichtshof aufgezählten Kontexte,

in denen die Rechtsnormen funktionieren, zum anderen gehören dazu die in der Rechtskultur

anerkannten Auslegungsgrundsätze, die darüber entscheiden, inwieweit die Elemente der

einzelnen Kontexte bei der Normrekonstruierung zu berücksichtigen sind.

Der Zusammenhang zwischen der ausgelegten Vorschriften, der Person des Interpreten und

der sozialen Wirklichkeit wird insbesondere in der hermeneutischen Tradition mit der

Metapher des hermeneutischen Zirkels hervorgehoben Danach ist die Interpretation immer

konkret; sie wird nämlich dazu unternommen, ein bestimmtes Problem zu lösen.234

Der zu

interpretierende Rechtstext wird im Lichte des (auch hypothetischen) Sachverhalts betrachtet.

Der Sachverhalt wird dagegen aus der Perspektive des Rechtstextes wahrgenommen. Daraus

231

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 24f. 232

Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 7. März 1995, W 9/94, OTK 1995 Nr. 1, poz. 20. 233

T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,

współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 79. 234

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 27ff. Es wird dabei unterschieden zwischen Hermeneutik, die als Disziplin, deren

Gegenstand das Studium und Systematisierung der Grundsätze und Methoden der Interpretation ist, und der

Interpretation, die als praktische Anwendung der durch Hermeneutik herausgearbeiteten Regeln zu begreifen ist.

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69

ergibt sich, dass die Auslegung eine ständige Änderung der Perspektive voraussetzt.235

Diese

Erwägung bezieht sich sowohl auf die richterliche, als auch auf die wissenschaftliche

Auslegung, weil das Bedürfnis der Interpretation lediglich in Bezug auf konkrete oder

hypothetische Sachverhalte entsteht.236

Je abstrakter und genereller eine Rechtsvorschrift ist,

desto dringlicher ist die Notwendigkeit, diese Vorschrift „zu verarbeiten und zu erneuern“237

,

um sie auf den konkreten Sachverhalt anwenden zu können. Die Verfassungsinterpretation ist

somit Konkretisierung.238

Sie lässt sich nicht vom historisch bedingten Vorverständnis des

Interpreten und dem Kontext ablösen, in dem die Interpretation vorgenommen wird. Der

Interpret geht nämlich an die Norm von einem bestimmten Vorverständnis heran. Dieses

Vorverständnis macht ihm möglich, „mit gewissen Erwartungen auf die Norm zu sehen, sich

einen Sinn des Ganzen vorauszuwerfen und zu einem Vorentwurf zu gelangen, der dann im

tieferen Eindringen der Bewährung, Korrektur und Revision bedarf, bis sich als Ergebnis

ständiger Annäherung der jeweils revidierten Entwürfe an die ‚Sache„ die Einheit des Sinnes

eindeutig festlegt.“239

Da jedem Verstehen die Vor – Urteilhaftigkeit innewohnt, ist das

Vorverständnis des Interpreten zu begründen, um sich vor Willkür der Interpretation

abzuschirmen. Die Aufgabe der Begründung des Vorverständnisses erfüllt vor allem eine

Verfassungstheorie, die ihrerseits nicht beliebig ist, sondern aus der konkreten

Verfassungsordnung gewonnen wird und durch die Rechtsprechung bestätigt und korrigiert

wird.

6. Pluralität der vertretbaren Auslegungsergebnisse

Die Rechtsnormen charakterisieren sich mit einer beabsichtigten Unbestimmtheit (d.h.

derjenigen, die sich aus ihrer Generalität naturgemäß ergibt) und einer unbeabsichtigten

Unbestimmtheit (z.B. Mehrdeutigkeit eines Wortes, Diskrepanz zwischen Wortlaut und

Zweck einer Norm, Widerspruch zwischen zwei Normen, die gleichzeitig Geltung

beanspruchen). Daraus ergibt sich, dass das anzuwendende Recht nur einen Rahmen bildet,

innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten seiner Anwendung gegeben sind. Eine

235

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panama 1987, S. 962. 236

T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,

współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 83. 237

A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 529. 238

M. H. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 15; G.

Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 586; C. Gomes, J.

Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 201. 239

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 24.

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70

Interpretationsvariante ist rechtsmäßig, soweit sie sich in den durch den Rechtsakt

abgesteckten Rahmen hält, „den Rahmen in irgendeinen möglichen Sinn ausfüllt.“240

Die

Aufgabe der Interpretation ist somit alle möglichen Sinndeutungen einer Rechtsvorschrift zu

ermitteln. Alle Auslegungsvarianten, die sich in den durch den normativen Akt bestimmten

Rahmen halten, sind im Hinblick auf die Rechtsanwendung gleichwertig. Es wäre nicht

richtig, von dem Interpreten die einzig richtige Entscheidung zu fordern.241

Kelsen wirft mit Recht der traditionellen Methodenlehre vor, dass sie den Vorgang der

Interpretation so schildert, als ob es sich nur um einen intellektuellen Akt des Klärens oder

Verstehens handelte. Gleichwohl aktiviert der Interpret im Prozess der Auslegung außer dem

Verstand auch seinen Willen. Es gibt nämlich kein Kriterium, wonach die Richtigkeit einer

unter vielen anderen Auslegungsalternativen festgestellt werden könnte. Entscheidend ist in

dieser Hinsicht die rational begründete Präferenz des Interpreten. Der Konflikt zwischen den

Willen des Normgebers und dessen Ausdruck bleibt durch die Methodenlehre ungelöst. Alle

bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu

dem einzig richtigen Resultat. „Sich unter Vernachlässigung des Wortlautes an den

mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu halten, oder den Wortlaut streng zu beobachten

und sich dabei um den – meist problematischen – Willen des Gesetzgebers nicht zu kümmern,

ist – positivrechtlich – durchaus gleichwertig.“242

Die Frage nach Richtigkeit einer

Auslegungsalternative hat somit keinen rechtstheoretischen, sondern rechtspolitischen

Charakter. Auch der insbesondere bei der Einschränkung der Grundrechte zur Anwendung

kommende Grundsatz der Interessensabwägung stellt lediglich die Formulierung des

Problems und nicht seine Lösung dar. Er liefert nämlich keinen objektiven Maßstab, wonach

die entgegensetzten Interessen verglichen und abgewogen werden könnten; die anzuwendende

Norm oder System von Normen enthält keine Rangbestimmung der ins Spiel kommenden

Interessen, sondern überlässt die Entscheidung dem Richter.

Aus diesen Erwägungen bleibt festzuhalten, dass sich im Prozess der Rechtsanwendung die

erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechts mit dem Willensakt verbindet.

Durch den Willensakt trifft das rechtsanwendende Organ eine Wahl „zwischen den durch die

240

H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 348. 241

Ebenda, S. 349f.; siehe auch: A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 389f. 242

H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 350.

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71

erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“243

Was dagegen die

rechtswissenschaftliche Interpretation angeht, postuliert Kelsen, dass ihre Aufgabe in

Aufzeigung aller Bedeutungsmöglichkeiten einer vieldeutigen Norm besteht. Ein Gelehrter

würde eine rechtspolitische und nicht wissenschaftliche Funktion erfüllen, wenn er eine

bestimmte Lösung als einzig „richtige“ ausgäbe, ohne auf die anderen Auslegungsalternativen

hinzuweisen, wenn auch sie politisch unerwünscht wären.244

Es muss somit niemals außer

Acht gelassen werden, dass der Interpret außer der Festlegung der möglichen

Auslegungsvarianten eine Entscheidung trifft und wählt eine „richtige“ Lösung. Die

Entscheidung zwischen den vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten hat allerdings politischen,

nicht rechtlichen Charakter.245

Dies wird besonders deutlich bei der Abwägung der

kollidierenden Interessen.246

Die Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses kann zum einen als Minimalkorrektheit

verstanden werden, d.h. eine Auslegungsvariante wird isoliert von anderen

Interpretationsalternativen hinsichtlich ihrer Vertretbarkeit geprüft. Zum anderen kann die

Richtigkeit als Maximalkorrektheit also als ein Vergleichsergebnis aller möglichen

Auslegungsoptionen betrachtet werden. Die Idee der absolut richtigen

Auslegungsentscheidung kann allerdings auf der Ebene der Rechtsanwendung in praxi nicht

völlig aufgegeben werden. Der Rechtsanwender hat doch die vertretene

Auslegungsentscheidung als „die richtigste“ zu begründen, also ihre Maximalkorrektheit zu

beweisen.247

Die Richtigkeit der Auslegung mißt sich anhand der in der Verfassung

verankerten Werte wie Rechtssicherheit, Prinzip der Gewaltenteilung, Gebundenheit des

Richters an das Gesetz, Schutz der Grundrechte etc. Die Konstitutionalisierung der Auslegung

hat zur Folge, dass ihre methodologische Richtigkeit als Vereinbarkeit mit den

Verfassungswerten angesehen werden kann.248

Die Richtigkeitsmaßstäbe einer Auslegungsentscheidung können lediglich in ihrer

Begründung gefunden werden. Die Unterscheidung zwischen dem Kontext der Entdeckung

(der auch Ergebnis eines Zufalls oder eines intuitiven Gefühls sein kann und deshalb

243

H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 351. 244

Ebenda, S. 353. 245

J. Araujo Renteria, Teoría de la Constitución, Santafe de Bogota 1996, S. 66. 246

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 228. 247

T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków

2006, S. 33. 248

Ebenda, S.33f.

Page 84: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

72

wissenschaftlich nicht verifizierbar ist) und dem wissenschaftlich kontrollierbaren Kontext

der Begründung hat große Resonanz in der Rechtstheorie gefunden. Dort ist nämlich von dem

Übergang in der Rechtstheorie von der Auslegungslehre zur Begründungslehre die Rede. Die

Begründungslehre fragt nicht nach Determinanten einer Auslegungsentscheidung, sondern

nach Richtigkeit der Argumente, auf welchen die Auslegungsentscheidung beruft.249

Das

Abkommen von der Idee einer einzig richtigen Auslegungsentscheidung hat zur Folge, dass in

der Methodenlehre der Schwerpunkt auf die Festlegung der Grenzen der Richtigkeit der

interpretatorischen Tätigkeit gelegt wird. Es ist nämlich zu prüfen, ob sich eine tatsächlich

getroffene interpretatorische Entscheidung in dem methodologischen Rahmen hält.250

Die Auslegung als kognitiver Prozess der Sinngebung besteht somit aus Erwägung der

möglichen Verhaltensalternativen und aus dem Wahlurteil zwischen den in Frage kommenden

Optionen.251

Im Fall der divergierenden Auslegungsvarianten hat der Interpret diejenige zu

wählen, die im höchsten Grade überzeugend ist, d.h. dasjenige Ergebnis, für welches die

Mehrzahl der Argumente (in qualitativer und quantitativer Hinsicht) spricht und welches

zugleich mit dem Ziel des Rechtsaktes vereinbar ist.252

Was die Verfassungsinterpretation

angeht, besteht ihre Aufgabe darin, ein verfassungsrechtlich „korrektes“ Ergebnis mittels

eines rationalen und kontrollierbaren Verfahrens zu finden und dieses Ergebnis auch in einer

rationalen und kontrollierbaren Art und Weise zu begründen und damit Rechtssicherheit und

Rechtsvorhersehbarkeit zu schaffen.253

Die Notwendigkeit, dass sich der Interpret für eine

Auslegungsalternative entscheidet, kann auch damit gerechtfertigt werden, dass die

Auslegung nicht zwecklos durchgeführt wird. Die interpretatorische Tätigkeit verfolgt

vielmehr das Ziel, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen.254

249

T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków

2006, S. 23ff. 250

Ebenda, S.33. 251

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 31f. 252

M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S.180. 253

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panama 1987, S. 963. 254

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 391.

Page 85: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

73

7. Beschränkte Begründbarkeit der Auslegungsentscheidung

Im Allgemeinen kann der Auslegungsprozess als eine Sequenz der intellektuellen Tätigkeiten

aufgefasst werden, der sich mit der Verflechtung der kognitiven und bewertenden Elemente

charakterisiert.255

Die wertende Komponente ist insbesondere beträchtlich im Fall der

Verfassungsauslegung, deshalb wurde sie wegen ihrer Natur als wertende Interpretation

(interpretación valorativa) bezeichnet.256

Dies bedeutet, dass die Interpretation die

Evaluierung der vorhandenen Auslegungsoptionen voraussetzt. Die Wertungen werden

allerdings nicht nach freiem Ermessen des Interpreten durchgeführt, sondern müssen sich im

Rahmen der im Text der Verfassung objektivierten Werte halten. „Es bleibt dabei, dass das

Höchstmaß an rationaler Rechtsfindung nur mittels einer rationalen Begründung der

Ergebnisse erreicht werden kann, nicht aber durch Verabsolutierung irgendwelcher Theorien

oder Methoden.“257

Die Sicherheit über die gefundene Norm soll sich aus dem Konsens über Solidität der

angebrachten Argumente ergeben, die aus der Abwägung der in der Verfassung proklamierten

Werte hervorgeht.258

Ossenbühl argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Wahl der in

dem konkreten Einzelfall anzuwendenden Auslegungsmethode dem „Begründungszwang“

unterliegt.259

Gomez Canotilho weist darauf hin, dass die Aufgabe des Verfassungsinterpreten

darin besteht, ein verfassungsrechtlich gerechtes Ergebnis mittels der rationalen und

kontrollierbaren Methoden zu finden und zu begründen.260

Dabei geht es nicht um eine

absolute Rationalität, sondern um eine relative Richtigkeit der Ergebnisse, die die

Begrenztheit ihres Anspruches eingesteht, die allerdings in dieser Begrenztheit einsichtig,

überzeugend und wenigstens zu einem gewissen Grad voraussehbar ist. „Der

Begründungseffekt einer Interpretation ist grundsätzlich Resultat der kumulativen Würdigung

der Argumente pro und contra, also die Einschätzung, ob bessere (stärkere) Argumente

vorhanden sind, welche für die Annahme oder Verwerfung einer Auslegungsentscheidung

255

J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 26. 256

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 401f. 257

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 619. 258

J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del

Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 96. 259

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 600, 629. 260

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 209.

Page 86: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

74

sprechen.“261

Dieser Konsens ist im Laufe der Zeit veränderungsfähig, was zu einem anderen

Resultat der Auslegung führen kann.262

Wenn eine der Auslegungsvarianten zu den vom Interpreten für „begehrenswert“263

gehaltenen Konsequenzen führt, kann dies als ausschlaggebendes Argument für die Annahme

gerade dieser Auslegungsalternative gelten.264

Die topische Vorgehensweise, die einerseits an

das zu lösende Problem gebunden ist, andererseits durch die Verfassungsnormen orientiert ist,

hat dabei die größte Möglichkeit, solide, rational begründbare und kontrollierbare Resultate

herzustellen. Es ist allerdings sicher, dass eine interpretatorische Entscheidung, insbesondere

im Bereich des Verfassungsrechts nicht total rationalisiert werden kann. Es handelt sich

vielmehr um die Rationalisierung im Rahmen des Möglichen. Die absolute Begründbarkeit

der interpretatorischen Ergebnisse wie in der Naturwissenschaften ist eine Fiktion, hinter der

die wirklichen Motive der Entscheidung verborgen werden. Wenn die absolute Korrektheit

einer interpretatorischen Entscheidung nicht nachweisbar ist, strebt der Interpret nach

Erreichung der relativen Korrektheit, die nicht nur ein Quantum der juristischen Ehrlichkeit,

sondern auch die bestimmte Vorhersehbarkeit und die beschränkte Rechtssicherheit erreichen

lässt.265

8. Verfassungsauslegung als Rekonstruierung der „politischen Formel“

Aus der rechtlich–politischen Perspektive soll die Verfassungsauslegung der Tatsache gerecht

werden, dass die Verfassung den Charakter des „rechtlichen Statuts des Politischen“266

(estatuto jurídico do político) hat. Ihre Normen sind dazu bestimmt, den Regierungsapparat

für das Volk zu konstruieren, die Kompetenzbereiche und gegenseitige Beziehungen

zwischen den einzelnen Gewalten festzulegen, sowie ihre Beziehungen zu den Bürgern und

ihrer Gruppen zu gestalten. Darüber hinaus stellt die Verfassung ein Depositum dar, in

welchem die durch das Gemeinwesen geteilten Werte, Ideale und Symbole hinterlegt und

geschützt sind. Deshalb bildet die Verfassung eine Widerspiegelung dieses Gemeinwesens

261

L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 139f. 262

F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,

Madrid 2004, S. 64f. 263

W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 444. 264

J. Nowacki, Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 225; C. Gomes, J. Jose, Direito

Constitucional, Coimbra 1993, S. 227. 265

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panamá 1987, S. 966. 266

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 209.

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75

und ein wesentliches Element seines Selbstbewusstseins. Sie spielt bei der Gestaltung der

nationalen, kulturellen und axiologischen Identität des Volkes eine grundlegende Rolle.267

Die

Verfassung ist ein „Entwurf oder Modell der nach einer bestimmten sozioökonomischen

Struktur und im Einklang mit den gestrebten Zielen politisch organisierten Gesellschaft.“268

Es ist deshalb unabdingbar, diese Struktur und Ziele bei der Bemühungen, den Sinn den

Verfassungsnormen zu geben, in Betracht zu ziehen.269

Mit anderen Worten: jede Verfassung

enthält die sog. „politische Formel.“270

Der Verfassung liegt eine bestimmte „treibende

politische Idee zugrunde, welche die politische Organisation und soziale Strukturierung

bestimmt.“271

Damit wird eine normierte ideologische Äußerung (expresión ideológica)

gemeint, wonach das politische Zusammenleben in einer gesellschaftlichen Struktur

organisiert wird. Das in der Verfassung entworfene politische und soziale System stellt ihr

„geistiges Substrat“272

dar. Die Aufgabe des Interpreten besteht in Herausarbeitung dieser

politischen Formel, die ihrerseits die Schranke der Auslegung darstellt.273

Gerade das Vorhandensein einer politischen Formel in der Verfassung macht ihre Auslegung

besonders schwierig und anfällig für die Ideologisierung; es handelt sich nämlich nicht um

partikuläre Interessen, wie es etwa im Privatrecht der Fall ist, sondern um einen durch die

Verfassungsnormen festgesetzten Rahmen, in dem eine bestimmte politische Formel in die

gesellschaftliche Struktur übertragen wird.274

Ein spezifisch verfassungsrechtliches Prinzip

der Auslegung ist der Grundsatz der Achtung der durch die Verfassung verankerten

politischen Ordnung. Danach soll diejenige Auslegungsvariante gewählt werden, welche die

in der Verfassung für das Gemeinwesen konstituierte politische Ordnung verstärkt. Gerade

durch die Auslegung erwirbt die politische Formel ihre volle Vitalität.275

Es besteht daher ein

Sachzusammenhang zwischen der Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen und

267

Z. Stawrowski, Aksjologia i duch konstytucji III. Rzeczypospolitej, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 4(81), 2003, S.

49. 268

M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 269

Ebenda, S. 11. 270

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 328. 271

G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1., Buenos Aires 2006, S. 108. 272

M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 273

L. A. Huerta Guerrero, Jurisprudencia constitucional e interpretación de los derechos fundamentales, in:

Comisión Andina de Juristas, Derechos fundamentales e interpretación constitucional (ensayos – jurisprudencia),

Lima 1997, S. 25. 274

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 328. 275

F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 299.

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76

den in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten Staatsauffassung sowie mit den

Verfassungswerten wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit.276

Es ist unbestreitbar, dass der Interpret der Verfassung in der Regel die überkommenen

Auslegungsmethoden anzuwenden hat. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass „die

interpretatorische Arbeit wegen des fundamentalen Charakters der Verfassung und ihres

abstrakten Gehalts durch die politische Komponente in einer besonderen Art und Weise

belastet wird.“277

Dies beeinflusst das Auslegungsresultat dahingehend, dass dem Recht

derjenige Sinn gegeben werden soll, der von dem Gemeinwesen akzeptiert werden kann, für

das das Recht bestimmt ist.278

9. Die schöpferische Rolle des Interpreten bei der Auslegung der

Verfassung

Das Auslegungsresultat ist ein Produkt der Interaktion zwischen dem Text und dem

Interpreten, deswegen enthält es sowohl objektive als auch subjektive Elemente und zwar in

verschiedenen Proportionen. Das objektive Moment zeichnet die Parameter für die

interpretatorische Handlung vor und erlaubt die Richtigkeit der interpretatorischen

Entscheidung im Lichte der exegetischen Möglichkeiten des Textes und der

Interpretationsdirektiven zu begründen. Dagegen tritt das subjektive Moment in Gestalt der

Sensibilität des Interpreten in die Erscheinung, der die Norm humanisiert, um sie an die

soziale Wirklichkeit anzuwenden. Das subjektive Element kommt mit dem Streben des

Interpreten nach einer gerechten Lösung innerhalb der Alternativen, welche ihm die

Rechtsordnung bietet.279

Wegen des offenen Charakters der Verfassungsnormen bieten sich für den Interpreten ein

relativ weiter Spielraum und zahlreiche potenziell verwertbare Auslegungsoptionen.280

Je

276

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 200. 277

J. Vallejo Mejia, Lecciones de Teoría Constitucional, Madellin 2000, S. 135. 278

G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 578. 279

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 89. 280

J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del

Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 94.

Page 89: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

77

abstrakter eine Norm formuliert ist, desto weiter ist der Spielraum des Interpreten.281

Der

Prozess der Normenverdichtung im Wege der Verfassungsinterpretation hat deshalb einen

schöpferischen Charakter. Er kann ohne die von dem Interpreten und Rechtsanwender

eingeführten autonomen Determinanten nicht existieren. Der Interpretationsprozess weist eine

wertende Dimension auf und ist nicht von den ideologischen Optionen frei.282

Dies gilt

besonders für die Auslegung der Grundrechte, deren Sinngehalt und Tragweite in der Regel

nur aus einem „Stichwort“ zu ermitteln ist.283

Wróblewski akzentuiert den subjektiven Moment im Auslegungsprozess, indem er darauf

hinweist, dass die Auslegung mit einer Reihe von Wertungen und Wahlalternativen

verbunden ist. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff „Ideologie der

Rechtsinterpretation“ ein, den er als Gesamtheit aller Werte und Auslegungsdirektiven

versteht. Das Treffen der interpretatorischen Entscheidungen setzt die Annahme bestimmter

Werte voraus. Die von dem Interpreten angenommenen Werte beeinflussen sowohl die Wahl

der konkreten Interpretationsdirektiven wie auch ihre Anwendungsart. In einem Konfliktfall

zwischen verschiedenen Auslegungsergebnissen sind sie bei der Begründung einer

Wahlalternative heranzuziehen.284

Kelsen dagegen argumentiert, dass es zwischen dem

Gesetzgeber, welcher an die Verfassung gebunden ist, und dem Richter, der im Rahmen der

generellen und abstrakten Norm einen individuellen Rechtsakt gewinnt, keinen qualitativen,

sondern lediglich einen quantitativen Unterschied gibt. Wenn auch in materieller Hinsicht die

Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung viel geringer ist als die Bindung des Richters an

das Gesetz, ändert dies daran nicht, dass beide Subjekte Rechtschöpfer sind. Gerade deswegen

ist die Rechtsauslegung eine Willensfunktion.285

Das subjektive Element bedeutet zum einen die fallbezogene Schwerpunktsetzung durch die

Gerichte und den Verfassungsgerichtshof auf die einzelnen Auslegungsmethoden, zum

281

J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento

jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.

23. 282

G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 571, 578. 283

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 210; F. Zúñiga Urbina, Tendencias

contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez,

Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294; M. Hilti, Die

Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 284

J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 75. 285

H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 351.

Page 90: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

78

anderen keine festgesetzte Rangfolge der einzelnen Auslegungskriterien.286

Es wird sogar

vertreten, dass es sich bei der Auslegung weniger um eine wissenschaftlich exakte Methode

als vielmehr um eine Kunstfertigkeit handelt, die sorgfältig die relevanten Gesichtspunkte in

der Lebenswirklichkeit und in den vorgegebenen Normmaterial „aufspürt, würdigt,

gegeneinander abwägt und in sinnvolle Beziehung setzt.“287

Die einzelnen

Auslegungsdirektiven haben keinen zwingenden Charakter. Da sie Ausnahmen von ihrer

Anwendung zulassen, können sie als Vermutungen aufgefasst werden. Die wichtigste

Funktion der Mehrzahl der Interpretationsdirektiven besteht darin, dass sie lediglich stärkere

oder schwächere Argumente dafür liefern, dass die ausgelegte Rechtsnorm eine bestimmte

Sinnbedeutung hat. Es kommt äußert selten vor, dass eine Auslegungsdirektive isoliert

genommen als endgültiges und zwingendes Argument für oder gegen eine interpretatorische

Entscheidung betrachtet werden kann. Wegen dieser Eigenschaft der Interpretationsdirektiven

ist zu konstatieren, dass sie keine absolut bindende Gebote, sondern nur Richtlinien oder

„gute Gründe“288

, „Ratschläge“289

für die Annahme einer Auslegungsalternative bilden.290

Die

Auslegungsdirektiven geben dem Interpreten einen relativ weiten Ermessensspielraum, auf

der Suche nach der Lösung, die er als zufriedenstellend betrachtet.291

Eine Interpretationsentscheidung nimmt nur selten die Form des interpretatorischen

Syllogismus an. Sie ist vielmehr Resultat der kumulativen Würdigung aller in Frage

kommenden Argumente pro und contra.292

Die argumentative Begründung einer

Interpretationsentscheidung, d.h. die Auseinandersetzung nicht nur mit

Auslegungsargumenten, welche das Gericht annimmt, sondern auch mit denjenigen, welche

verworfen werden, bürgert sich stufenweise in der liberal-demokratischen Staaten ein. Die

Anbringung der ins Spiel kommenden Argumente wird im Wege einer topischen Tätigkeit

bewerkstelligt, die ihrerseits durch Verfassungsnormen orientiert und eingeschränkt ist. Die

einzelnen topoi (Gesichtspunkte, Argumentationskomplexe) werden mittels der sog. inventio

(Herausfinden) zur Analyse pro und contra bereitgestellt, um die Entscheidung möglichst

überzeugend zu begründen. Die Auswahl der Gesichtspunkte steht jedoch keinesfalls zum

freien Ermessen des Interpreten. Einerseits hat er diejenigen topoi zu benutzen, die mit dem

286

T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,

współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 82. 287

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 68. 288

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 56f. 289

Ebenda, S. 62. 290

Ebenda, S. 57. 291

Ebenda, S. 62. 292

Ebenda, S. 58.

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79

zu lösenden Problem verbunden sind. Zum anderen ist er verpflichtet, diejenigen Elemente

der Konkretisierung der Norm einzuschließen, die ihm die Verfassungsnorm vorgibt, sowie

die in der Verfassung enthaltenen Richtlinien bezüglich der Anwendung, Koordinierung und

Wertung dieser Elemente im Prozess der Problemlösung zu berücksichtigen.293

Nogueira Alcala bemerkt, dass weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung eine

Theorie zu finden ist, welche bei der Verfassungsauslegung ein bestimmtes methodologisches

Verfahren zwingend vorschreibt.294

Die verschiedenen Auslegungsmethoden ergänzen sich

einander gemäß dem Gewicht, das ihnen von dem Interpreten nach Maßgabe seiner

philosophischen Anschauungen über das Recht beigelegt wird.295

In diesem Zusammenhang

wird von dem „vielbeklagten Methodenpluralismus“296

gesprochen. In der gerichtlichen

Praxis werden die einzelnen Auslegungsmethoden wahlweise oder kombiniert angewendet;

ihre Anwendbarkeit hängt von dem jeweils zu entscheidenden Einzelfall ab.297

„Die Auswahl

der Auslegungsargumente, die ihrerseits das Auslegungsergebnis präjudiziert, oder

präjudizieren kann, wird in die Hände des Interpreten gelegt und der Auslegungsvorgang

wieder subjektiviert.“298

10. Die Reihenfolge der einzelnen Interpretationsmethoden

Die Rechtspraxis des westlichen Kulturkreises (sowohl in den Rechtssystemen des civil law

als auch in denjenigen des common law) geht von dem Grundsatz des Vorrangs der

Auslegung nach Wortlaut und der Subsidiarität anderer Auslegungsmethoden aus.299

Nach

dem modernen Verständnis des Grundsatzes clara non sunt interpretanda ist nicht erlaubt,

außersprachliche Auslegungsdirektiven anzuwenden, wenn der Wortlaut des Rechtstextes klar

293

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panamá 1987, S. 963. 294

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 58. 295

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 515; J. Jabłońska-

Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 150. 296

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 600. 297 M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 78; E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation,

in: Staat, Verfassung, Demokratie, Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main

1992, S. 140. 298

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 617. 299

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 67; J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane

zagadnienia, Warszawa 2000, S. 41.

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80

ist.300

Auf die anderen Auslegungsmethoden wird zurückgegriffen, um das aufgrund der

Interpretation nach Wortlaut erzielte Ergebnis zu bestätigen oder eine zwischen den

alternativen Auslegungslösungen zu wählen.301

Der Interpret darf über den Text der

Vorschriften nicht hinausgehen, ansonsten würde seine Aktivität auf Voluntarismus

hinauslaufen. Die durch den Wortlaut der Vorschriften gesetzte Grenze für die

interpretatorische Tätigkeit garantiert das objektive Element der Auslegung zu bewahren, mag

sie wertend und dynamisch sein.302

Von dem Grundsatz des Vorrangs der Auslegung nach

Wortlaut kann nur dann abgewichen werden, wenn dafür besonders erhebliche rechtliche,

soziale, wirtschaftliche oder ethische Gründe sprechen 303

sowie wenn das Ergebnis im Lichte

der angenommenen Werte zu krass ungerechten, irrationalen oder den Normzweck

vereitelnden richterlichen Entscheidungen führt (argumentum ad absurdum).304

Der Teleologie als Interpretationsmethode geht Wortlaut, Grammatik, System und erkennbare

subjektive Regelungsabsicht des Normgebers voraus. Erst wenn eine Fallkonstellation zur

Entscheidung steht, die vom Gesetz erkennbar nicht erfasst ist, d.h. wenn sich aus den

genannten canones, die zunächst heranzuziehen sind, keine zuverlässigen Schlüsse ziehen

lassen, kann auf die teleologische Auslegungsmethode zurückgegriffen werden. Die

teleologische Auslegungsmethode nimmt somit unter anderen gleichberechtigten canones

eine nachrangige Stellung ein.305

Ähnliche Meinung vertritt der polnische

Verfassungsgerichtshof; wegen ihrer Relevanz für die polnische Methodenlehre wird sie in

extenso wiedergegeben.

„Der Verfassungsgerichtshof möchte hervorheben, dass er sich in den von ihm entschiedenen

Rechtsstreiten nicht nur auf die linguistischen, sondern auch auf die außerlinguistischen

Auslegungsmethoden, darunter auf funktionale Interpretation oder auf teleologische

Auslegung, die eine Sonderart der letzten darstellt, beruft. Die funktionale Auslegung ist eine

Interpretationsart eines Rechtstextes, in der der funktionale Kontext in Betracht gezogen wird.

Dieser Kontext ist sehr zusammengesetzt. Zu seinen Bestandteilen gehören alle Fakten (zum

Beispiel das Wirtschaftssystem), außerrechtliche Regeln und Wertungen (zum Beispiel die

300

J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 167. 301

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 69f. 302

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 416. 303

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 77. 304

Ebenda, S. 79; S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 167. 305

Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der

Bundesrepublik Deutchland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203.

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81

Ziele des Rechts), welche das Verständnis eines Rechtstextes beeinflussen. (...) Die

teleologische Auslegung ist eine Art der funktionalen Interpretation, die sich damit

charakterisiert, dass bei der Festlegung des Sinnes von einem Rechtstext die Ziele des Rechts

in Betracht gezogen werden. Die relativ weite Anwendung der funktionalen und

teleologischen Auslegungsmethoden ist nicht dahingehend zu verstehen, dass sich der

Verfassungsgerichtshof den verschiedenen Auslegungsmethoden zufällig bedient und dass der

Umfang und Modalitäten der Benutzung von außerlinguistischen Auslegungsmethoden

keinen Beschränkungen unterliegen. In dem Rechtsstaat muss der Interpret immer in der

ersten Reihe den Wortsinn des Rechtstextes berücksichtigen. Wenn der Sprachsinn klar ist,

dann ist gemäß dem Grundsatz clara non sunt interpretanda nicht nötig, auf andere

außerlinguistische Auslegungsmethoden zurückzugreifen. In diesem Fall kann die

außerlinguistische Auslegung die Ergebnisse der Interpretation nach Wortlaut vermittels der

systematischen und funktionalen Auslegungsmethoden lediglich zusätzlich bestätigen und

somit verstärken. Ähnlich verhält es sich im Fall der Auslegung von Rechtstexten, deren

Sprachsinn deswegen nicht eindeutig ist, weil der Rechtstext einige mögliche sprachliche

Bedeutungen hat. Die funktionale (teleologische) Auslegung erfüllt dann die Rolle der

Wahldirektive eines der möglichen Sprachsinne. In beiden Fällen ist der Interpret an den

Sprachsinn des Rechtstextes gebunden; der Sprachsinn stellt immer die Grenze der von ihm

vorgenommenen Interpretation dar. In bestimmten Sonderfällen beschränkt sich allerdings die

Funktion der funktionalen Auslegung nicht ausschließlich auf die Rolle einer Wahldirektive

eines der möglichen Sprachsinne, sondern kann eigenartige sich von den sprachlichen

Alternativen unterscheidende Bedeutung des Sprachtextes erzeugen. Die Annahme eines

solchen aufgrund der funktionalen (teleologischen) Auslegung festgelegten eigenartigen

Sinnes des Rechtstextes führt immer zur erweiternden oder verengenden Interpretation. Auch

in diesem Fall stellt der Sprachsinn eines Rechtstextes eine Grenze der Auslegung in diesem

Sinne dar, dass nicht zulässig ist, die eigenartigen Ergebnisse der funktionalen Auslegung

anzunehmen, wenn die Auslegung nach Wortlaut zur Eindeutigkeit des Rechtstextes führt.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Grenze der Interpretation, welche der Sprachsinn des

Rechtstextes bilden kann, absolut ist. Dies bedeutet nur, dass für die Überschreitung dieser

Grenze eine starke axiologische Begründung, die sich vor allem auf Verfassungswerte beruft,

unentbehrlich ist.“306

306

Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 28. Juni 2000, K25/99, OTK 2000/5/141.

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82

Nach einer anderen Ansicht sollen die grammatische, systematische und historische

Auslegungsmethoden dem Dienste der teleologischen Methode stehen.307

Dies trifft

insbesondere auf die Verfassungsauslegung zu. Es wird sogar vertreten, dass im Fall der

Verfassungsauslegung einen größeren Wert der systematischen und teleologischen

Auslegungsmethode als der Interpretation nach Wortlaut beizumessen ist. Dies erklärt sich

mit der eminenten Rolle der allgemeinen Grundsätze in dem Verfassungsgefüge.308

Die

Auslegung der Verfassung soll sich immer an ihrem vorrangigen Ziel orientieren, das im

Schutz der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit besteht.309

„Die Grundrechte und

ihre Schranken sollen zum Gegenstand der teleologischen, zielorientierten und systematischen

Auslegung werden, die in Übereinstimmung mit der sozialen Wirklichkeit ist und die mit ihr

zusammenhängenden sozialen und politischen Konsequenzen berücksichtigt.“310

Der

normative Gehalt einer Norm, insbesondere der Verfassungsnorm, birgt in sich die ganze

Menge der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen sowie der

verschiedenartigen ideologischen Strömungen. Daraus ergibt sich, dass die teleologische

Auslegungsmethode bei der Interpretation der Verfassung die geeignetste ist.311

Die

Begründung des Vorrangs dieser Interpretation liegt auch in der Konnexion der Verfassung

mit der in ihr verbürgten politischen Formel und dem realen politischen Prozess.312

„Dafür

spricht auch die Tatsache, dass die politische Wirklichkeit dynamisch ist. Um den

Verfassungsvorschriften volle Effektivität zu verschaffen, muss der Interpret dieser Dynamik

gerecht werden.“313

Die in der Verfassung verankerten Zwecke bringen die in einem

Gemeinwesen vorherrschende und sein Funktionieren steuernde politische Theorie zum

Ausdruck. Die Verfassung ist ein Instrument des Regierens und Zeichen der nationalen

307

P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur

Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916. 308

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 419. 309

J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento

jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.

46; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 310

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 14; siehe auch: J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el

ordenamiento jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional,

México 1975, S. 21. 311

I. Burgoa, Derecho Constitucional Mexicano, México 1985, S. 396. 312

F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 313

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 330.

Page 95: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

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Einheit, deshalb ist ihre Auslegung zum Misserfolg verurteilt, falls der Interpret die

politischen und sozialen Motive, welche der Verfassung vorschweben, außer Acht lässt.314

Diese Ansicht verkennt, dass die anderen Auslegungstechniken gegenüber der Auslegung

nach Wortlaut keine selbständige Stellung haben. Aufgrund lediglich der funktionalen

Auslegungsmethoden ist nämlich nicht möglich, konkrete Verhaltensnormen festzustellen:

Aus der Tatsache, dass jemand ein bestimmtes Wertsystem anerkennt, lässt sich noch nicht

schließen, dass dieses Subjekt bestimmte Verhaltensnormen festlegt.315

Es ist allerdings

anzunehmen, dass bei der Interpretation des Verfassungsrechts wegen des offenen Charakters

vieler Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechtsverbürgungen, den funktionalen

Auslegungsmethoden eine besondere Bedeutung zukommen soll. Die vorrangige Stellung der

funktionalen Auslegungsmethoden im Auslegungsprozess der Grundrechte wird dabei mit

ihrer „tiefgreifenden und vielseitigen axiologischen Verwicklung“316

gerechtfertigt. Dies

bedeutet jedoch nicht, dass die starke axiologische Begründung, insbesondere diejenige, die

sich auf Verfassungswerte beruft, die Überschreitung der durch die Auslegung nach Wortlaut

gezogenen Interpretationsgrenzen rechtfertigt.317

Der Wortlaut bildet somit zugleich den

Anhaltspunkt für die Sinnfassung der Norm sowie die Grenze der interpretatorischen

Tätigkeit, die ihrerseits keine Ergebnisse gegen den Wortlaut der auszulegenden Vorschrift

liefern soll.318

„Was nicht mehr vom Wortlaut im allgemeinsprachlichen, allgemeinjuristischen

oder spezialgesetzlichen Sprachverständnis erfasst wird, kann auch nicht durch systematische,

objektiv-teleologische oder historische Interpretation in die Norm hineingelesen werden.“319

Die beiden Ansichten zum Methodenvorrang im Prozess der Verfassungsinterpretation lassen

sich jedoch dahingehend versöhnen, dass während der Wortlaut als eine unübersteigbare

Schranke der Auslegung anzusehen ist, ist der Schwerpunkt auf den Sinn und Zweck der zu

314

G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1., Buenos Aires 2006, S. 108. 315

S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 167. 316

A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,

Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 207; vgl.: J. Carpizo, H. Fix - Zambudio,

Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento jurídico mexicano, in: Instituto de

Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 22. 317

A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,

Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 208; K. Pleszka, Językowe znaczenie tekstu

prawnego jako granica wykładni, in: M. Zirk - Sadowski, Filozoficzno - teoretyczne problemy sądowego

stosowania prawa, Łódź 1997, S. 66f. 318

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 26; C.

Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 214. 319

K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

Band III/2, München 1994, S. 1668.

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interpretierenden Norm zu setzen.320

Die Festlegung der strikten Reihenfolge der einzelnen

Auslegungsmethoden wäre dabei nicht dienlich. Dieses Unternehmen setzt nämlich die

Trennung zwischen den grammatischen, systematischen, teleologischen und historischen

Überlegungen voraus, womit die enge Verflechtung der einzelnen Auslegungskriterien

verkannt wird. Die Auslegung nach Wortlaut ist aber ohne Berücksichtigung

entstehungsgeschichtlicher Elemente kaum möglich. Die Worterfassung wird darüber hinaus

durch systematische Überlegungen beeinflusst, während die Systematik eines Rechtsaktes

ihrerseits stark durch objektiv-teleologische Momente bestimmt wird. Die historischen

Gesichtspunkte entfalten bei allen Auslegungsmethoden ihre Wirkung. Da eine strikte

Trennung der Auslegungskriterien nicht möglich ist, muss grundsätzlich der

Einzelfallentscheidung überlassen werden, welchem Gesichtspunkt der Auslegung jeweils der

Vorzug zu geben ist.321

11. Bestimmung des Endpunkts des Auslegungsprozesses

Streitig ist auch der Moment, in dem der Interpretationsprozess zu beenden ist. In diesem

Zusammenhang haben sich in der Lehre zwei Ansätze herausgebildet. Es ist dabei zu merken,

dass die Entscheidung, welcher der beiden Ansätze zu befolgen ist, ideologisch nicht neutral

sein kann, weil gemäß dem zweiten Ansatz die funktionale Auslegungsmethode immer zur

Anwendung kommt.322

Nach der ersten Auffassung ist die Interpretation zu beenden, wenn die Zweifel hinsichtlich

der Bedeutung der ausgelegten Vorschrift behoben sind (interpretatio cessat in claris). Es

wird hier die bestimmte Reihenfolge der Auslegungsmethoden vorausgesetzt, wobei die

Auslegung nach Wortlaut einen hervorragenden Platz einnimmt. Wenn die grammatische

Auslegung Klarheit verschafft, erübrigt sich die Anwendung der funktionalen

Interpretationsmethoden, weil Ihr Zweck lediglich in der Unterstützung und Ergänzung der

Auslegungsmethode nach Wortlaut besteht.323

Nur im Fall, wenn die Auslegung nach

320

J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,

S. 31. 321

K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

Band III/2, München 1994, S. 1667. 322

J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 86f. 323

S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 84.

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85

Wortlaut zu keinem „zufriedenstellenden Resultat“324

führt, ist auf die übrigen

Auslegungsmethoden zurückzugreifen (und zwar zuerst auf die systematische und erst dann,

wenn dadurch kein Ergebnis erzielt worden ist, auf die teleologische Auslegungsmethode).325

In diesem Fall wird allerdings eine „starke axiologische Begründung“326

in Übereinstimmung

mit Wertungen des Gesetzgebers verlangt. Nach diesem Ansatz wird der Rechtsspruch

interpretatio cessat in claris wörtlich verstanden.

Gemäß der gegenteiligen Meinung sind alle Interpretationsdirektiven in jedem Fall

anzuwenden, um potenzielle Sinnalternativen der Vorschrift zu finden. Der

Auslegungsprozess endet daher nicht nach Erreichung eines eindeutigen Ergebnisses, sondern

mit Vollendung aller durch die Methodenlehre vorgegebenen Auslegungstätigkeiten, auch

wenn die durch die Anwendung der Auslegung nach Wortlaut gewonnene Auslegungslösung

zufriedenstellend erscheint. Die in der polnischen Methodenlehre verbreitete Direktive

interpretatio cessat in claris wird nach diesem Ansatz somit nicht beachtet.327

In der vorliegenden Arbeit wird dem letzten Ansatz gefolgt. Dies wird mit der Aufgabe der

wissenschaftlichen Auslegung begrüdet, die darin besteht, alle potenziellen Sinndeutungen

der Norm herauszuschälen. Damit wird auch dem Charakter des Interpretationsprozesses als

ein gedankliches Ganze Rechnung getragen, dem die Verflechtung und Zusammenspiel der

Interpretationsmethoden eigen ist. Die Interpretationsmethoden schließen sich dabei nicht aus;

sie sind vielmehr als sich ergänzende Techniken zu begreifen, welche zur Erreichung des

Auslegungszweckes, also zur Ermittlung des Sinnes und Anwendungsumfangs einer Norm

mitwirken.328

Die Anwendung des letzten Ansatzes entspricht im größeren Maß dem Zweck

der vorliegenden Arbeit, die Anwendungspotenzialitäten der Gewissensfreiheit in der

polnischen Verfassung zu untersuchen.

324

M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 40. 325

L. Leszczyński, Zagadnienia teorii stosowania prawa. Doktryna i tezy orzecznictwa, Kraków 2001, S. 119,

123; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 150; A. Municzewski, Reguły interpretacyjne w

działalności orzeczniczej Sądu Najwyższego, Szczecin 2004, S. 17; Z. Ziembiński, Logika praktyczna,

Warszawa 1994, S. 244. Aus der Rechtsprechung siehe z. B. Urteil des Obersten Gerichtshofs von 8 Januar 1993

III ARN 84/92; Urteil des Obersten Gerichtshofs von 20. Juni 1995, III ARN 22/95, OSNAPiUS 1995, poz. 297;

Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 20. Februar 1991, W 5/90, OTK 1991, poz. 18. 326

M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 41; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994, S. 238. 327

M. Zieliński, Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 124. 328

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 411.

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86

Weiterhin ist dieser Ansatz wesensgemäß für die Verfassungsinterpretation im größeren Maße

geeignet. Für die Auslegung der Verfassung, insbesondere des Grundrechtsteils, hat sich

nämlich der Begriff „Konkretisierung“ durchgesetzt. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht,

dass es sich in diesm Prozess nicht ausschließlich darum handelt, das bereits Vorhandene

mittels geeigneter Methoden herauszufinden, Mit der Verfassungsauslegung wird teilweise

auch neues Recht erst geschaffen, „welches zum verfassungsrechtlichen Text zuweilen in

bloß losen Zusammenhang steht (...).“329

12. Notwendigkeit der dynamischen Auslegung der Verfassung

Die Auseinandersetzung in der Lehre zur Auslegung der Grundrechte zielt zur Beantwortung

zwei Grundfragen:, nämlich ob und inwieweit der Inhalt der einzelnen Grundrechte durch die

sich verändernde soziale Wirklichkeit determiniert wird, sowie in welche Weise die

vorhandenen grundrechtlichen Bestimmungen mittels der Interpretation an die sich

verändernde Wirklichkeit angepasst werden können.330

In diesem Zusammenhang ist für die

Auslegung der Grundrechte, darunter der Gewissensfreiheit, in der polnischen Verfassung die

Unterscheidung zwischen dem statischen und dynamischen Interpretationsansatz331

von

grundlegender Bedeutung. Während die statische Interpretation den historischen Willen des

Gesetzgebers zu erschließen sucht, verfolgt die dynamische Auslegung den Zweck, die

Adäquatheit der Rechtsnormen zu der sozialen Wirklichkeit herbeizuführen. Daraus ergibt

sich, dass im Fall des statischen Ansatzes die grammatische Auslegungsmethode im

Vordergrund tritt, dagegen ist beim dynamischen Ansatz die teleologische

Interpretationsmethode entscheidend.332

Die statische Interpretationstheorie setzt voraus, dass der subjektive Wille des Gesetzgebers

relativ leicht rekonstruierbar ist. Dies verkennt allerdings die Wirklichkeit der Willensbildung

in den pluralistischen Demokratien. Der moderne Gesetzgeber ist nämlich eine anonyme

Einrichtung, die sich mit Pluralität der Willensrichtungen charakterisiert, deshalb wurde in der

329

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 330

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 48. 331

Zur Darstellung der beiden Ansätze siehe statt vieler: J. Nowacki, Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa,

Kraków 2001, S. 237 ff.; J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 36ff. 332

W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 450; J. Krukowski, Wstęp

do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 145.

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87

Lehre die Konstruktion des Willens des kollektiven Gesetzgebers zu Recht als

„hochverdächtig“333

qualifiziert.

Der andere Wert, der den Anhängern des statischen Interpretationsansatzes vorschwebt, ist die

Achtung des Demokratieprinzips. Danach wird die Entwicklung des Rechts grundsätzlich den

demokratisch gewählten Mehrheiten im Parlament vorbehalten. Die Kontrolle der

Gerichtsbarkeit soll dabei eine Ausnahme darstellen; ihre Durchführung soll nämlich

innerhalb der klaren Verfassungskompetenzen erfolgen. Die Konkretisierung der

Verfassungswerte durch die jeweiligen Mehrheiten im Parlament und nur ausnahmsweise

durch die Gerichte entspricht auch dem Prinzip des politischen Pluralismus.

Dem wird entgegengehalten, dass der Gesetzgeber den sozialen Veränderungen in der Regel

nicht Schritt hält, was die Anpassung des geltenden Rechts an die veränderte Wirklichkeit

wesentlich verhindert. Außerdem erweist sich das Abstellen auf den Willen des historischen

Gesetzgebers für die Regulierung der sozialen Wirklichkeit mit dem Zeitablauf als nicht

geeignet. Es taucht jedoch die Frage auf, wie diese Anpassung an die sich verändernde

Realität zu verstehen ist und nach welchen Kriterien die Adäquatheit der

Interpretationsresultate zu messen ist sowie welche Vorkehrungen zu treffen sind, damit sich

die Auslegungstätigkeit in die Aufstellung der Postulate de lege ferenda nicht umschlägt. Die

Kritiker der dynamischen Auslegungsmethode legen in diesem Zusammenhang den

besonderen Wert auf den Schutz der Rechtsklarheit und Rechtsicherheit.334

Sie weisen darauf

hin, dass ihre Anwendung in der Tat auf Anerkennung der verdeckten

Verfassungswandlungen als legitimer Akt der Verfassungsauslegung hinausläuft.

Dem durch die Entwicklung der Verfassungswirklichkeit ausgelösten Bedarf an

Sinnwandlung einer Verfassungsnorm ist allerdings Rechnung zu tragen, solange die den

Staat strukturierenden rechtlichen Prinzipien nicht verletzt werden und solange diese

Sinnwandlung gegen die eindeutige Regelung der constitutio scripta nicht verstößt. Mit

anderen Worten: die Verfassungsumwandlung ist zulässig, wenn sie sich auf ein endogenes

normatives Problem zurückführen lässt, sie ist aber nicht erlaubt, wenn sie aus einer exogenen

333

R. Sarkowicz, J. Stelmach, Teoria prawa, Kraków 1996, S. 86. 334

W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 449; J. Wróblewski,

Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 94.

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normativen Evolution hervorgeht.335

Sagüez spricht in diesem Zusammenhang von der sog.

verändernden Auslegung (interpretación mutativa). Nach diesem Ansatz wird zwischen der

verändernden Interpretation praeter constitutionem und der veränderten Interpretation contra

constitutionem unterschieden: die verändernde Interpretation praeter constitutionem hat zum

Zweck, die Ergänzung oder Entwicklung der Verfassungsbestimmungen und führt zur

Ausfüllung der Verfassungslücken. Dagegen besteht die verändernde Auslegung contra

constitutionem in Hinzufügung oder Beseitigung einer Norm der Verfassung gegen den

Willen des historischen Verfassungsgebers.336

Aus den obigen Anmerkungen ist sichtbar, dass die beiden Interpretationsansätze die

gewichtigen Werte schützen, aber auch bestimmte Begründungsdefizite aufweisen. Es lässt

sich auch nicht leugnen, dass die Wahl zwischen den beiden Ansätzen von der

angenommenen Auslegungsideologie des Interpreten abhängt, weil in der Lehre sowohl der

Inhalt der Interpretationsdirektiven, als auch ihre Anwendbarkeit im Auslegungsprozess

umstritten ist.337

In dieser Arbeit wird vorausgesetzt, dass die Anwendung des dynamischen

Ansatzes dem Charakter des Verfassungsrechts im größeren Maße gerecht wird, deswegen

wird er der Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit zugrundegelegt. Für diese

interpretatorische Option lassen sich folgende Gründe angeben.

a) Das Recht im Allgemeinen ist ein soziales Phänomen, das zur effektiven Regelung der

sozialen Wirklichkeit dient und in der Zeit seiner Anwendung ausgelegt wird. „Nach seiner

Verabschiedung bekommt das Recht das eigene Leben, eine relative Autonomie. Es stellt sich

dem Gesetzgeber als ein neues Produkt gegenüber. Es erweitert und sogar ersetzt seinen

Inhalt, ohne dass sein Wortlaut berührt wird, und erweist sich in der Praxis vorsorglicher als

sein Urheber.“338

Eine Vorschrift kann daher den ursprünglichen Sinn aus der Zeit ihrer

Entstehung nicht behalten, wenn sich die Lebenswirklichkeit der Normadressaten ändert.

Neue Probleme tauchen auf, - alte werden im neuen Licht gesehen. „Das unveränderliche

Recht kann nur in einer unveränderlichen Gesellschaft existieren.“339

335

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 232. 336

N. P. Sagúés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 38f. 337

J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 94; J.

Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 150; A. Squella Narducci, Introducción al

Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 407. 338

S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 30 339

Ebenda, S. 29.

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89

Die Rechtsordnung ist in die soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Umgebung

eingebettet. In diesem Kontext werden die Sachverhalte erfasst, für welche eine rechtliche

Antwort verlangt wird. Die soziale Wirklichkeit wird in Form der Tatbestände in

Rechtsvorschriften abstrakt erfasst. Daher gibt es ein dynamisches Zusammenspiel zwischen

der Rechtsordnung und der zu regelnden sozialen Wirklichkeit und ihre gegenseitige

Konditionierung. Es ist somit unerlässlich, dass die Auslegung diese beiden Elemente, d.h. die

Rechtsordnung und die soziale Wirklichkeit berücksichtigt.340

Der zu normierende Abschnitt

der sozialen Realität kann jedoch von dem Gesetzgeber nicht mit voller Exaktheit erfasst

werden. Der Gesetzgeber hat vielmehr eine approximative Perzeption eines

Realitätsfragments, das er zu normieren sucht. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist somit in

vielen Fällen mit der Unsicherheit betreffs der Zukunft und der zu regelnden sozialen

Phänomene behaftet. Da die Prognose- und Kontrollfähigkeit des Gesetzgebers über die

sozialen Vorgänge relativ beschränkt ist, erweist sich die Auslegung als unabdingbares

Korrelat des gesetzten Rechts. Deshalb ist sachgerecht, dass die Auslegung die Aufgabe

erfüllt, der zu interpretierenden Norm entsprechende Sinngehalte zu geben, damit die Norm

auch auf die von dem Gesetzgeber nicht vorgesehenen Sachverhalte angewendet werden

kann.341

b) Für die Anwendung des dynamischen Ansatzes bei der Auslegung der Verfassung spricht

der offene Charakter ihrer Vorschriften:342

„die Verfassung eines Staates hat einen

grundsätzlich dynamischen Charakter, d.h. der Verfassung wohnt eine Qualität inne, die sich

an den sozialen Wandel anpassen lässt, ohne dass ihre Normen verletzt werden. (…) Die

dynamische Interpretation ist nicht möglich, wenn wir die dynamische Natur dieses

fundamentalen Textes nicht anerkennen.“343

c) Es wird vertreten, dass die Anpassung der verfassungsrechtlichen Normen an die soziale

und politische Wirklichkeit im Wege der Verfassungsänderung und nicht im Wege der

Auslegung verwirklicht werden soll. Die dynamische Auslegung, welche durch die zur

340

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 519. 341

Ebenda, S. 523. 342

B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 55; H. Nogueira Alcala,

Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006,

S. 40. 343

F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 290.

Page 102: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

90

Verfassungsreform unbefugten Organe vorgenommen wird, ist als Verstoß gegen die die

Prozeduren der Verfassungsänderung regelnden Verfassungsnormen anzusehen.344

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Verfassung ein auf Dauer angelegter Rechtsakt ist. Dies

erklärt sich damit, dass der durch sie konstituierte Staat die Beständigkeit beansprucht. Der

Beständigkeitsanspruch der Verfassung ist allerdings nicht als Fossilisieren ihrer Normen zu

begreifen, sondern als Postulat, die fundamentalen Verfassungswerte aus der alltäglichen

politischen Diskussion auszuschließen, solange sich nicht herausstellt, dass sie sich für das

harmonische Zusammenleben in dem Gemeinwesen als ungenügend erweisen. Daher ist für

die Verfassung auch ihre Adaptierbarkeit charakteristisch, die als Fähigkeit zu verstehen ist,

Antworten auf die Situationen zu geben, die bei ihrer Entstehung nicht vorhergesehen werden

konnten.345

Da sich die soziale Wirklichkeit schneller ändert als die normative, ist die

Beständigkeit der Verfassung ohne ihre gewisse Anpassungsfähigkeit an neue Bedingungen

nicht möglich.

Die Adaptierbarkeit der Verfassung wird entweder durch ihre Interpretation bewerkstelligt,

mit deren Hilfe neue Situationen in den Werterahmen des historischen Textes eingelegt

werden (Adaptierbarkeit im engeren Sinne) oder im Wege der Verfassungsänderung zustande

gebracht, wenn es sich herausstellt, dass die Auslegung keine zufriedenstellende Antwort auf

eine sozial relevante Rechtsfrage bereitstellt, ohne dass dabei der Rahmen des

Verfassungstextes überschritten wird, oder wenn der gesellschaftliche Konsens über die

fundamentalen Werte der Verfassung nicht mehr besteht (Adaptierbarkeit der Verfassung

sensu largo).346

„Die Verfassung ist dazu bestimmt, künftige Zeiten zu überdauern, und in der

Folge adaptierbar an die verschiedenartige Krisen der menschlichen Angelegenheiten zu

sein.“347

Die dynamische Interpretation ermöglicht diejenigen Probleme zu lösen, an die die

Urheber der Verfassung nicht dachten oder auch nicht denken konnten. In diesem Sinn ist die

Verfassung „intelligenter als ihre Schöpfer, indem sie neue Realität und unterschiedliche

344

R. Guastini, Estudios sobre la interpretación juridica, Porrúa 2001, S. 123. 345

J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,

S. 31. 346

E. Grana, C. Alvarez, Principios de Teoría del Estado y de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 299 ff.;

siehe auch: A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la

jurisprudencia chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 329; M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre

interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México

1975, S. 74. 347

J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1., Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,

S. 30.

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91

historische Kontexte zu normieren vermag.“348

Nogueira Alcala spricht in diesem

Zusammenhang von der Vorsorgelosigkeit oder Kurzsichtigkeit der Verfassung, die sowohl

eine positive, als auch eine negative Facette hat. Der positive Aspekt des Mangels an

Vorsorge des Verfassungsgebers äußert sich in der „Futurität“ (Zukunftsorientierung) der

Verfassung sowie in der Elastizität ihrer Normen, die absichtlich darauf ausgerichtet sind,

nichtvorhergesehene künftige Sachverhalte zu regeln. In seiner negativen Dimension bedeutet

der Mangel an Vorsorge der Verfassung bewusste Verschiebung einer politischen

Entscheidung oder ist Resultat der Nichterreichung eines politischen Kompromisses, was

unmöglich macht, eine entsprechende Regelung in den Verfassungstext einzuschließen.

Darüber hinaus kann die Nichtregelung eines Sachverhaltes auf Mängel der legislatorischen

Technik zurückgeführt werden.349

Garlicki dagegen bemerkt, dass der Verfassungsgeber die

Lücken manchmal absichtlich in die Verfassung integriert, damit dem Parlament, der

Regierung, sowie anderen politischen Kräften einen Handlungsspielraum zu überlassen.350

Angesichts dessen muss der Interpret über die bloße Textexegese hinausgehen; ihm obliegt

den Sinn der Norm für die Regelung des Gemeinwesens in der jeweiligen historischen

Situation zu ermitteln. „Es ist klar, dass in der Erfüllung der Aufgabe des Interpreten die

Evolution jedes Begriffs, die Umstände unter denen die zu interpretierenden Vorschriften

herausgearbeitet worden sind, die Tradition bezüglich ihrer Anwendung, die Ideen, von denen

sie sich speisten, eine große Rolle spielen. Allerdings fordert die Harmonie der Gesamtheit

(…) und die teleologischen Gesichtspunkte der verfassungsrechtlichen Ordnung, dass die

Verfassung nicht im Hinblick auf die Vergangenheit, sondern hinsichtlich der Probleme der

Gegenwart und Eventualitäten der Zukunft interpretiert werden soll.“351

Insbesondere die

Grundrechte sind nicht in ihrem Bedeutungsgehalt ihrer historischen Momentaufnahme

erstarren zu lassen, für den jede Art von Fortschreibung zur Bewältigung neuartiger akuter

Probleme ausgeschlossen wäre. Eine Verfassung, die derart interpretiert wäre, dass sie

Antworten lediglich auf die in der Zeit ihrer Entstehung zu lösenden Probleme hat, wäre zu

einem Geschichtelehrbuch degradiert. Die primäre Aufgabe des Interpreten ist somit aus den

zeitbedingten Verfassungsnormen, zeitlose Grundsätze für die Rechtssetzung und

Rechtsanwendung zu entwickeln. Der materielle Gehalt eines Grundrechts kann nicht als

348

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 40. 349

Ebenda, S. 175. 350

L. Garlicki, Aksjologiczne podstawy reinterpretacji konstytucji, in: M. Zubik, Dwadzieścia lat transformacji

ustrojowej w Polsce, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 2010, S. 98. 351

J. Vallejo Mejia, Lecciones de Teoría Constitucional, Madellin 2000, S. 136.

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92

abgeschlossen betrachtet werden. „Er muss von einer Offenheit in die Zeit hinein geprägt und

‚Entwurf„ einer stets neu zu realisierenden Ordnung sein.“352

Die Interpretation der

Verfassung ist nicht nur eine notwendige Voraussetzung der Rechtsanwendung; sie erfüllt

zugleich die Funktion „der Erneuerung und Aktualisierung der Rechtsordnung.“353

Die dynamische Auslegung bedeutet allerdings nicht, dass der Interpret den historischen

Willen der Verfassungsväter verkennen oder ignorieren darf. Diese Auslegungsart ist erlaubt,

solange der Interpret gegen den historischen Willen des Gesetzgebers nicht verstößt. Die

Normativität der Verfassung darf weder durch eine arbiträre Entscheidung des Interpreten,

noch durch die sich wandelnde soziale Wirklichkeit eingebüßt werden. Zum anderen kann die

normative Kraft der Verfassung infolge der übermäßigen Fokussierung auf den historischen

Willen des Verfassungsgebers und die Umstände ihrer Verabschiedung paralysiert werden;

die normative Kraft der Verfassung wird vielmehr in ihrer evolutiven normativen

Leistungsfähigkeit optimiert. „Der Interpret, welcher sich der dynamischen Auslegung

bedient, fungiert als Vermittler zwischen den Urhebern der Verfassung und der historischen

Zeitlichkeit der eintretenden Situationen, die sich mehrmals von den Schöpfern der

Verfassung distanzieren, und ohne ihren Willen zu verändern, macht er diesen Willen

zukunftsorientiert und lebhaft in der Kontinuität der sozialen Transformationen.“354

Die Anwendung der dynamischen Interpretation wird auch mit der Funktion des Staatsrechts

als „der rechtliche Rahmen für das politische Phänomen“355

begründet. Die Fähigkeit der

Evolution der politischen Prozesse verlangt, dass die diese Prozesse regelnden Normen eine

besondere Adaptationsfähigkeit aufweisen. Die „politische“ Interpretation der Verfassung

bezieht sich freilich nicht auf Umstandselemente und soll nicht den vorübergehenden

Interessen der Machtmehrheiten dienen. Sie muss aber die das Zusammenleben innerhalb der

politischen Gemeinschaft determinierenden Grundfaktoren berücksichtigen.356

d) Die Annahme der dynamischen Interpretation wird manchmal auch durch die

verfassungsrechtliche Position der Gerichtsbarkeit als „die dritte Gewalt“ gerechtfertigt: der

352

H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 354. 353

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 53. 354

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 415.

M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones

Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 74. 356

M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones

Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 75.

Page 105: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

93

Richter ist als Träger der „dritten Gewalt“ des Staates „auf der gleichen Ebene gegenüber dem

Gesetzgeber situiert (está situado en un plano de igualdad con respecto al legislador). Die

Umwandlung des Rechtsanwenders in einen treuen Diener des Gesetzgebers würde die

Degradierung seiner Funktion bedeuten. Wenn er vermittels der objektiven Interpretation das

Recht als solches zur Geltung bringt, verteidigt er zugleich seine Unabhängigkeit.“357

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Abgeordneten im Gegensatz zu den Richtern

von dem Souverän in demokratischen Wahlen gewählt werden. Das Demokratieprinzip

verlangt, dass das Recht von dem Willen des Volkes bestimmt wird, wie er von seinen

Repräsentanten zum Ausdruck kommt. Da das durch das Parlament gesetzte Recht im Wege

der Auslegung ermittelt wird, muss das Recht in Übereinstimmung mit den Absichten der

demokratisch legitimierten Legislative interpretiert werden.358

Die zitierte gleichrangige

Situierung der Judikative als „dritte Gewalt“ kann nicht als Anmaßung der Kompetenzen

anderer Gewalten interpretiert werden; aus ihrer rechtsanwendenden Funktionen lässt sich

somit das Gebot der Anwendung der dynamischen Auslegung nicht schließen.

e) Die Anwendung der dynamischen Auslegung ist auch mit der Evolution des Verständnisses

der Menschenrechte vereinbar. Die einzelnen Grundrechtsbestimmungen bilden die

verstärkten Formen der Verwirklichung der Menschenwürde. Der Inhalt der Menschenwürde

ist allerdings nicht objektiv vorgegeben, sondern „in ständiger Kommunikation gemeinsam zu

konkretisieren.“359

Die einzelnen Grundrechte stellen Konstanten im Verständnis dessen dar,

was die Würde des Menschen ausmacht. Wie die Menschenwürde haben auch die

Grundrechte keinen vorstaatlichen oder überzeitlichen Charakter; sie bilden in ihrer heutigen

rechtlichen Verankerung geschichtlich gewordene Rechte. Daraus wird deutlich, dass sie

nicht feststehend, sondern für eine kontinuierliche Differenzierung und Weiterentwicklung

offen sind. Aufgrund „ihrer geschichtlichen Konstanz“360

genießen sie jedoch gegenüber

Wandlungen und insbesondere gegenüber Verletzungen erhöhten Bestand.361

Um den

Erfordernissen der konkreten historischen Lage gerecht zu werden, ist den Vorschriften der

Verfassung die aktuelle Sinndeutung beizumessen, und nicht diejenige, die sie im Moment

357

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 405. 358

Die Meinung von Joseph Raz, zittiert nach A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile

2000, S. 408 ohne Angabe der Quelle. 359

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 134. 360

Ebenda, S. 138. 361

Ebenda, S. 139.

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94

ihrer Verabschiedung hatten. Damit wird der Schutzbereich der Grundrechte um die von dem

Verfassungsgeber nicht vorhergesehenen Situationen erweitert.362

Die Anwendung der dynamischen Auslegung der Grundrechte tut Genüge dem in dem

freiheitlich- demokratischen Staat unentbehrlichen Postulat des umfassenden und lückenlosen

Grundrechtsschutzes.363

Danach soll immer eine geschriebene oder unter Umständen sogar

ungeschriebene Norm zur Verfügung stehen, die sich subsidiär aller nicht geschützten

Freiheitsbereiche annimmt. Dies bedingt eine zusätzliche Öffnung der Verfassung d.h. ihre

Offenhaltung für alle unbenannten und zur Zeit ihrer Entstehung unbekannten

Entfaltungsmöglichkeiten und Schutzbedürftigkeit des Bürgers.364

365

f) Der privilegierte Status der Auslegung nach Wortlaut steht der Anwendung der

dynamischen Auslegung nicht im Wege. Die Auslegung wird in einem bestimmten

historischen Kontext durchgeführt, in dem ein bestimmter Usus der einzelnen Sprachelemente

durch den historischen Rechtsgeber in der Zwischenzeit durch einen neuen Usus ersetzt

werden kann, der seinerseits die Sinnfindung der ausgelegten Vorschrift determiniert.366

Der

Interpret kann an den Text derart herangehen, dass alle möglichen im Text enthaltenen

Sinnalternativen herausgearbeitet werden, damit der Text aktuell bleibt. Der Wortlaut darf

jedoch bei der Auslegung weder übergangen noch entkräftet werden;367

eine Deutung, die

nicht mehr im Bereich des möglichen Wortsinnes liegt, ist nicht mehr Ausdeutung, sondern

Umdeutung.368

362

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 181. 363

G. Dürig, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München 1993, Art. 2, Rn. 1; H. Bethge,

Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 360. 364

H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 361f.

365Die instruktiven Beispiele für die Entwicklung der Grundrechte mittels der dynamischen Interpretation werden

von G. J. Bidart Campos in seinem Werk Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 413f.

angegeben. Obwohl eine Verfassung aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie etwa die argentinische, welche die

Äußerungsfreiheit lediglich mittels der Presse garantiert, wäre absurd, wenn der Interpret, der diese Verfassung

100 Jahre später auslegt, annehmen würde, dass die anderen Äußerungsformen durch das Grundrecht der

Äußerungsfreiheit nicht erfasst sind, und zwar unabhängig davon, ob diese Äußerungsformen dem historischen

Verfassungsgeber bekannt waren (z.B. Theater), oder nicht (wie etwa die Massenmedien oder Internet). Das

andere Beispiel betrifft die Auslegung des Gleichheitssatzes: wenn im 19. Jahrhundert die Benachteiligung der

nichtehelichen Kinder nach ehemaligen Standards den Gleichheitssatz nicht verletzte, würde heutzutage

derartige Diskriminierung das Erfordernis der Gleichbehandlung nicht erfüllen und ohne weiteres als

verfassungswidrig erklärt werden müsste. 366

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 211. 367

M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 12. 368

K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

Band III 2, München 1994, S. 1660.

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95

Bei der Formulierung der einzelnen Grundrechte ist die Traditionswirkung dafür

verantwortlich, dass über veränderte verfassungsrechtliche Zusammenhänge hinweg die

sprachlich identische Verbürgung eines Freiheitsrechts gewählt worden ist. Die Grundrechte

„weisen eine sehr lange, vielfach zufällige, historisch bedingte textliche Fassung auf, die der

Interpret hinter sich lassen muss, wenn er ihren Sinn ergründen will.”369

Der Auslegung ist

das zeitgenössische, und nicht das historische Verständnis der Sprachbegriffe zugrunde zu

legen. Mit zunehmendem Alter eines Rechtsaktes wandeln sich die sozialen Verhältnisse und

politische Anschauungen im Vergleich zu dessen Entstehungszeit. Die Auslegung, welche

den Willen des Gesetzes und nicht denjenigen des Gesetzgebers sucht, ermöglicht die

veränderten Umstände bei der Bestimmung des Norminhalts zu berücksichtigen.370

g) Es ist letztlich in Betracht zu ziehen, dass die Rechtsprechungsorgane der EMRK die

dynamische und teleologische Interpretation favorisieren.371

Sie berücksichtigen den

aktuellen, d.h. unter Umständen seit Unterzeichnung der EMRK gewandelten Sinn und

Zweck der Vorschriften. Die EMRK wird dabei als „living instrument“372

betrachtet, das im

Lichte der heutigen Lebensverhältnisse zu interpretieren ist, „denn der zunehmend hohe

Standard im Bereich des Menschenrechtsschutzes verlangt eine größere Konsistenz in der

Beurteilung der Verletzung grundlegender Werte der demokratischen Gesellschaften.“373

Ferner muss die Auslegung effektivitätssichernd sein, d.h. den Vorschriften der EMRK soll

größtmögliche Wirksamkeit zukommen; „Die Konvention soll nicht Rechte garantieren, die

theoretisch und illusorisch sind, sondern praktisch und ausübungsmöglich.“374

Aus der

Rechtsprechung der Konventionsorgane ist der Versuch zu sehen, „den Vorschriften der

Konvention das möglichst volle Gewicht und Effekt zu geben, welche mit dem angewendeten

Wortlaut und mit dem Rest des Textes konsistent sind, damit auf diese Weise jedem Teil des

Textes die Bedeutung zukommt.“375

Die restriktive Auslegung der EMRK, die auf den Willen

der Staatsparteien abstellt, würde der Funktion der Konvention nicht gerecht; der Zweck der

EMRK besteht nicht darin, die gegenseitigen Verpflichtungen der Staaten festzulegen, die mit

369

H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 358. 370

K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

Band III/2, München 1994, S. 1660. 371

A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 18ff. 372

Die Bezeichnung stammt aus der Entscheidung im Fall Tyrer v. the United Kingdom, Series A 26 (1978). 373

Entscheidung des ECHR, Selmouni v. France, 1999 – V 149ff, para.101. 374

Airey v. Irland, Series A 32 (1979). 375

C. Ovey, R. White, European Convention on Human Rights, New York 2002, S. 36.

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96

Rücksicht auf ihre Souveränität restriktiv auszulegen wären, sondern ein effektives

Schutzinstrument für den Einzelnen zu schaffen.376

Die dynamische Auslegung findet vor allem Anwendung hinsichtlich der relativ alten

normativen Akten. „Sie hat keinen Sinn, wenn der zu interpretierende Text neu ist und verliert

ihre persuasive Kraft, wenn der Text neulich ist.“377

Die polnische Verfassung von 1997

gehört zwar zu den relativ neuen normativen Akten, sie hat aber den Charakter eines „sozialen

Vertrages“, auf dem das Gemeinwesen fundiert ist. Deshalb muss sich die Verfassung an die

sich wandelnde ethisch-politische Wertvorstellungen der Gemeinschaft anpassen. Mit der

fortschreitenden Säkularisierung wird die dynamische Auslegung des Art. 53 Verf. in die

Richtung des Schutzes der von einem religiösen Glauben losgelösten weltanschaulichen und

ethischen Positionen immer mehr an „persuasiver Kraft“ gewinnen.

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass der Beständigkeitsanspruch der Verfassung

verbunden mit der großen Weite ihrer Regelungen die Anwendung des dynamischen

Interpretationsansatzes rechtfertigt. Durch diese Interpretation gewinnen die

Verfassungsvorschriften an Elastizität. Die Aktualisierung der in ihnen explizit oder implizit

ausgedrückten Werte gibt den Verfassungsvorschriften „soziologische Lebendigkeit und

Vitalität.“378

Deshalb dürfen die Richter „an paralysierenden Techniken und hermeneutischen

Methoden nicht hängen, auf dem Festgelegten nicht beharren und eine im Gestern verankerten

Lektüre, die mit den aktuellen Potenzialitäten der Grundsätze, Normen und Standards nicht

vereinbar ist und eine hemmende Wirkung aufweist, nicht unterstützen.“379

Die ausgeglichene

dynamische Interpretation überwindet den „paralysierenden Formalismus“380

und ist mit dem

Postulat des Fortschritts des Rechts kompatibel, welches die Tradition und Innovation in sich

schließt. „Das Recht ist eine Kombination der Stabilität und Bewegung; der Ordnung und der

Veränderung. Zum einen sucht die Rechtsordnung immer nach Gewissheit und Sicherheit,

zum anderen sucht sie nach ihrer eigenen Legitimierung, indem sie die innerhalb einer

Gesellschaft stattfindende historische, soziale und ideologische Evolution zu begleiten

376

Golder v. United Kingdom, Raport of the Commission, 1 June 1973, Series B 16, para. 40. 377

R. Guastini, Estudios sobre la interpretación juridica, Porrúa 2001, S. 123. 378

J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del

Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 94; siehe auch: M. Caetano, Direito

constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 379

F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 51. 380

Ebenda, S. 53.

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97

strebt.“381

Die Anwendung der dynamischen Auslegungsmethode führt zur extensiven

Auslegung, die darin besteht, diejenigen Fälle in den Anwendungsbereich der Norm

einzubeziehen, die anscheinend durch diese Norm nicht geregelt werden, die allerdings

vernünftigerweise unter diese Norm eingeschlossen werden können. Die extensive Auslegung

soll eigentlich weder den klaren Wortlaut der Verfassung verkennen, noch gegen ihre

Grundsätze verstoßen;382

sie muss die Aktualisierung des Verfassungsprogramms erlauben,

ohne die Grenzen der interpretatorischen Aufgabe zu überschreiten. Geboten ist weder

absolute Starrheit, noch Fügsamkeit den in einem bestimmten historischen Moment

vorherrschenden politischen Strömungen gegenüber, die zu einer „schweigenden

Verfassungsänderung oder apokryphen Revision“383

führen würde.

Die Gewissensfreiheit verstanden als das Recht auf Handlungsfreiheit in moralischen Fragen

ist durch den Verfassungsgeber hinreichend gedeckt. Es ist festzuhalten, dass obwohl der

Verfassungsgeber die Gewissensfreiheit in der in dieser Arbeit dargestellten Reichweite

explizit nicht normiert hat, hat er doch dieses Grundrecht in einer keimfähigen Form

verankert, die über hinreichende Offenheit verfügt, damit die durch die dynamische

Auslegung gewonnenen Rechtsinhalte in ihren Schutzbereich Eingang finden können. Die

weitere Entwicklung der Grundrechte wird durch den Verfassungsgeber gutgeheißen. Im

Ergebnis wird durch die Anwendung der dynamischen Auslegung zwecks der Entwicklung

der weltlichen Facette der Gewissensfreiheit dem historischen Willen des Gesetzgebers nicht

entgegengetreten. Es wird zu zeigen sein, dass diese These durch teleologische Auslegung der

Gewissensfreiheit bestätigt wird.

Die Anwendung der dynamischen Interpretation der Gewissensfreiheit in der polnischen

Verfassung ist für die dogmatische Herausarbeitung dieses Grundrechts besonders

aussichtsvoll. Dadurch kann der Säkularisierungsprozess der polnischen Gesellschaft

mitberücksichtigt werden, der voraussichtlich die Zunahme der Bedeutung der von einer

Religion abgelösten moralischen Positionen der Individuen führen wird. Da die

Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung wenn auch in einer rudimentären Form, doch

aber verankert ist, würde die Anwendung des dynamischen Ansatzes den textlichen Rahmen

381

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 87. 382

G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 102. 383

Y. Gómez Sánchez, Derechos y libertades, Madrid 2003, S. 115, siehie auch: C. Gomes, J. Jose, Direito

Constitucional, Coimbra 1993, S. 212.

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98

der Verfassung nicht sprengen. Die dynamische Auslegung bedarf allerdings einer starken

axiologischen Untermauerung in den verfassungsrechtlichen Werten. Die Verwurzelung der

Gewissensfreiheit in der Axiologie der Verfassung ist mit Hilfe der systematischen und

funktionalen (teleologischen) Auslegungsmaßstäbe sowie anhand anderer

verfassungsspezifischen Auslegungsmethoden zu ermitteln.

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99

Kapitel III

Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut

1. Grundsätze der Auslegung nach Wortlaut und ihre Folgen für die

Auslegung des Gewissensbegriffs

In einem demokratischen Rechtsstaat nimmt die grammatische Auslegung eine privilegierte

Stellung ein, obwohl die Rolle der funktionalen Auslegungsmethode immer größer wird. Der

Vorrang der Auslegung nach Wortlaut ergibt sich aus dem Grundsatz des Rechtsstaates,

wonach der Normadressat sich darauf verlassen können muss, „was in einem Rechtsakt steht

und nicht was der Gesetzgeber zu erreichen beabsichtigte oder wollte.“384

Der Rechtstext ist

ein formaler Ausdruck der Autorität des Gesetzgebers und der demokratischen Legitimität. Er

ist für jedermann zugänglich, welcher die ethnische Sprache spricht, in der der Text verfasst

ist. Eine im Wortlaut verankerte Auslegungsentscheidung bedarf daher keiner zusätzlichen

Begründung.385

Dem Normadressaten ist nicht zuzumuten, Vermutungen anzustellen, was der

Rechtsgeber sagen wollte, oder was er sagen würde, wenn er sich neuer Umstände bewusst

wäre. Deshalb wenn von einer Auslegung nach Wortlaut abgewichen wird, muss sich die

Interpretation im Rahmen einer möglichen Wörterbuchbedeutung des interpretierten

Rechtsbegriffs halten.386

Der Auslegungsprozess ist mit der Anwendung des grammatischen Interpretationskriteriums

zu beginnen, „damit der Wortlaut einer Vorschrift nicht ausdunstet.“387

Der Anhaltspunkt

jedes Interpretationsaktes ist immer die sprachliche Fassung einer Vorschrift, d.h. ihre

semantische und syntaktische Form. Der Interpret betrachtet dabei den Willen des

Rechtsgebers nicht als real vorexistent. Der Wille des Rechtsgebers kann lediglich insoweit

berücksichtigt werden, als sich Anhaltspunkte für die Annahme seines sprachlichen

Ausdrucks finden lassen.388

Darüber hinaus dürfen die Rechtsvorschriften derart nicht

384

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 68. 385

T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków

2006, S. 34. 386

L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 143. 387

F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,

Madrid 2004, S. 58f. 388

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 211.

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100

interpretiert werden, dass im Ergebnis einige Vorschriftelemente überflüssig werden.389

Damit

wird das Verbot der Auslegung per non est beachtet, wonach jeder Bestandteil der Vorschrift

eine normative Bedeutung hat und deswegen kein Fragment der Vorschrift als gegenstandslos

und entbehrlich betrachtet werden darf.390

Aus dieser Auslegungsdirektive ergibt sich, dass

dem verfassungsrechtlichen Begriff des Gewissens eine spezielle, von der Religionsfreiheit

unabhängige Sinndeutung beizumessen ist. Bei der Gleichstellung der Gewissensfreiheit mit

der Religionsfreiheit würde der Gewissensbegriff als superfluum betrachtet.

Weiterhin ist davon auszugehen, dass der Rechtsgeber die in demselben Rechtsakt

vorhandenen Begriffe jedes Mal in demselben Sinn benutzt. In der polnischen Verfassung

befindet sich der Gewissensbegriff noch in der Präambel, wonach sich das polnische Volk aus

gläubigen und nichtgläubigen Staatsbürgern zusammensetzt. Einerseits ist dort von

denjenigen Bürgern die Rede, „die an Gott glauben“, sowie von denen, „welche diesen

Glauben nicht teilen“ und die universellen Werte der Wahrheit, des Guten und des Schönen

aus anderen, nichtreligiösen Quellen ableiten. Andererseits wird zwischen denjenigen

unterschieden, welche Gott als eine Verantwortungsinstanz anerkennen und denjenigen, für

welche das Gewissen die höchste Instanz ihrer moralischen Verantwortung ist. Diese

Gegenüberstellung der religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen in der Präambel

spricht für die Zuschreibung dem Begriff „Gewissen“ eines spezifischen, von dem religiösen

Glauben abgelösten Sinngehalts. Es gibt keinen hinreichenden Grund dafür, den in Art. 53

Verf. befindlichen und in dem religiösen Zusammenhang verflochtenen Begriff des

Gewissens anders auszulegen, als denjenigen in der Präambel, der von dem religiösen

Kontext völlig abgelöst ist.

2. Notwendigkeit der Definierung des Gewissensbegriffs

Der Ausgangspunkt für die Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit findet sich

zunächst im Text der Verfassung, im Begriff „Gewissen“. Da es ohne die Vorstellungen über

389

J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,

S. 32; A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la

jurisprudencia chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 333; W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i

prawa, Warszawa 1986, S. 444; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 144; J. Nowacki, Z.

Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 223; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994, S.

231. 390

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 106; S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i

prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 82.

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101

das Phänomen „Gewissen“ nicht möglich ist, den Gegenstand der Gewissensfreiheit

festzulegen, stellt sich vor dem Interpreten die Frage nach dem Inhalt dieses Begriffs; der

Inhalt und Schutzbereich der Gewissensfreiheit können nur dann zuverlässig umrissen

werden, wenn eine möglichst tiefe Kenntnis des Schutzobjekts besteht.

Der Begriff des Gewissens ist Gegenstand theologischer, philosophischer, im 20. Jahrhundert

auch psychologischer und soziologischer Untersuchung, wobei bisher keine Einigkeit über

das untersuchte Phänomen erzielt worden ist. Gelegentlich wird aus dieser Tatsache der

Schluss gezogen, dass in der Rechtswissensschaft nicht zulässig ist, den Gewissensbegriff zu

definieren, weil „es einen vorjuristischen Gewissensbegriff nicht gibt.“391

Das Gewissen, als „Kernbereich der geistig-sittlichen Person (…) und Personengeheimnis des

Menschen“392

entzieht sich ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grad juristischer

Handhabung, gleichwohl erlaubt die Verankerung der Gewissensfreiheit in der Verfassung

nicht, das Gewissen als definiendum indefinibile zu betrachten. Als Ausgangspunkt wird

vorausgesetzt, dass um vom Gewissen überhaupt sprechen zu können, zumindest einige

notwendige Elemente des Gewissensbegriffs als unumstritten vorhanden sein müssen. Dazu

gehören die moralische Bewertung, das Treffen einer Gewissensentscheidung sowie das

Vorliegen eines minimalen „Quantum“ der Werte, anhand deren moralische Entscheidungen

und Bewertungen konzeptualisiert werden.393

3. Alltagsverständnis des Gewissens als Ausgangspunkt für die Auslegung

des Gewissensbegriffs

Zu Beginn der Auslegung nach Wortlaut ist zu ermitteln, ob der ausgelegte Begriff im

allgemeinsprachlichen Sinn benutzt wird oder ob er vielmehr ein terminus technicus der

Rechtsprache ist.394

Die Beantwortung dieser Frage richtet sich nach dem Grundsatz, dass

wenn ein Rechtsbegriff durch den Gesetzgeber definiert ist (Legaldefinition), ist diese

391

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 3 392

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 437. 393

Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen

Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 33, S. 20; E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w

systemach prawnych Polski i Niemiec, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 59; J. Szymanek, Wolność

sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 57. 394

S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 49.

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102

Begriffsbestimmung bei der Rechtsauslegung zugrunde zu legen. Im Gegenteil wenn eine

Legaldefinition nicht vorhanden ist, ist dem Rechtsbegriff diejenige Bedeutung zu geben, die

in der Rechtsprechung und Lehre allgemein akzeptiert ist (communis opinio doctorum). Erst

wenn keine herrschende Meinung vorliegt, ist auf den allgemeinen Sprachsinn

zurückzugreifen.395

In diesem Zusammenhang ist im Voraus darauf hinzuweisen, dass die

Ergebnisse der Auslegung nach Wortlaut deswegen unterschiedlich sein können, weil in

manchen Fällen von der Wertungen des Interpreten abhängt, ob hinreichende Gründe

bestehen, um dem zu interpretierenden Rechtsbegriff eine spezifische Bedeutung zu geben,

die von der Standardsprache abweicht.396

In der polnischen Methodenlehre wird von der allgemeinen Vermutung der

Umgangssprache,397

präziser gesagt von der Vermutung der Standardsprache ausgegangen,

die allerdings auf Kritik gestoßen hat. Zieliński 398

steht nämlich auf dem Standpunkt, dass im

Prozess der Interpretation nach Wortlaut eine bestimmte Reihenfolge der Spracharten zu

beachten ist. Es ist nämlich der Vorschriftsprache 399

den Vorrang einzuräumen, dann soll die

juristische Sprache berücksichtigt werden und erst dann wenn die beiden rechtlichen Sprachen

zu keinem interpretatorischen Ergebnis führen, ist auf die Standardsprache zurückzugreifen.

Dies wird mit spezifischen, normativen Charakter der Vorschriftsprache, die sich vom

deskriptiven Charakter der Standardsprache abhebt, sowie mit immer häufigerer Benutzung

durch den Rechtsgeber der Legaldefinitionen begründet. Für die nachrangige Position der

Standardsprache könnte die in der polnischen Methodenlehre vertretene Theorie der

395

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 94, 99. 396

E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 132. 397

W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 443; L. Morawski, Wstęp

do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 141; L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 89; J. Nowacki,

Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 223; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994,

239; vgl. auch im speziellen Bezug auf die Auslegung der Verfassung: J. Armagnague, Manual de Derecho

Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996, S. 31; E. Grana, C. Alvarez, Principios

de Teoría del Estado y de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 315; siehe auch: H. Nogueira Alcala,

Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006,

S. 34; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de

Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992,

S. 295. 398

M. Zieliński, Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 123f. 399

Die polnische Rechtstheorie unterscheidet zwischen der Vorschriftsprache (język prawny), d.h. der Sprache,

in der die Texte der Vorschriften verfasst sind, von der juristischen Sprache, d.h. der Sprache der

Rechtswissenschaft, deren Begriffe in den Rechtsakten nicht vorkommen, werden aber von der Rechtslehre und

von den Rechtspraktikern allgemein benutzt. Mein Übersetzungsvorschlag des Terminus „język prawny” als

„Vorschriftsprache“ und nicht als Rechtsprache wird der Unterscheidung zwischen dem Begriff „Vorschrift“, die

in der polnischen Rechtslehre als textliche, redaktionelle Einheit aufgefasst wird, und der Norm, die als eine aus

der Vorschrift im Wege der Interpretation entnommene Direktive des konkreten Verhaltens verstanden wird,

gerecht.

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103

vorgefundenen Begriffe (teoria nazw zastanych) sprechen. Diese Theorie geht von der

Annahme aus, dass die Rechtakte nicht in einem rechtlichen Vakuum geschaffen werden. Die

Rechtstradition verleiht nämlich den Rechtsbegriffen einen bestimmten Sinngehalt. Auch

wenn sie nachträglich in andere Rechtsakte inkorporiert werden, behalten sie diesen

Sinngehalt, es sei denn, dass der Rechtsgeber von ihm ausdrücklich abweicht.

Der Vorschlag, den Vorzug der technischen Sprache einzuräumen, verkennt die Tatsache,

dass die Verabschiedung eines Rechtsaktes das Bestehen einer „ sprachlichen Gemeinschaft

aller durch die normative Aktivität Betroffenen“400

voraussetzt. Jeder Rechtsgeber will das

Verhalten der Rechtsadressaten beeinflussen und um dieses Ziel zu erreichen, muss er den

Normadressaten den Norminhalt effektiv kommunizieren. Für eine effektive Kommunikation

ist allerdings notwendig, dass der Normgeber und die Rechtsadressaten dieselbe Sprache

gebrauchen. Außerdem wäre nicht ethisch, der Rechtsgemeinschaft eine andere Art der

Sprache aufzuerlegen, welche sie nicht kennt,401

es sei denn, dass bestimmte Rechtsbegriffe

vom Gesetzgeber selbst definiert werden (Legaldefinitionen).

Der Vorrang der spezifischen Juristensprache in der Auslegung lässt sich auch mit dem

Grundsatz ignorantia iuris nocet, die Grundlage jeder Rechtsgeltung ist, nicht vereinbaren.

Danach wird von der Rechtsfiktion ausgegangen, dass die Normadressaten die an sie

gerichteten Rechtsätze kennen. Durch die Abweichung von dem Vorrang der Standardsprache

würde den Bürgern eine Schutzmöglichkeit ihrer Interessen durch Berufung auf mangelnde

Klarheit eines Rechtsaktes entzogen. Darüber hinaus könnte die Annahme des Prinzips des

Vorranges der technischen Rechtsprache bei der Auslegung nach Wortlaut zur Legitimierung

einer für die Normadressaten wenig verständigen Art und Weise der Formulierung von

Rechtsakten führen.402

Die Annahme der Vermutung der Standardsprache ist von besonderer

Bedeutung im Fall der Auslegung der Verfassung, die an das ganze Staatsvolk und nicht an

eine Gruppe der Spezialisten gerichtet ist und deshalb für alle Normadressaten verständlich

sein soll.403

400

A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 384. 401

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 557. 402

K. Osajda, Domniemanie języka potocznego, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa

2005, S. 139f. 403

G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 90f, 113.

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104

Bezogen auf den Begriff des Gewissens und der Gewissensfreiheit im polnischen

Rechtssystem kann die Theorie der vorgefundenen Begriffe keine Anwendung beanspruchen.

Der Termin „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ ist in der polnischen Verfassungsgeschichte

zwar seit Märzverfassung verankert, in der Lehre hatte er aber keinen eindeutigen Sinngehalt.

Darüber hinaus hat sich der Verfassungsgeber in 1997 bei der Regelung der Gewissensfreiheit

für das Begriffspaar „Gewissens- und Religionsfreiheit“ entschieden, was der Bruch mit der

terminologischen Tradition bedeutet. Der Begriff des Gewissens ist somit nicht als ein

rechtstechnischer Begriff wie etwa zivilrechtliche Begriffe „Besitz“ oder „Vermächtnis“ zu

betrachten, sondern ist ihm in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen.

Es ist dabei auf auf die Wörterbuchbedeutung dieses Begriffs zurückzugreifen.404

Die Annahme des allgemeinen Sprachgebrauchs als Ausgangspunkt für die Auslegung des

Gewissensbegriffs bedeutet allerdings nicht, dass der Interpret die Erkenntnisse der einzelnen

Wissenschaftsdisziplinen unberücksichtigt lassen muss. Da die Rechtsprechung der

demokratischen Staaten unter rationalen Begründungszwang steht, ist davon auszugehen, dass

der Begriff des Gewissens auf intersubjektiv vermittelbare Weise rekonstruiert werden soll.

Zu den Argumenten, die den Anspruch auf allgemeine Akzeptanz erheben können, gehören

die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft nach dem gegenwärtigen Forschungstand. In

diesem Zusammenhang wird die Berufung des BverfG auf den „allgemeinen

Sprachgebrauch“ deswegen kritisiert, weil dieser Ansatz nicht vermag, eine der möglichen

Bedeutungen des Gewissens vorauszusetzen. Durch die einseitige Annahme des allgemeinen

Sprachgebrauchs wird das Tor für die Auseinandersetzung mit den Erträgen der Wissenschaft

verschlossen.405

Andererseits wird vertreten, dass das Alltagsverständnis des Gewissens

wenig geeignet ist, das Gewissen präzise zu erfassen. Soweit es überhaupt existiert und

feststellbar ist, ist der allgemeine Sprachgebrauch zu „diffus und sinnvariabel“406

, um das

untersuchte Phänomen zu beschreiben. Aus den oben genannten Gründen wird bei der

Interpretation des Gewissensbegriffs von dem Alltagsverständnis des Gewissens nicht

verzichtet, es wird jedoch mit den grundlegenden Erkenntnissen der Philosophie und

Psychologie ergänzt.

404

S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 81. 405

P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62. 406

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 41f, 69.

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105

4. Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates als

Auslegungsdirektive des Gewissensbegriffs

Nach einer Meinung hat der Gesetzgeber die Definierungskompetenz des Gewissens den

Ethikern zu Recht überlassen.407

Damit wird allerdings verkannt, dass dieser Begriff als das

Tatbestandsmerkmal der Gewissensfreiheit „der staatlichen – letzthin

verfassungsgerichtlichen – Definitionsmacht unterworfen“408

sein muss. Bei der Interpretation

des Gewissensbegriffs ist der Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates zu

berücksichtigen, der sich der Verabsolutierung einer Geisteswissenschaft widerspricht.

Gemäß diesem Grundsatz ist nämlich verwehrt, eine bestimmte Gewissenskonzeption der

juristischen Auslegung zugrunde zu legen, die in weltanschaulich relevanten Wissenschaften

verwendet wird.409

Mit anderen Worten: es ist nicht erlaubt, eine isolierte Strömung der

Wissensschaft zum Rang der Auslegungsideologie der Gewissensfreiheit zu erheben. Nach

einer anderen Auffassung sind die Philosophie und Theologie für das Explizieren des

Gewissensbegriffs überhaupt nicht anwendbar; die Grundlage für die Analyse des

Gewissensphänomens sollen vielmehr psychologische Ansätze bilden. Der Grundsatz der

weltanschaulich- religiösen Neutralität rechtfertigt die Umstellung von den philosophischen

und theologischen auf ein ausschließlich empirisches Gewissensverständnis.410

Die Rechtswissenschaft kann jedoch nicht derart betrachtet werden, als ob sie von Einflüssen

anderer Sozialwissenschaften losgelöst wäre. Die Berücksichtigung der Beiträge der

benachbarten Geisteswissenschaften kann das Verständnis der untersuchten Phänomene

407

A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o zawodach lekarza i lekarza

dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa medycznego, Poznań 2008,

S. 15. 408

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 492. 409

Statt vieler: W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting

decisions of conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for

Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Proceedings of the meeting Brussels-

Leuven, December 7 -8 1990, Milano, S. 29ff; R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum

Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der Staat, Nr. 25, 1986, S. 251; A. Podlech, Das Grundrecht

der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S. 21; S. Muckel, Art. 4 Glaubens-

und Gewissensfreiheit in: K. H. Friauf, W. Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin 2008, Rn. 57. 410

R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der

Staat, Nr. 25, 1986, S. 252.

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106

bereichern und ist daher durchaus gerechtfertigt. Es ist auch nicht einzusehen, warum der

Rückgriff auf Erkenntnisse anderer Disziplinen unterbleiben soll, und warum der Jurist

warten müsste, bis dort ein Konsens über das Gewissensverständnis erzielt ist, wenn

anzunehmen ist, dass die Erreichung eines solchen Konsenses kaum möglich ist.411

Aus dem Grundsatz der Neutralität des Staates ergibt sich auch, dass der Begriff des

Gewissens einheitlich und für alle Bürger gleich auszulegen ist, ohne dass die persönlichen

Anschauungen des Interpreten zu diesem Phänomen oder seine moralischen Überzeugungen

in die Auslegung Eingang finden. Dem Staat steht grundsätzlich nicht zu, eine

Gewissensentscheidung wegen ihres Inhalts nicht als solche anzuerkennen. Daraus folgt, dass

„das Gewissen sich jedes Gegenstandes bemächtigen, alles Verhalten gewissensrelevant

werden kann.412

Aus Gründen der weltanschaulichen Neutralität ist somit irrelevant, ob eine

Gewissensposition typisch oder atypisch, strikt individualistisch oder getragen durch eine

Religion oder Weltanschauung, „rational und vernünftig“ ist.413

Die für das Gewissen

maßgeblichen Gebote können sich zwar auf ein geschlossenes Wertsystem berufen, diese

können jedoch auch außerhalb eines solchen liegen;414

die Gewissensentscheidung kann auf

bewussten oder unbewussten Bindungen, auf einer undogmatischen, individuellen

Überzeugung oder auf weltanschaulichen oder religiösen Grundsätzen beruhen.415

Die

„einschränkungslose Subjektivierung“416

des Gewissens ist die unausweichliche Folge seiner

Säkularisierung.

Der weltanschaulich neutrale Staat schreibt seinen Bürgern nicht vor, was moralisch richtig

oder falsch ist, es sei denn, dass sich um fundamentale, in der Verfassung verankerte Werte

411

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 70; E. Schwierskott, Das Grundrecht der

Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 29. 412

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 492. 413

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 12,13; K. Daniel,

Kontrowersje wokół wprowadzenia wartości chrześcijańskich do prawa in: K. Palecki, Dynamika wartości w

prawie, Kraków 1997, S. 162f. 414

K. Daniel, Kontrowersje wokół wprowadzenia wartości chrześcijańskich do prawa in: K. Palecki, Dynamika

wartości w prawie, Kraków 1997, S. 162f; Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt , F. Klein,

Ch. Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1, Art. 4, Rn. 31, München 1999. 415

J. Kokott in: M. Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, München 1992, S. 255, Rn. 19. 416

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 493.

Page 119: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

107

handelt, die das Gemeinwesen konstituieren.417

Die grundsätzliche Ablösung des Gewissens

des Einzelnen von den inhaltlichen Richtigkeitsvorstellungen der Anderen ist rechtstechnisch

die Voraussetzung dafür, dass gerade die Gewissenspositionen der Minderheiten durch das

Grundrecht der Gewissensfreiheit geschützt werden.418

5. Autonome und heteronome Gewissenskonzeptionen

Die Gewissenskonzeptionen lassen sich grob auf autonome und heteronome aufteilen. Das

Unterscheidungskriterium ist dabei die Bestimmungsfreiheit des Einzelnen bei der Auswahl

der Werte, nach denen er sein Leben gestaltet. Heteronome Gewissenstheorien betrachten den

Menschen als grundsätzlich unfrei und fremdgesteuert. Kennzeichnend für sie ist die

Auffassung, dass ein Gewissensgebot bzw. -verbot von außen an den Menschen

herangetragen wird. Nach theologischer Sicht vernimmt der Mensch im Gewissen die Stimme

Gottes. Aus der psychologischen und soziologischen Perspektive entsteht das Gewissen im

Prozess der Verinnerlichung durch das Individuum der Werte des Kollektivs, die ihrerseits

das Wertempfinden des Individuums vollständig determinieren. Die autonomen

Gewissenskonzeptionen dagegen wurden in der Philosophie und Ethik herausgearbeitet. In

einem autonomen Sinn ist das Gewissen „eine Art des Mitwissens (conscientia), darum, dass

der Mensch ein moralisches Wesen ist, dass heißt, das Bewusstsein dafür, dass der Mensch als

solcher der letzte Zweck seiner Handlungen ist. Durch dieses Wissen wird der Mensch in die

Lage versetzt, seinen eigenen Willen an einem Maßstab zu bewerten, der nicht von der Natur

oder der Gesellschaft vorgegeben, sondern allein an eigenen Selbstwert, also zweckfrei

orientiert ist.“419

Die autonomen Gewissenskonzeptionen werden ihrerseits in intuitive und normative

unterteilt. Bei den intuitiven Gewissenskonzeptionen ist die Erkenntnis vom Gut und Böse der

objektiven Kritik nicht zugänglich. Daher sind sie im Recht, das Kommunizierbarkeit und

Intersubjektivität voraussetzt, nicht verbrauchbar. Die normativen Konzeptionen gehen von

417

J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 114. 418

R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der

Staat, Nr. 25, 1986, S. 252. 419

P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62.

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der Geltung eines allgemeinen Gesetzes aus, die Bindung an dieses Gesetz ist aber von

externen Faktoren nicht aufgezwungen, was auf eine heteronome Gewissenskonzeption

hinausliefe. Die Letztentscheidung, ob eine Handlung mit diesem Gesetz vereinbar ist, trifft

immer der Betroffene.

6. Beitrag der Philosophie für die Auslegung des Gewissensbegriffs in

Rechtswissenschaft

Die Übertragung einer bestimmten Gewissenskonzeption aus anderen Sozialwissenschaften,

insbesondere aus dem Bereich der Philosophie würde zwar, wie oben ausgeführt, gegen das

Neutralitätsprinzip verstoßen, dies bedeutet aber nicht, dass philosophische

Anseinandersetzungen mit dem Gewissen für die verfassungsrechtliche Dogmatik der

Gewissensfreiheit unbrauchbar sind. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass sie zur Klärung

des verfassungsrechtlichen Begriffs beitragen können.420

Dieser für die Rechtswissenschaft

nützliche Beitrag kann in einem gemeinsamen Nenner der einzelnen philosophischen

Gewissenskonzeptionen liegen.

Fast allen theologischen und philosophischen Gewissenskonzeptionen ist der Versuch

gemeinsam, eine transzendente Realität oder eine objektive Rechtsordnung als Bezugspunkt

für das Gewissen nachzuweisen. Das Gewissen wird danach als ein Erkenntnisorgan für ein

transzendentes Sollen aufgefasst.421

Tiedemann steht auf den Standpunkt, dass in der Vielfalt der ethischen Systeme der

gemeinsame Nenner zwar gering ist, soll er aber durch die Rechtsprechung berücksichtigt

werden. Zu den Grundsätzen, die nach dem zitierten Autor durch jedes moralische System

akzeptiert werden, gehört der formale Grundsatz der logischen Konsistenz und der materielle

Grundsatz der Goldenen Regel, der in der kantischen Ethik als kategorischer Imperativ seine

Verfeinerung erfahren hat. Wenn auch von einigen Ethikern vertreten wird, dass der

420

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle

Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S. 364. 421

Ebenda, S. 364; E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 43.

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kategorische Imperativ für die moralische Qualifizierung des menschlichen Handelns nicht

hinreichend ist, bestreitet niemand, dass dieses Kriterium eine notwendige Bedingung für die

Bezeichnung eines Verhaltens als „moralisch gut“ ist.422

Die Aufnahme des kategorischen Imperativs in den Gewissensbegriff der Verfassung hätte

zur Folge, dass in einem Anerkennungsverfahren des Verweigerungsrechts des Individuums

aus Gewissensgründen festzustellen zulässig wäre, ob der Einzelne die Vornahme der

verweigerten Handlung durch die Anderen als genauso verwerflich wie die eigene Handlung

ansieht also, ob der Grundrechtsträger seine Maxime für die Verallgemeinerung fähig und

akzeptabel hält. Eine solche Frage könnte gerechtfertigt sein, wenn Zweifel hinsichtlich der

Position des Einzelnen bestehen und wenn die gesellschaftsbezogenen Handlungen

Gegenstand der Verweigerung aus Gewissensgründen bilden.423

Eine moralische Haltung, die

dem Verhalten der Mitmenschen gegenüber gleichgültig wäre, kann im Lichte des

kategorischen Imperativs nicht glaubwürdig sein, weil sie keinen

Verallgemeinerungsanspruch erhebt. Darüber hinaus würde sie einen Verdacht wecken, dass

es um ein eigensüchtiges, strategisches oder instrumentales Verhalten geht.424

Der deutsche Gesetzgeber hat das Kriterium des moralischen Universalismus für

Anerkennungsmaßstab des Kriegsdienstverweigerungsrechts erklärt. Gemäß §25

Wehrpflichtgesetz wird als Kriegsdienstverweigerer derjenige angesehen, der „sich aus

Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen Staaten widersetzt.“

Danach muss die Gewissensentscheidung des Kriegsdienstverweigerers einen absoluten

Charakter haben. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss ihr der

Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit innewohnen; „Die Gewissensentscheidung gegen den

Kriegsdienst setzt daher voraus, dass der Wehrpflichtige das Töten von Menschen durch

Menschen nicht nur aus moralischen oder ethischen Erwägungen missbilligt, sondern es

grundsätzlich (...) ohne Einschränkung als sittlich verwerflich empfindet.“425

Rühl hat in

diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass die Rechtsprechung ohne inhaltliche

422

P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 63. 423

T. Kunze, Nochmals. Das Ende der Gewissensfreiheit?, in: NVwZ, 1983, S. 399; H. H. Klein,

Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.

Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 424

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von

Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,

Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 262. 425

Das Urteil des BverwG vom 01,02.1982 - 6 C 126/80.

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110

Bewertung der moralischen Qualität der Gewissensentscheidungen nicht auskommen kann

und „die „Absolutheit„ als Kriterium wählt, die sich als kontextentblößte, enthistorisierte und

entpolitisierte Form des moralischen Universalismus interpretieren lässt.“426

Was das Postulat des universalistischen Charakters der Moral des Einzelnen angeht, ist die

deutsche Rechtsprechung aus dem Bereich der Kriegsdienstverweigerung aus

Gewissensgründen besonders lehhreich. Das BverwG hat nämlich erörtert, ob eine ernsthafte

Gewissensentscheidung auch dann angenommen werden kann, wenn der Betroffene zwar den

Kriegsdienst in seiner Person ablehnt, gleichvoll die Ausführung des Kriegsdienstes durch

andere Personen nicht missbilligt. Das BverwG hat zunächst die Forderung aufgestellt, dass

ein Kriegsdienstverweigerer das kriegsbedingte Töten Anderer für ebenso verwerflich halten

muss wie eigene Tötungshandlungen, um das Vorliegen einer für die Entpflichtung

erforderliche Gewissensentscheidung bejahen zu können.427

Nachfolgend hat jedoch das

BverwG diese Forderung abgeschwächt und dargelegt, dass die Achtung und Respektierung

des Kriegsdienstes Anderer nicht notwendig gegen eine Gewissensentscheidung gegen den

Kriegsdienst spricht.428

Insgesamt kann man damit die Ernsthaftigkeit der

Gewissensentscheidung nicht in Frage stellen, wenn der Betroffene die Akzeptierung einer

Rechtspflicht durch Andere billigt. Eine andere Wertung würde dem Toleranzprinzip

widersprechen. Damit steht es einer ernsthaften Gewissensentscheidung nicht entgegen, wenn

der Gewissensträger die Einhaltung einer von ihm als gewissensrelevant empfundenen Pflicht

durch Andere billigt.429

Aus dem Postulat der logischen Konsistenz ergibt sich, dass die Erklärungsinhalte des

Einzelnen darauf untersucht werden können, ob inhaltliche Widersprüche den Schluss

erlauben, dass seine Aussagen unaufrichtig sind.430

426

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von

Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,

Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 261. 427

BVerfG Urt. v. 01.02.1982, 6 C 126/89, in: NVwZ, 1982, S. 675. 428

BVerfG Urt. v. 11.03.1985, 6 C 9/84, in: NVwZ, 1985, S. 493. 429

J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Berlin, 2003, S. 62. 430

F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236.

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111

7. Ethische Dimension als Spezifikum einer Gewissensentscheidung

Der Mensch, der sein Bedürfnis, frei zu sein, befriedigen will, befindet sich intuitiv auf der

Suche nach Wahrheit bezüglich des Guten. Mit anderen Worten: wenn der Einzelne sich

Fragen betreffs der Lebensgrundsätze, Normen, Gebote und Werte stellt, strebt er nach

Erkenntnis der Wahrheit über die Regeln des guten Handelns. Dies bedeutet seinerseits, dass

er erfahren will, wie man in eine gute Art und Weise frei sein kann.431

Wenn das Individuum

den Diktaten seines Gewissens unbedingt gehorchen will, tut es das, weil er zutiefst davon

überzeugt ist, dass das Gewissen dasjenige Instrument ist, das fähig ist, unser Handeln nicht

gemäß irgendeiner Wahrheit zu leiten, sondern aufgrund des Wissens über unserem

authentischen Guten.432

Der Mensch ist fähig, sich in seinem Gewissen frei und

verantwortlich der Wahrheit über das Gute zu unterwerfen, welche er erkannt und verstanden

hat. Diese Unterwerfung ist aber kein blinder Gehorsam dem Gewissen gegenüber, sondern

eine Subordinierung kraft der inneren Überzeugung, dass das Gewissen ein effizienter Sucher

und Hüter der den Sinn des Lebens berührenden Wahrheit ist. Er errichtet seine Freiheit,

indem er diese Wahrheit verwirklicht.433

Das Gewissen ist somit eine Instanz, welche mit der Sittlichkeit verbunden ist. Während der

Glaube oder die Weltanschauung den Einzelnen lehrt, wie er/sie einen bestimmten

Sachverhalt oder Vorgang zu verstehen hat, unterrichtet ihn das Gewissen, wie er/sie sich in

einer bestimmten Situation „richtig“ zu verhalten hat.434

Das Gewissen gehört der Sphäre der

Vernunft und genauer der Sphäre der praktischen Vernunft, weil es sich um ein Urteil in

Bezug auf moralische Pflichten handelt. Es ist ein Urteil darüber, was in einer konkreten

Situation moralisch geboten oder verboten ist. Das bloße Wissen um das moralisch Gute und

Böse ohne Bezug auf den konkreten Fall, in dem dieses Wissen Anwendung findet, sowie

Verbreitung des moralischen Wissens fällt in den Schutzbereich der Religions- und

Weltanschauungsfreiheit. Das Gewissen wird dagegen in seiner Funktion des Anwenders

einer subjektiv als verpflichtend anerkannten Norm vom Grundrecht der Gewissensfreiheit

431

S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 176. 432

Ebenda, S. 179. 433

Ebenda, S. 180. 434

R. Herzog, Art. 4, in: T. Manuz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 125.

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geschützt. Der Inhalt des Gewissensurteils hängt von dem angenommenen moralischen

System ab.435

Das Gewissen ist eine tiefe Überzeugung vom Recht und Unrecht einer Tat. Es ist „das

subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert oder Unwert des eigenen Verhaltens.“436

Daraus

resultiert, dass sich Gewissensgründe an Kategorien des sittlich Guten und Bösen

orientiertieren.437

Sie können von jeder Weltanschauung hervorgehen, welche fähig ist, ihren

Anhängern moralische Pflichten hinsichtlich des praktischen Verhaltens zu liefern.438

Wenn

auch häufig vorkommt, dass mehrere Verweigerungsgründen im Gewissen des Verweigerers

konvergieren und ein Motivationsgebilde darstellen, in welchem einzelne Elemente nicht

scharf trennbar sind,439

stellt das sittliche Element einen unerlässlichen Bestandteil einer

Gewissensentscheidung dar. Der Einzelne misst sein moralisches Handeln nicht am Kriterium

der Effizienz oder des Erfolges, an Sicherheit oder Anerkennung, sondern allein am Maßstab

von „Gut“ und „Böse“. Dabei sind diejenigen Handlungen als gut angesehen, die bei dem

Einzelnen das Gefühl erwecken, mit sich selbst identisch zu sein. Die Handlungen dagegen

werden für böse gehalten, wenn das Individuum das Gefühl bekommt, von seinem eigenen

Ideal getrennt zu sein.440

Die sittliche Dimension des Gewissens wurde in der deutschen Rechtsprechung

hervorgehoben. Das BverwG versteht das Gewissen als „die eigene Erkenntnis des Erlaubten

und des Verbotenen und die Ansicht, verpflichtet zu sein, dieser Erkenntnis gemäß zu

handeln, somit eine dem Innern ursprünglich vorhandene Überzeugung von Recht und

Unrecht und die sich daraus ergebende Verpflichtung des Betroffenen zu einem bestimmten

Handeln oder Unterlassen.“441

Die Gewissensentscheidung wird dagegen vom BverfG als

435

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,

1984, S. 44f. 436

BverwGE, 7, 246; 9, 97; R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der

Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner

Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 34. 437

BvervGE, 12, 56; BverwGE, 13, 171; 7, 246; 12, 272, Aus der Literatur siehe statt vieler: H. Jarras, B.

Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 4, München 1995, Rn. 41; Ch. Starck,

Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1,

Art. 4, München 1999, Rn. 61; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S.

23f. 438

J.O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 239. 439

Ebenda, S. 236. 440

P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62. 441

BverwGE, 7, 242, 246.

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113

„jede ernste sittliche d.h. an den Kategorien von ‚Gut‟ und ‚Böse‟ orientierte Entscheidung,

die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend

erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“442

definiert. Das

konstitutive Merkmal der Gewissensentscheidung ist somit ihre sittliche unbedingte

Verbindlichkeit. Ein Verhalten muss sich für den Einzelnen nicht nur als ethisch

missbilligenswert, sondern darüber hinaus auch als verwerflich darstellen.443

Diese

Begriffsbestimmung hat in der Lehre weite Zustimmung gefunden.444

Einige Autoren haben allerdings den ethischen Moment der Gewissensentscheidung nicht

deutlich hervorgehoben oder überhaupt verkannt; z.B. Frowein445

argumentiert, dass sich

„jede ernsthafte und an grundlegenden Kategorien irgendwelcher Art orientierte

Entscheidung“ eine Gewissensentscheidung darstellen kann. Böckenförde446

vertritt die

Ansicht, dass sich die Gewissensrelevanz einer Frage lediglich nach individueller

Persönlichkeit und Selbstdarstellung des Einzelnen bestimmt. Diese Annahme würde dazu

führen, dass zu einer Gewissensentscheidung eine religiöse, rationale oder politische

Überzeugung werden könnte, ohne sich zum sittlichen Imperativ verdichten zu müssen.

Preuß447

schließt auch politische Überzeugungen zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit

ein. Er weist darauf hin, dass dies durch Art. 38 Abs. 1 GG, wonach die Abgeordneten

lediglich an sein Gewissen gebunden sind, positivrechtliche Bestätigung findet. Martínez

Blanco448

begründet die Einbeziehung der politischen Positionen in den Schutzbereich der

442

BverfGE, 12, 45, 55. 443

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 154; G. del Moral, La

objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y

función pública, Madrid 2007, S. 253; BverwG, Urteil von 01.02.1982, 6C 126/80, BVerwG 64, 369(371). 444

Statt vieler: H. Bethge, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik

Deutschland, VI, Heidelberg 1989, S. 441; E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen

Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 32; R. Zippelius, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik

Deutschland, Art. 4, R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz Heidelberg

2008, Rn. 34; U. Mager, in: I. von Münch, P. Kunig, Grundgesetzkommentar I, Art. 4, München 2000, Rn. 22;

Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt , F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,

Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, Rn. 13. 445

J. Frowein, Art. 9 (Glaubensfreiheit), in: J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,

EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg, Arlington 1996, Rn. 3, S. 369. Deshalb hat der zitierte Autor bei der

Kommentierung der Entscheidung der Europäischen Kommission der Menschenrechte (App 8317/78, McFreely

and others v. the United Kingdom DR 20, para. 44) in der sich die IRA Gefangenen unter Berufung auf das

Gewissen weigerten, Gefängniskleidung zu tragen, weil sie politische Gefangene seien, die Ansicht geäußert hat,

dass das Vorliegen der Gewissensentscheidung in diesem Fall „durchaus denkbar ist“. Die Kommission hat diese

Frage nicht geprüft und hat sich zur Feststellung beschränkt, dass aus Art. 9 EMRK kein Recht auf Sonderstatus

im Gefängnis zu entnehmen ist. 446

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVdStRL, Bd. 28, S. 69. 447

U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 39. 448

A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 126.

Page 126: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

114

Gewissensfreiheit damit, dass sich zum einen philosophische Anschauungen von den

politischen nicht leicht unterscheiden lassen, zum anderen besteht der Wert und Erhabenheit

der Verweigerung aus Gewissensgründen gerade darin, dass der Einzelne nicht nur versucht,

von der verweigerten Rechtspflicht befreit zu werden, sondern auch darin, dass er gemeinsam

mit Anderen für die Abschaffung der als ungerecht empfundenen Rechtsnorm kämpft.

8. Die höchstpersönliche Dimension des Gewissens

Das Gewissen ist ein höchstpersönliches Gut des Individuums,449

das zu seiner Intimsphäre

gehört.450

Es stellt demnach das subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert und Unwert des

eigenen Verhaltens dar, und es ist die innerste und deshalb nicht weiter begründbare

Erfahrung, in der der Mensch (als anderes Ich) seiner Freiheit und seiner Verantwortung

gewiss wird.451

Aus dem höchstpersönlichsten Charakter des Gewissensphänomens wird

gefolgert, dass die Gewissensfreiheit eine Freiheit ist, „die dem Individuum am nächsten steht

und es am meisten betrifft. Es geht um die Freiheit des gewünschten Verhaltens und der

Gedanken, die mit der privaten Sphäre notwendig verbunden sind und die Tiefe jeder Psyche

auf intimste Art berühren.“452

Der Bereich der personalen Vernünftigkeit und des Gewissens ist eine Dimension der

Identität des Einzelnen, ein locus, wo der Mensch seine Beziehung zu den Werten – der

Wahrheit, dem Guten, des Schönen sowie zum Gott herstellt.453

„Das Gewissen bildet mit

einem Individuum die untrennbare Einheit. Die Person ‚existiert„ schlicht als solche mit

seinem Gewissen (es tal con su conciencia). Dies macht den Unterschied zu anderen

Grundrechten, etwa zur Weltanschauungsfreiheit, wo der Einzelne sich einer Religion,

Philosophie, Ideologie oder einem Ideengefüge ‚anschließt„.“454

449

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 37. 450

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 441. 451

BverwG. VII C 235, 57 452

E. Schwierskott, Das Grunderecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.

33. 453

M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de

1978, Band 2, Madrid 1984, S. 334. 454

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 12.

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115

Das Gewissen ist weder ein theoretisches moralisches Wissen, noch ein Organ der Erkenntnis

der objektiven, überzeitlichen Werteordnung wie es in der christlichen Tradition als

syneidesis oder conscientia begriffen wurde. Nach heutigen Auffassungen spielt sich im

Gewissen, „eine Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst in der Suche nach seiner

Authentizität“455

ab. Im Gewissen erforscht der Einzelne sich selbst, ob er die moralischen

Entscheidungen sich selbst gegenüber aufrichtig und damit in Wahrhaftigkeit trifft

(warnendes Gewissen vor einer moralischen Wahl) bzw. getroffen hat (richtendes Gewissen).

Er prüft sich selbst, ob seine Entscheidungen seiner aufrichtigen moralischen Überzeugungen

entsprechen. Diese prüfende Selbstbeurteilung hat einen gedanklichen Widerstreit zum

Gegenstand. Dieser Streit kann anhand eines Gerichtshofs vereinfacht dargestellt werden, in

dessen Zentrum ein Ankläger dem Individuum Vorwürfe macht und ein Verteidiger diese

Vorwürfe beruhigen will. In diesem inneren Gespräch werden im Idealfall alle relevanten

Aspekte für die zuverlässige Beurteilung der Wahrhaftigkeit sorgfältig beleuchtet und

offengelegt. Im Gewissen wird somit ein intensiver, innerer Diskurs geführt.456

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Gewissen einer der wichtigsten Faktoren ist, die

die Persönlichkeit und Grundhaltung des Menschen gestalten.457

Dies ist darauf

zurückzuführen, dass das Gewissen dem Einzelnen die Bildung der Identität, die Herstellung

der Integrität sowie die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht.458

Die

Gewissensentscheidung muss daher immer nur auf eigenen Erwägungen beruhen, mag auch

die Anregung von außen kommen. Meinungen und Entscheidungen Anderer können nur

insoweit von Bedeutung sein, als sie geistig verarbeitet und zu eigener Erkenntnis geworden

sind. Wenn jemand etwas ihm Vorgesagtes ohne innere Überzeugtheit und Bindung nur

nachredet, hat er sich nicht in seinem Gewissen entschlossen. Es kommt somit auf eine höchst

persönliche Gewissenslage an. Eine Gewissensentscheidung kann zwar von einer

Organisation, etwa von einer Religionsgemeinschaft oder einem Interessenverband der

Kriegsdienstverweigerer angestoßen werden, dies soll aber nicht irreführen, dass es ein

455

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 298. 456

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 180. 457

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 37. 458

C. Pérez del Valle, Prevaricación judicial y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 310; H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J.

Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S.

437.

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116

Gruppengewissen gibt. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft oder zu einem

Verein ersetzt allein die Gewissensentscheidung nicht. Diese Tatsache stellt auch keinen

Beweis, sondern ein Indiz dafür, dass eine Gewissensentscheidung vorliegt.459

9. Psychologische Beiträge zum Verständnis des Gewissensbegriffs in der

Rechtswissenschaft

Gelegentlich wird vertreten, dass das Gewissen weder rechtliche, noch ethische, sondern

„eine psychologische Kategorie darstellt, welche rechtlich relevant ist.“460

Das Gewissen ist

ein psychologisches Phänomen, durch das die Instanz des Individuums bezeichnet wird, in der

die für ihn verbindlichen Verhaltensnormen seiner gesellschaftlichen Bezugsgruppe oder der

Gesellschaft insgesamt verinnerlicht worden sind. Es hat einen kognitiven Aspekt, der im

Bewusstsein von Normen, das heißt von Pflichten sich selbst oder anderen gegenüber zum

Ausdruck kommt. Weiterhin wirkt das Gewissen affektiv, d.h. es manifestiert sich in einer

gefühlsmäßigen Bindung an die anerkannten Normen mit der Konsequenz schmerzhafter

Empfindungen im Falle ihrer Verletzung durch das Individuum. Schließlich weist das

Gewissen eine sozio-psychische Komponente in Form der Integrierung der internalisierten

Normen zu einem (lebensgeschichtliche Brüche nicht ausschließenden) Bestandteil der

Persönlichkeit auf. Die genannten Elemente ergeben eine konsistente moralische Haltung, von

der aus auf moralisch relevante Ereignisse reagiert wird. Die Normen legen fest, was

moralisch richtig und was falsch ist, während die Ereignisse, auf die diese Normen

angewendet und die Situationen, in denen sie aktualisiert werden, durch das Gewissen selbst

definiert werden.461

Die unterschiedlichen psychologischen Aussagen über das Gewissen gehen von dem

Zusammenhang zwischen dem Gewissen und der Fähigkeit zur Hinwendung zu einer anderen

Person aus. Hieraus resultiert das Verantwortungsbewusstsein für die durch das eigene

459

A. Reich, Magdeburger Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 4, Bad

Honnef 1998, Rn. 1. 460

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 191f. 461

U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Abs. 1,2, Rn. 38.

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117

Verhalten betroffenen Personen sowie eine bestimmte Distanzierung von eigenen Vorteilen

und Interessen. Unter dem Verantwortungsbewusstsein wird eine Bindung des Handelnden zu

den Betroffenen in dem Sinne verstanden, dass er die Folgen seines Verhaltens für die

Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigt, wie für sich selbst. Die Personen, zu denen eine

Bindung des Handelnden in diesem Sinne besteht, bilden die Bezugsgruppe seines Gewissens.

Bei der Ermittlung, ob ein Verhalten vom Gewissen bestimmt wird, wird darauf abgestellt, ob

der Einzelne in dem Verantwortungsbewusstsein für Andere handelt.462

Es ist dabei nicht zu

prüfen, ob er die Folgen für sie „richtig“ eingeschätzt und berücksichtigt hat; hierfür ist allein

sein Gewissen maßgebend.

Durch die Betätigung der Gewissensfreiheit erstrebt der Einzelne den Frieden mit den

Wurzeln des Ich.463

Eine Gewissensfrage stellt sich dann, wenn eine Entscheidung in einer

bestimmten Sache für die Konstituierung oder Dekonstituierung der Person von Bedeutung

ist. Gewissensrelevant ist jedes Verhalten, das die „Integrität und Identität der Person

existenziell betrifft.“464

Die Wahrung der persönlichen Identität wird durch die Bindung an

internalisierte Wertvorstellungen hergestellt, die ihrerseits für das individuelle

Selbstverständnis tragende Bedeutung haben.465

Als die durch Gewissensfreiheit geschützten

Rechtsgüter werden die psychische Integrität des Individuums und seine Freiheit betrachtet,

die eigene Lebensgestaltung „eigenverantwortlich an verinnerlichte Wertvorstellungen, deren

Bindungswirkung der bewussten Disposition durch die individuelle Persönlichkeit entrückt

ist, auszurichten.“466

Aus der identitätsschützenden Funktion der Gewissensfreiheit wird gefolgert, dass wenn auch

negative Folgen einer Zuwiderhandlung gegen sein Gewissen nicht nach so objektiven und

sinnlich wahrnehmbaren Kriterien beschrieben werden können, wie es bei der Verletzung von

462

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 42 – 48. 463

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 31; M. J. Falcón y Tella,

Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de Derechos Humanos.

Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 182. 464

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 441. 465

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 142, 310; K. Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 158. 466

Ebenda, S. 310. Diese Ansicht ist in der deutschen Literatur unumstritten. Siehe auch u.a.: D. Deiseroth,

Gewissensfreiheit und Rech, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig,

Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 3; N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in:

AöR, Nr. 90, 1965, S. 257.

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körperlichen Intergrität der Fall ist, ist die Bedeutung der Gewissensfreiheit mit der Funktion

des Rechts auf körperliche Unversehrtheit vergleichbar. Für die Parallele mit dem Schutz der

körperlichen Integrität spricht die Erwägung, dass der Einzelne die Gewissensinhalte nicht

nach freien Willen erwählt, sondern ihm unbedingt bindend unterliegt, ohne sie frei aufgeben

zu können.467

Nach dem Erkenntnisstand der Psychologie wirkt das Gewissen als Garant der personalen

Identität des Einzelnen über teils bewusste, teils unbewusst bleibende verinnerlichte Normen

gegen Einflüsse, welche dem verinnerlichten Persönlichkeitsbild widerstreben. Daraus ergibt

sich, dass bei der Feststellung einer Gewissensfrage das emotionale Element eine erhebliche

Rolle spielt. In der polnischen Literatur wird das affektive Element des Gewissens von

Łopatka hervorgehoben, der das Gewissen als eine menschliche Disposition, eigene und

fremde Taten zu bewerten sowie die Fähigkeit, die dazugehörigen Gefühle (Zufriedenheit

oder Gewissensbisse) zu erleben, definiert.468

Ähnlich Łyko hebt die emotionale Komponente

des Gewissensbegriffs hervor: Gemäß diesem Autor bestimmt das Gewissen als die höchste

Form des Bewusstseins des Menschen seine ideelle Orientierung. Es stellt eine innerliche

Disposition des Einzelnen dar, eigene psychische Erlebnisse (Gedanken, Gefühle,

Willensakte), das eigene und fremde Verhalten in moralischen Kategorien von Gut und Böse

zu bewerten. Gleichzeitig bildet es eine Fähigkeit, die mit dieser Bewertung

zusammenhängenden Gefühle und Erlebnisse der Billigung (Zufriedenheit) oder

Missbilligung (Gewissensbisse) zu erfahren.469

Für die Rechtspraxis bedeutet dies, dass das

Erfordernis der Verbalisierung von Gewissensgründen behutsam zu handhaben. Bei der

Prüfung dürfen die Anforderungen an eine Gewissensentscheidung weder das kognitive

(rationale) noch das affektive Element einseitig betonen, obwohl der emotionalen Besetzung

von Moralnormen für die Feststellung ihres Vorhandenseins die entscheidende Bedeutung

zukommt.470

467

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 143. 468

A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2002, S. 114. 469

Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr.

3, 2001, S. 34. 470

G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 134; U. Rühl, Das Grundrecht auf

Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.

367; G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 85.

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119

Je stärker bei der Gewissensentscheidung der gefühlsmäßige Bestandteil im Vordergrund tritt,

desto mehr wird der Schutz der seelischen Integrität als Funktion der Gewissensfreiheit

berücksichtigt. Würden bei der Bestimmung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit

niedrige Anforderungen an affektive Komponente gestellt, würde sich der grundrechtliche

Schutz der Gewissensfreiheit in seiner Funktion dem Schutz der Meinungsäußerung annähern.

Dies könnte z.B. in einem Fall geschehen, wenn ein mündiger, rational denkender Bürger

einen Konflikt zwischen Geboten des positiven Rechts und seinem Gewissen zwar

wahrnimmt, fühlt er sich aber durch die seine Handlungsfreiheit beschränkende

Rechtsordnung in seiner Verantwortung entlastet. In diesem Fall riskiert er nicht, einen

Schaden an seiner psychischen Integrität zu erleiden, deshalb wird er durch das Grundrecht

der Gewissensfreiheit nicht geschützt. Die Äußerungen zur Unvereinbarkeit eigener Standards

mit den geltenden Rechtsnormen lassen sich dagegen als eine Meinungsäußerung einstufen.471

Die dargestellte These weist weitgehende rechtsdogmatische Konsequenzen auf. Zuerst wird

die Eröffnung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit von dem subjektiven Verständnis der

betroffenen Situation durch den Grundrechtsträger abhängig gemacht. Der Vorteil dieser

Auffassung liegt in der Versperrung der Möglichkeit, dass die Entscheidungsorgane das

Vorhandensein einer Gewissensentscheidung nach „objektiven“ Maßstäben bewerten oder

dem Einzelnen den Schutz verweigern, weil seine Gewissensposition im Hintergrund des

vorherrschenden Moralverständnisses „exzentrisch“ wirkt.

Die Abstellung auf das subjektive Grundrechtsverständnis hat auch zur Folge, dass die Fragen

nach dem Sachzusammenhang zwischen dem Beitrag des Verweigerers und dem Erfolg der

verweigerten Handlung unbeantwortet bleiben können. Es wäre etwa irrelevant zu

entscheiden, ob administrative Tätigkeiten im Zusammenhang mit Abtreibung eine durch den

Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasste Teilnahme an Schwangerschaftsabbrüchen

darstellen. Die grundsätzliche Annahme der Position des Verweigerers entspricht auch dem

Neutralitätsprinzip des Staates und fördert den Pluralismus. Im Fall der sozialen

Unverträglichkeit der Betätigung einer Gewissensentscheidung kommen die

Grundrechtsschranken zum Zuge.

471

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 153.

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Diese Ansicht ist allerdings umstritten. Viele Autoren stellen zwar für die Feststellung einer

Gewissensentscheidung auf das Kriterium der individuellen Verantwortlichkeit ab, sie

beurteilen aber dieses Kriterium nach objektiven Maßstäben. Dies geschieht vor allem im

Zusammenhang mit der Verweigerung der Abgabenzahlung aus Gewissensgründen wegen

ihrer gewissenswidrigen Verwendung (Steuerzahlung für die militärischen Zwecke,

Krankenkassenbeiträge für die Finanzierung der Schwangerschaftsabbrüche). Die

Ausschließung derartigen Verweigerungen aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit wird

damit begründet, dass die Entscheidung über die Verwendung der erhobenen Mittel außerhalb

des Verantwortungsbereichs des Einzelnen liegt.472

Die Anwendung des objektiven

Kriteriums bei der Festlegung, ob eine Gewissensentscheidung vorliegt, ist auch in der

Rechtsprechung verbreitet. Dies sei am Beispiel der Entscheidungen des spanischen Obersten

Gerichtshofs (Tribunal Supremo)473

zur Verweigerung der Teilnahme an Arbeiten der

Wahlausschüsse illustriert. Das spanische Recht sieht die Pflicht vor, an den Arbeiten der

Wahlausschüsse in den nationalen Wahlen teilzunehmen, dabei die Ablehnung, diese Pflicht

zu erfüllen, strafbar ist. Die Mitarbeit in den Wahlausschüssen wird allerdings von einigen

Mitgliedern der Glaubensrichtung Zeugen Jehovas mit dem Hinweis verweigert, dass die

Teilnahme an den Tätigkeiten dieser Gremien eine politische und daher durch ihren Glauben

verbotene Tätigkeit darstellt. Der spanische Oberste Gerichtshof hat beurteilt, dass um das

Verweigerungsrecht in diesem Fall anzuerkennen, es ist notwendig festzustellen, ob der

Verweigerer der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört, ob diese

Glaubensrichtung seinen Mitgliedern die Teilnahme am Wahlprozess und insbesondere an

Arbeiten der Wahlausschüsse verbietet und ob die verweigerte Tätigkeit nach objektiven

Maßstäben einen politischen Charakter hat. Die letzte Frage hat der Oberste Gerichtshof mit

dem Argument verneint, dass von den Ausschussmitgliedern Neutralität und Unparteilichkeit

verlangt wird. Diese Entscheidung ist auf Kritik gestoßen: es wurde nämlich darauf

hingewiesen, dass bei der Feststellung einer Gewissensentscheidung auf persönliche

Überzeugungen des Grundrechtsträgers und seine eigene Interpretation der religiösen Lehren

und nicht auf offizielle Doktrin abzustellen ist. Auch die Bewertung, ob die verweigerten

Aktivitäten politischen Charakter haben ist unergiebig, weil nur dem Gewissensträger zu

bestimmen zusteht, welche Tätigkeiten mit seinem Gewissen unvereinbar sind.474

Ähnlich

argumentiert auch die Menschenrechtskommission. Danach werden die gewissensmäßigen

472

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 255f. 473

Urteile des spanischen Obersten Gerichtshofs von 8. Juni 1994, von 27. März 1995 und 17. April 1995. 474

I. M. Sanchis, Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floira, La libertad religiosa en

España y Argentina, Madrid 2006, S. 310.

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Handlungen und Unterlassungen nur dann geschützt, wenn sie unmittelbarer Ausdruck der

Gewissensentscheidung sind. Der Schutz der Gewissensfreiheit wird mit dem Verweis

verneint, dass die verweigerten Rechtspflichten gewissensneutralen Charakter haben.475

Der Anwendung des objektiven Verantwortlichkeitskriteriums ist allerdings nicht

beizupflichten. Für die Beurteilung der Frage, ob ein konkretes Verhalten des Individuums

seine moralische Verantwortlichkeit betrifft, ist vielmehr auf die subjektive Wahrnehmung

des Einzelnen abzustellen. Ein objektiver Maßstab ist wegen der individuellen

Funktionsweise des Gewissens nicht geeignet; das gleiche Verhalten kann bei einem Subjekt

das eigene Verantwortungsbewusstsein tangieren und in der Folge eine Auseinandersetzung

in dem Gewissen auslösen, während es bei einem anderen Individuum keine geringsten

Bedenken erweckt, und zwar unabhängig davon, ob die Mehrheit diese Zuschreibung der

Verantwortung teilt. Wenn durch eine Handlungspflicht ein individueller Gewissenskonflikt

hervorgerufen wird, kann dieser Konflikt seitens des Staates mit dem Hinweis nicht beseitigt

werden, der Einzelne braucht sich nicht in seinem Gewissen zu quälen, weil es sich entgegen

seiner Auffassung nicht als verantwortlich für seine Handlung ansehen muss, da der Staat die

Verantwortung übernommen hat.476

Das Kriterium des subjektiven Verantwortungsbereichs bezieht sich allerdings nur auf den

materiellen Gewissensinhalt. Was dagegen die Bestimmung des Gewissensbegriffs angeht,

sind die Staatsorgane zuständig. Dem Staat steht nämlich die Definitionskompetenz

hinsichtlich des Grundrechtsinhalts, „weil der Staat nur schützen kann, was er definieren

darf.“477

Es kann aber nicht geleugnet werden, dass dem Selbstverständnis des Berechtigten

ein indizierender Aussagewert zukommt.478

Dies erklärt sich damit, dass der Inhalt der

Grundrechte durch das Wirken der Berechtigten mitgestaltet wird. Gerade im Fall der

Gewissensfreiheit kommt es im hohen Maße auf die Selbsteinschätzung des Einzelnen an. Die

Akzeptanz des subjektiven Standpunkts des Einzelnen ist allerdings nicht absolut; die

Beurteilung der Gewissensentscheidungen bei der gerichtlichen Konfliktlösung erfolgt nicht

unabhängig von der moralischen Qualität dieser Entscheidungen. Die gerichtliche

Konfliktentscheidung ist nicht von dem kulturellen Kontext abstrahiert. Würde von dem

475

Z.B. App 10358/83, C. v. United Kingdom, DR 37, S. 147; App. 10678/83, V. v. Netherlands, DR 39, S.

268f. 476

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 191ff. 477

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 440. 478

Ebenda, S. 440.

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122

Inhalt der Gewissensentscheidung bei der Prüfung ihrer Wahrhaftigkeit abgesehen, würde

lediglich das schwer nachprüfbare Kriterium der destruktiven Folgen ihrer Nichtbefolgung für

die Persönlichkeit bleiben. Das inhaltliche Element der Gewissensentscheidung wird etwa bei

der Beantwortung der Frage, ob sie sozialverträglich ist, im Stadium der Güterabwägung

herangezogen.479

In diesem Zusammenhang ist Peters zuzustimmen, der argumentiert, dass

das Selbstverständnis des Grundrechtsberechtigten zumindest als Ausgangspunkt zu

akzeptieren ist, die Mindestanforderungen von außen (etwa die Anforderung der

Universalisierbarkeit eines Gewissensimperativs und ihre logische Konsistenz) heranzutragen

sind.480

10. Die Gewissenskonzeption von Niklas Luhmann und ihre Konsequenzen

für die Rechtsanwendung

Für die Auslegung der Gewissensfreiheit in Deutschland hat die Gewissenskonzeption vom

Soziologen und Rechtswissenschaftler Niklas Luhmann481

eine große Resonanz erfahren.

Seine Konzeption hat einen allgemeinen Charakter und kann für die Untersuchung des

Gewissensbegriffs in jeder das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewärleistenden

Rechtsordnung Anwendung finden, deshalb wird sie im Folgenden detailliert dargestellt.

Luhmann nähert sich dem Phänomen des Gewissens, indem er seine Funktion für das

Individuum und die Gesellschaft analysiert. Diese Funktion besteht in Bildung und Erhaltung

der persönlichen Identität. Jeder Mensch ist einem grenzenlosen Potential der

Handlungsweisen ausgesetzt, aus denen er die „Einheit eines sinnvollen persönlichen Daseins

zusammenordnen“482

muss. Er reduziert die Komplexität der möglichen Verhaltensweisen

und zieht die Grenze zwischen innen und außen. Die ausgeschlossenen Verhaltensweisen sind

allerdings potenziell vorhanden, deswegen stellen sie eine ständige Bedrohung für das

Persönlichkeitssystem des Einzelnen dar. Der Mensch braucht somit Kontrollinstanzen, „die

479

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von

Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,

Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 257f. 480

A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 182. 481

N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 257 – 286. 482

Ebenda, S. 264.

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darüber wachen, dass das Ich die Grenzen seiner Persönlichkeit nicht sprengt.“ Die höchste

Kontrollinstanz in der komplizierten Struktur der Selbsterhaltung ist das Gewissen.

Aus der Individualisierung des Gewissens und dem Entfallen der Bezugssysteme wie etwa

eines überindividuell feststellbaren Sittengesetzes, das das Gewissen zum conscientia

(gemeinsames Wissen) machte, folgert Luhmann, dass das Gewissen kein Wissen mehr ist,

sondern „eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst.“483

Dies führt allerdings zum

Ausschluss der ethischen Kategorien von „Gut“ und „Böse“ aus dem Begriffsbereich des

Gewissens. Mit der Beseitigung der imperativischen Dimension und des präskriptiven

Charakters aus dem Begriff des Gewissens verliert er allerdings seine spezifische

Unterscheidungskraft.484

Problematisch im Luhmannschen Konzept des Gewissens sind auch die hohen Forderungen

an die Schädlichkeit der Folgen der Zuwiderhandlung gegen ein Gewissensgebot für den

Betroffenen, damit der Schutz der Gewissensfreiheit eröffnet werden kann. Dazu zählt

Luhmann Tod, Schizophrenie, radikaler Bruch mit der eigenen Vergangenheit:485

„Gewissenserforschung erhält die Fragwürdigkeit der eigenen Identität und führt dagegen in

die Nähe des Todes; denn im Gewissen stellt man das eigene Sein zur Entscheidung. Wird die

gewissenswidrige Handlung (oder Unterlassung) zum unwiderruflichen Bestandteil der

Persönlichkeit – sei es, dass sie geschehen ist, sei es dass sie einen als Zukunft ohne

Alternative anblickt, dann bleibt der eigene Tod als andere Möglichkeit offen. Gewissen kann

nur haben, der sich selbst töten kann.“486

Von ähnlichen, nur weniger radikalen Annahmen ist

das deutsche Bundesverwaltungsgericht ausgegangen, indem es von den

Kriegsdienstverweigerern eine Gewissensentscheidung fordert, nach der sie im Fall des

Militärdienstes „innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden

nehmen“487

müssten. Das Abstellen auf die negativen Folgen der Handlung der

483

N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 260; Zustimmend: H. H. Klein,

Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.

Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 493. 484

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 120. 485

N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 284. 486

Ebenda, S. 269. 487

BverwGE 41, 53 (55).

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Gewissensentscheidung zuwider findet auch Befürworter in der polnischen Lehre. Es wird

nämlich argumentiert, dass die Überzeugung, welche zu einer Gewissensfrage wird, derart tief

gefestigzt sein muss, dass sie zu den grundsätzlichen Indikatoren der Haltung des Einzelnen

wird. Die Zuwiederhandlug würde zum Konflikt des Gewissens führen und

konsequenterweise „die Entwicklung des Einzelnen beschweren.“488

Bei dem Versuch, einen objektiven Beweis für das Vorhandensein eines Gewissenskonflikts

zu liefern, stellt Luhmann auf die Folgen der Nichtbefolgung eines Gewissensrufes und nicht

auf die Grundlagen einer Gewissensentscheidung ab. Die Praktikabilität dieses Ansatzes d.h.

die Durchführung der Prognose, dass in einem konkreten Fall psychopathologische Folgen

der Missachtung des Gewissensgebots eintreten werden, ist allerdings zweifelhaft. Außerdem

bedeutet die Schwerpunktsetzung auf die Vermeidung psychischer Krankheiten, dass zum

eigentlichen Schutzobjekt der Gewissensfreiheit die ethisch neutrale Identität des Menschen

im Sinne der psychischen Unversehrtheit wird. Damit ist allerdings der Bezug zum

semantischen Gehalt der verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie zum

alltagssprachlichen Gewissensbegriff verlorengegangen.489

Darüber hinaus ist das Eintreten der psychischen Konsequenzen einer Zuwiderhandlung

gegen das Gewissen empirisch nicht abgesichert. Der Suizid oder Dekonstituierung der

Persönlichkeit kommen nur in Extremfällen vor. Der Mensch verfügt vielmehr über

zahlreiche Mechanismen der Verarbeitung des gewissenswidrigen Verhaltens. In den meisten

Fällen beugt sich das Gewissen dem Autoritäts- und Konformitätsdruck.490

Die Bedrohung

der Zerstörung eigener Persönlichkeit, wenn dem Gewissensdiktat nicht gefolgt wird, als

Voraussetzung des grundrechtlichen Schutzes ist daher als zu weitgehend zu würdigen. Sie

führt „zu einer überzogenen Pathologiesierung des Grundrechts, bzw. zu einer Einengung des

Grundrechtsschutzes auf psychisch labile Personen.“491

Es ist zwar nicht auszuschließen, dass

der Berechtigte im Fall der Zuwiderhandlung gegen sein Gewissen einen schweren seelischen

488

L. Kański, Z. Kędzia, Prawo poborowych do służby zastępczej, in: PiP, Nr. 7, 1998, S. 43; zustimmend: B.

Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej Komentarz, Art. 85, S. 451, Rn. 5. 489

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 120f. 490

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle

Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S. 369; derselbe, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen

Konflikt, S. 15ff. 491

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 191.

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125

Schaden nimmt 492

und sein inneres Gleichgewicht verlieren kann, dies darf aber nicht so

verstanden werden, dass der Tatbestand der Gewissensfreiheit nur dann vorliegt, wenn ein

pathologischer Befund zu befürchten ist, bzw. wenn die Persönlichkeit des Einzelnen

zerbricht. Für die Inanspruchnahme der grundrechtlichen Garantie reicht es vielmehr, wenn

eine schwere Gewissensnot zu gewärtigen wäre.493

11. Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung

Nach der erfolgten Säkularisierung und Individualisierung des Gewissens bleibt nur ein

formelles Kriterium der moralischen Ernsthaftigkeit, Intensität und Tiefe, wonach das

Gewissensurteil von anderen Überzeugungen unterschieden werden kann. Da das Gewissen

einen integralen Teil der persönlichen Identität bildet, wirken die Gewissensüberzeugungen so

stark auf die Motivation des Einzelnen aus, dass er oft bereit ist, negative Konsequenzen des

gewissensgemäßen Handelns zu tragen und sogar zu leiden, um seine moralische Identität zu

erhalten.494

Der von dem Einzelnen erfahrene Gewissenszwang muss daher ein beträchtliches Niveau

erreichen. Durch die Gewissensfreiheit werden Gewissensgebote und nicht einfache

Gewissensbedenken geschützt.495

Bloße Skrupel oder Bedenken erreichen noch nicht die

Stufe eines von der Unbedingtheit und existenzieller Identitätskrise geprägten

Gewissenskonflikts. Keine Gewissensgründe sind bloße persönliche Wünsche,496

Unlustgefühle, gefühlsmäßige Vorurteile oder Aufwallungen. Andererseits können

Zweckmäßigkeits- und verstandesmäßige Überlegungen für sich allein als Gewissensgründe

nicht eingestuft werden, wenn sie den Rang des höchsten moralischen Imperativs nicht

492

J. Guzman Lopez, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 25. 493

W. Steinlechner, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, Kommentar, § 1, München 1990, Rn. 11; U. Preuß, Art. 4

Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 39. 494

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 271 f. 495

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 64; J. Kokkott, Art. 4,

in: M. Sachs, Grundgesetz-Kommentar, München 1992, Rn. 61; E. Schwierskott, Das Grundrecht der

Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 39. 496

App. 8741/79 X v. Germany 24DR 137 (1981).

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126

erreichen.497

Ihnen fehlt das hinreichende affektive Engagement, oder es ist nur im zu

geringen Maß vorhanden, damit sie für das Selbstverständnis des Individuums von

konstitutiver Bedeutung sein können.498

Weiterhin keine Gewissensgründe sind bloß

politische, wirtschaftliche und familiäre Entscheidungen, aus denen keine sittliche

Verpflichtung resultiert. Allerdings können sich Erwägungen der politischen oder

militärischen Zweckmäßigkeit von einer verstandsmäßigen Reflexion zu einer

Gewissensentscheidung entwickeln.499

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gewissensentscheidungen keine bloßen

Entschlüsse der Stunde oder der Stimmung sind. Sie entspringen vielmehr einer

grundsätzlichen Lebenshaltung. Sie sind „Ausfluss einer grundsätzlichen – wenn auch

wandelbaren – in der gesamten sittlichen Haltung des Menschen verwurzelten Gesinnung und

Überzeugung.“500

In der Lehre wird auch ein Versuch unternommen, die Gewissensposition von den

ideologischen oder weltanschaulichen Standpunkten auszugrenzen. Dies wird mit folgenden

Beispielen veranschaulicht: wenn jemand den Militärdienst aus pazifistischen Gründen

ablehnt, kann er sich auf Weltanschauungsfreiheit berufen. Wenn er dies dagegen aus der

Erwägung tut, dass jeder Krieg moralisch böse ist, eröffnet sich der Schutzbereich der

Gewissensfreiheit. Ähnlich wenn sich ein Vegetarianer weigert, Fleisch zu essen, weil er

meint, dass Fleisch für die Gesundheit schädlich ist und dass Menschen nicht karnivor sind,

ist seine Ablehnung der Betätigungssphäre der Weltanschauungsfreiheit zuzuordnen. Wenn

sich dagegen ein Muslim weigert, das Schweinfleisch in sich zu nehmen, handelt er aus

religiös motivierten Gewissensgründen.501

Auch die mit dem Umweltschutz verbundenen

Handlungen werden dem Bereich der technischen oder politischen Fragen zugerechnet und

folgendermaßen dem Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit subsumiert.502

497

R. Navarro-Valls, J. Martínez Torrón, M. Angel Jusdado, La objeción de conciencia a tratamientos médicos:

derecho comparado y derecho español, in: Persona y Derecho 1988, Nr. 18, S. 166. 498

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 146. 499

J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Berlin 2003, S. 60; J. O. Arujo, La objeción de conciencia

al servicio militar, Madrid 1993, S. 244f. 500

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 136. 501

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho 1984,

S. 37f. Es ist zu bemerken, dass der zitierte Autor in diesem Zusammenhang nicht von Weltanschauungsfreiheit,

sondern von weitem Verständnis der Gedankenfreiheit ausgeht, die auch Handlungsfreiheit umfassen soll. 502

Ebenda, S. 46.

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127

Die angegebenen Beispiele rufen die Zweifel hervor, ob diese Abgrenzung in der Praxis

überhaupt von Nutzen sein kann. Es scheint nämlich kaum möglich, einer allgemeinen

pazifistischen Position oder der Sorge um eigene Gesundheit moralische Qualität

abzusprechen. Darüber hinaus verkennt der zitierte Autor, dass nicht nur eine Religion,

sondern auch eine Weltanschauung oder Ideologie die Grundalge für eine

Gewissensentscheidung bilden kann. In den Zweifelsfällen ist deshalb vom Selbstverständnis

des Einzelnen auszugehen und derartige Verweigerungsbeispiele dem Schutzbereich der

Gewissensfreiheit zuzuordnen.

12. Situationsbezogenheit der Gewissensentscheidungen

Bei der Qualifizierung der Gewissensentscheidung als moralische Kategorie, ist davon

auszugehen, dass sich die Einzelnen nach Vorgaben verschiedener Moralsysteme richten. In

diesem Zusammenhang ist insbesondere die Prinzipienethik der Situationsethik

gegenüberzustellen. Die moralischen Bewertungen und Entscheidungen der Anhänger der

Situationsethik entstehen nach der Berücksichtigung der eigenartigen Elemente der konkreten

moralischen Frage, d.h. sind fallbezogen, während die Befürworter der Prinzipienethik von

der Formulierung allgemeiner und abstrakter Verhaltensnormen ausgehen, die unter den

Umständen eines bestimmten Falltypes Anwendung finden sollen.503

Eine Gewissensentscheidung wird in einer bestimmten Lage erfahren und durch bestimmte

Situationen ausgelöst. Die Stimme des Gewissens spricht notwendig hic et nunc; sie ist

zugleich sowohl normativ als auch situationsgebunden. Das Urteil des Gewissens in Bezug

auf das konkrete Verhalten kann es zeitlich vorausgehen, simultan mit dessen Verwirklichung

eintreten, oder nachträglich gefällt werden.504

Die Wertperspektive des Menschen kann sich

im Laufe der Zeit ändern, deshalb ist der Wandel der rechtlich beträchtlichen

Gewissensentscheidung durchaus denkbar. Die Figur des venire contra factum proprium kann

grundsätzlich dem Gewissensträger nicht entgegengehalten werden.

503

S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 86. 504

A. Arndt, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung, in: NJW, 1957, S. 362; C. Salinas Araneda,

Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 92; M. Gascón Abellán, Obediencia

al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 257f; J. Hervada, Libertad de conciencia y error moral

sobre una terapéutica, in: Persona y Derecho, 1984, S. 42f.

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128

Die Gewissensentscheidung entbehrt als abstrakte und für künftige Fälle getroffene

Entscheidung der Endgültigkeit. So zeigt sich erst in der konkreten Situation, ob sich der

Betroffene, der vor dem Zwang der Entscheidung gestellt wird, im Sinne seiner etwa im

Wehrdienstverweigerungsverfahren eingenommenen Position verhalten wird. Peces-Barba

weist darauf hin, dass in einigen Ausnahmesituationen angenommen werden kann, dass

bestimmte Personen nicht fähig sind, allgemeine moralische Grundsätze in abstracto zu

entwickeln, weil sie über keine hinreichende moralische Erfahrung verfügen. In diesen Fällen

könnte die situationsgebundene Verweigerung aus Gewissensgründen gerechtfertigt

werden.505

In der spanischen Lehre wird die situative Gewissensentscheidung als

dazwischengekommenes Gewissen (conciencia sobrevenida) genannt. Diese Bezeichnung

trägt der Tatsache Rechnung, dass im Prinzip niemand als Verweigerer zur Welt gebracht

wird, sondern dass die Verweigerung dem Einzelnen in einem bestimmten Lebensmoment

dazwischenkommt. Die Gewissensentscheidung ist „eine religiöse oder philosophische

Position, die an einem bestimmten Tag von einem Individuum angenommen wird und die

früher nicht vorhanden war. In der Tat lässt sich nicht verkennen, dass das persönliche

Gewissen nicht inert und statisch, sondern dynamisch ist und unterliegt einer kontinuierlichen

Entwicklung. Seine Bildung hängt von einer Menge der internen und externen Faktoren

ab.“506

Das BVerfG hat allerdings die situationsgebundenen Gewissensentscheidungen aus dem

Schutz der Gewissensfreiheit ausgegrenzt und den Verfassungsschutz lediglich denjenigen

Kriegsdienstverweigerern zuerkannt, deren Gewissen die Tötungshandlungen grundsätzlich

und ausnahmslos verbietet.507

Der Ausschluss der situationsbedingten

Gewissensentscheidungen dient zwar der „Entpolitisierung“ der Gewissensfreiheit,508

die

Einengung des Schutzbereichs des Grundrechts zum Schutz absoluter

Gewissensentscheidungen bedeutet aber die Verkennung des Begriffs des Gewissens und der

Gewissensentscheidung. „Gewissensentscheidungen sind immer konkrete sittliche

Entscheidungen der Person in und angesichts einer bestimmten Situation und beziehen sich

auf ein Verhalten hier und heute. Sie sind hingegen keine abstrakten Entscheidungen für alle

Zeiten und jenseits der Bedingungen des konkreten Handelns. In der Gewissensentscheidung

505

G. Peces- Barba, Derecho y derechos fundamentales, Madrid 1993, S. 389f. 506

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 310. 507

BverfGE 48, 127. 508

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 130.

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129

fließen Normbezogenheit und Situationsbeurteilung zusammen; sie setzt sich aus einer

Integration von Normerkenntnis und Tatsachenbeurteilung zusammen.“509

13. Mindestmaß an Rationalität der Gewissensentscheidung

Was die Bewertung der Rationalität als konstitutive Komponente einer

Gewissensentscheidung angeht, lassen sich zwei gegenseitige Positionen anführen.

Nach einer Ansicht ist für das Wesen der Gewissensentscheidung nicht notwendig, dass der

Betroffene sie rational nach Maßgabe vernünftiger Kriterien inhaltlich begründen kann. Eine

vernunftgemäße Abwägung des Für und Wider kann, muss aber nicht der

Gewissensentscheidung zugrunde liegen.510

Der Grundsatz der strikten religiös-

weltanschaulischen Neutralität fordert, dass der Staat die Vernünftigkeit oder Rationalität

einer Gewissensposition nicht bewertet. Dem Staat ist nämlich verwehrt, in dem Bereich der

Werte zu wühlen und zu beurteilen, ob eine Gewissensentscheidung logisch innerhalb der

Wertestruktur des Einzelnen erscheint oder nicht.511

Die Forderung der Rationalität ist somit

nicht auf die Gewissensentscheidung selbst, sondern auf ihre Mitteilung zu beziehen. Die

Tiefe, Ernsthaftigkeit und Unabdingbarkeit einer Gewissensentscheidung bedarf einer

intersubjektiven nachvollziehbaren Darlegung.512

Nach einer anderen Meinung sollen lediglich diejenigen Überzeugungen durch die

Gewissensfreiheit geschützt werden, welche intersubjektiv und kommunizierbar sind sowie

sich auf fundamentale Grundsätze wie etwa die Achtung des menschlichen Lebens

beziehen.513

Der Berechtigte muss sich mit anstehenden Problemen gedanklich

auseinandergesetzt haben und die dabei in Frage kommenden Gesichtspunkte sorgfältig

gegeneinander abgewogen haben, wobei sich die Anforderungen an die innere

509

Sondervotum von den Richtern Böckenförde und Mahrenholz zum Urteil des BverfG vom 24. April 1985

BverfGE 69, 57 (81). 510

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 21. 511

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo,

Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 249. 512

H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NVwZ, 1991, S. 1034. 513

J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-

prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 (30.12.2010)

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130

Auseinandersetzung nach der Veranlagung, der Intelligenz und dem Bildungsgrad des

Berechtigten richten.514

Das Handeln nach dem Gewissen bedeutet das Handeln „mit

Kompetenz und Überlegung gemäß bestimmten, rational fundierten und tief gefühlten

Prinzipien“.515

Aus der rationalen Komponente des Gewissens folgt die Diskursfähigkeit der

Gewissensinhalte: „Wer sich gegenüber staatlichem Recht auf sein Gewissen beruft, trägt die

Last der Begründung im rationalen Diskurs.“516

Vom Einzelnen kann somit die Offenheit auf

die Argumentation vom Außen und Bereitschaft, sein Verhalten in ihrem Licht immer wieder

zu untersuchen, erwartet werden.517

Die moderne Gewissenserfahrung hat trotz aller

Zentrierung des Gewissens im Einzelnen, auch einen zwischenmenschlichen Charakter. „Das

„Hier stehe ich und kann nicht anders‟, das sich der kritischen Auseinandersetzung entzieht,

ist unzulässiger Dogmatismus.“518

Das Gemeinsame wird gerade in der Auseinandersetzung

ausgearbeitet; das Austragen von Konflikten und Suche nach akzeptablen Lösungen kann nur

unter Voraussetzung Erfolg haben, dass sich die Beteiligten nicht abschließen und verhärten,

sondern dass sie sich auf das Gemeinsame öffnen. Soweit eine Konfliktlösung vorläufig nicht

möglich ist, „lässt man die zunächst unversöhnlich erscheinenden Standpunkte auf sich

beruhen, ohne sie vorschnell in inappellablen Gewissensentscheiden festzuschreiben und

durchsetzen zu wollen, um den Weg zur Überwindung der Gegensätze in der Zukunft nicht

von vornherein zu versperren.“519

Dem ist dahingehend beizupflichten, dass die Gewissensentscheidung einen gewissen

Mindestgrad der Rationalität und Vertretbarkeit aufweisen muss. Diese Anforderung bezieht

sich nicht nur auf die Art der Darlegung der Gewissensentscheidung, sondern berührt auch

ihren Inhalt. „Wenn die Vernunftschlussfähigkeit gewissen Grad an Defektivität erreicht, ist

die persönliche Autonomie bedeutungslos.“520

514

W. Steinlechner, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, Kommentar, § 1, München 1990, Rn. 15. 515

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 45. 516

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 517

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 39. 518

H. Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, Köln 1987, S. 331. 519

Ebenda, S. 331. 520

D. Lyons, Democracy, Rights and Freedoms, What are they? What Good are they?, New York 2000, S. 75.

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131

14. Fazit

Die Ableitung des Rechts auf ethische Selbstverwirklichung aus Art. 53 Abs. 1 Verf. findet

ihre Stütze in der expliziten Verankerung der Gewissensfreiheit. Die Beschränkung des

verfassungsrechtlichen Schutzes auf den religiösen Glauben würde die Erwähnung der

Gewissensfreihit in der angegebenen Vorschrift unnötig machen. Dieses Ergebnis ist

allerdings wegen des Verbotes der Auslegung per non est nicht haltbar. Die Gewissensfreiheit

braucht somit eine autonome Auslegung. Die Erschließung des Inhalts dieser Freiheit erfolgt

durch die Untersuchung ihres Tatbestandsmerkmales, also des Gewissensphänomens. Die

Ausführungen zum Gewissensphänomen haben gezeigt, dass es sich um eine

höchstpersönliche Instanz handelt, welche Ausdruck seiner moralischen Autonomie ist und

damit die Identität des Einzelnen bestimmt. Zwischen dem Gewissen, Identität und

Autonomie des Individuums besteht somit eine enge Beziehung. Darüber hinaus enthält das

Gewissen ein Mindestmaß an Rationalität und Verantwortung gegenüber den Anderen.

Das Gewissen bildet eine von jeglicher Religion unabhängige ethische Kategorie. Durch die

Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung, den Drang nach ihrer Durchführung sowie ihre

emotionale Aufladung wird die Gewissensfreiheit in der Nähe der Religionsfreiheit

angesiedelt; die Übertretung der Gewissensimperative kann für den Einzelnen ähnliche

Identitätskrisen hervorrufen wie der Verstoß gegen religiöse Gebote. Deshalb ist das

Gewissen des Einzelnen ebenso schutzbedürftig und schützenswert wie sein religiöser

Glaube. Die Situierung der Gewissensfreiheit neben der Religionsfreiheit erweist sich als

nicht ungerechtfertigt.

Die Interpretation nach Wortlaut beschränkt sich allerdings nicht auf die isolierte Betrachtung

einzelner Rechtsbegriffe. Ihre Bedeutung muss vielmehr aus dem Kontext der ganzen

Bestimmung herausgelesen werden. Für die Erschließung des Inhalts der Gewissensfreiheit

sind daher die übrigen Absätze des Art. 53 Verf. zu berücksichtigen. Sie beschäftigen sich

ausdrücklich aber nur mit der Ausübungsfreiheit des religiösen Glaubens, was den Schluss

nahelegen kann, dass die Freiheit des Gewissens durch den Verfassungsgeber als innere

Freiheit aufgefasst wurde. Dieser Schluss scheint in Art. 53 Abs. 4 bestätigt zu sein. Danach

kann bei der Religionsunterrichtung die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen

nicht berührt werden. Die Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit im Prozess der

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Unterrichtung einer Religion besteht vor allem in Herbeiführung einer Zwangssituation, also

in einen Eingriff in die innere Selbstbestimmungssphäre der Schüler. Die Beschränkung der

Gewissensfreiheit auf das forum internum wäre aber mit dem Art. 53 Abs. 3 Verf. nicht

vereinbar. Gemäß dieser Bestimmung haben die Eltern das Recht auf moralische und religiöse

Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen. Das Erziehungsrecht

der Eltern umfasst ohne Zweifel die Einflussnahme auf Gewissensbildung ihrer Kinder

unabhängig von der religiösen oder weltanschaulichen Provenienz der moralischen

Grundsätze, auf denen die Erziehung basieren soll. Es kann allerdings nicht angenommen

werden, dass der Verfassungsgeber in der inneren Sphäre der Gewissensbildung das weite

elterliche Erziehungsrecht garantiert, während er in der äußeren Sphäre der

Gewissensbetätigung den grundrechtlichen Schutz auf eine Kategorie der Überzeugungen

limitiert (argumentum ad absurdum).

Der Wortlaut des Art. 53 Verf. ist somit hinsichtlich des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit

nicht eindeutig. Die Gewissensausübungsfreiheit geschweige denn das Verweigerungsrecht

aus Gewissensgründen kann mit Hilfe der grammatischen Auslegung weder endgültig bejaht

noch verneint werden. Obwohl die Erwähnung der Gewissensfreiheit in Art. 53 Verf. einen

starken Anhaltspunkt für die Annahme dieses Grundrechts darstellt, lassen sich dem Text der

interpretierten Vorschriften keine endgültigen Schlüsse über ihren Schutzumfang entnehmen.

Aus den Ausführungen über die Rolle des Gewissens im menschlichen Leben lässt sich

jedoch festhalten, dass wenn der Verfassungsgeber die Gewissensfreiheit nicht erwähnt hätte,

wäre im polnischen Grundrechtsystem eine Lücke entstanden, die durch den Rückgriff auf die

Auslegung a simili gedeckt werden müsste. Dies ist aber wegen der ausdrücklichen

Verankerung der Gewissensfreiheit in dem Verfassungstext nicht nötig. Die Erwähnung der

Gewissensfreiheit in der Verfassung stellt den hinreichenden Grund dar, auf die funktionalen

Auslegungsmethoden zu greifen, um den Mangel an Eindeutigkeit der sprachlichen Fassung

der Gewissensfreiheit zu überwinden, ohne dabei auf analogia legis rekurrieren zu müssen.

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133

Kapitel IV

Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen

Auslegungsmethoden

1. Allgemeines

Die Auslegung nach Wortlaut ist nicht ausreichend, wenn ihre Ergebnisse mit krassem

Widerspruch zur allgemeinen Sinnorientierung des Rechtssystems stehen, welche in anderen

Normen zum Ausdruck kommt.521

Aber auch in jeder Situation, wo der Zweifel auftaucht,

dass das Ergebnis der Auslegung nach Wortlaut nicht adäquat ist, soll auf die systematische

und teleologische Auslegung zurückgegriffen werden.522

Die funktionale und systematische

Auslegungsmethoden bieten zuerst die Möglichkeit, diejenigen Auslegungsergebnisse

auszuschließen, welche keine axiologische Begründung in den dem Gesetzgeber

zugeschriebenen Wertungen finden oder wenn sie in diesen Wertungen „Gegenbegründung“

finden (argumentum ad absurdo).523

Zwischen den beiden Auslegungsmethoden besteht ein

enger Zusammenhang, der sich damit erklärt, dass die Zwecke eines Rechtsaktes lediglich

nach Analyse seiner Bestimmungen in seinem systematischen Gesamtzusammenhang

erschlossen werden können.524

Die enge Verflechtung der beiden Methoden rechtfertigt die

gemeinsame Behandlung ihrer Anwendung für die Auslegung des Grundrechts der

Gewissensfreiheit in einem Kapitel.

2. Systematische Auslegung der Gewissensfreiheit

2.1. Auslegung der Verfassung als axiologisches System

Die Gesamtheit der Verfassungsvorschriften bildet eine systematische Einheit. Das Konzept

der Einheit der Verfassung geht jedoch von der rein formalen Kohärenz hinaus; es setzt eine

Gesamtheit der Vorschriften voraus, die in eine Sinneinheit integriert werden, zueinander im

521

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 557. 522

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 73. 523

S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 83. 524

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 88.

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134

Verhältnis der Interrelation stehen und sich gegenseitig ergänzen.525

In der spanischen Lehre

spricht man in diesem Zusammenhang von der integrierenden Auslegung (interpretación

integradora); danach gestalten sich die Verfassungsnormen gegenseitig 526

und „erhalten ihren

vollen Sinn, indem sie in Übereinstimmung mit der systematischen Auslegungsmethode mit

anderen in einen wertenden Zusammenhang gesetzt werden.“527

Die Verfassung sichert die

Einheit der ganzen Rechtsordnung vor allem mittels der materiellen Werteordnung und nicht

durch die verfahrensrechtlichen Normen der Rechtserzeugung.528

Daraus ergibt sich die Pflicht, sich im Auslegungsprozess jeder Vorschrift „mittels einer

harmonisierenden Lektüre“529

anzunähern. „Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht

isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem

Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit

darstellt. Aus der Gesamtheit der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche

Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen

untergeordnet sind. (...) Daraus ergibt sich, dass jede Verfassungsbestimmung derart ausgelegt

werden muss, dass sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und

Grundentscheidungen des Verfassungsgebers vereinbar ist.”530

„Die Struktur der Verfassung ist eine der wichtigeren Prämissen der Interpretation und hat

große Bedeutung im Prozess ihrer Anwendung.“531

Dies erklärt sich bereits damit, dass der

Gegenstand der Anwendung eines Rechtsaktes nicht Vorschriften, sondern die aus diesen

redaktionellen Einheiten abgeleiteten Normen (Äußerungen des Sollens) sind. Eine Norm

kann dabei aus einer oder mehreren Vorschriften rekonstruiert werden, während im Fall der

Verfassungsnormen gerade die zweite Möglichkeit häufiger vorkommt.532

Die Durchführung

der systematischen Auslegung ist deshalb möglich, weil die Reihenfolge der

Verfassungsvorschriften nicht zufällig ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis der ordnenden

Tätigkeit des Verfassungsgebers. Infolge dieser Tätigkeit entsteht die interne Anordnung der

525

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 115. 526

Y. Gómez Sánches, Derechos y libertades. Madrid 2003, S. 115. 527

Urteil des spanischen Verfassungstribunals von 4.02.1993: STC 6/1993. 528

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 116. 529

F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 42. 530

BverfGE 1, 14 (32). 531

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 72. 532

P. Czarny, B. Naleziński, Bezpośrednie stosowanie konstytucji; normy samowykonalne w konstytucji, in: J.

Trzciński, Charakter i struktura norm konstytucji, Warszawa 1997, S. 125.

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135

Verfassung, welche das hierarchisierte Ganzne bildet. Das wertende Kriterium einer

Vorschrift ist ihre politische, philosophische oder ideologische Bedeutung.533

Bei der

Harmonisierung der Verfassungsgrundsätze ist allerdings nicht möglich, eine abstrakte

Normhierarchie innerhalb der Verfassung a priori aufzustellen; die normativen

Spannungsverhältnisse sollen vielmehr aus der Perspektive eines konkreten Falles gelöst

werden.

Die Normen der Verfassung werden um die vorherrschende politische Idee herum

konzentriert, welche ihren axiologischen Gehalt bestimmt.534

Die Rechtsordnung ist in diesem

Sinne kohärent, dass das ganze System auf denselben axiologischen Voraussetzungen basiert,

welche sich auf Grundlagen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems sowie der

Rechtskultur beziehen.535

In den Verfassungswerten ist die ethisch- soziale Rechtfertigung der

Rechtsordnung kondensiert. Sie stellen sowohl den Ausgangs- als auch den Ankunftspunkt

für die Interpretation und Anwendung der Verfassung. Das Verständnis der Verfassung als ein

Rechtsakt, in dem Grundwerte verbürgt werden, sowie die daraus resultierenden Vorgaben für

ihre Auslegung und Anwendung, bilden die einzige Basis, welche die Rechtsordnung in

einem demokratischen Staat substanziell zu legitimieren vermag.536

Die einzelnen Rechtsnormen sind nicht nur nicht widersprüchlich; sie werden auch durch die

Werte harmonisiert, welche die Geltung dieser Normen begründen oder welche im Prozess

der Rechtsanwendung verwirklicht werden sollen. Daraus ergibt sich, dass der

interpretierenden Norm diejenige Bedeutung zuzuschreiben ist, die mit anderen Normen im

höchsten Grade kohärent ist.537

Negativ ausgedrückt: da der Gesetzgeber die einzelnen

Vorschriften in das System derart zu ordnen sucht, dass sie keine Widersprüche und Lücken

haben sollen, können diejenigen Auslegungsergebnisse nicht angenommen werden, die zur

Entstehung der Widersprüche und Lücken führen.538

Alle Verfassungsnormen sollen vielmehr

derart interpretiert werden, dass keine Widersprüche mit anderen Verfassungsnormen

533

M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 32. 534

G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 113. 535

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 110. 536

J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y

razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del

Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 90f. 537

J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 82. 538

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 110.

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136

entstehen. Dabei soll die Konsonanz mit Grundentscheidungen der Verfassung gefunden

werden.539

Da das Rechtssystem das homogene und harmonische Ganze darstellt, muss die

Auslegungsdirektive beachtet werden, wonach der zu interpretierenden Vorschrift diejenige

Sinndeutung zu bevorzugen ist, die im Verhältnis zu anderen Normen des Subsystems, zu

dem diese Vorschrift gehört, im höchsten Grad harmonisch ist.540

Die systematische

Auslegung fordert, dass der Sinn einer Norm aus dem kontextuellen Zusammenhang mit

anderen Normen des Rechtssystems gewonnen wird. Jede Norm wird in die Rechtsordnung

derart integriert, damit sie dadurch einen Wert, einen Sinn bekommt, der sich an die Einheit

der Rechtsordnung anpasst.541

Im Rahmen der systematischen Auslegung ist weiterhin zwischen der logischen und der

teleologischen Anpassung der ausgelegten Norm an die übrigen Normen des Systems zu

unterscheiden. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Harmonisierung der Normen im Hinblick

auf ihren Wortlaut, während die zweite die Übereinstimmung der Ziele der einzelnen

Regelungen vor Augen hat.542

Daraus ergibt sich, dass bei der Interpretation der Grundrechte

der Grundsatz der Einheit der Verfassung als Interpretationszweck zu beachten ist. Die von

der Verfassung vorgegebenen Spannungslagen müssen erkannt werden, die widerstreitenden

Prinzipien und Interessen nach beiden Seiten eingeengt und zur Konkordanz gebracht werden.

Dabei ist diejenige Auslegungsvariante zu wählen, welche die höchste Effektivität aller

Verfassungsnormen sichert.543

In der polnischen Lehre wird vertreten, dass der Ausgleich der

Verfassungswerte und Interessen durch die Einbeziehung in den Auslegungsprozess des

Verhältnismäßigkeitsprinzips verwirklicht werden soll.544

539

K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho

constitucional panameño, Panamá 1987, S. 964. 540

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 331; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación

constitucional, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294. 541

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 555. 542

G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 582. 543

J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte

Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 140f; C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional,

Coimbra 1993, S. 227. 544

M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 26f.

Page 149: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

137

2.2. Systematische Auslegung der Grundrechte in der polnischen Verfassung

Der Abschnitt der Verfassung von 1997 „Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und

des Staatbürgers“ befindet sich unmittelbar nach dem Abschnitt „Die Republik,“ der

allgemeine Grundsätze des Staatsystems umfasst, und vor den Abschnitten, welche die

Struktur und Organisation des Staatsapparates regeln. Damit wurde von der in dem polnischen

Konstitutionalismus überkommenen Anordnung abgewichen, nach der die Rechte und

Freiheiten des Einzelnen am Ende der Verfassung situiert waren. Die Stellung des die Rechte

und Freiheiten des Einzelnen normierenden Abschnitts ist Ausdruck der Axiologie der

Verfassung sowie die Akzentuierung des Primats des Menschen vor dem Staat und des

Willens des Verfassungsgebers, den Rechten und Freiheiten einen wirksamen Schutz zu

gewähren.545

Darüber hinaus enthält sie einen wesentlichen Hinweis, wie alle Normen der

Verfassung auszulegen und anzuwenden sind.

Die Stellung des Abschnitts „Die Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und des

Staatsbürgers“ in Verbindung mit der Präambel, aus der das Gebot der wirksamen

Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte hervorgeht, bildet ein interpretatorisches

Prinzip der Bevorzugung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen. Nach diesem Prinzip ist

bei der Interpretation der Verfassung diejenige der möglichen Auslegungsrichtungen

anzunehmen, die möglichst weiten Schutzbereich der Grundrechte voraussetzt. Dies geschieht

mit ihrer erweiternden Auslegung, wo auch immer es möglich ist. Das Gebot der erweiternden

Auslegung bezieht sich dabei vor allem auf die bürgerlichen und politischen Rechte.546

Mit

anderen Worten: bei der Interpretation der Verfassung ist von einer Vermutung des möglichst

weiten Schutzbereichs der einzelnen Freiheiten und Rechte auszugehen. Von dieser

Vermutung ist nur dann abzuweichen, wenn die Verfassung dies ausdrücklich vorschreibt.

Garlicki547

spricht in diesem Zusammenhang von einer „entgegenkommenden“

Auslegungspflicht der Grund- und Freiheitsrechte.

545

J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 89; P. Sarnecki,

Systematyka konstytucji, in: J. Trzciański, Charakter i struktura norm Konstytucji, Warszawa 1997, S. 34; L.

Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej

Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S. 1. 546

M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 39; J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la

jurisprudencia de la Corte Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 157. 547

L. Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej

Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S. 100

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138

Darüber hinaus gebietet die systematische Auslegung, dass die Grundrechte nicht isoliert,

sondern im Lichte des Systems der Grundrechte, dessen Zweck die menschliche Person ist,

betrachtet werden.548

Aus der zentralen Stellung der Grundrechte unter den

verfassungsrechtlichen Bestimmungen geht das Gebot hervor, die grundrechtlichen

Verbürgungen gemäß dem Prinzip der Grundrechtseffektivität, das manchmal Prinzip fovor

persona, pro cive oder pro homine genannt wird,549

zu interpretieren. „Die ordentlichen

Gerichte und der Verfassungsgerichtshof sollen sich in seiner Auslegung der

Rechtsvorschriften, insbesondere derjenigen, die sich auf die Freiheit der Bürger beziehen,

nach dem absoluten Primat der menschlichen Person richten.“550

Danach ist insbesondere in

Zweifelsfällen unter verschiedenen Interpretationsvarianten für diejenige zu optieren, „die die

juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am besten entfaltet“551

, d.h. die Grundrechte

im höchsten Grade bevorzugt und sichert. Da sich die Möglichkeiten und Bedingungen der

Aktualisierung der Verfassung geschichtlich wandeln, ist bei der konkreten Falllösung

denjenigen Auslegungsgesichtspunkten der Vorzug zu geben, die in der gegebenen

historischen Lage zu den optimalen Wirksamkeit der Verfassungsnormen verhelfen.552

Durch

die Annahme des Grundsatzes pro persona wird die systematische Auslegungsdirektive mit

der teleologischen Auslegungsmethode eng verflochten. Ihre Anwendung im Bereich der

Grundrechte führt zum maximalen Schutz der Menschenwürde.553

Das Ziel jeder

demokratischen Verfassung liegt in der Einschränkung der staatlichen Gewalt zum Schutz der

Freiheit und Würde des Menschen. Alle verfassungsrechtlichen Einrichtungen entsprechen

diesem Zweck. Daraus ergibt sich, dass die Interpretation der Verfassung derart durchgeführt

werden soll, dass ihre Normen die effektivste Verwirklichung der Freiheit und Würde sowohl

auf der individuellen, als auch auf der sozialen Ebene ermöglichen.554

Der Grundsatz der

Effektivität der Grundrechte findet seine Stütze in der Erwägung, dass die Grundrechte als

Verwirklichungsformen des Schutzes der Menschenwürde Grundlage der Legitimität des

548

G. Caballero Sierra, M. Anzola Gil, Teoría Constitucional, Santa Fe de Bogotá 1995, S. 58. 549

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 376. 550

K. Complak, Uwagi o godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej konstytucji, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 49. 551

BverfGE 6, Nr. 55(72); siehe auch: G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría

general, Madrid 1995, S. 577. 552

A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,

Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 209; K. Hesse, Grundzüge des

Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 28; vgl: Beschluss des

Verfassungsgerichtshofs von 25.01.1995, (W 14/94, OTK 1995/1/19). 553

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 383. 554

G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S.108.

Page 151: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

139

Staates und der Rechtsordnung bilden.555

Was die Gewissensfreiheit angeht, rechtfertigt der

Grundsatz der Grundrechtseffektivität, dass die Freiheit der Gewissensbetätigung durch den

Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasst wird.556

Die Konkretisierung des Grundsatzes pro persona ist der Grundsatz favor libertatis oder in

dubio pro libertate sowie der Grundsatz favor debilis.557

Der Grundsatz favor libertatis basiert

„auf der Expansionskraft des Rechts auf Freiheit und auf ihren besonderen

verfassungsrechtlichen Schutz auch in Ausnahmezuständen.“558

Danach sind nicht nur die

Einschränkungen der Grundrechte und Grundfreiheiten restriktiv auszulegen. Diese Regel

lässt sich auch als eine Möglichkeit verstehen, die Grundrechte extensiv auszulegen, sowie

die Analogie in diesem Bereich anzuwenden.559

Darüber hinaus ist mit dem Grundsatz in

dubio pro libertate nicht nur die individuelle Freiheit, sondern auch eine globale Freiheit

gemeint. Danach soll der gleiche Genuss der Freiheitsrechte und ihre Maximierung

verwirklicht werden.560

Dem Grundsatz in dubio pro libertate liegt die Annahme zugrunde, dass der Freiheit als dem

höchsten Ziel der Verfassung der Vorrang im Verhältnis zu anderen Interessen eingeräumt

worden ist.561

Aus diesem Grund wird vertreten, dass sich der Grundsatz in dubio pro

libertate als Auslegungsdirektive nicht aufrechterhalten lässt, sonst würden

Gemeinschaftswerte im Voraus in die Nachrangigkeit versetzt.562

Dem ist entgegenzuhalten,

dass der Grundsatz der Freiheit in der polnischen Verfassung durch seine Verbürgung in der

allgemeinen Freiheitsklausel des Art. 31 Verf. zu einer Auslegungsdirektive erhoben wurde,

555

J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte

Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 144; G. Peces- Barba Martínez, Curso de

derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 577. 556

R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der

Staat, Nr. 25, 1986, S. 254. 557

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 377. 558

J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte

Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 157. 559

B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 59; M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa

i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 38; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S.

138. 560

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 411. 561

F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,

Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 562

K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

Band III/2, München 1994, S. 1653.

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140

die das Verständnis und Anwendung der Grundrechte intensiv prägt.563

Die Annahme dieses

Grundsatzes rechtfertigt sich somit mit der Teleologie der Verfassung.

Nach dem Grundsatz pro debilis ist bei der Interessenabwägung in einer Konfliktsituation auf

faktische Ungleichheit einer Partei in dem Rechtsverhältnis Rücksicht zu nehmen. Dies ist

insbesondere im Arbeitsverhältnis der Fall.564

Zum anderen ist zu beachten, dass die

Interpretation der Grundrechte nicht nur zum Schutz der Interessen des Einzelnen

durchgeführt werden soll, sondern auch die Ausstrahlungskraft der Grundrechte derart fördern

soll, dass alle Betroffenen, insbesondere die benachteiligten Gruppen zum effektiven Genuss

der Grundrechte kommen.565

Dieser Grundsatz ist von einer erheblichen Bedeutung gerade für

die Auslegung der Gewissensfreiheit, die begriffsnotwendig das Recht der Minderheiten und

Einzelpersonen ist.

2.3. Systematische Auslegung der staatskirchenrechtlichen Verfassungsbestimmungen

Die systematische Auslegung findet Anwendung auch in Bezug auf die

verfassungsrechtlichen Vorschriften, welche die staatskirchenrechtlichen Fragen regeln. Es

sind nämlich bei ihrer Interpretation andere Verfassungsnormen heranzuziehen, die auf den

ersten Blick keine direkten staatskirchenrechtlichen Bezüge aufweisen. Diese

mitzuberücksichtigenden Normen bilden das Normgefüge des weit verstandenen

Staatskirchenrechts sensu largo, indem sie die strikt staatskirchenrechtlichen

Verfassungsregelungen, deren Schutzgegenstand unvollständig ist, präzisieren und

konkretisieren. Dazu gehören: die Klausel der Menschenwürde (Art. 30 Verf.), die Klausel

der allgemeinen Freiheit (Art. 31 Verf.) der Gleichheitssatz (Art. 32 Verf.), Meinungsfreiheit

(Art. 54 Verf.), Versammlungsfreiheit (Art. 57 Verf.), Vereinigungsfreiheit (Art. 59 Verf.).

Die Einbeziehung der genannten Verfassungsvorschriften bei der Auslegung der Gewissens-

und Religionsfreiheit führt zur Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 53 Verf. auf die

Sphäre der nichtreligiösen, philosophischen und ethischen Positionen. Die weite Auslegung

der Gewissensfreiheit ist unter anderen mittels der flexiblen Auslegung der

563

Vgl. A. Guedes Sorlano, Libertade religiosa no direito constitucional e internacional, São Paulo 2002, S. 4; G.

Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 126. 564

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 377. 565

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 409.

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141

„nichtkonfessionellen“ Normen möglich, welche als das Ganze genommen „die

weltanschauliche Situation“ des Einzelnen doch bestimmen.566

3. Teleologische Auslegung der Gewissensfreiheit

3.1. Voraussetzungen der teleologischen Auslegungsmethode

In der polnischen Methodenlehre wird die teleologische Auslegung als eine Sonderart der

funktionalen Interpretation angesehen. Als Funktion der Norm werden die Folgen bezeichnet,

welche durch ihre Anwendung in der sozialen Wirklichkeit eintreten.567

Der funktionale

Kontext der Norm ist dabei vielschichtig und zusammengesetzt. Zu seinen Bestandteilen

gehört nicht nur das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche System, sondern auch die

allgemeine Kultur der Gesellschaft, in der die geltenden Normen und vorherrschenden

Wertungen zum Ausdruck gebracht werden. Weiterhin gehören dazu soziale und politische

Ziele sowie die Zivilisationsphänomene, mit deren Verbindung das menschliche Verhalten

geregelt wird.568

Im Zweifel bezüglich der Bedeutung einer Norm ist diejenige zu wählen, die

sich mit den gesellschaftlichen Wertungen und Regeln im höchsten Grad vereinbaren lässt.

Gemäß der teleologischen Methode wird nach dem objektiven Zweck eines bestimmten

Gesetztes gefragt, allerdings im Rahmen von festen Argumentationsgesichtspunkten, die aus

den anderen canones der Auslegung sowie aus der Bezugnahme auf den Lebensbereich, der

durch die zu interpretierende Norm geregelt werden soll, gewonnen werden.569

Die

teleologische Auslegung muss somit eine Stütze im auszulegenden Text finden. Wenn der

Rechtstext keine durch die anderen Auslegungsmethoden zu ermittelnden Maßstäbe enthält,

wonach der telos des Rechtsaktes zu erschließen ist, hilft die teleologische Auslegung nicht

weiter; sie kann die anderen Methoden nicht ersetzen. Die Aufgabe des Interpreten besteht

darin, diese Maßstäbe herauszuarbeiten, zusammenzulegen, zu bewerten und das von ihm

angenommene Ergebnis als das vernünftigste zu begründen.570

566

J. Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, Studia z Prawa Wyznaniowego 2005, Band 8, S. 8

einschlißlich der Fußnote 7. 567

W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 447. 568

Ebenda, S. 446. 569

Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203. 570

M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 189.

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142

Über die Bedeutung der teleologischen Auslegungsmethode für das Verfassungsrecht hat sich

der Verfassungsgerichtshof in dem Beschluss von 7. März 1995 wie folgt geäußert: „Bei der

Auslegung der Vorschriften berücksichtigt der Verfassungsgerichtshof – wie andere Gerichte

- ihren sprachlichen, systematischen, sozialen, axiologischen Kontext sowie den Zweck der

Vorschriften. (....) In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs hat der axiologische

Kontext eine besondere Bedeutung. Während der Verfassungsgerichtshof den systematischen

Kontext in Betracht zieht, ist er verpflichtet, auf diejenigen Verfassungsvorschriften

Aufmerksamkeit zu lenken, die im höheren Grade als andere Vorschriften an Werte

anknüpfen, nach denen sich die Gesellschaft richtet. Aber nicht nur die in den

Verfassungsvorschriften enthaltenen Werte stellen für den Verfassungsgerichtshof einen

Hinweis dar. Die Verfassungsvorschriften bestimmen nicht immer gänzlich diejenigen Werte,

die zum Wegweiser für den Gesetzgeber wurden. Daher ist bei der Auslegung der

Vorschriften auch diejenigen Werte in Betracht zu ziehen, die in den Vorschriften der

Verfassung ausdrücklich nicht ausgesprochen worden sind.“571

Die teleologische Auslegungsmethode ist für die Interpretation der Verfassung von

erheblicher Bedeutung. Die Verfassungsauslegung verlangt oft, auf

außerverfassungsrechtliche Daten und Wertungen zurückzugreifen, „die aus der faktischen

Realität, dem kollektiven Gewissen und aus den aktuellen Forderungen des Gemeinwohls

entnommen werden. Die Verfassung genießt keine Selbstgenügsamkeit. Sie ist kein

hermetisches, perfektes Dokument, das das ganze Verfassungsrecht umfasst.“572

Die

Auslegung der Verfassung soll somit keine technische und formalistische Tätigkeit sein. Der

Interpret soll vielmehr die Grundaspekte der sozialen Wirklichkeit, die Evolution der

Institutionen und Gewohnheiten beobachten und bei Auslegungsentscheidung gebührend

berücksichtigen. Die Bedürfnisse der sozialen Realität sollen insbesondere im Prozess der

richterlichen Auslegung in Betracht gezogen werden.573

Bei der Interpretation eines Rechtsaktes ist somit denjenigen Sinn der Vorschrift zu

erschließen, der mit dem Zeitablauf an den Rechtsakt hineingewachsen ist. Im Fall der

divergierenden Ergebnisse, die von verschiedenen Auslegungsmethoden geliefert werden,

571

W 9/94, OTK 1995/1/20. 572

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 329. 573

Ebenda, S. 229.

Page 155: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

143

erlangt die teleologische Auslegungsmethode das spezielle Gewicht;574

unter den aus der

Perspektive des Wortlauts vertretbaren Interpretationsvarianten ist dann diejenige

auszuwählen, die dem Zweck des Rechtsaktes am besten entspricht. Der Zweck des

Rechtsaktes ist selbstredend nicht das von dem Interpreten Vorausgesetzte, oder das von ihm

Erwünschte; er ist vielmehr in dem Text des Rechtsaktes ausdrücklich bestimmt, oder

zumindest lässt sich aus dem Text und seinem „teleologischen Kontext“ mit hinreichender

Präzision herleiten.575

Da in der Verfassung der Entwurf der soziopolitischen Struktur des

Gemeinwesens niedergeschrieben ist, erfordert manchmal ihre Auslegung eine politische

Fundierung, d.h. die Ausrichtung auf die Verwirklichung des Gemeinwohls, der

Rechtssicherheit und des Rechtsstaats. Das politische Element bei der Auslegung der

Verfassung darf allerdings die durch das Recht gesetzten Schranken nicht überschreiten; eine

Rechtsfrage bedarf immer einer Rechtsantwort.576

Für die Notwendigkeit der Einbeziehung der teleologischen Auslegungsmethode bei der

Auslegung der Gewissensfreiheit spricht auch die durch die polnische Rechtslehre

angenommene Fiktion des rationalen Gesetzgebers. Danach wird angenommen, dass der

Gesetzgeber über die vollkommene sprachliche Kompetenz, über das ausgezeichnete logische

Wissen und über die anderen zur Regelung eines Fragments der sozialen Wirklichkeit

notwendigen Kenntnisse (Sachwissen) verfügt. Allerdings wenn es sich im

Interpretationsprozess herausstellt, dass ein Rechtsakt nicht klar oder nicht eindeutig

formuliert ist, ist die Vermutung der sprachlich ausgezeichnet kompetenten Gesetzgebers

widerlegt.577

Die Widerlegung der Vermutung des sprachlich ausgezeichnet kompetenten

Gesetzgebers führt zur Notwendigkeit der Anwendung der teleologischen Auslegung.578

Die

Fiktion des axiologisch rationalen Gesetzgebers ist dagegen unwiderlegbar;579

damit ähnelt

sie der Vermutung iuris ac de iure. Die funktionale Auslegung basiert auf der Voraussetzung

574

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 88. 575

M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in : P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 190. 576

A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 583. 577

Nur wenn bei der Auslegung der Verfassung von der gegenseitigen Voraussetzung des sprachlich

unvollkommenen Verfassungsgebers auszugehen wäre, wie es Burgoa tut, (I. Burgoa, Derecho Constitucional

Mexicano, México 1985, S. 395) müsste angenommen werden, dass die grammatische Auslegungsmethode am

wenigsten zuverlässig ist. 578

A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia

chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento

jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 333. 579

S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 89; Z. Ziembiński, Logika

praktyczna, Warszawa 1994, S. 242.

Page 156: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

144

des perfekten Gesetzgebers. In diesem Zusammenhang präzisiert der Verfassungsgerichtshof,

dass das Urteil „mit Berufung auf funktionale Auslegung und - genauer gesagt - auf die

Annahmen hinsichtlich des sachlichen Wissens des Rechtsgebers und auf sein kohärentes

Wertungssystem“580

begründet werden kann.

Die Rekonstruierung der axiologischen Wertungen des Gesetzgebers erfolgt unter

Berücksichtigung der Texte der Präambel, wo die ratio legis ausdrücklich formuliert ist, der

offiziellen Begründungen oder Motive der betroffenen Rechtsakte, Vorbereitungsmaterialien

und sogar der politischen Programme der Regierungsgruppe. Außerdem werden die

Wertungen des Gesetzgebers aufgrund der Vermutungen des Interpreten betreffs des Zweckes

von anderen klar und unumstritten formulierten Normen erschlossen.581

Die funktionale

Auslegung kann sich zwar auch auf außerrechtliche axiologische Argumente stützen, es

entsteht aber die Gefahr, dass die Grenze zwischen Interpretation und Rechtssetzung

überschritten werden kann.582

Mag die sprachliche Fassung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung selbst

unmittelbar zu ihrem Zweck nichts aussagen, steht sie in einem Bedeutungszusammenhang

mit anderen Vorschriften der Verfassung und vor allem mit anderen Grundrechten. Bei der

Auslegung einer Verfassungsvorschrift ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Aufgabe

jeder Verfassung darin besteht, zu dem „tripolaren Spannungsverhältnis“583

zwischen dem

Einzelnen, der Gemeinschaft und dem Dritten Stellung zu nehmen und das Gleichgewicht

zwischen den konkurrierenden Interessen herzustellen. Die polnische Verfassung scheint

dabei eine vermittelnde Position einzunehmen. Die wertende Entscheidung des

Verfassungsgebers fällt beim Individuum zugunsten der Würde und Freiheit, beim Dritten

zugunsten der Gleichheit und bei der Gesellschaft zugunsten einer die beiden anderen Pole

schützenden und fördernden Ordnung. Der Zweck der Unantastbarkeit der Menschenwürde

steht dabei an hervorragender Stelle der Verfassung. Die Freiheit ist ein durchgängiger

Begriff des Grundrechtsteiles, der in verschiedenen Varianten und Stufen gesehen und in

unterschiedlicher Weise geschützt, jedoch als Freiheit entschieden verfochten wird. Der

580

Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 6 Januar 1993, K9/92, OTK 1993, poz. 12. 581

G. Caballero Sierra, M. Anzola Gil, Teoría Constitucional, Santa Fe de Bogotá 1995, S. 54; Z. Ziembiński,

Logika praktyczna, Warszawa 1994, S. 242. 582

L. Leszczyński, Zagadnienia teorii stosowania prawa. Doktryna i tezy orzecznictwa, Kraków 2001, S. 132. 583

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit, Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 65; siehe auch: P. Sobczyk,

Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997r., in: Prawo

Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 9f.

Page 157: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

145

Schutz von Menschenwürde und Freiheit ist somit ein in der Verfassung proklamiertes

Staatsziel, dessen Verwirklichung einzelne Grundrechte dienen. Die Freiheit und Würde

können dabei als „Fernziele“ der staatlichen Tätigkeit betrachtet werden. Um sie zu erreichen,

stellt die Verfassung die einzelnen Grundrechte zur Verfügung und gibt damit den

„Fernzielen“ mehr Gestalt; durch Bereitstellung der einzelnen Grundrechte wird der Schutz

der Menschenwürde und Freiheit also in „Naheziele“ aufgelöst.584

Daraus ergibt sich, dass die

Grundrechte derart funktional ausgelegt werden müssen, damit sie zur Verwirklichung der

Menschenwürde und Freiheit beitragen. Die Interessen der Dritten werden dagegen durch die

Verankerung des Gleichheitssatzes geschützt. Einer der Grundsätze der

verfassungsrechtlichen Ordnung, der die Interpretation der Grundrechte, darunter das

Grundrecht der Gewissensfreiheit, beeinflussen kann, ist das Gebot der Beachtung des

Völkerrechts. Alle diese Ziele werden in den Verfassungsgrundsätzen niedergelegt, deshalb

ist ihre Auswirkung auf das Verständnis der Gewissensfreiheit zu prüfen. Diese Untersuchung

wird zum Gegenstand des folgenden Abschnitts.

3.2. Die Rolle der Verfassungsgrundsätze bei der Verfassungsauslegung

3.2.1. Allgemeines

Mit den Verfassungsgrundsätzen werden die in den Verfassungsnormen zum Ausdruck

gebrachten Ideen, Werte und Begriffe gemeint, welche die Grundlagen anderer Normen

bilden. Sie charakterisieren den Staat, indem sie auf prinzipielle Werte hinweisen, welche

dieser Staat achten und verwirklichen soll. Sie stellen das Fundament nicht nur der

Rechtsordnung, sondern auch des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems dar,

deshalb sind sie „eine interpretatorische Quelle und Bezugspunkt für

Gerichtsentscheidungen.585

Die Verfassungsgrundsätze sind vor allem von den konkreten Verfassungsvorschriften zu

unterscheiden. Die Verfassungsgrundsätze sind die Verfassungsnormen höheren Ranges, für

welche größerer Grad der Allgemeinheit charakteristisch ist als etwa für die

Kompetenznormen. Sie sind nicht immer ausdrücklich in Form einer Verfassungsvorschrift

584

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 68. 585

M. Kruk, Konstytucyjne zasady podstawowe – ich znaczenie i katalog, in: Sokolewicz Wojciech, Zasady

podstawowe polskiej konstytucji, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 1998, S. 7.

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146

niedergeschrieben. In diesem Fall stellen sie einen Verallgemeinerungsschluss aus mehreren

Verfassungsnormen dar.586

Sie bilden (zusammen mit der Präambel) Ausgangspunkte für die

Auslegung, insofern die zu interpretierenden Vorschriften dem Ziel dienen, den

Programmgehalt der Verfassungsgrundsätze zu verwirklichen. Die Verfassungsgrundsätze

geben den Ton der ganzen Rechtsordnung an.587

Der Katalog der Verfassungsgrundsätze ist

umstritten. Sie genießen allerdings den Vorrang vor den übrigen Verfassungsvorschriften,

„weil gerade in den Verfassungsgrundsätzen die wichtigsten Rechtsinhalte des Staatsystems

artikuliert wurden. Die übrigen Verfassungsbestimmungen erfüllen im Verhältnis zu ihnen

mehr oder weniger eine Hilfsrolle.“588

Die Grundsätze normieren einen idealen Zustand, der

erreicht werden soll, ohne das konkrete Verhalten vorzuschreiben. Im Gegensatz zu den

Regeln, die im vollen und ganzen verwirklicht werden sollen, haben sie einen

richtungweisenden Charakter. Sie enthalten einen Optimierungsbefehl. Die Optimierung setzt

die Gradation der Normerfüllung voraus; die Realisierung einer Grundsatzbestimmung hängt

von den rechtlichen und faktischen Möglichkeiten ab. Da die Art und Weise der

Grundsatzrealisierung nicht objektiv bestimmt ist, eröffnet sich die Möglichkeit der

Alternativen, deren Wahl in einigen Fällen von den ideologischen Konzeptionen des

Interpreten beeinflusst wird.

Die Grundsätze haben die Ausstrahlungswirkung auf die ganze Verfassung. Mit ihrem

axiologischen Gehalt zementieren und legitimieren sie die ganze Rechtsordnung und deshalb

stellen sie Richtlinien für den Interpreten dar und bestimmen zugleich die Grenzen seiner

Tätigkeit. Die Verfassungsgrundsätze vollbringen den normativen Sinngehalt jeder

Verfassungsregel. Sie sind ein Wegweiser und konstanter Bezugspunkt für alle staatlichen

Organe und Behörden bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben, Kompetenzen und Pflichten.589

Die Verfassungsgrundsätze beinhalten „Leitideen“590

der Verfassung, welche in ihrer

besonderen Vorschriften weiterentwickelt werden. Sie müssen „aus den Klammern

genommen werden.“ Dies geschieht vor allem im Prozeß der Auslegung der Verfassung und

des ganzen Rechts sowie „im Prozess der Formulierung des Inhalts des ganzen Rechtssystems

586

P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej

Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 15. 587

M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in : P. Winczorek, Teoria i praktyka

wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 186. 588

B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 33. 589

Z. Witkowski, in: derselbe, Prawo konstytucyjne, Toruń 2002, S. 65. 590

Ebenda, S. 65.

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147

in dem Staat.“591

Im Bezug auf die konkreten Verfassungsvorschriften haben die

Verfassungsgrundsätze den normativen Wert; sie sind von Bedeutung für die Bestimmung der

bürgerlichen Rechte und Pflichten. Wenn die konkreten Verfassungsvorschriften nicht

eindeutig sind, ist auf die Verfassungsgrundsätze zurückzugreifen und in deren Lichte eine

Auslegungsvariante zu wählen.592

Wenn alternative Auslegungsergebnisse einer Norm

vorliegen, ist diejenige zu wählen, die mit den Rechtsgrundsätzen harmonisiert, sowie keine

Lücken entstehen lässt.593

„Die Allgemeinheit, Abstraktheit sowie Expansionsfähigkeit der Grundsätze erlauben dem

Interpreten in vielen Fällen den strikten Legalismus zu überwinden und in dem System nach

einer gerechteren Lösung zu suchen. (…) Dieselben Grundsätze fungieren auch als letzte

(máxima) Schranken für die Auslegung, indem sie voluntaristische Subjektivität, persönliches

Empfinden oder politische Zweckmäßigkeit neutralisieren und durch die Auferlegung einer

Pflicht, seine Entscheidungen zu begründen, den Spielraum des Normanwenders

reduzieren.“594

3.2.2. Die Bedeutung der Klausel der Menschenwürde für die Auslegung der

Gewissensfreiheit

Die polnische Verfassung bestimmt in Art. 30, dass die angeborene Würde des Menschen

unveräußerlich und unverletzlich ist. Sie bildet die Quelle der Freiheiten und Rechte des

Menschen und des Staatsbürgers. Ihre Achtung und Schutz ist Verpflichtung der öffentlichen

Gewalt. Der Verfassungsgeber hat mit dieser Aussage „überpositivistische also auch der

Verfassung gegenüber übergeordnete Rolle der Menschenwürde“595

und vorstaatliche Geltung

der Menschenrechte anerkannt. Dabei wurde der Bezug auf die Konzeptionen des

Naturrechts596

in seinem „allgemein-humanistischen und nichtkonfessionellen Verständnis“597

591

Z. Witkowski, in: derselbe, Prawo konstytucyjne, Toruń 2002, S. 65. 592

P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej

Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 15. 593

E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 132. 594

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 86. 595

L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S.

1, 4. 596

B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 60. 597

M. Gulczyński, Konstytucjonalizacja nowego ładu społecznego w Polsce, in: W. Sokolewicz, Zasady

podstawowe polskiej konstytucji, Warszawa 1998, S. 245.

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148

hergestellt. Die „anerkennende“ Formulierung der Grundrechte in der Verfassung liefert

offenkundig keinen Beweis dafür, dass es ein Naturrecht gibt; sie bezeugt nur, dass die

naturrechtlichen Prämissen einen Teil der Ideologie des Verfassungsgebers darstellen.598

Der

Verfassungsgeber geht von der Konzeption der Menschenrechte aus, welche die historische

und moralische Entwicklung insbesondere in Europa und Amerika aufgezeigt hat. Danach

sind Menschenrechte moralische, universelle, abstrakte und fundamentale individuelle

Rechte, die gegenüber dem positiven Recht Priorität besitzen.599

Die Menschenrechte haben

ursprünglich moralischen Charakter und für ihre rechtliche Geltung bedürfen sie einer

Inkorporation in die Rechtsordnung. In Art. 30 Verf. wurde die Intention des

Verfassungsgebers zum Ausdruck gebracht, die Menschenrechte in ihrer moralischen

Dimension in die Grundrechte zu transformieren. Mit dieser Transformation wird der Staat

zum Zurechnungspunkt der grundrechtlichen Pflichten. Bezogen auf die Grundrechte hat die

Transformation eine konstituierende Funktion; als Normen des positiven Rechts können die

Grundrechte, anders als Menschenrechte, nicht vorstaatlich sein.600

Durch die Feststellung, dass die Menschenwürde Quelle der Rechte und Freiheiten des

Einzelnen ist, wird Art. 30 Verf. zu einer Bestimmung, in welcher der Anspruch des positiven

Rechts auf menschenrechtliche und in diesem Sinne moralische Richtigkeit ausgesprochen

wird. Mit diesem Anspruch wird ein Zusammenhang zwischen Recht und Moral gestiftet.601

Mit der Transformation der Menschenrechte in das positive Recht wird ihnen rechtlicher

Geltungsgrund hinzugefügt, ohne dass ihr moralischer Geltungsgrund zugrundegeht. Deshalb

bleibt im Falle einer fehlerhaften oder defizitären Transformation einer menschenrechtlichen

Norm in die Rechtsordnung sowie im Fall einer restriktiven Auslegungspraxis eines

Grundrechts Kritik aus der menschenrechtlichen Perspektive möglich.

Die Menschenwürde bezeichnet „eine Sphäre der Persönlichkeit, die sich im Wertgefühl des

Menschen und der Erwartung der Achtung seitens Anderer“602

konkretisiert. Dieses

Wertgefühl wird sowohl durch die innere, d.h. mit der Persönlichkeit des konkreten

598

Es lässt sich allerdings die These Sarneckis nicht begründen, dass in der Verfassung an das katholische

Verständnis des Naturrechts angeknüpft wurde; P. Sarnecki, Idee przewodnie Konstytucji Rzeczpospolitej

Polskiej z 2 kwietnia 1997, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 13. 599

M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006, S. 85. 600

Ebenda, S. 87ff. 601

Dabei ist zu merken, dass auch der Positivist eine positivrechtlich geschaffene Verbindung zwischen Recht

und Moral bejahen kann, ohne seinen Standpunkt verlassen zu müssen, deswegen bleibt der Streit um

Rechtsbegriff zwischen Positivismus und anderen Theorien offen. 602

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 169, Rn. 2.

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149

Individuums zusammenhängenden als auch durch die äußeren (historischen, kulturellen,

religiösen) Faktoren bestimmt. Der Begriff der Menschenwürde unterliegt somit den

zeitlichen Änderungen. Das heutige Verständnis der Menschenwürde hat sich aus

verschiedenen geschichtlichen Situationen mit ihren spezifischen Bedrohungen des Wohls der

Menschen herauskristallisiert. Heutzutage liegt es durch diese geschichtliche Erfahrung

erhärtet in den einzelnen Grundrechtsgehalten konkretisiert vor.603

Zur Erklärung der Bedeutung von Menschenwürde wurden verschiedene Konzeptionen

entwickelt. Aus der Sicht der christlichen Theologie wird die Menschenwürde mit Schöpfung

des Menschen als Abbild Gottes und seiner Erlösung von Christus begründet. Aus der

philosophischen Perspektive wird dagegen die Grundlage der Menschenwürde in

menschlicher Vernunft und Freiheit angesehen. Einen engen Zusammenhang zwischen der

Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des Individuums und dem Grundrecht

der Gewissensfreiheit hat allerdings ihre ethische Dimension. Danach wird die Fähigkeit des

Menschen, freie Entscheidungen zu treffen und für seine Handlungen Verantwortung zu

übernehmen als Wesensmerkmal des Menschenwürdebegriffs angesehen.604

Für die Auslegung der Menschenwürdeklausel in den modernen Verfassungen hat sich die

kantische Auffassung der Menschenwürde als besonders ergiebig erwiesen.605

Die

Verfassungsstaaten der westlichen Ausprägung werden durch die Kernaussagen seiner

praktischen Philosophie immerhin beeinflusst. Die Formel Kants: „[D]er Mensch (...) existiert

als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder

jenen Willen“606

ist zum universellen ethischen Prinzip geworden. Aus dieser Formel folgert

Kant die Idee der Würde des Menschen: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen

Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als

Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde.“607

Der Kern der Menschenwürde ist somit die Subjektstellung und Autonomie des Einzelnen, die

aus der Ausstattung des Menschen mit dem Verstand und Willen herzuleiten ist. Daraus ergibt

603

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 119. 604

M. Makarska, Przestepstwa przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997, Lublin

2005, S. 14. 605

Eine indirekte Bezugnahme aud die kantische Konzeption der Menschenwürde kann K. Complak, Uwagi o

godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej Konstytucji, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 41

entnommen werden. 606

I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1999, S. 59. 607

Ebenda, S. 68.

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150

sich, dass jeder Einzelne die Freiheit der Selbstbestimmung genießt. Die Selbstbestimmung

des Einzelnen verwirklicht sich in der Freiheit, sein eigenes Wertsystem zu bilden und danach

zu leben.608

Dies kommt u. a. durch die dem Menschen immanente Suche nach und Erfahren

von transzendenten Werten zum Ausdruck. Auf diese Suche nimmt auch die Präambel zur

polnischen Verfassung Bezug; dort ist nämlich von Bürgern die Rede, welche die universellen

Werte des Guten, des Wahren und des Schönen entweder den religiösen oder anderen Quellen

entnehmen. Zum anderen verwirklicht sich die Menschenwürde durch die Übernahme der

(innerlichen und äußerlichen) Verantwortung für die Einhaltung eigenes Wertesystems.609

Die Bereitstellung des Freiraumes der realen moralischen Selbstbestimmung und

Selbstverwirklichung erfolgt durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Es schützt nämlich

diejenigen Aspekte der menschlichen Existenz, die an der Menschenwürde am nächsten

angesiedelt sind und den Einzelnen als Person definieren. Es schützt denjenigen Bereich, in

dem sich der Mensch in seiner Einzigkeit und Einmaligkeit vermittels der die menschliche

Natur widerspiegelnden Fähigkeiten – der Intelligenz und des Willens – selbst entdeckt und

sich in seiner sich selbst beherrschenden Identität verwirklicht. „In diesem Bereich der

höchstpersönlichen und einzigen Rationalität, in diesem Bereich des eigenen und

unveräußerlichen Gewissens besitzt der Mensch seinen freien Willen und Selbstherrschaft.

Und gerade in diesem Bereich, wo der Mensch spezifisch personale Handlungen vornimmt

und sie durch sein Verhalten in die Welt der Anderen und der Gesellschaft projiziert, kann er

einen am schwersten wiegenden und radikalsten Schaden erleiden, weil gerade hier das

Wesen des persönlichen Seins ins Spiel kommt.“610

Daraus ist sichtbar, dass das Gewissen des

Menschen den Wesensgehalt der Menschenwürdegarantie ausmacht. Gerade durch sein

Gewissen erfährt der Einzelne, dass er mit Menschenwürde ausgestattet ist.611

Die Verbindung der Würde mit der menschlichen Vernunft und Gewissen wird insbesondere

durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte deutlich gemacht. Art. 1 der

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat den folgenden Inhalt: „Alle Menschen sind

frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt

608

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 224. 609

L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Warszawa 2003, S. 7

f. 610

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho 1984,

S. 31f. 611

J. Buxadé Villalba, La objeción de conciencia en la función pública, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 185.

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151

und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Den engen Zusammenhang

zwischen der Menschenwürdegarantie und dem Grundrecht der Glaubens- und

Gewissensfreiheit hat auch der BverfG anerkannt: „Das Grundgesetz sieht die freie

menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgerecht

in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die

autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als ‚unverletzlich‟ anerkannt.“612

Die Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des Einzelnen determiniert somit

ihre Auslegungs- und Verwirklichungsweise durch den Staat;613

die Klausel der

Menschenwürde und die durch diese Klausel geschützten Werte werden zum Rang einer

Interpretationsdirektive der einzelnen Grundrechte erhoben. Dies bedeutet, dass im Fall der

Konkurrenz verschiedener Interpretationsvarianten einer Vorschrift diejenige zu wählen ist,

welche die in der Klausel der Menschenwürde verankerten Werte im höchsten Grade

berücksichtigt.614

Das Herleiten der Rechte und Freiheiten der Menschen aus seiner Würde

und nicht aus dem positiven Recht ist ein Merkmal der sog. „starken“ Form der

Menschenwürdeklausel.615

Aus der starken Formulierung der Menschenwürdeklausel in der

polnischen Verfassung kann sich das weite Möglichkeitsspektrum für die Auslegung der

übrigen Grundrechte ergeben; die Klausel der Menschenwürde kann nämlich ein Tor für die

erweiternde Auslegung der Freiheitsrechte bilden.616

Durch die Verankerung der

Menschenwürde in der polnischen Verfassung wird eine Rechtsfertigungsgrundlage auch für

die Gewissensfreiheit geschaffen.617

Die Gewissensfreiheit, wie alle durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte, hat ihren

Ursprung in der Menschenwürde.618

Sie ist die „verfassungskräftige Ausgestaltung des

Grundrechts der Menschenwürde (…), da diese Würde Ausdruck der Personalität des

612

BverfGE 12, 53; siehe auch: BverfGE 48, 127, 163. 613

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 169, Rn. 3. 614

A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,

Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 206. 615

J. Krukowski, Godność człowieka podstawą konstytucyjnego katalogu praw i wolności jednostki, in:

L.Wiśniewski, Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona Warszawa 1997, S. 46f. 616

M. Korycka, Zasada proporcjonalności – refleksje na gruncie aksjologicznych podstaw Konstytucji z 1997

roku i orzecznictwa Trybunału Konstytucyjnego, in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii

prawa, Toruń 2005, S. 46. 617

P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.

2. 618

E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w

III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 215.

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152

Menschen, seiner gewissensbegründeten‚ unvergleichbaren Einmaligkeit ist.“619

Die

Ableitung der Gewissensfreiheit aus der Klausel der Menschenwürde, die immer möglichst

weit auszulegen ist, stellt nach Szymanek620

„ein entscheidendes Argument“ für die

wohlwollende Interpretation des Art. 53 Verf. als Freiheit in der religiös- weltanschaulichen

und moralischen Sphäre dar.

Dem Staat obliegt, die Menschenwürde anzuerkennen und zu schützen, „also, jedem

Einzelnen den sozialen, kulturellen und rechtlichen Rahmen der Selbstverwirklichung zu

sichern, damit er über reale Möglichkeit verfügt, gemäß seinem Willen und dem aus ihm

ausfliesenden Wertesystem zu handeln.“621

Der Staat, der sich verpflichtet hat, die

Unantastbarkeit der Menschenwürde zu achten und zu schützen, bezieht seine Legitimität

nicht nur aus dem Grundsatz der Volkssouveränität, sondern auch aus dieser

Pflichtübernahme. Der Staat kann deshalb weder auf den Rechtsgehorsam seiner Bürger, noch

auf Anerkennung ihrer Freiheit, nach ihrem Gewissen zu handeln, verzichten, ohne sich selbst

preiszugeben.622

Die Verwirklichung der Menschenwürde ist somit als „zentrales Kriterium,

bzw. letzter Bezugspunkt der demokratischen Ordnung“623

anzusehen.

Darüber hinaus wird die Auslegung der Grundrechte durch den oben erwähnten Bezug der

Verfassung auf Naturrecht beeinflusst; die Interpretation der Grundrechte aus der Perspektive

des Naturrechts geht davon aus, dass der Katalog der in der Verfassung aufgezählten

Grundrechte den offenen Charakter hat. Die Anerkennung der Naturgrundrechte durch die

Verfassung ist nicht abschließend.624

Dieser Standpunkt wird von dem

Verfassungsgerichtshof vertreten; indem er aus der Menschenwürdeklausel die Schutzpflicht

derjenigen Grundrechte ableitet, „die aus welchen Gründen auch immer in den

Spezialvorschriften der Verfassung nicht konkretisiert worden sind.“625

Für die Auslegung der

Gewissensfreiheit kann diese Feststellung dahingehend von Bedeutung sein, dass wenn

angenommen werden müsste, dass der Schutzbereich des Art. 53 Verf. auf die Ausübung

eines religiösen Glaubens beschränkt ist, könnte die Gewissensbetätigungsfreiheit im

619

A. Arndt, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung , in: NJW, 1957, S. 361. 620

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 59. 621

L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Warszawa 2003, S.

8. 622

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 484. 623

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 119. 624

R. Guastini, Estudios sobre la interpretación jurídica, Porrúa 2001, S. 125f. 625

Urteil des Verfassungsgerichtshofs von 25. Februar 2002; SK 29/01, OTK – A 2002, Nr. 1 poz. 5.

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weltanschaulichen Bereich als implizit garantiertes Grundrecht aus der Klausel der

Menschenwürde hergeleitet werden.

Die Anerkennung der Dichotomie: das Individuum – die Gemeinschaft mit der gleichzeitigen

Gewährleistung der Unverletzlichkeit des Bereiches der Autonomie des Einzelnen vermittels

des Schutzes der Menschenwürde macht die Begegnung der beiden normativen Ordnungen,

des Rechts und der Moral, „die unterschiedliche Pfade beschreiten,“626

möglich. Die

Verankerung der Menschenwürde schafft somit eine notwendige Grundlage für dasjenige

Verständnis der Gewissensfreiheit, dass von der grundsätzlichen Verträglichkeit der

kollidierenden Geltungsansprüche des Rechts und der Moral ausgeht, wenn auch die genaue

Bestimmung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit weiterer Klärung

bedarf. Die Gewährung und Achtung der Gewissensfreiheit, einschließlich der Freiheit der

Gewissensbetätigung, durch den Staat ist eine der gewichtigen Verwirklichungsformen des

Schutzes von Menschenwürde. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit wird

durch das Staatsbild der Verfassung gestützt, in dem der Würde und Selbstbestimmung des

Einzelnen und der verantwortlichen Gesellschaft aller Menschen zentrale Bedeutung

zukommt.627

Deshalb entfaltet der Grundsatz der Menschenwürde als Grundlage der

Rechtsordnung im Ausnahmefall der Verweigerung aus Gewissensgründen eine

Verdrängungswirkung dem Grundsatz der formalen Demokratie gegenüber.628

Durch den

Schutz der Menschenwürde in Art. 30 Verf. wird der Schutz der Gewissensfreiheit

„bestätigt.“629

Das Verständnis der Gewissensfreiheit als eine Verwirklichungsform des Schutzes der

Menschenwürde wirkt sich auch auf die Bestimmung ihres Schutzbereichs aus, indem es

fordert, die subjektive Haltung des Einzelnen in Bezug auf seinen moralischen

Verantwortungsbereich bei der Würdigung seiner Gewissensentscheidung zu berücksichtigen.

Die Menschenwürde verstanden als Bewusstsein des Selbstwertes des Individuums sowie als

Gefühl der Selbstachtung „nimmt Einfluss auf das Gefühl des Lebenssinnes sowie auf das von

dem Einzelnen angenommene Wertsystem.“630

Diese Auffassung der Menschenwürde

626

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 302. 627

R. Herzog, Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, DVBl 84, 1969, S. 719. 628

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 13. 629

E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.

74. 630

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 173, Rn. 10.

Page 166: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

154

entspricht dem Verständnis dieses Begriffes in Ethik. Ossowska argumentiert in diesem

Zusammenhang, dass derjenige die Würde hat, „der die bestimmten von ihm anerkannten

Werte zu verteidigen vermag, mit deren Verteidigung sein Selbstwertgefühl verbunden ist.“631

Daraus ergibt sich, dass das Selbstverständnis der Beeinträchtigung der Menschenwürde

durch den Betroffenen von den Staatsorganen in Betracht zu ziehen ist. Die Stellungnahme

des Einzelnen hat zwar bei der Beurteilung der Menschenwürde keine entscheidende

Bedeutung und kann mit den objektiven Maßstäben konfrontiert werden, sie soll aber durch

die Staatsorgane berücksichtigt werden.632

Darüber hinaus weist der Grundsatz der Menschenwürde verfahrensrechtliche Auswirkungen

auf: in einem eventuellen Anerkennungsverfahren des Verweigerungsrechts aus

Gewissensgrünen ist nämlich von der Vermutung der Glaubwürdigkeit des Einzelnen

auszugehen. Dies wird damit begründet, dass wenn jemand seine Aufrichtigkeit beweisen

müsste, weil ihm sonst die Vermutung des Gegenteils rechtlos machen würde, würde er zum

bloßen Objekt des Verfahrens herabgesetzt, was gegen seine Menschenwürde verstoßen

würde. Der Einzelne müsste vor den staatlichen Behörden seine ganze Intimsphäre aufdecken,

um sich als aufrichtiger Mensch auszuweisen. Letztem Ende liegt nicht in seiner Hand, ob

seine Erklärung als überzeugend angesehen wird.633

Schließlich ist die Klausel der Menschenwürde für die Interpretation der Einschränkungen der

Gewissensfreiheit zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer von Bedeutung. Die

Gewissensposition des Einzelnen ist schützenswert, solange er die Anderen als bloßes

Instrument zur Verwirklichung seines Rechts nicht benutzt. Dem Gewissensträger ist

verwehrt, seine Gewissensentscheidung den Anderen aufzuerlegen, um damit seiner

moralischen Pflicht nachzukommen.634

Die Gewissensfreiheit des Einzelnen findet seine

Grenze in der Gewissensfreiheit des Anderen.

631

M. Ossowska, Normy moralne. Próba systematyzacji, Warszawa 2009, S. 59. 632

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 173, Rn. 10. 633

F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 239. 634

J. Guzmán López, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 27; J. P. Rodriguez, La

obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del derecho, Barcelona,

Madrid 1999, S. 374.

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155

3.2.3. Grundsatz der Freiheit des Einzelnen

Ein anderer Verfassungsgrundsatz, der für die Auslegung der Gewissensfreiheit Anwendung

findet, ist der Grundsatz des freiheitlichen Status des Einzelnen.635

Der Grundsatz der Freiheit

wird nicht nur der allgemeinen Freiheitsklausel (Art. 31 Verf.), sondern auch einer Reihe

anderer Verfassungsvorschriften entnommen: dazu gehört Art. 5 Verf., wonach der Staat

verpflichtet ist, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu gewährleisten, die Klausel der

Menschenwürde (Art. 30 Verf.), sowie der ganze Katalog der Rechte und Freiheiten.636

Der

Grundsatz der Freiheit erfüllt sowhol die Rolle des Grundsatzes des Staatssystems, des

leitenden Grundsatzes der Rechte und Freiheiten des Einzelnen, als auch die Funktion des

subjektiven Rechts.637

Bei der Beantwortung der Frage, ob die Gewissensfreiheit im weiteren

Sinne verstanden werden kann, d.h. ob sie das allgemeine Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen umfasst, das im Fall seiner Inanspruchnahme von dem Einzelnen die

Pflicht des Staates hervorruft, die Nichterfüllung der verweigerten Rechtspflicht nicht bloß zu

sanktionieren, sondern die kollidierenden Interessen als Problem der Güterabwägung unter

Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu thematisieren, wird der Interpret vor der Wahl

einer Konzeption der Freiheit in dem Staat gestellt.

Gemäß der in ihren theoretischen Grundlagen auf Hobbess zurückgehenden Konzeption der

Freiheit verfügt der Untertan über die Freiheit nur in dem Bereich, der von dem Souverän

nicht geregelt wurde. Der Gesetzgeber darf die Zahl der Rechtspflichten nach seinem freien

Ermessen vergrößern, obwohl er nach der Konstitutionalisierung der spezifischen

Freiheitsbereiche darauf aufmerksam sein müsste, dass er den Wesensgehalt der in der

Verfassung garantierten Freiheitsräume nicht antastet. Es handelt sich hier um das

Verständnis der Freiheit als eine Ausnahmesituation, d.h. als eine Sphäre der Immunität des

Individuums, die strikt eingegrenzt ist, und außerhalb deren der Gesetzgeber frei agieren darf,

ohne dass er die Gefahr läuft, dass er die Rechte des Einzelnen verletzt.

Das liberal-demokratische System basiert allerdings auf dem Grundsatz des Primats der

menschlichen Freiheit, die nicht als eine Ausnahmesituation, sondern als eine Regelsituation

635

Formulierung entnommen: P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś,

Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 19. 636

P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej

Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 19. 637

D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 105.

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156

aufgefasst wird. Gemäß Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789

besteht die Freiheit darin, alles tun zu dürfen, was einem Anderen nicht schadet. Art. 5

derselben Erklärung enthält dagegen die allgemeine Beschränkung der gesetzgeberischen

Tätigkeit: danach darf der Gesetzgeber nur diejenigen Handlungen verbieten, die der

Gesellschaft schaden. Daraus ergibt sich, dass die Rechtsgebote und Verbote als eine

notwendige Einschränkung der menschlichen Freiheit angesehen werden. Nach dieser

Freiheitskonzeption wird der Rechtschutz nicht nur einzelnen verfassungsrechtlichen

Modalitäten der Freiheitsausübung, sondern allen Ausdrucksformen des freien Willens

zuerkannt.638

Der Gesetzgeber trägt die „Beweislast“639

, dass die erlassenen Rechtsakte den

sozialen Interessen dienen; seine legislatorische Kompetenz ist somit nicht schrankenlos. Es

geht hier nicht um die Garantie der eingegrenzten Freiheitsbereiche wie Meinungs- oder

Vereinigungsfreiheit, sondern vielmehr um den Schutz der Freiheit als ein allgemeines

Prinzip, dessen Einschränkung nur zum Schutz anderer Rechte und Güter zulässig ist.

Die liberale Konzeption der Freiheit der Aufklärung, die der Erklärung der Menschen- und

Bürgerrechte von 1789 zugrundeliegt, wurde in Art. 31. Abs. 1 der polnischen Verfassung

aufgenommen.640

Danach steht die menschliche Freiheit unter dem Rechtsschutz. Geschützt

werden dabei alle Ausdrücke des freien Willens des Einzelnen, vorausgesetzt dass die

Ausübung der Freiheit Anderen nicht zum Schaden gereicht. Die Gewehrleistung der Freiheit

beschränkt sich somit nicht auf den Schutz der in der Verfassung ausdrücklich verbürgten

Freiheitsrechte.641

Obwohl die Verfassung die Freiheit positivrechtlich nicht definiert, ist

anzunehmen, dass sie ein fundamentales und natürliches (primäres im Verhältnis zum

positiven Rechts) Attribut des menschlichen Daseins bildet, der eine Möglichkeit der

autonomen und authentischen Verfügung über sich selbst, der Wahl und Verwirklichung der

Werte sowie des zwangsfreien Handelns umfasst.642

Als allgemeiner Rechtsgrundsatz stellt

die Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 1 Verf. ein beträchtliches Argument für die Annahme

des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen dar. Dies bedeutet selbstredend

638

L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w

praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 21. 639

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 179, Rn. 16. 640

L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w

praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 24;

derselbe, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, in: K. Działocha, Podstawoe problemy

stosowania konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Raport wstępny, Warszawa 2004, S. 96. 641

L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, in: K. Działocha, Podstawoe

problemy stosowania konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Raport wstępny, Warszawa 2004, S. 97f.. 642

D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 105.

Page 169: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

157

nicht, dass jede verweigerte Rechtspflicht zur Aufhebung der Sanktion führen kann. Das

Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen tritt vielmehr als eine Freiheit prima facie in

Erscheinung, die im Prozess der Güterabwägung wegen kollidierenden Rechtsinteressen

eingeschränkt werden kann.

3.2.4. Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung der Grundrechte

Einer der Verfassungsgrundsätze, der für die Auslegung des Grundrechts der

Gewissensfreiheit relevant ist, ist der Grundsatz der Beachtung des die Republik Polen

bindenden Völkerrechts (Art. 9 Verf.).643

Danach sollen die Rechtsanwender das maximale

Bemühen unternehmen, um die völkerrechtlichen Normen mit der Verfassung zu

harmonisieren, damit die Verantwortung des Staates wegen Nichterfüllung der internationalen

Pflichten vermieden werden kann.644

Die Auslegung der Verfassung in Übereinstimmung mit

dem Völkerrecht wird auch damit begründet, dass alle bürgerlichen Menschenrechte immer

häufiger als Normen ius cogens anerkannt werden, die den Staat auch ohne seine Zustimmung

binden.645

Daraus ergibt sich, dass bei der Auslegung der Gewissensfreiheit in der polnischen

Verfassung die rechtsdogmatischen Entwicklungstendenzen dieses Grundrechts auf der

völkerrechtlichen Ebene einzubeziehen sind.

Die Regelungsweise der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung, wonach sie mit der

Freiheit der Religion eng verknüpft wurde, ist auch für ihre Normierung in den

völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte typisch. Die Regelung der

Glaubens- und Religionsfreiheit in der polnischen Verfassung wird allerdings den

völkerrechtlichen Standards nicht gerecht: während sich der Schutz der Glaubensfreiheit in

der polnischen Verfassung zumindest nach ihrem Wortlaut auf nichtreligiöse Überzeugungen

nicht erstreckt, garantieren die völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen ausdrücklich die

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Die völkerrechtliche Formel „Gedanken-,

Gewissens- und Religionsfreiheit“ ist dabei so umfassend, dass die Gefahr eines engen oder

begrenzten Verständnisses dieser Freiheiten ausgeschlossen ist. Der weite Begriff hat zum

Zweck, ein möglichst weites Spektrum der menschlichen Gedanken, Anschauungen,

Verhalten und Handlungen umzufassen, „also alles, was die menschliche Aktivität in der

643

L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 145. 644

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 136. 645

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 126.

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158

moralischen, philosophischen und – ganz allgemein gesagt – weltanschaulichen Sphäre

betrifft.“646

Die wörtliche Betrachtung der Verfassungsvorschriften würde daher zu einer Auslegung

führen, die sich mit den völkerrechtlichen Standards des Schutzes der Gewissensfreiheit nicht

vereinbaren lässt.647

Da der Verfassungsgeber die Gedankenfreiheit von den völkerrechtlichen

Regelungen nicht übernommen hat und den weiten Bekenntnisbegriff, der sich auf jede

Weltanschauung bezieht, mit dem engeren Begriff „Religionsfreiheit“ ersetzt hat, ist bei der

Annahme seiner Rationalität, also der bewussten Anwendung der Sprache, davon auszugehen,

dass er das weite Konzept der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit im

weltanschaulichen Bereich648

zum Schutz der Religion de iure verengt hat. Art. 53 Abs. 2

Verf. wird danach als Legaldefinition der Religionsfreiheit verstanden.649

Art. 9 Verf. bestimmt allerdings, dass die Republik Polen das für sie bindendes Völkerrecht

befolgen soll. Deshalb würde der Schutz der Ausübungsfreiheit des Gewissens und der

Weltanschauung in das polnische Rechtssystem durch das Völkerrecht den Eingang finden,

vorausgesetzt, dass der in den menschenrechtlichen Abkommen befindliche Begriff

„Weltanschauungsfreiheit“ (freedom of belief, liberté de convictions) weit augelegt werden

könnte. Die weite Interpretation der Gewissensfreiheit resultiert somit aus der Bindung Polens

an die völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte.650

Um diese These zu

bestätigen, ist allerdings notwendig zu prüfen, inwieweit die Gewissensfreiheit durch die

internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte anerkannt wird. Die

Gewissensfreiheit ist in den sämtlichen relevanten internationalen Instrumenten zum Schutz

der Religions- und Glaubensfreiheit geregelt.651

Die nachstehende Prüfung wird allerdings auf

die Europäische Menschenrechtskonvention beschränkt, die für Polen besondere Bedeutung

hat.

646

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 41

ff. 647

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 260; M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo

prawa, Warszawa 1999, S. 269 ff. 648

J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 49. 649

Ebenda, S. 52. 650

L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 110. 651

Art.18 AEMR, Art. 18 Abs. 1 I PbpR, Art. 9 Abs. 1 EMRK, Art. 12 Abs. 1 AMRK, Art. 8 ACRMV.

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159

Die rechtsprechenden Organe der EMRK haben das Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen außer der Verweigerung des religiösen Eides652

ausdrücklich verneint. Im

Bezug auf die Wehrdienstverweigerung653

beruft sich die Europäische Kommission für

Menschenrechte auf Art. 4 Abs. 3 (b) EMRK, der bestimmt, dass der Wehrdienst und der

Ersatzdienst, falls das Recht auf Wehrdienstverweigerung in einem Konventionsstaat

anerkannt ist, aus dem Umfang des Begriffs der verbotenen Zwangsarbeit ausgeschlossen ist.

Daraus wird geschlossen, dass diese Bestimmung als lex specialis im Verhältnis zu Art. 9

EMRK anzusehen ist. Seinem Wortlaut ist zu entnehmen, dass den Konventionsstaaten zum

freien Ermessen überlassen wurde, ob sie das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus

Gewissensgründen anerkennen. Darüber hinaus darf keine Bestimmung der Konvention

dahingehend ausgelegt werden, dass ein Widerspruch zwischen den einzelnen Vorschriften

entsteht oder eine der Bestimmungen überflüssig wird. Demzufoge wurde das Recht auf

Wehrdienstverweigerung in der EMRK nicht aufgenommen. Diese enge grammatische

Interpretation der einschlägigen Vorschriften der EMRK ist allerdings in der Lehre mit der

Annahme der dynamischen Konventionsauslegung und mit dem Verweis auf Standards der

modernen demokratischen Staaten auf vehemente Kritik gestoßen.654

Der Bejahung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen in anderen Lebensbereichen

steht der durch die Konventionsorgane angenommene Ansatz der Eingrenzung des

Schutzbereichs der Gewissens- und Religionsfreiheit durch die Art der kollidierenden

Rechtspflichten entgegen. Danach kann sich der Einzelne auf Art. 9 EMRK nicht berufen, um

von Befolgung der allgemeinen und für Alle geltenden Pflichten loszukommen. Mit anderen

Worten niemand darf die Erfüllung der allgemeinen gesetzlichen Pflichten verweigern,

welche keine religiösen und weltanschaulichen Implikationen aufweisen. Diese

652

Buscarini and others v. San Marino, App. 24645/94. 653

Z. B. App. No 10640/83, A v. die Schweiz DR 38, S. 219; App. No 20972/92, Raninen v. Finnland DR 84-A,

S. 17, 30; App No 7705/76 X v. Deutschland DR 9, S. 196, 199; Z. B X v. Federal Republic of Germany, App.

7705 / 77, DR. 9, 196; A. v. Switzerland, DR 38,. 219; J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio

militar, Madrid 1993, S. 76; K. Warchałowski, Prawo do wolności myśli sumienia i religii w Europejskiej

Konwencji Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Lublin 2004, S.90. 654

R. Ergec, Les dimensions europennes de l‟objection de conscience, in: European Consortium for Church-

State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 12; F. G. Jacobs, R. C. White, The

European Convention on Human Rights, Oxford 1996, S. 217; M. Shaw, Freedom of thought, conscience and

religion, in: R. Von Macdonald, F. Matscher, H. Petzold, The European System for the Protection of Human

Rights, Boston, London 1993, S. 457; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española,

Madrid 1993, S. 159f.

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160

Argumentation betrifft vor allem die Verweigerung der Steuerzahlung für militärische

Zwecke.655

Die Gewährleistung der Ausübungsfreiheit des Gewissens wird dagegen in der Lehre

angenommen, indem die Begriffe „belief“ und „practice“ weit interpretiert werden. Der

Begriff „freedom of conscience“ bezieht sich zwar auf das forum internum der geschützten

Freiheit, der Begriff „to manifest a religion or belief“ weist aber darauf hin, dass das Recht

auf Ausübung der Gewissensentscheidungen durch völkerrechtliche

Menschenrechtsabkommen geschützt wird, vorausgesetzt dass der Begriff „belief“

dahingehend zu verstehen ist, dass er auch eine gewissensmäßige Überzeugung -

„conscientious belief“656

mitumfasst. Die Auslegung des Art. 9 EMRK ist dadurch erschwert,

dass die Entstehungsgeschichte der EMRK keinen hinreichenden Aufschluss über den Inhalt

der Gewissens- und Religionsfreiheit gibt.657

Auch die Rechtsprechungsorgane der EMRK

haben keine deutliche Abgrenzung zwischen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

vorgenommen.658

Es steht allerdings fest, dass der Begriff „belief“ vor allem die

nichtreligiösen Überzeugungen umfasst, welche im Leben des Einzelnen die vergleichbare

Position wie die formalen Religionen einnehmen.659

Er umfasst somit nicht nur religiöse,

sondern auch philosophische, politische und moralische Überzeugungen.660

Für die weite

Auslegung des Begriffs „belief“ spricht die Tatsache, dass sich die Verfasser von EMRK

davon enthalten haben, die Begriffe „religion“ und „belief“ zu definieren, um dadurch eine

beschränkte und subjektive Deutung zu vermeiden sowie die künftige Fortentwicklung der

Religions- und Gewissensfreiheit dem gesellschaftlichen Wandeln entsprechend zu

ermöglichen.661

Der Aufnahme der Gewissensentscheidungen in den Begriff „belief“ ist beizupflichten. Zum

einen ist der Begriff hinreichend aufnahmefähig, um unbekannte und nichtkonventionelle

sowie strikt individualistische Überzeugungen umzufassen. Zum anderen werden nur

655

Z.B. App. 10358/83, DR 37, 142. Ähnlich argumentiert die Kommission im Fall der Verweigerung, für die

Altersversorgung aus anthroposophischen Gründen Beiträge zu zahlen; App. 1497/62, YB 5 (1962), S. 286. 656

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 64. 657

C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 40,

50. 658

M. Evans, Religious liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 208. 659

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 131. 660

J. F. Renucci, Art. 9 of the European Convention on Human Rights. Freedom of Thought, Conscience and

Religion, Strasbourg 2005, S. 12. 661

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 34.

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161

diejenigen Überzeugungen geschützt, welche bestimmte Tiefe und Ernsthaftigkeit aufweisen.

Gerade die letzte Voraussetzung entspricht dem Charakter der Gewissensentscheidung; die

Anschauungen, welche diese Schwelle nicht überschreiten, werden dagegen aus dem

Schutzbereich des Art. 9 EMRK ausgeschlossen.

Fraglich ist allerding der Umfang der Ausübung einer Gewissensentscheidung durch

„practice“. Der Wortlaut des Art. 9 EMRK bezüglich der Ausübung der Religion und

Weltanschauung durch „practice“ ist nicht klar. In der deutschen Fassung heißt hier: „durch

Ausübung... auszuüben.“ Diese Übersetzung der Originaltexte („to manifest his religion or

belief... in practice“, bzw. „...la liberté de manifester sa religion au sa conviction... par les

practiques“ ) ist tautologisch. Auch schweizerische und österreichische Übersetzung gibt den

vollen Inhalt dieser Bestimmung nicht wieder. Dort wird das Wort „practice“ durch

„Andacht“ wiedergegeben. Diese Übersetzung ist allerdings zu eng, weil die Andachten schon

durch den Begriff „Gottesdienst“ erfasst sind. In den polnischen Übersetzungen wird das

Wort „freedom of religion“ mit dem Begriff „Bekenntnisfreiheit“ wiedergegegen, was die in

der polnischen Tradition eingebürgte weite Interpretation dieses Begriffs nahelegt. Dies wird

mit der Übersetzung der Ausübungsform „practice“ mit „Praktizieren“ bestätigt.

In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob der Begriff „practice“ nur die

traditionellen, vor allem kultischen, religiösen Tätigkeiten umfasst, oder ob er auch auf die

Umsetzung religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen in die Tat, darunter auch auf die

Lebensführung nach Maßgaben des individuellen Gewissens ausgedehnt werden kann. Wenn

diesem Begriff überhaupt ein eigener Schutzbereich zukommen soll, ist der zweiten

Alternative beizupflichten. Der Begriff „practice“ ist somit eine Art Sammelbegriff, der

diejenigen Ausübungsformen erfasst, die zwar nicht ausdrücklich in den Wortlaut von Art. 9

EMRK aufgenommen werden konnten, die aber nach dem Schutzzweck der garantierten

Rechte in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK einbezogen sein sollen, also das

Sichtbarmachen der religiösen, weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen im täglichen

Leben und ihre Betätigung.662

Es kann somit angenommen werden, dass auch

Gewissensausübungsfreiheit durch den Begriff „practice“ in den Konventionstext Eingang

gefunden hat.663

662

A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der

Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 19f. 663

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 121.

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162

Dieser Gedanke ist ebenfalls in der polnischen Lehre im Bezug auf die Auslegung des in Art.

53 Abs. 2 Verf. befindlichen Begriffs „Praktizieren“ einer Religion zu verzeichnen. Danach

wird der Begriff „eine Religion praktizieren“ nicht nur auf die mit der üblichen

Äußerungsformen einer Religion (etwa Fasten oder Tragen religiöser Kleidung) beschränkt,

sondern auf das Handeln gemäß den Glaubenssätzen erstreckt.664

Pietrzak formuliert die

These, dass sich aus der Glaubensfreiheit neben kultischen Handlungen auch das Recht des

Einzelnen ergibt, sein gesamtes Verhalten auf die Lehren seines Glaubens auszurichten und

seiner inneren Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln, sowie die Freiheit von dem

Zwang, unvereinbar mit dem eigenen Glauben zu handeln. Der Schutzbereich der

Glaubensfreiheit soll somit die gesamte religiös oder weltanschaulich motivierte

Lebensführung umfassen.665

Die weite Auslegung des Begriffs „Praktizieren“ wird allerdings

nicht einheitlich bejaht; gelegentlich wird er nämlich eng aufgefasst und auf übliche mit

Religionsausübung verbundene Tätigkeiten (Pilgerfahrten, Prozessionen, Fasten etc.)

begrenzt.666

Bei der extensiver Interpretation des Begriffs „practice“ besteht die Gefahr, dass der

Schutzbereich der Gewissensfreiheit konturenlos wird. Deshalb wird die Meinung vertreten,

dass das Vorliegen einer religiösen oder weltanschaulichen Ausübung nur bei einem

Verhalten angenommen werden kann, das in einem offensichtlichen Bezug zu einer religiösen

Überzeugung steht.667

Es ist selbstredend nicht relevant, welcher Verhaltenstyp als eine

Manifestierung der Gewissensfreiheit einzustufen ist, um allerdings den

ausfüllungsbedürftigen Begriff „practice“ nicht missbräuchlich zu interpretieren, sollen

lediglich diejenigen Verhaltensweisen durch seinen Schutzbereich geschützt werden, die eine

enge Verbindung mit dem Glauben oder der Weltanschauung des Einzelnen aufweist.668

Um

als eine Ausübungsform der Glaubensfreiheit anerkannt zu werden, muss die betroffene

Handlung ein unmittelbarer Ausdruck des Glaubens oder Weltanschauung sein. Ein Verhalten

muss also für einen außerstehenden Dritten als Ausübung einer Religion oder

Weltanschauung erkennbar sein.669

664

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 65. 665

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka), in: B. Oliwa-Radziłkowska,

Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 157. 666

H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 191. 667

O. Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht, Mainz 1990, S. 103. 668

R. Ergec, Les dimensions europennes de l‟objection de conscience, in: European Consortium for Church-

State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 8. 669

K. Raid, A practitioner‟s guide to the European Convention of Human Rights, London 1998, S. 345.

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163

Dieser Ansatz hat auch Anhänger in dem polnischen Schrifttum gewonnen: Gemäß Garlicki

beziehen sich die Praktiken auf ein „im Rahmen einer konfessionellen Gruppe gewöhnlich

unternommenes Verhalten, durch welches religiöse Überzeugungen der Gruppe zum

Ausdruck kommen, und welches manchmal auch ein Element der nationalen Tradition

darstellt.“670

Ihm haben auch Konventionsrechtsprechungsorgane gefolgt. Bahnbrechend war

dabei die Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Fall

Arrowsmith v. the UK. In dieser Entscheidung hat die Kommission eine Formel

angenommen, welche in der nachfolgenden Rechtsprechung mehrmals wiederholt wurde und

gilt als eine der interpretatorischen Hauptfeststellungen betreffs des Art. 9 EMRK: „Art. 9

schützt hauptsächlich die innere Sphäre des persönlichen Glaubens und religiösen Kredos,

also den Bereich, der manchmal forum internum genannt wird. Zusätzlich schützt er

Handlungen, die eng mit diesen Haltungen verbunden sind, wie der Kultus oder die Andacht,

welche Aspekte der Praktizierung einer Religion oder eines Glaubens in einer allgemein

anerkannten Form sind.“671

Mit dieser Einengung der Ausübungsfreiheit sucht die

Kommission der Gefahr vorzubeugen, dass sich die Glaubensfreiheit zum Recht auf

allgemeine Handlungsfreiheit aus religiösen Motiven entstellt.672

Die zitierte Behauptung der Kommission hat auch weitreichende Konsequenzen für die

Auslegung der Reichweite der Gewissensfreiheit: „Der Halbsatz: ‚Handlungen, die mit diesen

Haltungen eng verbunden sind...‟ bezieht sich wahrscheinlich auf den letzten Halbsatz des

Art. 9 Abs. 1 EMRK d.h. auf die Freiheit der Ausübung einer Religion oder einer

Weltanschauung, während der Halbsatz: ‚die Sphäre der Weltanschauungen und religiöser

Glauben d.h. der Bereich, der manchmal forum internum genannt wird‟ den ersten Teil des

Abs. 1 dieser Bestimmung, also die Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die

Freiheit, eine Religion oder einen Glauben zu wechseln, zusammenfasst. Dies bedeutet, dass

nach der Ansicht der Kommission (...) nur interne Freiheit des Gewissens garantiert wird.“673

670

L. Garlicki, Konwencja o Ochronie Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Tom I. Komentarz do

artykułów 1 -18., Warszawa 2010, S. Art. 9. Rn. 30, S. 569. 671

Arrowsmith v. the UK, App. 7050/75, 19 DR 5. 672

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 69. 673

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 263; derselbe, Freedom of religion in

western Europe, in: M. Jonneke, M. Naber, Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 20f.

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164

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Hervorhebung der inneren Sphäre des Glaubens

weder dem Selbstverständnis der Religionen entspricht, noch den Erfahrungen derjenigen

gerecht wird, die sich wegen einer Gewissensentscheidung zu einem bestimmten Verhalten

verpflichtet fühlen. Die Gegenüberstellung der inneren und äußeren Sphäre der Gewissens-

und Religionsfreiheit ist lebensfremd, wenn auch der Wortlaut des Art. 9 EMRK derartige

Unterscheidung nahelegt: Es fällt nämlich schwer, die beiden Sphären des Schutzbereiches

von Gewissens- und Religionsfreiheit abzugrenzen und es bleibt nicht geklärt, inwieweit das

forum internum tangiert werden kann, wenn eine Ausübung der Gewissens- und

Religionsfreiheit beschränkt wird. Der Zwang zum Verhalten, dessen Vornahme das

Individuum als Verstoß gegen seine Gewissensgrundsätze ansieht, kann mit dem Zwang zur

Preisgabe der Gewissensposition gleichgesetzt werden.674

Weiterhin diente die Arrowsmith-Entscheidung zur Ausarbeitung des sog.

Notwendigkeitstestes (necessity test).675

Danach werden die Beschwerdeführer gefordert,

darzulegen, dass eine Handlung einen notwendigen oder unerlässlichen Bestandteil der

Ausübung ihrer Religion oder Weltanschauung darstellt.676

Die Handlungen, die gemäß

Grundsätzen einer Religion nur erlaubt oder „fakultativ“ sind, fallen unter dem Schutzbereich

des Art. 9 EMRK nicht. Die Anwendung des Notwendigkeitstests kann jedoch zur

Benachteiligung der Träger individualistischer Glauben und Weltanschauungen führen. Den

Einzelgängern könnte nämlich schwerer als den Mitgliedern der traditionellen oder gekannten

Glaubensrichtungen zu beweisen sein, dass ein bestimmtes Verhalten durch ihren Glauben

oder ihre moralische Überzeugung als pflichtig geboten wird. Dasselbe betrifft auch

Religionen ohne hierarchische Strukturen oder religiöse und philosophische Strömungen, die

auf Entwicklung der persönlichen Systeme und nicht auf Festhalten an bestimmten

Wahrheitsinhalten den Schwerpunkt legen. Der Notwendigkeitstest kann auch diejenigen

benachteiligen, die zwar einer religiösen Gruppierung angehören, stehen aber bezüglich

bestimmter Glaubensinhalte in Opposition zu der Hauptströmung. Gerade eine solche

Fallkonstellation scheint heutzutage häufig vorzukommen.677

674

C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 76f. 675

Begriff entnommen dem Werk: C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human

Rights, New York 2001, S. 115. 676

Z.B. X v. U.K., App. 5442/72, DR 1, 41, (1974), 42. 677

B. P. Vermeulen, Freedom of religion in Western Europe: Past and Present, in: M. Jonneke, M. Naber,

Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 24.

Page 177: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

165

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Verweigerer aus Gewissensgründen, für die

i.d.R. überdurchschnittliche, wenn nicht rigoristische, moralische Sensibilität und Haltungen

charakteristisch sind, durch Art. 9 EMRK nicht geschützt werden. Eine Alternative für den

Notwendigkeitstest, welche die Merkmale des Gewissensphänomens und spezifische

Zwangslage der Verweigerer aus Gewissensgründen im größeren Maß berücksichtigen würde,

könnte das Abstellen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Behauptungen

der Beschwerdeführer sein, es sei denn dass sie offenkundig unbegründet und unvernünftig

sind („obviously unfounded and unreasonable“).678

Die rechtsprechenden Organe der EMRK stellen noch ein zusätzliches Kriterium der

Eingrenzung des Schutzbereichs der Glaubensfreiheit auf. Danach werden nur diejenigen

Handlungen durch Art. 9 EMRK geschützt, „die Aspekte der Ausübung einer Religion oder

Weltanschauung in einer allgemein anerkannten Form sind.“679

Diese Auslegung des

Begriffes „practice“ wirkt sich auf das Konzept der Religion und Weltanschauung in der

Rechtsprechung der Konventionsorgane aus. „Dies bedeutet grundsätzlich, dass die

Bestimmungen des Art. 9 EMRK nur das schützen, was aus der herkömmlichen Perspektive

als Religion oder Weltanschauung gilt. Der Ausgangspunkt ist dabei das von dem

herrschenden Standpunkt zur Frage, was Religion oder Weltanschauung ist, heraus

interpretierte Erscheinungsbild einer Religionsäußerung.“680

Aus diesem Grund wird den

Konventionsorganen eine ungenügende Rücksichtnahme auf fremde religiöse Traditionen

vorgeworfen.681

Derartige Betrachtungsweise des Rechts auf Ausübung einer Religion oder

einer Weltanschauung kann Gefahr für wenig gekannte Minderheiten mit sich bringen, dass

ein Verhalten als Ausübung einer Religion oder Weltanschauung nur unter Voraussetzung

angesehen werden kann, dass es gewisse Ähnlichkeiten zu den gekannten Verhaltensmustern

der gekannten geistigen Bewegungen aufweist.682

Da Art. 9 EMRK nur wenigen Aufschluss hinsichtlich des objektiven Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit gibt, besteht die Gefahr, dass der Europäische Gerichtshof für

678

Valsamis v. Greece, App. 21787/93, Ser. A 2312, 1996 – VI, para. 18. 679

Z.B. App. 10358/83, C v. The U. K., DR. 37 (1985). 680

B. P. Vermeulen, Freedom of religion in western Europe: past and present, in: M. Jonneke, M. Naber,

Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 23. 681

C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 125. 682

P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, Boston

1990, S. 550.

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166

Menschenrechte bei der Entscheidungsfindung in den kontroversen Fragen der

Gewissensfreiheit durch traditionelle Vorstellungen über die Konzepte der Religion und der

Weltanschauung dahingehend determiniert werden kann, dass er nicht bereit sein wird, den

individuellen Glaubens- und Gewissenspositionen den gebührenden Rechtsschutz

einzuräumen.683

Darüber hinaus kann die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs (trotz der Reform

des Protokolls 11.) dazu führen, dass viele der Beschwerden auf der Ebene der

Zulässigkeitsprüfung zurückgewiesen werden müssen, ohne mit der nötigen Gründlichkeit

erörtert zu werden. Dies geschieht häufig durch die wörtliche Wiederholung der

Argumentation der früheren Entscheidungen, ohne gebührende Überprüfung der subtilen

Unterschiede in den Sachverhalten oder der Stichhaltigkeit der wiederholten Argumente

sowohl in Bezug auf die früheren Entscheidungen als auch hinsichtlich der zu entscheidenden

Beschwerden. Diese Tendenz kann sich besonders kontraproduktiv für die Entwicklung der

Auslegung der Gewissensfreiheit erweisen.684

Zum Schluss ergibt sich, dass wenn davon ausgegangen wird, dass die Gewissensfreiheit

insofern über die Ausübung der Religion und der Weltanschauung hinausgeht, dass mit

diesem Recht auch persönliche Gewissensentscheidungen geschützt werden, die nicht durch

einen religiösen Glauben oder eine weltanschauliches Überzeugung motiviert sind,685

muss

angenommen werden, dass dieses Recht nach Interpretation der Konventionsorgane durch

EMRK nicht garantiert wird.

Die Reichweite des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist dagegen ein streitiges Thema im

Schrifttum. Bereits aus dem Aufbau des Art. 9 EMRK werden auseinandergehende Schlüsse

zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit gezogen:

Nach einer Ansicht findet die Einengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit zum forum

internum im Wortlaut des Art. 9 EMRK eine Stütze. Der erste Teil des Art. 9 EMRK

beinhaltet „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, ohne Weltanschauungsfreiheit

(„belief“) zu erwähnen. Hingegen regelt der zweite Teil des Art. 9 EMRK die Religions- und

683

C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 18. 684

Ebenda, S. 16. 685

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 159.

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167

Weltanschauungsausübungsfreiheit, ohne auf Gedanken- und Gewissensfreiheit Bezug zu

nehmen. Darüber hinaus wird Gedanken- und Gewissensfreiheit in der Einschränkungsklausel

des Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht erwähnt; die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkungen

wird nur im Hinblick auf Weltanschauung- und Religionsausübungsfreiheit vorgesehen.

Daraus wird gefolgert, dass wenn die Gewissensfreiheit das Recht enthielte, nach den

Diktaten des Gewissens handeln zu können, würde diese Freiheit in diesem Sinne

unbeschränkt sein, dass jede gesetzliche Bestimmung zum Gegenstand der Verweigerung aus

Gewissensgründen werden könnte. Unbeschränkte Gewissensfreiheit in forum externum

würde die Abschaffung der Rechtsordnung als System der allgemeinbindenden

Verhaltensregeln zur Folge haben, deswegen ist sie unvorstellbar.686

Nach der gegenteiligen Auffassung weist die allgemeine praktische Ausrichtung des Art. 9

EMRK darauf hin, dass er die Verweigerung aus Gewissensgründen umfasst.687

Insbesondere

der Wortlaut des Halbabsatzes 2 („this right includes...“) macht deutlich, dass durch

Halbabsatz 2 nur ein Teilaspekt der durch den Halbabsatz 1 garantierten Rechte

herausgegriffen und präzisiert wurde. Der Halbabsatz 1 gewährt bereits die einzelnen Rechte

vollständig, d.h. einschließlich des Rechts auf ihre Betätigung und Ausübung.688

Dagegen

garantiert der Halbabsatz 2 das Recht, die sämtlichen durch den Halbabsatz 1 garantierten

Rechte in der Außensphäre zu betätigen;689

die Aufzählung der einzelnen Ausübungsformen

stellt lediglich eine Konkretisierung der Religions- und Gewissensfreiheit dar und es ist ihr

lediglich deklaratorische Bedeutung beizumessen.690

Weiterhin wird vertreten, dass die Kommission implizit davon ausgegangen ist, dass die

Gewissensbetätigungsfreiheit durch Art. 9 EMRK umfasst wird.691

Dabei wird auf die

686

B. P. Vermeulen, Freedom of religion in western Europe, in: M. Jonneke, M. Naber, Freedom of religion: a

precious human right, Assen 2000, S. 20; C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on

Human Rights, New York 2001, S. 52; M. Evans, Religious Liberty and International Law in Europe,

Cambridge 1997, S. 284f; P. van Dijk , G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on

Human Rights, Boston 1990, S. 542ff. 687

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 55. 688

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158. 689

J. Frowein, W. Peukert, EMRK – Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK –Kommentar, Art. 9,

Kehl – Strassburg – Arlington 1996, Rn. 5, 10. 690

J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerrecht, Berlin 2003, S. 45; N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens-

und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158ff. 691

H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, Art. 9, Frankfurt am Main 1968, S.

132, Rn. 4.

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168

Entscheidungen hingewiesen, in denen die Beschwerden mit Berufung auf die Schranken des

Art. 9 EMRK und nicht mit der Begründung, dass sich die Gewissensfreiheit außer dem

Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 EMRK befindet, zurückgewiesen wurden.692

Die erwähnten

Beschwerden betraffen gerade die Verweigerung, den gesetzlichen Pflichten nachzukommen.

Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit durch EMRK und andere

völkerrechtliche Menschenrechtsabkommen ergibt sich auch aus der Abgrenzung ihres

Schutzbereichs und Funktion vom Schutzbereich und Funktion der Gedankenfreiheit.

Während die durch Gedankenfreiheit geschützten Denkvorgänge der inneren Sphäre der

menschlichen Aktivität gehören, drängt das Gewissen den Einzelnen zur Vornahme einer

bestimmten Handlung, durch welche die internalisierten Verhaltensnormen zur Anwendung

kommen.693

Die Gedanken können zwar das Individuum zur Handlung bewegen, dies ist

jedoch nicht zwangsläufig der Fall. Die Gedankenfreiheit stellt folglich vor allem das forum

internum der Meinungsfreiheit dar und ist mit forum internum der Gewissensfreiheit nicht

gleichzusetzen, obwohl die Gewissensfreiheit das Recht auf freie Gestaltung der Gedanken

voraussetzt.694

Das entscheidende Argument gegen eine enge Auslegung liegt somit im

Begriff des Gewissens selbst. Wenn die Gewissensfreiheit auf das forum internum beschränkt

wird, fällt sie mit der Gedankenfreiheit zusammen. Konsequenterweise würde dem

Tatbestandsmerkmal „Gewissen“ seine eigene Bedeutung genommen.695

Die Einengung des

Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das forum internum im völkerrechtlichen

Menschenrechtsabkommen liefe auf Reduzierung dieses Rechts auf einen Spezialfall der

Gedankenfreiheit hinaus.

Mit der Bejahung des Schutzes des forum externum der Gewissensfreiheit erhebt sich die

Frage, wie weit dieser Schutz greift, Es bestehen zwei Auffassungen zum Umfang der

Ausübungsfreiheit einer Gewissensentscheidung, welche an das Verhältnis des durch das

Gewissen des Einzelnen geforderten Verhaltens mit seinem Glauben oder Weltanschauung

ansetzen.

692

Z.B. App. 6753/74, DR 2, 118; App.6084/73, DR 3, 62; App. 2988/66, Yb 10, S. 472, 476. 693

B. Kaufmann, Das Problem des Glaubens- und Überzeugungsfreiheit im Völkerrecht, Zürich 1989, S. 14. 694

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 104, 124ff. 695

Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar,

Tübingen 2006, S. 829.

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169

Nach einer engen Interpretation soll nur diejenige Handlung durch Gewissensfreiheit

geschützt werden, welche eine „wirkliche Ausübung“696

(„actual practice“) einer

Gewissensentscheidung darstellt; die bestimmte Handlung muss durch das Gewissen direkt

geboten oder verboten werden. Eine Ausübungsform muss von einem allumfassenden

religiösen oder weltanschaulichen System, welches den Normenstandard für das Gewissen

bildet, ableitbar sein und von ihm vorbestimmt werden. Darüber hinaus muss eine Handlung,

um als Ausübungsform der Gewissensfreiheit anerkannt werden zu können, Ausdruck der

kohärenten Ansichten zu den weltanschaulichen Grundfragen sein.697

Wegen der sozialen

Dimension einer Weltanschauung oder Religion sind diejenigen Handlungen aus dem

Schutzbereich der Gewissensfreiheit ausgeschlossen, die keine Ausübungsform einer

identifizierbaren Weltanschauung oder Religion, sondern lediglich Ausdruck eines strikt

individualistischen Wertesystems darstellen.698

Z.B die individualistische, persönliche

Gewissensentscheidung, die bedrohten Tierarten zu schützen, erfüllt dieses Kriterium nicht.

Es sind hier keine vorbestimmten Ausübungsformen ersichtlich, welche aus einem

allgemeineren, allumfassenden Glaubenssystem hervorgehen; es ist nämlich nicht möglich,

die ökologische Position als eine allumfassende und kohärente Weltanschauung einzustufen.

Die dargestellte Auffassung trägt der Tatsache Rechnung, dass Religion den Prototyp für die

Weltanschauung („belief“) bildet. Die Religionen charakterisieren sich u.a. mit

identifizierbaren Lehren, aus denen direkte Gebote und Verbote bestimmter Handlungen

abgeleitet werden können. Z.B. aus einem religiösen Glauben geht das Verbot hervor, bei der

Abtreibung als Arzt oder Krankenschwester teilzunehmen. Allerdings ist zweifelhaft, dass aus

derjenigen religiösen Lehre, das Gebot, weitere Maßnahmen gegen die Abtreibung zu

ergreifen (etwa die Unterlassung, Beiträge zu zahlen, aus denen Schwangerschaftsabbrüche

finanziert werden699

), herausinterpretiert werden kann. Die nichtreligiöse Überzeugung muss

somit eine vergleichbare Rolle zur Religion im Leben des Einzelnen einnehmen; die Relevanz

konkreter Ge- und Verbote im Leben des Anhängers einer Weltanschauung muss dem

Gewicht der religiösen Grundsätze im Leben des Gläubigen entsprechen. Diese Forderung

wird z.B. von Pazifismus als allgemeines Glaubenssystem erfüllt, von dem ein vorbestimmtes

696

Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar,

Tübingen 2006, S. 133 ff. 697

So definieren die Konventionsorgane eine Weltanschauung; siehe z.B: App. 8741/79 X v. Germany 24DR

137 (1981); App.7050/75 Arrowsmith v. UK 3 EHRR 218 (1978); App. 8317/78 McFeely v. UK EHRR 161

(1981). 698

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 14. 699

App.20747/92 Boussel v. France 16EHRR CD 49 (1993).

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170

Verbot der Waffenanwendung eindeutig hervorgeht. Im Gegenteil kann die

Ersatzdienstverweigerung als eine vom Pazifismus zwingend geforderte Handlungsdirektive

nicht bewertet werden. Viele Befürworter der pazifistischen Lehren sehen nämlich keinen

Konflikt zwischen der Leistung des nichtmilitärischen Ersatzdienstes und den Grundsätzen

dieser Weltanschauung. Aus dem engeren Auslegungsansatz des Schutzbereichs von

Gewissensausübungsfreiheit ergibt sich jedoch eine Möglichkeit der Befreiung vom

Ersatzdienst, wenn diese Weigerung eine durch das bestimmte Glaubenssystem gebotene

Ausübungsform einzustufen ist, die ein Ausfluss des generellen Verbotes der Assoziierung

mit allen in irgendeiner Weise mit dem Militär verbundenen Tätigkeitstypen bildet. Die

Anwendung des engen Auslegungsansatzes in der Rechtsprechung führt zur Differenzierung

zwischen religiösen Ersatzdienstverweigerern und denjenigen, welche die Verweigerung von

individuellen, weltanschaulichen und ethischen Standards herleiten.700

Nach dem weiteren Ansatz der Gewissensausübungsfreiheit würden auch Handlungen

geschützt, die nicht eine „wirkliche Ausübung“ der Gewissensentscheidung bilden und von

einem allumfassenden Glaubenssystem nicht unmittelbar geboten werden, sondern von dem

Glauben oder Weltanschauung nur motiviert sind. Z. B. ein Pazifist hätte Anspruch auf

Arbeitslosengeld trotz der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine Anstellung in einem

Rüstungssektor anzunehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Motivation als geschützte

Ausübungsform bewertet werden kann. Es ist vielmehr notwendig, an den jeweiligen Glauben

anzusetzen, um zu bestimmen, welche Bedeutung die betroffene Handlung für die

Aufrechterhaltung des Glaubens hat und welche Motive die wirkliche Antriebskraft der

Handlung bildet.701

Wenn der Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit durch Art. 9 EMRK bejaht wird, stellt sich

unweigerlich die Problematik ihrer Schranken. Der Schrankenvorbehalt des Art. 9 Abs. 2

EMRK bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf die Ausübung der Religion und

Weltanschauung. Dies legt den Schluss nahe, dass die Gewissensfreiheit nach EMRK als ein

schrankenloses Grundrecht gewährleistet wird.702

Da aber die Gewissensfreiheit die

unbegrenzte Geltung nicht beanspruchen kann, wird die „entsprechende“, „ergänzende oder

berichtigende“ Anwendung der Einschränkungsklausel des Art. 9 Abs. 2 EMRK

700

App. 10410/83 N v. Sweden 40DR 203 (1984); App.402/90 Brinkhof v. Netherlands (1993). 701

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 134, 178. 702

H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, Art. 9, Frankfurt am Main 1968, S.

132, Rn. 6.

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171

vorgeschlagen.703

Mag der Wortlaut diesem Ansatz entgegenstehen, verhindert gerade die

sprachliche Fassung der Schrankenklausel die „dogmatisch saubere“ Lösung der

Schrankenproblematik. Die entsprechende Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs.

2 EMRK auf die Gewissensfreiheit wird zum einen mit der Struktur der Art. 8 – 11 EMRK

gerechtfertigt, wonach die Schranken der Absätze 2 auf alle in den Absätzen 1 garantierten

Rechte bezogen werden. Zum anderen spricht für diese Lösung die Tatsache, dass in der Zeit

der Arbeiten an der Konvention die eigenständige Zielrichtung und Funktion der

Gewissensfreiheit nicht erkannt waren.704

Darüber hinaus ist auf Arrowsmth Fall

hinzuweisen, wo die Menschenrechtekommission die Einschränkungsklausel des Abs. 2 auf

die Gewissensfreiheit ausdrücklich ausgedehnt hat: „Die Kommission ist der Ansicht, dass

sich die Einschränkung der in Art. 9 Abs. 1 garantierten Gedanken- und Gewissensfreiheit des

Beschwerdeführers aus derselben Gründen begründen lässt, die oben in Bezug auf Art. 10

angegeben worden sind. Hinsichtlich des Art. 9 ist dies wegen der Interessen der öffentlichen

Sicherheit, für den Schutz der Ordnung und der Rechte Anderer gerechtfertigt.“705

Die entsprechende Anwendung der Schranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK könnte zwar mit dem

Wortlaut des Art. 9 EMRK dahingehend vereinbart werden, dass der Begriff „belief“ so weit

interpretiert wird, dass er die Gewissensposition umfasst. Gegen diese Lösung spricht aber,

dass eine Differenzierung zwischen der Weltanschauung und der Gewissensentscheidung

nicht mehr möglich wäre. Religions- und Weltanschauungsfreiheit einerseits und

Gewissensfreiheit andererseits wären wieder in einem einheitlichen Recht zusammengefasst,

was angesichts der Verselbständigung der letzteren einen Rückschritt darstellen würde.706

Zum Schluss ergibt sich, dass die Einbeziehung des Verfassungsgrundsatzes der Befolgung

des die Republik Polen bindenden Völkerrechts bei der weiten Auslegung der

Gewissensfreiheit nicht weiterhilft. Während in der Rechtsprechung der Konventionsorgane

das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen nur in einem sehr engen Abschnitt

anerkannt wurde, gehen die Meinungen im Schriftttum zum Schutz des forum externum der

Gewissensfreiheit auseinander. Es lassen sich aber gewichtige Gründe finden, die den weiten

Schutz dieses Grundrechts vornähmlich wegen der weiten Auslegung der Begriffe „belief“

703

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 161. 704

Ebenda, S. 161. 705

App. 6084/73, DR 3, 62. 706

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 161.

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172

und „practice“ sowie durch entsprechende Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs.

2 EMRK auf die Gewissensfreiheit annehmen lassen.

3.2.5. Die Gewissensfreiheit und Gleichheitssatz

Art. 83 Verf. bestimmt die Pflicht des jedermann, das Recht der Republik Polen zu beachten.

Es handelt sich dabei um eine „grundsätzliche und überkommene Bürgerpflicht“ 707

, die einen

allgemeinen Charakter hat und deren Umfang und Inhalt vom Umfang und Inhalt der durch

den Staat auferlegten Rechtspflichten bestimmt wird. Die Anerkennung des allgemeinen

Grundrechts der Gewissensfreiheit könnte mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht

vereinbar sein, weil es dem Einzelnen ermöglicht, sich einer rechtlichen Pflicht aus

Gewissensgründen zu entziehen und dadurch gegenüber anderen Mitbürgern eine bevorzugte

Rechtsposition zu erlangen.

Der Gleichheitssatz ist aber nur dann verletzt, wenn es keinen vernünftigen, sachlich

einleuchtenden Grund für die Ungleichbehandlung gibt. Nach einer Meinung stellt die

Gewissensentscheidung das genügende Kriterium dar, wonach die differenzierende

Behandlung der Verweigerer gerechtfertigt ist, „weil dem einen das Gewissen schlägt und ihn

vor einem Bösen des vorgeschriebenen Tuns warnt, dem andern aber nicht schlägt oder das

Tun als frei von Gewissensbedenken oder es sogar als Gewissenspflicht erscheinen lässt“.708

Die soziale Funktion der Gewissensfreiheit besteht somit darin, das Gleiche gleich, das

Ungleiche, nach seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln. Die bloße Qualität der

Verweigerung aus Gewissensgründen als Grundrecht stellt ohne Zweifel die hinreichende

objektive und rationale Rechtsfertigung der unterschiedlichen Behandlung der Verweigerer

dar. Die Auferlegung gleicher Pflichten den Menschen, deren Gewissen verschieden oder gar

entgegengesetzt reagiert, würde zwar eine formale Gleichheit herstellen, aus der materiellen

Sicht wäre sie aber gleichheitswidrig.709

Die Einräumung der Gewissensklausel kann somit

als Mittel der Entgegenwirkung der Diskriminierung angesehen werden.710

Darüber hinaus ist

die Aufbürdung den Verweigerern aus Gewissensgründen einer Ersatzpflicht aus der

Perspektive des Gleichheitssatzes nicht notwendig. Die Sonderregelung der Möglichkeit des

707

J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do Konstytucji R P z 1997 roku, Wrocław 1998, S. 147;

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 415, Rn. 2. 708

A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2206. 709

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 237. 710

J. Daniska, Wolność sumienia na Słowacji, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 1, 2006, S. 234.

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Ersatzdienstes im Fall der Wehrdienstverweigerung lässt sich als allgemeiner

Ausgleichgedanke auf andere Fälle der Gewissensfreiheit nicht übertragen.711

Seine

Einführung dient nicht der Genugtuung den Erfordernissen der Gleichheit, sondern hat zum

Zweck, die Verweigerer vor sozialer Ächtung zu bewahren und damit die Gewissensfreiheit

zu schützen.712

Nach einer anderen Meinung ist der von einer Rechtspflicht befreite Gewissensträger

gegenüber anderen Mitbürgern bevorzugt. Die Entbindung von einer Rechtspflicht, auf die

das Grundrecht der Gewissensfreiheit unter Umständen einen Anspruch verleiht, wird vom

Gemeinwesen stets mindestens mit einer Durchbrechung des Grundsatzes der

staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit, dessen Legitimationsfunktion für den demokratischen

Rechtsstaat im Vergleich zu derjenigen der Gewissensfreiheit nicht geringer zu gewichten ist,

bezahlt.713

„Um eine ungleiche Belastung der Einzelnen zu vermeiden, die dem

Gleichheitssatz widersprechen würde, ist daher Einführung eines Belastungsausgleichs

zulässig und immer dann geboten, wenn es sich um typische Gewissenskonflikte handelt, bei

denen eine zu keinem Gewissenskonflikt führende Ersatzbelastung möglich ist.“714

Die

Schwere des Ausgleichs muss dabei der Schwere der verweigerten Rechtspflicht möglichst

genau entsprechen, damit für den Verweigerer per saldo weder Nachteile noch Vorteile

entstehen. Darüber hinaus eliminiert der Belastungsausgleich den Grundrechtsmissbrauch und

erleichtert die Feststellung, ob eine echte Gewissensentscheidung vorliegt.715

Angesichts dieser Meinungsverschiedenheit scheint der Mittelweg richtig zu sein. Es lässt

sich nicht leugnen, dass wer Rechtspflichten nur einem Gewissensgebot zuwider erfüllen

kann, ein ungleich größeres Opfer als derjenige bringen müsste, der nicht in einen

Gewissenskonflikt gestürzt wird. In diesem Fall wäre er wegen seines Gewissens

benachteiligt. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit stellt deshalb die Gleichheitslage

711

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.

274. 712

A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2206. 713

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 500. 714

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 66; siehe auch: E. W. Böckenförde, Das

Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 61; B. P. Vermeulen, Conscientious objection in

Dutch law, in: European Consortium for Church – State Research, Conscientious objection in the EU countries,

Milano 1992, S. 269. 715

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 66; J. Martínez Torrón, Las objeciones de

conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función

pública, Madrid 2007, S. 119; I. C. Ibán, L. P. Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 161;

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 237.

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174

zwischen den Einzelnen und den Dritten wieder her. Diese Gleichheitslage würde allerdings

wieder gestört, wenn der Einzelne von einer Rechtspflicht völlig befreit würde, ohne dass

geprüft wird, ob es ihm möglich ist, diese Pflicht in anderer Weise zu erfüllen. In diesem

Zusammenhang erfüllt die Gewissensfreiheit die Aufgabe, die bestehende generelle Bindung

der Rechtsnorm von ihrem gewissenswidrigen Gegenstand der Verpflichtung auf

gewissenskonforme bzw. gewissensneutrale Gegenstände zu übertragen

(„Verlagerungsfunktion“716

der Gewissensfreiheit). Nur wenn feststeht, dass jede Form der

Pflichterfüllung gewissenswidrig ist, ist die Gleichgewichtslage erst dort erreicht, wo kein

Gewissenskonflikt mehr auftritt. In diesem Fall wird die Verlagerungsfunktion der

Gewissensfreiheit durch ihre „Entlastungsfunktion“717

ersetzt.

Dieser Rechtsgedanke liegt einer Entscheidung der EMRK718

zugrunde. Der BF, der sich als

Pazifist bezeichnete, verlangte die Befreiung sowohl vom Militärdienst als auch vom

waffenfreien Ersatzdienst. Nach dem einschlägigen schwedischen Recht war eine Befreiung

nur möglich, wenn der Betroffene einer Glaubensgemeinschaft angehörte, die von ihren

Mitgliedern eine totale Verweigerung, also die Verweigerung sowohl des Wehr- als auch des

Ersatzdienstes gebietet. In der Praxis wurde die Freistellung nur den Zeugen Jehovas

eingeräumt. Der BF sah sich wegen der Anknüpfung der Inansrpruchnahme des Rechts auf

Totalbefreiung an Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgruppe diskriminiert. Die

Kommission hat jedoch die Beschwerde mit dem Argument zurückgewiesen, dass die

Situation der Zeugen Jehovas mit anderen Pazifisten nicht vergleichbar ist. Im Hinblick auf

Art. 14 EMRK hat die Kommission geprüft, ob es eine objektive und vernünftige

Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung von Zeugen Jehovas vorliegt. Dabei hat

sie betont, dass in Fragen der Ausnahmen vom Wehr- und Ersatzdienst eine grundsätzliche

Gleichbehandlung der Bürger stattfinden soll. Die restriktive Behandlung von Befreiungen ist

somit verständlich. Während die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen

Jehovas ein starkes Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung gegen die Wehr-

und Ersatzdienst verschafft, ist im Fall der Einzelpersonen, die keiner Regligionsgemeinschaft

angehören, ein so starker Anhaltspunkt, nicht ersichtlich. Deshalb wurde die Zugehörigkeit zu

einer Religionsgruppe als zulässiges und vernünftiges Kriterium für die Anerkennung der

Totalverweigerung gebilligt.

716

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 164. 717

Ebenda, S. 164. 718

X. V. Sweden, DR 40, 203.

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175

Die Entscheidung ist allerdings auf Kritik gestoßen. Das pauschale Abstellen auf die

Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft wird kaum dem individuellen Charakter der

Gewissensentscheidung gerecht. Den Einzelnen, die keiner Religionsgruppe angehören, wird

keine Chance gegeben, die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensentscheidungen, auf die es letztlich

ankommt, unter Beweis zu stellen. Andererseits wird die pazifistische Anschauung durch die

Pflicht, Ersatzdienst zu leisten, nicht verletzt.719

Die Aufrechterhaltung des Ersatzdienstes im

Fall des Pazifisten kann als Beispiel auf die oben erwähnte Verlagerungsfunktion der

Gewissensfreiheit gelten, während die Befreiung des Mitglieds der Glaubensgemeinschaft

Zeugen Jehovas, deren Lehre die Verweigerungspflicht ebenfalls auf den Ersatzdienst

ausdehnt, ein Beispiel für deren Entlastungsfunktion darstellt. Die Erfüllung des

Ersatzdienstes von einem Pazifisten ist mit keiner Aufopferung seines Gewissens verbunden

und deshalb bietet keinen Anlass zur Annahme der Ungleichbehandlung. Die Entscheidung

der Kommission ist somit als gerechtfertigt anzusehen.

Aus dem Gleichheitssatz ergibt sich auch die Verpflichtung des Staates, dem sich auf sein

Gewissen berufenden Einzelnen Handlungsalternativen womöglich zu stellen.720

Der

Gleichheitssatz kommt aber auch zum Zuge bei der Bestimmung der Lästigkeit einer

eventuellen Alternativenpflicht, indem er fordert, dass das von einem gewissenswidrigen

Verhalten befreite Individuum in gleicher Weise für die Lasten des Gemeinwesens

herangezogen wird. Die Alternative bewegt sich zwischen der Gewissensfreiheit und dem

Gleichheitssatz. „Ist die Alternative ungleichgewichtig zugunsten des einzelnen, so wird die

Gleichheit verletzt; ist sie ungleichgewichtig zuungunsten des Individuums, so wird die

Gewissensfreiheit verletzt; denn hier würde erneut ein mittelbarer Zwang gesetzt, der in die

Konflikterwägungen des Einzelnen als entscheidender Faktor eingeht, den Konflikt

wesentlich verschärfen könnte, und letztlich die Übertretung des Gewissensgebots ratsam

oder die Hinnahme des staatlichen Begehrens als kleineres Übel erscheinen ließe.“721

Die

übermäßige Ansetzung der Handlungsalternative durch den Gesetzgeber kann somit darauf

ausgerichtet sein, den Einzelnen von seiner Gewissenshaltung abzubringen. Sie würde daher

einen unzulässigen Eingriff in das forum internum der Gewissensfreiheit darstellen. Das

entscheidende Argument in diesem Zusammenhang ist aber, dass die Gewissensfreiheit seinen

719

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 344f. 720

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 62. 721

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 165.

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176

Status als Grundrecht und Grundfreiheit verliert, wenn der Einzelne einen Preis für ihre

Inanspruchnahme zahlen muss. „Grundrechte haben keinen Preis und dürfen auch keinem

haben.“722

Die Aufrechterhaltung des „Opfergedankens“ als Mittel der Glaubhaftmachung der

Ernsthaftigkeit des Gewissensträgers hätte zur Folge, dass zu einer eventuellen sozialen

Sanktion eine rechtliche Diskriminierung hinzukommen würde.723

Im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz muss noch auf die Frage eingegangen werden,

ob hinreichende Gründe bestehen, um bei der Anerkennung des grundrechtlichen Schutzes

der Gewissensfreiheit zwischen den Angehörigen der Glaubensgemeinschaften einerseits und

den Anhängern einer Weltanschauung sowie den nichtvereinten Individuen andererseits zu

differenzieren. Die Einräumung der größeren Schutzintensität den religiösen

Gewissensträgern wird gelegentlich in der Lehre bejaht. Navarro Valls argumentiert, dass

diese Tendenz in der Gesetzgebung und Rechtsprechung rechtsvergleichend zu verzeichnen

ist. Weiterhin weist er auf eine gewisse Renaissance der religiösen Bewegungen hin, was die

Staaten zum größeren Schutz der Religion veranlasst. Er fügt hinzu, dass der Schutz der

vereinzelten Gewissensträger im Verhältnis zum Schutz der etablierten Gruppen größere

Gefahr der Pulverisierung der Rechtsordnung mit sich bringt. Weiterhin kann das religiöse

Gewissen in einer dahinterstehenden Kollektivität eine Stütze und Glaubwürdigkeit finden. Es

soll auch berücksichtigt werden, dass sich die Gewissensfreiheit parallel zur Religionsfreiheit

entwickelt hat; das religiöse Gewissen stellt somit die hervorragendste Form der

Gewissensfreiheit dar. Seine Privilegierung entspricht gemäß dem zitierten Autor der

Billigkeit, wenn nicht der strikten Gerechtigkeit.724

Die Tendenz, den Verweigerern aus religiösen Gründen den weitergehenden Schutz im

Vergleich zu den Individuen zuzuerkennen, die ihre Gewissensentscheidungen aufgrund

nichtreligiöser Weltanschauungen bilden, ist auch für die polnische Rechtsprechung zur

Wehrdienstverweigerung charakteristisch. Was den Entscheidungsgegenstand angeht, ist

diese Rechtsprechung nach Einführung der Berufsarmee in Polen nicht mehr aktuell, sie kann

jedoch ihre Bedeutung im Hinblick auf die Differenzierung der Verweigerungsfälle aus

722

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von

Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,

Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 22ff. 723

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 166. 724

R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español, Pamplona 1993,

S. 488ff.

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religiösen und weltanschaulichen Gewissensgründen für die Lösung anderer

Verweigerungsfälle von Bedeutung sein. In der Rechtsprechung des Obersten

Verwaltungsgerichtshofs wurde auf das Kriterium der Angehörigkeit zu einer pazifistischen

Glaubensgemeinschaft abgestellt, was im Ergebnis zur deutlichen Benachteiligung der

Anhänger der Mehrheitskirchen und der Weltanschauungen führte. Der Oberste

Verwaltungsgerichtshof hat für die Anerkennung als Wehrdienstverweigerer gefordert, dass

das Bestehen faktischer Widersprüche zwischen individuellen Verhaltensgrundsätzen und der

Wehrpflicht nachgewiesen werden soll. Danach reicht nicht aus, sich auf generelle

Grundsätze des Vegetarianismus und Pazifismus zu berufen.725

Auch die Erklärung des

Antragstellers, dass er im Geiste des Friedens und des Respekts für den Menschen erzogen

wurde, wurde vom Obersten Verwaltungsgerichtshof als ungenügend angesehen, um einen

echten Gewissenskonflikt glaubhaft zu machen.726

Der Verweigerer aus weltanschaulichen

Gründen war somit trotz eindeutigem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften des

Wehrgesetzes, das sowohl auf religiöse als auch auf moralische Gewissensgründe abstellt,

benachteiligt.

Was den Gleichheitssatz angeht, argumentiert der Oberste Verwaltungsgerichtshof, dass seine

Achtung fordert, dieselben Rechtskriterien den Personen gegenüber anzuwenden, die sich in

einer analogen faktischen und rechtlichen Situation befinden. Allerdings befinden sich die

Anhänger verschiedener Kirchen in einer unterschiedlichen Situation hinsichtlich der

Erfüllung der sich aus Lehren der einschlägigen Religionsgemeinschaften ergebenden

Voraussetzungen der Befreiung vom Wehrdienst und diese unterschiedliche Stellung wurde

ihnen nicht vorgeschrieben, sondern stellt ein Resultat der Wahl (des Willensaktes) dar.

Während sich die Doktrin der römisch-katholischen Kirche dem Wehrdienst nicht widersetzt,

weist die Lehre der Glaubensrichtung Zeugen Jehovas eindeutige pazifistische und

antimilitärische Züge auf. Deshalb befinden sich die Mitglieder der beiden

Religionsgemeinschaften nicht in derselben Situation hinsichtlich der Anwendung von

Vorschriften der Art. 189-199 Wehrdienstgesetz.727

725

NSA SA/Kr 1931/94, 1994. 11. 08. 726

ONSA 1991/3 – 4/95. 727

NSA SA/Wr 998/92, 1992.11.17.

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178

Diese Betrachtungsweise des Obersten Verwaltungsgerichtshofs trifft zwar als allgemeine

Bemerkung zu, das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft sollte aber

nicht zum Automatismus im Anerkennungsverfahren führen. Es ist vielmehr davon

auszugehen, dass das Phänomen des Gewissens individualistisch ist und ihre

„Kollektivisierug“ die Diskriminierung der nichtvereinten Einzelnen verursachen würde. Der

Gleichheitssatz würde verletzt, wenn im Einzelfall bei vergleichbarer Ernsthaftigkeit der

Gewissensentscheidung eines Verweigerers an den Ursprung seiner moralischen Position

angeknüpft würde. Die Verfassung geht von der prinzipiellen Gleichstellung der religiösen

und weltanschaulichen Überzeugungen aus, deswegen können die religiösen Verweigerer im

Vergleich zu den Verweigerern aus den weltanschaulichen Gründen nicht bevorzugt

werden.728

Die Zugehörigkeit zu einer Konfession kann nur ein Indiz (aber nicht eine

Voraussetzung) für Anerkennung oder Zurückweisung des Verweigerungsrechts aus

Gewissensgründen darstellen.729

4. Die rechtsvergleichende Auslegung der Gewissensfreiheit

4.1. Voraussetzungen der rechtsvergleichenden Auslegung

Die Vergleichung als wissenschaftliche Methode besteht in Aussonderung der identischen,

ähnlichen und unterschiedlichen Eigenschaften von mindestens zwei vergleichbaren

Gegenständen.730

Der Gegenstand der rechtsvergleichenden Analyse können daher nur

diejenigen Rechtsvorschriften bilden, welche zu einer gemeinsamen, homogenen und im

Hinblick auf den Zweck der Vergleichung relevanten Kategorie gehören.731

Der sich der

rechtsvergleichenden Auslegungsmethode bedienende Interpret zieht zwecks der Feststellung

der Sinndeutung einer Norm in einem Rechtssystem die Sinndeutung gleichrangiger

Vorschriften heran, welche zu einem anderen verwandten Rechtssystem gehören.732

Die in

den Verfassungen demokratischer Staaten verankerten grundrechtlichen Bestimmungen sind

dahingehend verwandt, dass sie auf gemeinsamen Wertvorstellungen beruhen und

728

I. C. Ibán, L. P. Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 162. 729

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 115. 730

R. Ludwikowski, Prawo konstytucyjne porównawcze, Toruń 2000, S. 19. 731

R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 37. 732

J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 146f.

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179

gemeinsame Kerngehalte haben, wenn auch die Regelung der Randbereiche in den einzelnen

Staaten Unterschiede aufweist. Diese Verwandtschaft erklärt sich damit, dass den westlichen

Demokratiestaaten dasselbe Konzept der Freiheit zugrundeliegt. Die Freiheit kann nämlich

nur aus Gründen des sozialen Zusammenlebens eingeschränkt werden.733

Deshalb ist üblich,

dass die der Lehre und der höchstrichterlichen Rechtsprechung fremder Staaten entnommenen

Auslegungsergebnisse zwecks der Ausarbeitung der einzelnen Interpretationsvarianten der

heimischen Vorschriften herangezogen werden. Die rechtsvergleichende Methode trägt dazu

bei, den nationalen Problemhorizont durch ausländische Erfahrungen und dort bereits

vorhandene oder parallel geführte Diskussionen über das zu lösende Problem zu erweitern.734

Rechtsvergleichende interpretatorische Beiträge können vor allem in denjenigen

Rechtsgebieten fruchtbar gemacht werden, wo die einheimischen Erfahrungen der

Rechtsprechung und die rechtswissenschaftliche Diskussion gering ist.735

Die Benutzung des

rechtsvergleichenden Materials setzt dabei einen großen Grad der Offenheit seitens der

Rechtsanwender voraus; in einem geschlossenen Kulturmodell liegt der Aspekt der

Vergleichung nicht vor. Es geht dort nämlich um das Bemühen, die Spuren jeder

Einflussnahme in der täuschenden Überzeugung zu verwischen, dass es möglich ist, dass eine

Kultur imstande ist, ihre Lebenskraft nur von sich selbst zu schöpfen. Das Fehlen einer

offenen Haltung führt zu einer Gefahr der Versteinerung und Dogmatismus der Rechtslehre

und Rechtsanwendung innerhalb eines Rechtssystems. Im Gegenteil sichert die Offenheit auf

ausländische Entwicklungstendenzen des Rechts das hohe Niveau des Rechts und seine

größere Akzeptanz durch Rechtsadressaten.736

Die ausländischen Ergebnisse dürfen freilich

nicht mit der Absicht angebracht werden, klare nationale Rechtsnormen auszuhöhlen; die

Beachtung des eindeutigen Gesetzes ist das Fundament jeder Rechtsordnung. Heutzutage wird

jedoch der Gesetzgeber zum rechtsvergleichenden Eklektiker, deshalb ist außer den

überkommenen Auslegungsmethoden auch auf die rechtsvergleichende Methode bei der

Interpretation der nationalen Vorschriften zurückzugreifen. In erster Linie dient sie der

733

J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,

Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 132. 734

B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,

S. 30; D. P. Kommers, The Value of Comparative Constitutional Law, 9 John Marshal Journal of Practice and

Procedure, in: V. C. Jackson, M. Tushnet, Comparative Constitutional Law, New York 1999, S. 146 ff; K. P.

Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch

der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 1, Heidelberg 2004, S. 636f; F. Ossenbühl, Grundsätze der

Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,

Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 615; H. Nogueira Alcala, Lineamientos de

interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006, S. 91ff. 735

J. Martinez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,

Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 130. 736

R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 34f.

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180

Bestätigung und Unterstützung eines Ergebnisses, das schon mit Hilfe der traditionellen

Auslegungsmittel gefunden wurde737

und vertretbar erscheint. Darüber hinaus liefert sie den

Stoff, um eine kritische Auseinandersetzung mit den einheimischen Lösungen zu

ermöglichen. Sie kann auch zur Ausarbeitung der Veränderungen der nationalen

Gesetzgebung beitragen.738

Bei der Anwendung der rechtsvergleichenden Methode sollen folgende Schritte eingehalten

werden: 1) die Bestimmung des Forschungsgegenstands, 2) der Vergleich der Eigenschaften,

welche die untersuchte Norm oder Institution in den verschiedenen Ländern aufweist; dabei

soll sich die Untersuchung auf Wesenseigenschaften begrenzen. Dieses Verfahren erleichtert,

gemeinsame Elemente der betroffenen Institution herauszuschälen. Es führt zwar zur

Verengung des Forschungsgegenstandes, ohne dessen Fragmentierung herbeizuführen. 3) die

objektive, d.h. freie von den ideologischen Voraussetzungen Interpretation der

Vergleichsergebnisse.739

Wegen der oben dargestellten Vorteile der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode ist dem

Standpunkt Häberles beizupflichten, wonach sie in der heutigen Grundrechtslehre mindestens

einen „fünften“, wenn nicht vorderen Platz einnehmen soll.740

„Der nationale Richter ist nicht

nur berechtigt, sich mit den Auffassungen anderer Rechtsordnungen und Gerichte in seinem

Urteil auseinanderzusetzen; er darf – im Rahmen der Anwendung seines eigenen Rechts und

selbstverständlich immer unter Abwägung aller bei der Auslegung und Rechtsfortbildung zu

berücksichtigenden Gesichtspunkte – auch dem Argument Gewicht beilegen, dass die in

Betracht kommende Lösung der Harmonisierung des europäischen Rechts diene. Und mit

diesem Argument kann er gegebenenfalls, nämlich als Ergebnis der Gesamtabwägung, die

737

H. Kötz, K. Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen

1996, S. 17. 738

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 11f; F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución,

Buenos Aires 2003, S. 48f. 739

B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,

S. 41ff. 740

P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur

Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916. Nach einer anderen Meinung soll die

Rechtsvergleichende Methode nicht kanonisiert werden, sondern lediglich als eine Auslegungshilfe und nicht als

„fünfte“ Auslegungsmethode betrachtet werden: K. P. Sommermann, Funktionen und Methoden der

Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,

Band 1, Heidelberg 2004, S. 654. Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Rechtsauslegung unterstreicht

auch R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 210f.

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181

Lösungen der anderen Rechtsordnungen übernehmen. Bei fortschreitendem europäischen

Integrationsprozess sollte er diese Argumentation immer häufiger verwenden.“741

Besonders empfehlenswert ist die Anwendung der rechtsvergleichenden Methode im Bereich

der Grundrechte. Dies erklärt sich mit ihrer „strukturellen Vergleichbarkeit.“742

Häberle

begründet die Heranziehung der rechtsvergleichenden Methode in diesem Gebiet mit der

Universalisierung der Menschenrechte, aus der sich die Notwendigkeit ergibt, die

völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte in den Interpretationsprozess

der nationalen Verfassungen einzubeziehen. Er weist dabei auf die Praxis des EuGH hin, der

die Grundrechte als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ gerade im Wege der „wertenden

Rechtsvergleichung“ gewinnt.743

Allerdings müssen in der Verfassungstheorie die als

juristische Disziplin aufgefasst wird und deren Gegenstand Texte und Kultur ist, auch

kulturelle Kontexte berücksichtigt werden. Die Individualität eines Verfassungsstaates darf im

Wege der rechtsvergleichenden Interpretation nicht entkräftet werden, ansonsten würde die

Pluralität der Gefahr ausgesetzt, zur Uniformität reduziert zu werden.744

Die Anwendung der

rechtsvergleichenden Auslegungsmethode soll somit nicht dazu führen, dass die kulturell

fassbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates interpretatorisch nicht einebnet, die

Vielfalt des Verfassungsstaates drohte sonst im Wege des Vergleiches zur Uniformität zu

verarmen. Trotz Textähnlichkeiten dürfen die sich aus dem kulturellen Kontext der

verglichenen Verfassungen ergebenden Unterschiede nicht verkannt werden. Die rezipierten

Inhalte müssen in den Kontext des aufnehmenden Verfassungsstaates umgedacht werden. Der

Rezeptionsvorgang ist daher ein schöpferischer und produktiver Prozess, in dem für

„Automatik“ der Übertragung ausländischer Problemlösungen kein Platz ist.745

Angesichts der geringfügigen Erfahrungen der polnischen Rechtsprechung zur

Gewissensfreiheit sowie der marginalen, geführten im Schatten der Religionsfreiheit,

rechtswissenschaftlichen Diskussion zu diesem Thema erweist sich die Heranziehung der

741

W. Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, in: ZEuP, 1994, S. 1, 2. 742

K. P. Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier,

Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 1, Heidelberg 2004, S. 638. 743

P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat– Zugleich zur

Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916f. 744

P. Häberle, Métodos y principiom de la interpretación constitucional. Un catálogo de problemas, in: E. Ferrer

Mac-Gregor, Derecho Procesal Constitucional, Ciudad de México, Porrua 2005, S. 2744f. 745

B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,

S. 28f; P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur

Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 918.

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182

rechtsvergleichenden Ausführungen und Analyse ihrer Verbrauchbarkeit für die Erschließung

des Potentials der polnischen Verfassung hinsichtlich des Schutzes der Gewissensfreiheit als

unentbehrlich. Die Gewissensfreiheit kann als Grundrecht in statu nascendi bezeichnet

werden, was etwa die unten angegebenen Beispiele einiger lateinamerikanischen

Verfassungen beweisen, deshalb ist besonders sachgerecht, die Errungenschaften auf diesem

Gebiet derjenigen Länder einzubeziehen, wo die Erfahrungen mit diesem Grundrecht viel

reicher als die polnischen sind und wo bestimmte rechtsdogmatische Probleme bereits

überwunden sind. Im Folgenden werden alternative Regelungsformen der Gewissensfreiheit

in den modernen Verfassungen anhand der Modellbeispiele dargestellt und die mit ihnen

verbundenen rechtlichen Konsequenzen für den Schutz der Gewissensfreiheit geschildert.

4. 2. Modelle der Regelung der Gewissensfreiheit

4.2.1. Keine ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit in der Verfassung

Als Beispielmodell für diese Regelungsweise sei auf die Verfassungsregelungen der Republik

Argentinien (a) und des Königreichs Spanien (b) eingegangen.

a) Argentinien

Das Spezifikum der Grundrechtsregelung in der argentinischen Verfassung besteht darin, dass

die einzelnen Grundrechte in Form einer listenmäßigen Aufzählung normiert werden. Die

Aufzählung der verbürgten Grundrechte beginnt in Art. 14 mit der Bestimmung, dass alle

Staatseinwohner die geschützten Grundrechte nach Maßgabe der ihren Gebrauch

reglementierenden Gesetze genießen. Unter den aufgezählten Grundrechten befindet sich das

Recht auf freie Ausübung der Religion.746

Die Gewissensfreiheit und das Verweigerungsrecht

werden dabei nicht ausdrücklich gewährt. Nichtsdestoweniger wird in der Lehre vertreten,

dass die Gewissensfreiheit aus den die allgemeine Freiheitsgarantie verbürgenden Art. 19 der

argentinischen Verfassung hergeleitet werden kann,747

der den folgenden Inhalt hat: „Über die

Privathandlungen eines Jeden, wenn sie in keiner Weise die öffentliche Ordnung oder

Sittlichkeit verletzen, noch die Rechte von Dritten beeinträchtigen, hat nur Gott zu urteilen:

746

“Todos los habitantes de la Nación gozan de los siguientes derechos conforme a las leyes que reglamenten su

ejercicio; (...)de profesar libremente su culto... “. Die Übersetzung ins Deutsche:

http://www.verfassungen.net/ar/verf94-i.htm (27.04.2011) 747

J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sanchez, J. Navarro Floria, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2003, S. 315; G. G. Pinese, P. S. Corbalán, Constitución de la Nación

Argentina comentada, Buenos Aires 2007, S. 48.

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183

sie sind der Autorität der Behörden nicht unterworfen. Kein Bewohner der Nation wird

gezwungen, etwas zu tun, was das Gesetz nicht gebietet, noch das zu unterlassen, was vom

Gesetze nicht verboten ist.“748

Nach einer anderen Meinung wird die Glaubensfreiheit als

Obergrundrecht verstanden, das sowohl Religions- als auch Weltanschauungsfreiheit

einschließlich der Freiheit der ethischen Selbstverwirklichung umfasst. Aus der

Glaubensfreiheit wird das Recht abgeleitet, zum Verhalten gegen sein Gewissen nicht

verpflichtet zu werden, unabhängig davon, ob die Gewissenshaltung aus einem religiösen

Glauben oder einer moralischen Überzeugung stammt.749

Trotz mangelnder verfassungsrechtlicher Regelung des Verweigerungsrechts aus

Gewissensgründen ist dieses Recht in Argentinien durch einfache Gesetzgebung und

Rechtsprechung weit anerkannt. Zum Beispiel das Recht auf Wehrdienstverweigerung eines

Katholiken wurde noch vor der Einführung des freiwilligen Wehrdienstes in 1994 durch den

Höchsten Gerichtshof (Corte Suprema) bejaht.750

Das allgemeine

Wehrdienstverweigerungsrecht wurde nachher durch das Gesetz 24.429 für den Fall der

Sonderrekrutierung vorgesehen. Auch das Recht auf Verweigerung einer medizinischen

Behandlung ist im Fall der bewussten Erwachsenen großzügig anerkannt (sogar im Fall einer

Mutter, die Sorgepflicht im Verhältnis zu ihren kleinen Kindern hat). Dieses Reht steht aber

den Minderjährigen nicht zu, unabhängig davon, ob der Betroffene oder seine Eltern die

Verweigerung erklärt haben. Weiterhin wird das Recht auf Verweigerung aus

Gewissensgründen den Mitgliedern des medizinischen Personals auf der Ebene der einzelnen

Provinzen weitgehend eingeräumt, Durch den Beschluss des Ministeriums für Bildung und

Justiz wurde den Schülern das Recht eingeräumt, sich von der Begrüßung der Nationalflagge

und vom Singen der Nationalhymne aus religiösen Gründen zu enthalten.751

Das Recht auf

Verweigerung der Teilnahmepflicht an Wahlen wurde allerdings mit dem Verweis abgelehnt,

dass die Konflikte zwischen den verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten nicht derart

748

“Las acciones privadas de los hombres que de ningún modo ofendan al orden y a la moral pública, ni

perjudiquen a un tercero, están sólo reservadas a Dios, y exentas de la autoridad de los magistrados. Ningún

habitante de la Nación será obligado a hacer lo que no manda la ley, ni privado de lo que ella no prohíbe.” 749

M. Martínez Crespo, Constitución de la Nación Argentina: anotada con doctrina nacional y jurisprudencia

nacional y extranjera, Córdoba 2007 S. 85. 750

Entscheidung im Rechtstreit “Portillo” von 1989, wie erwähnt in: J. Navarro Floria, Objeción de Conciencia,

II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 316. 751

J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 323.

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gelöst werden können, dass die Wirkung einer Norm gänzlich vereitelt wird. Der Konflikt ist

vielmehr mit der Abgabe eines Stimmzettels in blanco zu lösen.752

b) Spanien

Art. 16 Abs. 1 der Verfassung des Königreichs Spanien lautet: „Die Freiheit des

ideologischen Bekenntnisses, der Religion und des Kultes wird dem Einzelnen und den

Gemeinschaften gewährleistet; sie wird in ihren Ausdrucksformen lediglich durch die vom

Gesetz geschützte Notwendigkeit der Wahrung der öffentlichen Ordnung begrenzt.“753

Dem

Verfassungstribunal wurde zuerst zur Entscheidung vorgelegt, ob die Verweigerung des

Militärdienstes aus Gewissensgründen anzuerkennen ist, wenn, wie es damals in Spanien der

Fall war, kein Gesetz vorhanden war, das die Modalitäten der Inanspruchnahme dieses Rechts

regeln würde. Das Verfassungstribunal hat diese Frage mit der Begründung bejaht, dass das

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der allgemeinen weltanschaulichen Freiheit zu

entnehmen ist: „Die Verweigerung aus Gewissensgründen stellt die Spezifizierung der

Gewissensfreiheit dar, die nicht nur das Recht voraussetzt, eigenes Gewissen zu bilden,

sondern auch das Recht beinhaltet, in Übereinstimmung mit Imperativen des Gewissens zu

handeln.“754

Die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Verweigerungsrechts kann von der

Tätigkeit des Gesetzgebers nicht abhängig gemacht werden, weil „die Verfassungsgrundsätze

und die Grundrechte keine bloße Programmsätze sind, sondern bilden die unmittelbare Quelle

der Rechte und Pflichten der Einzelnen.“755

Die Erfüllung des in Art. 30 Abs. 2 der

spanischen Verfassung an den Gesetzgeber gerichteten Regelungsauftrags hat lediglich einen

regulativen Charakter und soll die volle Anwendbarkeit und Effektivität des

Wehrdienstverweigerungsrechts ermöglichen.

Von dieser weiten Auslegung der Gewissensfreiheit ist auch der spanische Gesetzgeber bei

der Verabschiedung des Wehrdienstverweigerungsgesetzes756

aus dem Jahr 1984

ausgegangen. In seiner Präambel erklärt das erwähnte Gesetz das Folgende: „Die

Anerkennung in der Verfassung der Freiheit des ideologischen Bekenntnisses, der Religion

752

J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 324. 753

Se garantiza la libertad ideológica, religiosa y de culto de los individuos y las comunidades sin más

limitación, en sus manifestaciones, que la necesaria para el mantenimiento del orden público protegido por la

ley.Die Übersetzung ins Deutsche;

http://www.boe.es/aeboe/consultas/enlaces/documentos/ConstitucionALEMAN.pdf (17.05.2011). 754

Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs: STC 15/1982 von 23. April 1982. 755

Ebenda. 756

La Ley 48/1984 vom 26. 12. 1984.

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185

sowie des Kultus impliziert außer dem Schutz des Rechts des Einzelnen, eine

Weltanschauung (ideología) oder Religion zu haben, die der Einzelne frei gewählt hat, das

Recht, sein persönliches Verhalten an die eigene Überzeugungen anzupassen, soweit dadurch

kein gesellschaftliches Gut beeinträchtigt wird.“

Drei Jahre nach der Entscheidung zum Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen befasste

sich das Verfassungstribunal mit der Frage, ob das Gesetz, das die Abtreibung in bestimmten

Fällen straflos machte, verfassungswidrig ist, weil es kein Verweigerungsrecht des

medizinischen Personals, an den Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen, vorsah. Ähnlich

wie in der Entscheidung zur Wehrdienstverweigerung hat das Verfassungstribunal die

Verweigerung aus Gewissensgründen als Spezialfall der Gewissensfreiheit unmittelbar aus

dem Art. 16 der spanischen Verfassung hergeleitet: „(...) sowohl die Lehre als auch die

Rechtvergleichung behaupten die Verbindung zwischen der Verweigerung aus

Gewissensgründen und der Gewissensfreiheit. Für die Lehre stellt die Verweigerung aus

Gewissensgründen eine Konkretisierung der Gewissensfreiheit dar, welche nicht nur das

Recht voraussetzt, das eigene Gewissen zu bilden, sondern auch das Recht beinhaltet, gemäß

seinen Imperativen zu handeln. (...) Da die Gewissensfreiheit die Konkretisierung der in Art.

16 unserer Verfassung garantierten ideologischen Freiheit darstellt, kann angenommen

werden, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen ein in der spanischen

verfassungsrechtlichen Ordnung explizit und implizit anerkanntes Recht ist.“757

Im Bezug auf

den Beschwerdegegenstand hat das Verfassungstribunal wie folgt entschieden: „Was das

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen angeht, steht fest, dass dieses Recht existiert und

kann geltend gemacht werden, unabhängig davon, ob seine gesetzliche Regelung vorhanden

ist oder nicht. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist ein Bestandteil des in Art. 16 Abs.

1 verankerten Grundrechts der Weltanschauung- und Religionsfreiheit. Wie aus

verschiedenen Anlässen dieses Tribunal bereits darauf hingewiesen hat, ist die Verfassung

unmittelbar anwendbar, insbesondere im Bereich der Grundrechte.“758

Die zitierten Entscheidungen des spanischen Verfassungstribunals können dahingehend

interpretiert werden, dass das Tribunal die Verweigerung aus Gewissensgründen als

Konkretisierung der Gewissensfreiheit und als allgemeines Grundrecht anerkannt hat. Danach

757

Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals: STC 53/1985 von 7.03.1985. 758

Ebenda.

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186

wäre eine Vermutung anzustellen, dass derjenige, der gemäß seinem Gewissen handelt,

handelt prima facie rechtsmäßig. Die Konfliktlösung soll im Wege der Abwägung zwischen

den ins Spiel kommenden Verfassungsgütern gefunden werden.759

Gemäß der von Escobar

Roca durchgeführten Analyse der spanischen Lehre wurde diese Ansicht von Mehrheit der

spanischen Autoren gutgeheißen.760

Bereits vor der zitierten Entscheidung zur Verweigerung der Abtreibung lässt sich allerdings

die gegenteilige Tendenz in der Rechtsprechung des Verfassungstribunals beobachten. In der

Entscheidung 19/1985,761

welche die Verweigerung der Adventisten samstags zu arbeiten,

betraf, hat das Verfassungstribunal festgestellt, dass die Beschwerdeführer zwar das Recht

genießen, ihre Verweigerung öffentlich und privat zu verteidigen, sie haben aber kein Recht,

sich gemäß ihrer Überzeugungen im Arbeitsbereich zu verhalten. Die Weigerung, die Arbeit

samstags zu verrichten, kann somit nach allgemeinem Arbeitsrecht sanktioniert werden.

In der Entscheidung 160/1987762

hat das Verfassungstribunal diese Doktrin fortgesetzt: „Die

Verweigerung aus Gewissensgründen vom allgemeinen Charakter, d.h. das Recht, von der

Erfüllung der Verfassungs- oder Gesetzespflichten befreit zu werden, weil die Erfüllung

dieser Pflichten gegen die eigenen Überzeugungen verstößt, ist nicht anerkannt und es ist

unvorstellbar, dass es in unserer oder in irgendwelcher Rechtsordnung anerkannt werden

kann. Dies würde nämlich die Negation der Idee des Staates bedeuten.“ Das Tribunal hat zwar

den Zusammenhang zwischen dem Recht auf Wehrdienstverweigerung und der Freiheit des

weltanschaulichen Bekenntnisses bestätigt und es als ihre „logische Folge“ angesehen, es hat

aber seinen Grundrechtsstatus mit der Begründung verneint, dass es sich hier um ein

759

Dieselben Schlüsse hat Sanchís in Bezug auf ähnliches Urteil des spanischen Verfassungstribunals gezogen,

wo das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen gegen die Abtreibung trotz mangelnden gesetzlichen

Regelung direkt aus der Glaubensfreiheit abgeleitet wurde; I. M. Sanchis, L‟objection de conscience en

Espagne, in: European Consortium for Church and State Research, Consciencious objection in the EU countries,

Milano 1992, S. 92. 760

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 185ff; siehe auch:

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256, 301; I. M. Sanchis,

L‟objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State Research, Consciencious

objection in the EU countries, Milano 1992, S. 91; J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el

derecho internacional y comparado, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid

2007, S. 116; L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: Sancho Gargallo, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 25; M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático,

in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 80; A.

Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 151. 761

STC 1985/19 von 13.02.1985. 762

Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofes, STC 160/1987 von 27.10. 1987.

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187

Ausnahmerecht handelt, das darin besteht, unter bestimmten Voraussetzungen von der

Wehrpflicht befreit zu werden. „Es geht somit um das durch die Höchste Norm (Norma

Suprema) in Art. 30. Abs. 2. anerkannte verfassungsrechtliche Recht, das konsequenterweise

durch die Verfassungsbeschwerde (Art. 53 Abs. 2) geschützt wird, aber dessen Verhältnis

zum Art. 16 (ideologische Freiheit) weder ermächtigt noch erlaubt, es als Grundrecht zu

qualifizieren. Dem steht die Erwägung entgegen, dass seinen Kern oder Inhalt – in diesem

Fall seine konkrete Zielrichtung – das Recht darstellt, von der allgemeinen Pflicht, den

Militärdienst zu leisten, als befreit erklärt zu werden (und nicht schlicht das Recht, diesen

Dienst nicht zu leisten), wenn der Militärdienst durch den Ersatzdienst ersetzt wird. (...) Ohne

diese verfassungsrechtliche Anerkennung kann dieses Recht nicht ausgeübt werden, nicht

einmal unter dem Schutz des Rechts auf ideologische Freiheit und auf Gewissensfreiheit (Art.

16), das von selbst nicht ausreichend wäre, die Bürger von den Verfassungspflichten zu

befreien, ohne in das Risiko der Relativierung der Rechtsbefehle einzugehen. Gerade seine

Natur als Ausnahmerecht charakterisiert es als das autonome verfassungsrechtliche Recht

(derecho constitucional autónomo) aber nicht als Grundrecht.“763

Auch im Urteil 161/1987764

hat das spanische Verfassungstribunal festgestellt, dass wenn es

sich im Fall des Rechts auf Wehrdienstverweigerung um eine direkte Anwendung der

Religions- und Weltanschauungsfreiheit handeln würde, hätte der Verfassungsgeber den

Schutz dieses Rechts durch Verfassungsbeschwerde nicht ausdrücklich vorgeschrieben. Um

den Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung entgegenzuwirken, würde

ausreichend sein, die Verfassungsbeschwerde in Anlehnung an Art. 16 der spanischen

Verfassung einzulegen. Darüber hinaus würde die ausdrückliche Gewehrleistung des Rechts

auf Wehrdienstverweigerung in Art. 30 Abs. 2 der spanischen Verfassung, zum unnötigen

superfluum.

In Bezug auf die Forderung des Einzelnen, seine Steuerpflicht wegen seiner

Gewissensposition zu modifizierten, hat das spanische Verfassungstribunal folgendes

festgestellt: „Es ist nicht möglich, sich auf das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als

eine Ausnahme von der in Art. 31 der spanischen Verfassung vorgesehenen allgemeinen

763

Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofes, STC 160/1987 von 27.10. 1987. 764

Ebenda. Diese Interpretationslinie wurde durch die Entscheidung STC 321/1994 von 28.11.1994 bekräftigt.

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Pflicht zu berufen. Eine solche Forderung entbehrt einer verfassungsrechtlichen Grundlage.

Darüber hinaus ist sie durch die steuerrechtlichen Regelungen nicht vorgesehen (…). Es ist

nicht möglich, sich auf die Weltanschauungsfreiheit des Art. 16 der spanischen Verfassung zu

stützen, um entweder die Befreiung von der Erfüllung der allgemeinen Pflicht, zu den

öffentlichen Ausgaben beizutragen (Art. 31 Abs. 1 der spanischen Verfassung) oder die

Auferlegung der alternativen Formen dieser Pflicht wie der Beschwerdeführer vor den

Organen der Steuerverwaltung behauptet hat, zu verlangen.“765

Aus der dargestellten Rechtsprechung ist sichtbar, dass das spanische Verfassungstribunal die

weite Auslegung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit einschneidend eingeengt und

die Bestimmung deren Schutzbereichs praktisch dem Gesetzgeber zugewiesen.766

Das

Verfassungsribunal hat dabei das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als ein

Sonderrecht profiliert. Seine enge Verbindung mit der allgemeinen Gewissensfreiheit wird

mit Schaffung der Rechtsfigur eines autonomen Verfassungsrechts zumindest gelockert, wenn

nicht gänzlich unterbrochen. Souto Paz hat diese Rechtsprechung wie folgt kommentiert: „das

Verfassungstribunal hat ein wichtiges Umschwenken in der Auslegung der Verweigerung aus

Gewissensgründen vollzogen. Diese Rechtsfigur hat die Qualität des durch Art. 16. Abs. 1

geschützten Grundrechts verloren, und hat sich in das autonome Verfassungsrecht (derecho

constitucional autónomo) umgewandelt, das nur aus Art. 30 Abs. 2 Verf. abgeleitet wird.“767

4.2.2. Anerkennung des allgemeinen Rechts auf Gewissensfreiheit bei gleichzeitigem

Verbot der Verweigerung aus Gewissensgründen

Diese Regelungsweise sei illustriert am Beispiel des Art. 61 der Verfassung der Republik

Venezuela, der folgenden Inhalt hat: „Jede Person hat das Recht auf Gewissensfreiheit und

auf ihre Betätigung, es sei denn, dass ihre Ausübung seine Persönlichkeit beeinträchtigt oder

eine Straftat darstellt. Die Verweigerung aus Gewissensgründen kann nicht geltend gemacht

werden, um der Befolgung des Rechts zu entgehen oder die Anderen in der Befolgung des

765

Die Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals, ATC 71/1993 von 01.03.1993. 766

J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,

Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 137. 767

J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,

S. 125.

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189

Rechts oder in Ausübung ihrer Rechte zu verhindern.“768

Ähnliche Regelung im Bezug auf

Religionsfreiheit enthält Art. 59.769

Bemerkenswert ist der ausdrückliche Ausschluss der

Gewissensbetätigung in denjenigen Fällen, wo eine Gefahr besteht, dass die „Persönlichkeit“

des Betroffenen einen Schaden erleiden kann. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an

die Verweigerung der medizinischen Behandlung zu denken. Die in der venezuelanischen

Verfassung vorgesehenen Schranken der Gewissensfreiheit haben zum Teil einen

paternalistischen Charakter, die dem Postulat der individuellen Selbstbestimmung nicht

gerecht werden.

Eine andere Variante dieser Regelungsweise ist die ausdrückliche Anerkennung des

Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit einem Gesetzesvorbehalt.

Als Beispiel für derartige Regelung kann Art. 37 der Verfassung der Republik Paraguay sein,

der wie folgt lautet: „Das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen aus ethischen und

religiösen Gründen wird für diejenigen Fälle anerkannt, für welche die Verfassung und das

Gesetz dies zulassen.“770

Die Verfassung regelt das Wehrdienstverweigerungsrecht im Art.

129. Dabei ist erwähnenswert, dass danach der Zivildienst nicht lästiger als Militärdienst sein

kann.

Das dargestellte Regelungsmodell der Gewissensfreiheit charakterisiert sich damit, dass

wegen des verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzesvorbehalts die Entscheidung über den

tatsächlichen Schutzumfang der Gewissensfreiheit dem Gesetzgeber überlassen worden ist.

Die individuelle Gewissensfreiheit ist damit wesentlich verkürzt, wenn nicht völlig beseitigt.

4.2.3. Die eindeutige Verknüpfung der Gewissensfreiheit mit Religionsfreiheit

Wie bereits im Zusammenhang mit der polnischen Verfassung dargelegt wurde, bereitet die

enge Verflechtung der Gewissensfreiheit mit ihrem „Muttergrundrecht“ erhebliche

interpretatorische Probleme hinsichtlich ihrer Verselbstständigung und Reichweite. Im

Folgenden wird gezeigt, dass das Profil der Gewissensfreiheit in diesem Fall von der

angenommenen Auslegungsvariante abhängt. Als Beispiel für die restriktive Auslegung der

768

“Toda persona tiene derecho a la libertad de conciencia y a manifestarla, salvo que su práctica afecte su

personalidad o constituya delito. La objeción de conciencia no puede invocarse para eludir el cumplimiento de la

ley o impedir a otros su cumplimiento o el ejercicio de sus derechos.” 769

Vgl. Auch Art. 69 der Verfassung Nicaraguas. 770

“Se reconoce la objeción de conciencia por razones éticas o religiosas para los casos en que esta Constitución

y la Ley la admitan.”.

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Gewissensfreiheit seien die Interpretationstendenzen der entsprechenden

Verfassungsvorschriften der Föderativen Republik Brasilien (a) skizziert. Die Möglichkeit der

dynamischen Auslegung der Gewissensfreiheit trotz ihrer Verankerung im Kontext der

Glaubensfreiheit sei dagegen anhand der Rechtsprechung zur Gewissensfreiheit in der

Verfassung der Republik Peru (b) aufgezeigt.

a) Brasilien

Art. 5 VI der Verfassung der Föderativen Republik Brasilien hat den folgenden Inhalt: „Die

Gewissens- und Glaubensfreiheit ist unverletzlich; die freie Ausübung religiöser Kulte sowie,

nach Maßgabe des Gesetzes, der Schutz von Kultstätten und Liturgien, ist gewährleistet“771

Art. 5 VIII schließt das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen aus dem Schutzbereich

der Religionsfreiheit explizit aus: „Niemand darf Einbußen an Rechten aus Gründen

religiösen Glaubens oder philosophischer oder politischer Überzeugungen erleiden, es sei

denn, diese werden dazu benutzt, sich allgemein auferlegten gesetzlichen Verpflichtungen zu

entziehen und der Erfüllung einer gesetzlich vorgesehenen Ersatzleistung zu entgehen.“772

Die

enge Verknüpfung der Gewissensfreiheit mit der Religionsfreiheit in der brasilianischen

Verfassung spiegelt sich in den Kommentierungen der betroffenen Vorschriften in der Lehre

wieder: die Gewissensfreiheit wird nämlich mit dem forum internum der Religionsfreiheit,

einschließlich ihrer negativen Facette (die Freiheit des Nichtglaubens) gleichgesetzt.773

Manchmal wird sie gerade als das Recht der Nichtgläubigen profiliert: „(…) Ein freies

Gewissen kann sich selbst in dem Sinne bestimmen, dass es keinen Glauben hat. Aus der

Gewissensfreiheit geht somit der Rechtsschutz der Atheisten und Agnostiker hervor.“774

Was die Verweigerung aus Gewissensgründen betrifft, kann diese Rechtsfigur als

allgemeines, aus Gewissensfreiheit fließendes Recht des Einzelnen nicht anerkannt werden.

„Dies geschieht aus demselben Grund, woraus niemandem erlaubt ist, das Gesetz wegen

seiner Unkenntnis zu verletzen.“775

Die partielle Anerkennung der Verweigerung aus

771

“e inviolavel a libertade de consciencia e de crenca, sendo assegurado o livre exercicio dos cultos religiosos e

garantida, na forma da lei, a proteccão aos locais de culto e a suas liturgias.” Die Übersetzung ins Deutsche:

http://www.verfassungen.net/br/verf88-i.htm (27.04.2011). 772

“ninguém sera privado de dieritos por motivo de crenca religiosa ou de conviccão filosofica ou política, salvo

se as invocar para eximir-se de obrigacão legal a todos imposta e recusar-se a cumprir prestacão alternativa,

fixada em lei.” Die Übersetzung ins Deutsche: http://www.verfassungen.net/br/verf88-i.htm (27.04.2011) 773

U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, Säo Paolo 2005, S. 142. 774

C. Ribeiro Bastos, Curso de Direito Constitucional, São Paulo 1990 S. 190; vgl. A. Guedes Sorlano, Libertade

religiosa no direito constitucional e internacional, Säo Paulo 2002, S. 12. 775

R. Barcellos de Magalhaes, Comentarios a Constituicão Federal de 1988, Volume 1, Rio de Janeiro 1993, S.

27.

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Gewissensgründen wird zwar für möglich gehalten, ihre Einschließung in die Rechtsordnung

sowie ihr Schutzumfang werden aber von der Entscheidung des Gesetzgebers abhängig

gemacht.776

Es wird zwar gelegentlich vertreten, dass das Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen trotz der restriktiven Regelung der Gewissensfreiheit in der brasilianischen

Verfassung durch Art. 5 VIII doch umfasst wird. Diese Meinung wird allerdings nicht näher

begründet.777

b) Peru

In der Verfassung der Republik Peru wird die Gewissensfreiheit in Art. 2 Nr. 3 erwähnt: „Jede

Person hat das Recht auf Freiheit des Gewissens und der Religion in einer individuellen und

kollektiven Form. Es gibt keine Verfolgung wegen der Anschauungen (ideas) oder Glauben.

Es gibt kein Meinungsdelikt. Die öffentliche Ausübung aller Konfessionen ist frei, soweit sie

gegen die Moral nicht verstößt und die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt.“778

Obwohl

in der zitierten Vorschrift nur von Ausübungsfreiheit „aller Konfessionen“ die Rede ist, leitet

das peruanische Verfassungstribunal die Betätigungsfreiheit des Gewissens unmittelbar aus

der Gewissensfreiheit ab. Das Tribunal argumentiert dabei, dass die Einschränkung der

Gewissensfreiheit zur inneren Freiheit zu inakzeptablen Konsequenzen führen würde: „Wozu

würde das Recht dienen, sich in der Bildung der Ideen selbst zu bestimmen, wenn es dann

nicht möglich wäre, in Übereinstimmung mit den Entwürfen (designios) dieses Gewissens zu

handeln, oder das Handeln zu unterlassen? Das Nichterlauben dem Einzelnen, nach Diktaten

seines Gewissens zu handeln, hätte zur Folge, dass dem Recht, dieses Gewissen zu bilden,

keine Bedeutung zukäme. Es wäre ein perverses Paradoxon, dem Einzelnen zu gestatten,

seine Überzeugungen zu entfalten, damit er sie später betrügen oder abtöten müsste, was

konsequenterweise seine Psyche beeinflussen würde und sich auf seine Menschenwürde

auswirken würde.“779

776

A. de Moraes, Constituicão do Brasil interpretada e legislasão constitucional, 2005, S. 221. 777

U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, São Paolo 2005, S. 144. 778

“Cada uno tiene derecho: 3. A la libertad de conciencia y de religión en forma individual y asociada. No hay

persecución por razón de ideas o creencias. No hay delito de opinión. El ejercicio público de todas las

confesiones es libre, siempre que no ofenda la moral ni altere el orden público.” 779

Das Urteil des peruanischen Verfassungstribunals von 19.08.2002, EXP Nr. 0895-2001, abgedruckt in:

Bermudez Tapia, La Constitución a través de las sentencias del Tribunal Constitucional: Interpretación artículo

por artículo de nuestra Norma Fundamenal realizada por el „Supremo Interprete“, S. 34ff.

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Dieser Entscheidung ist wegen des numerus apertus der Grundrechte in der peruanischen

Verfassung das besondere Gewicht für die rechtvergleichende Auslegung beizumessen. Art. 3

der peruanischen Verfassung enthält die folgende Klausel: „Die Aufzählung der in diesem

Kapitel verbürgten Rechte schließt weder die übrigen Rechte nicht aus, welche die

Verfassung gewährleistet, noch andere, die einen analogen Charakter haben, oder diejenigen,

die in der Menschenwürde, im Grundsatz der Volkssouveränität, im Grundsatz des

demokratischen Rechtsstaates oder im Grundsatz der republikanischen Regierungsform ihre

Grundlage haben.“780

Das peruanische Verfassungstribunal hat sich allerdings in seiner

Entscheidung zur Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen auf die zitierte

Verfassungsklausel nicht berufen. Es fand nicht notwendig, die Gewissensbetätigungsfreiheit

bzw. das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen etwa mit Hifle des Grundsatzes der

Menschenwürde zu untermauern. Im Gegenteil vertritt das Tribunal die Meinung, dass für die

Ableitung dieses Rechts hinreichend ist, sich auf die allgemeine Gewissensfreiheit des Art. 2

Nr. 3 der peruanischen Verfassung zu berufen. Diese durch das Verfassungstribunal auch in

anderen Entscheidungen benutzte Auslegungstechnik wird im Schrifttum die Theorie des

impliziten Grundrechtsgehalts (teoría del contenido implicito de los derechos fundamentales)

genannt. Danach werden die impliziten Rechte im Schutzbereich der geschriebenen Rechte

deswegen umfasst, „weil dies zur Erweiterung des durch die Rechtsordnung bereits

bestimmten Schutzbereiches führt und auch deswegen, weil diese neuen Ausübungsformen

der bereits anerkannten Rechte rechtliche Kohärenz herstellen. Der Inhalt der Vorschrift wird

dabei nicht durchbrochen, um damit ihr etwas anderes vorschreiben zu lassen, von dem, was

sie bereits bestimmt.“781

Das peruanische Verfassungstribunal hat in der zitierten Entscheidung den

Anwendungsbereich der Lehre von der impliziten Grundrechtsinhalts von dem

Anwendungsbereich der Numerus - apertus - Klausel (genannt durch das Tribunal auch

Doktrin der nicht aufgezählten Rechte (doctrina de derechos no enumerados) oder Doktrin

780

La enumeracion de los derechos establecidos en este capítulo no excluye los demás que la Constitución

garantiza, ni otros de naturaleza analoga o que se fundan en la dignidad del hombre, o en los principios de la

soberania del pueblo, del Estado democrático de derecho y de la forma republicana de gobierno.” 781

S. Mosquero Molenos, El derecho de libertad de conciencia y de religión en el ordenamiento jurídico

peruano, Lima 2005, S.170f.

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der ungeschriebenen Rechte (doctrina de derechos no escritos) abgegrenzt. Danach ist auf die

Klausel des Art. 3 zurückzugreifen, wenn neue mit der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen,

technologischen und kulturellen Entwicklung zusammenhängende Bedürfnisse auftauchen,

welche nicht nur Anerkennung neuer in der engen Verbindung mit der Menschenwürde

stehenden Rechte erfordern, sondern auch deren Ausstattung mit derselben Schutzgarantien

notwendig machen, welche die geschriebenen Rechte genießen. Die Lehre vom impliziten

Grundrechtsgehalt findet dagegen Anwendung, wenn möglich ist, aus einem verbürgten Recht

das andere zu identifizieren, welches sowohl als Teil des ersten konzipiert werden als auch als

selbständiges, autonomes Recht gestaltet werden kann. Diese „neuen Inhalte“ werden aus den

geschriebenen Rechten herausinterpretiert und „als Folge der fortschreitenden normativen

Entwicklung, der herrschenden sozialen Wertungen, des Einflusses der Lehre und –

selbstredend – der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung“ akzeptiert. Der offene Charakter

der Grundrechte steht nicht entgegen, neue Ausübungsmodalitäten eines Grundrechts

anzunehmen, die bei ihrer Entstehung nicht berücksichtigt worden sind. Das

Verfassungstribunal steht auf den Standpunkt, dass die neuen Ausübungsformen der in der

Verfassung verankerten Rechte „im Rahmen des rational Möglichen“ zu finden sind, welche

die Achtung der Menschenwürde verstärken. Dieses Verfahren würde den übermäßigen

Rückgriff auf Numerus-apertus-Klausel verhindern und vorbeugen, ihren Zweck zu

entstellen. Das Tribunal rechtfertigt seine Vorgehensweise mit der lapidaren Feststellung,

dass die Wirklichkeit in unzähligen Situationen die Vorstellungskraft des Gesetzgebers

übersteigt. Im Bezug auf die Gewissensfreiheit präzisiert das peruanische

Verfassungstribunal, dass sie kein allgemeines Verweigerungsrecht garantiert. Das

Verweigerungsrecht ist vielmehr als ein Ausnahmerecht konzipiert, das fallweise behandelt

werden soll. Im Gegenteil „stünde man vor dem unmittelbaren und inakzeptablen Risiko, die

Rechtsbefehle zu relativieren. Deswegen garantiert die Gewissensfreiheit ipso facto kein

unmittelbares allgemeines Recht, sich der Erfüllung einer Rechtspflicht zu entziehen. Die

Befreiung sollte vielmehr im konkreten Fall nach der Abwägung der kollidierenden Interessen

und unter der Voraussetzung der Glaubwürdigkeit des Verweigerers erklärt werden.“782

782

Das Urteil des peruanischen Verfassungstribunals von 19.08.2002, EXP Nr. 0895-2001, abgedruckt in:

Bermudez Tapia, La Constitución a través de las sentencias del Tribunal Constitucional: Interpretación artículo

por artículo de nuestra Norma Fundamenal realizada por el „Supremo Interprete“, S. 349.

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194

4.2.4. Ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit als das von der

Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrecht

Eine modern und innovativ wirkende Regelung, welche den Säkularisierungstendenzen

Rechnung trägt, hat die Gewissensfreiheit in der Verfassung der Republik Kolumbien von

1991 erfahren. Die Gewissensfreiheit ist dort als ein separates, vom jeglichen Zusammenhang

mit der Religionsfreiheit befreites Grundrecht in einer separaten Verfassungsbestimmung

geregelt: Art. 18 der kolumbianischen Verfassung hat den folgenden Inhalt: „Die Freiheit des

Gewissens wird gewährleistet. Niemand darf wegen seiner Überzeugungen oder seines

Glaubens beunruhigt werden, zu ihrer Offenbarung gezwungen werden, oder gegen sein

Gewissen zu handeln, genötigt werden.“783

Die Religionsfreiheit wird dagegen in Art. 19 wie

folgt formuliert: „Die Kultusfreiheit wird gewährleistet. Jede Person hat das Recht, ihre

Religion frei auszuüben und sie individuell oder gemeinsam zu verbreiten. Alle religiösen

Bekenntnisse und Kirchen sind vor dem Recht gleichermaßen frei.“784

In der Lehre wurde diese Regelung als Zeichen der Anerkennung, dass sich die

Schutzbereiche der Religions- und Gewissensfreiheit nicht decken und dass die Religion und

die nichtreligiösen Überzeugungen gleichermaßen geschützt werden, positiv gewürdigt.785

Der Interpret kann somit davon ausgehen, dass derartige in der Nähe der

Weltanschauungsfreiheit angesiedelte Normierung der Gewissensfreiheit mit dem weiten

Schutzbereich ausgestattet ist, der das Verweigerungsrecht, eine Rechtspflicht aus

Gewissensgründen zu erfüllen, umfasst. Gleichwohl wirkt überraschend, dass das

kolumbianische Verfassungsgericht die Gewissensfreiheit so restriktiv ausgelegt hat, dass es

daraus (sogar!) kein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, geschweige

anderer Formen der Verweigerung aus Gewissensgründen herleitet: „Die Garantie der

Gewissensfreiheit schließt die positivrechtliche Verbürgung des

Wehrdienstverweigerungsrechts aus Gewissensgründen nicht zwingend ein. Diese Figur, die

in anderen Rechtsordnungen den Einzelnen ermöglicht, die Erfüllung einer Pflicht, wie die

Erwähnte zu verweigern, wenn die betroffene Tätigkeit die Verwirklichung eines Verhaltens

bedeutet, das gegen die intimen Überzeugungen verstößt, wurde durch die kolumbianische

783

„Se garantiza la libertad de conciencia. Nadie será molestado por razón de sus convicciones o creencias ni

compelido a revelarlas ni obligado a actuar contra su conciencia.” 784

„Se garantiza la libertad de cultos. Toda persona tiene derecho a profesar libremente su religión y a difundirla

de forma individual o colectiva. Todas las confesiones religiosas e iglesias son igualmente libres ante la ley.” 785

M. J. Cepeda, Los derechos fundamentales en la constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 163.

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195

Verfassung als ein befreiendes Rechtsmittel von der betroffenen Pflicht nicht

aufgenommen.“786

Es ist noch zu sehen, ob diese Rechtsprechung in der Zukunft beibehalten

wird.

4.2.5. Fazit

Die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt zunächst, dass der Schutzumfang der

Gewissensfreiheit nicht ausschließlich von ihrer verfassungsrechtlichen Regelungsweise

abhängt. Aus den skizzierten Beispielen wird vielmehr deutlich, dass bei der Rekonstruierung

des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit die entscheidende Rolle der verfassungsrechtlichen

Rechtsprechung und Lehre zukommt. Die Regelungen der Gewissensfreiheit als das separate,

von Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrecht in einigen lateinamerikanischen

Verfassungen aus der 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeugen die allmähliche Tendenz zur

Emanzipierung der Gewissensfreiheit aus ihren religiösen Zusammenhängen. Ihre

Anerkennung setzt sich allerdings nur ansatzweise durch, was die zahlreichen Beispiele für

ihre restriktive Auslegung zeigen. Die Gewissensfreiheit kann daher als Grundrecht in statu

nascendi bezeichnet werden, dessen Verselbständigung von der Glaubensfreiheit noch nicht

eindeutig erfolgt ist und dessen Schutzbereich sich noch nicht herauskristallisiert hat.

5. Berücksichtigung der sozialen Folgen einer Auslegungsentscheidung

Schließlich ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig, in dem Interpretationsprozess die

Folgenerwägungen der vorgeschlagenen Interpretationsalternative anzustellen. Dabei ist

zuerst zu berücksichtigen, dass ein Auslegungsergebnis, mag es nur für einen Einzelfall

gedacht sein, das Potenzial haben kann, sowohl die künftige Praxis, als auch die

Gesetzgebungstätigkeit zu beeinflussen. Aus diesem Grund muss es sich in die ganze

Rechtsordnung einfügen können.787

„Die Entscheidung zwischen den einzelnen

Gesichtspunkten, falls sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, wird weiter durch

präjudizielle oder gedachte Vergleichsfälle gesteuert. Bei der Regelhaftigkeit des Rechts muss

786

Urteil des kolumbianischen Verfassungsgerichts, C- 511 von 1994, zitiert nach: Lozano, Constitución política

de Colombia acompañada de extractos de las sentencias de la Corte Constitucional, S. 31. 787

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 617; W.

Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 447; G. Peces- Barba Martínez,

Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 579.

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196

sich jede einzelne Fallentscheidung den Präjudizien und gedachten zukünftigen Fällen

standhalten. Das Auslegungsergebnis muss also verallgemeinerbar sein. Hierin liegt zugleich

eine Schranke für den Interpreten und eine Garantie für die Voraussehbarkeit der

Entscheidung.“788

Morawski hat diese Interpretationsdirektive wie folgt formuliert: „Bei der

Interpretation einer Norm sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen, zu welchen eine

bestimmte Auslegung führt, in Betracht zu ziehen und diejenige Auslegungsvariante zu

wählen, die zu den günstigsten Konsequenzen führt.“789

Sagüés dagegen bezeichnet die

Notwendigkeit der Berücksichtigung der sozialen Folgen der möglichen

Auslegungsergebnisse als eine voraussehende Interpretation (interpretación previsora).

Danach ist im Fall der vertretbaren Auslegungsalternativen diejenige zu wählen, die nach

Abwägung aller positiven Folgen und Risiken am nützlichsten erscheint.790

Die Betrachtung

der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der praktischen Umsetzung eines

Auslegungsergebnisses bildet einen sicheren Maßstab, wonach die Rationalität der Resultate

der interpretatorischen Arbeit sowie ihre Kohärenz mit dem System, in das die ausgelegte

Norm integriert ist, verifiziert werden kann.791

Hinsichtlich der Würdingung der Folgen der Gewährleistung der

Gewissensbetätigungsfreiheit einschließlich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen

durch die Rechtsordnung lassen sich zwei Ansätze unterschieden: der legalistische Ansatz und

der Ansatz des Interessengleichgewichts.792

Nach dem legalistischen Ansatz ist die Betätigung der Gewissensfreiheit lediglich im Bereich

des rechtlich Erlaubten vorstellbar. Die Verweigerung aus Gewissensgründen wird zum

subjektiven Recht lediglich in den durch den Gesetzgeber vorgesehenen Fällen; jeder Konflikt

zwischen dem Gewissen und der geltenden Rechtsnorm ist immer zugunsten der letzteren zu

lösen, es sei denn, dass das Gesetz eine Verweigerungsform ausdrücklich anerkennt. Die

Glaubens- und Gewissensfreiheit würde lediglich gegen diejenigen Gesetze schützen, die

ausdrücklich gegen eine Religion oder Weltanschauung gerichtet sind. Dagegen im Fall eines

788

Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203. 789

L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 147. 790

N. P. Sagüés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 40f. 791

F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 44; H. Nogueira Alcala, Lineamientos

de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006, S. 152 ff. 792

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f.

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197

neutrales Gesetzes, welchem legitime, weltliche Ziele zugrunde liegen, braucht die

Anerkennung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen einer interpositio legislatoris;

es kann nur dann geltend gemacht werden, wenn eine solche Möglichkeit vom Gesetzgeber

ausdrücklich eingeräumt wird. Darüber hinaus könnte sich der Einzelne auf die

Gewissensfreiheit in den gesetzlich nicht geregelten Fällen berufen, wenn die Erfüllung der

verweigerten Rechtspflicht den Wesensgehalt der Gewissensfreiheit verletzt würde.793

Der legalistische Interpretationsansatz wird damit begründet, dass das Gewissen und Recht ex

definitione unvereinbar sind. Im Gewissen trifft sich der Einzelne mit sich selbst, auf der

Ebene der Rechtsordnung trifft sich er dagegen mit den Anderen. Während sich das Gewissen

im Rahmen des Autonomen und Kategorischen bewegt, ist die Rechtsordnung in ihren

Antipoden, d.h. im Bereich des Heteronomen und Umsichtigen (prudencial) situiert. Da das

Recht und das Gewissen „verschiedene Sprachen sprechen“, ist jeder Versuch deren

Vereinbarung zum Scheitern verurteilt.794 Darüber hinaus würde die Anerkennung einer

allgemeinen Gewissensfreiheit durch die Rechtsordnung auf „die Fundamentierung ihrer

eigenen Vernichtung“795

hinauslaufen. Da das Eintreten einer Verweigerung unvorhersehbar

ist und das Gewissen des Einzelnen nicht immer rational ist, würde die Gegenlösung

Rechtsunsicherheit und Pulverisierung des Rechts herbeiführen.

Die Angst vor der Anarchie oder, wie dies das spanische Verfassungstribunal ausgedrückt hat,

die Befürchtung der „Negation der Idee des Staates“796

ist allerdings unbegründet. Die

Bejahung der Interpretation, dass die Gewissensfreiheit das allgemeine Verweigerungsrecht

aus Gewissensgründen enthält, bedeutet nicht, dass der Staat angesichts der Verletzungen von

geschützten Rechtsgütern eine wehrlose und passive Haltung einnehmen muss. Die

Anerkennung des allgemeinen Verweigerungsrechts bringt mit sich lediglich eine Pflicht, die

im bestimmten Fall kollidierenden Verfassungsgüter abzuwägen. Es obliegt den Gerichten zu

prüfen, ob die aus der verweigerten Rechtspflicht stammende Einschränkung der

individuellen Freiheit trotz Geltendmachung durch den Einzelnen eines ernsten

Gewissenskonflikts hinreichend begründet ist

793

J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,

S. 129. 794

Ebenda, S. 127. 795

A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 129. 796

Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs STC 161/1987.

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198

Diese Idee liegt dem Ansatz des Interessenausgleichs zugrunde. Dort wird der Schwerpunkt

auf den höchstmöglichen Schutz der Gewissensfreiheit und nicht auf Unberührtheit des

Gesetzes gelegt. In diesem Sinne wird die Verweigerung aus Gewissensgründen von den

„rechtspositivistischen Vorurteilen“797

befreit. Sie ist nicht als eine tolerierte Ausnahme vom

allgemeingültigen Gesetz, sondern als integraler Bestandteil des Rechtssystems, als

verfassungsrechtlicher Wert an sich, angesehen. Dies hat zur Folge, dass an die Verweigerung

aus Gewissensgründen nicht mit Misstrauen herangegangen wird, als ob sie ein kniffliger

Umgehungsversuch einer Rechtspflicht wäre. Sie erscheint vielmehr als eine

Verwirklichungsform des schützenswerten Interesses des Einzelnen, das unter Umständen mit

anderen Rechtswerten in Konflikt gerät.

Darüber hinaus geht der legalistische Ansatz davon aus, dass die neutralen Gesetze

grundsätzlich außerstande sind, das Gewissen des Einzelnen zu tangieren. Damit wird aber

verkannt, dass die „neutralen“ Gesetze neutral lediglich in dem Sinne sind, dass sie ein

weltliches Ziel zu erreichen suchen. Allerdings liegt jedem Rechtssatz ein ethisches

Fundament, eine ethische Rechtsfertigung zugrunde, wenn auch sie nicht immer auf den

ersten Blick sichtbar ist. Das Recht als solches ist ein Instrument, mit dessen Hilfe sich das

Gemeinwesen anhand der durch die Mehrheit anerkannten Werte organisiert. Diese Werte

weisen vornehmlich den ethischen Charakter auf und aus diesem Grund gehen sie der

Rechtsordnung vor. Die apriorische Ausschließung der Möglichkeit einer Verweigerung aus

Gewissensgründen führt somit zur Diskriminierung der Minderheiten, welche die allgemein

anerkannten und der Rechtsordnung zugrundeliegenden religiösen und weltanschaulichen

Werte nicht teilen.

Weiterhin geht die Voraussetzung, dass dem Recht automatischer Vorrang der

Gewissensfreiheit gegenüber zukommen soll, von der irrigen Annahme aus, dass die

Gewissensfreiheit ein lediglich privates Interesse schützt, während die durch die verweigerte

Norm geschützten Interessen öffentlichen Charakter haben, was ihren generellen Vorzug

797

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 108.

Page 211: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

199

rechtfertigen soll. Selbst wenn aus der Perspektive des Einzelnen die Gewissensfreiheit

vornehmlich das individuelle Interesse schützt, verleiht ihm die bloße Verbürgung als

Grundrecht den Status des öffentlichen Interesses des höchsten Ranges. Hinzu kommt, dass

das öffentliche Interesse, dessen Verwirklichung das verweigerte Gesetz dient, häufig nicht

verlangt, dass das Gesetz in den 100 von Hundert Fällen befolgt wird.798

Die Einräumung

einer Ausnahmeregelung zugunsten der Verweigerer aus Gewissensgründen bedeutet nicht

zwangsläufig die Vereitelung des Regelungszweckes des verweigerten Rechtsaktes.

Das Argument, dass die Anerkennung der Betätigung der Gewissensfreiheit auf die Negation

der Rechtsordnung oder Herbeiführung der Anarchie hinauslaufen würde, ist im Hinblick auf

die Figur des zivilen Ungehorsams, aber nicht bezüglich der Verweigerung aus

Gewissensgründen haltbar. Die Gewissensfreiheit hat schon deshalb keine anarchistischen

Züge, weil der Grundrechtsträger keine generelle Abschaffung der abgelehnten Rechtspflicht

herbeiführen möchte. Während der Verweigerer aus Gewissensgründen lediglich eine

Befreiung von einer allgemeinbindenden Norm sucht, strebt der Einzelne, der auf den zivilen

Ungehorsam zurückgreift, nach der Aufhebung einer als unmoralisch oder schädlich

angesehenen Norm oder Politik. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist somit eine

isolierte, private, defensive Handlung, während der zivile Ungehorsam eine kollektive,

offensive, auf Herbeiführung eines rechtlichen oder politischen Wandels ausgerichtete

Handlung ist. Der Verweigerer aus Gewissensgründen sucht lediglich „Frieden mit den

Wurzeln des eigenen Seins“.799

Er strebt grundsätzlich nach keiner Publizität und unternimmt

keinen Versuch der Einflussnahme auf den politischen Willensbildungsprozess.

Auch das Argument der möglichen „Pulverisierung“ der Rechtsordnung durch die

Anerkennung des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen trifft nicht zu:

Der Ansatz des Interessenausgleichs geht nicht vom automatischen Vorrang der

Gewissensfreiheit aus. Es ist vielmehr die im konkreten Fall in Konflikt geratenen Interessen

798

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 110. 799

M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Madrid, Barcelona 2000, S. 82.

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200

sorgfältig zu ermitteln und abzuwägen. Außer der Interessensabwägung ad casum ist auch in

Betracht zu ziehen, dass der Gewissensfreiheit Schranken gesetzt sind.800

Als letztes Argument gegen den legalistischen Regelungsansatz der Gewissensfreiheit sei hier

auf soziologische Erkenntnisse rekurriert. Die Verweigerer haben häufig

überdurchschnittliche Moralstandards und möchten loyale Bürger sein. In diesem

Zusammenhang hat der Oberste Verwaltungsgerichtshof bemerkt, dass zu den moralischen

Grundsätzen, welche die Inanspruchnahme des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen

rechtfertigen, die allgemein akzeptierten Standards der Moral nicht ausreichend sind. Sie

charakterisieren sich vielmehr mit dem moralischen Rigorismus. Darüber hinaus sollen sie ein

Element der definierbaren Weltanschauung bilden und müssen durch die Lebenshaltung des

Berechtigten beglaubigt werden.801

Angesichts dessen ist die Erzwingung der Erfüllung der

verweigerten Rechtspflicht ohne den gewichtigen Grund aus rechtspolitischen Gründen

wahrscheinlich nicht die beste Lösung.802

Nicht zu befürchten ist auch die Inflation der Gewissensfreiheit. Der Mensch pflegt doch

nicht tagtäglich von einem Gewissenskonflikt in den anderen zu stürzen. Das lässt sich

einerseits damit begründen, dass ein Anlass zur Mobilisierung des Gewissens selten besteht;

nur ausnahmsweise sieht sich der Mensch vor der Frage gestellt, ob ein von ihm gefordertes

Verhalten die Identität seiner Persönlichkeit bedroht. Andererseits sind die Gewissenskräfte

nicht unerschöpflich; das Gewissen geht häufig den Konfrontationen aus dem Weg und gibt

dem Anpassungsdruck nach, ohne den Schaden zu nehmen.803

Es tritt als Gebotsinstanz, als

Rufer, erst dort in Aktion, wo die Persönlichkeit als solche in ihrer Identität kritisch bedroht

ist. In dieser Situation sagt der Einzelne zu sich „Ein solcher, der dies tut, kann ich nicht

sein;“804

es reagiert in einem außerordentlichen Konfliktfall, nicht im Normalfall. Darüber

hinaus ist in Betracht zu ziehen, dass wenn auch der Mensch Schöpfer und Entdecker von

800

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional z comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 111. 801

NSA SA/Wr 14/91, 1991.02.11. 802

J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f. 803

H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037; H. H. Klein,

Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.

Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494; H. Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, Köln 1987, S.

322. 804

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 69.

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201

Werten ist, ist die Mehrzahl seiner Wertvorstellungen in einem Kulturkreis, in dem er lebt,

seit Jahrhunderten eingewurzelt. Die durch das Gemeinwesen geteilten Werte sind

Gegenstand des intersubjektiven Verständnisses und der kulturellen Sozialisation. Daraus

ergibt sich, dass der Einzelne im Prinzip kein Wertsystem für sich wählt, sondern wächst in

ihm hinein, wenn auch dieses Hineinwachsen in die sozial anerkannten Wertvorstellungen

und Verhaltensmuster den Einzelnen und den Gruppen nicht völlig verhindert, die

Einzelwerte autonom zu wählen oder sogar das ganze Wertsystem der Gemeinschaft in Frage

zu stellen.805

Das Argument der massenhaften Berufung auf die Gewissensfreiheit als Bedrohung einer

Staatspolitik, etwa der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte ist nicht haltbar. Die

Gewissensfreiheit ist begriffsnotwendig ein Grundrecht der Minderheiten. Wird eine

Minderheit zur sozialen Mehrheit, gewinnt sie genügende politische Macht, um die

erwünschte Politik auf demokratische Wege durchzusetzen. Für die Mehrheit ist das

Grundrecht der Gewissensfreiheit funktionslos.806

Die eventuelle massenhafte

Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit könnte zwar die Verwirklichung einiger Staatsziele

gefährden, solche Zielkonflikte können aber lediglich vom (unter Umständen

verfassungsändernden) Gesetzgeber gelöst werden. Keinesfalls dürfte sich ein Gericht die

Kompetenz anmaßen, die Grundrechtsgarantie des Einzelnen leer laufen zu lassen, nur weil

zu viele Individuen das Grundrecht ausüben.807

Außerdem soll die Interpretation der

Verfassung von der Normallage ausgehen. Dazu gehört nicht nur die Tatsache, dass die Zahl

der aus Gewissensgründen in Konflikt mit einer Rechtsnorm geratenden Personen

erfahrungsgemäß gering ist, sondern auch die staatsbürgerliche Loyalität der

Grundrechtsträger, die darauf verzichten würden, Gewissensfreiheit als eine politische Waffe

zu gebrauchen. Die Interpretation der Verfassung wäre korrumpiert, wenn man den Wegfall

der Normallage in den Auslegungsprozess vorbeugend einbauen möchte. Zur Struktur des

Freiheitsstaates gehört, „dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren

kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen.“808

805

P. Winczorek, Konstytucja i wartości, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm konstytucji, Warszawa

1997, S. 41. 806

P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 70. 807

C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, in: DÖV, 1984, S.

797. 808

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 80.

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202

Die Notwendigkeit, die Betätigungsfreiheit der Gewissensentscheidungen zu gewährleisten,

wird schließlich mit der „gesetzgeberischen Invasion“809

d.h. mit der Tatsache begründet, dass

immer mehr Rechtsakte erlassen verden, die immer eindringlicher in die Privatsphäre des

Einzelnen eingreifen und damit mit seinen moralischen Überzeugungen kollidieren. Mit dem

immer dichteren Regelungsnetz, das alle Bereiche des privaten und sozialen Lebens normiert,

taucht das Bedürfnis auf, den Bereich der Privatautonomie von den staatlichen Eingriffen zu

schützen.

Die Anerkennung der Gewissensfreiheit bedeutet allerdings nicht nur „eine hypothetische

Lockerung der geltenden Rechtsnormen der Achtung des Menschen in seiner menschlichen

Individualität willen, sondern bringt vor allem eine positive Bereicherung der Rechtsordnung

mit sich. Durch die Garantierung der Gewissensfreiheit wird das Recht humanisiert, dem

Staat wird nicht gestattet, seine Ideologie den Bürgern aufzuerlegen, der Schutz wird nicht

lediglich den Minderheiten garantiert, sondern vor allem auf einen Einzelnen erstreckt, es

wird auch den von einer dominierenden Axiologie abweichenden Wertvorstellungen

Rechnung getragen, um von formalen Legalität zur materiellen Gerechtigkeit

überzugehen.“810

Für die Anerkennung der Gewissensfreiheit spricht daher die Aufgabe der modernen

Rechtsordnung, die Einstimmigkeit der Unterscheidenden, concordia discordantium und

sogar die Einstimmigkeit der Widerspruche, welche in der modernen Gesellschaft

vorkommen, herzustellen. Dieses Ziel kann nicht durch eine schlichte „Amputation der

verfassungsrechtlich eröffneten Potenzialitäten“811

, sondern vor allem durch die Annahme der

ergänzenden, kumulativen, kompensierenden und kombinierenden Losungen erreicht werden.

Dies führt zur Weiterentwicklung der Verfassungsgrundsatze. Jede Gesellschaft vermag,

bestimmten Maß an Konflikt an sich zu nehmen, ohne dass die Ordnung zunichte gebracht

wird. Damit wird der Pluralismus als Manifestationsform der Freiheit garantiert. Der

Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen liegt die Annahme zugrunde, dass der

Verweigerer kein Einzelgänger, oder ein asozialer Individualist ist, der lediglich eigene

Interessen vor Augen hat. Seine Gewissensentscheidung ist vielmehr auf das gemeinsame

809

J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,

S. 128. 810

V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 415 f. 811

M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas,

Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 85.

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203

Wohl gerichtet. Nach seiner Auffassung ist die generelle Anwendung der verweigerten Norm

fur die Gesellschaft schädlich oder zumindest vereitelt die Erreichung eines gemeinsam

geteilten Wertes. Der Verweigerer, der allgemeinen Einschätzung zuwider, ist kein

unsolidarisches Individuum. Er bietet vielmehr eine positive Alternative den in der

verweigerten Norm enthaltenen Werten gegenüber. Er versucht ein durch die Mehrheit

übernommenes und im Gesetz zum Ausdruck gebrachtes Lebensmodell durch ein alternatives

Modell zu ersetzen, das, seines Erachtens nach, zu einem gerechteren und ethisch

wertvolleren Zusammenleben führen wird. Aus dieser Perspektive führt die Anerkennung der

Verweigerung aus Gewissensgründen zur Bereicherung der Rechtsordnung.812

6. Fazit

Es ist somit „eine inhaltliche Emanzipation”813

der Gewissensfreiheit zu konstatieren. Dieser

Fortbildungsprozess ist als eine normale Begleiterscheinung einer Verfassung anzusehen, die

begriffsnotwendig (durch Verfassungsauslegung) um ständige Aktualisierung bemüht sein

muss. Wenn auch die sprachliche Formulierung der Gewissensfreiheit in der polnischen

Verfassung keine eindeutigen Schlüsse zu ihrer Reichweite ziehen lässt, ist anzunehmen, dass

es hinreichend starke axiologische Gründe gibt, welche die Erstreckung ihres Schutzbereiches

auf die Sphäre der Gewissensbetätigung gebieten. Die Anerkennung der Ausübungsfreiheit

der Gewissensentscheidungen leistet einen unersetzbaren Beitrag zur Verwirklichung der

Menschenwürde und der individuellen Freiheit. Bei der Ausgestaltung der konkreten

Ausübungsvoraussetzungen der Gewissensfreiheit sind die Forderungen des Gleichheitssatzes

zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz steht allerdings der Anerkennung des

Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen prinzipiell nicht im Wege. Was dagegen die

Rechtsprechung und Lehre auf der völkerrechtlichen Ebene und in den anderen Ländern

angeht, ist keine eindeutige Entwicklungstendenz zur Anerkennung der Gewissensfreiheit zu

verzeichnen. Das rechtsvergleichende Argument für die weite Auslegung dieses Grundrechts

wirkt daher nicht stark. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass mit zunehmendem

sozialem Bedarf an Anerkennung der Gewissensausübungsfreiheit die einschlägigen Postulate

der Lehre eine größere Resonanz in der Rechtsprechung finden werden. Zur Zeit schreitet die

Verselbständigung der Gewissensfreiheit nur ansatzweise fort.

812

A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 129f. 813

H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 370.

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204

Kapitel V

Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der

Grundrechtstheorien

1. Die Rolle der einzelnen Grundrechtstheorien als Hilfsmittel im Prozess

der Auslegung der Gewissensfreiheit

Die den Norminhalt der grundrechtlichen Gewährleistungen konkretisierende Interpretation

findet in Wortfassung, Sprachsinn und Regelungszusammenhang keinen hinreichenden

Anhaltspunkt. Sie wird vielmehr „bewusst oder unbewusst von einer bestimmten

Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt.“814

Wegen des „klauselartigen“ Charakters vieler

Verfassungsbestimmungen öffnet sich die Verfassung – gemäß dem Willen des

Verfassungsgebers – in die Richtung der Grundsätze und Werte, welche außerhalb des

geschriebenen Verfassungstextes situiert sind. Diese außerverfassungsrechtliche Werte und

Grundsätze erfüllen die Aufgabe, die Verfassungsvorschriften axiologisch zu präzisieren.

Allgemeine Rechtsgrundsätze, universelle Standards der Demokratie oder Elemente des

Verfassungsnaturrechts werden in das positive Recht „eingesaugt“, weil nur mit deren Hilfe

die Bedeutung der geschriebenen Verfassungsgrundsätze ermittelt werden kann.815

Aus

diesem Grund wird zwecks der Bestimmung des Inhalts einer grundrechtlichen Regelung

sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Lehre auf verschiedene Grundrechtstheorien

fallbezogen und je nach den einzelnen Grundrechtsbestimmungen wechselnd zurückgegriffen.

Der Anknüpfungspunkt für die Grundrechtstheorien ist oft die Suche, Probleme zu lösen, die

mit der veränderten politischen und gesellschaftlichen Lage neu oder mit veränderter

Akzentuierung an die Verfassung herangetragen werden.

Dieses Verfahren ist möglich, weil die polnische Verfassung ideologisch nicht neutral ist, sie

ist vielmehr „multidimensional und hat viele Faden. Man kann sogar sagen, dass sie

axiologisch inkohärent ist. Ohne in die Einzelheiten einzugehen, lassen sich in ihrem Text

national-christliche, christlich-demokratische, liberale und sozialdemokratische Faden

814

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 116. 815

L. Garlicki, Normy konstytucyjne relatywnie niezmieniane, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm

konstytucji, Warszawa 1997, S. 153.

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205

vorfinden. Dies war und ist im größeren Maße Ursache für ihre Kritik seitens der

ideologischen Integristen verschiedener Strömungen, welche der Verfassung eine einzige

ideologische Färbung zu geben versuchten (welche sie für liebeswürdig halten).“816

Auch die

einzelnen in der Lehre ausgearbeiteten Interpretationstheorien der Grundrechte (wie z.B.

liberale, institutionelle, sozialstaatliche, demokratisch-funktionale), weisen die Tendenz auf,

einzelne Aspekte oder Funktionen der Grundrechte zu verabsolutieren. Aus diesem Grund

sind sie bei der Verfassungsinterpretation lediglich als eventuelle Teilelemente einer

Gesamttheorie zu würdigen, welche der konkreten Verfassung zugrundeliegt. In der

pluralistischen Verfassung können sich hinter einer Theorie stehende Interessen nicht alleine

durchsetzen. Es geht vielmehr um eine flexible Kombination der einzelnen Theorien im

Prozess der „pragmatischen Integration von Theorienelementen“817

, damit „die Ideologie der

Verfassung“818

bzw. eine der Verfassung entsprechende Theorie der Grundrechte

rekonstruiert werden kann. Diese Theorie ist vor allem anhand des Verfassungstextes zu

erschließen, wie aber oben ausgeführt wurde, ihr können auch außertextliche Elemente

gehören. Die rekonstruierte Grundrechtstheorie soll die in der Verfassung normierte

Gesamtheit der Verhältnisse zwischen den Organen der öffentlichen Gewalt, den Einzelnen

und der Gesellschaft in den Blick nehmen.819

Die Einbeziehung einer Grundrechtstheorie in

den Prozess der Grundrechtsauslegung ist somit als keine Zubereitung der zu

interpretierenden Norm mit ideologischen Zutaten zu verstehen, die mit der „sachkundigen“

Anwendung der juristischen Auslegungsmittel vermeidbar wäre. Der Rückgriff auf

Grundrechtstheorien stützt sich vielmehr auf den lapidaren und fragmentarischen Charakter

der Verfassungsbestimmungen. Nichtsdestoweniger muss bei der Interpretation der

Verfassung vorgebeugt werden, dass sich die Anschauungen des Interpreten in die Auslegung

hineinschleichen und damit die Normativität der Verfassung in Frage gestellt wird.

Aus den oben genannten Gründen wird im vorliegenden Kapitel bei der Auslegung der

Gewissensfreiheit keiner bestimmten Grundrechtstheorie einseitig gefolgt. Es wird vielmehr

versucht, die in der Verfassung verankerte Konzeption der Grundrechte zu erschließen und

darauf die Auslegung der Gewissensfreiheit aufzubauen. Es wird dabei nicht verkannt, dass

die Teilelemente der einzelnen Grundrechtstheorien in den Verfassungsvorschriften,

816

P. Winczorek, Pięć lat konstytucji, in: Res Publica Nowa, Nr. 3, 2002, S. 86. 817

P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ, 1989, S. 918. 818

Begriff entliehen von: G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 65ff,

71ff und passim, der von der Rekonstruierung der Ideologie des Grundgesetzes spricht. 819

F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,

Madrid 2004, S. 77.

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206

insbesondere in den Verfassungsgrundsätzen ihren Niederschlag gefunden haben. Ihre

Einbeziehung erfolgt somit implizit bei der Prüfung der einzelnen Aspekte der

Grundrechtsauslegung. Die ausdrückliche Aufmerksamkeit wird der Auslegung der

Gewissensfreiheit unter dem Blickwinkel der demokratisch-funktionalen, der liberalen, der

institutionellen und der Wertegrundrechtstheorie gewidmet. Dies erklärt sich damit, dass diese

Theorien für die Untersuchung des Potenzials der Gewissensfreiheit zusätzliche Impulse

geben, welche sich nur indirekt aus dem Verfassungstext ergeben. In der polnischen Lehre ist

zwar nicht üblich, einzelne Grundrechte im Lichte der verschiedenen Grundrechtstheorien zu

betrachten, die Analyse der Gewissensfreiheit in diesem Hinblick ist aber vom Vorteil, weil

damit Hinweise für die Konkretisierung deren Gewehrleistungsinhalts gewonnen werden

können.

2. Die Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-funktionalen

Grundrechtstheorie

2.1. Ausgangspunkt

Die demokratisch–funktionale Grundrechtstheorie geht davon aus, dass Verhältnisse zwischen

dem Staat und dem Einzelnen nicht als Relationen der voneinander unabhängigen Subjekte

angesehen werden sollen, weil der Staat auf die Aktivität der Bürger verlassen ist. Diese

Annahme liegt der Auffassung der Grundrechte zugrunde, wonach sie vor allem als

konstituierende Faktoren des demokratischen Prozesses anzusehen sind. Die Grundrechte

werden in der Verfassung verankert, um diese Prozesse zu ermöglichen und zu sichern. Die

Funktion der Förderung der demokratischen Prozesse legitimiert die Grundrechte und

bestimmt ihren Inhalt.820

Die Grundrechte sind somit nicht nur Instrumente der

Einschränkung der staatlichen Gewalt, sondern auch wichtige Mechanismen der

Willensbildung des Staates und der politischen Aktivität der Einzelnen. Sie gewährleisten

nicht nur die Freiheit von dem Staat, sondern auch die Freiheit „zum“ Staat.

Daraus ergibt sich, dass der volle Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung der

Gewissensfreiheit in ihrer Regelungszusammenhang mit dem in Art. 2 Verf. normierten

Demokratieprinzip ermittelt und interpretiert werden soll. Die auf die Gewissensfreiheit

820

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 133.

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gestützte Verweigerung, eine allgemeine Rechtspflicht zu erfüllen, scheint jedoch auf den

ersten Blick mit dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar zu sein.

Insbesondere wenn die Demokratie eng d.h. lediglich prozedural verstanden wäre, würde die

demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie für die Gewissensfreiheit keine Stütze leisten;

die eventuelle Nichtgarantierung dieses Rechts gereicht doch der demokratischen

Entscheidungsbildung zu keinem Schaden. Die demokratische Ordnung könnte sogar als

Abgrenzungskriterium des Schutzgegenstands der Gewissensfreiheit angesehen werden, weil

sich das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen mit dem Mehrheitswillen

nicht zu vereinbaren lässt. Im Gegenteil seine Anerkennung würde auf Missachtung des

demokratischen Prozesses im Hinblick auf seine Resultate hinauslaufen.821

Im Sinne des

demokratischen Prinzips der Mitwirkung aller an den für alle verbindlichen Entscheidungen

wäre konsequent, jeden Einzelnen ohne Ausnahme diesen Entscheidungen zu unterwerfen.

Der demokratische Staat kann nicht erlauben, dass das Individuum, z.B. als Steuerverweigerer

aus Gewissensgründen, Ergebnisse des Willensbildungsprozesses teilhaft bestimmt, indem er

etwa die Höhe des Budgets für militärische Ausgaben beeinflusst. Aus diesem Grund werden

die Vorschläge, einen gesonderten Fund für friedliche Zwecke zu schafften, aus dem

Gesichtspunkt des Demokratieprinzips für nicht akzeptabel gehalten.822

Die These von der Unvereinbarkeit des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit dem

Demokratieprinzip beruht auf der engen Auffassung der Demokratie, wonach sie mit den

konkreten Mechanismen der politischen Willensbildung gleichgesetzt wird. Der Begriff der

Demokratie ist allerdings umstritten; sein Inhalt hängt von der Schwerpunktsetzung einzelner

Autoren auf einzelne Begriffselemente ab, er lässt sich aber auf seine prozedurale Dimension

nicht zurückführen. Für einige ist die Demokratie ein Synonym für Grund- und

Freiheitsrechte. Die Anderen akzentuieren die staatsorganisatorische Facette der Demokratie

und deshalb begreifen sie als eine Form des Staatssystems, in dem der Mehrheitswille als

Quelle der politischen Entscheidungen anerkannt ist. Noch Andere betonen den prozessualen

Aspekt der Demokratie und fassen sie als eine Funktionierungsmethode der Gesellschaft auf,

die mit bestimmten Entscheidungsverfahren gleichgesetzt wird. In diesem Zusammenhang

weist Banaszak zu Recht darauf hin, dass alle drei Elemente der Demokratie miteinander

821

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 197. 822

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 268f.

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untrennbar verknüpft sind und keiner von ihnen den Vorrang genießen soll. Das Fehlen eines

der genannten Elemente bedeutet, dass in dem Staat keine Demokratie vorhanden ist.823

Der Begriff der Demokratie ist somit vielschichtig; neben der prozeduralen Komponente

charakterisiert sich daher die Demokratie auch mit dem materiellen Moment. Die Demokratie

ist dabei kein Selbstzweck, sondern stellt eine Staatsform dar, die der optimalen

Verwirklichung der Menschenwürde dient. Da die Menschenwürde der höchste Wert der

Verfassung ist, bildet ihrer Schutz und Achtung das zentrale Kriterium und den letzten

Bezugspunkt demokratischer Ordnung. „Demokratie ist nicht nur eine Organisationsform der

Gewalt, sondern auch eine soziale Ordnung, die auf die Realisierung der ganzen

Persönlichkeit des Einzelnen ausgerichtet ist.“824

Die Ergebnisse der demokratischen

Verständigung (prozedurale Ebene) sind nur insofern legitim, als sie zur Verwirklichung

dieses Wertes beitragen (materielle Ebene der Demokratie).825

Neben der Quantität der

Verständigung fungiert auch die Qualität der Ergebnisse der Verständigung als Kriterium

demokratischer Ordnung. Die Beachtung des Pluralismus und unter Umständen sogar ihre

Förderung hat zum Endzweck und raison d‘etre das individuelle Gewissen und die

Verwirklichung der authentischen Freiheit des Einzelnen.826

Der freiheitlich demokratische

Staat bezieht seine Legitimation nicht nur aus dem demokratischen Prinzip der Mitwirkung,

sondern auch, wenn nicht primär, aus dem liberalen Prinzip der Gewährleistung und

Sicherung individueller Freiheit, „das das demokratische Prinzip relativiert und in seiner

Tragweite begrenzt.“827

Mit der Gewährleistung der Menschenwürde und der

Gewissensfreiheit hat sich der Staat für einen Staatstypus entschieden, „der von der Freiheit

des Bürgers ausgeht und auf seiner Gewissensentscheidung aufbaut.“828

Die Anerkennung des

Grundrechts der Gewissensfreiheit von dem Verfassungsgeber widerspricht somit dem

Grundsatz des Mehrheitswillens nicht; sie geht vielmehr mit der veränderten Einstellung zum

Rechtsgehorsam einher, der nicht mehr als unhintergehbar und absolut, sondern als relativ

und bedingt angesehen wird.

823

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 270, Rn. 209. 824

Das Urteil des argentinischen Corte Suprema in Rechtstreit „Portillo“, 312: 496 (1989), zitiert nach: F. Loñ,

A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 408. 825

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 133. 826

A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 40. 827

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 57. 828

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 16.

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Der Interpret, der sich an Maßstäben der demokratischen Ordnung orientiert, soll sich die

Vielschichtigkeit des Demokratiebegriffes vor Augen führen und diejenigen

Auslegungsvarianten der Grundrechte bevorzugen, welche die Entfaltung der einzelnen

Ebenen der Demokratie fördern, wie etwa: Pluralismus, Schutz der Minderheiten,

Stabilisierung der Demokratie durch Unterstützung des sozialen Diskurses und bürgerlicher

Partizipation oder die Freiheit zum Dissens.829

Bezogen auf das Grundrecht der

Gewissensfreiheit kann der Kontext der durch die Verfassung vorgegebenen freiheitlich-

demokratischen Staatsform für die Aufklärung seines Tatbestandsmerkmals, also des Begriffs

des Gewissens hilfreich sein. Nach diesem Ansatz tritt die Forderung, dass der

Grundrechtsträger auf zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikation offen ist, im

Vordergrund. Mit der Bereitschaft der Verantwortung vor dem Gemeinwesen verlässt das

Gewissen die Sphäre der „autistischen Verschlossenheit“830

des Subjektiven und wird

wiederum zu conscientia, d.h. zum auf den Anderen hin offenen Wissen. Damit aber die

Gewissensposition im zwischenmenschlichen Zusammenleben berücksichtigt werden kann,

muss sie rational mitteilbar sein. Aus diesem kommunikativen und gesellschaftsorientierten

Gewissensverständnis ergibt sich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit besonders

geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der demokratischen Ordnung zu

leisten. Im Folgenden werden seine Potentialitäten für die Stabilisierung der Demokratie im

Einzelnen behandelt.

2.2. Gewissensfreiheit als geistige Grundlage der demokratischen Ordnung

Die geistige Auseinandersetzung und die politische Willensbildung haben ihre Wurzeln in

Gewissensentscheidungen des Einzelnen. Deshalb gewinnt die Gewissensfreiheit über die

Sicherung des status negativus hinaus eine „konstitutive Funktion“831

für die demokratische

Ordnung. Der „innere Zusammenhang zwischen Demokratie und Gewissensfreiheit beruht

darauf, dass das freie Gewissen immer auch ein souveränes sein muss, mit der Folge, dass

Gewissensfreiheit als Grundrecht des status negativus immer die Tendenz hat, in ein aktives

Staatsbürgerrecht des status activus umzuschlagen. (…) So ist vor allen anderen

829

G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 412. 830

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 9. 831

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 16.

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Grundrechten das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen, nicht Grenze, sondern Grund

des Staates zu sein.“832

Das Gewissen und seine Freiheit liegen der Demokratie „sowohl historisch als auch dem

Sinne nach zugrunde, da die Demokratie zumindest tendenziell – auch in sittlicher Hinsicht –

auf Akzeptanz, Zustimmung und Mitwirkung ihrer Bürger angewiesen ist.“833

2.3. Legitimationsfördernde Funktion der Gewissensfreiheit in der Demokratie

Der demokratische Verfassungsstaat gewinnt seine Legitimation, indem die Gewissensfreiheit

von der Mehrheit als Grenze des Rechtszwangs anerkannt wird.834

„Ohne solche Freiheit kann

es die spezifisch rechtstaatlich–demokratische Legitimation des Gemeinwesens überhaupt

nicht geben.“835

Nogueira Alcala stellt in diesem Zusammenhang eine rhetorische Frage:

„Was würde dem Staat Legitimation verleihen, wenn er nicht dem Einzelnen erlauben würde,

sich selbst zu sein? Was für ein Recht würde der Staat gewährleisten, der den fundamentalen

Wesensgehalt der Persönlichkeit nicht garantiert? Wo sonst würde die

Weltanschauungsfreiheit, Religionsfreiheit, Unterrichtungsfreiheit sowie Meinungs- und

Informationsfreiheit ihren Ursprung finden?“836

Aus dem Blickwinkel der demokratischen Rechtsordnung liegt die wesentliche

Rechtsfertigung des Rechts nicht nur in seiner Ordnungsfunktion, sondern auch in seiner

Akzeptanz von den Normadressaten, d.h. in seiner Eignung, vor dem Gewissen aller oder

wenigstens der Mehrheit der Rechtsgenossen standzuhalten.837

Zu ihrer Legitimation bedürfen

jedoch Demokratie und Mehrheitsprinzip des Schutzmechanismus und Toleranz gegenüber

jenen, welche diese Akzeptanz aus Gewissensgründen nicht leisten können. Die Funktion

dieses Schutzinstruments wird durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit insbesondere in

denjenigen Fällen erfüllt, wo sich die Minderheit aus Gewissensgründen, d.h. aus Gründen

der Mitverantwortung einer Entscheidung der Mehrheit widersetzt. Ohne die der Demokratie

832

H. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 31 f. 833

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 92. 834

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230. 835

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 8. 836

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 12. Um die Bedeutung dieser Aussage im vollen und ganzen zu verstehen, ist zu berücksichtigen, dass der

zitierte Autor die Gewissensfreiheit über das forum internum hinaus als das Recht der Gewissensbetätigung

versteht. 837

R. Zippellius, Rechtsphilosophie, München 2007, S. 36.

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immanente Toleranz würde die auf dem Einverständnis der Beherrschten beruhende

Legitimität der Rechtsordnung in bloße Legalität übergehen. Die Anerkennung des

Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen ergibt sich somit begriffsnotwendig aus dem

Demokratiekonzept, wonach die regierende Mehrheit die Rechte der Minderheit zu achten

hat. Die kleinste Minderheit ist dabei das mit den Menschenrechten ausgestattete

Individuum.838

2.4. Förderung des Pluralismus durch Gewissensfreiheit

Weiterhin setzt die Demokratie das Vorhandensein des weit verstandenen Pluralismus voraus,

der sich auf alle für den Menschen wichtigen Lebensbereiche (z.B. Kultur, Kunst, Religion)

erstreckt. Dem Staat obliegt somit das Vorliegen vom Pluralismus nicht nur zu garantieren,

sondern auch seine Entwicklung zu unterstützen.839

Diese Aufgabe kann zum Teil durch die

Gewehrleistung des Grundrechts der Gewissensfreiheit wahrgenommen werden. Dies wird

dann erreicht, wenn die Gewissensfreiheit unabhängig von den Gewissensinhalten geschützt

wird. Wie bei der Meinungsfreiheit bedingt der Staat den Schutz der freien

Meinungsäußerung vom Inhalt der Äußerung nicht, soll er auch im Fall der Gewissensfreiheit

ähnlich vorgehen. Der Schutzgegenstand beider Grundrechte ist individuelle Autonomie, ohne

die der demokratische Pluralismus kaum möglich wäre.840

Die Bewahrung der pluralistischen Gesellschaft wird neben dem Schutz der Identität und

Selbstbestimmung des Einzelnen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ratio

legis der Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Entscheidung Kokkinakis v. Greece841

ausdrücklich anerkannt: „Die Gewissen-, Gedanken- und Religionsfreiheit ist eine der

Grundlagen der ‚demokratischen Gesellschaft‟ im Sinne der Konvention. Diese Freiheit in

ihrer religiösen Dimension ist eines der fundamentalen Elemente, welche die Identität der

Gläubigen und ihre Lebenskonzeption ausmachen. Sie ist aber auch ein hochgeschätzter Wert

für die Atheisten, Agnostiker und Nichtbetroffenen. Der mit der demokratischen Gesellschaft

untrennbar verbundene Pluralismus, der über die Jahrhunderte teuer gewonnen ist, hängt von

838

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 13. 839

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 279, Rn. 217. 840

A. Torres Gutierrez, La libertad de pensamiento, conciencia y religion (Art. 9 CEDH), in: J. Garcia Roca, P.

Santolaya, La Europa de los Derechos. El convenio Europeo de Derechos Humanos, Madrid 2005, S. 512; J.

Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: G. Sancho,

Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f. 841

App.No.14307/88, 17 EHRR S. 397.

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ihr ab.“ Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der zitierten

Entscheidung sowohl auf individuelle als auch auf soziale Rechtfertigung der

Glaubensfreiheit Bezug nimmt, scheint der Schwerpunkt auf den sozialen Aspekt gelegt zu

werden. Diese These findet ihre Bestätigung in der Behauptung, dass Gewissens- und

Glaubensfreiheit die Grundlage der demokratischen Gesellschaft darstellt, sowie in den hohen

Stellwert, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Pluralismus beimisst.842

Es ist nicht somit nicht zu verkennen, dass Art. 9 EMRK im Kontext der allgemeinen

Axiologie der Konvention zu betrachten ist, die nicht nur an die Gewehrleistung individueller

Rechte, sondern auch an Sicherstellung der demokratischen Gesellschaft orientiert ist.843

2.5. Die Gewissensfreiheit als das Recht auf Mitverantwortung für das Gemeinwesen

Die Funktion der Gewissensfreiheit ist zunächst, dem Einzelnen einen Bereich ethischer

Selbstbestimmung zu gewähren. Darüber hinaus schützt das Grundrecht die

Verantwortungsfähigkeit des Bürgers in einem demokratischen Gemeinwesen.844

Das Prinzip

der Verantwortung wirkt positiv durch die Beteiligung an der politischen Willensbildung und

negativ – durch die Möglichkeit, einen durch die Mehrheit hergestellten Gewissenszwang

abzuwehren. Indem das Gewissen von der Mehrheit als Grenze des Rechtszwanges anerkannt

wird, gewinnt die Demokratie Legitimität.845

Die Gewissensfreiheit ist somit eine „existenzielle Grundkonstituante“846

für die

demokratische Rechtsordnung. Dies lässt sich mit der Tatsache erklären, dass „wenn die

Mehrzahl der Staatsbürger unkritisch den herrschenden politischen Kräften vertraut, Gesetze

und Befehle ohne Rücksicht auf ihren Inhalt befolgt und nicht in der Lage ist, sich trotz der

Beeinflussung durch Massenkommunikationsmittel eine eigene Meinung zu bilden, läßt sie

sich nach Belieben manipulieren, wodurch jede Wahlen und Abstimmungen jede politische

Bedeutung verlieren. Somit steht und fällt eine Demokratie mit der Bereitschaft ihrer Bürger

auf Mitverantwortung. Daher gefährdet eine Demokratie, welche das Gewissen nicht schützt,

842

H. Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human Rights Survey,

1997, S. 34. 843

L. Garlicki, Konwencja o Ochronie Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Art. 9, S. 553, Rn. 6 844

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 42. 845

D. Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114,

1989, S. 17. 846

P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtssprechung, in: DÖV, 1984, S. 61.

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sich selbst.“847

Aus der demokratisch-funktionalen Perspektive hat die Gewissensfreiheit zum

Zweck, blinde Befolgung des Rechts ohne Rücksicht auf seinen Inhalt vorzubeugen. Sie ist

deshalb in erster Linie das Recht zur bürgerlichen Mitverantwortung und nicht das

Abwehrrecht von staatlichen Eingriffen. In diesem Sinne kann die Gewissensfreiheit als „ein

Testgrundrecht für den Zustand von Staat und Gesellschaft“848

bezeichnet werden.

Dass sich das so respektierte Gewissen tatsächlich von der Demokratie zur Verantwortung

nehmen lässt, ist eigentlich eine Hoffnung, die sich nicht immer erfüllt. Die Rechtsordnung

kann nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Einzelne die seinem Gewissen

entgegengebrachte Achtung mit Loyalität erwidert, kann dies aber nicht erzwingen oder zur

Voraussetzung der Gewährleistung der Gewissensfreiheit machen. „Ohne das Vertrauen in die

Bereitschaft der Bürger, den Staat zu tragen, ist Demokratie nicht möglich; ein Weg, solche

Bereitschaft zu erzeugen, ist die Achtung des Staates vor dem Gewissen.“849

Die Auffassung der Gewissensfreiheit als das Recht zur Mitverantwortung wurde in der

deutschen Literatur von Ekkehard Stein entwickelt. Zum Ausganspunkt dieser Theorie werden

psychologische Erkenntnisse (Psychoanalyse und Ganzheitspsychologie) zum Gewissen.

Danach gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gewissensbildung des Einzelnen und

seiner Fähigkeit der Hinwendung zum Anderen, der darin besteht, dass die Liebesbeziehung

des Kindes zu seinen Eltern in Übernahme und Verinnerlichung ihrer moralischen Werte

resultiert. Der in der Beziehung zu den Eltern beginnende Prozess „führt über die

Identifizierung mit einem geliebten Menschen hinaus zum Verantwortungsbewusstsein

gegenüber immer umfassenden Gruppen.“850

Das Verantwortungsbewusstsein erstreckt sich

im Laufe der moralischen (individuellen und kollektiven) Entwicklung auf immer breitere

Menschenkreise bis auf die ganze Menschheit und sogar auf andere Lebewesen. Die Tiefe

dieses Verantwortungsgefühls steht jedoch mit seiner Weite im umgekehrten Verhältnis.851

847

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 50. 848

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 436. 849

D. Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114,

1989, S. 17; D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 223. 850

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 44. 851

Ebenda, S. 44f.

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Aus dieser Erkenntnis folgt die Auffassung des Gewissens als „Folge der Hinwendung zum

Du“852

und als „Ausdruck der Bindung der Menschen an andere Menschen.“853

Diese

Auslegung führt ihrerseits zur Annahme des Beweggrundes einer Handlung zum

entscheidenden Kriterium dafür, ob sie durch das Gewissen bestimmt wird oder nicht: „Ein

Verhalten ist dann und nur dann vom Gewissen bestimmt, wenn es nicht durch ein Streben

nach persönlichem Vorteil, sondern durch das Bewusstsein der Verantwortung für die von

dem Verhalten betroffenen Personen oder Gruppen motiviert wird.“854

Dabei wird unter der

Verantwortung eine Haltung verstanden, wonach die Folgen einer Handlung für die

Betroffenen in gleicher Weise wie für sich selbst berücksichtigt werden.855

Der Bereich der

Gewissensfreiheit geht dabei nicht weiter als die Bezugsgruppe des

Verantwortungsbewusstseins.856

In seinem Konzept der Verantwortung legt Stein den Schwerpunkt auf die Identifizierung des

Einzelnen mit seiner Bezugsgruppe; die Abstandnahme des Individuums vom Gemeinwesen

steht dagegen im Hintergrund. Diese Voraussetzung hat zur Folge, dass Gewissensfreiheit in

erster Linie „keine Freiheit von“, sondern „die Freiheit zur Mitverantwortung“857

ist.

Gleichwohl steht dem Einzelnen das Recht zu, seine Mitwirkung an einer Handlung zu

verweigern und „sich insoweit aus der Allgemeinheit durch Passivität auszuschließen, um

nicht mitschuldig zu werden an einer Aktion, die er vor seinem Gewissen nicht verantworten

kann.“858

Um diesen distanzierenden Sinn der Gewissensfreiheit zu begründen, bedient sich Stein der

Formulierung „Verantwortung vor“. Adressat dieser Verantwortung ist danach ein Gewissen,

das er zuvor bloß als Verantwortungsbewusstsein „für“ bestimmt hat. In diesem

Zusammenhang hat Eckertz zu Recht bemerkt, dass eine Abstandnahme nur dann möglich ist,

wenn die Instanz vor der ein Subjekt verantwortlich ist, von derjenigen unterschieden wird,

852

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 34. 853

Ebenda, S. 43. 854

Ebenda, S. 45; Der egoistische Moment wird als „Entstellung“ der Figur der Verweigerung als

Gewissensgründen auch von López Guzmán angesehen: J. Lopéz Guzmán, Objeción de conciencia farmacéutica,

Barcelona 1997, S. 51. 855

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 45f. 856

Ebenda, S. 57. 857

Ebenda, S. 50f. 858

Ebenda, S. 59.

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für die er verantwortlich ist. Die beiden Aspekte der Verantwortung zu konfundieren, vermag

nicht die Freiheit des Einzelnen zu begründen.859

2.6. Die Stiftung des öffentlichen Diskurses im Bereich des Ethischen

Die Aufgabe des demokratischen Willensbildungsprozesses besteht in Artikulierung und

Bewältigung der innerhalb der Gesellschaft erscheinenden Spannungsverhältnisse und

Dissense. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem zur Geltung gebrachten Willen der

Mehrheit und den Anschauungen der Minderheiten lassen sich dabei in zwei Kategorien

einteilen, nämlich in die der distributiven und die der ethischen Dissense.860

Die distributiven

Dissense betreffen die Frage der Verteilung der durch das Gemeinwesen hergestellten Güter,

wobei der Begriff von Gütern weit aufgefasst wird und umfasst nicht nur Güter materieller

Art, sondern auch Handlungsspielräume, Bildungs- und Entfaltungschancen,

Partizipationsrechte u.a.m.. Die distributiven Dissense entstehen somit infolge der

widerstreitenden Interessen.

Bei den ethischen Dissensen handelt es sich dagegen nicht um widerstreitende Interessen,

sondern um widersprüchliche Erkenntnisse über das Gute und das Böse. Diese

Wahrheitsbehauptungen in Fragen des moralisch Richtigen sind nicht Resultat einer

politischen Übereinkunft; sie sind vielmehr für den einzelnen Menschen vorgegeben und von

ihrem Willen unabhängig. Das Problem der Gewissensfreiheit liegt gerade darin, dass die

Aufstellung objektiver Kriterien in Fragen der Moral bisher gescheitert ist. Gelänge es,

objektive Maßstäbe der Sittlichkeit zu finden, entfiele die Frage nach Vorrang der

Gemeinschaftsnorm oder Gewissensnorm; das Problem der Gewissensfreiheit würde sich

dann überhaupt nicht stellen. Es verbliebe nur individuelle und kollektive Anerkennung der

objektiven Wahrheit und die Regulierung abweichenden Verhaltens als kriminell oder

krankhaft.861

Die ethischen Dissense gehören dem Bereich der sozialen Faktizität. Sie treten hervor, wenn

eine Norm, deren Geltung in einer Gesellschaft bis dahin nicht bezweifelt wurde oder als eine

859

R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der

Staat, Nr. 25, S. 258f. 860

P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 372f. 861

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 27.

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„unumstößliche Selbstverständlichkeit“862

angesehen wurde, nun in Frage gestellt wird. Dies

geschieht z.B. durch die Konfrontation eines Kulturkreises mit den in einer anderen Kultur zu

verzeichnenden Verhaltensmustern. Dieser Erschütterung der in einem Kulturkreis

befindlichen Evidenzen folgt getreu das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Daraus ergibt sich,

dass die geschützten Gehalte der Gewissensfreiheit nicht feststehen. Der Schutz dieses

Grundrechts greift vielmehr immer dann ein, wo neue Wert- und Verhaltensmuster in

bewusste Konkurrenz mit alten Evidenzen treten und wo sie sich noch nicht in selbstständige

Freiheitsbereiche ausgegliedert haben.863

Die demokratische Ordnung charakterisiert sich daher mit Vorsicht und Skepsis „objektiven“

und absoluten Wahrheitsansprüchen gegenüber. Sie ist darauf angewiesen, alleine im Weg der

Meinungskonfrontationen vieler gleichberechtigter Diskurspartner plausible und

konsensfähige Problemlösungen zu suchen. Die Richtigkeit und die Legitimität der staatlichen

Ordnung beurteilt sich nach der Qualität der Verständigung, die alle Betroffenen in ihrer

Einzigartigkeit zum Zug kommen lässt.864

Die echte Konsensbildung geschieht von mehreren

verschiedenen Positionen aus. Sie darf sich nicht an Homogenität ausrichten und mit

Harmonie zufriedengeben, „sondern lebt in der Spannung vom Kompromiss und Konflikt.“865

Gerade durch die Einbeziehung und die Auseinandersetzung mit oppositionellen

Standpunkten gewinnt das Gemeinwesen die größte Stabilität.866

Die Gewissensfreiheit bildet

dabei ein Institut, das aus der Perspektive von moralischen Einzelstandpunkten das

demokratische Infragestellen des Mehrheitswillens sichert und fördert. Diese Infragestellung

bietet die Angelegenheit, nach besseren Rechtslösungen und Politiken zu suchen. Auftretende

Gewissenskonflikte sind Indikatoren dafür, dass bestimmte Normen mit Zustimmung oder

zumindest Duldung eines Teils der Gesellschaft nicht rechnen können. Dieser Umstand muss

in dem Gemeinwesen Kräfte freisetzen, in dem Diskurs mit denjenigen, deren Gewissen mit

der geltenden Ordnung kollidiert, über alternative Rechtslösungen und Politiken

nachzudenken.

Da sich das Gewissen des Einzelnen unter Umständen im sehr hohen Ausmaß gegen den

Mehrheitswillen stellen kann, stellt die Diskussion über moralische Fragen sehr hohe

862

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 35. 863

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 35; A. Podlech, Das

Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.26. 864

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 121. 865

Ebenda, S. 127. 866

Ebenda, S. 144.

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217

Qualitätsanforderungen an den praktischen Diskurs. Sie verlangt von den Diskursteilnehmern

nicht nur Offenheit für irgendwelche andere Positionen, sondern auch Bereitschaft, die

herrschende Rechtsordnung auch in grundlegenden Punkten in Frage zu stellen. Mit der

Sicherung der Möglichkeit der Diskussion über Gewissensfragen zeigt die Staatsordnung

deshalb ein hohes Maß an Mut und demokratischer Reife.867

Es können dabei verschiedene Ebenen des Dialoges unterschieden werden: Zuerst kann das

Gewissensphänomen selbst als Forum eines Dialoges oder Auseinandersetzung beschrieben

werden. Auch der Prozess der Gewissensbildung vollzieht sich in der dialogischen Umwelt

der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Offenheit des Einzelnen auf den Diskurs kann

jedoch im Zeitpunkt der Erlangung zu einer Gewissensentscheidung oder der

Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit wegen geringer oder sogar keiner

Kompromissbereitschaft der Gewissensentscheidung des Betroffenen zu Ende kommen.

Auf der Ebene der Rechtsanwendung ändert sich daher die Situation des Einzelnen und das

Dialogthema. Zur moralischen Richtigkeit eines Verhaltens als Dialoggegenstand tritt die

Frage der Zumutbarkeit vom Zwang. „Der einzelne tritt unter diesen Bedingungen nicht

freiwillig in einen Dialog ein, er wird in der Regel nicht die Erwartung haben, inhaltlich zu

überzeugen, und geringe Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen. Der Staat kann ihm aber

dennoch ermöglichen und zumuten, sich gegenüber der Rechtsordnung (noch einmal) zu

erklären und sich den Standpunkt der Rechtsordnung erklären zu lassen.“868

Der Staat kann

den Einzelnen zur Äußerung seiner Position zwar nicht zwingen, er eröffnet aber den

Schutzbereich der Gewissensfreiheit nur dann, wenn der Einzelne seine Überzeugung mit

relativer Schlüssigkeit und Plausibilität darlegt. Die Anerkennung der Verweigerung aus

Gewissensgründen setzt somit ein Mindestmaß an Kommunikation voraus.869

Der ungestörte Diskurs setzt aber voraus, dass die Dissidenten aus Gewissensgründen von der

verweigerten allgemein geltenden Rechtspflicht dispensiert werden. Der Einzelne, der sich

auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit beruft, handelt nicht nur im privaten, sondern vor

allem im öffentlichen Interesse, wenn er für seinen gewissensmäßigen Standpunkt politische

Mehrheiten zu überzeugen versucht und zugleich seine Überzeugung im öffentlichen Diskurs

867

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 151. 868

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 290. 869

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 8f., in: VVDStRL, Bd. 28.

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218

der Kritik und Überprüfung aussetzt. Die Inanspruchnahme des Grundrechts der

Gewissensfreiheit wird deshalb als Ausübung eines „öffentlichen Amtes“870

angesehen. Um

die Freistellung von allgemeinen Pflichten mit dem Demokratieprinzip vereinbaren zu

können, wird von dem Verweigerer „ein öffentliches, Zivilcourage erforderndes

Engagement“871

als eine „Gegenleistung“ verlangt; die Freistellung von der Erfüllung einer

Rechtspflicht verdient nur derjenige, der mit allen legalen Mitteln zur Veränderung der

Mehrheiten zwecks Verwirklichung seiner Gewissensüberzeugung anstrebt.872

„Wer sich

weigert, den Dialog zu führen, kann auch nicht den Dispens von allgemein auferlegten

Pflichten in Anspruch nehmen.“873

Dies bedeutet z. B. für den Fall der

Kriegsdienstverweigerung, dass von dem Antragsteller ein Engagement gegen Rüstung und

Militarismus als Indiz für das Vorliegen einer entsprechenden Gewissensentscheidung

gefordert werden soll. Von einem Verweigerer der Mitwirkung an der Abtreibung könnte

nach diesem Ansatz erwartet werden, dass er sich für den Schutz des ungeborenen Lebens

öffentlich einsetzt.

Durch Auferlegung solcher Voraussetzungen der Grundrechtsausübung wird ein

Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen dem Staat und Bürgern hergestellt; die Wirksamkeit der

Grundrechtsausübung wird von Erbringung einer „Leistung“ seitens des Berechtigten

abhängig gemacht. Damit wird allerdings verkannt, dass Grundrechte einen unbedingten

Charakter haben. Durch die Verbindung ihrer Inanspruchnahme mit der Forderung vom

Einzelnen einer „Gegenleistung“ wird die Natur der Grundrechte als angeborene und

unveräußerliche Freiheitsbereiche entstellt. Aus diesem Grund kann dieser Forderung nicht

gefolgt werden.

Die Bejahung des Beitrages der Gewissensfreiheit zur Förderung des politischen Diskurses

setzt ihre Einstufung als ein Kommunikationsgrundrecht voraus. Danach gewährleistet die

Gewissensfreiheit, die Selbstbeurteilung im Gewissen frei zu führen und die daraus

resultierenden Gewissensentscheidungen zu verbreiten, sowie danach zu leben. Im Kontext

der demokratischen Entscheidungsfindung ist der Schutz der Gewissensbetätigung besonders

relevant. Durch die Möglichkeit, gewissensgemäße Positionen zu äußern, zu verbreiten und

nach ihnen zu leben, werden sie auch für die rechtliche und politische Diskussion zugänglich.

870

P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 391. 871

Ebenda, S. 393. 872

Ebenda, S. 391, 393. 873

Ebenda, S. 393.

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219

Jedem Einzelnen steht dabei das Recht zu, seine moralischen Überzeugungen gezielt in die

rechtliche und politische Diskussion einzubringen.874

Der Verweigerer aus Gewissensgründen

beteiligt sich am demokratischen Prozess, indem er die ethischen Dissense in der Gesellschaft

offenlegt und den öffentlichen Diskurs stiftet.875

Er optiert für die Demokratie, wenn er seine

Position öffentlich macht. Er lädt damit seine Mitbürger zu dem politischen Diskurs über

Gerechtigkeit und zur eventuellen Rechtsänderung ein, welche die Mehrheit akzeptieren

kann.876

Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass die Gewissensfreiheit das Potenzial aufweist,

„dem Mehrheitswillen und damit dem demokratischen Gemeinwesen vitale Impulse für seine

Weiterentwicklung zu geben. Die Auseinandersetzung mit Gewissensfragen kann nämlich die

Gewissensaktivität Anderer anregen und zur allgemeinen Reflexion den Ansporn geben.

Bestehende Regeln können dadurch hinterfragt werden und ihr Entwicklungsbedarf kann

erkannt werden.877

Die aus den Gewissensentscheidungen der Einzelnen hervorgehenden

Impulse für die Weiterentwicklung des Gemeinwesens erlauben der Rechtsordnung, sich

ständig an die sich ändernde Umwelt anzupassen. Dadurch leistet die Gewissensfreiheit einen

Beitrag zur Stabilität des Systems im Ganzen.878

Dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit ein taugliches Instrument zur öffentlichen Debatte

werden kann, welche zu einer Rechtsänderung führt, zeigt der Fall der Verweigerung der

Hunderten von der Medizin- und Biologiestudierenden in Deutschland, an den für den

Studienabschluss erforderlichen Experimenten an Tieren teilzunehmen. Obwohl fast alle

Versuche der Studierenden, die Freistellung von den gewissenswidrigen Übungen gerichtlich

zu erlangen, gescheitert haben, haben einige Universitäten – nicht zuletzt wegen der immer

zahlreicheren Proteste der Studenten und zunehmenden Drucks seitens der Öffentlichkeit –

die Experimente an lebenden Tieren durch andere Methoden teilweise ersetzt. Die

Auseinandersetzungen mit diesem Thema haben zu einem Angebot der tierversuchsfreien

Praktika, zu einem Rückgang des Verbrauchs von tierischen Organpräparaten und zur

874

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 149. 875

G. Quinn, Conscientious objection in labour relations (civil service and liberal professions), in: Council of

Europe, Freedom of conscience, 1993, S. 109, 120. 876

K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el

Perú, Lima 2000, S. 26. 877

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz Zürich 2008, S. 151. 878

Ebenda, S. 154.

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220

Einführung alternativer Lernmethoden (Computersimulationen, Filme, Arbeiten an Kadavern)

geführt.879

Die weitgehenden Konsequenzen der Auffassung der Gewissensfreiheit als Instrument der

politischen Willensbildung lassen sich auch am Beispiel der Wehrdienstverweigerung

veranschaulichen. Stein erwägt in diesem Zusammenhang ein hypothetisches Problem der

radikalen Abnahme der Verteidigungsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft und fragt, ob

eine solche Befürchtung die Beschränkung der Gewissensfreiheit zu rechtfertigen vermag.

Dabei weist er auf die Tatsache hin, dass die Herabsetzung der Verteidigungsbereitschaft von

der Mehrzahl der Verweigerer bewusst in Kauf genommen wird; die Wehrdienstverweigerer

sehen gerade in einer Abrüstung die einzige Möglichkeit zum Abbau der Gefahr eines die

ganze Menschheit auslöschenden Atomkriegs. „Um zu erreichen, dass endgültig mit der

Abrüstung ernst gemacht wird, soll durch die Wehrdienstverweigerung der Staat zur

einseitigen Abrüstung gezwungen werden.“880

Dieses politische Konzept darf aber in der

Demokratie nicht nur toleriert werden, solange es keine Chance hat, sich durchzusetzen. Die

Chance der Minderheit unter Beachtung der demokratischen Spielregeln zur Mehrheit zu

werden, ist nicht als eine Gefahr zu bekämpfen. Sie ist vielmehr als integraler, konstitutiver

Bestandteil demokratischer Staatsform verfassungsrechtlich abgesichert.881

Der Staat ist dem

Recht unterworfen und verpflichtet, das geltende Recht anzuwenden. „Dem Staat wohnt keine

Legitimation inne, die Rechtsordnung zu bewahren, indem er selbst diese Ordnung verletzt.

Ein solches Verhalten würde zu contradictio in terminis. Dies ist bestimmt das Risiko und der

Preis der Demokratie, ein anderes Verfahren ist durch das Verfassungsrecht allerdings nicht

vorgesehen.“882

2.7. Gewissensfreiheit als Katalysator des moralischen Vorschritts des Gemeinwesens

Zum Ausgangspunkt wird hier die Annahme, dass die Gewissensfreiheit dem zivilen

Ungehorsam ähnelt, weil die Individuen, die sich auf diese Rechtsfiguren berufen, eine

Rechtsänderung abzielen. Der Unterschied zwischen beiden Konstellationen liegt nur in den

879

K. Brandhuber, Kein Gewissen an deutschen Hochschulen?, in: NJW, 1990, S. 726; F. Filmer, Das Gewissen

als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 295. 880

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 63. 881

Ebenda, S. 63; E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista

de la Facultad de Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S. 100. 882

I. Elósegui, La objeción de conciencia en un estado democrático de derecho y una sociedad plural: el

principio de igualdad en el acceso a la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública,

Madrid 2007, S. 201.

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221

Handlungsweisen der Einzelnen. Auch der Verweigerer setzt sich für die öffentliche Freiheit

ein, obwohl er individuell handelt und sein Handeln auf der individuellen Freiheit fußt. Die

Verweigerung aus Gewissensgründen soll gerade als eine individuelle Haltung verstanden

werden, welche danach strebt, eine Lösung für eine sozial relevante Angelegenheit

bereitzustellen. Wie im Ansatz Steins überschreitet die Verweigerung aus Gewissensgründen

das individuelle Interesse und plädiert für eine Transformation der sozialen Werte. Sie ist ein

Ausdruck des Engagements des Einzelnen in die Belange des Gemeinwesens. Gerade dieser

letzte Aspekt rechtfertigt die Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen als ein

Grundrecht.883

Wenn dagegen der Verweigerer durch seine Tätigkeit keine gemeinsamen

Interessen verteidigen will, verliert die Anerkennung dieser Rechtsfigur ihren politischen Sinn

und moralische Rechtsfertigung; die individuelle Freiheit soll nämlich von dem Gemeinwohl

und den demokratischen Grundsätzen niemals getrennt werden.884

Die Integrierung des Verweigerers in das Gemeinwesen und die enge Verknüpfung der

Gewissensfreiheit mit dem Demokratieprinzip führt zur Begrenzung der anerkennungsfähigen

Verweigerungsgründe auf die universellen moralischen Grundsätze. Sie sollen dabei

keinesfalls als Mittel zum persönlichen Nutzen gebraucht werden.885

Darüber hinaus können

nur diejenigen Rechtsnormen ablehnet werden, die gegen die moralischen Grundsätze des

Gemeinwesens verstoßen oder die nicht mehr gültigen (obsoleten) Werte zu verwirklichen

versuchen. Das Beispiel für eine solche anerkennungsfähige Verweigerungsmodalität istt das

Recht auf Wehrdienstverweigerung an; Kriegsdienstverweigerer lehnen nämlich den

Kriegsdienst als eine Form des Patriotismus ab und wollen ihn durch friedliche Formen der

Zusammenarbeit für die Entwicklung seines Landes ersetzen. Da Patriotismus ein durch das

Gemeinwesen hochgeschätzter Wert ist, soll die auf ihn basierte Verweigerung durch

zuständige Behörden anerkannt werden.886

883

K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el

Perú, Lima 2000, S. 83. 884

Ebenda, S. 29. 885

K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el

Perú, Lima 2000, S. 18. Nach gegenteiliger Auffassung hat die Verweigerung aus Gewissensgründen den

individualistischen und unsolidarischen Charakter. Daraus wird geschlossen, dass sich der Versuch, durch die

Verweigerung politische Änderungen herbeizuführen, mit dieser Rechtsfigur nicht vereinbart lässtt.. Siehe dazu:

A. Martínez Blanco, Derecho eclésiastico del Estado, Band 2, Madrid 1993, S. 126, die Anmerkung in der

Fussnote. 886

K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el

Perú, Lima 2000, S. 48.

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222

Die Gewissensfreiheit verleiht somit dem Einzelnen nicht nur ein Refugium staatsfreier

Innerlichkeit, sondern auch sichert die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens. Sie

ergänzt den institutionalisierten Prozess demokratischer Willensbildung durch den freien

öffentlichen Diskurs über ethische Grundlagen der Politik und thematisiert moralische Fragen,

die in der politischen Domain zu kurz gekommen sind. Bereits der innerliche Diskurs im

Gewissen des Einzelnen kann als Teil des moralischen Diskurses begriffen werden, der

seinerseits den politischen Diskurs in dem Sinne ergänzt, dass er „auf Fehlentwicklungen und

moralische Defizite im Recht sowie nicht verarbeitete Spannungen im politischen System

aufmerksam macht.“887

Die Verweigerung aus Gewissensgründen, wenn auch sie exzentrisch

für die Mehrheit erscheinen mag, stellt „eine Injektion der Moral in das demokratische

System dar und trägt dazu bei, dass sich die Gesellschaft im größeren Maße an Gewissen und

nicht nur an Maßstäben der Nützlichkeit richtet.“888

Durch eindringliches Einbringen der

Gewissenspositionen in die demokratische Willensbildung können die Einzelnen bewirken,

dass neben der oberflächlichen Tagespolitik eine grundsätzliche Diskussion im Bereich

„moralischen Nährbodens der Gesellschaft“889

geführt wird, auf dem letztlich die gesamte

Rechtsordnung fußt. Das Gewissen erfüllt im demokratischen Staat die Rolle der „Warnung

vor jeder Willkür, jeder Eigengesetzlichkeit des Rechts, vor jedem überspitzten Formalismus

des Gesetzes, jeder Unmenschlichkeit im Namen des Gesetzesbefehls“890

2.8. Die Würdigung der demokratisch-funktionalen Auslegungstheorie der

Gewissensfreiheit

Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass eine der wichtigsten Potenzialitäten der

Demokratie ihre Fähigkeit ist, das friedliche Zusammenleben in einer multikulturellen

Gesellschaft zu ermöglichen. Der demokratische Staat stützt sich aber nicht nur auf dem

Mehrheitskonsens; er muss auch imstande sein, bestimmte, aus dem Gewissen des Einzelnen

fließende Formen des Dissenses zu integrieren und anzuerkennen. In diesem Prozess erfüllt

das Grundrecht der Gewissensfreiheit die Rolle eines Mechanismus, mit dessen Hilfe

Konflikte zwischen der Mehrheit und Minderheiten im Rahmen der demokratischen Ordnung

887

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 152; siehe auch: D. Franke,

Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114, 1989, S. 18; D.

Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230. 888

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 259. 889

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 152. 890

Ebenda, S. 152.

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223

abgebaut werden können.891

Die Achtung der Gewissensfreiheit stellt dabei eine der

wichtigsten Einschränkung der politischen Gewalt dar.

Im Unterschied zu anderen Grundrechten, welche die persönliche Interessen und Vorteile des

Einzelnen zum Schutzgegenstand haben, schützt die Gewissensfreiheit nach dem

demokratisch-funktionalen Ansatz vor allem die Orientierung des Individuums an Werten, am

Wohl der Mitmenschen und am öffentlichen Interesse. Der Schwerpunkt wird nicht auf das

gewissensgemäße Handeln, sondern auf dessen Wirkungen im Bereich der politischen

Willensbildung gesetzt.892

Die Gewissensfreiheit wird damit auf seinen kommunikativen

Aspekt reduziert. Das Streben des Einzelnen nach moralischer Selbstbestimmung und

Selbstverantwortung des eigenen Handelns wird durch das Streben nach gesellschaftlicher

Mitverantwortung und Mitbestimmung ersetzt. Der Schutz des Einzelnen von

Gewissenskonflikten sowie Bewahrung seiner Identität wird dagegen in den Hintergrund

gestellt. Der grundrechtliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit und ihre abwehrrechtliche

Funktion sind nach diesem Ansatz daher weitgehend verkannt.893

Der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie muss noch entgegengehalten werden, dass

das Gewissen als „Mitwissen“ um „Gut“ und „Böse“ schon für sich schutzbedürftig und

schützenswert ist, nicht erst dann, als die Gewissensentscheidung die Form der diskursiven

Aktion annimmt.894

Es ist nämlich nicht ersichtlich, warum eine ausschließlich um der Ruhe

des eigenen Gewissens willen getroffene Gewissensentscheidung in den Schutzbereich des

Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht fallen sollte. Sie sollte vielmehr zumindest solange

geschützt werden, als dadurch andere Interessensphären nicht nachteilig berührt werden.895

Die demokratisch- funktionale Grundrechtstheorie erweist sich daher für die Abgrenzung des

Schutzbereichs der Gewissensfreiheit als unzulänglich.

Damit wird allerdings nicht gesagt, dass die Fokussierung des Grundrechtsschutzes der

Gewissensfreiheit auf die moralische Selbstbestimmung des Einzelnen und Bewahrung seiner

891

A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 40. 892

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 156. 893

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 195. 894

H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der

Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf

(20.08.2010) 895

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, T. Stein, Berlin 1989, S. 492, Fußnote 80.

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224

Identität die politische Komponente der Gewissensbetätigung ausschließen soll. Das

menschliche Gewissen lässt sich doch in „eine beziehungslose Privatheit und

Selbstbezogenheit“896

nicht verbannen; eine Verweigerung aus Gewissensgründen, welche

auch politische Zielsetzung hat, fällt aus diesem Grund aus dem grundrechtlichen

Schutzbereich nicht heraus. Die Verbindung der Gewissensbetätigung mit politischem

Engagement entstellt ihre Natur nicht. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit auf politische

Prozesse und ihre fördernde Funktion für die Aufrechterhaltung des demokratischen Systems

ist allerdings als eine für das Gemeinwesen günstige Nebenfolge ihrer Inanspruchnahme und

nicht als ihre Voraussetzung zu betrachten.

Eine andere Folge der Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-

funktionalen Grundrechtstheorie ist ihre Klassifizierung als Kommunikationsgrundrecht.

Daraus ergibt sich das Erfordernis, dass das sich auf die Gewissensfreiheit berufendes

Individuum seinen moralischen Standpunkt rational begründet. Diese Forderung ist

weitgehender als Voraussetzung formaler Widerspruchsfreiheit, deren Zweck in der negativen

Begriffsbestimmung der Gewissensentscheidung besteht, indem aus ihrer Definition

unlogische Gedankenführungen oder bloß gefühlsmäßige Haltungen ausgeschlossen werden.

Schließlich verlangt die demokratisch – funktionale Auffassung der Gewissensfreiheit, dass

sich der Dissident auf Handlungsnormen beruft, von denen er zugleich wollen muss, dass sie

ein allgemeines Gesetz werden. Für die Inanspruchnahme des grundrechtlichen Schutzes

genügt nicht, dass der Einzelne eine von der beanstandeten Rechtsnorm abweichende sittliche

Norm subjektiv für unbedingt verbindlich hält und sich von dem Konflikt mit

Andersdenkenden dadurch entzieht, dass er zu ihrem Verhalten standpunktlos bleibt. Es wird

vielmehr darauf abgestellt, dass das Gewissen conscientia, d.h. ein gemeinsames, mitteilbares

Wissen vom Guten und Bösen ist. Die Gewissensfreiheit berechtigt zur autistischen

Verschlossenheit nicht. Die Verweigerung aus Gewissensgründen weist somit eine „doppelte

Valenz“ auf: zum einen bedeutet sie die Ablehnung einer konkreten Norm bei gleichzeitiger

Ausübung eines Glaubens oder Weltanschauung (negative Valenz). Zum anderen beinhaltet

sie einen Vorschlag, andere, alternative Werte auf der gesellschaftlichen Ebene zu

verwirklichen (positive Valenz), was einen Beitrag zur Verbesserung der Rechtsordnung

darstellt.897

896

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 162. 897

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 40.

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225

Wie oben bereits erwähnt wurde, ist die Annahme dieser positiven Valenz der

Gewissensfreiheit nicht unproblematisch. Nach der demokratisch-funktionalen

Grundrechtstheorie werden die Grundrechtsbetätigungen nach Maßgabe bewertet, inwieweit

sie zur Verwirklichung und Konsolidierung der demokratischen Ordnung beitragen.898

Damit

wird jedoch verkennt, dass inhaltliche Bewertung des grundrechtlich geschützten Verhaltens

dem Staat grundsätzlich verwehrt ist. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist allerdings das

Abwehrrecht, bei dem sich vor allem um Aus- und Abgrenzung der Kompetenzbereiche der

Einzelnen/Gesellschaft und des Staates handelt. Das Konzept der Grundrechte als (vor allem)

Abwehrrechte setzt das Verständnis der Freiheit als Freiheit schlechthin und nicht als Freiheit

zu bestimmten Zielen oder zur Verwirklichung bestimmter Werte voraus. Ob, aus welchen

Gründen, und zu welchen Zwecken der Einzelne von seiner Freiheit Gebrauch macht, muss –

im Rahmen der allgemein festgelegten Verträglichkeitsgrenzen der Freiheit – ihm überlassen

werden. Diese Entscheidungen sind der rechtlichen Bewertung entzogen. Dabei wird nicht

verkannt, dass die Gewissensfreiheit (wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit) für die

Demokratie von schlechthin konstituierender Bedeutung ist. Diese Funktion kann aber nicht

zum Ausgangspunkt deren Inhaltsbestimmung und Festlegung ihrer Grenzen werden. „Die

freiheitliche Demokratie ist darauf angelegt, sich aus Freiheit und Freiwilligkeit ihrer Bürger,

d.h. der Spontaneität ihres täglichen Plebiszits zu konstituieren und dass eben deshalb die

staatliche Rechtsordnung nicht mehr tun kann und darf, als die Chance für das

Zustandekommen dieses Plebiszits offenzuhalten.“899

Die demokratisch-funktionale Auffassung der Grundrechte steht somit im Widerspruch zu

dem in der Verfassung verankerten freiheitlichen Verständnis der Grundrechte, wonach sich

die Gewährleistungen der Freiheit nicht auf „wertvolle“ (unter dem Gesichtspunkt der

Demokratie) Freiheitsbetätigung beschränken. „Die verfassungsrechtlich geschützten

Rechtsgüter sind nur Schranken der Freiheit, nicht positivrechtlich verpflichtende

Anleitungen für Betätigung der Freiheit.“900

Darüber hinaus muss der Demokratie zugrunde

liegende politische (bürgerliche) Freiheit nicht unbedingt mit der individuellen Freiheit im

898

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 249; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. H. Papier, Handbuch

der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 624; F.

Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 899

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie.

Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 121. 900

Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der

Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 218.

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226

Privatbereich einhergehen.901

Damit die individuelle Freiheit geschützt wird, müssen in dem

Staat andere, der Demokratie nicht inhärente Schutzmechanismen geschaffen werden.902

2.9. Skeptische Meinungen gegenüber demokratisch-funktionalen Auslegung der

Gewissensfreiheit

Wenn der Gewissensfreiheit eine Funktion der Förderung des öffentlichen

Kommunikationsprozesses zugeschrieben wird und sie als Instrument der Infragestellung von

Mehrheitsentscheidungen angesehen wird, ist ihre eigenständige Funktion nicht ersichtlich,

d.h. es steht nicht fest, was das Grundrecht der Gewissensfreiheit neben anderen

Grundrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit für den demokratischen Prozess

leisten kann. Der Zusammenhang zwischen der Gewissensfreiheit und dem Grundsatz der

Volkssouveränität ist auch deswegen fragwürdig, dass der Grundrechtsschutz in den

modernen Verfassungen nicht auf Mitglieder des Staatsvolkes beschränkt, sondern für jeden

Einzelnen unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit eröffnet ist. Darüber hinaus lässt sich

die Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen im Einzelfall mit Hinweis auf kollidierende

Gewissensentscheidungen nicht durchbrechen, ohne dass der Grundsatz der formalen

Bürgergleichheit ausgehöhlt wird.903

Der Zusammenhang zwischen dem Grundrecht der Gewissensfreiheit und der Demokratie

kann auch damit bestritten werden, dass es sich aus der historischen Perspektive kein

Parallelismus zwischen der Anerkennung von Gewissensfreiheit und der Entwicklung der

Demokratie nachweisen lässt. Es ist nämlich nicht möglich, die Gewissensfreiheit einer

konkreten Staatsform zuzuordnen. Das Modell des auf dem ethischen Minimum beruhenden

Staates, der die Gewissensfreiheit schützt, schließt zwar die demokratische

Entscheidungsbildung nicht aus, es fordert sie aber nicht. Das demokratische System schafft

wegen des ihm immanenten Pluralismus günstige Voraussetzungen für den Schutz der

Gewissensfreiheit, es ist allerdings für diesen Schutz nicht unerlässlich. Auch der Einzelne

betrachtet seine moralischen Überzeugungen nicht als Gegenstand demokratischer Debatte,

901

Z. Stawrowski, Moralność i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002,

S. 176. 902

M. Kumiński, Wolnść i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002, S.

60. 903

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 169.

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227

sondern als einen Normenkomplex, der ihm gegeben und aufgegeben ist.904

Im Hinblick auf

den Zweck vom Grundrecht der Gewissensfreiheit, der darin besteht, zur Menschenwürde und

Freiheit des Einzelnen beizutragen, ist irrelevant, ob die Demokratie dieses Grundrechts

bedarf, um die Mitarbeit der Mehrheit der Bürger zu sichern. Außerdem ergibt sich aus der

dargestellten Analyse der fördernden Rolle der Gewissensfreiheit hinsichtlich der

demokratischen Prozesse das Bestreben, diese Funktionen der Gewissensfreiheit in ihre

primäre Zwecke umzudeuten. Von dem Verständnis der Gewissenfreiheit als Freiheit zur

Mitverantwortung besteht lediglich ein Schritt, das Grundrecht „in eine Grundpflicht

umzupolen.“905

2.10. Schlussfolgerung

Die Hervorhebung durch die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie der positiven

Auswirkungen der Ausübung der Gewissensfreiheit auf die Gestalt und Funktionieren der

Demokratie macht diese Theorie für die Auslegung des Grundrechts hilfsreich und

berücksichtigungswert. Durch ihre Einbeziehung wird die Interpretation der Gewissensfreiheit

um die soziale Dimension bereichert. In dieser Hinsicht entspricht sie dem Verfassungsbild

des Einzelnen als das in die Gesellschaft eingebundene Subjekt. Wegen der

Funktionalisierung der menschlichen Freiheit im Dienste der Interessen des Gemeinwesens

entspricht sie jedoch dem Verfassungsbild des Individuums und seinem Verhältnis zum Staat

nur zum Teil. Wegen der Einseitigkeit der Perspektive genügt die demokratisch-funktionale

Grundrechtstheorie nicht, um das Phänomen des Gewissens zu beschreiben und den

Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu bestimmen. Sie bedarf somit der Ergänzung durch

andere Grundrechtstheorien, vornämlich durch die liberale, welche dem verfassungsrechtlich

garantierten freiheitlich – individualistischen Status des Einzelnen Rechnung trägt.

904

Z. Stawrowski, Moralność i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002,

S. 176. 905

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 148.

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228

3. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach der liberalen

Grundrechtstheorie

Die liberale Grundrechtstheorie geht von der Betrachtung des Individuums als Träger der

grundsätzlich unbeschränkten Freiheit aus. Die individuelle Freiheit stellt dabei einen Wert an

sich und nicht im Hinblick auf die Erreichung eines bestimmten Zieles dar.906

Die

Befürworter der liberalen Grundrechtstheorie postulieren die möglichst maximale

Ausdehnung der persönlichen Autonomie, die grundsätzlich die kollektiven Interessen

überwiegen soll.907

Die Grundrechte dienen danch dem Zweck, „die Freiheitssphäre des

Einzelnen von den Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen; sie sind Abwehrrechte des

Bürgers gegen den Staat.“908

Sie garantieren „wichtige Bereiche der individuellen und

gesellschaftlichen Freiheit, die nach der geschichtlichen Erfahrung der Bedrohung durch die

Staatsmacht besonders ausgesetzt sind.“909

Der Staat hat dabei keine Pflicht, reale

Möglichkeiten der Inanspruchnahme der Grundrechte zu schaffen.910

In Bezug auf die polnische Verfassung wird vertreten, dass das dort niedergeschriebene

Konzept der Grundrechte grundsätzlich auf der liberalen Theorie zur Position des Einzelnen

dem Staat gegenüber basiert. Die Grundintention der Verfassung ist nämlich die Verbürgung

der klassischen Freiheitsrechte und damit des verstärkten Schutzes der menschlichen Freiheit

als Reaktion auf die Freiheitsverletzungen in der Zeit der Volksrepublik Polen.911

Die

Aussage der Verfassung, dass die Rechte und Freiheiten des Einzelnen ihre Quelle in der

Menschenwürde haben, weist auf ihren vorstaatlichen Charakter hin. Das liberale

Menschenbild findet seine Bestätigung gerade in dem Schutz der Menschenwürde, der das

Recht auf Selbstbestimmung (auch im ethischen Sinne) und Selbstverantwortung des

Einzelnen immanent ist. Darüber hinaus bestimmt Art. 31 Abs. 1 und 2 Verf., dass die

Freiheit des Einzelnen besonderen Schutz der Verfassung genießt. In dieser Vorschrift wird

906

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 194; E. W.

Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie, Studie zur

Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1974, S.120; F. Filmer, Das Gewissen als

Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 907

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 194. 908

BverfGE 7, 198 (204). 909

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 119. 910

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 49. 911

P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia

1997r., in: Prawo Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 211.

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229

der grundlegende Wert der menschlichen Freiheit zum Ausdruck gebracht. Die

Einschränkung der Freiheitsrechte ist konsequenterweise nur begrenzt möglich und zwar

soweit, wenn sie ausdrücklich zugelassen ist. Infolgedessen, um dem Grundsatz der Einheit

der Verfassung gerecht zu werden, sind die einzelnen Grundrechte als Instrumente

auszulegen, welche vor allem der Maximierung der Freiheit des Individuums dienen.

Im Rahmen der liberalen Grundrechtstheorie wird die Gewissensfreiheit, wie andere

Grundrechte, als klassisches Abwehrrecht konzipiert. Daraus ergibt sich, dass dessen

Schutzbereich möglichst weit auszudehnen ist. Geschützt sein soll insbesondere das

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen. Der Freiheitsbereich der Gewissensfreiheit wird

der Aktualisierungskompetenz des Einzelnen überlassen und der staatlichen Reglementierung

grundsätzlich entzogen. Die Interpretation der Gewissens- und Glaubensfreiheit als

Grundrecht des status negativus, das „Raum für die aktive Betätigung der

Glaubensüberzeugung“912

garantiert, findet ihre rechtsvergleichende Bestätigung in der

Rechtsprechung des BverfG. Das Anliegen, die Unversehrtheit des Gewissens des Einzelnen

so weit wie möglich zu sichern, entspricht der Staatsauffassung des liberal-demokratischen

Rechtsstaates. Danach ist der Staat des Menschen willen da, um seine Menschenwürde,

Freiheit und Eigentum zu schützen. Das Gewissen als das innerste Zentrum der Persönlichkeit

und ihre Freiheit ist dem Staat vorgegeben, deshalb muss sie vom Staat geachtet und

geschützt werden.913

4. Die institutionelle Grundrechtstheorie

4.1. Voraussetzungen der institutionellen Grundrechtstheorie

Bereits aus dem positiven Aspekt der menschlichen Freiheit fließt die staatliche Pflicht, dem

Einzelnen einen „Raum“ zu schaffen, in dem ihm möglich wäre, seine Freiheit in

verschiedenen Bereichen (kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, weltanschaulichen,

ethischen u.a.m.) zu verwirklichen.914

Da Grundrechte besondere Ausprägungen der

menschlichen Freiheit bilden, sind die öffentlichen Gewalten verpflichtet, institutionelle

Möglichkeiten für ihre praktische Inanspruchnahme bereitzustellen. Aus diesem Grund

912

BverfGE 41, 49; 52, 241. 913

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 54. 914

H. Skorowski, Problematyka praw człowieka, Warszawa 1999, S. 126.

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230

werden die Organe der öffentlichen Gewalt als „verpflichtete Subjekte“ in Bezug auf

Grundrechte bezeichnet.915

Diesem Bedürfnis trägt die institutionelle Grundrechtstheorie Rechnung. Danach werden die

Grundrechte vor allem als objektive Grundsätze aufgefasst, welche einzelne Bereiche der

menschlichen Aktivität regeln. Die in diesen Grundsätzen enthaltenen Postulate und

Direktiven werden durch normative Lösungen vom institutionellen Charakter verwirklicht.916

Eine solche Betrachtung der Grundrechte hat zur Folge, dass der unterverfassungsrechtliche

Normenkomplex die Richtung, Inhalt und Garantien der menschlichen Freiheit bestimmt.917

Das Gesetz erfüllt nach diesem Ansatz nicht nur die Rolle der Einschränkung der

Grundrechte, sondern auch ist ein Mittel ihrer Verwirklichung. Die Grundrechte sind deshalb

nicht nur subjektive Rechte des Einzelnen; sie sind auch objektive Werte, welche bestimmte

politische, soziale, kulturelle Institutionen verbürgen.918

Die institutionelle Grundrechtstheorie hat sich für die Erschließung des Inhalts der

Gewissensfreiheit besonders fruchtbar erwiesen. Ihre Verwertung in diesem Bereich spiegelt

sich vor allem in der Forderung wider, dass der Staat dem Einzelnen Handlungsalternativen

bereitstellt, damit der Einzelne den Konflikt zwischen der Rechtsnorm und Gewissensnorm

schonend für ihn und reibungslos für das Gemeinwesen bewältigen kann. Bevor allerdings auf

die Problematik der Handlungsalternativen eingegangen wird, ist den Auslegungsversuch der

Gewissensfreiheit nach Niklas Luhmann darzustellen. Dieser Ansatz charakterisiert sich mit

der Orientierung an praktischen Lösungen der scheinbar unlösbaren normativen Konflikte

zwischen dem Recht und dem Gewissen. Darüber hinaus hat er eine große Resonanz in der

Literatur erhalten und die Auslegung der Gewissensfreiheit im deutschsprachigen Raum

weitgehend mitgeprägt. Er könnte auch für die Interpretation der Gewissensfreiheit in der

polnischen Verfassung durchaus brauchbar sein.

915

J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 93. 916

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 50. 917

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 1532. 918

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 51.

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4.2. Gewissensfreiheit als Mechanismus der Stabilisierung des sozialen Systems nach

Niklas Luhmann

Luhmann geht an das Grundrecht der Gewissensfreiheit vor allem aus der Perspektive der

Gesellschaftsinteressen heran; d.h. sie wird vornähmlich als eine soziale Institution aufgefasst.

Zum Ausgangspunkt dieser Theorie wird die Annahme, dass jeder Einzelne mit der Vielzahl

der frei übernommenen oder aufgezwungenen sozialen Rollen ausgestattet ist, mit deren

Erfüllung gewisse Erwartungen seitens der Gesellschaft verbunden sind. Da Nichterfüllung

der Rollen zu Dysfunktionen des sozialen Systems führen könnte, braucht die differenzierte

Sozialordnung die Persönlichkeiten mit hohem Identifizierungsvermögen. Um das System der

sozialen Rollenverflechtungen nicht zu gefährden und der Distanzierung des Einzelnen von

der Gesellschaft entgegenzuwirken, müssen bestimmte Mechanismen der Entlastung des

individuellen Gewissens geschaffen werden, falls es dem Einzelnen eine Verhaltensnorm

gebietet, die den sozialen Erwartungen zuwiderläuft.919

Die Entlastung des Interessenkonflikts zwischen dem Individuum und der Gesellschaft kann

im Regelfall dadurch hergestellt werden, dass der Einzelne an seinem Gewissen vorbeigeleitet

wird, ohne ihm die Möglichkeit der Gewissenssteuerung in Krisensituationen zu nehmen. Der

Abbau von Anlässen zur Gewissensorientierung geschieht durch Bereitstellung von

Handlungsalternativen, durch Institutionalisierung „unpersönlicher“ Handlungsweisen und

erst an der letzten Stelle durch Vermeidung von Zwangssituationen mit Hilfe des Grundrechts

der Gewissensfreiheit.920

Die Funktion der Gewissensfreiheit besteht somit nicht darin, die

Orientierung des Einzelnen nach seinem Gewissen zu ermöglichen, sondern vielmehr darin,

die Gewissensentscheidungen zu ersparen.921

Erst wenn zumutbare Alternativen fehlen, ist der

Einzelne von der verweigerten Rechtspflicht zu befreien. Die Berechtigung zur

Gewissensbetätigung kommt somit als ultima ratio in Frage, dabei erstreckt sich der

grundrechtliche Schutz nur auf das gewissensgemäße Unterlassen. Der Ausschluss des

gewissensgemäßen Handelns aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit wird damit

919

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 273; zustimmend: L. Prieto

Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 54f. 920

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 273. 921

Ebenda, S. 273.

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232

begründet, dass „die Sozialordnung sich auf ein rechtswidriges Unterlassen, auf einen Ausfall

von Leistungen, besser einstellen kann, als auf ein aggressives rechtswidriges Tun.“922

Im Fall

des gewissensgeleiteten Unterlassens muss sich die Gesellschaft den Ausfall einer Leistung

kompensieren. Im Fall der gewissensgebotenen Handlung muss dagegen der Einzelne nach

alternativen Ausweichmöglichkeiten suchen: „Die Folgen muss tragen, wer über die

Alternativen verfügt.“923

Weiterhin unterscheidet Luhmann zwischen gewählten und

aufgezwungenen sozialen Rollen: Im ersten Fall schützt das Grundrecht der Gewissensfreiheit

vor Zwangsdurchsetzung der höchstpersönlichen, unvertretbaren Leistungen. Die finanziellen

Folgen im Privatrechtbereich sind allerdings von dem Einzelnen in Form der

Erfüllungsinteresse zu tragen. Im Fall der erzwungenen soziallen Rollen ist der Einzelne von

deren Erfüllung freizustellen.924

Der Sinn des Luhmannschen Ansatzes liegt darin, die Stabilisierung der Gesellschaft als

reibungslos funktionierendes System zu gewährleisten.925

Diese Betrachtungsweise steht mit

der Aufgabe der Verfassung im Einklang, das Gleichgewicht zwischen Interessen des

Einzelnen, der Dritten und der Gesellschaft herzustellen. Die Bereitstellung der gesetzlichen

Handlungsalternativen ist sowohl aus der staatlichen Perspektive von großem Nutzen, weil sie

zum reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft beiträgt, als auch aus dem Gesichtspunkt

des Einzelnen, weil er von den Gewissenskonflikten geschont ist. Dem wurde

entgegengehalten, dass dieser Ansatz nur scheinbar auf die Person des Einzelnen d.h. auf

Gewährleistung seiner moralischen Selbstbestimmung und Bewahrung seiner Identität zielt.926

Luhmann berücksichtigt nicht hinreichend, dass sich die verfassungsrechtliche Garantie der

Gewissensfreiheit vornämlich an dem Einzelnen und nicht an der Gesellschaft orientiert. Die

Reduzierung der Gewissensfreiheit zum Regulierungsintstrument der sozialen Spannungen

und die Betrachtung ihrer Funktionen für die Erhaltung der sozialen Ordnung findet daher in

der Verfassung keine normative Stütze.927

Die systemstabilisierende Funktion der

922

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 282f. 923

Ebenda, S. 283. 924

Ebenda, S. 282. 925

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 18. 926

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 144; U. Rühl, Das Grundrecht

auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983,

S. 373; G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 252ff. 927

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 19f.

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233

Gewissensfreiheit ist allerdings durchaus legitim. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen, den

Individuen die Gewissenskonflikte zu schonen, vereiteln den Zweck der Gewissensfreiheit

nicht, zum Schutz der Menschenwürde und Freiheit des Einzelnen beizutragen. Die

funktionale Auslegung entspricht vielmehr im vollen und ganzen dem Auftrag der

Verfassung, das Gleichgewicht der Interessen zwischen den Einzelnen, den Gruppen und dem

Staat herzustellen, Entscheidend ist dabei, das der Rückgriff auf Gewissensfreiheit nach

Ansatz Luhmanns in Krisesituationen, also wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen,

nicht ausgeschlossen ist. Der Betrachung der Berufung auf die Gewissensfreiheit als ultima

ratio ist wegen der speziellen Auswirkungen ihrer Ausübung auf die Rechtsordnung (die

Befreiung von einer Rechtspflicht) sowie aus Gründen der sozialen Verträglichkeit ihrer

Inanspruchnahme zuzustimmen.

4.3. Die Pflicht des Gesetzgebers, Gewissenskonflikte zu vermeiden

Die Bejahung der Pflicht des Gesetzgebers, die Konflikte zwischen der Rechtsordnung und

dem individuellen Gewissen durch Bereitstellung der gewissensschonenden

Handlungsalternativen zu entschärfen, wäre nur mit Annahme derjenigen Interpretation der

Gewissensfreiheit möglich, wonach die primäre Rolle dieses Grundrechts nicht in dem Schutz

von Gewissensentscheidungen durch Ermöglichung ihrer Verwirklichung, sondern in

Vermeidung von Entstehung der Gewissenskonflikte besteht. Wenn aber die Prämissen einer

solchen funktionalen Interpretation der Gewissensfreiheit abgelehnt werden, kann der

individuelle Anspruch auf Bereitstellung einer Handlungsalternative nicht begründet

werden.928

Deshalb ist an dieser Stelle nochmal hervorzuheben, dass die Gewissensfreiheit

nicht nur ein subjektives Recht, sondern auch eine objektive Wertentscheidung der

Verfassung ist, „die für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien für Gesetzgebung,

Verwaltung und Rechtsprechung gibt.929

Dieser Rechtsgedanke lässt sich bereits ansatzweise

im polnischen Schrifttum aus der Zeit der Volksrepublik Polen finden; danach kann aus dem

Bürgerrecht, eine Weltanschauung frei zu wählen und auszuüben, die staatliche Pflicht

abgeleitet werden, eine wirkliche Möglichkeit der Verwirklichung individueller

Überzeugungen sicherzustellen. Dabei wurde auf das marxistische Postulat der Gleichstellung

928

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 21. 929

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 100.

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234

aller Weltanschauungen und ihrer Ausübungsformen Bezug genommen.930

Auch unter

Geltung der Verfassung von 1997 wurde die Ansicht geäußert, dass die Grundrechte nicht nur

subjektive Rechte des Einzelnen sind, sondern auch Richtlinien für die Tätigkeit des ganzen

Systems der öffentlichen Gewalten, „insbesondere des Gesetzgebers“931

aufstellen.

Aus der dargestellten objektivrechtlichen Facette der Gewissensfreiheit ergibt sich für den

Gesetzgeber die Pflicht, Konflikte zwischen dem Gesetz und dem Gewissen möglichst zu

vermeiden und gegebenenfalls zu entschärfen. Der Gesetzgeber kann dieser Pflicht zunächst

dadurch nachkommen, dass er sich in seiner Regelungstätigkeit auf das ethische Minimum

d.h. auf die Normierung der ethischen Grundlagen des Gemeinwesens beschränkt. Wenn der

Gesetzgeber für notwendig hält, in einem Bereich bestimmte moralische Standards

aufzustellen, soll er an den Durchschnittsmenschen anknüpfen. Darüber hinaus ist in den

moralisch kontroversen oder nicht eindeutig bewerteten Bereichen vollständiger Ausschluss

der gesetzgeberischen Tätigkeit bzw. gesetzgeberische Zurückhaltung geboten oder zumindest

empfehlenswert.932

Dies gilt vor allem in denjenigen Situationen, wenn soziologisch bewiesen

wurde, dass die Auferlegung einer umstrittenen Pflicht in den zahlenmäßig beträchtlichen

Sektoren der Gesellschaft Gewissenskonflikte hervorrufen würde. Die beste Behandlung der

Gewissensfreiheit besteht ohne Zweifel in Vermeidung der Gewissenskonflikte; die Mehrzahl

der potenziellen Verweigerungsfälle aus Gewissensgründen lässt sich auf diese Art und Weise

präventiv lösen.933

Um diesen Zweck zu erreichen, stehen dem Gesetzgeber verschiedene technische

Mechanismen zur Verfügung. Die Behörden können die rechtlich relevanten, d.h. durch die

Rechtsordnung anerkannten Konflikte zwischen Recht und Moral mit Hilfe der durch das

Recht vorgesehenen Entscheidungsspielräume, mittels der dynamischen normativen

Auslegung und Analogie sowie durch Anwendung der Vorschriften, welche auf Grundsätze

des sozialen Lebens verweisen, lösen.934

Als Bespiel für die Rechtsnormen, die grundsätzlich

anderen Zwecken dienen, im Einzelfall aber geeignet sind, den Einzelnen von dem

Gewissenskonflikt zu schonen, werden im Schrifttum die Vorschriften über Ausschluss eines

930

J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 17. 931

J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 92f. 932

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 100f. 933

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 242. 934

W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1989, S. 263.

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235

Richters aus dem gerichtlichen Verfahren, falls Zweifel an seiner Unparteilichkeit besteht,

angegeben. Es sind nämlich die Fälle vorstellbar, in denen die Gewissensgründe des Richters

seine Unparteilichkeit insoweit beeinträchtigen, dass der Ausschluss des Betroffenen aus dem

Verfahren durchaus geboten ist und mit Hilfe von diesbezüglichen Regelungen erreicht

werden kann.935

Im Fall der Verweigerung aus Gewissensgründen eines Richters ist ein

Sonderfall des Mangels an Objektivität zu bejahen, weil sie den Richter zu einer Handlung

contra legem bewegen kann. Die Ausschließung des Richters in dieser Situation ist somit mit

dem Grundsatz des Rechtsstaates durchaus gerechtfertigt.

Wenn die durch die Erfüllung der verweigerten Rechtspflicht zu erreichenden Resultate oder

Zustände als sozial so wertvoll angesehen werden, dass der Staat von ihrer Auferlegung nicht

verzichten kann, soll der Gesetzgeber zumindest erwägen, ob die angestrebten Ziele durch

positive Förderungsmaßnahmen der bestimmten Verhalten erreicht werden können, ohne dass

das erwünschte Verhalten zu einer Rechtspflicht zu machen. Darüber hinaus können mehrere

Erfüllungsmodalitäten derselben Rechtspflicht oder zwei verschiedene Rechtspflichten als

gleichwertige Alternativen dem Einzelnen zur Wahl gestellt werden.

Dieser Lösungsweg ist zum einen aus der Perspektive der Gewissensfreiheit empfehlenswert,

weil dem Einzelnen die Konflikte verschont werden. Für die Bereitstellung der

Handlungsalternativen spricht, dass sie den Genuss realer und nicht nur rechtlich-abstrakten

Freiheit ermöglichen. Die Verantwortung des Staates, die notwendigen sozialen

Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Grundrechte zu schaffen und zu sichern, ergibt

sich aus dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Deshalb ist anzunehmen, dass „wo immer

sich ein Weg finden lässt, zugleich dem Recht und dem Gewissen des Einzelnen Genüge zu

tun, muss dieser Weg gewählt werden.“936

Die Vermeidung der Gewissenskonflikte ist aber

auch aus den rechtstechnischen Gründen gerechtfertigt, weil das Recht kein genügend

geeignetes Instrument ist, um über moralische Fragen zu entscheiden.937

Darüber hinaus

erspart die Vermeidung der Gewissenskonflikte dem Einzelnen, sich in das

Anerkennungsverfahren einlassen zu müssen und die Gewissensfreiheit nur auf Kosten

935

R. Ásis Roig, Juez y objeción de conciencia, in: Sistema, 1993, S. 113. 936

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52. 937

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 240; J. Raz, Autorytet

prawa, Warszawa 2000, S. 289.

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236

anderer Rechte, etwa des Rechts auf Privatleben in Anspruch zu nehmen. Aus der

prozessrechtlichen Sicht entfällt nämlich die Notwendigkeit, in die Intimsphäre des

Individuums einzugreifen, um das Vorliegen der Gewissensentscheidung glaubhaft zu

machen. Die Tauglichkeit der Gewissensfreiheit als subjektives Recht für den Schutz der

individuellen Interessen wird gerade mit dem Hinweis darauf bezweifelt, dass im

Anerkennungsverfahren in die Privatsphäre des Einzelnen so weitgehend eingegriffen wird,

dass sein Gewissen nur mit gleichzeitiger Verletzung anderer Aspekte seiner Autonomie,

Selbstachtung und Würde geschützt wird, wenn auch der Eingriff aus der Initiative des

Einzelnen erfolgt.938

4.4. Die Gewissensschonenden Handlungsalternativen

Einige Autoren gehen davon aus, dass der Gewissensfreiheit eine an dem Gesetzgeber

gerichtete Pflicht zu entnehmen ist, für den Einzelnen gewissenskonforme Alternativen

bereitzustellen, falls sich eine Rechtsnorm mit seinem Gewissen nicht vereinbaren lässt,939

es

sei denn, „dass es Alternativlösungen nicht gibt oder die möglichen Alternativlösungen für die

staatlich verfasste Gesellschaft nicht tragbar sind.“940

Die gewissensschonenden Alternativen

sollen sicherstellen, dass von der Gewissensfreiheit ohne Stigmatisierung und

Diskriminierung Gebrauch gemacht wird.941

Die Gewissensfreiheit entfaltet ihre

Schutzfunktion aber erst dann, wenn eine unausweichliche Zwangslage besteht, in der

staatliche Ge- oder Verbote in einem unlösbaren Widerspruch zu einem individuell

zwingenden Gewissensgebot stehen. Solange alternative Verhaltensmöglichkeiten bereit

liegen, die mit dem Gewissensgebot nicht kollidieren, ist die Gewissensfreiheit noch nicht

verletzt.942

938

J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 290. 939

Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen

Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 39, S. 23; U. Battis, Anmerkung zu BverwG, Urt. v. 21.06.2005, in:

DVBL, 2005, S. 1457; M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 218; H. H. Klein,

Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.

Heilbronner, G. Ress, T. Stein, Berlin 1989, S. 493. 940

A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.

35; N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283ff; E. W. Böckenförde,

Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRl, Bd. 28, S. 71, 77; H. Nogueira Alcala, Derechos

fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008, S. 13; M. Hilti, Die

Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 49; G. U. Freihalter, Die Gewissensfreiheit. Aspekte eines

Grundrechts, Berlin 1973, S. 199; G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 253. 941

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. 942

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 157.

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237

Die Pflicht des Gesetzgebers, gewissenskonforme Alternativen zu schaffen, ist der

programmatischen Schicht der Gewissensfreiheit zuzurechnen. Der Anspruch auf

Bereitstellung einer möglichen Handlungsalternative ergibt sich aus dem Charakter des

Grundrechts als objektive wertentscheidende Grundsatznorm.943

Kommt der Gesetzgeber

seiner Pflicht nicht oder nur unzureichend nach, kann die Bereitstellung einer Alternative

grundsätzlich auch als subjektiver Anspruch vor Gericht einklagbar werden, vorausgesetzt

dass eine Alternative verfügbar und durch die Gemeinschaft tragbar ist.944

Die Notwendigkeit, eine gewissenschonende Alternative zu schaffen, lässt sich mit der

Unzulänglichkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die Einschränkung der

Gewissensfreiheit begründen: das Gewissen verträgt es nämlich nicht, dass es mit

Gemeinschaftsinteressen oder Rechten Anderer abgewogen wird und zugunsten der letzteren

eine Relativierung erfährt. „Es gibt hier also nur ein Entweder – Oder, nicht ein abwägendes

Sowohl – Als – Auch.“945

Die Eigenart des autonomen Gewissens macht die Milderung des

Gewissenskonfliktes durch heteronome Beschränkung seiner Betätigung nicht möglich; „Das

Gewissen, soll es irgendwie im Abwägungsverfahren auf einen gemeinwohlverträglichen

Stand gebracht werden, ist kein Gewissen mehr.“946

Nach einer anderen Meinung kann nicht von der Pflicht, sondern eventuell von der staatlichen

Befugnis in diesem Bereich gesprochen werden.947

Rupp argumentiert in diesem

Zusammenhang, dass die Pflicht, eine gewissensschonende Alternative anzubieten nur dann

zu bejahen ist, wenn das für alle verbindliche Gesetz eine Ausnahme zulässt oder

Generalklausel und ausfüllungsbedürftige Begriffe enthält, also wenn die Möglichkeit einer

„gewissensfreundliche d.h. gewissensschonende Alternativen gewährenden Auslegung oder

943

BverwGE 105, 73 (77f.). 944

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 220. Im deutschen Schrifttum ist diese Frage

allerdings umstritten; ausdrücklich für ein gerichtlich durchsetzbares subjektives Recht spricht sich G. U.

Freihalter aus, Die Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 200. Ablehnend dagegen M.

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 281f. Teilweise wird

argumentiert, die Gewissensfreiheit müsse sich auch dann durchsetzen, wenn durch die Inanspruchnahme der

Gewissensfreiheit die sozialen Folgen nicht zu ertragen wären. Die sozialen Kosten der Inanspruchnahme der

Gewissensfreiheit seien von der Gesellschaft zu tragen. Siehe: U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W.

Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,

Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Abs. 1, 2, Rn. 45. Die letztgenannte Ansicht ist im

Kontext der polnischen Verfassung wegen der Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit nicht

annehmbar. 945

H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037. 946

Ebenda, S. 1036. 947

U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, S.

38.

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238

entsprechenden Rechtsvollzugs“ besteht.948

Darüber hinaus muss sich die ins Spiel kommende

Handlungsalternative mit den durch dieses Gesetz geschützten Rechtsgütern vereinbaren

lassen und für alle Betroffenen zumutbar sein. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt,

muss der Einzelne eine durch das Gesetz festgesetzte Sanktion hinnehmen. Dies sollte

allerdings in einer Rechtsordnung, die auf dem Prinzip der Toleranz und Achtung der

Persönlichkeit basiert, selten geschehen.

Dieser Meinung ist mit dem Hinweis darauf beizupflichten, dass die Ableitung aus der

Gewissensfreiheit einer allgemeinen Pflicht des Staates, eine Handlungsalternative

anzubieten, nicht möglich ist. Dies erklärt sich zuerst damit, dass die Gewissensfreiheit kein

Surrogat für einen aus der Sicht von Minderheiten verfehlt verlaufenen politischen

Willensbildungsprozess darstellt.949

Darüber hinaus könnte der Gesetzgeber als Hauptadressat

einer solchen Pflicht weder alle potenziellen Gewissenskonflikte vorhersehen noch im

Rahmen der ihm allein möglichen abstrakt-generellen Betrachtungsweise einschätzen, ob

denkbare Alternativen für den Einzelnen zumutbar sind.950

Wenn auch sich nicht leugnen

lässt, dass die Bereitstellung der gewissensschonenden Handlungsalternativen durchaus

erwünscht ist, muss berücksichtigt werden, dass die Gewissensfreiheit als Grundrecht mit

einem weitgehend unbestimmten Tatbestand ist und daher sich durch den Gesetzgeber nur

beschränkt gestalten lässt. Die Antworten auf individuelle Inanspruchnahmen der

Gewissensfreiheit, welche dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen, sind eher knapp.

Außerdem ist die Verfassung unmittelbar anwendbares Recht, deshalb braucht der

Gesetzgeber einen konkreten Typ der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht zu regeln,

damit sich der Einzelne auf den Grundrechtsschutz berufen kann. Wegen der Singularität der

Anwendungsfälle der Gewissensfreiheit soll in der Mehrzahl der Fälle bei der Handhabung

dieses Grundrechts die entscheidende Rolle der Rechtsprechung zukommen. Der

Rechtsprechung obliegt, die gesetzlich nicht geregelten Tatbestände der Gewissensfreiheit zu

identifizieren, die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Grundrechts festzustellen sowie

die notwendige Abwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern vorzunehmen. Die

gesetzliche Regelung der Verweigerung aus Gewissensgründen könnte den Richtern zwar

mehr Sicherheit geben, sie ist aber nur in den Fällen der sozial relativ verbreiteten

948

H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037. 949

U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Rn.

49. 950

S. Muckel, Die Grenzen der Gewissensfreiheit, in: NJW, 2000, S. 690; M. Herdegen, Gewissensfreiheit und

Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 282.

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239

Modalitäten möglich. In diesem Zusammenhang ist auch in Betracht zu ziehen, dass die

Tätigkeit des Gesetzgebers immer später kommt, d.h. die gesetzlichen Maßnahmen werden

erst dann vorgenommen, nachdem sich viele konkrete Verweigerungsfälle vollzogen haben.951

Die Inanspruchnahme des grundrechtlichen Schutzes kann somit von der gesetzgeberischen

Aktivität nicht abhängig gemacht werden.

Der Grundrechtsträger hat folglich keinen Anspruch auf Bereitstellung einer

gewissenskonformen Handlungsalternative durch den Staat. Ihm obliegt vielmehr – falls ihm

das Ausweichen des Konflikts nicht zumutbar ist, selbst die Alternativen anzubieten oder vom

Staat konkrete rechtliche Handlungsmöglichkeiten zu verlangen, weil weder dem Gesetzgeber

noch dem Rechtsanwender die Entstehung der individuellen Konfliktsituation vorhersehbar

ist. In dieser Situation obliegt dem Bürger, darzulegen, welche Alternativen er in seiner

Situation sieht und gegebenenfalls, dass die ihm zur Verfügung stehenden Alternativen wegen

der mit ihnen verbundenen Lasten für ihn unzumutbar sind. Hat der Grundrechtsträger ihm

zumutbare Auswege und Alternativen nicht benutzt, fällt sein Verhalten aus dem

Schutzbereich der Gewissensfreiheit heraus. Wenn jemand eine Rechtspflicht nicht erfüllt,

ohne die zumutbaren Bemühungen anzustellen, den Gewissenskonflikt zu vermeiden, ist in

seinem Verhalten – im Blick auf die Sanktionen – weder rechtfertigt noch entschuldigt. Die

Gewissensfreiheit ermächtigt zur Selbstdispensierung von Rechtspflichten nicht.952

Die Notwendigkeit der Bereitstellung einer gleichwertigen Handlungsalternative wird nach

diesem Ansatz aus dem Demokratieprinzip abgeleitet, in dessen Zentrum die Idee der Egalität

steht. Das Demokratieprinzip wirkt sich auf die Auslegung des Gleichheitssatzes so strikt aus,

dass die Befreiung des Einzelnen von einer allgemeinen Rechtspflicht ohne gleichwertiger

Alternative als Ausdruck des Elitismus angesehen wird und zwar unabhängig vom Grund

dieser Befreiung. Jegliche Sonderregelungen der allgemeinen Rechtspflicht sollen der

Allgemeinheit und nicht nur dem Bevorzugten dienen.953

Es bleibt allerdings zu erwägen, ob

die Schwere einer Handlungsalternative der Lästigkeit der verweigerten Rechtspflicht genau

entsprechen muss oder ob es gerechtfertigt ist, dass die Schwere der Handlungsalternative

951

M. J. Ciáurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, Instituto de Investigaciones Jurídicas, Derecho

fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 69; J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el

derecho internacional y comparado, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S.

116. 952

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 240f. 953

C. Silva Costa, A interpretacão constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988,

Rio de Janeiro 1992, S. 160.

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240

diejenige der Hauptpflicht übersteigt. Die Lehre ist in dieser Hinsicht geteilt und stellt keine

einzige Lösung bereit. Nach Luhmann soll im Bezug auf Ersatz oder Ausweichhandlungen

dem Einzelnen hohe Opferbereitschaft zugemutet werden: „Man sollte sich gerade hier vor

den Verirrungen des Mitleids hüten.“954

Dieser Ansicht hat sich Böckenförde angeschlossen;

er fordert einen Preis für die Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit, der in Form von einer

„lästigen Alternative“ zu bezahlen ist.955

Gemäß Zippelius soll der Einzelne bereit sein, „auch

erhebliche Nachteile“ in Kauf zu nehmen.956

Die Vereinbarkeit der Kompensierung der

Befreiung von einer Rechtspflicht durch die Auferlegung einer lästigen Alternative mit der

Verfassung wird damit gerechtfertigt, dass in vielen Fällen notwendig ist, dem

Gleichheitsprinzip der Genüge zu tun. Die Lästigkeit der Alternative ist auch ein Indiz für die

Ernsthaftigkeit des Verweigerers.957

In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass die

Gewissensfreiheit allein die Pflicht zur Schaffung der Handlungsalternativen nicht zu

begründen vermag. Sie ist vielmehr dem Gleichheitssatz zu entnehmen.958

Die Forderung einer lästigen Handlungsalternative kann allerdings nur in denjenigen Fällen

zum Zuge kommen, wo die Feststellung der Ernsthaftigkeit des Verweigerers überhaupt

notwendig ist. In anderen Fällen ist die Einführung einer relativ gleichen Alternative

ausreichend. Die gleiche Alternative erfüllt allerdings ihre Aufgabe nur dann, wenn

gewährleistet bleibt, dass die Zielsetzung der primären Pflicht grundsätzlich nicht vereitelt

wird, sollen viele Verpflichteten ihre Erfüllung aus anderen als Gewissensgründen

verweigern. Es muss doch in Betracht gezogen werden, dass wenn das Indiz der

Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung in Form einer lästigen Alternative entfällt,

werden die alternativen Rechtspflichten dem Einzelnen faktisch zur freien Wahl gestellt.959

Der Forderung einer „lästigen Alternative“ wird entgegengehalten, dass Grundrechte keinen

Preis haben und die Verkopplung ihrer Inanspruchnahme mit der Erfüllung einer lästigen

954

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283. 955

E. H. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 71. 956

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52. 957

W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of

conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State

Research, Conscientious objection in the EC countries, December 7-8 1990, Milano 1992, S. 32, 39; B. P.

Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State Research,

Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 269. 958

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 102. 959

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 269.

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241

Alternative den freiheitlichen Charakter der Gewissensfreiheit verkennt.960

Die allgemeine

Bemerkung, dass Grundrechte keinen Preis haben, kann allerdings wegen des spezifischen

Charakters der Gewissensfreiheit, deren Inanspruchnahme mit Befreiung von einer

gesetzlichen Pflicht einhergeht, auf dieses Grundrecht nicht übertragen werden.

Außerdem wird vertreten, dass die Auferlegung einer lästigen Alternative nicht nur gegen die

Gewissensfreiheit, sondern auch gegen den Grundsatz der Gleichheit verstößt. Sie wäre im

Verhältnis zu den Interesen des Einzelnen unverhältnismäßig.961

Diese Argumentation findet

ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des UNO- Menschenrechtsausschusses. Der

Ausschuss hat im Zusammenhang mit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen

bereits mehrmals die Ansicht geäußert, dass die längere Dauer des Zivildienstes mit dem

Argument nicht gerechtfertigt werden kann, dass dadurch die Ernsthaftigkeit der

Überzeugungen des Beschwerdeführers überprüft werden muss. Die eventuelle längere Dauer

des Zivildienstes darf weder Strafcharakter haben noch diskriminierend sein.962

Der Grundrechtsschutz kann allerdings nicht mit der Bereitstellung von einer

gewissensschonenden Alternative enden. Wenn der Grundrechtsträger die angebotene

Handlungsalternative aus Gewissensgründen ablehnt, kann ihm der Grundrechtsschutz nicht

abgesprochen werden. Eine gegensätzliche Lösung würde auf die Richtigkeitskontrolle der

Gewissensentscheidung hinauslaufen. Wenn keine Alternative durch den Staat angeboten

werden kann oder wenn sie von dem Einzelnen aus Gewissensgründen abgelehnt werden

muss, ist der Fall durch Abwägung der kollidierenden Interessen zu lösen. Die Gewährung

des Grundrechtsschutzes auch im Fall, wenn keine zugängliche oder zumutbare

Handlungsalternative vorliegt, rechtfertigt sich damit, dass Gewissensfreiheit nicht als

Ausnahmerecht den Rechtspflichten gegenüber angesehen werden kann, weil Grundrechte

schlechthin nicht als „Ausnahmerechte“ zu verstehen sind.963

960

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.

275. 961

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 219. 962

Communication No 689/1996, Maille v. France; Communication No 690 and 691/1996, Venier and Nicolas

v. France; Communication No. 666/1995, A. v. France. 963

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 139.

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242

5. Die Wertetheorie

Zum Ausgangspunkt der Wertetheorie wird die Annahme, dass sich der Staat vornehmlich

darum kümmert, die Gesellschaft zu integrieren und damit eine kulturelle Gemeinschaft auf

der Basis des für die ganze Gesellschaft gemeinsamen Wertsystems zu schaffen. Diese

Aufgabe wird u.a. durch die integrierende Auslegung der Verfassung bewerkstelligt. Wegen

ihres politischen Charakters ergibt sich nämlich das Postulat, dass ihre Interpretation nach

einer Integrationswirkung streben soll, d.h. es sollen diejenigen Lösungen angenommen

werden, welche die politische und soziale Integration fördern sowie zur Stärkung der

politischen Einheit innerhalb des Staates beitragen.964

Mit anderen Worten: Unter vielen

möglichen Interpretationsalternativen sind diejenigen Maßstäbe zu bevorzugen, welche die

„existierende politische und soziale Integration in der pluralistischen Gesellschaft unter einem

ideologisch multiplen, die Mehrheit und die Minderheiten integrierenden Dach

verwirklichen.“965

Nach diesem Ansatz stellen die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte

des Individuums, sondern auch von den Anschauungen des Individuums unabhängige Werte

dar.966

In der polnischen Lehre wird vertreten, dass sich die integrierende Funktion der Verfassung

von 1997 auf ihren „Geist des Kompromisses“ zurückzuführen lässt, der implizit den

übergeordneten Wert in der Axiologie der Verfassung darstellt.967

Die Verfassung dient daher

der Integration der Gesellschaft, weil ihr Gehalt kein Ausdruck des Willens einer

vorübergehenden Mehrheit, sondern Ausdruck des Willens des Volkes darstellt; ihr liegen

gefestigte Überzeugungen des Gemeinwesens zugrunde. Die Verfassung verwandelt die

soziale Entität in ein rechtliches Sein.968

964

L. A. Huerta Guerrero, Jurisprudencia constitucional e interpretación de los derechos fundamentales, in:

Comisión Andina de Juristas, Derechos fundamentales e interpretación constitucional (ensayos – jurisprudencia),

Lima 1997, S. 41; K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios

de derecho constitucional panameño, Panama 1987, S. 966. 965

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Madrid 2006, S. 125. 966

B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 50. 967

Z. Staroszewski, Aksjologia i duch konstytucji III Rzeczypospolitej, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 4(81), 2007,

mit Verweis auf: P. Winczorek, A jednak kompromis, in: Rzeczpospolita, 05.10.2002; siehe auch: B. Banszak,

A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 52f. 968

B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 54.

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243

Die integrierende Funktion der Verfassung hat auch das BverfG anerkannt: „mehr als die

Interpretation der Gesetze hat die der Verfassung mit dem Problem der Offenheit des

Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu

dienen bestimmt ist.”969

Der echte Interpret der Verfassung ist derjenige, der eine

Rechtsinstitution nicht nur dadurch erschließt, dass er sich den überkommenen

Auslegungsethoden bedient, sondern auch indem er sich an die soziale und politische

Wirklichkeit hält und die zu interpretierenden Normen in den Rahmen des rechtlichen und

sozialen Transformationsprozesses hineinsetzt, aus welchem diese Normen hervorgehen und

für welchen sie bestimmt sind. Der Interpret muss sich die Konflikte bewusst machen, welche

die Verfassung zu schlichten versucht.970

Dieser funktionale Interpretationsgrundsatz nähert

sich in seinem Zweck, die Normen- und Interessenspannungsverhältnisse abzubauen, dem

Prinzip der Einheit der Verfassung sowie dem Prinzip der praktischen Konkordanz.971

Die integrationsfördernde Auslegung soll – selbstredend – nicht als Unterstützung des

Integrationismus verstanden werden, der zu den verschiedenartigen Formen des politischen

Autoritarismus, Fundamentalismus oder Transpersonalismus führt; das Prinzip der

Integrationswirkung der Auslegungsergebnisse geht vielmehr von der „verfassungsrechtlich

rationalisierten Konfliktanfälligkeit“972

aus, um „pluralistisch integrierende Lösungen“973

herzustellen.

Gerade dieser letzte Punkt wird von einigen Autoren nicht hinreichend berücksichtigt, was zu

skeptischen Positionen betreffs der Verbrauchbarkeit des integrationswirkenden

Interpretationsansatzes für die Auslegung der Gewissensfreiheit geführt hat. Escobar Roca

argumentiert, dass es nicht sicher ist, ob die Zügelung jeglicher Verweigerung aus

Gewissensgründen zwecks der Uniformierung der Gesellschaft oder vielmehr die Toleranz

gegenüber der Dissidenten geboten ist, um dadurch friedliche Integration der

Andersdenkenden in die Gesellschaft zu verwirklichen.974

Böckenförde verneint dagegen

völlig die Anwendbarkeit der integrierenden Auslegungsmethode für die Auslegung der

Gewissensfreiheit, indem er darauf hinweist, dass die Gewissensfreiheit verstanden im Lichte

969

BverfGE 61,1 (45). 970

H. Masnatta, Interpretación de la Constitución, in: Rosatti, La reforma de la Constitución, Sbuenos Aires

1994, S. 21. 971

J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte

Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S.156. 972

C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 227. 973

Ebenda, S. 227. 974

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S.195.

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244

dieser Theorie lediglich denjenigen schützt, wer dieses Schutzes nicht bedarf; die

Minderheiten und Dissidenten, die gerade den Schutz der Gewissensfreiheit brauchen, werden

von ihrem Schutzbereich nicht erfasst.975

Dieser Betrachtungsweise ist allerdings nicht beizupflichten. Die integrierende Wirkung der

Verfassungsauslegung gewinnt an Gewicht insbesondere im polnischen Kontext, wenn in

Erwägung gezogen wird, dass die religiös-weltanschaulichen Fragen zu den umstrittensten

Problemen der politischen Debatte zur Gestalt und Inhalt der Verfassung von 1997 gehörten.

Von Erlangung des Kompromisses in diesem Bereich hing sogar die Akzeptanz des ganzen

Verfassungsprojektes an.976

Die Interpretation der polnischen Verfassung, insbesondere der

kontroversanfälligen weltanschauungsrelevanten Vorschriften, soll deshalb zweifellos die

herausgearbeiteten Kompromisse schützen und eventuelle Spannungsverhältnisse zwischen

Gläubigen und Nichtgläubigen entschärfen. Für die Gewissensfreiheit bedeutet dies, dass die

den religiösen Glauben stammenden Gewissensentscheidungen keine bevorzugte Position

gegenüber diejenigen ethischen Überzeugungen einnehmen können, welche aus einer

Weltanschauung abgeleitet wurden. Soll das Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Stärkung

der Kohäsion der polnischen Gesellschaft beitragen, muss allen Gewissensentscheidungen

unabhängig von ihrer geistigen Quelle gleichwertiger Schutz eingeräumt werden.

975

E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,

Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 132. 976

P. Borecki, Kompromis końca wieku. Klauzule wyznaniowe w Konstytucji z 1997 r., in: Res Humana, Nr. 2,

2007, S. 11f.

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245

Kapitel VI

Schutzumfang der Gewissensfreiheit

1. Subjekte der Gewissensfreiheit

1.1. Allgemeines

Die Gleichstellung der Staatsbürger und Ausländer im Beriech der Freiheitsrechte in der

polnischen Verfassung ergibt sich bereits daraus, dass die allen Menschen zustehende

Menschenwürde von dem Verfassungsgeber als Quelle der Rechte und Freiheiten anerkannt

wurde.977

Nichtdestoweniger enthält Art. 51 Abs. 1 Verf. eine audrückliche Regelung des

subjektiven Schutzbereichs der Gewissens- und Religionsfreiheit. Danach steht dieses

Grundrecht jedem Einzelnen zu. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass sich die

Regelung der Subjektivität der Gewissens- und Religionsfreiheit in der Verfassung von 1997

von der entsprechenden Normierung dieser Frage in der Verfassung von 1952 unterscheidet;

in der sozialistischen Verfasung wurden nämlich die Grundrechte nur den polnischen

Staatsbürgern eingeräumt. Die Ausdehung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf

Ausländer lässt sich dem Gesetz über die Garantien der Gewissens– und Bekenntnisfreiheit

entnehmen: in Art. 1 dieses Gesetzes wird als Berechtigte zwar nur der Bürger genannt, Art. 7

präzisiert aber, dass auch die Ausländer, die sich im polnischen Staatsgebiet aufhalten, in

Angelegenheiten der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit den Inländern gleichgestellt sind.

Diese Regelung gilt entsprechend auch hinsichtlich der Staatenlosen. Mit der ausdrücklichen

Bezeichnung der Grundrechtssubjekte sind allerdings nicht alle mit Bestimmung des

subjektiven Schutzbereichs verbundenen Probleme gelöst: Der Untersuchung bedarf nämlich

die Rechtslage der Minderjährigen und der juristischen Personen; diesem Zweck dienen die

folgenden Abschnitte.

977

K. Complak, Uwagi o godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej Konstytucji, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 142.

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1.2. Kinder und Jugendliche als Rechtssubjekte der Gewissensfreiheit

Aus der verfassungsrechtlichen Bestimmung des Art. 51 Abs. 1, wonach „jedermann“

Grundrechtsträger der dort genannten Rechte ist, ergibt sich eindeutig, dass sich der

Schutzbereich der Gewissensfreiheit auf Kinder und Jugendliche erstreckt.978

Die

Grundrechtssubjektivität der Minderjährigen wurde auch in der Rechtsprechung zum Art. 9

EMRK bejaht, indem die Konventionsorgane ihnen den Status des zweiten

Beschwerdeführers neben ihren Eltern anerkannt haben.979

Die Bejahung der

Grundrechtssubjektivität der Kinder und Jugendlichen trägt der Tatsache Rechnung, dass sie

in aller Regel zu Gewissensentscheidungen fähig sind. Die Inanspruchnahme der

Gewissensfreiheit ist nämlich nicht nur den sittlich ausgereiften Menschen mit festen und

dauerhaften Grundvorstellungen vorbehalten. Für die Inanspruchnahme dieses Rechts ist

vielmehr „nur ein gewisser Grad sittlicher Einsicht als Grundlage sittlichen

Urteilsvermögens“980

notwendig. Diese dem BverfG entnommene Ansicht liegt auch den

einschlägigen Bestimmungen der polnischen Verfassung zugrunde und kommt in der

Situierung der normativen Ausgestaltung der Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder

und Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Eltern-Kind Verhältnis zum Ausdruck.

Im Fall der Kinder schützt die Gewissensfreiheit vor allem gegen nichtberechtigte Eingriffe in

den Bereich ihres Bewusstseins und Verhaltens, der ihrer moralischen Bewertung unterliegt.

Außerdem gewährt sie das Recht, mit Inhalten und Situationen nicht konfrontiert zu werden,

die von dem Kind als moralisch „böse“ angesehen werden.981

Diese Auslegung findet ihre

rechtsvergleichende Bestätigung in den Vorschriften der Kinderrechtekonvention. Außer dem

Art. 14 der den Minderjährigen die Gewissensfreiheit gewährleistet, wird die Garantie dieses

Menschenrechts in anderen Bestimmungen der Konvention verstärkt. Da die

Gewissensfreiheit für die Bildung und Erhaltung der persönlichen Identität von großer

978

In diesem Zusammenhang ist die Meinung Łopatkas in Bezug auf die Subjektstellung der Kinder in

internationalen Menschenrechteabkommen erwähnenswert: der Autor argumentiert, dass obwohl Art. 18 Abs. 1

IPpbR jedem als Rechtsträger der Gewissens- und Religionsfreiheit bezeichnet, schließt die ausdrückliche

Erwähnung der elterlichen Erziehungsrechte in Art. 18 Abs. 4 IPbpR die Subjektivität der Kinder in diesem

Bereich aus. Die Anerkennung der Kinder als Subjekte der Gewissens- und Glaubensfreiheit ist erst mit

Verabschiedung der Kinderrechtekonvention erfolgt (A. Łopatka, Dziecko. Jego prawa człowieka, Warszawa

2000, S. 79). 979

Lena and Anna-Nina Angelini v. Sweeden, Appl 10491/83, DR 51/41; C.J., J.J., E.J. v. Poland, Appl

23380/94, DR 84/46. 980

BVerfGE 12, 272. 981

T. Sokołowski, Wolność myśli, sumienia i wyznania dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach

dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 262.

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Bedeutung ist, ist der Schutz des Gewissens der Kinder zunächst durch Art. 8 der

Kinderrechtekonvention untermauert, welcher gerade die Erhaltung der Identität des Kindes

zum Schutzgegenstand hat. Für die Bildung des Gewissens von Kindern ist auch Art. 17 der

Konvention von Bedeutung; danach haben die Konventionsstaaten die Pflicht übernommen,

sicherzustellen, dass die Kinder Zugang zur Information und Material aus der Vielfalt der

nationalen und internationalen Quellen haben, welche die Förderung ihres sozialen, seelischen

und sittlichen Wohlergehens sowie ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel

haben. Zusätzlich sind die Konventionstaaten verpflichtet, die Kinder von denjenigen

Informationen zu schützen, die ihr Wohlergehen beeinträchtigen können (Art. 17e). Darüber

hinaus, wenn es notwendig ist, ein Kind vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären

Umgebung herauszulösen, und seine Adoption oder Unterbringung in einer Pflegefamilie

bzw. in einer „geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung“ in Betracht kommt, ist bei der Wahl

einer dieser Lösungen die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie seine

ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft gebührend zu berücksichtigen.982

Die Gewissensfreiheit der Kinder wird allerdings durch die elterliche Erziehungsrechte

ergänzt und beschränkt. Art. 53 Abs. 3 S. 1 Verf. gewährleistet den Eltern das Recht, eigene

Kinder in Übereinstimmung mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen zu

erziehen. Die zitierte Vorschrift verweist auf Art. 48 Abs. 1 Verf. wonach im elterlichen

Erziehungsprozess die Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder sowie ihre

Überzeugungen angemessen berücksichtigt werden sollen. Die Inanspruchnahme der

Gewissensfreiheit von Minderjährigen wird somit bis zur Volljährigkeit durch

Erziehungsrechte der Eltern wesentlich eingeschränkt. Art. 48 Verf. regelt dabei nicht den

ganzen Erziehungsprozess, d.h. die allgemeine Gestaltung der menschlichen Persönlichkeit

und die Sorgepflicht der Eltern, die körperliche und geistige Entfaltung des Kindes zu sichern,

sondern nur einen Aspekt der Erziehung, d.h. die auf der bewussten Entscheidung der Eltern

beruhende Beibringung und Festigung bei den Kindern einer bestimmten Religion, einer

Weltanschauung oder moralischer Werte und Überzeugungen.983

Zum Schutzgegenstand

dieser Rechtsnorm wird moralische Erziehung, die vor allem darin besteht, das Gewissen des

Zöglings zu bilden und ihn zur Wahrnehmung und Würdigung der moralischen Werte

anzuregen, damit er persönliche Entscheidungen treffen und sie als eigene anerkennen

982

E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden, Boston 2006, S. 8. 983

P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,

S. 1.

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248

kann.984

Den Eltern als „natürlichen Disponenten“ der Gewissensfreiheit der Kinder obliegt,

ihnen die Richtung der Inanspruchnahme dieses Rechts zu weisen. Dies ergibt sich sowohl

aus der elterlichen Gewalt als auch aus der natürlichen Bindung zwischen den Eltern und

seinen Kindern.985 Die Orientierungshilfe bei der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit der

Kinder liegt dabei in dem Verantwortungsbereich beider Eltern. Das Recht stellt keine Lösung

bereit, wie potenzielle Konflikte zwischen den Eltern in Fragen der religiösen und

weltanschaulichen Erziehung ihrer Kinder zu bewältigen sind.986

Es obliegt somit den

Betroffenen, die Grundsätze der Erziehung festzulegen und diese Grundsätze zu beachten.987

Die verfassungsrechtliche Regelung der Erziehungsrechte der Eltern soll in erster Linie nicht

als Antizipation und Lösungsmechanismus eventueller Konflikte in diesem Bereich

angesehen werden. Ihr Zweck liegt vielmerhr in der Anerkennung der Tatsache, dass das

Kind, die Entwicklung seiner Persönlichkeit und Verwirklichung seiner Rechte der

elterlichen Sorge anvertraut sind. In den richtig funktionierenden Familien ist die

Hervorhebung der Kinderrechte nicht notwendig, solange sein Wohl nicht gefährdet wird.988

Die zitierte Vorschrift gewährleistet vor allem das Abwehrrecht der Eltern gegen

unerwünschte Beeinflussungen von außen. Danach darf niemand den Kindern ethische und

religiöse Unterrichtung und Erziehung aufzwingen, die im Widerspruch zu den

Anschauungen der Eltern stehen.989

Deshalb ist der Meinung beizupflichten, wonach sich die

Berücksichtigung des Reifegrades des Kindes im Erziehungsprozess in eine privilegierte

Position der Kinder auf Kosten der elterlichen Erziehungsrechte nicht umwandeln soll. Dies

ist insbesondere im Zusammenhang mit den destruktiven und übermäßigen Einflüssen seitens

Dritter (etwa Mitglieder einer Sekte) von Bedeutung.990

984

J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie

kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona

funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 14. 985

K. Warchałowski, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii w Europejskiej Konwencji Praw Człowieka i

Podstawowych Wolności, Lublin 2004, S. 195; P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rezeczypospolitej

Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, S. 116. 986

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –

Historyczne, 2001, Heft 1, S. 126. 987

P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,

S. 4. 988

O. Sitarz, Ochrona wolności sumienia i wyznania dziecka w polskim prawie karnym, in: Problemy prawa

karnego, Nr. 25, 2004, S. 14f. 989

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 274, Rn. 11. 990

J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie

kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona

funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 23.

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249

Um die Einschränkung der elterlichen Erziehungsrechte zu bestimmen, ist darauf Rücksicht

zu nehmen, dass elterliche Gewalt eine naturrechtliche Grundlage hat. Der unveräußerliche

Charakter der elterlichen Erziehungsrechte rechtfertigt den Eingriff seitens öffentlicher

Institutionen nur im Fall der Verletzung durch die Eltern im Erziehungsprozess der

moralischen Grundwerte, auf denen die Rechtsordnung aufbaut. Eine bestimmte Schranke des

elterlichen Erziehungsrechts bilden lediglich die durch Art. 72 Verf. geschützten Rechte der

Kinder. Danach kann jeder von der öffentlichen Gewalt verlangen, die Kinder vor Gewalt,

Grausamkeit und Demoralisierung in Schutz zu nehmen.991

Eine analoge Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit der Minderjährigen

enthält Art. 14 der UNO Konvention über die Rechte des Kindes. In Art. 14 Abs. 2 der

Konvention ist von den Rechten und Pflichten der Eltern bzw. des Vormunds die Rede, das

Kind bei der Ausübung seiner eigenen Rechte seiner Entwicklung entsprechend zu leiten. Im

Verhältnis zu den selbständigen Rechten der Kinder haben die Rechte und Pflichten der Eltern

nach der Kinderrechtekonvention einen akzessorischen Charakter. Die starke Akzentuierung

der Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder unterschiedet die Regelung der Konvention

von Art. 48 Verf., wo der Schwerpunkt auf die Erziehungsrechte der Eltern gelegt wurde. Die

Gegenüberstellung der Bestimmungen der Verfassung und der Kinderrechtekonvention

könnte zur Annahme einer Auslegung des polnischen Rechts führen, wonach im Fall eines

Konfliktes über die Richtung der moralischen Erziehung die Letztentscheidung auf die Eltern

fallen soll. Es ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass die Eltern verpflichtet sind, den Grad

der Mündigkeit des Kindes sowie dessen Religions- und Gewissensfreiheit im ganzen

Erziehungsprozess (Art. 48 Abs. 1 Verf.), insbesondere bei der Entscheidung über die

Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht (Art. 53 Abs. 3 Verf.) zu berücksichtigen.

Gerade die genannte Berücksichtigungspflicht des Reifegrades der Kinder spricht für die

Verneinung einer einseitigen Interpretation zugunsten der Eltern.992

Sowohl die Konvention

über die Rechte des Kindes als auch die Verfassung trägt der Evolution der Eltern - Kind

Verhältnisse hinlänglich Rechnung. Aus diesem Grund können interpretatorische Ansätze des

991

P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,

S. 2. 992

D. Wójcik, Rozwój psychiczny dzieci i młodzieży a prawa gwarantowane przez Konwencję o Prawach

Dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 69.

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250

Art. 14 der Konvention für die Auslegung der einschlägigen polnischen

verfassungsrechtlichen Vorschriften fruchtbar gemacht werden.

Das wichtigste interpretatorische Problem des normativen Zusammenspiels der

Erziehungsrechte der Eltern und der Gewissensfreiheit der Kinder liegt darin, dass weder die

Kinderrechtekonvention noch das polnische Recht Maßstäbe festlegt, wonach der Grad der

Mündigkeit der Kinder zu bestimmen ist. In diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass bei

der Feststellung, ob das Kind einen hinreichenden Grad der moralischen Reife erreicht hat,

um die Gewissensfreiheit selbständig in Anspruch zu nehmen, auf den konkreten Fall

ankommt. Den Eltern wurde dabei ein weiter Spielraum überlassen. Im Konfliktfall können

die Gerichte die Entscheidungen der Eltern hinsichtlich der Einschätzung der Urteilsfähigkeit

der Kinder für ausschlaggebend halten, solange kein krasser Missbrauch der elterlichen

Aufgaben vorliegt.993

Im Zweifel kann ein Gutachten eines Psychologen hilfreich sein.994

Der

Bereich der Autonomie der Kinder in Fragen der religiösen und weltanschaulichen

Angelegenheiten bleibt allerdings weitgehend unbestimmt, was zur Kontroverse hinsichtlich

der Grenzziehung seines Umfangs geführt hat: die allgemeine Formulierung des Art. 48 Abs.

1 Verf. „bereitet viele interpretatorische Schwierigkeiten und trägt zur Schwächung der

elterlichen Autorität bei.“995

Die Lehrmeinungen zu dieser Frage lassen sich auf zwei

Gruppen einteilen, wobei die Schwerpunktsetzung auf Rechte der Eltern bzw. der Kinder zum

Einteilungskriterium wird.

Die erste Gruppe bilden die Auffassungen, welche von der leitenden Position der Eltern

ausgehen: Sarnecki vertritt die Auffassung, dass die „Berücksichtigung der divergierenden

Überzeugungen der Kinder keine Pflicht ihrer Akzeptanz von den Eltern bedeutet. Auch in

diesem Fall haben sie das Recht, ihre eigenen Erziehungsmaßnahmen zu treffen. Das Gebot,

die Gewissenspositionen der Kinder zu berücksichtigen, hat lediglich einen praxeologischen

Charakter und bedeutet nur, dass die Eltern die Pflicht haben, auf neue erzieherische Situation

993

G. Lantier, Freedom of thought, concience and religion, in: J. Todres, M. Wojcik, C. Revaz, The U.N.

Convention on the Rights of the Child. An Analysis of Treaty Provisions and Implications of U.S. Ratification,

New York 2006, S. 160. 994

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 241; C. Gomes, J.

Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 459f. 995

P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia

1997r., in: Prawo Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 213.

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251

zu reagieren.996

Die dominierende Rolle der Eltern in der religiösen und moralischen

Erziehung ihrer Kinder wird auch von Krukowski 997

hervorgehoben: der zitierte Autor geht

zwar von der Annahme der Religionsfreiheit der Kinder und vom Ausschluss jedes Zwanges

in Fragen ihrer Selbstbestimmung aus, er optiert aber für den Primat der Eltern in

Beschlussfassung über Ausübung der religiösen Praktiken und Teilnahme am

Religionsunterricht. Die Eltern sollen dabei auf ihre Kinder „mit Kraft ihrer Autorität“

einwirken. Der Autor begrenzt damit die Berücksichtigung der Religions- und

Gewissensfreiheit auf Art und Weise der elterlichen Einflussnahme. Den Vorrang der

elterlichen Entscheidungen in den durch den Gesetzgeber nicht geregelten Bereichen der

moralischen und religiösen Erziehung bejaht auch Banaszak.998

Gemäß Abramowicz sind die

Eltern Disponenten des Rechts auf Glaubenswechsel im Verhältnis zu ihren Kindern. Dies

ergibt sich aus Art. 53 Abs. 3 Verf., wonach die Eltern das Recht haben, ihre Kinder in

Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen zu erziehen. Die Pflicht, den Reifegrad des

Kindes zu berücksichtigen soll allerdings nicht zur Annahme führen, dass die Kinder in

diesem Bereich berechtigt sind.999

Die Ängste, dass die Position der Eltern als Wegweiser in den weltanschaulichen

Angelegenheiten durch die Hervorhebung der Gewissensfreiheit der Kinder geschwächt

werden kann, haben sich in der von der Republik Polen bei der Ratifizierung der

Kinderrechtekonvention abgegebenen Erklärung widerspiegelt. Gemäß dieser Erklärung

sollen die Rechte der Kinder, insbesondere diejenigen aus den Art. 12- 16 der Konvention

unter Achtung der elterlichen Gewalt nach den polnischen Sitten und Traditionen hinsichtlich

der Position des Kindes innerhalb und außerhalb der Familie ausgeübt werden. Da aber

sowohl das polnische Rechtssystem1000

als auch die Konvention vom Modell der

Partnerschaftsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern ausgehen, die auf dem gemeinsamen

996

P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,

S. 4. 997

J. Krukowski, Polskie Prawo Wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 79, derselbe, Polskie prawo wyznaniowe,

Warszawa 2008, S. 66. 998

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 251, Rn. 3. 999

A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007, Band

10, S. 328. 1000

Art. 87 Familiengesetzbuch bestimmt, dass die Eltern und Kinder zur gegenseitigen Achtung und

Unterstützung verpflichtet sind.

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252

Respekt basieren sollen, ist die erwähnte Erklärung gegenstandslos und daher soll widerrufen

werden.1001

Andere Autoren versuchen dagegen die Rechte der Kinder im Erziehungsprozess zu

akzentuieren: Gemäß Grzejdziak setzt die rechtsmäßige Inanspruchnahme der

Erziehungsrechte durch die Eltern voraus, dass sie sich nach dem Verständnis- und

Bezugsvermögen der Kinder auf die ihnen dargestellten Werte also nach deren Mündigkeit

richten sollen. Das Kind darf dabei nicht gezwungen werden, bestimmte Überzeugungen

anzunehmen. Grundsätzlich soll ihm die Entscheidung über Zugehörigkeit zu einer

Konfession überlassen werden. Die Rechte der Kinder stellen die Grenze der

Erziehungsrechte der Eltern dar, die ihrerseits das wachsende Bedürfnis der Kinder zur

Selbstbestimmung im Erziehungsprozess berücksichtigen sollen.1002

Winczorek geht von der

Annahme voraus, dass Kinder kein Eigentum der Eltern sind, sondern selbständige

Rechtssubjekte, welche die ihnen zustehenden Rechte und Freiheiten genießen können. Die

Pflicht der Berücksichtigung ihres Mündigkeitsgrades und Überzeugungen hat zum Zweck,

insbesondere ältere Kinder und Jugend vor dem unzulässigen Druck seitens der Eltern zu

schützen und damit das Gleichgewicht zwischen Eltern und Kindern herzustellen.1003

Für die

Selbständigkeit älterer Kinder(12-16 Jahre alt) in religiösen und weltanschaulichen Fragen

plädiert auch Łopatka, der argumentiert, dass sie nicht verpflichtet sind, moralische und

religiöse Überzeugungen ihrer Eltern automatisch anzunehmen.1004

Dieser Ansicht schließt

sich Pietrzak an; gemäß diesem Autor kann eine Interpretation der relevanten

verfassungsrechtlichen Bestimmungen angenommen werden, wonach der Abschluss der

Grundschule ein hinreichender Reifegrad des Kindes bildet, damit das Kind selbstständig von

der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit Gebrauch machen kann.1005

Mangels der verfassungsrechtlichen Festsetzung des Alters, mit dessen Vollendung der

Einzelne die volle Selbstbestimmung im Bereich der religiösen und moralischen

1001

D. Wójcik, Rozwój psychiczny dzieci i młodzieży a prawa gwarantowane przez Konwencję o Prawach

Dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 70. 1002

A. Grzejdziak, Prawo do wychowania w rodzinie, in. B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności

obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 468f. 1003

P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rezeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, Warszawa

2000, S. 116f. 1004

A. Łopatka, Dziecko, jego prawa człowieka, Warszawa 2000, S. 80. 1005

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –

Historyczne, 2001, Heft 1, S. 126.

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253

Angelegenheiten genießen kann, wird postuliert, sie mit dem Alter der Erreichung der vollen

Geschäftsfähigkeit zu verbinden.1006

Nach einer ähnlichen Ansicht im Bezug auf die

Regelung der Gewissens- und Religionsfreiheit in der UN Kinderrechtekonvention kann

angenommen werden, dass die Wahl der Religion durch das Kind der elterlichen

Genehmigung vorbehalten werden kann. Mit der Zunahme der Autonomie der Kinder sind

allerdings ihre Rechte, etwa das Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht allmählich zu

bejahen.1007

Dies betrifft vor allem die Staaten, welche eine Alternative zwischen Religions-

und Ethikunterricht vorsehen. Die Wahl zwischen Religions- und Ethikunterricht soll nicht

bis zur Volljährigkeit der Kinder den Eltern vorbehalten werden. Das UN-Komitee für

Kinderrechte hat in diesem Zusammenhang die Sorge hinsichtlich der Situation in Polen

geäußert, wo die Kinder elterliche Einwilligung brauchen, wenn sie am Ethikunterricht statt

Religionsunterricht teilnehmen möchten. Das Komitee hat allerdings kein konkretes Alter

vorgegeben, mit dessen Vollendung die Kinder von diesem Recht Gebrauch machen könnten.

Es hat lediglich auf die elterliche Lenkungsrechte hingewiesen und festgestellt, dass deren

Gebrauch mit den sich entfaltenden Einsichtfähigkeiten der Kinder vereinbar sein muss.1008

Zum Schluss ergibt sich, dass die Gewissensfreiheit der Kinder wegen ihrer notwendigen

Verflechtung mit den elterlichen Erziehungsrechten sehr schwer normierbar ist. Die Fragen

der Religionsmündigkeit könnten allerdings in Polen ausführlicher gesetzlich geregelt

werden. Dies könnte durch Novelierung des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und

Religionsfreiheit geschehen, welches ein komplexer Rechtsakt ist, der nicht nur die Fragen

des Verhältnisses zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch die Rechte

des Einzelnen regelt. Als Muster könnte dabei die deutsche und schweizerische Gesetzgebung

dienen, welche die Fragen der Religionsmündigkeit ausdrücklich regeln.

1.3. Juristische Personen

Die juristischen Personen können nicht den Status der Rechtssubjekte derjenigen Grundrechte

genießen, von denen wesensmäßig nur natürliche Personen Gebrauch machen können. Da das

1006

J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie

kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona

funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 23. 1007

E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden – Boston 2006, S. 30. 1008

CRC Concluding Observations: Poland (UN Doc. CRC/C/15/Add. 194, 2002), para. 33.

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254

Gewissen als höchstpersönliches Phänomen lediglich den natürlichen Personen innewohnt,

haben viele Autoren angenommen, dass sich juristische Personen auf Gewissensfreiheit nicht

berufen können. Da Gewissenskonflikte nur das Individuum durchstehen kann, ist die

Gewissensfreiheit nicht kollektivierbar.1009

Auch die Europäische

Menschenrechtskommission begrenzt den persönlichen Schutzbereich der Gewissensfreiheit

auf natürliche Personen; einem Verein wurde der Grundrechtsschutz verweigert.1010

Die Gewissensfreiheit weist freilich eine gemeinschaftliche Dimension auf, weil die

Herausbildung einer Gewissensentscheidung ohne Mitwirkung einer Bezugsgruppe häufig

nicht möglich ist. Die gleichgesinnten Individuen schließen sich auch häufig in

Gruppierungen zusammen, welche ihre Identität stärken und ihre Interessen verteidigen. Die

soziale Komponente der Gewissensfreiheit vermag aber nicht, eine Gruppe als Trägerin des

Grundrechts zu avancieren.1011

Obwohl die Gruppierungen kein eigenes Gewissen haben, was die Anerkennung ihrer

Grundrechtsfähigkeit unmöglich macht, lassen sich allerding Argumente anführen, die

zumindest ihre Teilnahme an einem eventuellen Anerkennungsverfahren, also eine

unterstützende Rolle zugunsten der Individuen begründen. Hammer plädiert für die

Ausdehnung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Gruppen, indem er

gesellschaftliche Komponente der Gewissensfreiheit betont. Er argumentiert, dass die

verinnerlichten sozialen und kulturellen Ansichten eine Basis für die Gewissensentscheidung

bilden, deshalb kann unter Individuen durch das Gewissen, ähnlich wie durch eine Religion,

eine gemeinsame Identität entstehen, die entsprechend gemeinsam wahrgenommen und

verteidigt werden kann.1012

Einzelne Gewissenspositionen werden eher von den Gruppen der

1009

Statt vieler: K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 220, 225; Á. Aparisi

Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 37; Ch.

Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen

Menschenrechtskonvention, Köln 2002,Rn. 34, S. 21; A. Wojciechowska – Nowak, Etyczno- prawne aspekty

korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia, in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 98; G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit.

Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 161; U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2, in: E. Denninger, W. Hoffmann-

Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt

1989, Rn. 39; C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S.

93; J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho

1984, S. 43; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 247; S.

Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 25. 1010

App. No 11921/86, Verein Kontakt – Information – Therapie et Hagen, v. Österreich, DR 57. S. 88. 1011

H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 439. 1012

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 243.

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255

Gleichgesinnten (wie. z.B. die Verweigerung der Zeugen Jehovas des Wehr- und

Zivildienstes) als von vereinzelten Individuen verbreitet und ausgeübt. Für den Schutz der

Gruppen spricht auch die historische Erfahrung, wonach die Gewissensfreiheit aus Konflikten

zwischen den Konfessionen ihren Ursprung hat. Ihre moderne Herauslösung aus allgemeiner

Glaubensfreiheit steht nicht entgegen, dass mit diesem Grundrecht ganzen Gruppen geholfen

werden sollte, insbesondere wenn man in Betracht zieht, dass es auch heute in der Regel

Gruppen sind, die durch ihre besonderen sittlichen Überzeugungen in Konflikt mit der von

der Mehrheit getragenen Politik geraten.1013

Eine Einrichtung wie Krankenhaus oder

Apotheke „kann eine interne moralische Atmosphäre, ein ethisches Mikroklima herstellen, in

dem sowohl interne Spannungen, als auch externe Drücke reguliert und in ein institutionelles

Kredo, ein beruflicher Still und ein ethisches Gewissen integriert werden, das freiwillig

übernommen und öffentlich offenbart wird.“1014

In der Tat lassen sich Rechtsordnungen finden, welche das sog. institutionelle

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen garantieren. Dies betrifft die Befreiung der

privaten, z.B. konfessionellen Gesundheitsanstalten oder Krankenhäuser, diejenigen

Behandlungen vorzunehmen, die mit der Weltanschauung der Anstalt nicht vereinbar ist. Z.B.

gemäß Art. 6 des argentinischen Gesetzes 25. 6731015

werden die durch eine

Religionsgemeinschaft getragenen Einrichtungen, die mit Schutz der Gesundheit verbundenen

Leistungen erbringen, von der Pflicht befreit, den Patienten

Schwangerschaftsverhütungsmittel zur Verfügung zu stellen. Die französischen

Regelungen1016

sehen die Möglichkeit der institutionellen Verweigerung der

Schwangerschaftsabbrüche im Fall der privaten Anstalten vor. Die öffentlichen Anstalten sind

allerdings verpflichtet, die Abtreibung durchzuführen, falls in der Ortschaft kein anderes

Gesundheitszentrum gibt, welches solche Leistungen anbietet. Dem ist allerdings

entgegenzuhalten, dass nicht alle Mitglieder einer Organisation ihren Glauben oder

Weltanschauung uniform teilen müssen. Wenn den juristischen Personen das Recht

eingeräumt würde, ihre Gewissensposition zu betätigen, könnte geschehen, dass sie

1013

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 46. 1014

J. López Gózman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 151. 1015

Zittiert nach: J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sanchez, J. Navarro Floria, La

libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 318. 1016

Das Gesetz 75-17 von 17.01.1975, novelliert durch das Gesetz 79-1204 von 31.12.1979; Journal Officiel de

la Republique Française, 18.01.1975, S. 739-741 und von 01.01.1980, S. 3-5.

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256

versuchen, den Dissidenten innerhalb der Gruppe eine gewissenswidrige Handlung

aufzuzwingen.1017

Auch der Wortlaut der entsprechenden Vorschriften der völkerrechtlichen

Menschenrechtskonventionen, wonach der Einzelne seinen Glauben oder Weltanschauung

individuell oder kollektiv ausüben kann, lässt sich den Schluss ziehen, dass das Recht, eine

Organisation zur Förderung einer Gewissensposition zu gründen und in ihrer Rahmen seinem

Glauben oder Weltanschauung Ausdruck zu verleihen, durch die Gewissensfreiheit

gewehrleistet ist. Aus dieser Formulierung ergibt sich allerdings nicht zwingend, dass

derartigen Organisationen Grundrechtssubjektivität und Beschwerdefähigkeit zukommen

soll.1018

Die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte hinsichtlich der

Beschwerdefähigkeit der Kirchen als Nichtregierungsorganisationen nach Art. 25 EMRK hat

eine Evolution von der Verneinung ihrer Beschwerdefähigkeit zu deren Anerkennung als

Vertreterin der Rechte der Kirchenmitglieder erfahren. Die Beschwerdefähigkeit der Kirchen

wird dabei aus der Aggregation der Rechte der einzelnen Mitglieder abgeleitet; sie sind

dagegen nicht berechtigt, die Verletzung eigener Rechte geltend zu machen.1019

Die

Anerkennung der Beschwerdefähigkeit wurde durch die Kommission auch auf Vereinigungen

ausgedehnt, die religiösen und weltanschaulichen Zwecken dienen.1020

Dies bezieht sich aber

nur auf die Religionsfreiheit; die Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit durch juristische

Personen ist im Lichte der Rechtsprechung der Konventionsorgane nicht möglich.1021

Die

erwähnte Evolution der Rechtsprechung zur Beschwerdefähigkeit der juristischen Personen

hinsichtlich der Gewissens- und Religionsfreiheit scheint gleichwohl noch nicht

abgeschlossen zu sein. In der Rechtsprechung der Konventionsorgane ist z.B. die

Beschwerdefähigkeit der auf Gewinn gerichteten Gesellschaften nicht hinreichend

klargestellt. Zuerst hat die Kommission die Beschwerdefähigkeit einer Gesellschaft mit

1017

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S.249. 1018

B. Dicuzzo, La libertà di pensiero, die coszienza e di religione, in: C. Defilippi, D. Bost, R. Harvey, La

Convenzione Europea dei Diritti dell‟ L‟Uomo e delle Libertà Fondamentali, Napoli 2006, S. 389. 1019

X. and the Church of Scientology v. Sweden, App. 7805/77, 16 ECHR, DR 94, 96, (1979). 1020

Omkarananda and the Divine Light Zentrum v. Switzerland, App. 8118/77, 25 ECHR DR 93, 96, (1996). 1021

Kontakt-Information-Therapie and Hagen v. Austria, App. 11921/86, 57 ECHR, DR 81, 88 (1988).

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257

beschränkter Haftung, die sich auf negative Religionsfreiheit berufen hat, um Zahlung der

Kirchensteuer zu vermeiden, nicht anerkannt. In einer anderen Entscheidung hat sie aber die

Möglichkeit der Einleitung einer Beschwerde durch eine auf Gewinn gerichtete juristische

Person, die auch ideelle Zielsetzungen hatte, nicht ausgeschlossen.1022

Die Frage, inwieweit

eine Organisation auf wirtschaftliche Tätigkeiten gerichtet sein kann, um als Träger der

Rechte aus Art. 9 EMRK anerkannt zu werden, wurde jedoch nicht näher erörtert.

Gestützt auf die Anerkennung durch die Rechtsprechungsorgane der EMRK der

Beschwerdefähigkeit der Kirchen und anderer religiösen Gruppierungen in Bezug auf die

Religionsfreiheit kann angenommen werden, dass die Vereinigungen, welche religiösen oder

weltanschaulichen Zwecken dienen, etwa Vereine der Wehrdienstverweigerer, berechtigt

sind, auch Rechte aus Gewissensfreiheit im Namen ihrer Mitglieder geltend zu machen. Die

Ausdehnung der Beschwerdefähigkeit hinsichtlich Art. 9 EMRK auf juristische Personen ist

positiv zu begrüßen. Damit würde insbesondere die Position der Minderheiten verstärkt, die

für Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit besonders anfällig sind. Die von

Einzelnen eingelegten Beschwerden erwiesen sich nicht ausreichend „tragfähig“, um die

Konventionsorgane zu veranlassen, sich mit der systematischen Verletzungen der

Religionsfreiheit der ganzen Gruppe auseinander zu setzen.1023

Es ist allerdings nicht zu

verkennen, dass das Gewissen ein Attribut der Einzelperson ist. Die eventuelle Anerkennung

der Beschwerdefähigkeit der Organisationen würde somit nur eine unterstützende Rolle

zugunsten der betroffenen Individuen erfüllen. Ihre Teilnahme als Beistand an einem

Anerkennungsverfahren würde daher nur ausdrückliches Gesuch des einzelnen

Grundrechtsträgers oder seine Einwilligung voraussetzen. Es kann nämlich nicht

ausgeschlossen werden, dass eine Organisation, welche dem Einzelnen bei der Anerkennung

des Verweigerungsrechts helfen soll, auf ihn einen unzulässigen Druck setzt.1024

1022

Kustannus Oy Vapaa Ajattelija AB and Others v. Finland, App. 20471/92, 85-A ECHR DR 29, 43 (1996). 1023

Z.B. Kokkinakis v. Greece, 260-A, European Court of Human Rights, Ser. A(1993). 1024

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 249.

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258

2. Der Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit

2.1. Die rechtliche Relevanz des forum internum der Gewissensfreiheit

Das forum internum der Gewissensfreiheit kann als innerliche Sphäre der menschlichen

Freiheit d.h. der zwangsfreien Selbstbestimmung in den spirituellen und ethischen Fragen

definiert werden. Der positive Aspekt des forum internum der Gewissensfreiheit besteht aus

dem Recht auf Gewissensbildung sowie aus dem Recht, die angenommene ethische

Überzeugung zu haben. Die negative Facette des forum internum bildet dagegen die Freiheit

vom Zwang.1025

Das forum internum der Gewissensfreiheit unterliegt dabei keinerlei

Beschränkungen und Derogationen.

Einige Autoren weisen darauf hin, dass der so weit abgesteckte Schutzbereich von forum

internum der Gewissensfreiheit mit dessen geringen praktischen Anwendbarkeit einhergeht.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass es schwer fällt, das Vorliegen eines Eingriffs in das

forum internum der Gewissensfreiheit festzustellen. Darüber hinaus bezieht sich der

verfassungsrechtliche Schutz des forum internum auf das innere Bewusstsein des Einzelnen,

deshalb ist nicht möglich, durch uneingeschränkte Inanspruchnahme dieses Rechts, einen

relevanten sozialen Schaden herbeizuführen.1026

Wegen der geringen sozialen Erheblichkeit

des forum internum identifizieren einige Autoren die Gewissensfreiheit mit der externen

Betätigung einer Gewissensentscheidung und halten den inneren Bereich dieses Grundrechts

für rechtlich nicht relevant. Sie argumentieren dabei, dass sich die Freiheit, eine

Weltanschauung zu wählen oder zu haben, außerhalb der Regelungsmöglichkeit des

Gesetzgebers befindet. Das forum internum der Gewissensfreiheit ist daher überhaupt nicht

geeignet, Gegenstand der rechtlichen Normierung zu werden.1027

Illustrativ für diesen Ansatz

ist die Auffassung Herredas, wonach die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit den

Menschen in seiner Handlungen in der Außensphäre schützen. Diese Rechte „schützen die

Menschenwürde im Bereich der Welt des Geistes, mit anderen Worten, im Bereich der

Rationalität des Menschen, der mittels seines Handelns sich selbst zum Ausdruck bringt. Wir

1025

A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in; Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007,

Band 10, S. 325f. 1026

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 72 f. 1027

J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77; A. Łopatka, Prawo do wolności myśli,

sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 9; J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa

1971, S. 15; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid, 1993, S. 178.

Page 271: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

259

sprechen vom Handeln des Menschen, weil diese Welt des Geistes durch das Recht nicht

fassbar ist, soweit sie keine mögliche oder wirkliche äußerliche Manifestierung durch

Handlung (proyeccion operativa) erfährt.“1028

Auch Luhmann, der die Gewissensfreiheit vor

allem als Freiheit vor Gewissenskonflikten deutet, welcher die an den Staat gerichtete Pflicht

entspricht, den Einzelnen von den Kollisionen zwischen Rechtsnormen und

Gewissensnormen womöglich zu schonen, hält den Schutz des forum internum der

Gewissensfreiheit für entbehrlich.1029

Der Schutz des internen Bereiches des Einzelnen ist allerdings nicht überflüssig. Die

totalitären Regime begnügen sich regelmäßig nicht damit, das Handeln der Menschen zu

überwachen, sondern suchen auch den Zugriff auf ihr Denken und Glauben. Im Bereich des

forum internum verbietet die Gewissensfreiheit die Anwendung von Gehirnwäsche, Hypnose,

Drogen und ähnlichen Techniken etwa in der polizeilichen Untersuchung oder im

gerichtlichen Verfahren, welche den Einzelnen der intellektuellen Fähigkeiten und der

Gewissensfunktionen berauben.1030

2.2. Der Schutzumfang des forum internum

2.2.1. Allgemeines

Die Gewissensfreiheit schützt zunächst die Freiheit des Individuums, eine bestimmte Form

der inneren Kommunikation führen zu dürfen. Die geschützte innere Kommunikation besteht

in einem diskursiven Prozess der Selbstbeurteilung, der auf eine moralische Entscheidung

bezogen ist. Von diesem Recht erfasst ist auch die Freiheit, über Intensität und Tempo der

Selbstbeurteilung selbst zu entscheiden und im Extremfall eine Auseinandersetzung im

Gewissen gänzlich zu unterlassen oder aufzuschieben.1031

1028

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho,

1984, S. 31; siehe auch: I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for

Church and State Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 97. 1029

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1967, S. 257. 1030

J. Kokott in: M. Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, München 1992, S. 262, Rn. 48; B. P. Vermeulen.

Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S.

82, L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 89.

1031

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 180.

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260

Außer der Person des Berechtigten erstreckt sich der Schutz des forum internum auch auf

Hilfsmittel wie Niederschrift oder Aufnahme, welche den Erlangungsvorgang zu einer

Gewissensentscheidung und die damit zusammenhängenden Spannungen und

Auseinandersetzungen mit sich selbst wiedergeben.1032

Zu dieser Kategorie der

Aufzeichnungen gehören auch diejenigen, die dem Versuch dienen, einer befürchteten

Verstrickung in Straftaten zu entgehen. Die Eintragungen, die bei dem Auseinanderklaffen

von Norm und Wirklichkeit entstehenden Gewissensspannungen des Tagebuchführers

thematisieren, sind durch das uneinschränkbare forum internum der Gewissensfreiheit

geschützt, deswegen ist ihr Verbrauch in einem Strafprozess grundsätzlich verboten.1033

Die

Verwertung der Aufzeichnungen des Gewissensträgers im Strafprozess ist unter Ausschluss

der Öffentlichkeit nur zulässig, wenn sie für die Verfolgung eines besonders hochrangigen

öffentlichen Interesses zwingend notwendig ist.1034

Dieses Interesse liegt vor allem in der

Abwehr einer weiteren Straftat oder in Auferlegung einer Strafmaßnahme wegen eines

schweren Verbrechens.1035

Im Schrifttum wurde vorgeschlagen, folgende Verletzungen der Gewissens- und

Religionsfreiheit als Eingriffe in das forum internum einzustufen: Diskriminierung wegen

bestimmten Glaubens oder Religion, Rechtsverbot der Mitgliedschaft zu einer religiösen oder

weltanschaulichen Organisation, der Zwang, eine Glaubensposition zu offenbaren,1036

Drohung, Zwang, oder physische Gewalt, Strafrechtssanktionen, die zum Zweck haben, auf

das Gewissen oder Glauben des Einzelnen einzuwirken.1037

1032

Die Rolle, welche die Tagesbuchführung bei der Gewissensprüfung hat, kann durch die Geschichte belegt

werden. Die Sitte der Tagesbuchführung hat nämlich seinen Ursprung in der Beichte. Durch die Auferlegung des

Beichtezwangs im 1215 bot die Kirche eine Möglichkeit der inneren Kontrolle an, welche die nachlassende

Kontrollkraft durch soziale Gruppen im Hochmittelalter ausgleichen konnte. Als der Beichtezwang durch die

Reformation abgeschafft wurde, wurden die Gläubigen aufgefordert, ein Tagesbuch zu führen, um sein Leben im

Lichte des Glaubens zu analysieren. Diese Idee wurde auch von Gegenreformation übernommen. Schließlich hat

sich die Sitte säkularisiert. Siehe dazu: K. Amelung, Der Grundrechtsschutz der Gewissensforschung und die

strafprozessuale Behandlung von Tagebüchern, in: NJW, 1988, S. 1005. 1033

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 185. 1034

Ebenda, S. 248. 1035

K. Amelung, Der Grundrechtsschutz der Gewissensforschung und die strafprozessuale Behandlung von

Tagebüchern, in: NJW, 1988, S. 1005; M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 248. 1036

H. Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human Rights Survey,

1997, S. 33. 1037

B. G. Tahzib, Freedom of Religion or Belief: Ensuring Effective International Protection, Haag 1996, S. 26.

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261

Dieser Liste ist zu entnehmen, dass unzulässige Eingriffe in das forum internum der

Gewissensfreiheit häufig mit dem Verstoß gegen andere (Grund)rechte des Einzelnen 1038

vor

allem gegen das Folterverbot einhergehen. Die Legaldefinition der Folter gemäß Art. 1 UNO

Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche

oder erniedrigende Behandlung oder Strafe enthält u.a. die vorsätzliche Zufügung großer

physischer oder psychischer Schmerzen oder Leiden, „um jemandem einzuschüchtern oder zu

nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund

(...)“. Ein Beispiel für die Verletzung der Gewissensfreiheit, welche auf Folter hinausläuft,

wäre die Herbeiführung der Angst oder Anwendung der Drohung, um einen Willensbruch

oder einen Wechsel in dem Gewissen zu verursachen.

2.2.2. Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen

Der Kern des forum internum der Gewissensfreiheit ist die Freiheit vom Zwang in

Gewissensfragen. Ohne die Freiheit vom Zwang wäre nicht nur die ungestörte

Gewissensbildung, sondern auch das Recht, die Gewissensposition zu wechseln, das in der

westlichen Tradition der Menschenrechte als eine integrale Komponente der Religions- und

Gewissensfreiheit einhellig betrachtet wird,1039

unvorstellbar.

Verboten ist somit jede Beeinflussung der Gewissensbildung durch Ausnutzung von

Machtpositionen.1040

Das Zwangsverbot erstreckt sich sowohl auf physische als auch

psychische Zwangslagen wie etwa Drohung oder Ablehnung einer Leistung durch den Staat

1038

HRC General Comment zu Art. 18, paragraph 3; Nowak, S. 294 f., 314f. Das Recht auf Meinungsfreiheit

und Privatleben unterstützen den uneingeschränkten Schutz von forum internum. 1039

Die Meinungsverschiedenheiten zur Sicherung des Rechts auf Religionswechsel gab es dagegen bei der

Ausarbeitung der Schutzinstrumente der Menschenrechte des universellen Völkerrechts. Ein Teil von

islamischen Staaten lehnt die Anerkennung des Rechts auf Religionswechsel aus theologischen Gründen völlig

ab. Diese Diskrepanz spiegelt sich im Wortlaut des Art. 18 Abs. 2 IPbpR wider, wo von einer expliziten

Verbürgung des Rechts auf Religionswechsel abgesehen wurde. Der angenommene Wortlaut „das Recht, eine

Religion oder Glauben seiner Wahl zu haben oder anzunehmen“ weist zwar auf die Absicht der Abkommenväter

hin, den Artikel 18 IPbpR „in der bequemen Nähe zum Recht auf Religionswechsel“ (M. Evans, Religious

liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 202.) zu situieren, er ist aber auf die restriktive

Auslegung offen, wonach das Recht, seinen Glauben aufzugeben durch den Art. 18 IPbpR nicht geschützt ist.

Wenn auch der angenommene Wortlaut zeigt, dass das Problem eher umgangen als gelöst wurde und

ausreichend „diplomatisch“ (K. F. Partsch, Freedom of Conscience, in: L. Henkin, The International Bill of

Rights, New York 1981, S. 210.) ist, um verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zuzulassen, wird allgemein

angenommen, dass das Recht auf Religionswechsel in Art. 18 IPbpR implizit verbürgt ist. Dieser Auslegung hat

sich auch der Internationale Komitee für Menschenrechte angeschlossen. 1040

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 52.

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262

wegen der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft. Das konstitutive Element des

Zwangsbegriffes ist dabei die Absicht, die Preisgabe oder Annahme einer Gewissensposition

zu verursachen.1041

Für die Bejahung einer Zwangsanwendung ist dabei nicht notwendig, dass

der Erfolg in Form der Änderung einer Gewissensposition eingetreten ist.1042

Die

Zwangsausübung ist allerdings von erlaubten Einflussnahmen auf das Bewusstsein des

Einzelnen, etwa durch Massenmedien, sowie von erlaubten Überzeugungsversuchen

abzugrenzen. Der Einzelnen darf auf das Gewissen der Mitmenschen durch intellektuelle und

moralische Überzeugungsversuche einwirken.1043

Der Aufruf zum Wechsel einer

Gewissensposition kann dabei auch materielle Anreize enthalten.1044

Auch „externe“ Handlungen bilden einen unzulässigen Eingriff in das forum internum der

Gewissensfreiheit, wenn deren Zweck ist, auf das Gewissen einzuwirken.1045

Z.B. eine

Einschränkung der Meinungsfreiheit kann zugleich einen Eingriff in das forum internum der

Gewissensfreiheit darstellen, wenn der Staat durch diese Einschränkung danach strebt, das

Gewissen des Einzelnen zu verändern.1046

Dieser Zweck ist viel leichter zu ermitteln, wenn

den Diskriminierungsmaßnahmen gegen eine Zielgruppe ein so hoher Grad der Intoleranz

eigen ist, dass die Absicht der Untergrabung und Änderung der Gewissensposition der

einzelnen Gruppemitglieder anzunehmen ist.1047

Das Abstellen auf den Zweck einer

Maßnahme verhilft dazu, die Eingriffe in das forum internum von denjenigen mittelbaren

staatlichen Handlungen und Unterlassungen zu unterscheiden, die zwar das forum internum

tangieren, sind aber von der Absicht nicht getragen, den Einzelnen direkt zu veranlassen,

seine Gewissensposition zu wechseln (z.B. Nichtbereitstellung der Bildungsmöglichkeit auf

einem bestimmten Niveau).1048

Das Problem, den Schutzumfang des forum internum der

1041 L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 42, 88, vgl. Human Rights

Committee, General Comment No 22: The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion U.N. Doc.

CCPR/C/21/Rev.1/Add. 4, (1993), http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/comments.htm . (25.06.2011),

para. 5. 1042

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 88. 1043

M. Evans, Religious liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 198; L. Hammer, The

international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 43. 1044

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 88. 1045

Ebenda, S. 93, 97. 1046

Ebenda, S. 98. 1047

Ebenda, S. 257, siehe auch: 8282/78, Church of Scientogy v. Sweden, 21 DR 111 (1981). 1048

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 95.

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263

Gewissensfreiheit zu bestimmen, liegt darin, dass sich bei dessen Schutzgegenstand um eine

Sphäre handelt, die sich auf alle Gedankenformen und geistige Prozesse bezieht. Die

Gewissensinhalte werden in einem langen Prozess der Sozialisation gebildet, in dem eine

Reihe von äußeren Faktoren eine Rolle spielt. Deswegen ist die Einwirkung der äußeren

Instanzen (auch seitens der staatlichen Organe und des positiven Rechts) auf das

Bewusstseinsbild des Einzelnen als natürliches Element in der Entstehung der

Gewissensinhalte zu begreifen, solange kein suggestiver oder manipulativer (etwa wegen

gewählter Mittel) Eingriff in die freie Gewissensbildung ersichtlich ist.1049

In solchen Fällen tendieren die Entscheidungsorgane der EMRK, sich auf die Feststellung des

offensichtlicheren Verstoßes gegen ein anderes Recht (etwa gegen das Recht auf Sicherheit

oder gegen das Diskriminierungsverbot) zu beschränken. Die Europäische

Menschenrechtskommission hat z.B. keine Verletzung des forum internum in dem Fall

festgestellt, wo die Lehrer auf ihre Schülerinnen psychischen Druck setzten, um sie zu

überzeugen, den Religionsunterricht gegen die Wünsche ihrer Eltern zu besuchen. Die Lehrer

haben dabei argumentiert, dass es für die Schülerinnen besser sei, am Religionsunterricht

teilzunehmen und die entsprechende Spalte im Schulzeugnis unausgefüllt zu lassen. Die

Kommission hat den Eingriff in das forum internum mit dem Argument verneint, dass weder

ein Indoktrinierungsversuch noch eine Gewaltanwendung vorlag. Die Möglichkeit der

Befreiung von Religionsunterricht sei somit hinreichend, um den Schutz des forum internum

des Schülers zu gewähren.1050

In einer anderen Entscheidung hat die Europäische Kommission für Menschenrechte dagegen

den Standpunkt geäußert, dass die Auferlegung auf einen Lehrer, der oppositionelle politische

Überzeugungen hegt, der Pflicht, einen Eid der Loyalität abzulegen,1051

eine Verletzung des

forum internum der Gewissensfreiheit darstellt, weil dadurch eine Absicht zu erblicken ist, die

betroffene Überzeugung beizubringen. Dies wäre auch zu bejahen, wenn der Eid im

1049

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 152. 1050

C. J. v. Poland App.23380/94, 84 DR 46 (1996).

1051 App.17851/91, Vogt v. Germany, 21EHRR 205 (1996). Auch im Fall Darby v. Sweden (187 EctHR (Ser. A),

1990. para. 50, 51, 60) hat die Kommission die Meinung ausgespochen, dass die Rechtspflicht, die Kirchensteuer

zu zahlen, das forum internum der Religionsfreiheit beeinträchtigt. Der GH hat jedoch dieses Argument nicht

aufgegriffen.

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264

Notstandsfall mit Berufung auf zulässige Rechtseinschränkungen nach Art. 9 Abs. 2 EMRK

abverlangt würde.1052

Der Staat darf nämlich das Individuum auf die Identifikation mit den ins

positive Recht übernommenen Wertentscheidungen nicht verpflichten. Den Staatsbehörden ist

offensichtlich erlaubt, von den Rechtsadressaten die faktische Einhaltung der Rechtsnormen

zu verlangen, dies kann aber auf Forderung der über die Befolgung von Verhaltenspflichten

hinausgehenden Treuebekenntnisse zu einer bestimmten moralischen Wertordnung, nicht

ausgedehnt werden.1053

Die Unterscheidung zwischen dem forum internum und forum externum wurde hingegen im

Fall Buscarini v. San Marino1054

nicht beibehalten. Die Beschwerdeführer, neu gewählte

Abgeordneten des Parlaments von San Marino, haben sich geweigert, einen Eid auf die Bibel

abzulegen. Diese Pflicht wurde von ihnen als Voraussetzung für den Amtsantritt verlangt. Sie

haben den Eid erst dann geleistet, nachdem ihnen mitgeteilt wurde, dass die Verweigerung

des religiösen Eides zum Verlust des Mandats führen würde. Der Europäische Gerichtshof für

Menschenrechte hat diese Rechtspflicht als mit Art. 9 EMRK unvereinbar mit der

Begründung erklärt, dass sie auf die Treuepflicht gegenüber einer bestimmten Religion

hinausläuft. In der Lehre wurde allerdings zutreffend bemerkt,1055

dass der Sachverhalt nicht

unter die Religionsausübungsfreiheit subsumiert werden kann, wie ihn der Gerichtshof

betrachtet hat, sondern als Verstoß gegen das forum internum der Gewissensfreiheit

anzusehen ist. Das forum internum der Gewissensfreiheit ist nämlich dann tangiert, wenn

„Rechtspflichten über das geschriebene und ungeschriebene Recht hinaus moralisch

überwölbt werden.“1056

Dies kann im Fall des Zwanges, einen Eid abzulegen, bejaht werden.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass das Gewissen eine „autoritätsanfällige Struktur“1057

aufweist, deshalb erlangt der Schutz des forum internum in denjenigen Bereichen Bedeutung,

wo die Machtpositionen missbraucht werden können. Das sind vor allem geschlossene

1052 L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 99, 103. 1053

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 173. 1054

Buscarini and others v. San Marino, App. No. 24645/94, European Court of Human Rights 18 Februar 1999. 1055

C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 73-

74. 1056

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 184. 1057

U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 40.

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265

Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Militär oder Gefängnisse. In diesem

Zusammenhang ist die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

vorgenommene Unterscheidung zwischen der Missionierungstätigkeit als Ausübungsform der

Religions- und Gewissensfreiheit und dem Proselitysmus als eine unzulässige Form der

Zwangsanwendung von entscheidender Bedeutung.1058

Die Entscheidung im Fall Larissis v.

Greece,1059

der das Problem des Proselytismus im Wehrdienst betraf, zeigt, dass die

Rechtsmäßigkeit der privaten Missionstätigkeit am Maßstab der Umstände des konkreten

Falles zu bewerten ist. Die Beschwerdeführer, drei Offiziere der griechischen Luftstreitkräfte,

haben mehrmals ihre Untergegebenen in Diskussionen zu religiösen Themen zum

Bekehrungszweck verwickelt. Ähnliche Diskussionen führten sie auch mit Zivilen. Der

Gerichtshof hat in Betracht gezogen, dass die hierarchische Struktur jegliche Beziehungen

zwischen den Mitgliedern des Militärpersonals beeinflussen kann, deswegen kann es für einen

Untergegebenen schwierig sein, sich aus einem von seinem Vorgesetzten begonnenen

Gespräch zurückzuziehen. Während ein Gespräch zu religiösen Themen unter Zivilpersonen

als unschädlicher Ideenwechsel gilt, der durch Freiheit der Akzeptanz oder der Ablehnung

eines Standpunktes geprägt wird, kann dasselbe Verhalten in den militärischen Verhältnissen

als Schikanieren oder unangemessener Druck bewertet werden. Wenn auch nicht jedes

Gespräch zu religiösen oder anderen vergleichbar sensiblen Themen unter diese Kategorie

fallen würde, ist durchaus gerechtfertigt, dass die Staaten unter Umständen erforderliche

Maßnahmen (hier Strafmaßnahmen) treffen, um die Gewissens- und Religionsfreiheit der

Untergegebenen zu schützen. Da Zivilpersonen keinem vergleichbaren Druck oder Nötigung

unterworfen werden, gibt es keinen Grund dafür, eine ähnliche Diskussion in einem

Privathaus als ein Verhalten zu betrachten, das den Rahmen der erlaubten Missionstätigkeit

überschreitet. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen des Bekehrungsversuchs der

Zivilpersonen wurde daher als Verletzung des Art. 9 EMRK angesehen.

Die dargestellte Entscheidung lässt sich dahingehend ausdehnen, dass Missionierungstätigkeit

ebenfalls in anderen Organisationen und Verhältnissen, für welche eine hierarchische Struktur

1058

Kokkinakis v. Greece, 14307/88 (die Pönalisierung durch das griechische Recht des Proselitysmus wurde als

Überschreitung der zulässigen Schranken der Religionsausübungsfreiheit bewertet. 1059

App. 23372/94

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266

oder Unterordnungsverhältnis charakteristisch ist, wie etwa in den Beziehungen zwischen den

Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arzt und Patienten, Lehrer und Schüler 1060

durch staatliche

Maßnahmen eingeschränkt werden kann.

Im Zusammenhang mit dem Zwangsverbot in Gewissensangelegenheiten wird die Meinung

vertreten, dass die Verpflichtung, eine Glaubens- oder Gewissensposition zu offenbaren,

einen Verstoß gegen das forum internum der Gewissensfreiheit darstellt. Dies betrifft nicht

nur die Fälle, wenn die Absicht vorliegt, bestimmte religiöse oder philosophische Strömungen

zu beeinträchtigen, sondern auch im Fall der Erhebung oder der Auferlegung der Pflicht, eine

formale Erklärung eines Kirchenaustritts als Voraussetzung für die Befreiung von der

Kirchensteuer der staatlichen Behörden gegenüber abzugeben. Dies wird damit begründet,

dass eine solche Verpflichtung zur Folge haben kann, dass beim Einzelnen unzumutbare

Hemmnisse entstehen, welche ihm verhindern könnten, seine Glaubens- oder

Gewissensfreiheit auszuüben.1061

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Religions-

und Gewissensfreiheit nicht davor schützt, von jeder Unannehmlichkeit, welche die

Ausübung einer Glaubens- oder Gewissensposition nach sich zieht, entlastet zu werden. Die

Offenbarungspflicht, etwa in Form einer Erklärung eines Arztes, dass er sich aus

Gewissensgründen weigert, bestimmte medizinische Behandlungen durchzuführen, ist mit

Rücksicht auf kollidierende Interessen der Patienten und auf Funktionsfähigkeit einer Anstalt

gerechtfertigt.1062

1060

A. Mowbray, Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, London, Edinburgh,

Dublin 2001, S. 423. 1061

P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, Boston

1990, S. 542; C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York

2001, S. 82; Holly Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human

Rights Survey, 1997, S. 33. 1062

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho

1984, S. 52.

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267

2.2.3. Das Recht auf Gewissensbildung

2.2.3.1. Allgemeines

Die Bildung der Gewissensentscheidungen wird durch die Vielfalt individueller und sozialer

Faktoren bedingt, ohne die die Gewissensbildung überhaupt nicht möglich wäre. Auch nicht

jede Einflussnahme seitens des Staates auf die Gewissensbildung kann verboten sein. Sie

erfolgt nicht nur im Rahmen des Erziehungsauftrags des Staates im Bereich der Schule,

sondern auch durch seine allgemeine Kompetenz, das Zusammenleben rechtsverbindlich zu

ordnen. Wegen dieser zum Teil unfassbaren Beeinflussungen scheint die Freiheit der Bildung

einer internen moralischen Instanz konturenlos und ihre rechtliche Gewährung – unvorstellbar

zu sein.1063

Die Gewährleistung des Rechts auf Gewissensbildung kann somit nicht die

Beseitigung aller „umweltbedingten“ Eingriffe bedeuten, welche die Bildung der

Gewissensentscheidungen beeinflussen und in Extremfällen sogar verhindern würden. Das

absolut verstandene Recht auf Gewissensbildung wäre utopisch.1064

Um die Freiheit der Gewissensbildung zu gewährleisten, ist allerdings unabdingbar, ein

neutrales Milieu zu schaffen, in dem der Einzelne die Entscheidungen hinsichtlich seiner

moralischen Entfaltung treffen kann. In diesem Zusammenhang ist der verfassungsrechtliche

Grundsatz der Unparteilichkeit der Staatsbehörden im Bereich der religiösen,

weltanschaulichen und philosophischen Angelegenheiten von entscheidender Bedeutung.

Danach sollen alle Überzeugungen, welche die Grundwerte der polnischen

Verfassungsordnung respektieren, gleich behandelt werden, was die Bevorzugung bei der

Propagierung einer Glaubensrichtung oder Weltanschauung ausschließt.1065

Der Grundsatz

der Unparteilichkeit kann jedoch nicht als axiologische Indifferenz des Staates interpretiert

werden. „Der Staat funktioniert niemals in einem axiologischen Vakuum. Von seiner Identität

entscheidet im großen Maße das angenommene Wertsystem“1066

, das vor allem in

verfassungsrechtlichen Normen zum Ausdruck gebracht ist.

1063

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 43; U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E.

Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik

Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 40; A. Piekarski, Wolność sumienia i wyznania w Polsce, Warszawa 1979, S.

52. 1064

J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,

S. 123. 1065

A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 73. 1066

Ebenda, S. 74.

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268

Die wichtigsten Bereiche der Staatstätigkeit, in denen das Recht auf Gewissensbildung

tangiert ist und gegebenenfalls verletzt werden kann, sind die Bildung und die Massenmedien.

Die nachstehenden Ausführungen haben zum Zweck, diese Problematik im polnischen

Kontext darzustellen.

2.2.3.2. Das Recht auf Gewissensbildung im schulischen Bereich

Die Rolle des Staates hinsichtlich der Gewissensbildung ist besonders schwerwiegend in der

Schulbildung. Wenn Kinder die Schule eintreten, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen

dem staatlichen Bildungsauftrag einerseits und dem elterlichen Erziehungsrecht sowie der

Gewissensfreiheit der Kinder andererseits. Dieses Spannungsverhältnis ist darauf

zurückzuführen, dass den Entscheidungen über Bildungsziele und Stoffwahl immer eine

Wertung zugrundeliegt; der Unterricht ohne weltanschauliche Implikationen ist nicht

möglich.

Die schulische Erziehung basiert auf bestimmten, durch die Verfassung legitimierten

Wertepräferenzen.1067

Die genauere Aufzählung der Werte, nach welchen sich der Prozess der

Unterrichtung und Erziehung leiten soll, enthält die Präambel zum Gesetz über das

Bildungssystem. Dazu gehört u.a. das Gebot der Respektierung der christlichen Werte, die

Offenheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe zum Vaterland. Als Grundlage für die

Erziehung sollen dabei universelle Grundsätze der Ethik angenommen werden. In der Lehre

wurde zwar mit Recht bemerkt, dass der Bezug auf die genannten Werte äußert geringe

Bedeutung für die Auslegung und Anwendung des Gesetzes hat,1068

ihre Einbeziehung in den

Text zeigt aber, dass die schulische Erziehung im ethischen Vakuum unvorstellbar ist.

Unter den in der Präambel zum Gesetz über das Bildungssystem aufgezählten Werten hat die

Erwähnung des christlichen Wertesystems gewisse Kontroverse hervorgerufen. Nach einer

Meinung ist das Gebot, das christliche Wertsystem beim gleichzeitigen Hinweis auf

universelle Grundsätze der Ethik als Grundlage der Bildung zu respektieren, als Ausdruck

eines weltanschaulichen Kompromisses zu deuten, welcher auch in der Präambel zur

Verfassung ersichtlich ist. „Auf diese Art und Weise achtet der Gesetzgeber die Rechte der

1067

H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 75. 1068

M. Pilich, Ustawa o systemie oświaty. Komentarz, Warszawa 2009, S. 22.

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269

Gläubigen, indem er auf die Zugehörigkeit unseres Landes zum bestimmten Kulturkreis

hinweist, aber gleichzeitig achtet er auch die Überzeugungen Anderer, indem er darauf

hinweist, dass nichtsdestoweniger universelle Grundsätze der Ethik die Grundlage für die

Unterrichtung bildet.“1069

Nach einer anderen Ansicht führt die ausdrückliche Erwähnung

eines bestimmten Wertsystems in dem Bildungsgesetz zu seiner Privilegierung.1070

Außerdem

gehört der Begriff: „das christliche Wertsystem“ der Sprache der Philosophie und Theologie,

deshalb fehlt ihm die rechtliche Präzision,1071

deswegen wäre sachgerecht, ihn in den

Gesetzestext nicht einzuschließen.

Die „ordentliche“ staatliche Einflussnahme auf den Prozess der moralischen Erziehung etwa

im Rahmen der Schulaufsicht, Festlegung der Bildungsziele, oder Einführung des

Ethikunterrichts kann als unzulässiger Zugriff auf das forum internum des Einzelnen

grundsätzlich nicht angesehen werden.1072

Die Pflicht des Staates zur Bewahrung der

pluralistischen Vielfalt im Bereich der Bildung ist nicht verletzt, wenn der Staat werbend für

normativ abgesicherte Werte eintritt, solange er auf ihren absoluten Richtigkeitsanspruch

verzichtet. Derartige Werte sind etwa in Grundrechtsgehalten verankert.1073

Auch das

elterliche Erziehungsrecht kann im Schulleben den absoluten Vorrang nicht beanspruchen;

ansonsten wäre die Schulerziehung schlechthin unmöglich. Es ist vielmehr von

Gleichrangigkeit von dem elterlichen Erziehungsrecht und dem staatlichen Bildungsauftrag

auszugehen, während auf dem sittlich–weltanschaulichen Gebiet den Vorrang dem

Elternrecht einzuräumen ist.1074

Gelegentlich wird die Meinung vertreten, dass die Gewissensbildungsfreiheit in ihrer

subjektivrechtlichen Dimension das Recht beinhaltet, von den gewissenswidrigen

Unterrichtsinhalten freigestellt zu werden. Die Befreiung von der Teilnahme am

Religionsunterricht soll danach als Modell dienen. Ähnliche Regelung könnte etwa im Fall

der Sexualkunde eingeführt werden. Damit jedoch das von einem Lehrfach befreite Kind

keine Bildungskosten in Gestalt von verringerten Bildungschancen trägt, sind durch die

Schule Alternativen zu schaffen. Der zitierte Autor findet auch die Alternative Religion/Ethik

1069

A. Król, P. Kuzior, M. Łyszczarz, Prawo oświatowe. Komentarz do ustawy o systemie oświaty, Warszawa,

Bielsko – Biała 2009, S. 16. 1070

J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 271, Rn. 15. 1071

J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 270, Rn. 14. 1072

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. 1073

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 184. 1074

H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 572.

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270

verfassungsrechtlich problematisch, wenn im Fall einer Kollision zwischen dem Gewissen des

Kindes und der Eltern keine Ausweichmöglichkeit besteht. Der Unterricht in Ethik ist, wie

tolerant und zurückhaltend er auch sein mag, stets eine potenzielle Gefährdung der freien

Gewissensbildung des Einzelnen.1075

Wie oben ausgeführt wurde, weist das Recht auf Gewissensbildung eine enge Affinität mit

dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates auf. In dem Schulwesen

ist vor allem seine negatorische Dimension als eines der Gestaltungsprinzipien des

öffentlichen Schulwesens von Bedeutung. So gesehen ist der Bildungsauftrag dem Staat

insoweit anerkannt, den Kindern die Möglichkeit zur Aneignung vom Wissen und

Fertigkeiten bereitzustellen. Die Einflussnahme durch weltanschauliche Inhalte ist nur dann

gerechtfertigt, wenn es sich dabei um eine „unausweichliche Begleiterscheinung der

Wissensvermittlung oder um die Vermittlung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen

handelt.“1076

Im Zusammenhang mit der Gewissensbildung ist auch die Gleichstellung des Ethikunterrichts

im Verhältnis zum Religionsunterricht problematisch. Die polnische Verfassung bestimmt in

Art. 53 Abs. 4, dass die Religion einer Kirche oder einer anderen rechtlich anerkannten

Glaubensgemeinschaft zum Gegenstand des schulischen Unterrichts werden kann, ohne dass

dabei die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen verletzt werden darf. Auch

gemäß dem General Comment Nr 22, zum Art. 18 Abs. 4 IPbpR ist die Unterrichtung der

allgemeinen Religions- und Ethikgeschichte erlaubt, vorausgesetzt, dass diese Fächer in einer

neutralen und objektive Art und Weise dargestellt werden. Danach ist auch die Unterrichtung

einer bestimmten Religion in den öffentlichen Schulen mit dem Art. 18 Abs. 4 IPbpR

vereinbar, wenn eine nichtdiskriminierende Alternative, welche den Wünschen der Eltern

oder des Vormunds gerecht wird, zur Verfügung gestellt wird oder das Recht zur Befreiung

eingeräumt wird.1077

Nach polnischem Recht erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz

auf weltanschaulichen Unterricht (etwa Ethikunterricht) nicht.1078

Das Recht auf den

1075

H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 576f. 1076

Ebenda, S. 578. 1077 Human Rights Committee, General Comment No 22: The Right to Freedom of Thought, Conscience and

Religion (Art. 18), U.N. Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 4, 1993,

http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/comments.htm , (25.06.2011), para. 6. 1078

M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 256ff., P. Tuleja, Prawo Konstytucyjne, Warszawa

1995, S. 108; B. Banaszak in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do konstytucji z roku 1997,

S.104; E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001,

S. 93.

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271

Unterricht beschränkt sich ausschließlich auf die Religion, gleichwohl können sich die

Nichtgläubigen auf den allgemeinen Gleichheitssatz berufen.1079

Der Schutz vom Unterricht

als eine der Ausübungsformen eines Glaubens oder Weltanschauung in der polnischen

Verfassung wird somit enger als in den völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der

Menschenrechte gefasst, wo der Begriff „teaching“ weit interpretiert wird, und bezieht sich

nicht nur auf die Unterweisung in einem religiösen Glauben, sondern umfasst auch Unterricht

in einer nichtreligiösen Weltanschauung. Darüber hinaus erstreckt er sich auf

Missionierungstätigkeiten und auf private Überzeugungsversuche.1080

Was den Status des Ethikunterrichts als eine Alternative zum Religionsunterricht in den

polnischen öffentlichen Schulen angeht, is der Standpunkt das Komitees der

Kinderrechtkonvention erwähnenswert, der beobachtet hat, dass obwohl nach dem polnischen

Recht die Wahl zwischen dem Religions-, und Ethikunterricht den Eltern garantiert wird,

bieten in der Tat nur wenige Schulen den Ethikunterricht an. In diesem Zusammenhang wurde

empfohlen, dass die Wahlmöglichkeit zwischen Religion und Ethik in allen öffentlichen

Schulen gewährleistet wird.1081

Art. 53 Abs. 4 Verf, bestimmt weiter, dass im Zusammenhang

mit dem Religionsunterricht die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen nicht

verletzt werden darf. Diese Vorschrift kann als allgemeines Verbot der Unterrichtung und

Beeinflussung gegen den Willen der betroffenen Personen ausgelegt werden. Die durch den

Staat aufgezwungene Unterrichtung in einer bestimmten Religion oder Ethik stellt einen

Eingriff vor allem in die Gewissens- und Glaubensfreiheit der Kinder dar und erst an der

zweiten Stelle ist sie mit dem elterlichen Recht auf Orientierungshilfe in der

Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit ihrer Kinder unvereinbar. Im Bereich der

weltanschauungsrelevanten Unterrichtung sind daher neben den Präferenzen der Eltern auch

Wünsche der Kinder angemessen zu berücksichtigen.1082

1079

B. Banaszak in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do konstytucji z roku 1997, S. 104. 1080

J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg,

Arlington 1996, Rn. 11. 1081

CRC Committee, Concluding Observations: Poland, (UN Doc. CRC/C/15/Add. 194, 2002) paras. 32-33. 1082

E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden – Boston 2006, S. 27.

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272

2.2.3.3. Die Gewissensbildung und das Achtungsgebot des sog. „christlichen

Wertsystems“ im Rundfunkwesen und Fernsehen

Für die Gewissensbildung ist von erheblicher Bedeutung, mit welchen Inhalten sich der

Einzelne als Hörer oder Zuschauer in den Massenmedien konfrontiert. In diesem

Zusammenhang hat sich der Verfassungsgerichtshof mit der Auslegung einiger

Bestimmungen des Rundfunk- und Fernsehengesetzes von 29. Dezember 19921083

beschäftigt,

welche das Gebot enthalten, in den Sendungen „christliche Werte, die mit den universellen

Prinzipien der Ethik vereinbar sind, zu respektieren“ (Art. 21 Abs.2 S. 6), sowie „die

religiösen Überzeugungen der Empfänger und insbesondere das christliche Wertsystem“ zu

achten (Art. 18 Abs. 2). Gegen die Einbeziehung dieser Pflicht in den Gesetzestext wurde

eingewandt, dass der Kategorie der „christlichen Werte“ durch ihre Verankerung in einem

Gesetz der normative Charakter zugeschrieben wurde. Ihre Einbeziehung in das Gesetz hat

nämlich zur Folge, dass das christliche Wertesystem im Verhältnis zu anderen Wertsystemen

privilegiert wird, wodurch das Prinzip der Gleichbehandlung verletzt wird. Diese Rechtslage

verstößt somit nach Meinung des Beschwerdeführers unter anderen gegen den

Gleichheitssatz, die Religionsfreiheit sowie die Meinungsfreiheit. Der Verstoß gegen die

Meinungsfreiheit wurde damit begründet, dass keine einheimischen und völkerrechtlichen

Garantien dieses Grundrechts ihre Einschränkung in Bezug auf irgendeines Wertesystem

vorsehen. Weiterhin hat der Beschwerdeführer argumentiert, dass das Rundfunk- und

Fernsehengesetz unter Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und dessen objektiven Kriterien

willkürlich darüber bestimmt, dass nur eines der vielen existierenden Wertesystemen, nämlich

das christliche, als Kriterium der Ausstrahlung von Rundfunksendungen dient. Dies hat zur

Folge, dass die Ausstrahlung einer Sendung, die auf einem anderen Wertesystem gegründet

ist, eingeschränkt werden könnte. Darüber hinaus wird (zu Recht) argumentiert, dass der

Begriff der „christlichen Werte“ näher nicht präzisiert und ihre Beziehung zu den

„universellen Prinzipien der Ethik“ nicht geklärt worden sind. Die umstrittene Rechtsnorm

besitzt somit den Charakter einer Generalklausel, die einen starken Einfluss auf die

öffentliche Tätigkeit des Rundfunks und Fernsehens nimmt.

1083

Ustawa o radiofonii i telewizji Dz. U. 1993 Nr. 7 poz. 34.

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273

Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes1084

ist der Vorwurf des Beschwerdeführers

unbegründet; Art. 18 Abs. 2 des Rundfunk- und Fernsehengesetzes ist als das Verbot der

Verletzung der religiösen Gefühle auszulegen. Die Formulierung „insbesondere das

christliche Wertesystem zu respektieren“ ist nur als ein Beispiel grammatischer Auslegung

anzusehen, das „durch starke Verankerung und Verwurzelung dieses Wertesystems in der

polnischen Tradition und Kultur unabhängig von der Stellungnahme der einzelnen Personen

zu Religion“ begründet ist. Eine Rundfunksendung, die gegen das christliche Wertesystem

gerichtet ist, verstößt gegen Art. 18 des Rundfunk- und Fernsehengesetzes nur dann, wenn sie

die religiösen Gefühle der Zuschauer verletzt. Die Respektierung des christlichen

Wertsystems ist nicht mit dessen Propagierung gleichzustellen. Darüber hinaus bezieht sich

das Gebot auf das Programm als Ganze und nicht auf eine konkrete Sendung, deshalb muss

zwecks der Feststellung eventueller Rechtswidrigkeit das ganze Programm und nicht seine

konkreten Einzelheiten untersucht werden. Die Normen des Art. 21 Abs.2 müssen auch mit

anderen Grundsätzen etwa mit dem Verbot der präventiven Zensur und Äußerungsfreiheit in

Einklang gebracht werden.1085

Diese Auslegungsalternative wurde auch in der Lehre mit dem

Hinweis bejaht, dass das nahste Synonym für „respektieren“ das Wort „nicht verletzen“ ist.

Das Gebot, das christliche Wertsystem zu respektieren, bedeutet somit das passive Verhalten

der Normadressaten: „Der Adressat soll das christliche Wertsystem lassen so wie es ist.“1086

Des Weiteren sah der Verfassungsgerichtshof die Vorschriften des Rundfunk- und

Fernsehengesetzes als eine notwendige Einschränkung der Äußerungsfreiheit, die den

Anforderungen der Verfassungsmäßigkeit genügen. Die Grundlage für die aufgegriffenen

Vorschriften ist der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit, der auch im Verbot der

Verletzung religiöser Überzeugungen zum Ausdruck kommt. Religiöse Überzeugungen

unterliegen, unabhängig von ihren Charakter, dem besonderen Schutz im polnischen

Rechtsystem, da sie unmittelbar mit der Gewissens- und Religionsfreiheit verbunden sind.

Das im Gesetz festgelegte Verbot der Verletzung und Gebot der Respektierung religiöser

Gefühle, das eine Entsprechung im Art. 198 Strafgesetzbuch und Art. 23 Zivilgesetzbuch

findet, wird vom Verfassungsgerichtshof somit als zulässige Einschränkung der Freiheit der

Meinungsäußerung anerkannt.

1084

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 7. Juni 1994 (K 17/93). 1085

Beschluss des Verfassungsgerichtshofes von 2. März 1994 (W 3/93), OTK z 1994 cz. I, S. 153 ff. 1086

J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 270, Rn. 12.

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274

Darüber hinaus ist die Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 S. 6 nach Ansicht des

Verfassungsgerichthofs wie in seinem Beschluss OTK 1994/1/17 W 3/93 auszulegen.

Während die Rundfunksendungen das christliche Wertesystem respektieren sollen, sind als

ihre Grundlage die universellen Prinzipien der Ethik anzunehmen. Das Gebot der

Respektierung vom christlichen Wertesystem kann nicht als Gebot ihrer Propagierung

aufgefasst werden. Art. 21 Abs. 2 S. 6 gibt lediglich Werte vor, die in den Sendungen des

öffentlichen Rundfunks und Fernsehens nicht negiert werden sollen. Das Anliegen des

Gesetzgebers war, auf die Werte der christlichen Kultur hinzuweisen, die gleichzeitig

grundlegende, universelle Prinzipien der Ethik darstellen. Jede andere Auslegung der Norm

des Art. 21 Abs. 2 S. 6 würde zu Ergebnissen führen, die mit dem Diskriminierungsverbot

und dem Prinzip der Neutralität des Staates unvereinbar wären. Insbesondere sind die Begriffe

„christliche Werte“ und „Religion“ nicht gleichzustellen.

Eine andere Auslegung würde auch mit anderen Vorschriften des Rundfunkgesetzes, die die

Tätigkeit des Rundfunks normieren, nicht vereinbar. Damit meinte der

Verfassungsgerichtshof insbesondere Art. 21 Abs. 2 S. 3 und S. 4 sowie Art. 24 des

Rundfunkgesetzes über die Teilhabe des Rundfunks am öffentlichen Leben durch Darstellung

unterschiedlicher Meinungen und Stellungnahmen sowie Art. 28 Abs. 7 über die breite

Beteiligung der Bürger und politischer Gruppen bei der Gestaltung des Rundfunkprogramms.

Der Verfassungsgerichtshof erkannte keine Verletzung durch Art. 21 Abs. 2 S. 6 des in der

Verfassung verankerten Gebots der gleichen Behandlung, da er kein Primat eines bestimmten

Wertesystems festlegt. Der Verfassungsgerichtshof sieht hierin nur eine von mehreren

Richtlinien, die das Programm des öffentlichen Rundfunks bestimmen und die sich auf die

Werte der christlichen Kultur, die mit den universellen Prinzipien der Ethik übereinstimmen,

berufen.

Insofern ist der Gedankenweg des Verfassungsgerichtshofs nicht transparent: wenn das

Gesetz nur die universellen Prinzipien der Ethik in Schutz zu nehmen beabsichtigen würde,

gäbe es keinen Grund für den Gesetzgeber, eine begriffliche Unklarheit zu schaffen. Die

Erwähnung der ethischen Werte alleine würde genügen. Mit seiner Einführung könnte

allerdings der Gesetzgeber durchaus den Eindruck erwecken, gerade ihnen besondere

Aufmerksamkeit schenken zu wollen. Der Verfassungsgerichtshof übte allerdings Kritik an

der Redaktion des Art. 21 Abs. 2 S. 6. Sein Inhalt sei nicht transparent und bedürfe der

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275

Auslegung, ohne die Zweifel wegen ihrer Vereinbarkeit mit den Verfassungsnormen bestehen

bleiben könnten.

2.3. Fazit zum Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit

Als Fazit ergibt sich, dass das forum internum der Gewissensfreiheit das Recht auf eine innere

diskursive Auseinandersetzung im Gewissen, das Recht, eine aus der inneren

Auseinandersetzung resultierende Gewissensentscheidung zu treffen und eine entsprechende

moralische Überzeugung zu haben sowie das Recht auf Geheimhaltung der Gewissensinhalte

umfasst, es sei denn dass die Offenbarung der Gewissensentscheidung zur Ausübung anderer

Rechte notwendig ist. Den Kern des verfassungsrechtlichen Schutzes der Gewissensfreiheit

bildet allerdings die Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen und von unzulässiger

Beeinflussung, insbesondere auf den Prozess der Gewissensbildung, wenn auch die

Abgrenzung zwischen erlaubten und sogar unabdingbaren Maßnahmen des Staates und der

verbotenen Indoktrinierung schwierig sein mag. Das entscheidende Kriterium wäre in den

Zweifelsfällen der Zweck, welcher der betroffenen Handlung oder Maßnahme unterliegt.

3. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit

Die fogenden Auführungen haben zum Zweck, zu untersuchen, ob sich der Schutz der

Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung in der Gewährleistung der geistigen inneren

Freiheit erschöpft oder sich vielmehr auf den Bereich der Betätigungsfreiheit ausdehnen lässt.

Falls der grundrechtliche Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit bejaht wird, ist zu

untersuchen, wieweit die Gewährleistung des forum externum greift, d.h. der Umfang der

Ausübungsfreiheit der Gewissensentscheidungen zu bestimmen.

Die Erstreckung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung auf

das Handeln nach Maßgaben des eigenen Gewissens könnte auf ein systematisches

Gegenargument stoßen. Wenn es richtig ist anzunehmen, dass die Freiheit der

Religionsausübung nicht aus Art. 53 Abs. 1 Verf. hergeleitet wird, sondern in den folgenden

Absätzen desselben Artikels, welche die einzelnen Aspekte der Religionsausübung

gewährleisten, konstitutiv geregelt ist, dann wäre eine Auslegung des Art. 53 Abs. 1 Verf.,

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276

wonach die dort genannten Rechte lediglich das forum internum betreffen, durchaus

gerechtfertigt. Diese enge Auslegung des Art. 53 Abs. 1 Verf. scheint dadurch bestätigt zu

sein, dass die Verfassung das Wehrdienstverweigerungsrecht ausdrücklich normiert. Die

explizite Regelung eines sehr engen Ausschnitts aus dem Fächer der denkbaren Modalitäten

der Gewissensausübung spricht eher gegen als für eine extensive Auslegung der

Gewissensfreiheit. Die Regelung des Wehrdienstverweigerungsrechts wäre nämlich

entbehrlich, wenn der Verfassungsgeber die allgemeine Ausübungsfreiheit der

Gewissensentscheidungen garantierten würde. Darüber hinaus bezieht sich die

Beschränkungsklausel der Grundrechtsausübung lediglich auf die Religionsfreiheit. Ihre

Auslegung nach Wortlaut würde zur Annahme führen, dass die Gewissensfreiheit das

schrankenlose Recht ist, was zur Folge hätte, dass jede Rechtspflicht vor dem Gewissen des

Einzelnen zurücktreten müsste.

In diesem Zusammenhang entsteht allerdings die Frage, ob sich die Religionsfreiheit gemäß

Art. 51 Abs. 1 Verf. auf die Glaubensverwirklichung nicht erstreckt, weil diese von ihr

begrifflich ausgeklammert ist, oder lediglich deshalb, weil sie trotz ihrer grundsätzlichen

Erstreckbarkeit auf die Glaubensverwirklichung positivrechtlich von der in Art. 53 Abs. 2 - 4

Verf. enthaltenen Regelung der einzelnen Modalitäten von Religionsausübung, die gegenüber

Art. 53 Abs. 1 Verf. lex specialis sind, verdrängt ist. Die erste Alternative bedeutet, dass wenn

es Absätze. 2 - 4 des Art. 53 Verf. nicht gäbe, könnte das Recht auf Religionsausübung aus

der allgemeinen Religionsfreiheit nicht hergeleitet werden. Die grammatische Auslegung des

Begriffs „Gewissens- und Religionsfreiheit“ lässt allerdings die Ausschließung der

Betätigungsfreiheiten nicht zu. Es ist daher durchaus vertretbar, dass Art. 53 Abs. 2 – 4 Verf.

lediglich eine klarstellende Funktion erfüllt. Dies kann damit begründet werden, dass die in

Art. 53 Abs. 2 - 4 Verf. befindliche Aufzählung der Ausübungsmodalitäten der Religion nicht

enumerativ ist: Wenn die Aufzählung als erschöpfend zu betrachten wäre, müsste

angenommen werden, dass durch die polnische Verfassung etwa das Recht auf

Religionswechsel nicht geschützt wird, weil es in Art. 53 nicht explizit erwähnt wurde.

In diesem Zusammenhang sei der Argument Pietrzaks erwähnt, dass die Auslegung, wonach

die Gewissens- und Religionsfreiheit auf die in Art. 53 Verf. ausdrücklich verankerten

Ausübungsformen der Religionsfreiheit reduziert wird, mit dem verfassungsrechtlichen

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277

Verbot der Verletzung des Wesens der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht vereinbar

wäre.1087

Der zitierte Autor setzt die klarstellende Funktion des Art. 53 Abs. 2-4 Verf. implizit

voraus; Ohne diese Prämisse müsste er nämlich annehmen, dass die Aufzählung der einzelnen

Ausübungsformen eine Legaldefinition der Religionsfreiheit ist und dadurch für den

grundrechtlichen Gehalt der Gewissens- und Religionsfreiheit eine konstitutive Bedeutung

hat. Das Wesen der Religionsfreiheit würde dann durch Art. 53 Abs. 2 -7 Verf. bestimmt. Die

Berufung auf das im Verhältnis zu diesen Vorschriften „extern“ definierte Wesen des

Grundrechts würde in diesem Fall nicht standhalten. Dieser Meinung ist unter Hinweis darauf

beizupflichten, dass ein Rechtsakt, welcher eine Freiheit normiert, begriffsnotwendig einen

deklaratorischen Charakter hat. Da der Staat kein Disponent der menschlichen Freiheit ist,

kann er die Freiheit nicht konstituieren. Die Regulierung der Freiheit soll daher lediglich ihre

Einschränkungsvoraussetzungen in Form der Gebote oder Verbote erschöpfend festlegen. Es

sollen dabei nur diejenigen Freiheitsausübungen reglementiert werden, welche für Andere

schädlich sein können. Der Rechtsakt soll dabei keine Aufzählung dessen enthalten, was

erlaubt ist.1088

Die deklaratorische Rolle der Absätze 2-4 des Art. 53 Verf. lässt sich auch mit Hilfe eines

rechtsvergleichenden Arguments d.h. aus dem Vergleich der Regelungen der

Gewissensfreiheit in der Verfassungen Deutschlands und Polen bestätigen. Art. 53 Verf. und

Art. 4 GG weisen eine strukturelle Ähnlichkeit hinsichtlich der Regelungsweise der einzelnen

Aspekte der Gewissens- und Glaubensfreiheit auf; Wie die polnische Verfassung in Art. 53

Abs. 1 proklamiert Art. 4 Abs. 1 GG zuerst allgemein die Freiheit des Glaubens, die einzelnen

Manifestierungsformen der in Abs. 1 genannten Grundrechte werden dagegen in folgenden

Absätzen aufgezählt. Die Regelungsunterschiede der Gewissens- und Religionsfreiheit in

beiden Verfassungen betreffen den Grad der Detailliertheit der Normierung: während die

polnische Verfassung die einzelnen Ausübungsformen der Religion ausführlich regelt und

legt zusätzlich die Grundrechtschranken fest, garantiert das Grundgesetz allgemein die

religiöse und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit, ungestörte Religionsausübung sowie das

Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die Ähnlichkeit der beiden Verfassungstexte besteht

1087

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –

Historyczne, 2001, Heft 1, S. 127. 1088

L. Wiśniewski, Zasady normatywnej regulacji wolności i praw człowieka, in: Konstytucja i Władza we

współczesnym świecie. Prace dedykowane Profesorowi Wojciechowi Sokolewiczowi na siedemdziesięciolecie

urodzin, Warszawa 2002, S. 112f.

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278

somit im formalen Aufbau der betroffenen Vorschriften d.h. in der Regelung „vom

Generellen zum Speziellen“; die Unterschiede beziehen sich dagegen auf die inhaltliche

Ausgestaltung der Ausübungsmodalitäten der Glaubensfreiheit, dabei hebt sich die polnische

Verfassung mit ihrer religiösen Einseitigkeit ab. Für die vorliegende Untersuchung ist aber

nur relevant, dass sich weder das Grundgesetz noch die polnische Verfassung zur Frage der

Gewissensbetätigung ausdrücklich äußert; die anderen sachlichen Unterschiede beider

Regelungen sind hier ohne Belang.

Das BverfG steht auf dem Standpunkt, dass die Freiheit der Religionsausübung im Grunde

genommen schon in der allgemeinen Glaubensfreiheit ohnehin enthalten ist.1089

Das

Grundrecht auf freie Religionsausübung ist „an sich im Begriff der Glaubens- und

Bekenntnisfreiheit“1090

enthalten. Folgerichtig kommt dem Art. 4 Abs. 2 GG lediglich

deklaratorische Bedeutung zu. Aus der Tatsache, dass das GG zum Thema der allgemeinen

Gewissensverwirklichung schweigt und dass das BverfG beim Fehlen des Art. 4 Abs. 2 GG

das Religionsausübungsrecht aus Abs. 1 herleiten würde, zieht Herzog den Schluss, dass das

BverfG unter Anwendung dieser Auslegungsmethode das Grundrecht der Gewissensfreiheit

im Ernstfall auf das äußere Handeln erstrecken würde.1091

Wegen der Parallelität der Struktur

von den verglichenen Vorschriften lässt sich die Argumentation der deutschen

Rechtsprechung und Lehre auf die polnische Verfassung übertragen. Diese Ansicht wird auch

hinsichtlich der Regelung der Gewissensfreiheit in der EMRK vertreten: danach werden die

Ausübungsfreiheiten bereits im Begriff der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

enthalten. Dabei wird die Gewissensfreiheit als das Recht begriffen, die gewählten

Lebensprinzipien zu haben, zu bekunden und nach ihnen das Leben auszurichten.1092

Diese

Aussage trifft sicherlich im bezug auf Gedankenfreiheit nicht zu, weil das forum externum

dieser Freiheit durch Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt wird.

1089

Z.B. BverfGE 24, 236 (245); 32, 98 (106); 41, 29 (49); 69, 1 (33). 1090

BverfGE 24, 236. 1091

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 134. 1092

F. G. Jacobs, R. C. White, The European Convention on Human Rights, Oxford 1996, S. 211, G. del Moral,

La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia

y función pública, Madrid 2007, S. 248.

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279

In dem älteren, inzwischen überholten, Schrifttum war der Schutzbereich der

Gewissensfreiheit auf die psychische Sphäre des forum internum beschränkt.1093

In der

deutschen Lehre ist für diese Auslegung die Meinung Schollers kennzeichnend, der den

Schutzbereich der Gewissensfreiheit wie folgt interpretiert: „Die Anschauung jedes Menschen

von Gott, Welt und Staat sowie die innere Schau der Werte sind unantastbar und ihre

Gestaltung ist innerhalb der Geheimsphäre unverletzlich.“1094

Der Schutz der

Gewissensfreiheit wird gemäß diesem Autor auch auf den Bereich der geheimen

Kommunikation zwischen Familienangehörigen und Freunden auf die Sphäre des forum

externum ausgedehnt.1095

Die dargestellte Auffassung wird zuerst dem Phänomen des Gewissens als innerer Instanz

zwingend gebotenen Verhaltens nicht gerecht. Jede Gewissensentscheidung drängt nach

Umsetzung ins praktische Verhalten und fordert von dem Einzelnen, in der Außenwelt

verwirklicht zu werden.1096

Jede rechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit muss daher

so verstanden werden, dass sie auch das gewissensgemäße Verhalten absichert. Bereits im

Verlauf der geschichtlichen Entwicklung war die Gewissensfreiheit, wenn auch mit der

Religionsfreiheit gleichgestellt, niemals auf den Bereich des forum internum zurückgeführt.

Im 16. und 17. Jh. war sie nicht nur als das innere Glaubenkönnen, sondern auch als eine

Mindestform der Glaubensbetätigung (Hausandacht) verstanden. Nach dem ihr

innewohnenden Prinzip drängte die Gewissensfreiheit in Richtung weiterer privaten und

öffentlichen Religionsausübungsformen bis zur Gewährleistung voller Kultusfreiheit für alle

Staatsbürger und nicht nur für Angehörige der staatlich anerkannten Kirchen. Auch die

Einfügung des Gesetzesvorbehaltes zugunsten der staatsbürgerlichen Pflichten in die

Verfassungen des 19. Jh., also aus dem Zeitalter des voll entwickelten

Staatssouveränitätsanspruchs, setzt das Verständnis der Gewissensfreiheit als das forum

externum umfassendes Recht voraus.1097

1093

L. Sánchez Agesta, Sistema político de la Constitución Española, S. 131; R. Zippellius, Artikel 4, Glaubens,-

Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R.

Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008 Rn. 42 – 45. 1094

H. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 131ff, 217. 1095

Ebenda, S. 134. 1096

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2006,

S. 12. 1097

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 51f.

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280

Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, dass die Gewissensfreiheit eine Ausprägung der

allgemeinen menschlichen Freiheit bildet. Die Freiheit hat jedoch nicht nur eine

abwehrrechtliche negative Dimension (Freiheit vom Zwang), welche auf der normativen

Ebene in Opposition zu den Kompetenzen der zur Regulierung des sozialen Lebens befugten

Subjekte steht. Zu ihrem Wesen gehört vielmehr ihr positiver Aspekt, d.h. die Möglichkeit des

Einzelnen, die Wert- und Handlungsentscheidungen zu treffen, also das Recht auf

Selbstbestimmung. Außerdem hat die menschliche Freiheit eine interne und externe Seite. Die

innere Dimension bezieht sich auf die innerliche Autonomie des Menschen und auf seine

Fähigkeit, selbstbestimmte Wertentscheidungen zu treffen. Die äußere Dimension der Freiheit

hat dagegen den sozialen Charakter und besteht in der Möglichkeit, die getroffenen

Wertentscheidungen zu verwirklichen und das konkrete Handeln in der Außenwelt unter

konkreten Umständen der menschlichen Existenz vorzunehmen.1098

Gerade auf die externe

Dimension der Freiheit bezieht sich Herzog, der das Grundrecht der Gewissensfreiheit wie

folgt auslegt: „Nach der hier vertretenen Auffassung wird dem Sinn des Art. 4 I GG

tatsächlich auch nur eine Auslegung gerecht, die in die Freiheit der Gewissensentscheidung

grundsätzlich auch die Freiheit der Gewissensverwirklichung einbezieht. Es wäre mit dem

Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, wenn man annehmen wollte,

dass das Grundgesetz in irgendeiner Grundrechtsvorschrift ausschließlich einen inneren

Vorgang garantiere, ohne zugleich Aussagen über die praktischen Auswirkungen zu treffen.

Was immer man über das Menschenbild des Grundgesetzes denken mag, steht doch jedenfalls

fest, dass es sich nicht in der tatenlosen Atmosphäre des ‚stillen Kämmerchen‟ erschöpft.“1099

Diese Ansicht betrifft zwar die Regelung der Gewissensfreiheit in dem deutschen

Grundgesätz, lässt sich aber wegen derselben axiologischen Grundlagen (Achtung und Schutz

der menschlichen Freiheit) der Verfassungen beider Länder in die polnische

Grundrechtsdogmatik ohne weiteres transponieren. In der Tat: „Gewissensfreiheit beschränkt

auf innere Freiheit zu postulieren, ist ein Zynismus gegenüber der Person, verdeckt durch den

Anschein des Respekts.“1100

Im Zusammenhang mit der Bedeutung der menschlichen Freiheit

ist somit nach Böckenförde zu konstatieren, dass durch die Beschränkung des Schutzbereichs

der Gewissensfreiheit auf das forum internum das Grundrecht auf den Maß verkürzt würde,

„das auch ein Diktator gewähren kann, sofern er sich nur Orwell„scher Methoden enthält.“1101

1098

H. Skorowski, Problematyka praw człowieka, Warszawa 1999, S. 109f. 1099

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 135. 1100

P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 382. 1101

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 51

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281

Heutzutage wird die Beschränkung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Sphäre

des forum internum mit dem unbeschränkbaren Charakter des Gewissens begründet. Die

Säkularisierung der Gewissensfreiheit hat nämlich zur allmählichen Erweiterung deren

Schutzbereichs sowohl hinsichtlich des geschützten gewissensmäßigen Verhaltens, als auch

hinsichtlich seiner Begründung geführt. Dies spiegelt sich in der Interpretation des

verfassungsrechtlichen Begriffes „Gewissensfreiheit“ wider, welchem der erweiterte

Sinngehalt zugeschrieben wird.1102

Wenn allerdings davon auszugehen wäre, dass der

Gewissensentscheidung jeder Typ des Verhaltens als Motivationsbasis zugrundeliegen kann,

müsste jede gesetzliche Pflicht als eine potenzielle Beschränkung der Freiheit ihrer

Betätigung angesehen werden. In der Tat, „es können so viele Verweigerungsformen

vorkommen, wie viele Gewissensinhalte gibt es.“1103

Im Bereich des forum externum können

Konflikte zwischen der extensiv geschützten Gewissensfreiheit und der allgemeinen

Rechtsordnung entstehen, weil es keinen numerus clausus der Sachverhalte der Verweigerung

aus Gewissensgründen gibt. Dies hat Befürchtungen hervorgerufen, dass die Gleichsetzung

der Gewissensfreiheit mit dem Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen auf „reinsten

Anarchismus“1104

, bzw. auf die „Negation der Idee des Staates“1105

hinauslaufen würde.

Diese „Bereichslosigkeit“1106

der Gewissensfreiheit ist dadurch verursacht, dass das

Individuum in seiner moralischen Souveränität entscheidet, was zur Gewissenssache wird.

Das Gewissen ist zu einer rein subjektiven Kategorie geworden. Im voraus kann deshalb nicht

gesagt werden, in welchem Zusammenhang und mit welchem Befehl es im Einzelfall auf den

Plan tritt. Die inhaltliche Objektivierung des Gewissens ist nicht möglich, da letzten Endes die

individuell anerkannten Wertmaßstäbe und deren Unverbrüchlichkeit den Inhalt der

Gewissensentscheidung ausmachen.1107

Dies hat zur Folge, dass die Beschränkung der

Gewissensfragen auf einen abgesteckten Bereich der Lebenswirklichkeit nach der

Herauslösung der Gewissensfreiheit aus dem Kontext der Religionsfreiheit nicht mehr

möglich ist. Bei der Gewissensfreiheit handelt sich weder um Schutz bestimmter Rechtsgüter

wie etwa Leben oder Gesundheit, noch um abgesteckte Bereiche menschlichen Handelns wie

1102

J. Guzman Lopez, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 18; A. Ruiz Miguel, Sobre la

fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, 1986/87, S. 409; F. Filmer,

Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 109. 1103

V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 416. 1104

V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 378. 1105

Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals STC 161/1987. 1106

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 1107

Ch. Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung? , in: JZ, 1993, S. 31.

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282

z.B. Ausübung eines Berufs, sondern um das Handeln schlechthin.1108

Die

Gewissensbetätigungsfreiheit, die als allgemeines Recht durch eine Verfassung oder ein

internationales Abkommen garantiert würde, und zwar unabhängig davon, ob diese Freiheit

der Einschränkungen unterliegen würde oder nicht, ließe sich mit der Rechtsordnung nicht

vereinbaren. Da das Gewissen seinen materiellen Gehalt verloren hat, kann es nicht in einem

identifizierbaren und abgegrenzten Bereich des menschlichen Verhaltens lokalisiert werden.

Aus der „Bereichslosigkeit“ der Gewissensfreiheit folgt unausweislich ihre

Unbeschränktbarkeit, womit ausgeschlossen ist, dass diese Freiheit mit allgemeiner

Einschränkungsklausel ausgestattet wird. Andere Grundrechte unterscheiden sich von der

Gewissensfreiheit damit, dass ihr Gegenstand in viel höherem Maße bestimmbar und

abgrenzbar ist. Ihr Schutzgegenstand bezieht sich nämlich auf spezifizierbare Bereiche der

menschlichen Tätigkeit; sie sind mit bestimmten sozialen Institutionen verbunden und decken

vorhersehbare Verhaltensmuster, was ihrerseits möglich macht, ihre Ausübung mit Hilfe

allgemeiner Schrankenklauseln einzuschränken. Da der Gewissensfreiheit ein

identifizierbarer, hinreichend bestimmbarer Schutzgegenstand fehlt, ist nicht möglich,

generelle Einschränkungen in Form einer Schrankenklausel zu konzipieren.1109

In diese

Richtung argumentiert auch das spanische Verfassungstribunal: Danach stellt der Maßstab der

Vereinbarkeit eines Verhaltens mit den Diktaten des Gewissens ein extrem generelles

Kriterium dar, das nicht zulänglich ist, weder den Gehalt der Gewissensfreiheit sachgerecht

zu bestimmen, noch die durch die Inanspruchnahme dieses Rechts resultierenden

Interessenkonflikte zu lösen. 1110

Aus obigen Ausführungen wird geschlossen, dass die Gewissensbetätigungsfreiheit lediglich

in den durch den Gesetzgeber aufgezählten Fälltypen anerkannt werden kann. Dem „Sprung

von der Gewissensfreiheit zu der Verweigerung aus Gewissensgründen“1111

fehlt sowohl die

verfassungsrechtliche Basis als auch eine rechtliche Rechtfertigung; die Gewissensfreiheit ist

für die ausdrücklich nicht anerkannten Fälle der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht

1108

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 113. 1109

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 262; derselbe: Scope and limits of

conscientious objectors, in: Council of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S. 5, 10, 81 – 83;

Mosquera Monelos, El derecho de a libertad de conciencia y religión en el ordenamiento jurídico peruano, S.

173f. 1110

Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 15/1982 von 23. April 1982 FJ 5. 1111

J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado, Madrid 1993, S. 119.

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283

anwendbar. Während die Gewissensfreiheit einen generellen Charakter hinsichtlich ihres

Umfanges und Inhalts hat, was keine Spezifikation der geschützten Handlungen und

Unterlassungen notwendig macht, erwirbt die Verweigerung aus Gewissensgründen ihre

Eigenschaft des subjektiven Rechts in denjenigen konkreten Tatbeständen, die von dem

Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt sind.1112

Wenn auch aus der rechtsdogmatischen

Perspektive das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen seine Grundlage in Religions-

und Weltanschauungsfreiheit hat, braucht es der ausdrücklichen Anerkennung durch den

Gesetzgeber. Damit wird der ursprüngliche Konflikt zwischen Mehrheitsentscheidungen und

den Gewissenspositionen des Einzelnen behoben. Die Beschränkung des Schutzbereiches der

Gewissens- und Religionsfreiheit auf ausdrücklich geregelte Betätigungsmodalitäten würde

keine erheblichen Rechtsschutzlücken mit sich bringen, weil der Einzelne seinen

Gewissensentscheidungen mittels anderer Grundrechte Geltung verschaffen könnte.1113

Die

enge Interpretationsvariante führ zur größeren Rechtsklarheit, die weite Interpretation d.h.

diejenige, welche das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zulässt, – zur

größeren Rechtsschutzlückenlosigkeit.1114

Die beiden Ansätze sind dabei methodisch

vertretbar.

Die Kritiker der Einschränkung des Schutzes der Gewissensbetätigung auf die durch die

Gesetze normierten Bereiche weisen darauf hin, dass sich dieser Ansatz auf die „legalistische

Mentalität“1115

der Rechtspraktiker zurückzuführen lässt, welche dem Verfassungsbild des

freien Individuums nicht entspricht. Entscheidend ist jedoch, dass den Argumenten über der

Unbestimmtheit der Gewissensfreiheit trotz ihrer prinzipiellen rechtsdogmatischen

Stichhaltigkeit an wirklichkeitsbezogener Stütze fehlt. Die real vorkommenden Konflikte, in

denen sich das Gewissen äußert, begrenzen sich auf Konflikte zwischen Anforderungen

staatlicher Institutionen und Moralen vom universalistischen Typus, d.h. auf religiöse aus dem

Christentum motivierte Gewissensgründen, und auf weltanschauliche d.h. allgemein

pazifistische oder ökologische Motive, die auf allgemeine Menschheitsinteressen Bezug

nehmen. Die Berufung auf beliebige oder gruppenegoistische Gründe kommt äußerst selten

vor. Ganz im Gegenteil kann man davon ausgehen, dass es in der Tat einen numerus clausus

1112

J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado, Madrid 1993, S. 119. 1113

R. Zippellius, Artikel 4, Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 47. 1114

Ebenda, Rn. 50. 1115

J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho

Constitucional, Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 134.

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284

der Gewissensgründe gibt.1116

Auch die These von dem völlig individuellen Charakter der

Gewissensinhalte lässt sich empirisch nicht belegen. Die Gewissensinhalte innerhalb eines

Kulturkreises sind zum gewissen Grad uniform.1117

Aus der Tatsache, dass das Gewissen im

großen Maß durch soziale Bedingungen gebildet wird, kann geschlossen werden, dass es auch

eine soziale Dimension aufweist. Darüber hinaus sieht das positive Recht die Einschränkung

einiger Grundrechte zum Schutz der öffentliche Moral vor, Dies legt den Schluss nahe, dass

nicht nur in der Theologie, sondern im gewissen Sinne auch in der Rechtswissenschaft vom

„richtigen“ Gewissen gesprochen werden kann: „Nicht jedes Gewissen z.B. das

verbrecherische verdient geachtet zu werden.“1118

Daraus ergibt sich, dass atypische Verweigerungsfälle nur vereinzelt vorkommen und keine

Gefährdung für die Stabilität der Rechtsordnung darstellen. Durch die Gewissensfreiheit

können deshalb nicht nur diejenigen Verweigerungstypen geschützt werden, die ausdrücklich

durch den Gesetzgeber anerkannt worden sind. Der grundrechtliche Schutz ist somit auch auf

atypische durch den Gesetzgeber nicht geregelte Verweigerungsfälle auszudehnen. Wenn

nicht nur historische und genetische, sondern auch rechtliche Verbindung zwischen der

Gewissensfreiheit und dem Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen angenommen ist, ist

wegen des Prinzips der unmittelbaren Geltung der Verfassung sowie im Hinblick auf die

hochrangige Position der Grundrechte im Rechtssystem nicht kohärent zu behaupten, dass das

Verweigerungsrecht lediglich in den durch den Gesetzgeber anerkannten Modalitäten

garantiert ist. Die These von dem Ausnahmecharakter des Verweigerungsrechts setzt die

interpositio legislatoris, d.h. die gesetzgeberische Tätigkeit als eine notwendige Bedingung

für die normative Geltung der Grundrechte voraus. Die Grundrechte sind allerdings keine

Programmsätze, sondern unmittelbar geltendes Recht. Die Annahme des allgemeinen

Verweigerungsrechts als eine Ausübungsform der Gewissensfreiheit entspricht somit im

höheren Grad dem Regelungsmechanismus der Grundrechte und ihrer Stellung innerhalb der

Rechtordnung.

1116

H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der

Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf

(20.08.2010) 1117

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von

Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,

Frankfurt am Main, Bern, New York 1987, S. 254ff. 1118

B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,

Dom Organizatora, Toruń 2005, S. 323f.

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285

Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen bringt mit sich die

Notwendigkeit, eine individuelle Norm zu schaffen, in welcher die Anerkennung des Status

des Verweigerers ausgesprochen wird. Dies macht die Verbindung des Verweigerungsrechts

aus Gewissensgründen mit einem prozessualen Verfahren unentbehrlich; die Verweigerung

aus Gewissensgründen wird in den verfahrensrechtlichen Rahmen in Anspruch

genommen.1119

Dies führ dazu, dass bei der Anwendung der Gewissensfreiheit die besondere

Rolle der Gerichtsbarkeit zukommt. Der Richter ist verpflichtet, die Abwägung zwischen dem

Allgemeininteresse an Rechtsbefolgung und dem Individualinteresse an Wahrung eigener

Identität vorzunehmen. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen setzt

dabei voraus, dass das positive Recht neben einzelnen Ausübungsmodalitäten der

Gewissensfreiheit eine Regel enthält, wonach diejenigen, die aus Gewissensgründen handeln,

auf eine „Vermutung der Legalität“1120

rechnen können. Zugunsten des Einzelnen, der eine

Rechtspflicht mit Berufung auf die Gewissensfreiheit nicht erfüllt, soll eine prima facie

Vermutung bestehen, dass er innerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts handelt, ohne

damit auszuschließen, dass diese Rechtsposition gegebenenfalls vor den Werten und

Interessen zurücktreten, die von der verweigerten Rechtspflicht geschützt werden sollen.

Damit würde dem mit dem Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zusammenhängenden

Verdacht der Illegalität entgegengewirkt. Die Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung der

Gewissensfreiheit erscheint besonders deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass in einer

pluralistischen Gesellschaft die Zahl der verweigerten Rechtspflichten theoretisch unbegrenzt

ist, was die erschöpfende gesetzliche Regelung dieser Freiheit praktisch unmöglich macht.

Zum anderen kommen die Verletzungen der Gewissensfreiheit durch indirekte Maßnahmen

wie religions- und gewissensneutrale Gesetzgebung häufiger als direkte Verstöße vor. Dies

setzt die Notwendigkeit der Interessenabwägung bei der Entscheidungsfindung in den

konkreten Fällen voraus, die sachgerechter von der Rechtsprechung als vom Gesetzgeber

vorgenommen werden kann, weil der Gesetzgeber nur in seltenen Fällen zustande ist,

endgültige Lösungen zu bieten.

1119

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 252. 1120

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256, 279ff; P. A.

Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in:

Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264

(01.09.2010); R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español,

Pamplona 1993, S. 487.

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286

4. Der Umfang der Gewissensbetätigungsfreiheit

4.1. Die Bekenntnisfreiheit der Gewissensinhalte

Einige Autoren vertreten die Ansicht, dass das forum externum der Gewissensfreiheit zuerst

das Recht auf Kommunikation des individuellen Selbstbeurteilungsprozesses im Gewissen

und seiner Ergebnisse umfasst.1121

Das dem forum internum zugeordnete Recht auf

Geheimhaltung der Gewissensinhalte findet daher über das forum externum seine Ergänzung.

Die Bekenntnisfreiheit beschränkt sich nach diesem Ansatz nicht auf Kundgabe einer

Religion, sondern erstreckt sich auch auf die Kundgabe der Gewissensinhalte und umfasst alle

Ausdruckmittel wie etwa Sprache, Schrift, Kunst etc. Außerdem schützt die Gewissensfreiheit

das Recht, eine Gewissensentscheidung zu verbreiten und für diese Gewissensentscheidung

zu werben.1122

Wie die Glaubensfreiheit die propaganda fidei garantiert, so gewährleistet die

Gewissensfreiheit die propaganda conscientiae.1123

Die Gewissensfreiheit liegt somit parallel

zur Religionsfreiheit und bezieht sich auf nichtreligiöse Anschauungen in den drei

Tätigkeitsformen: Denken, Sprechen und Handeln.1124

Der Ausdehnungsvorschlag des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Kundgebe der

Gewissensentscheidungen berücksichtigt allerdings nicht, dass sich das Verhalten gemäß dem

eigenen Gewissen (Gewissensbetätigung) vom Bemühen des Einzelnen, seine

Gewissensüberzeugung durch Kundgabe an die Umwelt zu manifestieren, qualitativ

unterscheidet. Die bloße Äußerung einer Gewissensposition, welcher kein unbedingt

bindendes Gewissensgebot zugrundeliegt, wird nicht durch die Gewissensfreiheit, sondern

durch andere Grundrechte (Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit etc.)

geschützt. Darüber hinaus ist die Ausübung einer Gewissensentscheidung von denjenigen

Handlungen abzugrenzen, die zwar vom Gewissen motiviert sind, gleichwohl zum Zweck

haben, das Verhalten eines Anderen zu verändern, oder eine Veränderung in der Außenwelt

herbeizuführen.1125

Zwischen dem Bekennen, das lediglich auf die Kundgabe einer

Gewissensposition gerichtet ist, und dem gewissensmäßigen Verhalten stehen dagegen

1121

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 204. 1122

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 205. 1123

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 1124

A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 183. 1125

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S.181.

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287

Handlungen, deren Zweck ist, für eigene Gewissensüberzeugung Anhänger zu gewinnen, wie

Werbung, Propaganda und Mission. Sie können als Form der Gewissensbetätigung eingestuft

werden, soweit sie in ihrer Eigenschaft bereits selbst Inhalt eines Gewissensgebots sind. Ist

das nicht der Fall, werden diese Tätigkeiten durch andere Grundrechte geschützt.

4.2. Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang

Entsprechend ihren historischen Wurzeln in Toleranzgedanken ist die Gewissensfreiheit als

das Recht aufzufassen, das dem Einzelnen vor Zwang bewahrt, den der Staat auf ihn ausübt.

Die Gewissensfreiheit gibt dem Individuum die Möglichkeit, in Situationen, welche er nicht

selbst herbeigeführt hat, den Diktaten seines Gewissens folgen zu können und dadurch die

ihm aufgezwungenen Gewissenskonflikte abzuwehren.1126

„Das grundrechtlich geschützte

Gewissen gerät nicht aufgrund eigener freier Initiative in Schwierigkeiten. Die

Gewissensfreiheit gibt nur ein Recht, zur Verweigerung der staatlichen Befehle.“1127

Eine

ähnliche Interpretation der Gewissensfreiheit wurde im Bezug auf Art. 9 EMRK

vorgeschlagen: danach verpflichtet die Gewährleistung der Gewissensfreiheit den Staat

zunächst, „keinen oder nur einen im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 EMRK oder anderen

Konventionsartikeln zulässigen Zwang auszuüben. Vor allem darf der Staat nicht versuchen,

Gewissensentscheidungen des Einzelnen zu beeinflussen oder daran Vor- oder Nachteile zu

knüpfen.1128

Die Einengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf Zwangssituationen

wird mit Verweis auf die Funktion des Gewissens als eine innere Zensur- und Kontrollinstanz

gerechtfertigt, die „in einer konkreten personalen Konfliktsituation negatorisch auf einen von

innen oder außen an den einzelnen herantretenden Impuls reagiert.“1129

Die Gewissensfreiheit

entfaltet dabei erst dann ihre Schutzfunktion, wenn eine unausweichliche Zwangslage besteht,

die so zu verstehen ist, dass staatliche Ge- oder Verbote in einem unlösbaren Widerspruch zu

einem individuell zwingenden Gewissensgebot stehen. Solange alternative

1126

B. P.Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of Conscience,

Strasburg 1993 S. 82f.; A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2205. 1127

S. Muckel, Art. 4, Glaubens- und Gewissensfreiheit in: K. H. Friauf, W. Höfling, Berliner Kommentar zum

Grundgesetz, Berlin 2008, Rn. 58; vgl. U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P.

Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 42;

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 496. 1128

J. Frowein, Art. 9 (Glaubensfreiheit), in: J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,

EMRK-Kommentar, Kehl – Strassburg – Arlington 1996, Rn. 3, S. 369; in diese Richtung auch: Meyer-

Ledewig, Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, Rn. 3, S. 186. 1129

U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 42.

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Verhaltensmöglichkeiten bestehen, die mit dem Gewissensgebot nicht kollidieren, ist die

Gewissensfreiheit noch nicht verletzt.1130

In diese Richtung argumentiert auch die Europäische Kommission für Menschenrechte,

welche die Beschwerde zurückgewiesen hat, die sich gegen die durch strafrechtliche

Vorschriften sanktionierte Pflicht zur Teilnahme an Wahlen richtete. Die Kommission hat

darauf hingewiesen, dass dem Wähler eine zumutbare Alternative überlassen ist, einen

unausgefühlten oder ungültigen Stimmzettel in die Urne hineinzuwerfen. Dieser Ansatz findet

auch in denjenigen Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte seine

Bestätigung, in denen der Schutz der Religionsfreiheit mit der Begründung abgelehnt wurde,

dass sich der Einzelne in eine Zwangssituation freiwillig eingelassen hat. Sie hat z.B. die

Beschwerde einer türkischen Studentin zurückgewiesen, die sich gegen das Verbot der

Tragung der religiösen Kopfdeckung an der Universität wandte. Die EKMR betrachtet

offenbar die Beschränkung der Religionsfreiheit als Folge eines freien Entschlusses, an einer

nichtreligiösen Einrichtung zu studieren.1131

Nach diesem Ansatz wird die Gewissensfreiheit als klassisches Abwehrrecht aufgefasst. Sie

ist aber zugleich ein Befreiungsrecht, d.h. sie schützt gegen den Zwang, eine Handlung, etwa

Ablegung eines Eides oder Ehrebezeugung der Nationalflagge als Bedingung der Zulassung

zu einer staatlichen Schule gegen das Gewissen des Einzelnen vorzunehmen. Mit anderen

Worten beinhaltet das Recht auf Gewissensfreiheit ein Unterlassungsrecht, welches dem

seiner Gewissensentscheidung folgenden Menschen gewährleistet, dass er sich insoweit „aus

der Allgemeinheit durch Passivität ausschließen darf, um nicht an seiner Seele Schaden zu

nehmen.“1132

Dies wird damit begründet, dass positive Handlungen gegen den Staat lediglich

das Problem des Widerstandsrechts sein können, das weder durch die Gewissensfreiheit noch

sonst in der Verfassung geregelt ist und überhaupt kaum regelbar ist.1133

Wenn mittels der Gewissensfreiheit nur die vom Staat aufgezwungenen Gewissenskonflikte

abgewehrt werden können, umfasst ihr Schutzbereich kein Recht, sein Leben allgemein auf

1130

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158. 1131

App. 16278/90, DR 74, para. 93, 100ff. 1132

A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2205. 1133

Ebenda, S. 2205.

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der Grundlage von den getroffenen Gewissensentscheidungen zu gestalten.1134

Die wichtigste

Konsequenz dieses Ansatzes besteht somit darin, dass das gewissensgeleitete Handeln von

dem Grundrechtsschutzbereich grundsätzlich nicht erfasst wird Dem ist allerdings

entgegenzuhalten, dass der Schutz des gewissensgeleiteten Handelns in denjenigen Fällen

angenommen werden soll, wenn das Gewissen dem Einzelnen eine Handlung gebietet, ohne

dass er über die Handlungsalternativen verfügt. Für den Schutz der Gewissensfreiheit soll

nicht entscheidend sein, in welche Weise der Einzelne in die Lage des Gewissenskonfliktes

geraten ist, „ob er also etwa durch einen staatlichen Befehl in sie gerät, sich selbst hinein

begibt, oder durch eine andere Privatperson in sie gebracht wird. Diese Konstellationen könne

auf der Schrankebene entsprechende Berücksichtigung finden.1135

Die Verkürzung der Gewissensfreiheit zum Recht auf Abwehr der vom Staat herbeigeführten

Konfliktsituationen reduziert dieses Grundrecht zur Freiheit „dem Staat gegenüber; es ist dann

keine Freiheit „in dem Staat.“1136

Sie entspricht allerdings dem Menschenbild der Verfassung

nicht, wo der Mensch nicht nur als Rechtsträger, sondern vor allem als Person in seiner

Menschenwürde, die nach Selbstverwirklichung und Betätigung seiner Werte strebt,

anerkannt wird. Der demokratische Staat charakterisiert sich nicht nur mit der Unterscheidung

zwischen dem Bürger und dem Untertanen, sondern vor allem mit der Auseinanderhaltung

zwischen dem Bürger und Person. Die Identifizierung der Person mit dem Bürger – parallel

zu der Gleichsetzung vom Staat und Gesellschaft – führt zur Verkümmerung der Freiheiten

und zum Auftauchen von Leviathan.1137

Diese Auffassung führt zum Ausschluss vom

grundrechtlichen Schutzbereich derjenigen Gewissensgebote, deren Realisierung vom eigenen

Entschluss der Betroffenen abhängt und keine Abwehr des seitens des Staates auferlegten

Zwanges darstellt. Danach wäre beispielsweise der Schutzbereich der Gewissensfreiheit im

Fall der Verweigerung an Tierexperimenten teilzunehmen nicht eröffnet, selbst wenn ein

vollwertiges Studium ohne Tierversuche an lebenden Tieren auskommt. In dieser Situation

geht die den Studenten auferlegte Teilnahmeforderung an Tierexperimenten aus einem

Sachzwang hervor. Der Gewissenskonflikt wird nämlich durch die Wahl der

Studienfachrichtung und nicht durch staatliche Maßnahmen hervorgerufen. Der Student hat

1134

S. Muckel, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: P. Tettinger, K. Stern, Kölner

Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte – Charta, München 2006, S. 321. 1135

Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG,

Konkordanzkommentar, Tübingen 2006, S. 830. 1136

M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de

1978, Band 2, Madrid 1984, S. 334. 1137

Ebenda, S. 334f.

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290

sich selbst in die Gewissensnot gebracht; der Staat reagiert mit seiner Anordnung lediglich auf

die Anforderungen des Studiengegenstands. Soweit der Einzelne über gewissensschonende

Alternativen verfügt, wird der Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht eröffnet.

Die Auffassung der Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang hat auch weitreichende

Konsequenzen im Arbeitsrecht; die freiwillige Aufnahme einer Laufbahn wird in diesem

Zusammenhang als Selbstbeschränkung, wenn nicht als Verzicht der Ausübung der

Gewissensfreiheit verstanden. In diese Richtung hat etwa die kolumbianische Corte Suprema

de Justicia in den Fällen entschieden, wo der Beschwerdeführer Verbote bestimmter

Verhaltensweisen beanstandet hat, die nach Ansicht des kolumbianischen Gesetzgebers gegen

Berufswürde verstoßen; „die Gewissensfreiheit setzt die freie Wahlmöglichkeit des Bürgers

voraus, für das Nichtgezwungensein in bestimmten Aspekten seines Verhaltens und damit für

die Nichtgebundenheit an dem öffentlichen Dienst zu optieren, oder (diesen Zwang – A. J. )

nach Maßgabe seiner Überzeugungen, Sitten und Praktiken hinzunehmen und die

richterlichen Aufgaben zu übernehmen.“1138

Es ist zwar unabdingbar, dass die Vornahme

einer Berufskarriere, insbesondere im Bereich des Staatsdienstes, bestimmte Einschränkungen

der Grundfreiheiten nach sich zieht, das volenti non fit iniuria Argument kann aber

dahingehend nicht verabsolutiert werden, dass das Individuum des grundrechtlichen Schutzes

völlig beraubt wird.

4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des

Einzelnen

Nach einer weiten Auffassung wird die Gewissensfreiheit in der Nähe der

Weltanschauungsfreiheit und Meinungsfreiheit angesiedelt. Sie beinhaltet „vor allem das

Recht, eine inneren Verpflichtungen entstammende Entscheidung, die auch nichtreligiöser Art

sein kann, zu treffen und nach ihnen zu leben.“1139

Mit anderen Worten wird die

Gewissensfreiheit als eine Möglichkeit verstanden, Antworten auf persönliche Fragen betreffs

individuellen und sozialen Angelegenheiten, die man als zutreffend hält, autonom

1138

Entscheidung der Corte Suprema de Justicia von 12. August 1982, zitiert nach: M. J. Cepeda, Los derechos

fundamentales en la constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 165. 1139

Ch. Gaitanides, Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit, in: S. Heselhaus, C. Nowak, Handbuch der

Europäischen Grundrechte, München 2008, S. 813; ähnlich: S. Mosquero Molenos, El derecho de libertad de

conciencia y de religión en el ordenamiento jurídico peruano, Lima 2005, S. 157; M. Lee, G. Sotelo Monroy, O.

Casa Madrid, La objeción de conciencia en la práctica del médico, Revista de la Facultad de Medicina, Band 49,

Nr. 3, 2006, S. 122.

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291

auszuwählen oder auszuarbeiten, sein Verhalten entsprechend diesen Antworten auszurichten

sowie den Anderen kundzutun, was man für wahr hält.1140

Die Gewissensfreiheit setzt daher

die Freiheit der Weltanschauung voraus.1141

Der Schutzbereich dieses Rechts erstreckt sich

nach diesem Ansatz nicht nur auf die moralische Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern

auch wird auf den Schutz anderer Positionen und Präferenzen ausgedehnt, die häufig nicht

erschöpfend aufgezählt werden. Die Tendenz zur Erstreckung der Gewissensfreiheit auf alle

möglichen Denksysteme und Meinungen sei anhand folgenden beispielhaften Definitionen

dieses Grundrechts illustriert: „Verbunden mit einem religiösen Glauben oder einer

philosophischen Überzeugung bedeutet die Dispensierung aus Gewissensgründen das Recht,

eine Leistung oder eine auferlegte Pflicht zu verweigern, die gegen sein Kredo, seine

Lebensphilosophie, politische, persönliche, moralische usw. Option verstößt.“1142

Barreto

dagegen beschreibt die Gewissensfreiheit wie folgt: „Die Freiheit des Gewissens ist ein Recht,

in unserem intimen Bereich beliebige Ideen oder Glauben zu jeder Angelegenheit zu haben,

unabhängig davon, ob sich um religiöse und politische Fragen oder um eine philosophische

Vision der Welt handelt. Das Gewissen darf weder von Anderen, noch von den

Staatsgewalten eingegriffen werden. Die Gewissensfreiheit bezieht sich nicht nur auf den

Schutz der Verschiedenheit der möglichen Gewissensinhalte, sondern auch auf die Freiheit,

verschiedenenartige Rationalitäten wie das logische Urteilen, das Irrationale, den

schamanischen oder magischen Glauben oder Denken auszuüben.“1143

Nach diesem Ansatz wird die Gewissensfreiheit mit der allgemeinen Handlungsfreiheit

gemäß dem Gewissen gleichgesetzt und damit in der Nähe der allgemeinen Freiheit gestellt.

Die Gewissensfreiheit ist aber kein Einlasstor, sondern „Abschluss und Vollendung der

Freiheitsrechte.“1144

Nicht jedes Verhalten, das das Gewissen erlaubt, wird von dem Schutz

des Grundrechts auf Gewissensfreiheit umfasst. Die aktive Lebensgestaltung nach dem

eigenen Gewissen lässt sich vielmehr aus Art. 31 Abs. 1 und 2 Verf. herleiten, wonach die

allgemeine menschliche Freiheit rechtlich geschützt wird und niemand gezwungen werden

1140

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 28; S. Pau Agulles, La objeción

de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 25. 1141

C. Silva Costa, A interpretacäo constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988,

Rio de Janeiro 1992, S. 155. 1142

U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, São Paolo 2005, S. 144; siehe auch: F. Loñ, A. Morello,

Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 410. 1143

M. Barreto, L. Sarmiento Anzoles, Constitución Política de Colombia comentada por la Comisión

Colombiana de Juristas. De los derechos, las garantías y los deberes, Bogota 1991, S. 58; siehe auch; N. P.

Sagüés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 723. 1144

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Die Veröffentlichungen der Vereinigung der

deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 28, S. 65.

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kann, etwas zu tun, was ihm das Recht nicht gebietet. Es ist somit anzunehmen, dass erst

wenn die Gewissenspflichten des Einzelnen in den Konflikt mit Rechtspflichten geraten, ist

die Gewissensfreiheit tatsächlich relevant. Zum Kern dieses Grundrechts wird daher „das

Widerstandsrecht aus Gewissensgründen.“1145

Damit werden allerdings die Konturen des

forum externum der Gewissensfreiheit nicht gewonnen. Dies wird erst mit der sachlichen

Eingrenzung ihres Schutzbereichs zum ethischen Bereich erreicht.

4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit im moralischen Bereich

Wenn der Gewissensfreiheit ein eigener Schutzbereich zukommen soll, muss sich dieses

Grundrecht von anderen Grundrechten, insbesondere von der Religions- und

Weltanschauungsfreiheit sowie der Meinungsfreiheit deutlich abheben. Dies wird mit dem

Moment des Ethischen erreicht. Die Gewissensfreiheit erscheint somit als das Recht, nicht

nach einer beliebigen Überzeugung, sondern nach moralischen Maßstäben zu handeln, die

auch durch andere Grundrechte geschützt werden können.1146

Die Gewissensfreiheit schützt

danach denjenigen Bereich der menschlichen Rationalität, „der sich auf das moralische Urteil

über eigene Handlungen und auf das Handeln in Übereinstimmung mit diesem Urteil bezieht.

Sie betrifft somit das ethische Element, d.h. die Verpflichtung, gemäß seinen Überzeugungen

zu handeln: sie bedeutet die Übertragung einer Weltanschauung oder eines Denksystems in

kohärente Verhaltensnormen.“1147

Sie ist „die Grundfreiheit jedes Bürgers als Person in der

Suche nach dem Guten, die Freiheit, ein eigenes moralisches Urteil als persönlicher

Gewissensakt zu haben, sowie das Recht, sein Verhalten an sein Moralurteil anzupassen,und

sein Leben danach zu richten.“1148

5. Die Abgrenzung der Gewissensfreiheit von anderen Grundrechten

Die Ausübung einer Gewissensentscheidung wird in vielen Fällen durch andere Grundrechte

geschützt, was den Rückgriff auf die Gewissensfreiheit entbehrlich macht. Die Europäische

Kommission für Menschenrechte hat z.B. die Zwangsmitgliedschaft in einer

1145

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 138. 1146

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 298. 1147

M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de

1978, Band 2, Madrid 1984, S. 347. 1148

Ebenda, S. 347; Vgl. C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso

2004, S. 93, 97.

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293

Berufsorganisation als keine Verletzung der Gewissensfreiheit angesehen, obwohl die

betroffene Organisation Ansichten vertritt, die gegen das Gewissen des Beschwerdeführers

verstoßen.1149

Es ist allerdings durchaus vertretbar, dass der Einzelne in diesem Fall durch

negative Meinungsfreiheit geschützt werden soll, weil der Beitritt zu einer Organisation von

einem Dritten als Identifizierung mit dem Programm und Zielsetzungen dieser Organisation

wahrgenommen werden kann.1150

Ähnlich im Fall Bowmann v. UK1151

wurde die Verteilung

von Flugblättern, die die Position eines Wahlkandidaten zur Abtreibung bekannt gaben, nicht

als Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit bewertet; die Entscheidung wurde im

Zusammenhang mit Äußerungsfreiheit gefällt. In den Fällen, welche die Versamlungsfreiheit

betreffen, wird die Gewissensfreiheit als deren Element angesehen;1152

die

Rechtssprechungsorgane der EMRK konzentrieren sich dabei nicht auf die Überzeugung,

welche durch die Versammlung zum Ausdruck gebracht werden soll, sondern auf ihre

externen Äußerungsformen.1153

Wenn die Gewissensfreiheit als ein selbständiges Grundrecht mit eigenem Schutzbereich zu

betrachten ist, taucht allerdings die Frage ihrer Abgrenzung von der Religions- und

Weltanschauungsfreiheit auf. Dies ist insbesondere wichtig, weil sich die Gewissensfreiheit

mit Religions- und Weltanschauungsfreiheit überschneidet, wenn der Gewissensentscheidung

durch einem Glauben oder Weltanschauung geprägt ist.1154

Die Religion und Weltanschauung

liefern oft, wenn nicht immer, die Maßstäbe, anhand deren Gewissensentscheidungen

getroffen werden. Im Vergleich zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist der

Schutzbereich der Gewissensfreiheit in dem Sinne weiter, dass die geschützte moralische

Überzeugung lediglich bruchstückhaft und situationsbezogen sein kann, ohne ein

geschlossenes Gedankengebäude bilden zu müssen, während der Glaube oder die

Weltanschauung „eine fundierte und zusammenhängende, grundlegende Fragen des

menschlichen Lebens umgreifende Sicht wiedergeben“1155

also ein geschlossenes

Gedankensystem darstellen. Darüber hinaus charakterisiert sich die Gewissensentscheidung

1149

14331/88 Revert Legallais v. France 62 DR 309 (1989). 1150

L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 162. 1151

24839/94 1998-I Rep. Judg. And Dec. 175. 1152

10126/82 Platform Ärzte v. Austria 44 DR 65 (1985), die Kommission bewertet die Gewissens- und

Äußerungsfreiheit als Elemente der Versammlungsfreiheit; 16130/90 Sigurjonsoon v. Iceland 16 EHRR 462

(1993) die Prüfung der Äußerungs- und Gewissensfreiheit wird wegen der Prüfung der Versammlungsfreiheit

nicht durchgeführt; 2522/94 Negotiate Now v. UK 19 EHRR CD93 (1995). 1153

8840/78 Christians against Racism and Fascism v. UK 21 DR 138 (1981). 1154

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 257ff. 1155

Ebenda, S. 257.

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durch eine individuelle Dringlichkeit; der Einzelne erfährt sie in aller Regel als innerlich

bindend und unbedingt verpflichtend. Obwohl eine Glaubens- oder Weltanschauungsfrage

auch stark affektiv aufgeladen sein kann, muss die innere Dringlichkeit nicht zwingend

vorliegen. Drittens weisen die Religion und Weltanschauung neben der individuellen auch

eine kollektive Dimension auf, indem sie von einer Gemeinschaft getragen und gepflegt

werden; das Gewissen ist dagegen ein höchstpersönliches Phänomen. Die Unterscheidung

zwischen Glauben und Gewissen kommt gerade dann zum Tragen, wenn eine individuelle

Gewissensposition nicht im deutlichen Zusammenhang mit den Lehren einer Religion oder

Weltanschauung steht. Diese Ansicht findet in der Rechtsprechung der Konventionsorgane

der EMRK, wonach nach Art. 9 auch individualistische Glaubens- und Gewissenspositionen

geschützt werden, ihre Bestätigung. Obwohl die Schlüsselbegriffe in keinem internationalen

Abkommen definiert werden, welche die Gewissens- und Religionsfreiheit regelt, ist

unumstritten, dass sie auch individualistische Glaubenssysteme umfassen, deren Anhänger in

keiner Organisation vereint sind; durch Art. 9 EMRK werden deshalb Freidenker und

Atheisten geschützt.1156

Das Gemeinschaftselement eines Glaubenssystems ist somit nicht

notwendig, um unter den Schutzbereich des Art. 9 EMRK fallen zu können. Dies ist

besonders in Hinsicht auf Gewissensfreiheit von Bedeutung, die naturgemäß ein individuelles

Recht ist und dessen Ausübung von keiner Mitgliedschaft in einer Organisation abhängig

gemacht wird. Die Gewissensfreiheit erfüllt somit eine Auffangfunktion und greift immer

dann ein, wenn fraglich ist, ob eine hinreichende Verbindung zu einer Religion oder

Weltanschauung besteht.1157

Es ist somit nicht richtig, die Gewissensfreiheit entweder mit

Religions- oder mit Weltanschauungsfreiheit gleichzusetzen. Sie bietet vielmehr für die

Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein zusätzliches Element und stellt ihre Bereicherung

um die ethische Dimension dar.

1156

Kokkinakis v. Greece, 260-A, EctHR Ser. A para. 13 (1993). 1157

Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG,

Konkordanzkommentar, Tübingen 2006, S. 831; Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in:

Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 33, S. 21.

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295

6. Nachweis der Gewissensentscheidung

6.1. Indizien der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung

Das Hauptproblem des Grundrechts der Gewissensfreiheit liegt nicht in der Konzeption des

Gewissens, sondern vielmehr in dem objektiven Beweis der Gewissensentscheidung. Das

Gewissen entzieht sich als ein seelischer Vorgang der Überprüfung und Kontrolle von außen;

es bleibt ein unzugängliches Geheimnis der Person. Die Tatsache, dass das menschliche

Gewissen undurchdringlich und der äußeren Kontrolle nicht zugänglich ist, macht die

objektive Beweisführung einer Gewissensentscheidung unmöglich. Das Vorliegen einer

Gewissensentscheidung kann mit intersubjektiv mittelbaren Mitteln weder bewiesen noch

widerlegt werden.1158

Dies macht das Grundrecht der Gewissensfreiheit auf Rechtsmissbrauch

besonders empfindlich. Deshalb muss sich der Gesetzgeber bei der Anerkennung eines

Verweigerungstyps damit rechnen, dass die Gewissensfreiheit von Simulanten missbraucht

werden kann: „Die Gewährung dem Einzelnen des Schutzes hat den Schutz der Simulanten

als eine ungewollte Nebenwirkung.“1159

Bei der Feststellung der Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung können die üblichen

Beweismittel nicht weiterhelfen. Die sich an den Beweis richtenden Anforderungen im

üblichen Beweisverfahren müssen im Anerkennungsverfahren auf Glaubhaftmachung einer

Gewissensentscheidung herabgesetzt werden. Es kann lediglich von einer Vermutung

ausgegangen werden, dass der Grundrechtsträger in Übereinstimmung mit seinem Gewissen

handelt.1160

Mit anderen Worten: im Anerkennungsverfahren einer Verweigerung aus

Gewissensgründen darf nicht mehr als ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für das Vorliegen

der Gewissensentscheidung verlangt werden.1161

Die Beweislast oder vielmehr die

Glaubhaftmachungslast des Verweigerers besteht in Glaubhaftmachung, dass die durch das

Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Anerkennung als Verweigerer aus

Gewissensgründen in seiner Person erfüllt sind. Deshalb reicht der bloße Hinweis auf

religiöse oder moralische Gründe ohne nähere Darstellung der Gewissensentscheidung nicht

1158

F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236; R. Herzog, Art. 4 in: T.

Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 160. 1159

V. Reina, A. Reina, Lecciones del derecho eclesiástico del estado, S. 418. 1160

J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,

S. 122. 1161

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 252.

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296

aus.1162

Die Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung ist dabei auf Indizien

angewiesen, zu denen eine Reihe von tatsächlichen Umständen gehören, welche auf die

Ehrlichkeit des Gewissensträgers schließen lassen. Zu diesen Indizien gehören insbesondere

folgende Gesichtspunkte:

a) Ein hohes Maß an affektiver Bindung an das moralische Verhaltensgebot

Mit diesem Kriterium wird gemeint, dass sich der Einzelne mit seiner Gewissensposition in

dem Sinne identifizieren muss, dass er im Fall ihrer Nichtbefolgung Schuldgefühle erfahren

würde. Dieser Umstand könnte allerdings nur anhand der vergangenen „gewissensrelevanten“

Erfahrungen des Grundrechtsträgers festgestellt werden. Die ex ante Einschätzung der

eventuellen Konsequenzen der Nichtbefolgung des Gewissensgebots im Einzelfall ist dagegen

weder möglich, noch notwendig. Die Prüfung soll sich somit auf eine Voraussage der

negativen Folgen der Verletzung des Gewissensimperatives für die Persönlichkeit des

Individuums zu beschränken. Dabei sollen die überhöhten Anforderungen nicht gestellt

werden, um die Pathologisierung der Gewissensfreiheit zu vermeiden.

b) Das Maß an „gedanklich-argumentativer Durchdringung und/oder dogmatische

Untermauerung von Verhaltensgeboten.“1163

Wenn jemand behauptet, eine Gewissensentscheidung getroffen zu haben, kann gleichwohl

von ihm erwartet werden, dass seine Argumentation durchdacht und konsistent ist und sein

Verhalten der vorgetragenen Gewissensposition entspricht. Es sind aber bei der Prüfung des

kognitiven Gewissensaspektes die intellektuellen Fähigkeiten, insbesondere

Artikulationsfähigkeiten des Einzelnen als Maßstab der Beurteilung zugrunde zu legen. Es

handelt sich dabei offensichtlich nicht um Beurteilung der intellektuellen Leistungen, sondern

um Nachvollziehung des individuellen Gewissensbildungsprozesses. Da ein sprachlich

Gewandter das Vorhandensein eines Gewissenskonfliktes leicht vorspielen kann, kommt es in

einem Anerkennungsverfahren auf die Feststellung an, ob und wie der Betroffene seine

Lebensweise nach seiner Gewissensentscheidung einzurichten bereit ist.1164

Die Prüfung der kognitiven Komponente der Gewissensfreiheit hat auch ihre immanenten

Grenzen. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass das Gewissen zwar eine kognitive

1162

J.O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 258. 1163

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 251. 1164

H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NVwZ, 1991, S. 1035.

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297

Komponente aufweist, die Wertungsgrundlagen, auf denen die Gewissensentscheidungen des

Einzelnen beruhen, können aber in den Tiefschichten der Persönlichkeit angesiedelt werden,

oder durch langfristige Einübung derart an Konturen verloren haben, dass sie für den

Einzelnen nicht in Detail bewusst sind. Deswegen sind die Anforderungen an die

intersubjektive Vermittlung nicht überspitzt zu stellen. Herdergen argumentiert in diesem

Zusammenhang, dass man sich bei kognitiven Anforderungen an Gewissensinhalte mit dem

Bezug auf ein bestimmtes Wertesystem und dessen allgemein gehaltene Obersätze begnügen

muss.1165

Aus diesen Gründen wird in der deutschen Rechtsprechung zu

Kriegsdienstverweigerung die Prüfung auf Schlüssigkeit, Widerspruchsfreiheit und

Rationalität nicht durchgeführt.1166

Außerdem kann im weltanschaulich neutralen Staat

zwecks Feststellung des Vorliegens einer Gewissensentscheidung weder auf ihre Quelle, noch

auf ihren Inhalt abgestellt werden.1167

Der Anerkennungsausschuss oder das Gericht ist für die

Beurteilung der Darlegungen des Grundrechtsträgers in Kategorien von „richtig“, „falsch“

nicht zuständig. Es sind auch Versuche unzulässig, den Einzelnen von Unrichtigkeit seiner

Darlegungen zu überzeugen.1168

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass dieses Indiz für das Vorliegen einer

Gewissensentscheidung nicht viel aussagekräftig ist; die Voraussetzung der

Wiederspruchlosigkeit können auch diejenigen erfüllen, die aus anderen, etwa politischen

Gründen handeln oder eine Gewissensentscheidung vortäuschen. Es erfüllt somit nur eine

negative, kritische Funktion und dient nur dafür, bestimmte Motivationstypen abzusondern.

Die Konsistenz des Verweigerers stellt zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende

Bedingung für die Echtheit einer Gewissensentscheidung.

c) Soziale Umweltbeziehungen des Individuums, welche den Prozess der Gewissensbildung

und Werteinternalisierung bestimmen

Zu dieser Kategorie gehören nicht nur Beziehungen zu und innerhalb der Gruppen vom

religiös-weltanschaulichen Charakter, sondern auch z.B. familiäre und berufliche

Rollenbeziehungen.1169

Nach einer Ansicht stellt der Umstand, dass eine Gewissensposition

1165

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 144. 1166

BVerfGE 12, 45; BverwGE 23, 98 (99); BverwGE 75, 88 (190). 1167

B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, in: Council of Europe, Freedom of

conscience, Strasburg 1993, S. 79. 1168

J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 338; L. Prieto Sanchis, La

objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 58. 1169

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 251.

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für eine Gruppe, etwa eine Religionsgemeinschaft typisch ist, ein starkes Indiz für die

Annahme der Glaubwürdigkeit des Gewissensträgers dar, sodass die bloße Feststellung der

Kollision einer religiösen Norm mit einer Rechtspflicht genügt, um die Glaubhaftigkeit der

Gewissensentscheidung zu bejahen.1170

Die bloße Feststellung der Zugehörigkeit zu einer

Glaubensgemeinschaft soll jedoch die Behörde bzw. das Gericht von der Prüfungspflicht

nicht befreien, ob sich der Einzelne mit der betroffenen Fragen geistig auseinandergesetzt hat,

die Lehre der Kirche oder Organisation, zu welcher er angehört, als für sich geltend

anerkennt und die persönliche Gewissensentscheidung getroffen hat.1171

Das Abstellen

lediglich auf die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft berücksichtigt die Möglichkeit

der Divergenzen im Hinblick auf die Interpretation der Glaubenssätze zwischen einer

religiösen Autorität und den Einzelnen nicht.1172

Es ist vielmehr anzunehmen, dass die

Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung

häufig vorkommen und dass das gerichtliche Verfahren nicht das geeignete Forum ist, über

die richtige Interpretation einer Glaubenslehre zu entscheiden. Außerdem bietet die

Gewissens- und Religionsfreiheit den Schutz nicht nur im Hinblick auf die Glaubensinhalte,

welche von allen Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft geteilt werden, sondern umfasst

auch individuelle Überzeugungen. Die anerkennenden Behörden sollen der Tatsache

Rechnung tragen, dass sich die konkreten Wertentscheidungen des Einzelnen oft nicht nach

den Grundsätzen der Lehre richten, zu der er sich formal bekennt. Der Einzelne kann

hinsichtlich einiger Glaubens- oder Moralfragen in Opposition zu seiner

Glaubensgemeinschaft stehen, ohne aus der Kirche austreten zu wollen. Eventuelle

Widersprüche in diesem Zusammenhang eignen sich nicht als Gegenstand der Beurteilung der

Staatsorgane. Deshalb ist der der Entscheidung des polnischen Verwaltungsgerichtshofes1173

entnommenen Argumentation nicht zu folgen, gemäß der der Antrag auf Einweisung zum

Ersatzdienst, in welchem der Rechtpflichtige als Grund seines Verlangens „die krasse

1170

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 192. 1171

Deshalb ist der Entscheidung des polnischen Verwaltungsgerichtshof NSA SA/Wr 57/91 von 1991.02.11

zuzustimmen. Danach sind im Fall der Abstellung auf religiöse Überzeugungen das bekannte religiöse System

sowie dessen Regeln, welche die Leistung des Wehrdienstes verbieten, näher zu bezeichnen. Im Zweifel ist auch

das Vorliegen eigener faktischer Verbindungen mit der betroffenen Glaubensgemeinschaft nachzuweisen. Siehe

auch: Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,

Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, S. 482, Rn. 107. 1172

S. Stavros, Freedom of Religion and Claims for Exemption from Generally Applicable, Neutral Laws:

Lesson from Across the Pond?, European Human Rights Law Revie 1997, S. 613ff. 1173

NSA SA/Wr 1047/91, 1991.12.10.

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Diskrepanz“ der auf Soldaten auferlegten Pflichten mit den von ihm als den „praktizierenden

Katholiken“ anerkannten moralischen Grundsätzen mit dem Hinweis abgelehnt wurde, dass

gemäß dem Gesetz über das Verhältnis des Staates zu der Römisch-Katholischen Kirche in

der Republik Polen alle vorgesehenen Befreiungen und Beschränkungen der Militärpflichten

nur die Geistlichen, Mitglieder der Orden oder Studenten der Priesterseminare betreffen und

werden auf Laien dieser Kirche nicht ausgedehnt.

Der nichtvereinte Einzelgänger wird zwar vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht

ausgeschlossen, obwohl ihm wesentlich schwieriger ist, seine Gewissensentscheidung

glaubhaft zu machen. Die Befreiung von einer Rechtspflicht lediglich Mitglieder bestimmter

religiösen oder sonstigen Gruppen der Verweigerer würde eine unzulässige Diskriminierung

darstellen.1174

d) Uneigennützigkeit des Verhaltens des Einzelnen.

Die Anerkennung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen wird manchmal damit

gerechtfertigt, dass sich der Einzelne, der von diesem Recht Gebrauch macht, auf universelle

moralische Prinzipien und nicht auf persönliche Interessen beruft. Der Grundrechtsträger, um

„anerkennungswürdig“ zu sein, soll den universellen Charakter der moralischen Prinzipien

immer vor Augen haben; seine Verweigerung soll keinesfalls als Mittel zum persönlichen

Nutzen gebraucht werden.1175

Es handelt sich dabei um objektivierte Uneigennützigkeit im

Sinne der materiellen oder anders objektiv messbaren Vorteile. Das Streben nach psychischer

Ruhe zählt dazu nicht.

Dieses Indiz spielt eine wichtige Rolle, wenn das Gewissen als Verantwortungsbewusstsein

für Andere aufgefasst wird. Unter diesem Gesichtspunkt liegt der Zweck des

Beweisverfahrens in Ermittlung, ob die Gewissensentscheidung des Einzelnen aus

Verantwortung für die Anderen oder durch persönliche Vorteile irgendwelcher Art motiviert

ist.1176

Dieser Umstand lässt sich ohne weiteres feststellen, weil sich die echten Verweigerer

1174

C. D. de Jong, The Freedom of Thought, Conscience and Religion or Belief in the United Nations (1946-

1992), S. 182; G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho

Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, 251f. 1175

K. Mansilla Torres, L. E. Villaran, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el

Peru, Lima 2000, S. 18. 1176

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 71.

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300

aus Gewissensgründen von der „breiten Masse der Durchschnittsbürger“1177

, die ihre

Rechtspflichten erfüllt, durch den überdurchschnittlichen Verantwortungsgrad deutlich

abheben. Die Simulanten weisen dagegen „asoziale Züge“ auf. Die Zuordnung zu den

genannten Kategorien ist anhand der allgemeinen Motivstruktur des Betroffenen möglich,

„die sich durch den persönlichen Eindruck von ihm und durch Befragung von Menschen, die

ihn gut kennen, ermitteln lässt.“1178

e) Konsequente Umsetzung der Gewissensentscheidung im früheren Leben

Die authentische Lebenspraxis ist ein entscheidendes Indiz für Existenz und Gewicht der

Gewissenspflicht. Das gegenwärtige Verhalten oder Handlungen des Grundrechtsträgers aus

nicht weit zurückliegender Vergangenheit können ohne weiteres der

Anerkennungsentscheidung zugrunde gelegt werden.1179

Dieses Kriterium ist allerdings nicht

so zuverlässig, wie es aus dem ersten Blich erscheint, weil der Einzelne seine

Gewissensposition wechseln kann, oder sie in der Auseinandersetzung mit dem anstehenden

Problem erst errungen hat. Die Berücksichtigung der früheren Lebensführung birgt die Gefahr

in sich, die Vergangenheit des Einzelnen „in eine Lebensführungsschuld mit unwiderleglich

vermuteter ‚Gewissenslosigkeit‟ zu verkehren.“1180

Die Feststellung des Widerspruchs

zwischen Darlegungen des Einzelnen und seinem vergangenen Verhalten soll daher nicht

automatisch zur Zurückweisung seines Antrags führen, ansonsten würde dem Einzelnen die

Möglichkeit der Änderung abgesprochen. In diesem Fall wird es ihm allerdings schwerer

fallen, seine Gewissensentscheidung glaubhaft zu machen.

f) Die freiwillige Akzeptanz einer lästigeren Rechtspflicht

Die Gewissensentscheidung charakterisiert sich durch ihre Ernsthaftigkeit, Tiefe und

Intensität. Da ihre Befolgung für das Aufrechterhalten der Identität des Einzelnen

fundamentale Bedeutung hat, ist er grundsätzlich bereit, negative Konsequenzen der

Handlung gemäß seinem Gewissen zu tragen. In diesem Zusammenhang kehrt das Problem

der Bereitstellung von Handlungsalternativen von dem Staat, diesmal unter dem

Gesichtspunkt seiner praktischen, verfahrensmäßigen Funktion als Vorschlag einer „lästigen

Alternative.“ Danach soll dem Einzelnen, der sich auf sein Gewissen beruft, um von einer

1177

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 71. 1178

Ebenda, S. 71. 1179

J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 346. 1180

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 159.

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301

gesetzlichen Pflicht freigestellt zu werden, ein zumutbares Opfer auferlegt werden. Die

Notwendigkeit, die Nachteile der Befolgung seines Gewissensimperatives in Kauf zu nehmen,

würde nämlich denjenigen abschrecken, der eine Gewissensentscheidung vortäuscht. Dies

schafft die Möglichkeit, das Prüfungsverfahren auf das notwendige Minimum zu reduzieren

oder eventuell darauf zu verzichten.1181

Trotz seiner praktischen Vorteile ist dieses Indiz allerdings nicht unproblematisch. Zum einen

wird seine Anwendbarkeit mit dem Argument in Frage gestellt, dass dem Staat verwehrt ist,

die Bereitschaft zur negativen Folgen der Gewissensentscheidung unter Beweis zu stellen.

Dieses Verbot ergibt sich schlechthin aus Gewissensfreiheit; danach ist nicht erlaubt, den

Verweigerer in eine schlechtere Position zu stellen als denjenigen, der die Rechtspflicht

erfüllt, ansonsten würde der Einzelne nicht frei, nach Maßgaben seines Gewissens zu

handeln.1182

Zum anderen ist die Forderung der Opferbereitschaft als Beweismittel für das

Vorliegen einer Gewissensentscheidung nicht immer zuverlässig: Die Hinnahme der

Nachteile spricht zwar stark für die Ernsthaftigkeit einer Gewissensposition und verleiht der

Gewissensentscheidung einen besonderen moralischen Wert. Diese Folgerung lässt sich aber

nicht umkehren. Der Umstand, dass jemand den Nachteil nicht auf sich nimmt, kann z.B.

bedeuten, dass sein Verhalten durch kollidierende soziale Verpflichtungen bestimmt ist. Dies

wäre etwa der Fall, wenn materielle Nachteile wegen einer gewissensbegründeten Pflicht, um

eigene Familie zu sorgen, von dem Einzelnen als eine lästige Alternative nicht hingenommen

werden können.1183

Bei der Prüfung des Vorhandenseins einer Gewissensentscheidung kann

auch die generelle soziale Verstrickung des Einzelnen nicht ignoriert werden. Dies bedeutet

z.B., dass die Inanspruchnahme oder Gebrauch von umweltbelastenden Waren und

Einrichtungen von einem ökologisch sensiblen Menschen oder ein Arbeitsverhältnis in einer

umweltabträglichen Industrie nicht notwendig gegen eine ökologisch begründete

Gewissensentscheidung sprechen kann.1184

Darüber hinaus ist die geforderte Bereitschaft zu negativen Konsequenzen der Befolgung

einer Gewissensentscheidung nicht mit Bereitschaft zum Leiden oder Bereitschaft zum

1181

E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 67. 1182

B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State

Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 272f; Derselbe, Scope and limits of

conscientious objections, in: Council of Europe, Freedom of conscience, Strasburg 1993, S. 80. 1183

C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, in: DÖV, 1984, S.

798. 1184

P. Derleden, Arbeitsverhältnis und Gewissen, in: AuR, 1991, S. 195.

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302

großen, unzumutbaren Opfer gleichzusetzen: „Der Heros braucht das Grundrecht nicht, da er

ohnehin nach seiner Gewissensüberzeugung handeln würde.“1185

Die Gewissensfreiheit ist

vielmehr jedem Menschen zugestanden und nicht einer Gruppe der heroischen Auserkorenen.

Wie gesagt, der Einzelne ist in das persönliche, familiäre, berufliche und gesellschaftliche

Verantwortungsnetz verwickelt und das Handeln nach seinem Gewissen kann das ganze

Gefüge seiner sozialen Verflechtungen berühren. Deshalb ist der Wankelmut, Angst oder

Rückzug in das gesellschaftskonforme Verhalten nicht als mangelnden Opfergeist auszulegen,

um dem Einzelnen eines seiner Grundrechte abzuschneiden.1186

Darüber hinaus gewährleistet

das Kriterium des „Opfers“ keine vollständige Aussonderung deren, die allein aus

Gewissensgründen handeln. Auch der „Märtyrer“ kann aus Geltungsdrang, aus gegen sich

gekehrter Aggression oder aus anderen Gründen handeln, die mit Gewissensüberzeugung

nichts zu tun haben.1187

Aus der Darstellung der einzelnen Indizien ergibt sich, dass ihre Aussagekraft im Bezug auf

Inhalt, Ernst und Tiefe der Gewissensentscheidung beschränkt ist. Sie bieten nämlich keinen

Beweis für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung: „Mehr als Zweifel an der

Aufrichtigkeit der Erklärung vermögen sie nicht zu erzeugen; Existenz und subjektive

Verbindlichkeit des Gewissensgebotes zu leugnen, gestatten sie Dritten nicht. Dieser

Unfähigkeit Außenstehender, durch Erkenntnisakte die Wahrheit der Gewissensentscheidung

zu finden, korrespondiert die Unfähigkeit des Einzelnen seine Persönlichkeitsentscheidung als

solche des Gewissens zu beweisen.“1188

Es handelt sich somit um den klassische Fall des non

liquet, dem durch die materiellen Grundsätze der Beweislast nicht begegnet werden kann,

denn Beweisregeln setzen notwendig die Beweisbarkeit voraus, die sich gegebenenfalls zum

Beweis nicht verdichtet. Deshalb ist in den mehrheitlichen Zweifelsfällen von der Vermutung

der Ehrlichkeit des Verweigerers auszugehen und die Entscheidung zu seinen Gunsten zu

treffen.1189

1185

G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 166. 1186

Ebenda, S. 166. 1187

Ebenda, S. 167. 1188

F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236. 1189

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, S. 236f; G. del Moral, La objeción

de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función

pública, Madrid 2007, S. 252.

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303

6. 2. Die Rechte des Grundrechtsträgers im Anerkennungsverfahren

Im Schrifttum wird insbesondere die Brauchbarkeit des mündlichen Anerkennungsverfahrens

für die Glaubhaftmachung der Gewissensentscheidung in Frage gestellt. Dabei wird nämlich

auf die Gefahr hingewiesen, dass zum einen im mündlichen Verfahren Fragen gestellt werden

können, welche die Intimsphäre des Antragstellers unnötig verletzen und dadurch gegen das

Schweigerecht in religiösen und weltanschaulichen Fragen verstoßen, zum anderen nimmt die

Möglichkeit der verbotenen Bewertung von Gewissensgründen zu.1190

Das Erfordernis, die Gründe für eine Gewissensentscheidung vor einer anerkennenden

Behörde oder einem Gericht darzulegen, kann jedoch nicht als Verstoß gegen das

Schweigerecht hinsichtlich der Glaubens- und Weltanschauungsfragen angesehen werden,

weil mit der Anerkennung dem Verweigerer ein Vorteil oder Begünstigung in Form der

Befreiung von einer Rechtspflicht erteilt wird, was die Beschränkung des Schweigerechts

rechtfertigt.1191

Illustrativ in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des spanischen

Verfassungstribunals, in welcher die Kollision zwischen dem Verweigerungsrecht aus

Gewissensgründen und dem (aus der negativen Glaubensfreiheit sowie aus dem Recht auf

Privatleben hervorgehenden) Anspruch des Einzelnen, seine ideologischen Überzeugungen

nicht offenbaren zu müssen, verneint wurde. „Die mögliche Kollision zwischen dem Recht

aus Art. 16 (ideologische Freiheit) und dem Recht aus Art. 18 (das Recht auf Privatleben)

verschwindet mit der Ausübung des Verweigerungsrechts. Das Anerkennungsverfahren setzt

den Verzicht des Verweigerers voraus, seine ideologischen Vorbehalte gegen die Gewalt und

/oder gegen die Leistung des Militärdienstes im geheimen Bereich seines Gewissens zu

bewahren. Es versteht sich von selbst, dass ohne diesen Willen des Verweigerers, der von

seiner Verweigerung auf die Herbeiführung der rechtlichen, also im Verhältnis zu seinem

Gewissen externen Konsequenzen abzielt, niemand in seine Innerlichkeit hereingehen noch

ihn dazu zwingen kann, von seiner Ideologie, Religion oder Glauben zu erzählen.“1192

Gibt es

allerdings die Möglichkeit „den konkreten Fall ohne unangemessenes Wühlen in gewissens-

und weltanschauungsorientierten Individualbereichen zu lösen, so dürfte zumindest das nobile

officium bestehen, diesen Weg und nicht den der ‚Gewissensforschung‟ durch den Staat zu

1190

J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 271. 1191

J. Lopéz Guzmán, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 51. 1192

Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 160/1987 von 27. Oktober 1987, FJ 5.

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304

beschreiten.“1193

Die Offenbarungspflicht eigener religiösen oder weltanschaulichen

Überzeugungen kann nur in denjenigen Fällen gerechtfertigt werden, wenn dies „für die

Ausübung der Religion und Weltanschauung vernünftigerweise nötig ist.“1194

Der Verstoß gegen das Schweigerecht wäre jedoch zu bejahen, wenn die

Anerkennungsbehörde eigene Ermittlungen über den Rahmen der von dem Antragsteller

vorgetragenen Verweigerungsgründe hinaus vornehmen würde. Es obliegt nur dem

Antragsteller, Tatsachen und Beweise darzulegen, die er als nötig zu offenbaren betrachtet,

um als Verweigerer aus Gewissensgründen anerkannt zu werden. Die Tätigkeit der

Anerkennungsstelle soll sich lediglich auf die Würdigung des von dem Antragsteller

vorgetragenen Materials beschränken. Die Ansammlung weiterer Tatsachen etwa von

Dritten,1195

die im Antrag nicht erwähnt wurden, würde auf die Verletzung des

Schweigerechts des Einzelnen hinauslaufen. Die Anerkennungsbehörde ist dagegen

berechtigt, die von Antragsteller dargelegten Tatsachen durch Dritte oder Organisationen

glaubhaft gemacht zu lassen.1196

Die oben genannten Beweisschwierigkeiten rechtfertigen die verfahrensrechtliche

Behandlung der Gewissensfreiheit als subsidiäres Grundrecht gegenüber anderen

Grundrechten. Da sich die Gewissensbetätigungsfreiheit mit anderen Grundrechten teilweise

überdeckt, kann das Vorliegen einer Gewissensentscheidung offen gelassen werden, wenn

sich der Bürger auf ein anderes Grundrecht berufen kann. Der andere Fall, in dem das

Vorliegen einer Gewissensentscheidung unentschieden bleiben kann, liegt vor, wenn evident

ist, dass übergeordnete Rechtsgüter und Rechtsinteressen die Anwendung der

Grundrechtsschranken rechtfertigen.

1193

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 139; auch: R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz

Kommentar, München 1993, Rn. 162. 1194

J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 262. 1195

Freihalter argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Zeugen unbrauchbar sind, weil es möglich ist,

dass der Einzelne sich in seine Umgebung nicht gut eingepasst hat, sondern ihr gereizt, nervös gegenübertritt,

was entsprechende Reaktionen, Aggressionen oder Ressentiments Anderer auslösen kann. G. U. Freihalter,

Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 169. 1196

Vgl. Sondervotum von Fernando García-Mon, González Regueral zum Urteil von STC 160/1987.

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305

Kapitel VII

Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin

1. Allgemeines

Die Fragen des Beginns und des Endes vom menschlichen Leben weisen eine große ethische

Brisanz auf, deswegen ist dieser Bereich für die Gewissenskonflikte besonders anfällig. Dem

wurde der polnische Gesetzgeber gerecht, indem er das Verweigerungsecht aus

Gewissensgründen der Ärzte und anderer medizinischen Mitarbeiter in Form der sog.

Gewissensklausel gewehrleistet hat. Art. 39 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des

Zahnarztes sieht nämlich vor, dass die Ärzte die Ausführung einer gesundheitsfördernden

Handlung unterlassen dürfen, die gegen ihr Gewissen verstößt, vorausgesetzt dass es sich

nicht um eine Notfallsituation handelt, in der das Leben oder Gesundheit des Patienten

gefährdet sein kann, sowie dass sie bestimmten Mitteilungspflichten ihren Vorgesetzten und

den Patienten gegenüber nachgehen. Der Hauptfall der Verweigerung, eine

gesundheitsfördernde Leistung zu erbringen, bildet die Verweigerung, an den

Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen.

2. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen

2.1. Begriffsbestimmung der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen

Unter Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ist eine Ablehnung zu verstehen,

einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder an denjenigen Handlungen

teilzunehmen, die unmittelbar oder mittelbar die Durchführung eines

Schwangerschaftsabbruchs fördern. Derartige Verweigerung kann sich sowohl auf religiöse

oder moralische Verbote als auch auf berufliche Deontologie stützen.1197

Ein erwähnenswerter

Faktor, welcher das Ausmaß der Verweigerung der Schwangerschaftsunterbrechung aus

Gewissengründen in Polen wesentlich bestimmt, ist allerdings der Standpunkt der

1197

R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,

S. 510; R. Navarro -Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in:

Anuario de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 261.

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306

katholischen Kirche, wonach das menschliche Leben von dem Augenblick der Empfängnis

absolut zu achten und zu schützen ist.1198

Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ist dabei von der

Meinungsäußerung zu ihrer moralischen Zulässigkeit zu unterscheiden. Da sich das Gewissen

immer auf ein konkretes Tun oder Unterlassen, d.h. auf eine bestimmte Situation, in der sich

der handelnde Mensch befindet, bezieht, sind die Handlungen, die darauf abziehen, den

Standpunkt gegen die Abtreibung zu verteidigen oder in einer anderen Weise zum Ausdruck

zu bringen, durch die Gewissensfreiheit nicht erfasst. Sie stellen vielmehr eine

Betätigungsform der Meinungsfreiheit, gegebenenfalls der Glaubens- und

Weltanschauungsfreiheit dar. Die Gewissensfreiheit kommt ins Spiel nur dann, wenn ein

konkreter Schwangerschaftsabbruch bevorsteht, also im Fall des medizinischen Personals, das

rechtlich verpflichtet ist, an seiner Durchführung teilzunehmen.1199

Von der (prinzipiellen)

Verweigerung aus Gewissengründen ist auch der Fall nicht umfasst, wo der Arzt eine

medizinische Leistung üblicherweise erbringt, verweigert sie aber in einer konkreten Situation

wegen der besonderen „emotionalen Verwicklung“1200

, welche seine Beziehung zu den

Patienten bestimmt. Diese Situation liegt z.B. vor, wenn ein Arzt die Befruchtung in vitro

grundsätzlich durchführt, lehnt sie aber im Fall eines lesbischen Paares ab, weil er solche

Beziehungen für moralisch verwerflich hält. Der Artzt, der bei seiner Verweigerung nicht auf

den Charakter der gesundheitsfördernden Leistung, sondern auf Eigenschaften der Patienten

abstellt, kann den grundrechtlichen Schutz nicht beanspruchen.

2.2. Die Regelung der Zulässigkeit der Abtreibung in der polnischen Rechtsordnung

Gemäß Art. 4a des Gesetzes über die Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus

und Voraussetzungen der Zulässigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung1201

wird die

Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs aus folgenden Gründen erlaubt:

1198

Katechismus der Katholischen Kirche, http://www.pfarrer.at/katechismus_moral_gebote.htm (25.08.2010),

Nr. 2270ff. 1199

A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 39.

R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario de

Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 262. 1200

J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-

prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 (30.12.2010). 1201

Das Gesetz von 07.01 1993, Dz.U. Nr. 17, poz. 78 mit weiteren Veränderungen

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307

a) medizinischen – wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben und

Gesundheit der Schwangeren darstellt.

b) eugenischen – wenn die Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Störung

des Fötus oder einer unheilbaren Krankheit besteht.

c) kriminologischen – wenn eine begründete Annahme besteht, dass die

Schwangerschaft Resultat einer rechtswidrigen Tat ist.

Im Fall der eugenischen und kriminologischen Gründe sieht der Gesetzgeber auch eine

zeitliche Begrenzung der Rechtsmäßigkeit der Abtreibung vor: der Schwangerschaftsabbruch

kann nämlich nur innerhalb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft durchgeführt werden.

Dagegen im Fall der medizinischen Gründe ist die Abtreibung nicht mehr erlaubt, wenn der

Fötus die Fähigkeit erreicht hat, außer dem Organismus der Schwangeren selbstständig zu

leben. Das Vorliegen der medizinischen und eugenischen Voraussetzungen der

Schwangerschaftsunterbrechung soll von einem anderen Arzt als derjenige, der die

Behanglung durchführt, festgestellt werden. Für die Feststellung der kriminologischen

Voraussetzungen ist dagegen der Staatsanwalt zuständig. Darüber hinaus ist für die

Rechtsmäßigkeit der Behandlung in jedem Fall die schriftliche Einwilligung der Schwangeren

erforderlich. Im Fall der Minderjährigen oder der Entmündigten ist die Einwilligung ihrer

gesetzlichen Vertreters einzuholen. Die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters kann unter

Umständen durch die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts ersetzt werden. Wenn die

Minderjährige das 13. Lebensjahr vollendet hat ist ihre parallele Einwilligung in jedem Fall

erforderlich.

Die bloße Zulassung der Abtreibung in bestimmten Situationen als eine Ausnahme von ihrer

grundsätzlichen Strafbarkeit führt allerdings zu keiner automatischen Anerkennung des

subjektiven Rechts der Schwangeren auf Abtreibung und infolgedessen begründet keine

entsprechende Rechtspflicht seitens des medizinischen Personals, die

Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Diese Fragen müssen vielmehr ausdrücklich

geregelt werden, was der polnische Gesetzgeber getan hat. Die Rechtsgrundlage des

Anspruchs auf Abtreibung in der polnischen Rechtsordnung bildet Art. 4b des zitierten

Familienplanungsgesetzes, der bestimmt, dass allen Personen, welche die

Krankenversicherung haben, das Recht auf eine kostenfreie Behandlung des

Schwangerschaftsabbruchs zusteht. Aus dieser Bestimmung ergibt sich eine allgemeine

Pflicht der Gesundheitsanstalten, die Behandlungen der Schwangerschaftsunterbrechung

zugänglich zu machen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen ihrer Legalität erfüllt sind. Es

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308

ist allerdings anzunehmen, dass das Recht einer Frau, sich der Abtreibung zu unterziehen,

keinen Anspruch voraussetzt, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Es ist daher

nicht möglich, aus der erwähnten Vorschrift eine Rechtspflicht eines konkreten Arztes

herzuleiten, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Die Kollision zwischen dem

Recht der Frau und dem Recht des Arztes ist nur dann anzunehmen, wenn ein anderer Arzt

nicht zugänglich ist, der bereit wäre, die Abtreibung vorzunehmen.1202

In diesem Zusammenhang wird mit Recht vertreten, dass aus dem Recht auf Leben das

Verbot für den Gesetzgeber hergeleitet werden kann, Rechtspflichten zu schaffen, welche

gegen die Natur d.h. gegen die Finalität der medizinischen Berufe, das Leben und Gesundheit

zu retten, verstoßen würden. Die Ablehnung seintens des medizinischen Personals, die

Abtreibung oder Sterbehilfe durchzuführen, falls ihm eine solche Pflicht gesetzllich auferlegt

würde, könnte daher als die Verweigerung aus beruflichen Gründen und nicht zwangsläufig

als Verweigerung aus Gewissensgründen eingestuft werden.1203

Daraus ergibt sich das

Postulat, dass im Fall der nichttherapeutischen Abtreibung oder Sterbehilfe das medizinische

Personal nicht verpflichtet werden darf, ihre Kenntnisse in solche Behandlungen einzusetzen.

Die Auferlegung einer diesbezüglichen gesetzlichen Pflicht würde einen illegitimen Eingriff

in das Wesen und Zweck der medizinischen Berufe sowie in die freie Entfaltung der

Persönlichkeit und somit in die Menschenwürde des medizinischen Personals darstellen.1204

Die Vornahme solcher Behandlungen sollte vielmehr durch die Betroffenen freiwillig

übernommen werden.

Das Fehlen einer direkten gesetzlichen Pflicht, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, die

an einen konkreten Arzt gerichtet ist, könnte den Schluss nahelegen, dass auch die

ausdrückliche Regelung der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen entbehrlich

ist.1205

Diese Sichtweise ist allerdings formalistisch: wenn sich die Abtreibung in bestimmten

Fällen im Bereich des Erlaubten befindet, ist durchaus möglich, dass sich die Verweigerung

aus Gewissensgründen zwar nicht gegen die gesetzliche Pflicht eines konkreten Arztes richtet,

1202

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 389; J. López

Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 105. 1203

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 337; J. A. Souto Paz, Derecho

Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993, S. 139; A. Aparisi Miralles,

J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la fundamentación

filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 44. 1204

A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 42. 1205

Ebenda, S. 43.

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309

Abtreibungen vorzunehmen, sondern gegen die organisatorischen Regelungen einer

Gesundheitsanstalt oder gegen arbeitsvertragliche Bestimmungen, was im Endergebnis

dieselben Probleme verursacht.1206

Für die Notwendigkeit der gesetzlichen Normierung des

Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen ist somit nicht relevant, ob der Schwangeren ein

subjektives Recht auf Abtreibung zusteht.1207

Wenn sich der Gesetzgeber enthalten würde,

den Anspruch auf Abteribung und die ihm entsprechende Pflicht der medizinischen Anstalten,

solche Behandlungen zur Verfügung zu stellen, ausdrücklich zu regeln, würde sich die

Verweigerung aus Gewissensgründen gegen die Norm richten, welche zwar keine direkte

Pflicht auferlegt, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, sieht aber das Gebot vor, die

legalen (erlaubten) medizinischen Leistungen zu erbringen.1208

Es wurde auch zu Recht darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein einer

Gewissensentscheidung der Schwangeren auf Abtreibung grundsätzlich zu verneinen ist.

Wenn auch derartiger Entscheidung die Ernsthaftigkeit innewohnt, fehlt ihr die sittliche

Unbedingtheit. Die Gewissensentscheidung der Schwangeren wäre eigentlich denkbar, wenn

ihr Leben oder Gesundheit durch die Schwangerschaft gefährdet ist, oder wenn das Risiko

einer schweren Krankheit des Kindes besteht.1209

In dem ersten Fall überwiegt das Recht auf

Leben der Frau. Dies folgt jedoch nicht schon daraus, dass eine Gewissensentscheidung

getroffen worden ist, sondern als Resultat der objektivierbaren Abwägung zwischen

(prinzipiell) gleichwertigen Rechtsgütern.

2.3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im Bereich der Medizin im polnischen Recht

Das aktuell geltende Recht sieht die sog. Gewissensklausel in Art. 39 des Gesetzes über den

Beruf des Arztes und des Zahnarztes von 5.12.1996 1210

vor. Danach können sich die Ärzte

und Zahnärzte von der Durchführung einer gesundheitsfördernden Leistung enthalten, wenn

dieses Tun gegen die in ihrem Gewissen angenommenen Prinzipien verstößt. Die

entsprechende Regelung hinsichtlich der Krankenschwester und Hebammen enthält Art. 23

des Gesetzes von 05.07.1996 über den Beruf der Krankenschwester und Hebamme.1211

Durch

1206

I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 165. 1207

J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 101. 1208

M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de

Derecho, Band 21, 2003, S. 107. 1209

Ch. Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung?, in: JZ, 1993, S. 32. 1210

Der vereinheitlichte Gesetzestext; Dz.U. von 2005, Nr. 226, poz. 1943 mit weiteren Änderungen. 1211

Der vereinheitlichte Gesetzestext: Dz. U. von 2001, Nr. 57, poz. 602, mit weiteren Änderungen.

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310

die Einführung der Gewissensklausel in die Rechtsordnung wird der Grundsatz der

Vereinbarkeit der ärztlichen Tätigkeit mit den Direktiven des medizinischen Wissens sowie

mit den zugänglichen Mitteln und Methoden relativiert Der Begriff „Gewissen des Arztes“

gehört nun nicht nur zum Bereich der Ethik, sondern auch dem Bereich des Rechts.1212

Da der Gegenstand der Verweigerung eine gesundheitsfördernde Leistung sein kann, ist die

Bestimmung ihrer Reichweite für die Bestimmung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit

von entscheidender Bedeutung. Der Begriff einer gesundheitsfördernden Leistung wurde in

Art. 3 des Gesetzes von 30.08.1991 über die Gesundheitsanstalten1213

definiert. Damit werden

diejenigen Handlungen gemeint, welche der Erhaltung, Rettung, Wiederherstellung und

Besserung der Gesundheit dienen, sowie andere medizinische Tätigkeiten, die aus dem

Heilungsprozess resultieren oder sich aus anderen Vorschriften ergeben, welche die

Grundsätze ihrer Durchführung regeln und welche mit Untersuchung, medizinischer

Beratung, Heilung, diagnostischer Untersuchung einschließlich der medizinischen Analytik,

Beurteilung und Begutachtung über dem Gesundheitszustand verbunden sind. Aus dieser

Begriffsbestimmung ergibt sich vor allem, dass der Begriff der gesundheitsfördernden

Leistung weiter als der Begriff der Heilung ist. Das Problem der Verweigerung aus

Gewissensgründen betrifft in der polnischen Rechtspraxis folgende gesundheitsfördernde

Leistungen: die Ausstellung einer Bescheinigung über den Gesundheitszustand einer

Patientin, der zur Vornahme der Schwangerschaftsunterbrechung berechtigt, die Abtreibung,

andere Behandlungen aus dem Bereich der genetischen Ingenieurkunst und der künstlichen

Befruchtung, pränatale Untersuchungen sowie die Verordnung der

Schwangerschaftsverhütungsmittel.1214

Die Bestimmung des Umfangs des Verweigerungsrechts des medizinischen Personals, hängt

in Grenzfällen von der Auslegung des Rechtsbegriffs der gesundheitsfördernden Leistung ab.

Wenn bei der Auslegung des Begriffs „eine gesundheitsfördernde Leistung zu erbringen“ auf

die persönliche Handlung abgestellt wird, muss angenommen werden, dass etwa die

Ausstellung des Rezeptes oder Überweisung aus dem Schutzbereich des Verweigerungsrechts

1212

J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 152; L. Kubicki,

Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 2003, S. 5. 1213

Ustawa o zakładach opieki zdrowotnej, Dz. U. von 1991, Nr. 91, poz. 408, mit späteren Änderungen. 1214

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 194; J. Haberko, Sumienie medycyny i

litera prawa w obronie życia i zdrowia ludzkiego, in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis.

Problemy prawa medycznego, Poznań 2008, S. 21.

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311

ausgeschlossen ist.1215

Daraus folgt z.B., dass ein gläubiger Katholik mit Hinweis auf sein

Gewissen nicht verweigern darf, rezeptpflichtige Schwangerschaftsverhütungsmittel

vorzuschreiben. Freilich könnte er dies wegen der medizinischen Indikationen in einem

individuellen Fall tun, nicht aber mit der allgemeinen Begründung, dass er zutiefst davon

überzeugt ist, dass die zum Verkehr zugelassenen Mittel gravierende Nebenwirkungen für alle

Patienten haben. Wenn im gegebenen Fall individuelle Gegenindikationen nicht vorhanden

sind, soll die endgültige Entscheidung über die Anwendung bestimmter Mittel dem

betroffenen Patienten überlassen werden.1216

Die Berechtigung auf Zugang zu den

zugelassenen Schwangerschaftsverhütungsmitteln ergibt sich aus Art. 2 des Gesetzes über die

Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus und die Voraussetzungen der

Schwangerschaftsunterbrechung. Wenn dagegen der Rechtsbegriff „gesundheitsfördernde

Leistung“ weit ausgelegt würde, könnte die Verschreibung der

Schwangerschaftsverhütungsmittel als eine Handlung subsumiert werden, welche der

Prophylaxe (das Vermeiden von Leiden) oder Bewahrung und Verbesserung der Gesundheit

durch rationale Familienplanung dienen. Die Gesundheit wird dabei nicht nur als

Nichtvorliegen einer Krankheit, sondern auch als allgemeines Wohlergehen auf der

physischen, psychischen und sozialen Ebene verstanden. Demzufolge wäre in diesem Fall die

Möglichkeit der Berufung des Arztes auf Gewissensklausel zu bejahen.1217

Als eine Vergleichsregelung seien die Bestimmungen des polnischen Kodexes der Arztethik

erwähnt: Art. 7 sieht das Recht des Arztes vor, in begründeten Fällen die Heilung abzulehnen.

Art. 7 ist allerdings im Zusammenhang mit Art. 4 des Kodexes zu lesen, wonach der Arzt zu

den Handlungen nicht gezwungen werden darf, die mit Errungenschaften der modernen

Wissenschaft nicht vereinbar sind oder gegen sein Gewissen, d.h. gegen seine

weltanschaulichen, religiösen und moralischen Überzeugungen verstoßen. Der aus dem

Kodex der Arztethik entnommene Begriff „Heilung“ hat im Vergleich zum gesetzlichen

Begriff der gesundheitsfördernden Leistung einen engeren Umfang. Gemäß dem geltenden

Recht ist eine Auslegung vertretbar, wonach der Arzt berechtigt ist, etwa die Verschreibung

eines Schwangerschaftsverhütungsmittels oder die Erstellung einer Bescheinigung, dass die

Voraussetzungen eines erlaubten Schwangerschaftsabbruchs vorliegen, aus

1215

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 554. 1216

K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 219: E. Zielińska, Ustawa o

zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 557. 1217

Ebenda, S. 216ff., J. Haberko, Sumienie medycyny i litera prawa w obronie życia i zdrowia ludzkiego, in: J.

Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa medycznego, Poznań 2008, S. 27f.

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312

Gewissensgründen zu verweigern, während diese Verweigerungsfälle durch den Kodex der

Arztethik eindeutig nicht gedeckt sind. De lege ferenda wird postuliert, dass die

Harmonisierung beider Normsysteme in Richtung der außerrechtlichen Regelung des

Kodexes der Arztethik vorgenommen werden soll; der sachliche Gegenstand der

Gewissensklausel soll somit verengt werden.1218

Darüber hinaus wird vertreten, dass die Berufung auf Gewissensklausel im Gewissen des

Arztes ein moralisches Dilemma hervorrufen soll. Auf der Waageschale liegt nämlich das

Recht der Patientin auf Entscheidung, ob sie das Kind zur Welt bringen soll, obwohl etwa ein

schweres und irreversibles Defekt des Fötus vorliegt oder die Schwangerschaft als Folge einer

Straftat eingetreten ist.1219

Dieser quasi materialrechtlichen Voraussetzung der

Inanspruchnahme der Gewissensklausel muss allerdings die (falsche) Annahme

zugrundeliegen, dass der Mensch außer seinem Gewissen über einen anderen dem Gewissen

übergeordneten Mechanismus der Selbstkontrolle – ein „Metagewissen“ verfügt. Wenn der

Arzt davon ausgeht, dass eine gesundheitsfördernde Leistung moralisch „böse“ ist, nimmt er

an, dass ihre Durchführung generell, also auch im Fall eines konkreten Patienten unzulässig

ist. Die zweite Waageschale, auf der die Rechte und Interessen des betroffenen Patienten

liegen, ist somit nicht ersichtlich.1220

2.4. Der Schutzbereich der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen

Das Verweigerungsrecht, an der Abtreibung teilzunehmen, wurde bereits unter Geltung der

Verfassung von 1952 von dem Verfassungsgerichtshof1221

anerkannt. Es ist dabei zu betonen,

dass sich der Verfassungsgerichtshof mangels einer gesetzlichen Grundlage für das

Verweigerungsrecht der Abtreibung unmittelbar auf den die Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit regelnden Art. 82. Verf. berufen hat. Er betrachtet somit das

Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als eine Ausübungsmodalität der weit

auszulegenden Gewissensfreiheit. Bemerkenswert ist auch der von dem

Verfassungsgerichtshof angenommene weite Schutzbereich des Verweigerungsrechts der

1218

E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 28. 1219

A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia

(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 97. 1220

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 194f. 1221

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 15.01.1991 U 8/90, OTK 1991 Nr. 1 poz. 8; vgl. die

gleichlautende Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals STC 53/1985 von 18.04.1985, BOE von

18.05.1985.

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313

Abtreibung aus Gewissensgründen, der nicht auf die Durchführung des

Schwangerschaftsabbruchs beschränkt wird, sondern auch beinhaltet die Verweigerung, eine

Bescheinigung über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs auszustellen.

Dem Verfassungsgerichtshof ist nicht nur deswegen zuzustimmen, dass er von der weiten

Auslegung der Gewissensfreiheit als ein selbständiges Grundrecht ausgeht, das dem

Einzelnen das allgemeine Recht verleiht, gemäß seinen moralischen Grundsätzen zu leben.

Die angeführte Entscheidung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Position des

Verweigerers in der Axiologie der Verfassung verankert ist. Sie findet nämlich ihre

Rechtfertigung in dem verfassungsrechtlich verankerten Schutz des ungeborenen Lebens. Der

Arzt, der die Schwangerschaftsunterbrechung ablehnt, kämpft nämlich nicht nur um die

Bewahrung eigener Identität, sondern auch tritt für die in der Verfassung zum Ausdruck

gebrachten Werte (Recht auf Leben) ein. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im

Allgemeinen hat neben der individuellen auch die soziale Dimension, die im Fall der

Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen besonders deutlich zur Erscheinung

tritt. Es liegt nämlich im Interesse des Gemeinwesens, das medizinische Personal vor

Verletzungen der Gewissensfreiheit zu schützen, weil es für dasjenige Allgemeingut besorgt

ist, das einen fundamentalen Wert jedes Gemeinwesens und jeder Zivilisation darstellt.1222

Aus diesem Grund wird die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen im

sptanischen Schrifttum manchmal als eine Verweigerung aus Legalitätsgründen (objeción de

legalidad) bezeichnet.1223

Aus der Verankerung der Rechtfertigung der Verweigerung der

Abtreibung aus Gewissensgründen in der Axiologie der Verfassung wurde sogar geschlossen,

dass der Konflikt zwischen dem Recht der Schwangeren auf die legale medizinische

Leistungen und dem Recht des Verweigerers zugunsten des letzteren zu lösen ist,1224

wenn

das Leben und Gesundheit der Patientin nicht bedroht wird. Der Staat soll allerdings

organisatorische Vorkehrungen treffen, damit die Situation, in der eines der beiden Rechte

aufzuopfern wäre, vermieden wird.1225

1222

R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario

de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 268. 1223

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 96; R. Navarro-Valls, Las

objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993, S. 515f. 1224

R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario

de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 268. 1225

A. M. Garcia, La objeción de conciencia en la interrupción voluntaria del embarazo, in: Revista Juridica de

Catalunya, Nr. 2, 1987, S. 258.

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314

Die Durchführung der Abtreibung umfasst freilich nicht nur die auf den

Schwangerschaftsabbruch unmittelbar führende Behandlung, sondern auch eine Kette der

verschiedenartigen vorherigen und nachhaltigen Hilfstätigkeiten, die in Handlungen

medizinischer sowie administrativer und sonstiger Natur eingeteilt werden können. Deshalb

ist zu prüfen, welche dieser Tätigkeiten zum Gegenstand der Verweigerung aus

Gewissensgründen werden können.

Nach einer Meinung sind die mit der Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs

verbundenen Handlungen auf vorbereitende und nachträgliche Aktivitäten und zwar

unabhängig von ihrem Charakter aufzuteilen. Die vorbereitenden Aufgaben werden nach

dieser Auffassung durch das Recht auf Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen

gedeckt, von dem nicht nur das medizinische Personal, sondern auch andere Angestellten der

Gesundheitsanstalten Gebrauch machen können. Dagegen bleiben nachträgliche Handlungen

– etwa die medizinische Betreuung einer Patientin nach der Abtreibungsoperation durch die

Gewissensfreiheit nicht geschützt.1226

Die Aufteilung der die Schwangerschaftsunterbrechung

begleitenden Handlungen auf vorbereitende und nachträgliche erfolgt gemäß diesem Ansatz

ohne Berücksichtigung ihres sachlichen Charakters Dies hat zur Folge, dass sich der

grundrechtliche Schutzbereich nicht nur auf medizinische, sondern auch auf administrative

und technische Handlungen erstreckt, welche nur einen indirekten Zusammenhang mit der

Schwangerschaftsunterbrechung aufweisen. Eine solche Ausweitung des Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit lässt sich aber nicht begründen. Problematisch ist auch die Affassung,

wonach der Arzt, welcher sich die Erbringung einer gesundheitsfördernden Leistung weigert,

verpflichtet sein soll, die im Verhältnis zur verweigerten Handlung vorherigen und

nachträglichen Leistungen durchzuführen. Diese Lösung soll insbesondere im Notfall

gelten.1227

Wenn außer Zweifel steht, dass die Berufung auf Gewissensfreieit in

Notfallsituationen wegen der Grundrechtsschranken nicht rechtsmäßig erfolgen kann, sind

diejenigen vorbereitenden Handlungen, welche mit der Durchführung der Abtreibung

hinreichend unmittelbar verbunden sind, von dem grundrechtlichen Schutz ausgeschlossen.

1226

A. Ruiz Miguel, El aborto, problemas constitucionales, Madrid 1989, S. 117; S. Sieira Mucientes, La

objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007,

S. 58; J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291. 1227

J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana de

Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 157.

Page 327: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

315

Die beiden Meinungen zeigen, dass die Bestimmung des Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit hinsichtlich der Abtreibung mit Hilfe der chronologischen Aufteilung der

mit der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs verbundenen Aufgaben ohne

Berücksichtigung ihres sachlichen Charakters nicht möglich ist. Die gesundheitsfördernden

Leistungen, deren Erbringung unter Berufung auf die Gewissensklausel des Art. 39 des

Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes vom medizinischen Personal

verweigert werden kann, müssen deshalb zuerst von administrativen und sonstigen

technischen Tätigkeiten abgehoben werden. Die letzten haben in der Regel lediglich einen

organisatorischen Charakter und werden nicht vom medizinischen Personal verrichtet. Zu den

administrativen Tätigkeiten gehört etwa die Aufnahme der Patientin in die Klinik,

Archivierung ihrer medizinischen Dokumentation etc. Die technischen Aufgaben umfassen

etwa den Tronsport- oder Küchendienst. Da beide Tätigkeitsbereiche im Hinblick auf die

Schwangerschaftsunterbrechung nur einen mittelbaren Charakter haben, kann ihnen keine

Gewissensrelevanz und konsequenterweise kein grundrechtlicher Schutz der

Gewissensfreiheit zugeschrieben werden.1228

Vertretbar ist allerdings in diesem Zusammeng

die Meinung Escobar Rocas, der auf die Besonderheit des Aufgabenbereichs des Direktors

einer Anstalt, in der Abtreibungen vorgenommen werden, hinweist. Der zitierte Autor betont

nämlich eine enge Verbindung der Verwaltungsaufgaben des Direktors mit der Durchführung

der Schwangerschaftsabbrüche, was in diesem Fall die Bejahung des grundrechtlichen

Schutzes rechtfertigen soll. Wenn aber der Direktor von der Gewissensklausel Gebrauch

macht, ist seine Versetzung in eine andere Abteilung verhältnismäßig.1229

Es muss allerdings

berücksichtigt werden, dass die Gewissensfreiheit des Leiters der öffentlichen Klinik, der sich

weigern würde, die legale Durchführung der Abtreibung in der von ihm verwalteten Anstalt

zu organisieren, ihre Grenzen in dem Recht der Patientin findet, die legale Behandlung zu

bekommen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der öffentlichen Klinik, derartige

Behandlungen anzubieten. Darüber hinaus wird die Position des Verweigerers durch einen

freiwilligen Abschluss seines Arbeitsvertrages geschwächt.1230

1228

M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de

Derecho, Band 21, 2003, S. 106; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española,

Madrid 1993, S. 383; I. M. Sanchis, La Objeción de Concienica, I. España, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria,

La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 290. 1229

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 383f. 1230

S. Sieira Mucientes, La objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y

función pública, Madrid 2007, S. 60.

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316

Die chronologische Aufteilung der mit der Abtreibung zusammenhängenden Aufgaben

erweist sich jedoch als hilfreich für die Darstellung des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit

im Hinblick auf medizinische Tätigkeiten. Daraus ergibt sich folgende Differenzierung:

a) Die vorbereitenden Handlungen umfassen vor allem die Teilnahme der Ärzte an der

Ausstellung der Bescheinigungen sowie die Beratung der Schwangeren zu medizinischen,

psychologischen und sozialen Aspekten der Abtreibung. Es ist durchaus möglich, dass

derartige Tätigkeiten tiefgreifende Gewissenskonflikte bereiten können, sodass ihre

Einbeziehung in den Schutzbereich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen

gerechtfertigt ist.1231

Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Gegner der

Abtreibung keine Gewissensbedenken hinsichtlich der Durchführung der Informations- und

Beratungstätigkeiten hegen. Automatischer Ausschluss der Abtreibungsverweigerer aus der

Informations- und Beratungsphase scheint somit theoretisch nicht notwendig zu sein. Es ist

aber zu befürchten, dass in diesem Fall die Erfüllung dieser Aufgaben nicht neutral erfolgen

würde, was im Ergebnis zur Beeinträchtigung der Rechte der Schwangeren auf die

Abtreibung führen könnte. Der Ausschluss der Verweigerer von der Teilnahme an der

Vorbereitungsphase ist somit nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten.1232

In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage auf, ob ein Facharzt eine fachliche

Untersuchung mit Verweis auf sein Gewissen verweigern kann. Einerseits könnte die

medizinische Urkunde, welche das Vorliegen der mittels der Untersuchung festgestellten zur

Abtreibung berechtigenden Tatsachen bescheinigt, nur als Feststellung objektiver Umstände

aufgefasst werden. Der Verfassungsgerichtshof 1233

hat allerdings angenommen, dass sich

eine solche Bescheinigung auf die Diagnose, welche auf medizinischen Kenntnissen basiert,

nicht beschränkt. Ihr wohnt auch ein wertendes Element inne: der Arzt muss nämlich zu der

Frage Stellung nehmen, ob die Fortsetzung der Schwangerschaft unter Umständen das Leben

oder die Gesundheit der Patientin gefährden kann, oder ob die festgestellte oder glaubhaft

gemachte Beschädigung des Embryos als irreversible und schwere Beschädigung oder

lebensgefährdende Krankheit qualifiziert werden soll. Dieses bewertende Element kann aber

durch die Weltanschauung des Arztes dahingehend bestimmt werden, dass die Einbuße an

Objektivität der Bescheinigung zu befürchten ist. Es ist dabei in Betracht zu ziehen, dass die

1231

M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de

Derecho, Band 21, 2003, S. 116. 1232

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 384 – 385. 1233

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 15.01.1991, U 8/90, OTK 1991, S. 134.

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317

Bescheinigung des Arztes über das Vorliegen der die Abtreibung ermöglichenden

Voraussetzungen für die Durchführung dieser Behandlung entscheidende Bedeutung hat. Der

Arzt, welcher den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, darf nämlich nicht die Diagnose des

Facharztes in Frage zu stellen. Es ist daher mit dem Verfassungsgerichtshof anzunehmen,

dass sich der Verweigerer auf die Überweisung der Patientin zur Fachuntersuchung und zur

Benennung des Gesundheitszentrums beschränken soll, wo die Patientin die von ihm

verweigerte Untersuchung bekommen kann.1234

b) Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs: Der Zwang auf Ärzte und andere Mitglieder

des medizinischen Personals, an einem Schwangerschaftsabbruch aktiv teilzunehmen, würde

den Kernbereich des Grundrechtes der Gewissensfreiheit verletzen. Hier zählen nicht nur die

Tätigkeiten, welche unmittelbar zum Erfolg führen, sondern auch diejenigen, welche als

indirekte Mitarbeit die Erreichung des vorgenommenen Zieles fördern und ermöglichen wie

z.B. die Patientin anästhesieren, den Tropf legen oder ihren Gesundheitszustand während der

Behandlung zu kontrollieren.1235

c) Die nachträglichen Tätigkeiten: Ein Mitglied des medizinischen Personals kann sich

dagegen auf Gewissensfreiheit nicht berufen, um die nachträgliche Behandlung einer

Patientin zu verweigern. Dies ist damit zu begründen, dass einerseits das Leben des Fötus

nicht mehr existiert, andererseits hat die Patientin das Recht auf adäquate Behandlung nach

der legal durchgeführten Abtreibung.1236

Was den persönlichen Schutzbereich angeht, ist anzunehmen, dass das Verweigerungsrecht

nicht nur demjenigen Arzt (und sonstigen Personalmitgliedern) zusteht, in deren

Arbeitsverträgen die Ausführung der Abtreibung zu seinem Aufgabenbereich nicht explizit

zugerechnet wurde. Zum Genuss dieses Rechts kommen auch Ärzte, die sich zur

Durchführung der Abtreibung freiwillig verpflichtet haben. Die jeweilige Konkretisierung der

Aufgaben eines Arztes im Arbeitsvertrag ist somit für den subjektiven Schutzbereich des

Rechts auf Abtreibungsverweigerung aus Gewissensgründen ohne Belang. In diesem Fall

1234

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 558f. 1235

M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de

Derecho, Band 21, 2003, S. 114. 1236

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 385; M. Cebría

García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band

21, 2003, S. 115.

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318

verursacht jedoch die Ausübung des Grundrechts die Haftung wegen Nichterfüllung der

Arbeitspflichten.

2.5. Das Verfahren der Inanspruchnahme der Gewissensklausel

Der Gesetzgeber macht die Berufung auf die Gewissensklausel von der Erfüllung einiger

formalen Voraussetzung abhängig, im Fall deren Verletzung die Berufung auf

Gewissensklausel nicht rechtsmäßig erfolgt.1237

Die Betonung der formalen Voraussetzungen

der Inanspruchnahme der Gewissensklausel begründet sich damit, dass in Polen keine

homogene Praxis in diesem Bereich zu verzeichnen ist: sie werden in vielen Fällen willkürlich

nicht erfüllt, was u.U. zivilrechtliche Haftung des Arztes auslösen kann.1238

Dem Verweigerer obliegt zuerst, seinem Vorgesetzten eine schriftliche Benachrichtigung

einzureichen, in der er mitteilen soll, dass er die Absicht hat, das Verweigerungsrecht

auszuüben. Im Bezug auf die Ärzte gilt diese Pflicht, wenn der Betroffene in einem Arbeits-,

oder Dienstverhältnis ist. Der Arzt ist dabei verpflichtet, seine Erklärung zu begründen. Diese

Pflicht hat in der Lehre interpretatorische Zweifel hervorgerufen: es erhebt sich nämlich die

Frage, in welchem Zeitpunkt die Mitteilung zu erfolgen ist, sowie ob sie den generellen

Charakter (d.h. der Arzt erklärt, dass er bestimmte gesundheitsfördernde Leistungen in jedem

Fall nicht erbringen wird) oder den individuellen (fallbezogenen) Charakter haben soll. Der

Gebrauch des Plurals im Gesetzestext im Bezug auf die Verweigerung der

gesundheitsfördernden Leistungen legt den generellen Charakter der ärztlichen Erklärung

nahe. Dagegen lässt die andere Pflicht des Arztes, den Patienten zu informieren, wo er die

Möglichkeit hat, die verweigerte Leistung (Singular!) zu bekommen, auf den individuellen

Charakter der ärztlichen Erklärung seinen Vorgesetzten gegenüber schließen.1239

Trotz des

Wortlauts des Gesetzes, wonach sich der Arzt von gesundheitsfördernden Leistungen

1237

J. Niklas, Problematyka prawna dostępu do zabiegów przerwania ciąży oraz badań prenatalnych, in: Prawo i

Medycyna pl,

http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=196&PHPSESSID=28110c71704ca4550a

(29.12.2010) 1238

A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia

(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 98f. 1239

A. Zoll, Prawo lekarza do odmowy udzielenia świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003,

S. 24; J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 152 die Fußnote.

Zielinska hat den allgemeinen Charakter der Mitteilung mit Rechtswirkungen pro futuro angenommen. Siehe: E.

Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 559.

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319

enthalten darf, welche mit seinem Gewissen unvereinbar sind, kann angenommen werden,

dass sich die Gewissensklausel auf eine konkrete Situation und ein konkretes Verhältnis

zwischen dem Arzt und dem Patienten bezieht.1240

Darüber hinaus präzisiert das Gesetz nicht,

dass die Mitteilung der Gewissensentscheidung dem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber

erfolgen soll. Daher ist anzunehmen, dass in einem Krankenhaus diese Pflicht gegenüber dem

Oberarzt der Krankenhausabteilung oder dem Direktor des Krankenhauses erfüllt werden

kann. In den Gesundheitsanstalten (öffentlichen und nichtöffentlichen) erfolgt die Mitteilung

dem Leiter der Anstalt gegenüber. Im Fall des Dienstverhältnisses oder Einberufung zum

Militärdienst ist die Verweigerung demjenigen Vorgesetzten zu erklären, dem der Betroffene

unterliegt.1241

Die Pflicht des Arztes, über die verweigerten gesundheitsfördernden Leistungen zu

benachrichtigen, hat zum Zweck, dass der Vorgesetzte entsprechende Vorkehrungen auf der

Ebene der Anstellungspolitik und Arbeitsorganisation trifft, damit die Rechte und Interessen

der Patienten gesichert werden.1242

Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes über die

Familienplanung haben die Organe der Regierungsverwaltung und Selbstverwaltung die

Pflicht, die der bewussten Familienplanung dienenden Methoden und Mittel zugänglich zu

machen. Diese Vorschrift bildet somit die Rechtsgrundlage für die entsprechende

Berechtigung der Patienten. Die Zugänglichkeit hat dabei technische, wirtschaftliche und

faktische Dimension und bezieht sich auf alle in Polen zugelassenen Mittel. Die genannten

Organe haben die Pflicht, festzustellen, ob in den öffentlichen Gesundheitsanstalten die

genügende Zahl der Ärzte angestellt ist, die von der Gewissensklausel keinen Gebrauch

machen wollen.1243

Daraus ergibt sich, dass wenn die durch das Gesetz über die Berufe des Arztes und des

Zahnarztes vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, entsteht das subjektive Recht der Frau

auf die Abtreibung. Deswegen ist die Abgabe durch eine öffentliche Anstalt einer allgemeinen

Erklärung, dass sie diese Leistung verweigert, als rechtswidrig anzusehen.1244

Eine solche

1240

A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty, Warszawa 2010,

S. 341. 1241

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 542f. 1242

Ebenda, S. 559; dieselbe, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31; M. Cebría García, La objeción de

conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 112. 1243

E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 27. 1244

J. Niklas, Problematyka prawna dostępu do zabiegów przerwania ciąży oraz badań prenatalnych, in: Prawo i

Medycyna pl,

Page 332: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

320

Erklärung würde die Möglichkeit der Feststellung der Umstände (unmittelbare Gefahr für das

Leben und Gesundheit des Patienten, andere Dringlichkeitsfälle) ausschließen, in welchen die

Pflicht entsteht, die Abtreibung durchzuführen, und welche die Berufung des Arztes auf

Gewissensklausel rechtswidrig machen.1245

Zum anderen setzt eine solche Erklärung das

Vorhandensein einer dem polnischen Recht unbekannten Kategorie eines kollektiven

Gewissens voraus. Darüber hinaus schafft die kollektive Verweigerung die Möglichkeit, auf

Nichtverweigerer Druck auszuüben, was sich mit der Freiheit der Selbstbestimmung nicht

vereinbaren lässt.1246

Der Arzt, welcher sich auf die Gewissensklausel beruft, ist ebenfalls verpflichtet, den

Patienten über eine reale Möglichkeit der Erhaltung der verweigerten medizinischen Leistung

bei einem anderen Arzt oder in einer anderen Gesundheitsanstalt zu informieren. Die

Auferlegung den verweigernden Ärzten von dieser Pflicht ist allerdings umstritten: Zum einen

wird darauf hingewiesen, dass die Auferlegung der Informationspflicht mit Herbeiführung

einer indirekten Gewissenszwangssituation gleichsteht und deshalb als Verletzung der

Gewissensfreiheit durch den Gesetzgeber einzustufen ist.1247

Zum anderen setzt die

sachgemäße Erfüllung dieser Pflicht voraus, dass der Arzt zuerst nachforschen soll, wo der

Patient die von ihm verweigerte Leistung bekommen kann.1248

Vom Arzt wird gefordert, dass

er immer aktualisierte Kennnisse über Tätigkeitsbereiche anderer Ärzte und

Gesundheitsanstalten unter Berücksichtigung der Fragen der Erstattung der Kosten durch den

Nationalen Gesundheitsfond hat. Die Erfüllung dieser Informationspflicht ist daher ohne eine

Systemlösung schwer erfüllbar.1249

Aus diesem Grund wurde die Informationspflicht als

unrealistisch mit der Begründung bewertet, dass der in einer Privatpraxis berufstätige Arzt

http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=196&PHPSESSID=28110c71704ca4550a

(29.12.2010); M. Nesterowicz, Prawo medyczne, Toruń 2004, S. 197; M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg

medyczny, Toruń 2007, S. 197; siehe auch: M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje

constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 106, 121. 1245

A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia

(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 97. 1246

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S.560f; dieselbe,

Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30. 1247

J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-

prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 ; A. Mezglewski, H.

Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 107. 1248

J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 153; L. Kubicki,

Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 2003, S. 6. 1249

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 546.

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321

über die notwendige Information einfach nicht verfügt.1250

In diesem Zusammenhang hat

Zielińska vorgeschlagen, die Auskunftspflicht des Arztes mit der Mitwirkung seitens der

Gesundheitsanstalten und Krankenkassen zu verkoppeln.1251

Sie geht allerdings davon aus,

dass die Erteilung der Information über die Möglichkeit der Erhaltung der verweigerten

Leistung in der ersten Linie auf den Ärzten ruhen soll. Konsequenterweise konzentriert sie

sich auf die Sicherstellung, dass der verweigernde Arzt über die notwendigen Daten

tatsächlich verfügt. Nach ihrem Postulat sollen die Gesundheitsanstalt, wo der Verweigerer

angestellt ist, eventuell auch die Ombudsmänner der Patienten und Ärztekammer, verpflichtet

werden, diese Daten den Verweigerern bereitzustellen und zu aktualisieren.1252

Die zittierte

Autorin verkennt allerdings, dass die Auskunftspflicht des sich auf die Gewissensfreiheit

berufenden Arztes sein Gewissen schwerwiegend belasten kann.

Darüber hinaus wird vorgeschlagen, ein Register zu schaffen, in dem die sich auf

Gewissensklausel berufenden Ärzte und die von ihnen verweigerten gesundheitsfördernden

Leistungen eingetragen werden könnten. Ein solches Register könnte durch die Organe

geführt werden, welche über die Befähigung zur Berufsausübung entscheiden. Die

Eintragungspflicht hätte auch zum Zweck, dem Rechtsmissbrauch entgegenzuwirken, also der

Situation, wo sich ein Arzt in den staatlichen Anstalten die Gewissensklausel in Anspruch

nimmt und gleichzeitig die von ihm verweigerten Leistungen in den Privatkliniken

durchführt.1253

Zum Schluss ist der Arzt verpflichtet, einen Vermerk über die Inanspruchnahme des

Verweigerungsrechts mit der entsprechenden Begründung in den medizinischen Unterlagen

des Patienten einzutragen. Das Gesetz präzisiert dabei nicht genau, welchen Inhalt dieser

Vermerk haben soll. Offenkundig ist zuerst die Tatsache zu bescheinigen, dass die

Gewissensklausel in Anspruch genommen wird. Die grammatische Auslegung legt aber den

1250

K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,

http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a

(29.12.2010). 1251

E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30; zustimmend: M. Świderska, Zgoda pacjenta na

zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 197. 1252

E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31. 1253

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 561; dieselbe,

Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31f. Gegen die Einführung eines solchen Registers hat sich M.

Świderska ausgesprochen, die meint, dass diese „Bücher der moralischen Entscheidungen“ zum

Druckinstrument innerhalb des medizinischen Berufskörperschaft würde und im Endeffekt zur Entscheidungen

gegen das eigene Gewissen führen könnte, um negative Reaktionen seitens der Kollegen zu vermeiden; siehe: M.

Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 196f, Fußnote 359.

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322

Schluss nahe, dass es sich um den Vermerk handelt, dass der Informationspflicht über die

Zugänglichkeit der verweigerten Leistungen nachgegangen wurde. In der geforderten

Begründung soll der Arzt bescheinigen, dass er die Schranken der Gewissensfreiheit erwogen

und ausgeschlossen hat.1254

Die Begründung wäre somit mangelhaft, wenn sie lediglich einen

Hinweis auf das Gewissen des Arztes enthielte: die Berufung auf die Gewissensklausel ohne

die Gründe der Verweigerung ausführlicher anzugeben, könnte zum missbräuchlichen

Gebrauch der Gewissensfreiheit führen.1255

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die

Inanspruchnahme der Gewissensklausel von keiner Anerkennung in einem Verfahren

abhängig gemacht wurde, deshalb ist von der Glaubwürdigkeit des Grundrechtsträgers

auszugehen.

Die Nichterfüllung der Mitteilungspflicht des Vorgesetzten, der Informationspflicht des

Patienten und der Vermerkpflicht über die Ausübung der Gewissensfreiheit in den

medizinischen Dokumenten des Patienten ist mit keiner speziellen Sanktion versehen. In

diesem Fall kommen allgemeine arbeitsrechtliche Konsequenzen sowie die Sanktionen, die

sich aus Berufshaftung des Arztes kraft des Gesetzes über die Ärztekammer, sowie aufgrund

der jeweiligen Dienstordnung in Frage.

Der polnische Gesetzgeber hat die Ausübung der Gewissensfreiheit auch an keine zeitlichen

Voraussetzungen gebunden. Wegen der Veränderbarkeit des Gewissensinhalts kann die

Gewissensentscheidung gegen die Abtreibung in jeder Zeit getroffen und widerrufen werden.

Es ist somit auch die Möglichkeit der nachträglichen Verweigerung zu bejahen. Dabei ist

nicht relevant, ob der Rechtsträger zur Vornahme der Abtreibungen aufgrund seines

Arbeitsvertrags verpflichtet ist, oder, dass er früher Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt

hat. In diesem Zusammenhang ist nicht auszuschließen, dass die Gewissensentscheidung auch

im Moment getroffen werden kann, wenn eine Frau zur Behandlung erscheint. Dies kann u.U.

zu schwerwiegenden praktischen Problemen führen. Deswegen ist dem Verweigerer

zuzumuten, seine Gewissensposition unverzüglich mitzuteilen, damit die Patientin

rechtszeitig einen anderen Arzt aufsuchen kann. Außerdem kann die Verwaltung eines

Krankenhauses oder Klinik von einer Vermutung ausgehen, dass die Gewissensentscheidung

1254

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 562. 1255

K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,

http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a

(29.12.2010).

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323

fortbesteht, solange sie nicht ausdrücklich widerrufen ist bzw. solange sich nicht herausstellt,

dass der in einer staatlichen Anstalt angestellte Verweigerer in einer privaten Praxis

Abtreibungen vornimmt. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen gilt als

widerrufen, wenn festgestellt wurde, dass ein Arzt oder ein anderes Mitglied des

medizinischen Personals an der Behandlung freiwillig teilgenommen hat. Dies ist allerdings

nicht eindeutig in einem Fall, wo das Leben der Mutter bedroht ist.

Das Schweigen des Gesetzgebers in dieser Hinsicht hat zur Folge, dass die Verweigerung

jederzeit, d.h. auch im engen zeitlichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Behandlung

erklärt oder widerrufen werden kann. Die freie Verfügung des Berechtigten über das

Verweigerungsrecht kann nicht nur zu Störungen in Funktionsfähigkeit der

Gesundheitsanstalten führen; das Fehlen der Klarheit in diesem Bereich kann sich auch auf

die Position der Patientin auswirken.1256

Die Präzisierung der zeitlichen Aspekte der

Inanspruchnahme der Gewissensklausel würde mehr Klarheit und Sicherheit für die Patienten

verschaffen. In diesem Zusammenhang verdient die Aufmerksamkeit die italienische

Regelung, wonach die Ausübung des Verweigerungsrechts von der Erfüllung der zeitlichen

Anforderungen an die Abgabe der Erklärung der Verweigerung abhängig gemacht wird.

Danach ist die Erklärung innerhalb eines Monats nach Anstellung in einer zur Vornahme der

Schwangerschaftsabbrüche berechtigten Anstalt an den Provinzialarzt sowie an den Direktor

der betroffenen Gesundheitsanstalt zu richten. Falls die Verweigerung aus Gewissensgründen

widerrufen wurde und nach einem Widerruf wiederum eintritt, erlangt die erneut gestellte

Erklärung erst nach Ablauf von einem Monat Geltung.1257

Die erwähnte Lösung könnte dem

polnischen Gesetzgeber als Modell dienen.

Die Inanspruchnahme der Gewissensklausel wird allerdings – auch in zeitlicher Hinsicht –

durch Art. 30 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes beschränkt, der die

Problematik der Schranken der Gewissensfreiheit regelt. Danach ist der Arzt verpflichtet, den

Patienten medizinische Hilfe nicht nur im Fall der Gefahr für das Leben und Gesundheit,

sondern auch in jedem Dringlichkeitsfall zu leisten. Aus dieser Bestimmung entsteht für den

Arzt, welcher sich in konkreten Umständen auf die Gewissensklausel beruft, die Pflicht, das

Interesse der Patienten in möglichst schneller Erledigung ihrer Probleme zu berücksichtigen.

1256

J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: Sanchez, J. Navarro Floria, La libertad religiosa

en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291. 1257

Art. 9 des italienischen Abtreibungsgesetzes (Legge 194/74 sull interruzione di gravidanza von 22.05.1978).

Page 336: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

324

Da in jedem Fall des Schwangerschaftsabbruchs das medizinische Risiko der Behandlung für

die Schwangere mit dem Zeitablauf zunimmt, ist der Arzt verpflichtet, seine Verweigerung

der Patientin unverzüglich mitzuteilen. Die eventuelle Anwendung der Verzögerungstaktik,

insbesondere wenn sie die Überschreitung der gesetzlichen Fristen für die legale

Schwangerschaftsunterbrechung zur Folge hat, sodass ihre Durchführung nicht mehr erlaubt

ist (etwa im Fall der Abtreibungsmöglichkeit aus eugenischen Gründen, wo der Fötus die

Fähigkeit zum selbständigen Leben außer dem Organismus der Mutter erreicht hat), kann zur

zivilrechtlichen Haftung führen.1258

2.6. Das Diskriminierungsverbot der Verweigerer

Es wird vertreten, dass mit der Anerkennung durch die Rechtsordnung des

Verweigerungsrechts, eine gesundheitsfördernde Leistung aus Gewissensgründen zu

erbringen, die Organe des Gesundheitswesens berechtigt und verpflichtet sind, die

Verantwortung für die Einteilung der Aufgaben zwischen den in diesem Sektor angestellten

Personen zu übernehmen. Dies könnte unter anderen mit der Einführung bestimmter

Zulassungsvoraussetzungen zum Studium einiger Spezialisierungen und folglich zur

Anstellung in einigen Gebieten geschehen.1259

Dem wurde zu Recht entgegengehalten, dass

die Versuche, den Zugang zum Studium etwa der Frauenheilkunde oder Entbindungskunst

derjenigen Personen einzuschränken, deren Gewissen die Durchführung von Abtreibung oder

In-vitro-Fertilisation verbietet, eine Diskriminierung wegen der Weltanschaung darstellen

würde.1260

Die Gewissensfreiheit des Arztes soll aber mit den Ansprüchen der Patienten in

Einklang gebracht werden, deswegen stellt die Absage, einen Arzt in einem Ort anzustellen,

wo es schwierig wäre, ihm im Notfall zu ersetzen, keine Beeinträchtigung seiner Rechte

dar.1261

1258

E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 29; dieselbe, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza

dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 556; Das Urteil des Obersten Gerichtshofes von 13.10.2005 IV CK

161/05, OSP 2006 von Juni, S. 328. 1259

D. Dooley, Conscientious refusal to assist with abortion, in: British Medical Journal, No 6955, Volume 309,

1994, S. 623. 1260

A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la

fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 49. 1261

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho

1984, S. 52.

Page 337: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

325

Fraglich ist allerdings, unter welchen Umständen die Versetzung eines Verweigerers aus

organisatorischen Gründen in einen anderen Dienst möglich ist, ohne das Verbot der

Diskriminierung aus Gewissensgründen zu verletzen. In diesem Zusammenhang erweist sich

die Auseinandersetzung mit diesen Fragen in der spanischen Rechtsprechung für den

polnischen Rechtskontext besonders lehrreich. Der spanische Oberste Gerichtshof 1262

steht

auf dem Standpunkt, dass die Versetzung einer Krankenschwester, die abgelehnt hat, an der

Durchführung der Abtreibungen zusammenzuarbeiten, in eine andere Krankenhausabteilung

gegen die Religions- und Gewissensfreiheit nicht verstößt, wenn dadurch der berufliche

Status der Versetzten (kein Wechsel des Wohnsitzes und des anstellenden Krankenhauses,

keine Verminderung der Gehälter und anderer Rechte etc.) unverändert bleibt. Die

Argumentation der Beschwerdeführer, dass durch ihre Verweigerung an Abtreibungen

teilzunehmen ihre Widmung und Leistungsfähigkeit nicht gemindert ist, weil die mit der

Durchführung der Abtreibungen zusammenhängenden Handlungen lediglich einen kleinen

Teil ihrer Berufspflichten darstellen, wurde durch den Obersten Gerichtshof mit dem Hinweis

zurückgewiesen, dass die Schwangerschaftsabbrüche einen ordentlichen Bestandteil des

Krankenhausdienstes bilden und dass ihre Ablehnung zur Störung der Funktionsfähigkeit der

gynäkologischen Abteilung führen würde. Die Versetzung der technischen und sanitären

Hilfskräfte in einen anderen Dienst innerhalb desselben Krankenhauses stellt auch keine

diskriminierende Maßnahme dar. Dies wurde damit begründet, dass die Versetzung weder die

Änderung des Wohnortes und des Arbeitsplatzes der Verweigerer zur Folge hatte, noch sich

negativ auf ihre berufliche Kategorie und Belohnung auswirkte. Die eventuelle Repressalie

seitens des Arbeitgebers ist somit in diesem Fall nicht ersichtlich.1263

Nach gegenteiliger Ansicht ist der Arbeitgeber verpflichtet, statt den Verweigerer in eine

andere Abteilung zu versetzen, erforderliche Anpassungsmaßnahmen zu treffen, wenn die

abgelehnten Handlungen einen unwesentlichen Teil seiner Berufspflichten darstellen. Die

Versetzung stellt einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot wegen religiöser oder

ethischer Überzeugungen des Verweigerers dar, auch wenn sie keine Änderung im

beruflichen Status zu Ungunsten des Verweigerers mit sich bringt. Diese Maßnahme kann

u.U. als eine versteckte Repressalie angesehen werden, deshalb ist sie mit besonderem Ernst

und Vorsicht zu behandeln, um die Wirksamkeit der Schutzgarantien der Gewissensfreiheit zu

1262

Urteil 1987/18 von 20.1.1987. 1263

Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo) von 20. Januar 1987.

Page 338: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

326

gewehrleisten, sowie dem Grundsatz des ideologischen Pluralismus das Genüge zu tun.1264

Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nur dann

vorliegt, wenn der differenzierenden Handlung eine objektive Begründung fehlt. In diesem

Fall ist aber das Diskriminierungsverbot mit der Pflicht der öffentlichen Gesundheitsanstalten

in Einklang zu bringen, nötige Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass die

Erbringung legaler medizinischer Leistungen unmöglich ist.1265

Die Möglichkeit der

Versetzung eines Verweigerers aus Gewissensgründen ist somit als eine Maßnahme der

Harmonisierung der Interessen des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zu betrachten.

Insbesondere wenn sie zu keiner Veränderung des Rechtsstatus des Letzteren führt, ist ihre

Verhältnismäßigkeit nicht zu bezweifeln.

2.7. Schranken der Gewissensklausel im Bereich der Medizin

Nach Art. 30 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes darf der Arzt eine

gesundheitsfördernde Leistung nicht verweigern, wenn eine unmittelbare Gefährdung für das

Leben und Gesundheit des Patienten besteht sowie „in anderen Dringlichkeitsfällen“, die

nicht so gravierende Konsequenzen haben können. Der Arzt kann sich somit ex ante auf

Gewissensklausel nicht berufen, ohne zuerst geprüft zu haben, ob eine der in Art. 30 des

Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes genannten Situationen vorliegt, es sei

denn dass der Zustand des Patienten die genannte Gefahr eindeutig ausschließt.1266

Er wird

dabei von der Haftung für eventuelle Nichterfüllung seiner Pflicht auch im Fall nicht befreit,

auch wenn er auf eine andere reale Möglichkeit der Behandlung von einem anderen Arzt

hinweist, weil dies zu einem Verzug im Heilungsprozess führt.1267

Der Arzt darf auch nicht

verweigern, die Überweisung zu einer fachlichen Untersuchung unter Berufung auf seine

Gewissensüberzeugungen auszustellen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, dass die

Schwangerschaft eine Gefährdung für das Leben oder die Gesundheit der Patientin darstellt,

oder wenn die Patientin befürchtet, dass das Embryo beschädigt ist. Dies gilt insbesondere in

1264

Tribunal Superior de Justicia de Aragón, Urteil von 18.09.1991, zitiert nach: R. Navarro-Valls, Las

objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993 S. 517. 1265

J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291; M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su

encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 120. 1266

K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,

http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a

(29.12.2010); M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 195; E. Zielińska, Klauzula

sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30. 1267

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 191.

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327

dem Fall, wenn der Arzt weiß oder vermutet, dass sich die Patientin nach Feststellung dieser

Voraussetzungen für die legale Abtreibung entscheiden wird.1268

Die Gewissensfreiheit der Ärzte und des anderen medizinischen Personals ist somit dem

absoluten Gebot der Rettung des Lebens unterworfen.1269

Da in diesem Fall die Durchführung

der Abtreibung für die Abwendung der Gefahr für das Leben und Gesundheit der Patientin

unerlässlich ist, und deren Unterlassung zur Aufopferung dieser Rechtsgüter führen würde, ist

diese Rechtskollision mit der Gewissensfreiheit zugunsten der ersteren Rechtsgüter zu

lösen.1270

Man kann aber nach Escobar Roca annehmen, dass die ins Spiel kommenden

Rechtsgüter nicht graduierbar und dagegen abwägungsunfähig sind. Der zitierte Autor lässt

dagegen die Abwägung a posteriori zu, d.h. dass im Fall der Verweigerung der Durchführung

der Abtreibung trotz der unmittelbaren Bedrohung des Lebens der Mutter, die

Gewissensgründe bei der Strafzumessung berücksichtigt werden können.1271

In diesem Zusammenhang wird allerdings postuliert, dass die Berufung auf die

Gewissensfreiheit lediglich im Fall einer direkten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit

des Patienten ausgeschlossen werden soll; die bloße Möglichkeit der genannten Folgen sollte

dagegen kein ausreichender Grund darstellen, der die Einschränkung der

Grundrechtsbetätigung zu rechtfertigen vermag.1272

Darüber hinaus wird die gesetzliche

Erstreckung der Einschränkbarkeit der Gewissensklausel auf die „anderen

Dringlichkeitsfälle“ unter Berücksichtigung der kollidierenden Interessen als zu weitgehend

bewertet.1273

Dieser Ansicht ist allerdings mit Hinweis auf praktische Anwendung der

Gewissensklausel nicht anzunehmen: das Risiko für den Patienten, welche die Berufung auf

die Gewissensklausel mit sich bringt, besteht nicht darin, dass der Patient die medizinische

Leistung überhaupt nicht bekommt, sondern vielmehr darin, dass er diese Leistung nicht

rechtzeig bekommt.1274

Ein wichtiges Beispiel für das Vorliegen eines Dringlichkeitsfalles ist

1268

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 558; K.

Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S.224f.. 1269

E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 554; L. Kubicki,

Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 5. 1270

M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de

Derecho, Band 21, 2003, S. 120. 1271

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 387. 1272

J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 153; A. Zoll, Prawo

lekarza do odmowy udzielenia świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 19f. 1273

A. Zoll, Prawo lekarza do odmowy udzielania świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003,

S. 19; zustimmend: A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 107. 1274

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 195.

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328

die Situation, in welcher notwendig ist, die pränatale Untersuchung rechtzeitig durchzuführen,

wenn das Risiko einer genethischen Krankheit des Fötus zu befürchten ist, um die gesetzliche

Möglichkeit der Abtreibung aus zeitlichen Gründen nicht zu vereiteln. Obwohl in diesem Fall

keine unmittelbare Gefahr für das Leben und Gesundheit der Patientin vorliegt, ist die Pflicht

des Arztes zu bejahen, die Überweisung zu einer solchen Untersuchung auszustellen.

Im Fall der Abtreibung aus eugenischen und kriminologischen Gründen ist dagegen zu

berücksichtigen, dass das Recht einer Frau auf Schwangerschaftsunterbrechung keinen

Anspruch umfasst, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Deshalb entsteht der

Konflikt zwischen der Gewissensfreiheit und dem Recht der Frau auf Abtreibung erst dann,

wenn kein Arzt zugänglich ist, der bereit wäre, die Behandlung durchzuführen. Aus diesem

Grund obliegt der medizinischen Verwaltung dafür zu sorgen, einen Arzt zur Verfügung zu

stellen, der keine Gewissensbedenken gegen die Schwangerschaftsabbrüche hat, um dadurch

die Entstehung der Konflikte zwischen der Gewissensfreiheit und dem Recht einer Frau auf

Schwangerschaftsunterbrechung möglichst zu vermeiden. Die besondere Rolle der

Verwaltung der Gesundheitsanstalten in der Vermeidung der Konflikte begründet sich damit,

dass der Zwang zur Vornahme einer Abtreibung gegen das Gewissen des Einzelnen einen

Eingriff in den Kernbereich der Gewissensfreiheit darstellt.1275

Andererseits kann die

Massenverweigerung der Abtreibung gekoppelt mit einer ungenügenden Funktionsfähigkeit

der Verwaltung, die die Überschreitung der gesetzlich vorgesehenen Fristen zur

Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs zur Folge hätte, dem Verweigerer nicht zum

Nachteil gereichen.

2.8. Die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals und Arbeitsrecht

Für die Bestimmung der arbeitsrechtlichen Folgen der Verweigerung aus Gewissensgründen,

den Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, ist vor allem der Arbeitsvertrag maßgeblich. Es

ist nämlich zwischen den Verweigerern, die beim Arbeitsvertragsschluss die Durchführung

der Abtreibungen freiwillig übernommen haben, von denjenigen zu differenzieren, die eine

solche Verpflichtung ausdrücklich nicht eingegangen sind. Die nachträglichen Verweigerer

verlieren zwar die Möglichkeit der Ausübung der Gewissensfreiheit nicht, die vertragliche

1275

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 390 einschließlich

Fussnote 96.

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329

Pflicht wirkt sich aber in der rechtlichen Qualifizierung der Entlassung aus.1276

Dabei ist

zwischen zwei Fallsituationen zu unterscheiden:1277

a) Der Arbeitsvertrag bestimmt explizit die Vertragspflicht des Arztes, Abtreibungen

durchzuführen. Im Fall der nachträglich eingetretenen Gewissensentscheidung gegen die

Abtreibung ist die Kündigung des Arbeitsvertrages zulässig und begründet, wenn der

Arbeitgeber bewiesen hat, dass es ihm unzumutbar ist, den Aufgabenbereich des

verweigernden Arztes zu modifizieren.

b) Der Arbeitsvertrag sieht keine ausdrückliche Pflicht vor, Abtreibungen vorzunehmen.

Wenn der Arbeitgeber von seinem ius variandi Gebrauch macht, indem er den

Aufgabenbereich eines Arztes oder eines anderen Mitglieds des medizinischen Personals

dahingehend ändert, dass er gegen sein Gewissen an Durchführung der Abtreibung

teilzunehmen hat, ist die Kündigung des Arbeitsvertrages in diesem Fall nicht begründet.

Dem Arbeitnehmer steht in diesem Fall der Anspruch auf Schadensersatz.

2.9. Fazit

Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen wird nicht lediglich auf die mit der

Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs unmittelbar zusammenhängenden Handlungen

eingeschränkt. Sie umfasst auch die vorbereitenden Tätigkeiten, insbesondere die Anfertigung

der Dokumentation. Der Schutz der Gewissensklausel kann allerdings auf nachträgliche

Handlungen nicht erstreckt werden. Die Bedrohung des Lebens und Gesundheit der

Schwangeren stellt dabei eine unüberschreitbare Schranke des Verweigerungsrechts dar. Die

Ausdehnung der Schranken der Gewissensfreiheit auf den Fall der hypothetischen

Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Patientin würde allerdings den

grundrechtlichen Schutz zu weitgehend reduzieren, insbesondere wenn in Betracht gezogen

wird, dass dem Recht der Patientin i.d.R. die Pflichten der Gesundheitsanstalten und nicht der

konkreten Ärzte oder anderer Mitglieder des medizinischen Personals entsprechen. Es sollte

allerdings ein minimales Verfahren der Inanspruchnahme geschaffen werden, damit die

Rechte der Schwangeren genügend geschützt werden. Das Verfahren sollte von einer

generellen (und nicht fallbezogenen) Erklärung des Verweigerers an dem Arbeitgeber

ausgehen. Zu seinem Regelungsgegenstand könnte auch die Form und Zeit der Abgabe der

1276

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 381. 1277

Ebenda, S.390f.

Page 342: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

330

Verweigerungserklärung werden. Es sollen vor allem Maßnahmen getroffen werden, um

sicherzustellen, dass die Patientin ihre Rechte wegen des Fristablaufs für die legale

Abtreibung infolge der Versäumnisse seitens des medizinischen Personals nicht verliert. In

dieser Richtung soll der Einschränkungsgrund der „anderen Dringlichkeitsfälle“ interpretiert

werden. Wenn die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens es verlangt, soll der

Verweigerer ausnahmsweise auf den anderen Arbeitsplatz verlegt werden können.

3. Die Verweigerung aus Gewissensgründen des Pharmazeuten

3.1. Allgemeines

Die Verweigerung des Pharmazeuten aus Gewissensgründen richtet sich vor allem gegen den

Verkauf der Schwangerschaftsverhütungsmittel. Die Anhänger der Anerkennung dieses

Verweigerungstyps gehen von dem spezifischen Verständnis dieses Berufes aus; der

Pharmazeut wird nämlich nicht als bloßes Kettenglied im Vertrieb der Medikamente

angesehen, wo die ganze Verantwortung auf den ein bestimmtes Medikament verordnenden

Arzt fällt. Da er sein Wissen und Erfahrung in die Bearbeitung jedes Rezeptes aufbringen

muss, wird seine Mitwirkung als einen aktiven Faktor im Prozess des Schutzes und Förderung

der Gesundheit betrachtet.1278

Das deontologische Berufsziel des Pharmazeuten liegt im

Schutz des Lebens und Förderung der Gesundheit, deswegen kann der Vertrieb einiger Mittel,

die etwa abortive Wirkung haben, gegen sein Gewissen verstoßen. Darüber hinaus wird dem

Pharmazeuten eine pharmakologische Aufsichtsfunktion zugeschrieben, aus der seine

Verpflichtung hervorgeht, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, wenn ihm eine geeignetere

Therapiemöglichkeit bekannt ist. Mit der aktiven Rolle des Pharmazeuten wird die

vorherrschende, sogar paternalistische, Position des Arztes im Prozess der Heilung

überwunden. Der Arzt, der Pharmazeut und der Patient sollen vielmehr einen kooperierenden

Team bilden. Dies setzt allerdings die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller

Betroffenen voraus.1279

1278

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S.112; P. Talavera

Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in: Bioética en la

red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264 (01.09.2010). 1279

J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 117ff, 154.

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331

3.2. Die Interessenabwägung

Es ist davon auszugehen, dass im Konflikt zwischen der gesetzlichen Pflicht des

Pharmazeuten, die im Verkehr zugelassenen Medikamente zur Verfügung zu stellten, der das

Recht des Patienten entsprichicht, das von ihm gewünschte Mittel zu bekommen, und dem

Interesse des Pharmazeuten, sein Gewissensverbot zu beachten, das letztere Interesse

grundsätzlich überwiegen soll.1280

Dies lässt sich damit begründen, dass bei der Ablehnung

eines Pharmazeuten, die Schwangerschaftsverhütungsmittel zu verkaufen, weder das Leben

noch die Gesundheit der Patienten verletzt wird. Als kollidierendes Rechtsgut kommt

allerdings ihre Freiheit zu einem bestimmten Lebensstils in Frage. Aus der Gegenüberstellung

der genannten Rechtsgüter ergibt sich, dass wenn eine andere Apotheke relativ leicht

erreichbar ist, kann die Reise zu einer benachbarten Ortschaft der Patientin zugemutet

werden.1281

Dem wird entgegengehalten, dass die Gesundheit der betroffenen Frau doch in

Frage kommen kann, weil die Pille auch zwechs der Behandlung einiger Krankheiten

vorgeschrieben wird und der Pharmazeut nicht wissen kann, zu welchem Zweck ein Mittel im

konkreten Fall verordnet wurde. Dieses Argument wird jedoch mit der Behauptung entkräftet,

dass die hormonale Schwangerschaftsverhüttungsmittel in standardisierter Dosierung lege

artis niemals als therapeutische Mittel bei der Behandlung der gynäkologischen Krankheiten

angewendet werden sollen.1282

Um die negativen Folgen der Verweigerung für die Betroffenen zu vermeiden, wird

vorgeschlagen, dass die Verweigerer verpflichtet werden sollen, eine formale

Verweigerungserklärung abzugeben. Dies würde nicht nur im Fall eines Labors vonnöten

sein, um eine reibungslose Organisation der Arbeit zu ermöglichen, sondern auch im Fall

einer einzigen Apotheke in einer Ortschaft notwendig, um die Patienten im Voraus über die

Gewissensposition des Pharmazeuten zu informieren und damit ihre Unannehmlichkeiten zu

verringern.1283

Obwohl die Bejahung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen des Pharmazeuten

durchaus vertretbar scheint, ist zu vermuten, dass sie in Polen nicht anerkannt würde, wenn

1280

P. Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in:

Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264

(01.09.2010). 1281

J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 124f. 1282

Ebenda, S. 127. 1283

Ebenda, S. 129.

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332

sich ein solcher Fall zur gerichtlichen Entscheidung stellen würde. Das Gericht würde sich

wahrscheinlich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

stützen, wonach die Verweigerung eines Pharmazeuten, Schwangerschaftsverhütungsmittel zu

verkaufen, als die Ausübungsform der Gewissens- und Religionsfreiheit verneint wurde. Die

Entscheidung beruht auf der in der Rechtsprechung der Konventionsorgane zu Art. 9 EMRK

häufig vorgenommenen Unterscheidung zwischen Handlungen, die eine wirkliche

Betätigungsformen („actual practice“) der Religion oder Weltanschauung des

Grundrechtsträgers darstellen oder mit seinem Glauben oder Weltanschauung eng verbunden

sind („intimately linked“) von denjenigen Verhaltensweisen, die durch eine Religion oder

Weltanschauung lediglich motiviert oder beeinflusst werden. Nach Ansicht des Europäischen

Gerichtshofs für Menschenrechte basiert zwar die Verweigerung des Pharmazeuten auf

seinem religiösen Glauben, sie stellt aber keine durch Art. 9 EMRK geschützte

Ausübungsform der Gewissensfreiheit dar.1284

4. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen

4.1. Der Grundsatz der Selbstbestimmung des Patienten im Heilungsprozess

Die Hauptpflicht des medizinischen Personals, das Leben und Gesundheit des Patienten zu

retten, kommt im Spruch salus aegroti suprema lex esto (Das Wohl des Kranken sei das

höchste Recht) zum Ausdruck. Die negative Seite dieser Pflicht verdichtet sich dagegen im

Grundsatz non nocere, wonach dem Arzt verwehrt ist, dem Patienten einen Schaden

zuzufügen, auch wenn er dies ausdrücklich fordert. Die genannten Grundsätze der Bioethik

und Medizinrechts können aber in bestimmten Fällen mit dem Grundsatz der Autonomie des

Patienten in Konflikt geraten und sogar dadurch durchbrochen werden. Gemäß dem

Grundsatz der Autonomie ist der Patient berechtigt, im Bereich der Entscheidungen über die

ihn betreffenden medizinischen Handlungen nach seinen Maßstäben zu handeln,

vorausgesetzt dass er über die genügende Urteilsfähigkeit verfügt. Durch die Anerkennung

und Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Prozess der Heilung hat sich

der Übergang von dem paternalistischen Modell der Ausübung der medizinischen Berufe zu

dem partnerschaftlichen Modell der Verhältnisse zwischen dem Arzt und dem Patienten

vollzogen. Dieser Übergang kann allerdings zum Spannungsverhältnis zwischen den beiden

1284

ECHR, Pichon and Sajous v. France, die Entscheidung von 2001. 10. 02, Reports – X.

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333

Grundsätzen führen, insbesondere dann, wenn der Patient unter Berufung auf sein

Selbstbestimmungsrecht eine gesundheitsfördernde Leistung verweigert, um andere Werte

verwirklichen zu können. Der Konflikt der Werte beginnt dabei bereits auf der ethischen

Ebene, deren Berücksichtigung zum Ausgangspunkt der rechtlichen Regelungen wird.1285

Die

Anerkennung der Subjektivität des Patienten auf der Ebene der medizinischen Deonthologie

hat sich in der Normierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten in der Rechtsordnung

widerspiegelt.

Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung hat zwei Aspekte: in seiner positiven

Dimension verwirklicht sich das Selbstbestimmungsrecht in der Forderung, eine bestimmte

gesundheitsfördernde Leistung zu bekommen und eventuell eine bestimmte Heilungsmethode

zu wählen. Die negative Facette des Selbstbestimmungsrechts des Patienten besteht dagegen

in der Möglichkeit, eine Heilungsmethode oder die Heilung insgesamt zu verweigern. Im

ersten Fall ist zwar die Forderung des Patienten möglichst in Betracht zu ziehen, sie hat aber

für den Arzt keinen bindenden Charakter.1286

Im Fall der Verweigerung einer

gesundheitsfördernden Leistung hat der Arzt die Entscheidung des Patienten grundsätzlich zu

respektieren. Aus dem Grundsatz der Autonomie des Patienten wird die Voraussetzung seiner

Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung hergeleitet. Mit der Einwilligung wird ein

Willensakt gemeint, welcher aufgrund der sachgerechten und für den Patienten verständlichen

Aufklärung betreffs aller Etappen des medizinischen Verfahrens zwangsfrei getroffen und

ausgedrückt wurde.1287

Durch das Erfordernis, die Einwilligung des Patienten zu einer medizinischen Behandlung

einzuholen, verwirklicht sich jedoch nicht nur der Schutz des Rechts des Patienten auf

Selbstbestimmung, sondern auch das Recht auf Privatleben und das Recht auf körperliche

Unversehrtheit1288

und nicht zuletzt das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Die

folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Untersuchung derjenigen Aspekte der

Ablehnung einer medizinischen Behandlung, welche mit der Ausübung der Gewissensfreiheit

der Betroffenen zusammenhängen. Dies betrifft vor allem die Haltung der Zeugen Jehovas,

1285

A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 58. 1286

E. Zielińska, Powinności lekarza w przypadku braku zgody na leczenie oraz wobec pacjenta w stanie

terminalnym, in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 68. 1287

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 19. 1288

M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 34.

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334

welche die Heilung mit Blut (vornehmlich die Bluttransfusion) aus religiösen Gründen

verweigern.

4.2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Leben und der Verweigerung einer

medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen

Die Weigerung, sich einer lebensrettenden medizinischen Behandlung zu unterziehen, könnte

als eine Ausübungsform der Autonomie des Patienten oder als eine Modalität des

Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht anerkannt werden, wenn davon auszugehen wäre,

dass die Verfassung eine Wertehierarchie festlegt, in der das menschliche Leben den höchsten

Stellenwert genießt. In diesem Fall müsste konsequenterweise dem menschlichen Leben der

absolute verfassungsrechtliche Schutz zuerkannt werden. Dies würde aber voraussetzen, dass

die Verfassung dem Einzelnen die Pflicht auferlegt, das eigene Leben zu bewahren. Wenn

dagegen der Status dieses Rechtsguts nicht als absoluter Verfassungswert, sondern als

Gegenstand des Freiheitsrechts auf Leben aufzufassen ist, könnte von einer Pflicht zum Leben

nicht gesprochen werden. Die Ablehnung einer medizinischen Behandlung würde dann als

eine Ausübungsform der menschlichen Freiheit im Bereich des Erlaubten erscheinen, ohne

dass das Bedürfnis entstünde, auf die Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen

zu rekurrieren. Es besteht somit ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Auslegung

des Rechts auf Leben und der Möglichkeit, die Verweigerung einer medizinischen

Behandlung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, eventuell als eine

Betätigungsform der Gewissensfreiheit, zu bejahen. Die Interpretation des Rechts auf Leben

als ein absolutes Rechtsgut ist in der ausländischen Rechtsprechung zu verzeichnen. Die

Folgen derartiger Auslegung hinsichtlich der Rechte der Patienten seien am Beispiel aus der

spanischen Rechtsprechung illustriert.

Das spanische Verfassungstribunal hat in der Entscheidung zur Verweigerung der

Bluttransfusion aus Gewissensgründen den das Recht auf Leben verbürgende Art. 15 der

spanischen Verfassung dahingehend interpretiert, dass er nicht nur das subjektive Recht des

Einzelnen garantiert, sondern auch eine Projizierung des höchsten Wertes der

verfassungsrechtlichen Ordnung enthält, der mit dem Kern der Menschenrechte – der

Menschenwürde – eng verbunden ist. Das Verfassungstribunal setzt dabei an die

objektivrechtliche Auffassung der Grundrechte an: „Aus der Bedeutung und Zweck dieser

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335

Rechte innerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung ergibt sich, dass sich die Garantie ihrer

Geltung auf die Möglichkeit der Erhebung der Ansprüche seitens der Einzelnen nicht

beschränken kann; sie muss vielmehr von dem Staat übernommen werden. Daraus wird eine

positive Pflicht abgeleitet, zur Effektivität der in den Grundrechten verkörperten Rechte und

Werte beizutragen, auch in den Fällen, wo kein subjektiver Anspruch seitens des Bürgers

ersichtlich ist.“1289

Gestützt auf dieser Prämisse argumentiert das Verfassungstribunal

weiterhin, dass der Gesetzgeber positive Maßnahmen zum Schutz des Lebens treffen kann,

ohne sich auf den Willen des Grundrechtsträgers verlassen zu müssen: „Das Recht auf Leben

hat somit den Aspekt des positiven Schutzes, der verhindert, dieses Recht als Freiheitsrecht zu

gestalten, das ein Recht auf eigenen Tod enthielte. (...) Es ist daher nicht möglich

anzunehmen, dass die Verfassung in Art. 15 das Recht auf den eigenen Tod garantiert.“1290

Der Grundsatz der absoluten Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens wird gelegentlich in

der spanischen Lehre als Prinzip der Heiligkeit des Lebens (el principio de la santidad de la

vida) bezeichnet. Aus dem absoluten Charakter des Rechts auf Leben ergibt sich, dass es im

Verhältnis zur persönlichen Freiheit und auch im Verhältnis zu einer individuellen Moral

vorrangig ist.1291

Dieser Argumentation hat sich auch der spanische Oberste Gerichtshof

angeschlossen. Danach konnte der Beschwerdeführer „nicht ignorieren, dass jene Norm oder

Regel des religiösen Verhaltens (der Glaubensrichtung der Zeugen Jehovas) in denjenigen

Entscheidungen dieses Gerichtshofs widerholt missbilligt wurde, in welchen der

unveräußerliche Wert des menschlichen Lebens anerkannt wurde, indem der durch das Recht

auf Glaubensfreiheit herbeigeführte Konflikt zugunsten dieses Rechtsgutes gelöst wurde. Die

beiden Rechte werden zwar verfassungsrechtlich geschützt, da aber das Recht auf Leben das

Zentrum und Prinzip anderer Rechte ist, hat es das absolute Übergewicht. In der Tat können

die angegebenen religiösen Überzeugungen die Verwerflichkeit der Tat des Angeklagten

nicht verringern. Im Gegenteil war von ihm das normgemäße Verhalten zu erwarten.“1292

Mit den dargestellten Entscheidungen zum Recht auf Leben wurde der Bereich der

interpersonalen Beziehungen überschritten und die Privatsphäre des Einzelnen tangiert. Es

wurde eine Schutzmodalität des Rechts auf Leben geschaffen, die auch unabhängig von dem

Willen des Betroffenen und sogar seinen Willen zuwider zur Anwendung kommt. Daraus

1289

Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 53/1985 von 11.04. 1985, FJ 3. 1290

Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 120/1990 von 27.06.1990. 1291

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 332. 1292

Das Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo) von 27.03.1990.

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336

ergibt sich, dass weder im Fall des Suizids und Sterbehilfe, noch im Fall der Verweigerung

der Bluttransfusion oder anderer für die Abwendung einer Lebensgefahr unerlässlichen

medizinischen Behandlung möglich ist, sich auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen. Der

Staat ist vielmehr verpflichtet, das Leben ohne Rücksicht auf Weigerung des Rechtsträgers

positivrechtlich zu schützen. Ein Gesetz, das dem Willen und der Autonomie des Einzelnen

rechtliche Relevanz anerkennen würde, würde gegen das Recht auf Leben vorstoßen und

daher verfassungswidrig sein.1293

Die Annahme des menschlichen Lebens als ein absolutes

Rechtsgut kann den Schluss nahelegen, dass bereits die Verbreitung derjenigen Elemente der

religiösen Lehre, aus der das Verbot der Bluttransfusion abgeleitet wird, durch die

Religionsfreiheit nicht geschützt werden kann. Darauf wird nicht auf einen irrtümlichen

Charakter des Verbots der Bluttransfusion, sondern auf seine objektive Schädlichkeit für die

öffentliche Gesundheit abgestellt.1294

Aus der angeführten Rechtsprechung und ihrer Kommentierung im Schrifttum ist sichtbar,

dass sich der abstrakte, prinzipielle Vorrang des Rechts auf Leben über die anderen

Grundrechte ohne weiteres in die Pflicht zur Lebenserhaltung umwandeln kann. In einem

pluralistischen Staat kann allerdings diese Wertehierarchie den Einzelnen ohne einen

hinreichenden verfassungsrechtlichen Grund nicht auferlegt werden.1295

Diese Frage ist in der

polnischen Verfassung dahingehend deutlich geregelt, dass in Art. 38 Verf. nicht das Leben

als solche, sondern vielmehr das Recht auf Leben zum Schutzgegenstand wird. Die Pflicht am

Leben zu bleiben, würde nur im ersten Fall zu bejahen sein, dagegen kann der Einzelne

aufgrund der geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmung über sein eigenes Leben selbst

verfügen.1296

Dies ist darauf zurückzuführen, dass das menschliche Leben kein allgemeiner

und absolut geschützter Wert ist, der in abstracto aufgefasst werden soll.1297

Das Recht auf

Leben in der polnischen Verfassung ist nicht als das subjektive Recht, sondern vielmehr als

Freiheitsrecht konzipiert. Eine solche Lösung wird mit Vorrang anderer Freiheitsrechte

begründet. Aus der Freiheitsklausel wird das allgemeine Recht eines Kranken abgeleitet, über

1293

A. Ruiz Miguel, Autonomia individual y derecho a la propia vida, in: Revista del Centro de Estudios

Constitucionales, Nr. 14, 1993, S. 253. 1294

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,

1984, S. 49. 1295

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 28. 1296

J. Giezek, R. Kokot, Granice ludzkiego życia a jego prawno karna ochrona, in: B. Banaszak, A. Preisner,

Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 103f. 1297

M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu

Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 31.

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337

die Unterbrechung einer Heilungsform zu entscheiden. Dem Art. 53 Abs. 1 Verf. wird

dagegen das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen entnommen, wonach eine

Heilungsmethode abgelehnt werden kann, wenn sie gegen die Grundsätze einer Religion oder

Weltanschauung des Einzelnen verstößt.1298

4.3. Rechtsgrundlage der Einwilligung des Patienten als Voraussetzung einer legalen

medizinischen Behandlung

Viele Autoren vertreten die Meinung, dass das Recht auf Verweigerung, sich einer

Bluttransfusion zu unterziehen, aus Art. 31 Abs. 2 Verf., also aus der allgemeinen

Freiheitsklausel, abzuleiten ist, wonach niemand etwas zu tun gezwungen werden darf, was

ihm das Recht nicht gebietet.1299

Die Anderen weisen dagegen (manchmal kumulativ mit der

allgemeinen Freiheitsklausel) auf Art. 41 (das Recht auf körperliche Unversehrtheit) und 47

Verf. (das Recht auf Privatleben, das Recht, über sich selbst zu entscheiden) als

Rechtsgrundlage für das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hin.1300

Die These von der

Ableitbarkeit des Rechts des Patienten, eine gesundheitsfördernde Leistung zu verweigern,

aus der Freiheitsklausel wird auch von dem Obersten Gerichtshof 1301

geteilt: „(...) in dem

demokratischen Rechtsstaat wird die menschliche Freiheit besonders geschützt; darunter fällt

auch die Freiheit des Privatlebens, sowie die Autonomie der getroffenen Entschlüsse. Die

Freiheit ist auch ein fundamentaler Grundsatz der modernen Menschenrechtslehre (...). In

diesem Zusammenhang vertraut die Verfassung die Freiheit dem besonderen Schutz durch

den Staat an, indem sie jedermann die persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit,

sowie das Privat- und Familienleben, Ehre, guten Ruf sowie das Recht, über sein persönliches

Leben zu entscheiden, schützt (Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Verf.). Eine der

Ausprägungsformen der Autonomie des Einzelnen und seiner Freiheit, die

1298

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Art. 38, Rn. 2, 6, Warszawa 2009, S. 214 f. 1299

Statt Vieler: U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T. Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi

– aspekty medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 90; A. Zoll, Granice legalności zabiegu

medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 75. ; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i

medycyny (uwagi o odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2,

2007, S. 43; K. Poklewski-Koziełł, Oświadczenie woli pro futuro pacjenta jako instytucja prawna, in: PiP, Nr. 3,

2000, S. 4. 1300

L. Kubicki, Sumienie lekarza jako kategoria prawna in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 10; T. Wiwatowski, U.

Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków Jehowy w sprawie transfuzji

krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 20; A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażenie zgody na

zastosowanie preparatu krwi podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in:

Transformacje Prawa Prywatnego, 3-4, 2006, S. 39; C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski,

Zgoda Świadków Jehowy na leczenie preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny

Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr. 1, 2007, S. 138. 1301

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05.

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338

Wahlentscheidungen zu treffen, ist das Recht über sich selbst, darunter über die

Heilungsmethode zu entscheiden.“ Es ist bemerkenswert, dass Art. 53 Verf. also die

Gewissens- und Religionsfreiheit in diesem Zusammenhang nicht angeführt wird. Dies

betrifft auch die Diskussion über die Verweigerung der Bluttransfusion von Zeugen Jehovas,

also über die Verweigerung aus religiösen Gründen im polnischen Schrifttum.

Die Anwendung der Gewissens- und Religionsfreiheit in diesem Bereich wird auch in der

Kommentierung des Art. 9 EMRK mit dem Argument verneint, dass der Begriff „practice“ in

der Rechtsprechung der Konventionsorgane eng ausgelegt ist.1302

Das Recht auf körperliche

Unversehrtheit und das aus diesem Recht entnommene Verbot der Durchführung einer

medizinischen Behandlung (auch von geringerer Bedeutung) wird vielmehr aus dem Recht

auf Privatleben abgeleitet.1303

Die dargestellte Ansicht des Obersten Gerichtshofes und der

Lehre trifft zu, insoweit sich um die Einwilligung des Patienten im Allgemeinen handelt, also

in einem Fall, wo keine religiösen oder moralischen Gesichtspunkte ins Spiel kommen. Wenn

dagegen die Gründe für die Ablehnung der medizinischen Behandlung die Form einer

Gewissensentscheidung annehmen, soll die Gewissensfreiheit, die in diesem Fall lex specialis

ist, als Rechtsgrundlage einer solchen Verweigerung in Vordergrund treten.

Auf der gesetzlichen Ebene ist das Erfordernis der Einwilligung des Patienten zu einer

medizinischen Behandlung in Art. 32 – 34 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des

Zahnarztes normiert. Gemäß diesen Bestimmungen wird dem Patienten das Recht eingeräumt,

für eine gesundheitsfördernde Leistung Zustimmung oder Ablehnung zu erteilen, nachdem er

entsprechende Information erhalten hat. Im Fall der Minderjährigen ist die Einwilligung des

gesetzlichen Vertreters erforderlich. Wenn der gesetzliche Vertreter nicht erreichbar ist,

entsteht die Pflicht des Arztes, die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts einzuholen.

Wenn aber der Minderjährige das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist neben der Einwilligung

seines gesetzlichen Vertreters auch seine schriftliche Einwilligung erforderlich, wobei in

Konfliktfällen zwischen dem Minderjährigen und seinem Vertreter das

Vormundschaftsgericht entscheiden soll. Darüber hinaus wird die körperliche Unversehrtheit

als persönliches Gut gemäß Art. 23 des Zivilgesetzbuches geschützt: wenn der Arzt die

1302

R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La

documentation française, Paris 2001, S. 42. 1303

R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La

documentation française, Paris 2001, S. 42; L. E. Pettiti, La Convention européenne des Droits de l‟homme et

des libertés fondamentaux, commentaire article par article, Paris 1995, S. 343; X v. Austria, App: 8278/78, DR

18, 54.

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339

verweigerte Behandlung den Willen des Patienten entgegen durchführt, haftet er nach Art. 24

des Zivilgesetzbuches, obwohl die Behandlung lege artis durchgeführt wurde und der

beabsichtigte Erfolg eingetreten ist.1304

Die Selbstbestimmung des Patienten im Bereich der

medizinischen Behandlungen genießt auch den strafrechtlichen Schutz: gemäß Art. 192

Strafgesetzbuch ist nämlich die Durchführung einer medizinischen Behandlung ohne die

Einwilligung des Patienten strafbar.

Zum Schluss ist auf eine in der polnischen Lehre vereinzelt vertretene, jedoch eine relative

Resonanz genießende Auffassung hinzuweisen, wonach das Selbstbestimmungsrecht der

Patienten nicht so weit reichen kann, dass er die Einwilligung zu einer lebensrettenden

medizinischen Behandlung verweigern kann: „Niemand darf einen Anderen mit seinem Tod

belästigen. In diesem Zusammenhang kann das Verhalten des Zeugen Jehovas als ein

Rechtsmissbrauch betrachtet werden, welcher mit den Grundsätzen des sozialen

Zusammenlebens unvereinbar ist. Ein solches Verhalten wird bekanntlich gemäß Art. 5

Zivilgesetzbuch als Rechtsausübung nicht angesehen und genießt keinen Rechtsschutz.“1305

Dabei wird argumentiert, dass die menschliche Freiheit keinen absoluten Stellenwert

einnimmt, weil die Rechte und Freiheiten des Einzelnen u.a. zum Schutz der Gesundheit

eingeschränkt werden können. Der Wille des Patienten soll vielmehr dem Recht auf Leben

und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Gesundheitsschutzes untergeordnet werden.

Der Arzt darf zwar nicht gegen den Willen des Kranken handeln, dies betrifft allerdings die

Situation nicht, wo das Leben des Patienten bedroht ist. Die Pflicht des Arztes, den Willen des

Patienten zu achten, findet ihre Grenzen in seiner Pflicht, das Leben des Patienten zu

retten.1306

Im Fall, wo der Patient zu einer Operation eingewilligt hat, wo die Möglichkeit

einer Bluttransfusion nicht auszuschließen ist, achtet der Arzt seine religiösen Überzeugungen

hinreichend, indem er das Ausmaß des Risikos der Behandlung ohne Bluttransfusion

einschätzt. Wenn dieses Risiko besteht oder wenn es unter Umständen unerwartet eintreten

kann, darf der Patient vom Arzt nicht erwarten, dass er die Hilfeleistung zwecks Rettung

seines Lebens unterlässt und seinen Tod in Kauf nimmt.1307

Dem Arzt ist erlaubt und er ist

1304

U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T. Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi – aspekty

medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 93. 1305

J. Ignaczewski, Zgoda pacjenta na leczenie, Warszawa 2003, S. 36; M. Nesterowicz, Wyrok Cour

Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277), in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 151. 1306

M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,

2000, S .151. 1307

Ebenda.

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340

dazu verpflichtet, das Leben des Patienten zu retten, und zwar unabhängig davon, ob der

Patient eine allgemeine Erklärung abgegeben hat, dass er die Bluttransfusion verweigert.1308

Die Befürworter dieser Ansicht gehen allerdings von einer subjektiven Wertehierarchie aus,

in der das Leben und Gesundheit des Patienten als summum bonum über sein

Selbstbestimmungsrecht gestellt wird. Diese Hierarchisierung kann nicht nur als Rückschritt

im Verhältnis zum europäischen Gedankengut betreffs der Partnerrolle des Patienten im

Prozess der Heilung bewertet werden; sie birgt auch eine Gefahr in sich, dass die

Nichtrespektierung des Willens des Patienten, die rechtlich als eine Ausnahme ausgestaltet ist,

zum Regelfall wird.1309

4.4. Subjektiver Schutzbereich und Umfang des Verweigerungsrechts einer

medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen

Nach einem Ansatz wird für die Anerkennung der Verweigerung der medizinischen

Behandlung aus Gewissensgründen darauf abgestellt, ob sich im konkreten Fall um einen

Erwachsenen handelt, der sich bewusst seiner Entscheidung ist. Danach wird das

Verweigerungsrecht sowohl des unbewussten Erwachsenen als auch des Minderjährigen

unabhängig von ihrem Reifegrad nicht anerkannt. Im Fall der letzteren wird argumentiert,

dass der gesetzliche Vertreter nicht zuständig ist, über das Leben und Gesundheit Anderer zu

verfügen.1310

Die Zweifel betreffs der Fähigkeit des Patienten, die Einwilligung zur medizinischen

Behandlung zu erteilen, sind zugunsten der Autonomie des Patienten zu lösen.1311

Für die

Bejahung der faktischen Unfähigkeit soll dabei auf den Zustand des gänzlichen

Bewußtseinsverlusts abgestellt werden. Die beschränkte Kontaktfähigkeit mit der Außenwelt

1308

M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,

2000, S .151. 1309

U. Chmielewska, A. Karnas, Głos w sprawie uznania wyroku Apelacyjnego Trybunału Administracyjnego

(Cour Administratif d‟Appel de Paris) z dnia 9 czerwca 1998 r. jako wyznacznika kierunku przemian polskiego

prawa medycznego, in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 156; siehe auch: R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S.

236. 1310

R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 236; I. M. Sanchis, La Objeción de Concienica, I. España,

in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 299f; H.

Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008, S. 29;

A. C. Salinas, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaiso 2004, S. 123. 1311

M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 43.

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341

oder die beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit des Patienten reicht dagegen nicht aus.1312

Die

Tatsache, dass sich der Patient unter Einfluss der Medikamente oder im Zustand des Traumas

z.B. nach einem Autounfall befindet, lässt keine generelle Vermutung begründen, dass er der

Einsichts- und Urteilsfähigkeit beraubt ist, wenn auch die Zweifel im Einzelfall nicht

auszuschließen sind.1313

Die Autonomie des Patienten soll auch in den Fällen geachtet

werden, wenn er nach Erteilung seiner Stellungnahme zur medizinischen Behandlung die

Entscheidungsfähigkeit verliert. Deshalb kann eine eventuelle Änderung des Umfangs einer

operativen Handlung oder einer Heilungsmethode die Durchführung der medizinischen

Leistungen nicht umfassen, die von dem Betroffenen ausdrücklich abgelehnt worden sind.1314

Diese Ansicht wird auch im Zusammenhang mit Art. 8 des Übereinkommens zum Schutz der

Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und

Medizin vertreten. Danach betrifft die Pflicht, die Einwilligung des Patienten einzuholen, die

Notfallsituationen nicht, in denen unter Umständen diese Einholung nicht möglich ist und die

Behandlung für die Gesundheit des Patienten unerlässlich ist. Der hypothetische Wille des

Patienten ist aber auch in diesem Fall im Rahmen des Möglichen zu erforschen.1315

Das

Anliegen der Konvention ist, der Einwilligung des Patienten eine vorrangige Position

einzuräumen und immer wenn es möglich ist, seinen Willen, zu respektieren (Art. 9).1316

Diese Bestimmung hat allerdings keinen absoluten Charakter.1317

Sie regelt nämlich nicht nur

Situationen der Lebensgefahr für den Patienten, sondern auch bezieht sich auf die Fälle, wo

die Erweiterung des Umfangs einer Behandlung oder die Wahl einer anderen

Handlungsmethode notwendig ist. Entscheidend ist aber, dass das Gebot der

Berücksichtigung der Wünsche des Patienten mit ihrer kategorischen Befolgung nicht

gleichsteht.1318

1312

M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 43. 1313

R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 235. 1314

L. Kubicki, Sumienie lekarza jako kategoria prawna in: PiM, 1999, S. 9f; U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T.

Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi – aspekty medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr.

13, 2003, S. 92. 1315

Conseil de l‟ Europe, Rapport explicatif a la Convention pour la protection des droits de l‟ Homme et de la

dignité de l etre humain a l egard des applications de la biologie et de la médicine, Direction des affaires

juridiques, in: DIR/JUR (97) 1, Strasbourg 1997, Art. 8,57, para. 15. 1316

R. M. Lozano, La protection europeenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La

documentation française, Paris 2001, S. 49. 1317

M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,

2000, S. 151. 1318

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 212; M. Nesterowicz, Działanie lekarza

bez zgody pacjenta w świetle Konwencji Bioetycznej, prawa i etyki,

http://www.diametros.iphils.uj.edu.pl/?l=1&p=wyk55&m=45&ik=18&ij=1 (05.01.2011).

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342

Für die Anerkennung der Verweigerung des Patienten verlangt der Oberste Gerichtshof, dass

es zwischen der Abgabe der Verweigerungserklärung und der verweigerten Behandlung einen

„ausreichend engen zeitlichen Zusammenhang“1319

gibt. Nach diesem Ansatz ist der Arzt

nicht verpflichtet, die Entscheidung des Patienten zu achten, wenn sie lange Zeit vor der

Behandlung getroffen wurde und wenn die Behandlungstechnik in der Zwischenzeit

wesentlich fortgeschritten hat.1320

Diese Ansicht ist allerdings auf Kritik gestoßen: es wird

nämlich postuliert, dass der zeitliche Zusammenhang im Fall der von den Zeugen Jehovas

abgegebenen Erklärungen pro futuro ohne Bedeutung für ihre rechtliche Wirksamkeit sein

sollte.1321

Eine wirksam zum Ausdruck gebrachte Verweigerung soll vielmehr in Kraft

bleiben, solange sie ausdrücklich nicht widerrufen wurde.1322

Darüber hinaus ist nicht

notwendig, dass die Erklärung des Patienten ein Datum enthält. Aufgrund Art. 61

Zivilgesetzbuch ist nämlich anzunehmen, dass die Erklärung pro futuro im Zeitpunkt

abgegeben wurde, in dem sie bei dem unbewussten Patienten gefunden wurde.1323

In diesem Zusammenhang ist die rechtliche Bedeutung der allgemeinen Erklärungen der

Patienten zu erwägen, welche im Bezug auf hypothetische, künftige Fälle, wenn die

Behandlungen im Zustand des Bewusstseinsverlusts vorgenommen werden sollen, abgegeben

werden.1324

Der Zweck dieser Erklärungen ist zu verhindern, dass bei dem Patienten „das

Risiko des Gefühls des Verlustes der persönlichen Freiheit (Autonomie) in einer Situation

entsteht, in welcher er infolge einer unheilbaren Krankheit oder eines Unglücksfalles zum

willenlosen Objekt der Handlungen des Gesundheitsdienstes wird.“1325

Einer der

Anwendungsfälle solcher Erklärungen ist die Praxis der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft

Zeugen Jehovas, welche ein in Anwesenheit von zwei Zeugen unterzeichnetes Dokument bei

1319

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05. 1320

R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La

documentation française, Paris 2001, S. 49. 1321

J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Palestra, Nr. 3-4, 2007,

S. 322. 1322

M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu

Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 29. 1323

R. Tymiński, Glosa do postanowienia z 27 października 2005 (III CK 155/05), in: Przegląd Sądowy, 2008,

Nr. 3, S. 120. 1324

genannt im Ausland living will, advanced directives, testament de la vie, testament biologique und im

deutschsprachigen Raum – Lebenstestament oder Patientenverfügung 1325

J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności,

in: Anestezjologia i ratownictwo, 2008, Nr. 2, S. 196; siehe auch: K. Poklewski-Koziełł, Lekarz wobec

oświadczeń woli pacjenta antycypującego swój stan terminalny (na tle rozwiązań przyjętych w Szwajcarii), in:

PiM, Nr. 9, 2003, S. 48.

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343

sich tragen, in dem sie erklären, dass sie in hypothetischen Fällen des Verlustes der

Entscheidungsfähigkeit die Bluttransfusion ablehnen.1326

Das polnische Recht enthält keine ausdrückliche Regelung (Reglementierung) dieser sog.

Lebenstestamente. Die Autoren, welche die Zulässigkeit einer solchen Erklärung bejahen,

berufen sich auf den Grundsatz der Selbstbestimmung des Einzelnen. In diese Richtung

argumentiert auch der Oberste Gerichtshof: „Der Grundsatz der Achtung der Autonomie des

Patienten gebietet, seinen Willen unabhängig von den unterliegenden Motiven

(konfessionelle, ideologische, gesundheitliche) zu respektieren. Deshalb ist anzunehmen, dass

die Nichteinwilligung des Patienten zu einer bestimmten Behandlung (oder zu einem Typ der

Behandlungen) für den Arzt bindend ist und dass sie das Risiko der strafrechtlichen oder

zivilrechtlichen Verantwortung wegnimmt. Die Absage der genannten Einwilligung macht

auch die Durchführung der Behandlung rechtswidrig.“1327

Die zitierte These des Obersten

Gerichtshofes hat den universallen Charakter und bezieht sich auf alle Erklärungen, in

welchen die Heilung insgesamt oder eine bestimmte Behandlung verweigert wird.1328

Der

erwachsene, einsichtsfähige Patient darf daher im Fall des Bewusstseinsverlustes nur dann

behandelt werden, wenn er eine Verweigerung nicht erteilt hat.1329

Die Erklärung des Patienten, um rechtswirksam zu sein, muss allerdings ausdrücklich und

eindeutig sein, sowie im Bewusstsein der getroffenen Entscheidung und ihrer Folgen

abgegeben werden. Darüber hinaus ist der Arzt nicht verpflichtet, alle ihm zur Verfügung

stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um sich zu vergewissern, dass eine solche Verweigerung

nicht vorliegt. Mangels der ausdrücklichen rechtlichen Regelung ist von der Formfreiheit des

Lebenstestaments auszugehen, wenn auch die Schriftform für Beweiszwecke empfohlen

wird.1330

Insbesondere kann die bloße Kenntnis des Arztes, dass der betroffene Patient Zeuge

Jehovas ist, das schriftliche Dokument nicht ersetzen: wenn keine ausdrückliche Erklärung

1326

K. Poklewski-Koziełł, Lekarz wobec oświadczeń woli pacjenta antycypującego swój stan terminalny (na tle

rozwiązań przyjętych w Szwajcarii), in: PiM, Nr. 9, 2003, S. 53. 1327

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05. 1328

A. Zoll, Brak zgody pacjenta na zabieg (Uwagi w świetle postanowienia SN z 27 października 2005 r., III

CK 155/05), in: PiM, Nr. 4, 2006, S. 8. 1329

M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu

Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 28. 1330

Ebenda, S. 28; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o

odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 44.

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344

nicht vorliegt, ist vielmehr die Transfusion durchzuführen.1331

Auch die Behauptungen der

Mitglieder der Familie des Patienten, dass er eine solche Erklärung zwar nicht in Schriftform

aber in Anwesenheit der Zeugen abgegeben hat, ist wegen möglicher Zweifel nicht

anzunehmen.1332

Ebenso wenig ist der Forderung der Familienmitglieder, die Transfusion zu

unterlassen, Folge zu leisten, die lediglich mit der Behauptung begründet wird, dass der

betroffene Patient zu der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehört.1333

Darüber hinaus muss die Erklärung zwangsfrei abgegeben werden. Es geht dabei nicht um

eine vorbeugende Isolierung des Patienten von allen Personen, welche seine Haltung

beeinflussen können, sondern um Vermeidung einer solchen Druckausübung, infolge deren

der Patient der Möglichkeit beraubt wäre, über sich selbst zu entscheiden.1334

Diese

offensichtliche Voraussetzung einer rechtwirksamen Erklärung verdient allerdings einer

Hervorhebung im Zusammenhang mit der Behandlung von Zeugen Jehovas, wenn in Betracht

gezogen wird, dass die Fälle der Druckausübung auf den Patienten seitens anderer

Gemeinschaftsmitglieder „allgemein bekannt sind.“1335

Dieser Umstand rechtfertigt allerdings

nicht, diese Kategorie der Patienten als besonders anfällig für Druckausübung seitens Dritter

zu betrachten. Die konkreten Umstände eines unzulässigen Drucks müssten bewiesen werden,

ansonsten ist der Wille des Patienten zu respektieren.1336

Der Druck auf den Patienten kann allerdings nicht nur von Dritten, etwa von

Familienmitgliedern, sondern auch vom Arzt kommen. Das Gewissen des Arztes, das ihm

gebietet, den Patienten auch seinem Willen zuwider zu retten, muss vor dem

Selbstbestimmungsrecht und der Gewissensfreiheit des Letzteren weichen. Die Bestimmung

der Hierarchie der kollidierenden Rechtsgüter (das Leben und Gesundheit der Patienten

einerseits und sein Selbstbestimmungsrecht andererseits) soll dem Betroffenen überlassen

1331

J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności,

in: Anestezjologia i ratownictwo, Nr. 2, 2008, S. 198; J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z

27 października 2005, in: Palestra, Nr. 3-4, 2007, S. 321. 1332

R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u

Świadków Jehowy, in; Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 488. 1333

C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg , Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie

preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.

1, 2007, S. 140. 1334

B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na

leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 40. 1335

M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu

Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 26. 1336

Ebenda, S. 26.

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345

werden. Der Arzt ist dagegen nicht zuständig, eine solche Wertung vorzunehmen.1337

Die

Rolle des Arztes soll sich deshalb grundsätzlich zur Verdeutlichung dem Patienten seiner

medizinischen Situation beschränken. Wegen einer bestimmten Symmetrie zwischen der

Einwilligung zur Behandlung, die eine verständliche Aufklärung des Arztes über den

Gesundheitszustand des Patienten sowie über die Vorteile und Risiken der vorgeschlagenen

Behandlung voraussetzt, und der Verweigerung der Behandlung, ist die Auskunftspflicht des

Arztes auch im zweiten Fall zu bejahen. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass obwohl der

Arzt keinen unzulässigen Druck auf den Patienten ausüben darf, ist ihm erlaubt zu versuchen,

den Patienten für die Behandlung zu überzeugen. Er darf z.B. ihm auf eine von einigen

Zeugen Jehovas vertretene liberale Interpretation der einschlägigen biblischen Fragmente

hinzuweisen, wonach sich das Verbot des Bluts lediglich auf das Verzehren bezieht und sich

auf die Bluttransfusion nicht erstreckt. Es steht auch nichts im Wege, dass der Arzt in seinem

Überzeugungsversuch dem Patienten mitteilt, dass einige Zeugen Jehovas dieses Verbot nicht

beachten, soweit er diese Kenntnisse hat. Um den eventuellen Druck seitens der Dritten zu

vermeiden, soll das Gespräch mit dem Arzt ohne die Teilnahme Anderer stattfinden.1338

Die

Einräumung dem Arzt der Möglichkeit, den Patienten für die Behandlung zu überzeugen,

lässt sich mit seiner spezifischen und schwierigen Situation begründen, in der er

gegebenenfalls gegen sein eigenes Gewissen und seinen beruflichen Auftrag die Heilung

unterlassen muss.

Während die Erklärungen pro futuro in der polnischen Lehre allgemein anerkannt werden, ist

ihr Rechtscharakter Gegenstand der Kontroverse. Nach einer Ansicht stellt eine durch den

Erwachsenen abgegebene Verweigerung einer medizinischen Behandlung pro futuro eine

einseitige Willenserklärung dar, die geachtet werden muss, es sei denn dass eine begründete

Vermutung besteht, dass der Patient im Irrtum gehandelt hat.1339

Nach einer Mindermeinung

1337

A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażania zgody na zastosowanie preparatu krwi

podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in: Transformacje Prawa

Prywatnego, Nr. 3-4, 2006, S. 42; R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty

stosowania preparatów krwi u Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 487. 1338

R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u

Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 487. 1339

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05; T. Wiwatowski, U.

Chmielowska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków Jehowy w sprawie transfuzji

krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 22f; A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażania zgody

na zastosowanie preparatu krwi podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości,

in: Transformacje Prawa Prywatnego, Nr. 3-4, 2006, S. 43; J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych

przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności, in: Anestezjologia i ratownictwo, 2008, Nr. 2, S. 196;

C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie preparatami

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346

ist dagegen die Einwilligung bzw. ihre Verweigerung keine Willenserklärung, weil deren

Zweck nicht in Herbeiführung bestimmter Rechtsfolgen, sondern in Verfügung über eigene

persönliche Rechtsgüter ist. Sie bildet vielmehr einen einseitigen Rechtsakt, der sich der

Konstruktion der Willenserklärung nähert.1340

Daraus ergibt sich vor allem, dass bei der

Bestimmung der Voraussetzungen der Wirksamkeit der Einwilligung im größeren Maß auf

die Eigenschaften des handelnden Subjektes als auf rechtsformale Kriterien, etwa die

Geschäftsfähigkeit, abzustellen ist. Bei der Einwilligung und ihrer Verweigerung, anders als

im Fall der Willenserklärung, tritt die Autonomie des Einzelnen in den Vordergrund, während

die Rechte und Interessen Anderer weniger schutzbedürftig sind. Diese Auffassung der

Einwilligung erlaubt sie als eine von der Geschäftsfähigkeit unabhängige Kategorie zu

behandeln.1341

De lege ferenda wird deshalb postuliert, dass die wirksame Einwilligung nicht

vom Kriterium der Vollendung der Volljährigkeit abhängen soll; Entscheidend soll vielmehr

der Reifegrad des Einzelnen, dessen Erreichung ihm die Einsicht in seine Situation sowie

Einschätzung der eventuellen Folgen der (Nicht)Einwilligung zur medizinischen Behandlung

ermöglicht.1342

In der polnischen Lehre wurden auch skeptische Meinungen zur Frage der Anerkennung der

Erklärungen pro futuro geäußert, die allerdings eine Minderströmung bilden: Świderska

bemerkt, dass mit der bloßen Abstellung auf die Autonomie des Patienten verkannt wird, dass

die Betrachtung der allgemeinen (pauschalen) Zulässigkeit des Lebenstestaments ohne

Berücksichtigung des Sterbehilfeverbots nicht möglich ist. Die uneingeschränkte

Legalisierung des Lebenstestamentes wäre mit einer versteckten Legalisierung der Sterbehilfe

gleichbedeutend.1343

Diese Bemerkung ist allerdings in Bezug auf Zeugen Jehovas nicht

krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr. 1, 2007, S.

139. 1340

A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999; M. Safjan, Prawo i Medycyna,

Oficyna Naukowa, Warszawa, 1998, S. 34f. Nach einer anderen Ansicht hat die Einwilligung des Patienten den

Charakter der Willenserklärung, wenn sie bewusst, zwangsfrei und ernsthaft abgegeben wurde: siehe statt vieler:

A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty, Warszawa 2010, S.

299; M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 29. Da auch die Autoren, welche

verneinen, dass die Einwilligung eine Willenserklärung ist, die analoge Anwendung der Vorschriften des

allgemeinen Teils des Zivilgesetzbuches hinsichtilich der Einwilligung des Patienten, wie etwa die Vorschriften

zum Willensirrtum oder Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts zulassen, ist diese Frage in praxi nicht relevant. 1341

M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 35. 1342

R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński, B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u

Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 488; A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego,

in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 59. 1343

M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 210ff.

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347

relevant, weil die Verweigerung der Bluttransfusion mit dem Willen zu sterben, nicht

gleichgestellt werden kann.1344

Andere Autoren argumentieren, dass der Wille des Patienten geachtet werden muss, solange

er zustande ist, die Verweigerung bewusst zu äußern. Der unbewusste Patient hat keine

Möglichkeit, seine frühere Entscheidung angesichts des Todes, also wenn die Gefahr für sein

Leben real wurde, zu verifizieren. Dieser Umstand soll die Durchführung der Behandlung

ohne seine Einwilligung rechtfertigen.1345

Es muss nämlich von der Vermutung ausgegangen

werden, dass wenn der Patient bewusst wäre, könnte er seinen Willen ändern. In dieser

Situation handelt der Arzt als der Handelnde ohne Auftrag (Art. 754 Zivilgesetzbuch).1346

Diese Ansicht findet eine Stütze im Phänomen des Gewissens, das ein Urteil über die

moralische Qualifikation einer konkreten Handlung ist, also situationsgebunden wirkt. Die

Gewissensposition des Patienten soll daher nur in actu beachtet werden. Daraus ergibt sich,

dass die verweigerte Therapie durchgeführt werden soll, wenn der Patient nicht bewusst ist,

und zwar auch dann, wenn dem medizinischen Personal seine Gewissensposition bekannt

war, etwa im Fall, wenn der Patient eine allgemeine Erklärung zu seiner Stellung zu

Bluttransfusion in Schriftform abgegeben hat.1347

Gegen die Anerkennung der allgemeinen Verweigerungen einer medizinischen Behandlung

pro futuro spricht auch, dass diese Erklärung eine negative Facette der Einwilligung zur

Behandlung darstellt. Wenn für die Wirksamkeit einer Einwilligung zur Behandlung von

ausführlicher und verständlicher Aufklärung des Patienten über alle mit der Behandlung

zusammenhängenden Umstände notwendig ist, soll diese Forderung auf die Ablehnung der

Behandlung erstreckt werden. Diese Voraussetzung ist im Fall der Lebenstestamente

allerdings nicht erfüllbar, weil eine solche Erklärung außerhalb der unmittelbaren Gefahr für

1344

Auch die zitierte Autorin spricht sich ausdrücklich für die Zulässigkeit dieser Modalität des

Lebenstestaments aus. 1345

J. Ignaczewski, Zgoda pacjenta na leczenie, Warszawa 2003, S. 38; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy

wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności

oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 48; Ablehnend mit Verweis auf die Freiheitsklausel: A.

Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażenie zgody na zastosowanie preparatu krwi

podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in: Transformacje Prawa

Prywatnego, 3-4, 2006, S. 39. 1346

M. Nesterowicz, Działanie lekarza bez zgody pacjenta w świetle Konwencji Bioetycznej, prawa i etyki, in:

Prawo i Medycyna pl., http://www.diametros.iphils.uj.edu.pl/?l=1&p=wyk55&m=45&ik=18&ij=1

(05.01.2011); A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty,

Warszawa 2010, S. 303. 1347

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,

1984, S. 49.

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348

das Leben des Betroffenen und ohne die Teilnahme eines Arztes abgegeben wird.1348

Darüber

hinaus, wenn die Aufklärungspflicht des Arztes im Fall der Einwilligung zur Behandlung eine

fundamentale Bedeutung hat, sodass die ungenügende Aufklärung des Patienten zu seiner

zivilrechtlichen Haftung führt, erhebt sich die Frage, ob eine Erklärung pro futuro überhaupt

rechtswirksam sein kann, wenn der Patient im Zeitpunkt ihrer Abgabe außerstande ist, die

Folgen seiner Verweigerung völlig einzuschätzten.1349

Hinzukommt auch, daass es schwierig

festzustellen ist, ob die Erklärung von dem Betroffenen abgegeben wurde und wenn es der

Fall ist, ob sie nicht mit Willensmängeln behaftet ist. Nicht auszuschließen ist auch die

Situation, in welcher der potenzielle Patient seinen Standpunkt in der Zwischenzeit geändert

hat, er hat aber die Erklärungsurkunde aus Vernachlässigung oder anderen Gründen nicht

zerstört. Der entscheidende Grund gegen die Anerkennung der Lebenstestamente liegt jedoch

in der Tatsache, dass der polnische Gesetzgeber diese Institution schlechthin nicht vorgesehen

hat, deshalb ist nicht möglich, von ihr Gebrauch zu machen.1350

Diese Meinung verkennt den psychologischen Aspekt der Abgabe einer solchen Erklärung.

Man muss nämlich davon ausgehen, dass der Patient in diesem Moment nicht impulsiv oder

ohne Überlegung, sondern mit vollem Bewusstsein handelt. Er nimmt seinen Tod als

Konsequenz der Verweigerung in Kauf. Darüber hinaus muss er sich mit der Möglichkeit

rechnen, dass er nach Änderung seiner Meinung nicht schafft, sie rechtzeitig zu widerrufen.

Ihm ist auch zuzumuten, dass er sich der Alternative beraubt, angesichts der wirklichen

Gefahr für sein Leben, die früher abgegebene Gewissensentscheidung zu ändern. „Wir haben

mit erwachsenen Menschen zu tun. Derjenige, der die Einwilligung zur Behandlung im

Voraus verweigert, kann nicht als psychisch labil, unentschieden oder nicht recht bei Verstand

behandelt werden. Das Handeln gegen den Selbsterhaltungstrieb ist per se nicht

entscheidend.“1351

Es ist vielmehr zu betonen, dass die Zeugen Jehovas zu einer Kategorie der

Patienten gehören, welche mit der Problematik der Heilung mit Blut sowie mit den

Patientenrechten besonders vertraut ist.1352

Damit kann das Argument entkräftet werden, dass

1348

B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na

leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 47. 1349

Ebenda, S. 48. 1350

R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 230. 1351

M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu

Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 30. 1352

C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie

preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.

1, 2007, S. 139.

Page 361: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

349

sie bevor die Abgabe der Erklärung pro futuro zu ihrer Wirksamkeit einer Auskunft seitens

des Arztes bedürfen.

Als Fazit ergibt sich, dass die Verweigerung der Bluttransfusion in den Erklärungen pro

futuro klar, deutlich, eindeutig und zweifellos geäußert wird, und als rechtswirksam

anzusehen ist, es sei denn dass das nachträgliche Verhalten des Betroffenen das Abweichen

von den bekannten Glaubensgrundsätzen schließen lässt. Wenn aber im Zeitpunkt der

Entscheidung über die Zulässigkeit der Handlungsmethode irgendeine Zweifel entstehen, ob

der Patient seine Verweigerung aufrechterhalten würde, ist das Leben und Gesundheit des

Patienten zu retten. Maßgeblich ist nämlich die Ermittlung im Moment der Behandlung,

welche Entscheidung der Patient treffen würde, wenn er bewusst wäre.1353

Trotz der grundsätzlichen Bejahung der Meinungen, welche die Achtungspflicht des Willens

des Patienten in seiner Autonomie fundieren, muss mit Nachdruck betont werden, dass die

Entscheidung des Patienten solange zu achten ist, soweit die Inanspruchnahme seiner Freiheit

anderen Menschen nicht schadet.1354

Deshalb ist im Fall der Erwachsenen, welche die volle

Urteilsfähigkeit genießen, dahingehend zu differenzieren, ob sie familiäre Verpflichtungen

haben. Wenn es der Fall ist, überwiegt das Recht der Kinder in einem gut funktionierenden

familiären Milieu erzogen zu werden und die unabdingbare geistige und materielle

Lebenssicherung zu haben. Wenn dagegen dem Einzelnen keine familiären Verpflichtungen

obliegen, ist kein Staatsinteresse ersichtlich, das der Verweigerung des Patienten

gegenübergestellt werden könnte.1355

„Die Entziehung dem Patienten der Möglichkeit, über

sich selbst zu entscheiden um anderer Werte willen, in der Situation, wo seine Entscheidung

niemanden schadet und in Übereinstimmung mit seinem Gewissen ist, würde zum

übermäßigen staatlichen Paternalismus.“1356

1353

J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Palestra, Nr. 3-4, 2007,

S. 319. 1354

R. Tymiński, Glosa do postanowienia z 27 października 2005 (III CK 155/05), in: Przegląd Sądowy, Nr. 3,

2008, S. 117. 1355

K. Rimanque, Freedom of conscience and minority groups, in: Council of Europe, Freedom of conscience,

Strasburg 1993, S. 160; J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in:

Revista Mexicana de Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 157. 1356

R. Tymiński, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Przegląd Sądowy

2008, Nr. 3, S. 117f.

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350

4.5. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung im Fall der Minderjährigen

Gemäß dem Gesetz über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes ist für eine

gesundheitsfördernde Behandlung (Art. 32), für eine operative Behandlung und für eine

Behandlung mit erhöhten Risiko (Art. 34) im Fall eines minderjährigen Patienten die

Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters notwendig. Wenn der Patient keinen gesetzlichen

Vertreter hat oder die Kontaktaufnahme mit ihm unmöglich ist, ist die Einwilligung des

Vormundschaftsgerichts einzuholen. Wenn der Patient das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist

der Arzt zusätzlich verpflichtet, neben der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bzw. der

gerichtlichen Einwilligung auch die Zustimmung des Patienten einzuholen. Die Vollendung

des 16. Lebensjahres als Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Mitbestimmungsrechts

wurde in der Lehre als formalistisch mit dem Argument kritisiert, dass der Maßstab der

tatsächlichen Einsichtsfähigkeit durch das Kriterium des Alters ersetzt wurde.1357

In diesem

Zusammenhang wird die Meinung vertreten, dass die Altersgrenze von dem Gesetzgeber zu

hoch gesetzt wurde, insbesondere wenn in Betracht gezogen wird, dass die beschränkte

Geschäftsfähigkeit mit Vollendung des 13. Lebensjahres erlangt wird. Die Bestimmung einer

Altersgrenze soll vielmehr als Vermutung zugunsten der Einwilligungsfähigkeit betrachtet

werden und damit nur einen subsidiären Charakter haben. Diese Lösung würde den modernen

Tendenzen der Regelung der Autonomie der Minderjährigen im größeren Maß Rechnung

tragen (Art. 12 Kinderrechtekonvention, Art. 6 Abs. 2 der Biomedizinkonvention), wonach

die Ansicht des Minderjährigen gemäß seinem Alter und psychischer Reife zu

berücksichtigen ist.1358

In den Notfällen d.h. wenn die Gefahr für das Leben oder Gesundheit des Minderjährigen

vorliegt, kann der Arzt die Behandlung durführen, nachdem er die Einwilligung des

Vormundschaftsgerichts eingeholt hat. Diese Voraussetzung entfällt aber in

Dringlichkeitsfällen; die Entscheidung über die Vornahme einer medizinischen Behandlung

kann dann auch ohne Einholung der Einwilligung der Eltern oder des Vormundschaftsgerichts

getroffen werden. Der Arzt hat allerdings die Pflicht, nach Möglichkeit die Stellungnahme

eines anderen Arztes, nach Möglichkeit des Facharztes derselben Spezialisation, zu erreichen.

Wenn sich der Arzt an das Gericht richtet, ist den Eltern das Gehör zu gewähren. Bei der

1357

T. Wiwatowski, U. Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków

Jehowy w sprawie transfuzji krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 24. 1358

M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 56.

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351

Entscheidung soll das Gericht die Zugänglichkeit und Wirksamkeit der alternativen

Heilungsmethoden berücksichtigen. Den Vorschriften des Familiengesetzbuches, wonach der

Entscheidungsmaßstab in Angelegenheiten des Kindes sein Wohl sein sollte, kann kein Gebot

entnommen werden, eine bestimmte oder allgemein benutzte Heilungsmethode anzuwenden,

wenn die Interessen des Kindes in einer anderen Weise das Genüge getan wird. Der Beweis

der Unabdingbarkeit einer bestimmten Behandlung für die Rettung des Lebens und

Gesundheit des Kindes obliegt dem Arzt.1359

Was die Bluttransfusion angeht, wird zu Recht vertreten, dass ihre Verweigerung niemals

geachtet werden kann, und zwar unabhängig davon, ob der Minderjährige über die genügende

Einsichtsfähigkeit verfügt oder nicht. Richtungsweisend ist hier Art. 3 der

Kinderrechtekonvention, der gebietet, dem Interesse des Kindes immer gerecht zu werden,

auch wenn dies gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen geschieht.1360

Die

Verweigerung seitens der Eltern, dass ihr Kind aus religiösen Gründen der Bluttransfusion

unterzogen wird, kann wegen des Schutzes der Gesundheit verboten werden.1361

Diese

Auslegung findet die Bestätigung in Art. 5 Nr 5 der Erklärung über die Beseitigung aller

Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung,

wonach die Ausübung der Religion oder Überzeugung, in der ein Kind erzogen wird, weder

seine körperliche oder geistige Gesundheit noch seine volle Entfaltung beeinträchtigen darf.

Der Wille der Eltern und gegebenenfalls des minderjährigen Patienten soll dagegen

respektiert werden, wenn alternative Handlungsmethoden vorhanden sind. Wenn diese

Heilungsmethoden nicht zur Verfügung stehen, oder in Dringlichkeitsfällen, wenn eine

Gefahr für das Leben des Kindes oder seine Gesundheit besteht, soll Bluttransfusion

durchgeführt werden.1362

Die Eltern haben nämlich keine ius vitae ac necis, d.h. die

Verfügungsmacht über das Leben ihrer Kinder, wie es im römischen Recht der Fall war.

Wenn die Verfügungsmacht der Eltern über das Vermögen ihrer Kinder in dem Sinne

beschränkt ist, dass ihnen verboten ist, diejenigen Handlungen in Bezug auf das Vermögen

der Kinder vorzunehmen, welche die Tätigkeiten der gewöhnlichen Verwaltung

1359

T. Wiwatowski, U. Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków

Jehowy w sprawie transfuzji krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 26. 1360

E. Brems, Article 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden, Boston 2006, S.

31. 1361

Ebenda, S. 33. 1362

C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie

preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.

1, 2007, S. 141.

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352

überschreiten, (Art. 103 § 3 Familiengesetzbuch), kann ihre Verfügungsmacht über die Person

des Kindes nicht anerkannt werden.1363

1363

M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277), in: PiM, Nr. 5,

2000, S. 154.

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353

Kapitel VIII

Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit

1. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen

Die soziologische Relevanz eines Verweigerungstyps wird durch das geltende Recht und die

wandelnden moralischen Haltungen der Gesellschaft determiniert. Sie unterliegt somit den

konstanten historischen Veränderungen.1364

Die soziale Entwicklung und Dynamik der

Rechtsordnung führt zur Entstehung neuer Verweigerungstypen, während die „alten“

Verweigerungstypen in den Hintergrund tretten.1365

Was die Situation in Polen angeht,

betreffen die obigen Bemerkungen das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen. Seit 2010

wurde nämlich in Polen die Berufsarmee eingeführt, was zur Folge hat, dass diese Modalität

an praktischer Bedeutung verloren hat. Die folgenden Ausführungen beschränken sich

deshalb auf die Skizzierung der verfassungsrechtlichen Regelungen der Voraussetzungen der

Inanspruchnahme des Wehrdienstverweigerungsrechts, ohne auf die verfahrensrechtliche

Problematik einzugehen.

Art. 85 Abs. 3 Verf. bestimmt, dass der Bürger, dessen religiöse oder moralische

Überzeugungen die Leistung des Militärdienstes verbieten, kann nach den in einem Gesetz

festgelegten Grundsätzen zum Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Verfassung macht somit

die Inanspruchnahme des Rechts auf Wehrdienstverweigerung von der Ableistung des

Ersatzdiensts nicht abhängig. Es ist allerdings anzunehmen, dass die Rechtsgrundlage für das

Wehrdienstverweigerungsrecht nicht Art. 85 Abs. 3 Verf., sondern die allgemeine

Gewissensfreiheit, also Art. 53 Abs. 1 Verf. bildet. Dem trägt auch die Regelung des Art. 85

Abs. 3 Verf. Rechnung, wo nicht nur von religiösen, sondern auch von moralischen, also

gewissensrelevanten Überzeugungen die Rede ist. Der normative Gehalt dieser Bestimmung

erschöpft sich damit, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt wurde, den

Verweigerern eine alternative Pflicht in Gestalt vom Ersatzdienst aufzuerlegen. Für diese

Auslegung spricht auch die systematische Stellung des Art. 85 Abs. 3 Verf.; die Vorschrift ist

nämlich nicht im Grundrechtsteil der Verfassung, sondern im Abschnitt „Pflichten“ situiert.

1364

I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 162. 1365

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 32.

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354

Die vorangehenden Absätze des Art. 85 Verf. regeln die Pflicht jeden Bürgers, das Vaterland

zu verteidigen.

In das polnische Recht lasen sich die Ausführungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts

übertragen, wonach das Recht auf Wehrdienstverweigerung nicht nur in Kriegs-, sondern

auch in Friedenszeiten gilt. Daher wird auch Wehrdienst im Frieden, d. h. Ausbildung an

Waffe von seinem Schutzbereich erfasst. Diese Auslegung ist einzig sinnvoll, „nicht nur, weil

der Staat kein Interesse daran haben kann, Wehrpflichtige mit der Waffe auszubilden, die im

Kriegsfall die Waffenführung verweigern werden, sondern auch vom Standpunkt des

Einzelnen aus, dem eine Ausbildung nicht aufgezwungen werden darf, die einzig den Zweck

hat, ihm zu einer Betätigung vorzubereiten, die er aus Gewissensgründen ablehnt.“1366

Im deutschen Schrifttum ist die Ansicht vertreten, dass die Voraussetzung für die

Anerkennung als Wehrdienstverweigerer die Ablehnung jeder Gewaltanwendung d.h. „die

Verweigerung jeder Form der Gewalt aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen (die

beiden Termine sind dabei weit auszulegen) und daher jeder militärischen Schulung, die

danach bezweckt, den Staat im Notfall mit der Waffe zu verteidigen“,1367

sein soll. Das Recht

auf Wehrdienstverweigerung bezweckt nämlich den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang

zu bewahren, in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm das

Gewissen eine Tötung grundsätzlich und ausnahmslos zwingend verbietet. Allerdings kann

differenzierte Stellungnahme eines Kriegsdienstverweigerers zu den Problemen der Notwehr,

Sterbehilfe oder Abtreibung nicht ohne nähere Prüfung seiner Motivation als

ausschlaggebendes Beweiszeichen gegen eine unbedingte Gewissensentscheidung für die

Verweigerung des Kriegsdienstes bewertet werden.1368

Diese Meinung kann allerdings auf die polnische Rechtsordnung nicht übertragen werden.

Weder Art. 53 Abs. 1 Verf. noch Art. 85 Abs. 3 Verf. stellt auf das absolute Tötungsverbot als

1366

BverfGE, 12, 45, 56. 1367

J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, S. 204. 1368

B. Schmidt, Bleibtreu, F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Berlin 1995, Art. 4, S. 217, Rn. 16; A.

Bleckmann, Staatsrecht II – die Grundrechte, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 782, Rn. 61; Ch. Starck in:

H. v. Mangoldt , F. Klein, Ch. Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, München 1985, Art. 4, S. 481, Rn. 106.

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355

eine einzige Voraussetzung der Freistellung vom Wehrdienst ab. Der Wortlaut des Art. 83

Abs. 3 spricht vielmehr vom Militärdienst, ohne auf Tötungshandlungen Bezug zu nehmen.

Der Grund für die Zubilligung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung ist daher in der

organisatorisch - funktionellen Einordnung des Einzelnen in ein System zu sehen, das ihm die

persönliche Übernahme der Verantwortung für die Folgen seines Handelns unmöglich macht.

Während des Militärdienstes wird der Einzelne nämlich zu einer fremdbestimmten

Waffenführung gezwungen. Das entscheidende Kriterium für den Einzelnen ist somit die

Eingliederung in bewaffnete Verbände, die für kriegerische Kampfhandlungen ausgerüstet

und ausgebildet werden. Demnach sind primär auf potenzielle Tötungshandlungen nicht

abzustellen, sondern entsprechend dem Wortlaut des Art. 85 Abs. 3 Verf. auf den Charakter

des Militärdienstes. Es ist somit anzunehmen, dass durch das Wehrdienstverweigerungsrecht

nicht nur derjenige geschützt wird, der jede Tötungshandlungen als mit seinem Gewissen

unvereinbar ablehnt, sondern auch derjenige, der „auf Geheiß“ infolge seiner Integration in

ein System mit strenger Über/Unterordnung zu Tötungen bereit sein muss. Schutz wird

demjenigen gewährt, für den wegen Ein- und Unterordnung die Folgen seines Handelns

unverantwortbar sind, weil er sich bei fremdbestimmter Waffenführung zu einer eigenen

Gewissensentscheidung außerstande sieht.1369

Da die polnische Verfassung in dieser Hinsicht keine Einschränkung enthält, ist anzunehmen,

dass zu den geschützten prinzipiellen Wehrdienstverweigerern nicht nur die dogmatischen

Pazifisten zählen, die jeden Krieg überall und in jeder Zeit ablehnen, sondern auch diejenigen,

die den Wehrdienst hier und jetzt allgemein ablehnen, die Motive hierzu aber der historischen

oder politischen Situation entnehmen.1370

Auch der bereits eingezogene Soldat ist Träger des

Grundrechts und kann eine entsprechende Gewissensentscheidung treffen.1371

Für die jetzige

1369

M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Tübingen 1996, Art. 4, Rn. 135ff, S. 336f. 1370

Für die Einbeziehung der situationsbedingten Gründen in den Schutzbereich des

Wehrdienstverweigerungsrechts spricht sich ein großer Teil des deutschen Schrifttums: z.B. A. Bleckmann,

Staatsrecht II – die Grundrechte, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 783, Rn. 62; G. Leibholz, H.J. Rinck, D.

Hesselberger, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar an Hand der Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichts, Köln 1993, Rn. 251, S. 19; M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar,

Tübingen 1996, Art. 4, S. 339, Rn. 136. 1371

Ch. Starck in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, München 1985, Art. 4,

S. 477, Rn. 98.

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356

polnische Rechtslage bedeutet dies, dass ein Berufssoldat das Recht hat, aufgrund einer

Gewissensentscheidung sein Arbeitsverhältnis etwa durch Kündigung zu Ende zu bringen.

2. Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen

2.1. Problemstellung

Die Steuerpflicht hat ihre normative Grundlage in Art. 85 Verf., wonach jedermann

verpflichtet ist, den im Gesetz bestimmten öffentlichen Lasten und Pflichten, insbesondere

seiner Steuerpflicht, nachzukommen. Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen richtet

sich allerdings nicht gegen die Steuerpflicht als solche, sondern gegen die staatlichen

Ausgaben, welche sie für moralisch inakzeptabel halten insbesondere die Ausgaben für die

Unterhaltung der Streitkräfte. Die Verweigerer der Steuerzahlung aus Gewissensgründen

enthalten sich nämlich unter Hinweis auf pazifistische Überzeugungen von der Zahlung

desjenigen Steueranteils, der direkt oder indirekt für militärische Zwecke verwendet wird.

Damit wird aber auch die verfassungsrechtliche Aufgabe der Verteidigung des Vaterlandes

tangiert (Art. 26 Abs. 1, Art. 85 Abs. 1 Verf.). Die verweigerte Rechtspflicht hat somit den

verfassungsrechtlichen Rang.

Darüber hinaus ist die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen unter dem Gesichtspunkt

des Grundsatzes des demokratischen Rechtsstaates nicht unproblematisch: die

Steuerverweigerer sind bereit, die ausstehende Summe der verweigerten Steuer nur unter

Bedingung zu entrichten, dass das Geld friedlichen Zwecken zugeführt wird. Indem sich die

Steuerverweigerer auf die Gewissensfreiheit berufen, beanspruchen sie das Recht, über die

Verwendung ihrer Steuerzahlungen zu entscheiden, also sich die Kompetenzen der

Repräsentanten des Souveräns anzumaßen. Aus diesen Gründen ist umstritten, ob die Pflicht,

durch Steuerzahlung zur Finanzierung der bestimmten Staatsabgaben beizutragen, überhaupt

unter dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit fällt. An diese Frage kann aus der objektiven

Perspektive der Rechtsordnung oder aus der subjektiven Perspektive des Einzelnen

herangegangen werden.

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2.2. Objektiver Ansatz (Perspektive der Rechtsordnung)

Unter dem strikt rechtlichen Gesichtspunkt handelt es sich bei der Steuerverweigerung aus

Gewissensgründen um eine direkte Verweigerung; die Gewissensbedenken des Verweigerers

richten sich nämlich nicht gegen die Rechtspflicht der Steuerzahlung als solche, sondern

gegen die Rechtsnormen, welche die Bestimmung der eingesammelten Gelder regeln. Wenn

jedoch anzunehmen wäre, dass der Schutzbereich der Gewissensfreiheit auf

höchstpersönliche, eigenhändige Pflichten verengt sein soll, dann würde die Verweigerung

der Steuerzahlung durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit offenkundig nicht

geschützt.1372

Außerdem kann die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen

wegen der Bestreitung der Entscheidungen des Parlaments über die Ausgaben eines Teils der

Staatsgelder unabhängig von der Absicht des Verweigerers als Form des politischen Drucks

angesehen werden. Damit nähert sich die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen der

Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams an.1373

Weiterhin kommt die Gewissensfreiheit erst dann zum Zuge, wenn es sich um ein bestimmtes

Verhalten des Einzelnen handelt. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass im Fall

der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen gerade dieses Tatbestandsmerkmal fehlt. Das

Steuererhebungsverfahren ist nämlich grundsätzlich derart ausgestaltet, das kein eigenes

Verhalten des Steuerschuldners gefordert wird, weil die geschuldete Einkommenssteuer von

dem Arbeitgeber abgeführt wird. Aus diesem Grund ist der grundrechtliche Schutz der

Gewissensfreiheit von vornherein ausgeschlossen. Der Eingriff in die Gewissensfreiheit

könnte nur in den Fällen angenommen werden, wenn der Arbeitgeber oder der selbstständig

Erwerbstätige unmittelbar zur Berechnung, Anmeldung und Abführung der Steuerbeiträge

verpflichtet sind.1374

Die Anerkennung des Verweigerungsrechts der Steuerzahlung muss auch

daran scheitern, dass die Rechtsordnung ohnehin dem Einzelnen die Möglichkeit bereitstellt,

die eigenhändige Leistung zu verweigern und es auf die staatliche Vollstreckung ankommen

zu lassen.1375

Die Zwangsvollstreckung erscheint somit als eine hinreichende Alternative zur

freiwilligen Steuerzahlung. Konsequenterweise erübrigt sich, die Befreiungsmöglichkeit von

1372

A. Arndt, Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen, in: NJW, 1968, S. 2370. 1373

L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,

1984, S. 49f. 1374

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 226. 1375

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 140.

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358

der Zahlung eines Teils seiner Steuerpflicht, welche für gewissenswidrige Zwecke bestimmt

wird, gesetzlich zu schaffen.1376

Gegen die Anerkennung der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen spricht auch die

Tatsache, dass die strikte Konnexion zwischen den erhobenen Einnahmen und Ausgaben in

dem modernen Steuerrecht überwunden ist. Aus öffentlichen Mitteln werden vielmehr alle

Ausgaben des Staates unabhängig von ihrer moralischen Qualifikation durch den Einzelnen

finanziert. Die konkreten Steuer werden nicht für die Finanzierung spezifischer

Staatsaufgaben erhoben, sondern zwecks Deckung aller Ausgaben insgesamt.1377

Aus diesem

Grund fehlt insofern bereits der Ansatzpunkt für eine Gewissensentscheidung.

2.3. Subjektiver Ansatz (Perspektive des Grundrechtsträgers)

Aus dem Gesichtspunkt des einzelnen Verweigerers ist der Unterschied zwischen dem

persönlichen Beitrag zu kriegerischen Handlungen und der mittelbaren finanziellen

Teilnahme an deren Finanzierung nicht immer geeignet, um die tatbestandliche Abgrenzung

vorzunehmen. Das Gewissen, das einen Einzelnen zur Verweigerung einer Rechtspflicht

bewegt, ist ein Gewissen des konkreten Menschen und kein Gewissen eines abstrakten

Bürgers oder Steuerzahlers.1378

Im Hinblick auf die Verantwortung vor dem eigenen

Gewissen kann daher nicht relevant sein, ob der Einzelne zu einer unmittelbaren Handlung

mit eigener Tatherrschaft gegen sein Gewissen gezwungen ist oder ob dieses Tun oder sein

Erfolg durch Dazwischentreten anderer Faktoren herbeigeführt wird.1379

Der Verweigerer, der

den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnt und gleichzeitig keine moralischen Bedenken gegen

die Mitfinanzierung der militärischen Ausgaben hat, könnte als moralisch inkohärent und

sogar heuchlerisch angesehen werden.1380

Daraus ergibt sich, dass eine bloße Unmöglichkeit,

die Finanzierung der Abgaben zu vermeiden, welche von dem Einzelnen als moralisch

1376

W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of

conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State

Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 39. 1377

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 438. 1378

L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,

1984, S. 50, 53. 1379

E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 61; U. K. Preuß, Art. 4

Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die

Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Art. 4, Rn. 41. 1380

A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos

Nr. 4, 1986-1987, S. 408.

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tadelnswert angesehen werden, Gewissenskonflikte verursachen kann, deshalb ist die

Einbeziehung dieser Problematik zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit gerechtfertigt.1381

Dem lässt sich allerdings einwenden, dass der Abgabenschuldner durch Zahlung der Steuern

nur einen mittelbaren Beitrag zu der gewissenswidrigen Verwendung leistet und ihm solch ein

mittelbarer Beitrag zu einer gewissenswidrigen Handlung weit eher zuzumuten ist, als eine

Verpflichtung, selbst die gewissenswidrige Handlung vorzunehmen. Aus der Sicht des

Einzelnen besteht daher ein qualitativer Unterschied zwischen einer konkretisierten und

personalisierten Teilnahme an einer für ungerecht gehaltenen Politik und einem

unpersönlichen, abstrakten Beitrag zu dieser Politik.

Eine Voraussetzung der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit ist ein objektiver Bezug der

erstrebten oder beanstandeten Wirkungen des Handelns auf den persönlichen

Verantwortungsbereich. Die Zurechenbarkeit einer Handlung dem Einzelnen kann entweder

nach objektiven (faktischen) oder nach normativen Maßstäben erfolgen. Was die faktische

Kausalität zwischen der Zahlung der Steuer und Finanzierung der abgelehnten Aufgaben

angeht, ist der Zurechnungszusammenhang zwischen der Steuerzahlung und Staatsausgaben

in Form der dem Haftungsrecht entliehenen kumulativen Kausalität erkennbar. Danach kann

zwar jede einzelne Steuerzahlung hinweggedacht werden, ohne dass dies sich auf den

Staatshaushalt auswirkt; beim Wegfall einer Steuerzahlung tritt der Erfolg nur deshalb ein,

weil andere Beiträge geleistet werden. Dieses Hinwegdenken kann sich aber nicht auf alle

oder die meisten Steuerzahlungen beziehen.1382

Da die kumulative Kausalität zwischen der

Steuerzahlung und Staatsausgaben objektiv besteht, ist durchaus vertretbar, dass sich der

Einzelne die Steuerzahlung seinem moralischen Verantwortungsbereich zurechnet.

Dem könnte entgegengehalten werden, dass tatsächliche Zusammenhänge zwischen der

Steuerzahlung und Staatsausgaben über die persönliche Zurechenbarkeit noch nichts besagen,

weil die Verantwortlichkeit des Einzelnen eine Frage der normativen und nicht faktischen

Zurechnung ist. Die rechtliche Zurechenbarkeit dem Einzelnen der Abgaben für

Militärzwecke entfällt wegen des Prinzips der Budgethoheit des Parlaments, wonach die

Entscheidungszuständigkeit in Budgetfragen dem Parlament zukommt. Der Einzelne wird

1381

I. M. Sanchis, La Objecion de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 308. 1382

P. Tiedemann, Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 457.

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nämlich in seinem Gewissen entlastet, weil für die Verwendung der eingesammelten Gelder

die dafür zuständigen Organe in ihrer Verantwortung entscheiden. Wenn ein Staatsorgan für

den bestimmten Vorgang die Verantwortung trägt, kann dies die individuelle

Gewissensentscheidung nicht vereiteln.1383

Wer sich wegen seines finanziellen Beitrags für

die gewissenswidrige Zwecke mitverantwortlich fühlt, verkennt die „wichtige Schutzfunktion,

die das Repräsentationsprinzip und der Grundsatz der Budgeteinheit für das Gewissen des

einzelnen Bürgers haben.“1384

Die Verweigerung der Steuerzahlung kann daher in den Verantwortungsbereich des

Verweigerers nicht fallen, da die Entscheidung über die Mittelverwendung den Gegenstand

der ausschließlichen Verantwortung der zuständigen Repräsentationsorgane bildet. Insoweit

würde eine individuelle Wertentscheidung vorliegen, welche final in den verfassungsrechtlich

abgesteckten Verantwortungsbereich von Staatsorganen eingreift. Diese Begrenzung der

Gewissensfreiheit soll sich aus Normativität des positiven Rechts ergeben und gerechtfertigt

sein, um der Gefahr der Auflösung der Rechtsordnung abzuwenden.1385

Die Anerkennung des

Bestimmungsrechts über die Ausgabe der Steuergelder stellt die "Funktionsfähigkeit der

gesetzgebenden Körperschaften in Frage."1386

Sie würde die distributive Funktion des Staates

und der Regierung untergraben und daher auf die Negation des Staates hinauslaufen.

Aus der Sicht des Verweigerers handeln aber die Zuständigen gerade nicht verantwortlich. Es

wird deshalb von dem Verweigerer ein anderer Typ der Verantwortlichkeit geltend gemacht,

„der auf die Verflüchtigung von Verantwortungen im arbeitsteiligen Geflecht von

Institutionen und Kompetenzen reagiert und dies wegen der befürchteten schwerwiegenden

Folgen nicht als Entlastung zu verstehen vermag.“1387

Mag der Einzelne von Rechts wegen

von der Verantwortung für staatliche Ausgabenpolitik entlastet werden, sind die Fälle

denkbar, wo er sich „vom Gewissens wegen“ weiterhin moralisch verantwortlich dafür fühlt,

was mit seinem Geld geschieht.1388

Die Zurechnungsregeln der Ursächlichkeit sind zwar in

1383

S. Muckel, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: P. J. Tettinger, K. Stern, Kölner

Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte – Charta, Mümchen 2006, S. 321. 1384

J. Schmude, Mehrheitsprinzip und Gewissensentscheidung, in: Ch. Broda, Festschrift für Rudolf

Wassermann, zum sechszigen Geburtstag, Neuwied 1985, S. 209f, 215. 1385

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 258. 1386

P. Selmer, Keine Gewissensentscheidung aus Gewissensgründen, Besprechung zu BFH v. 6. 12. 1991, in:

NJW, 1992, S. 1407. 1387

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 313. 1388

P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 71.

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den Rechtsnormen enthalten, die Ausdehnung dieser Regeln auf die Gewissenssituation des

Verweigerers würde aber die Tatsache verkennen, dass er sich nicht auf Recht, sondern

gerade auf sein Gewissen beruft, das ihm unterschiedliche Zurechnungsordnung vorschreibt

und dadurch einen Gewissenskonflikt herbeiführt.1389

2.4. Die Steurerverweigerung aus Gewissensgründen und das Prinzip der

parlamentarischen Repräsentation

Die Anerkennung des Steuerverweigerungsrechts aus Gewissensgründen gerät in Konflikt mit

dem Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

verleiht nämlich keine Herrschaftsrechte über Dritte. Niemand kann unter Berufung auf die

Gewissensfreiheit einen Rechtsanspruch geltend machen, dass ein Anderer sich seinem

Gewissen gemäß verhält, ansonsten würde die der Gewissensfreiheit zugrundeliegende Idee

der Selbstbestimmung in die Fremdbestimmung für Andere umschlagen.1390

Das Grundrecht

der Gewissensfreiheit verleiht mithin keinen Anspruch auf gesteigerte Einwirkung auf die

politische Willensbildung.1391

Darüber hinaus beinhaltet es kein Recht, in gewissensgemäßen

Verhältnissen leben zu können. Bei der Steuerzahlungsverweigerung aus Gewissensgründen

wird ein Mitbestimmungsrecht über die Mittelverwendung geltend gemacht. Dies umwandelt

die Gewissensfreiheit in ein Herrschaftsinstrument, was mit dem Demokratieprinzip als Mittel

kollektiver Selbstbestimmung unvereinbar ist.1392

Die Anerkennung des Rechts auf Steuerverweigerung aus Gewissensgründen lässt sich

schließlich mit den finanzrechtlichen Grundsätzen des parlamentarischen Konstitutionalismus

nicht vereinbaren.1393

Gemäß Art. 216 Abs. 1 Verf. werden die für öffentliche Zwecke

bestimmten Finanzmittel in der im Gesetz bestimmten Weise gesammelt und ausgegeben. Der

Staathaushalt wird in Form eines Haushaltsgesetzes für das Haushaltsjahr beschlossen (Art.

1389

H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der

Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf

(20.08.2010) 1390

S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 35; U. Rühl, Das

Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York 1987, S. 314. 1391

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 427. 1392

U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York

1987, S. 315. 1393

Statt vieler: E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w systemach prawnych Polski i Niemiec, in:

Przegląd Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 64; B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council

of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S. 86.

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219 Verf.). Die Kompetenz des Parlaments, finanzrechtliche Gesetze zu verabschieden,

interpretiert im Lichte des Prinzips der repräsentativen Demokratie in Verbindung mit

technischen Prinzipien des Budgetrechts (Fehlen der unmittelbaren Konnexion zwischen den

Beiträgen des Steuerschuldners und den konkreten Abgaben) macht die Abwägung mit

Gewissensfreiheit äußerst schwierig. Die Interessenabwägung zwischen der Gewissensfreiheit

und der Pflicht, zum Unterhalt der Streitkräfte finanziell beizutragen, wäre möglich nur dann,

wenn die verweigerten Beiträge automatisch für die Zwecke der zivilen Verweigerung

bestimmt würden. Von der Interessenabwägung kann dagegen keine Rede sein, wenn die

Steuerpflicht vor der Gewissensfreiheit gänzlich zurücktreten müsste, was der Fall wäre,

wenn die Beiträge den anderen als Verteidigungszielen zugeführt würden.1394

Das heutige

Finanz- und Steuerrecht sieht allerdings weder die Entscheidungsmöglichkeit des Einzelnen

im Bereich der Steuerbestimmung noch die Möglichkeit der Flexibilisierung der

Budgetausgaben vor. Die Interessenabwägung ist somit im polnischen Recht nicht

durchführbar. Der absolute Charakter der parlamentarischen Souveränität hinsichtlich der

Festlegung der staatlichen Abgaben auch im Bezug auf die Gewissensfreiheit ist somit

durchaus vertretbar.1395

Dem wurde entgegengehalten, dass die Unterstellung dem Verweigerer eines

Herrschaftsanspruches die Frage der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen in den

Bereich der Steuerverwendung rückt. Nach dem Trennungsprinzip kann der einzelne Bürger

hier in der Tat keine Einwirkung beanspruchen. Soweit aber der Verweigerer von der

Allgemeinheit lediglich verlangt, dass ihm aus Gewissensgründen Dispens von der

Steuererhebung erteilt wird, betrifft dies nach dem Trennungsgrundsatz die

Steuerverwendung überhaupt nicht. Überall dort, wo die Gerichte die Ablehnung des

Steuerverweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit der Budgethoheit des Parlaments

begründen, geben sie zu erkennen, dass sie die Steuerverweigerung als eine Frage der

Steuerverwendung betrachten – ein schlichter Subsumtionsfehler. So gesehen wurde die Frage

der Steuerverweigerung gerichtlich noch gar nicht entschieden.1396

Dieser Argumentation

kann allerdings nicht gefolgt werden: es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass der

Verweigerer durch die Ablehnung der Mitfinanzierung einer für moralisch verwerflich

1394

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 441. 1395

Ebenda, S. 442f. 1396

H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der

Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf

(20.08.2010).

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angesehenen Staatsaufgabe einen – wenn auch indirekten und lediglich auf seine Person

beschränkten – Einfluss auf die Staatsaufgaben doch nehmen will. Der Anspruch auf

Befreiung von Steuerzahlung wird gerade wegen ihrer Verwendung geltend gemacht. Die

Loslösung der Steuererhebung und Steuerverwendung wirkt lebensfremd und daher kann

nicht bejaht werden.

Es ist daher anzunehmen, dass die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen

wegen des Betrachtungshorizonts des Einzelnen d.h. seiner persönlichen Zurechnung der

Verantwortung, sowie wegen des Vorliegens der kumulativen Ursächlichkeit zwischen

seinem Beitrag und der Möglichkeit der Finanzierung der staatlichen Aufgaben durch den

Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit umfasst wird. Der

Verfassungsgrundsatz der repräsentativen Demokratie in Verbindung mit dem Grundsatz der

Budgethoheit des Parlaments, sowie den verfassungsrechtlichen Auftrag, die Streitkräfte zu

unterhalten, machen allerdings die eventuelle Abwägung der kollidierenden Interessen auf der

Schrankenebene nicht realisierbar. Die Gewissensfreiheit muss daher vor den genannten

Verfassungsgrundsätzen zurücktreten.

2.5. Rechtsvergleichende Bestätigung des erzielten Ergebnisses

Das erzielte Ergebnis findet seine Bestätigung in der Rechtsprechung anderer Länder und

deshalb lässt sich mittels der rechtsvergleichenden Auslegung untermauern. Als Beispiele

werden die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, der Europäischen

Kommission für Menschenrechte sowie des spanischen Verfassungstribunals skizierrt.

Aus der Rechtsprechung des BVerfG verdient die Bestimmung des Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit anhand des negativen Abgrenzungskriteriums, dass sich die

Gewissensfreiheit ins Recht der Bestimmung über die Handlungen Anderer nicht umwandeln

kann, besondere Aufmerksamkeit. „Der Einzelne Bürger, der eine bestimmte Verwendung des

Aufkommens aus öffentlichen Abgaben für grundrechtswidrig hält, kann aus seinen

Grundrechten keinen Anspruch auf generelle Unterlassung einer solchen Verwendung

herleiten. Soweit diese Unterlassung mit seinem Glauben, seinem Gewissen, seinem

religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis unvereinbar ist, kann er jedenfalls nicht

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verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen

oder ihrer Anwendung gemacht wird.“1397

Die Europäische Kommission für Menschenrechte legt dagegen den Schwerpunkt auf den

gewissensneutralen Charakter der Steuerpflicht: Sie hat nämlich die Beschwerden der

Abgabenverweigerer mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass Art. 9 EMRK nicht in allen

Fällen das Recht gewährt, sich in der öffentlichen Sphäre so zu benehmen, wie es der Glaube

erfordert. Geschützt wird danach nur das forum internum der Gewissensfreiheit und nur

solche Handlungen, die mit dem Glauben des Betroffenen eng verbunden sind und in einer

anerkannten Form wie Gottesdienst oder Anbetung diesen Glauben zum Ausdruck bringen.

Die Verpflichtung, Steuern oder Beiträge zur Pflichtversicherung zu zahlen, ist als eine

allgemeine, neutrale Pflicht zu qualifizieren, die keine spezifischen Implikationen für das

Gewissen des Einzelnen mit sich bringt. Die Kommission stellt abschließend fest, dass Art. 9

EMRK kein Recht gewährt, auf Grund der persönlichen Überzeugungen die Befolgung der

Gesetze zu vermeiden, die in allgemeiner und neutraler Weise im öffentlichen Bereich

Anwendung finden.1398

Der neutrale Charakter der Steuerzahlungspflicht zeigt sich auch

darin, dass kein Steuerzahler beeinflussen oder bestimmen kann, für welche Zwecke die

Steuern verwendet werden. Entsprechend kann auch die Steuerpflicht nicht die

Gewissensfreiheit verletzen, zumal in Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK die

Steuerhoheit der Staaten ausdrücklich anerkannt worden ist.1399

Das spanische Verfassungstribunal akzentuiert die Unvereinbarkeit des Rechts des Einzelnen,

über die Bestimmung eines Teils der Steuerschuld wegen seiner Weltanschauung zu

entscheiden, mit dem Prinzip des sozialen und demokratischen Rechtsstaates. Nach diesem

Prinzip „kommt die Interaktion zwischen dem Staat und der Gesellschaft in erster Linie durch

die Ausstattung des Parlaments, das das spanische Volk vertritt, mit der Zuständigkeit für die

Prüfung, Änderung und Verabschiedung des allgemeinen Budgets zum Ausdruck. Diese

Wechselwirkung wird weiter in das Bürgerrecht übertragen, an den öffentlichen

Angelegenheiten teilzunehmen, indem sie in periodischen Wahlen ihre Repräsentanten

1397

BverfGE, 67, 26, 37. 1398

App. 10358/83, DR 37, 142 (147); App. 10295/83; siehe auch: J. Frowein, Freedom of Religion in the

Practice of the European Commission and Court of Human Rights, in: ZaöRV, 1986, S. 254. 1399

App. 11991/86.

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wählen, in denen sie mittels ihres Stimmrechts, ihre Billigung oder Missbilligung erteilen

können.“1400

2.6. Die Vorschläge de lege ferenda der gesetzgeberischen Ausgestaltung der

Steuerverweigerung aus Gewissensgründen

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass sich das Recht auf die Steuerverweigerung

unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Verbürgung der Gewissensfreiheit nicht ableiten

ist; seine eventuelle Anerkennung in der Rechtsordnung bedürfte vielmehr der Tätigkeit des

Gesetzgebers. Die Befürworter der Gewährleistung des Steuerverweigerungsrechts aus

Gewissensgründen gehen davon aus, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit außer der

Sphäre der inneren moralischen Überzeugungen auch die Gewissensbetätigungsfreiheit

beinhaltet, die zwar kein Recht umfasst, von Anderen verlangen zu können, dass sie nach

Maßgabe des Gewissensurteiles des Verweigerers handeln, sie umfasst aber das Recht, zu

einem dem eigenen Gewissen widersprechenden Verhalten nicht gezwungen zu

werden.1401

Außerdem wird darauf hingewwiesen, dass die Gewissensfreiheit keinen numerus

clausus der geschützten Verweigerungstypen enthält. Deswegen kann es nicht darauf

ankommen, ob eine Gewissensentscheidung des Einzelnen den staatlichen Behörden

einleuchtet oder ob sie diese Entscheidung als wünschenswert ansehen.1402

Aus dem so weiten

Verständnis der Gewissensfreiheit wird gefolgert, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, durch

entsprechende Vorkehrungen, etwa durch Bereitstellung der gewissensschonenden

Alternativen, den effektiven Schutz der Gewissensfreiheit mit den staatlichen Interessen in

Einklang zu bringen. Wegen der objektiven Schutzgarantie der Gewissensfreiheit nimmt diese

Pflicht den Rang eines verfassungsrechtlichen Gebotes an.1403

Bezogen auf die Steuerweigerung aus Gewissensgründen wird vorgeschlagen, dass die

Rüstungsausgaben vom allgemeinen Budget herausgenommen werden und aus einem

Sondervermögen gedeckt werden, das über eine Zwecksteuer finanziert wird. Von dieser

1400

Urteil des spanischen Verfassungstribunals, ATC 71/1993 von 1. März 1993. 1401

S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 350f. 1402

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 231; P. Tiedemann, Steuerverweigerung

aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 69f. 1403

P. Tiedemann, Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 457; Derselbe,

Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S.71; H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die

Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der Gewissensfreiheit (eText) (2001),

http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf (20.08.2010).

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Steuer könnte die Befreiung aus Gewissensgründen beansprucht werden. Um allerdings die

Belastungen der Verweigerer mit denjenigen der Nichtverweigerer auszugleichen, würde die

allgemeine Einkommensteuer der ersteren entsprechend erhöht. Auch verstärkte Berufung auf

das Verweigerungsrecht könnte die Streitkräfte nicht beeinträchtigen, wenn die Zwecksteuer

bei gleichzeitiger Senkung der allgemeinen Einkommensteuer erhöht würde.1404

Eine andere

Option wäre die Einführung einer Regelung, welche sich mit der in dem polnischen Recht

bereits vorliegenden Möglichkeit inspiriert, 1% der Einkommensteuer für die Einrichtungen

des Gemeinwohls nach der Wahl des Steuerschuldners zuzuwenden.1405

Die leztgenannte

Option stellt eine Variante des Vorschlags dar, spezielle Friedensfonds zu schaffen, durch

welche die verweigerten Gelder den Friedenszwecken zugeführt werden könnten. Die

gesetzliche Schaffung eines Fonds, dem die verweigerten Steuersätze zugeführt würden und

deren Prozentsatz jährlich im Haushaltsgesetz festgelegt würde, wäre nicht nur

verfassungsunwidrig, sondern vielmehr „mit dem Verfassungsgeist im größeren Maße

vereinbar.“1406

Auf diese Weise würde das Grundrecht der Gewissensfreiheit eine

begehrenswerte Schutzmodalität erhalten, ohne dass das Prinzip der parlamentarischen

Souveränität bei der Festlegung der öffentlichen Ausgaben durchbrochen würde. Die

Anerkennung der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen hätte zur Folge die

Einbeziehung in das demokratische System eines Partizipationselements. Damit würde die

Rigidität der in modernen politischen Systemen allanwesenden Option für die repräsentative

Demokratie überwunden. „Die Idee der Demokratie liegt nicht in der Notwendigkeit der

Anpassung an die Einschränkungen des Repräsentationsprinzips. Es muss vielmehr das

Konzept der Repräsentation an die Forderungen der Demokratie angepasst werden.“1407

Den dargestellten Vorschlägen der Anerkennung der Steuerverweigerung aus

Gewissensgründen lassen sich allerdings gewichtige Gegenargumente entgegenbringen. Da

aus der Gewissensfreiheit kein Recht ableitbar ist, eigene Gewissenspositionen für Andere

rechtlich verbindlich zu machen, hilft die Bereitstellung einer Handlungsalternative in diesem

Fall nicht weiter. Gerade wo der Gewissensträger seinen Standpunkt den Anderen auferlegen

1404

P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 70; P. Tiedemann,

Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 458. 1405

I. M. Sanchis, La Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 308; H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die

Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der Gewissensfreiheit (eText) (2001),

http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf (20.08.2010). 1406

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 445. 1407

J. J. González Encinar, Representación y partidos políticos, in: Garrorena Morales, El parlamento y sus

transformaciones actuales, Madrid 1990, S. 78.

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will, erreicht die Interpretation der Gewissensfreiheit als Recht auf eine Handlungsalternative,

ihre Grenzen.1408

Darüber hinaus würde die Verabschiedung eines Gesetzes, welches durch

Schaffung eines Friedensfonds die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen ermöglichen

würde, die Steuerverweigerer für militärische Zwecke im Verhältnis zu denjenigen

Verweigerern privilegieren, welche die Finanzierung anderer Ausgaben (z.B. Abtreibung)

ablehnen, was mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist.1409

2.7. Fazit

Als Fazit ergibt sich, dass das Fehlen der objektiven Verbindung zwischen dem konkreten

Beitrag des Steuerverpflichteten und den Staatsausgaben, die soziologische Tatsache, dass es

sich um ein neues und äußerst marginales Phänomen handelt sowie die politische Motivation

der Verweigerer, grundsätzlich gegen die Anerkennung dieser Modalität der

Gewissensfreiheit spricht. Nur bei der „äußerst großzügigen Auslegung der ideologischen

Freiheit, die ohne Zweifel an ihre Entstellung grenzt“1410

, lässt sich die Verweigerung der

Steuerzahlung aus Gewissensgründen als eine grundrechtliche Betätigung der

Gewissensfreiheit charakterisieren.

3. Der Schutz der Gewissensfreiheit im Privatrecht

3.1. Die Drittwirkung der Grundrechte in der polnischen Verfassung

Inwieweit sich die Gewissensfreiheit im Privatbereich durchsetzen kann, ist die Frage der

Anerkennung der Drittwirkung der Grundrechte. Die horizontale Wirkung der Grundrechte ist

in der polnischen Lehre wie in der Lehre anderer Länder allerdings umstritten. Die

interpretatorische Entscheidung wird damit erschwert, dass die polnische Verfassung keine

ausdrückliche Bezeichnung der Subjekte enthält, an welche der Grundsatz der unmittelbaren

Anwendung der Verfassung gerichtet ist. Dies könnte zwar den Schluss nahelegen, dass die

Adressaten des Gebots der unmittelbaren Anwendung der Verfassung sowohl öffentliche als

1408

A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.

38. 1409

B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of

Conscience, Strasburg 1993, S. 87. 1410

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 440.

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auch private Subjekte sind, diese Auslegung ergibt sich aber aus der betroffenen

Verfassungsbestimmung nicht zwangsläufig und deshalb gibt einen Anstoß zur

Kontroverse.1411

Nach einer Ansicht wäre der Schluss aus der objektiv-rechtlichen Facette der Grundrechte auf

ihre unmittelbare Wirkung in den privatrechtlichen Verhältnissen zu weitreichend. Die direkte

Geltung der Grundrechte zwischen privatrechtlichen Subjekten würde ihnen die

Privatautonomie entziehen. „Denn die grundrechtlich gesicherte Freiheit der Bürger besteht

dem Grundsatz nach unter anderen gerade darin, nicht selbst unmittelbar an die Grundrechte

gebunden zu sein.“1412

Für den Ausschluss der horizontalen Wirkung der Grundrechte in der

polnischen Verfassung haben sich Banaszak1413

und Boć1414

ausgesprochen. Den Subjekten

des Privatrechts steht gemäß den zitierten Autoren kein Recht zu, sich in den durch das

Privatrecht normierten Rechtsverhältnissen unmittelbar auf die Verfassung zu berufen. Diese

Auffassung wird allerdings durch den Hinweis darauf abgemildert, dass der polnische

Verfassungsgerichtshof wie Verfassungsgerichte anderer Staaten, in deren Verfassungen die

Frage der Drittwirkung nicht ausdrücklich geregelt wurde, zur Ausdehnung der

Anwendbarkeit der Grundrechte auf die horizontale Ebene tendiert.1415

Die Pflicht, die Grundrechte der Verfassung (und Menschenrechte der völkerrechtlichen

Abkommen) zu schützen, ruht somit ausschließlich auf dem Staat. Seine Pflichten erschöpfen

sich jedoch nicht im Unterlassen, in die Grundrechtssphäre der Einzelnen einzugreifen. Der

Staat ist vielmehr verpflichtet, die Inanspruchnahme der Grundrechte effektiv zu machen. Ihm

obliegt daher, den Einzelnen mit geeigneten Maßnahmen gegen Eingriffe in die

1411

A. Łabno-Jabłońska, Zasada bezpośredniego obowiązywania konstytucyjnych praw i wolności jednostki.

Analiza prawnoporównawcza, in: L. Wiśniewski, Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa

1997, S. 69. 1412

Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der

Bundesrepublik Deutchland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 221. 1413

B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 54; B. Banaszak, Prawo

konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 452, Rn. 359. 1414

J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej Polskiej oraz komentarz do Konstytucji z 1997 roku, Art. 8, Wrocław

1998, S. 32. 1415

B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 476. In diesem Zusammenhang wird auf die

Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (OTK –A 2002 Nr. 1, S. 33) hingewiesen: „Der Verfassungsgeber

hebt in Art. 51 Abs. 1 Verf. den Schutz des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Behörden hervor, Im Abs. 2

wurden die öffentlichen Behörden als verpflichtete Subjekte zur Verwirklichung der in dieser Vorschrift

genannten Rechte genannt. Art. 51 Abs. 1 bestimmt allerdings den zur Verwirklichung der in dieser Vorschrift

gewehrleisteten Rechte verpflichteten Subiekt nich eindeutig. Dies bedeutet, dass die genannte

Verfassungsvorschrift alle Fälle betrifft, in denen der Einzelne verpflichtet wird, Informationen über seine

Person anderen Subjekten also einschließlich der Privatsubjekte zu offenbaren.

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Gewissensfreiheit seitens der Anderen, der Gruppen und Organisationen zu schützen.1416

Die

Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten obliegt dabei vor allem dem Gesetzgeber,

der bei der Ausgestaltung aller privatrechtlichen Gesetze die Grundrechte und damit auch die

Gewissensfreiheit zu berücksichtigen hat. Konkret ist der Gesetzgeber gehalten, nach

Möglichkeit die Eingriffe der privatrechtlichen Subjekte in die Gewissensfreiheit zu verbieten

und ihre Beeinträchtigungen für rechtswidrig zu erklären. Der Gesetzgeber ist auch

verpflichtet, die privatrechtlichen Normen präventiv derart auszugestalten, dass die Gefahr

von Beeinträchtigungen der Gewissensfreiheit gemindert und soweit möglich überhaupt

ausgeschlossen wird.1417

Darüber hinaus regelt die Verfassung keine Sanktionen für die

Verletzung der Grundrechte im privatrechtlichen Bereich. Die Normierung dieser Problematik

wurde dem Gesetzgeber überlassen. Aus dem Grundrecht auf die gerichtliche Verhandlung

lässt sich allerdings die effektive Schutzpflicht der Rechte und Freiheiten des Einzelnen gegen

Eingriffe seitens der privatrechtlichen Subjekte durch Aktivierung der staatlichen

Zwangsmittel ableiten.1418

Nach der anderen Meinung bildet der Grundsatz der unmittelbaren Anwendung der

Verfassung einen Anhaltspunkt für die Anerkennung der horizontalen Wirkung der

Grundrechte.1419

Dieser Grundsatz bedeutet, dass die Verfassungsnormen „eine reale und

selbstständige Grundlage für Lösung der verschiedenartigen individuellen Konflikte in allen

Typen der Rechtsverhältnisse“1420

bilden. Der Einzelne kann sich für den Schutz der

zivilrechtlich geschützten Rechte, etwa der persönlichen Rechtsgüter, zu denen auch die

Gewissensfreiheit gehört (Art. 23 Zivilgesetzbuch), unmittelbar auf die Verfassung berufen,

weil ihre unmittelbare Geltung zum Bereich der Rechte und Freiheiten nicht beschränkt ist.

Nach dem Inkrafttreten der „neuen“ Verfassung ist die unter Geltung der Verfassung von

1952 herrschende Meinung, wonach die verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der

Rechtslösung konkreter zivilrechtlicher Rechtsstreite keine Anwendung finden, nicht mehr

1416

B. Dicuzzo, La libertà di pensiero, di coszienza e di religione, in: Defilippi, Bost, Harvey, La Convenzione

Europea dei Diritti dell‟ L‟Uomo e delle Libertà Fondamentali, Napoli 2006, S. 389f. 1417

M. Hilti, Gewissensfreiheit in der Schweiz, Dike, Zürich 2008, S. 225. 1418

K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik

Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 232. 1419

E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 12; siehe auch:

S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm konstytucyjnych dotyczących wolności i praw

jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom 1. Idee

i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 180. 1420

B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 329.

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370

beizupflichten.1421

Die Notwendigkeit der direkten Berufung auf die Verfassung kommt

allerdings nur ausnahmsweise vor, d.h. nur im Fall, wenn der ausreichende Schutz der

persönlichen Rechtsgüter durch den Gesetzgeber nicht gesichert wird.1422

Es ist deshalb

anzunehmen, dass obwohl die Verfassung eine „erhebliche Unterstützung“1423

für den Schutz

der persönlichen Rechtsgüter bietet, wird er weiterhin auf den zivilrechtlichen Bestimmungen

basieren. Dies erklärt sich damit, dass die Bestimmungen der Verfassung keine konkreten

Rechtsmittel im Fall ihrer Verletzung vorsehen.1424

Im Wege der Anwendbarkeit der Verfassungsnormen in privatrechtlichen Verhältnissen

scheint ihre Offenheit und Unbestimmtheit zu stehen. Dies hat zur Folge, dass die

Entscheidungsorgane bei der Abwägung der Interessen auf der Verfassungsebene, also ohne

Vermittlung des Gesetzgebers den weitgehenden Spielraum haben. Darüber hinaus macht die

Unbestimmtheit der grundrechtlichen Regelungen für den Einzelnen schwierig, die

Rechtsfolgen seines Verhaltens vorauszusehen, was die Gefahr für seine Rechte und

Freiheiten schafft. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass es Verfassungsvorschriften gibt,

welche die Voraussetzung der Bestimmtheit erfüllen. Andererseits ist diese Voraussetzung für

die Bestimmung der positiven Pflichten von größerer Bedeutung als im Fall der Bestimmung

der Unterlassungspflichten, welche in privatrechtlichen Verhältnissen Anwendung finden

können. Darüber hinaus werden die Verfassungsvorschriften auf der gesetzlichen Ebene nicht

immer näher konkretisiert. Dies betrifft auch die Fälle, wo der Gesetzgeber die

Achtungspflicht der Grundrechte auf privatrechtliche Subjekte ausdrücklich vorsieht. Dies ist

etwa bei dem zivilrechtlichen Schutz der persönlichen Rechtsgüter oder bei der

arbeitsrechtlichen Regelung des Gleichheitssatzes der Fall. Die nichtausreichende

Konkretisierung der grundrechtlichen Verbürgungen soll somit nicht hinwegtäuschen. Lassen

sich aus ihnen hinreichend bestimmte Verhaltensnormen ableiten, ist ihre unmittelbare

Anwendbarkeit in den privatrechtlichen Verhältnissen anzunehmen.1425

1421

S. Dmowski, S. Rudnicki, Komentarz do kodeksu cywilnego. Księga pierwsza. Część ogólna, Art. 23,

Paragraphnummer 3, Warszawa 2006, S. 98. 1422

P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 90. 1423

M. Pazdan, in: M. Sajan, System Prawa Prywatnego. Tom I. Prawo cywilne – część ogólna, Warszawa,

2007, S. 1115. 1424

S. Dmowski, S. Rudnicki, Komentarz do kodeksu cywilnego. Księga pierwsza. Część ogólna, Art. 23,

Paragraphnummer 4, Warszawa 2006, S. 98. 1425

K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik

Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 232f.

Page 383: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

371

Neben dem Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfassung wird die horizontale

Wirkung der Grundrechte auch mit Hinweis auf die allgemeine Freiheitsklausel des Art. 31

Abs. 2 Verf. begründet. Gemäß Art. 31 Abs. 2 Verf. ist jedermann verpflichtet, die Freiheiten

und Rechte der Anderen zu achten. Daraus wird hergeleitet, dass die Grundrechte und

Grundfreiheiten sowohl vertikal, d.h. zwischen den Organen der öffentlichen Gewalt, als auch

horizontal, d.h. zwischen den natürlichen Personen sowie juristischen Personen des

Privatrechts gelten.1426

Die Gefährdung der individuellen Freiheit durch die privatrechtlichen

Subjekte rechtfertigt die Aktivität des Staates, notwendige Schutzmaßnahmen zu schaffen.1427

Andere Autoren beschränken die Achtungsfplicht der Grundrechte von privatrechtlichen

Subjekten auf diejenigen Grundrechte, aus deren Wesen sich ergibt, dass sie auf der

horizontalen Ebene ausgeübt werden können.1428

Dazu gehören die Grundrechte, welche von

den Dritten lediglich Unterlassung verlangen wie Verbot der Durchführung der medizinischen

Experimente ohne Einwilligung des Betroffenen oder das Folterverbot.1429

Diese

Beschränkung erklärt sich mit der Gegenüberstellung der Klausel der Freiheit (Art. 31 Abs. 2

Verf.) mit der Klausel der Menschenwürde (Art. 30 Abs. 1 Verf.): Die Pflicht, die

Menschenwürde zu schützen und zu achten, wurde lediglich den öffentlichen Gewalten

auferlegt. Die Tatsache, dass diese Pflicht auf Subjekte des Privatrechts nicht ausgedehnt

wird, erklärt sich mit ihrem positiven Charakter (schützen) und mit ihrer Unbestimmtheit. Die

jedermann auferlegte Pflicht, Freiheiten und Rechte Anderer zu achten, besteht darin, einen

Eingriff in die geschützten Rechtsgüter zu unterlassen.1430

Es ist der herrschenden Meinung in der polnischen Lehre beizupflichten, dass die Grundrechte

in den horizontalen Verhältnissen Anwendung finden, soweit sich aus den konkreten

Verfassungsvorschriften konkrete Verhaltensnormen ableiten lassen. Für die Drittwirkung der

1426

L. Wiśniewski, Zasady normatywnej regulacji wolności i praw człowieka, in: Konstytucja i Władza we

współczesnym świecie. Prace dedykowane Profesorowi Wojciechowi Sokolewiczowi na siedemdziesięciolecie

urodzin, Warszawa 2002, S. 114; derselbe, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej

dopuszczalnych ograniczeń w praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w

praktyce, Warszawa 2006, S. 23; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w

Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 229. 1427

K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik

Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 240. 1428

L. Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: L. Garlicki, Konstytucja

Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Art. 31, Warszawa 2003, S. 11; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar

praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S.

230. 1429

P. Winczorek, Prawo konstytucyjne Rzeczypospolitej Polskiej. Podręcznik dla studentów studiów

nieprawniczych, Warszawa 2003, S. 88. 1430

K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik

Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 231.

Page 384: DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT IN DER ...4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des Einzelnen..... 290 4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit

372

Grundrechte spricht, dass die Verfassung die Adressaten der Pflicht, die Grundrechte zu

verwirklichen, dahingehend differenziert, dass bei der Regulierung einiger Grundrechte die

öffentlichen Gewalten ausdrücklich als Pflichtadressaten bezeichnet werden, während in

anderen Fällen der Pflichtadressat nicht ausdrücklich genannt wird, was schließen lässt, dass

es sich um jedermann handelt. Die ausdrückliche Bezeichnung der öffentlichen Gewalten bei

den einigen Grundrechten lässt sich daher als Verengung des Kreises der Adressaten

interpretieren. Die Ausdehnung der Pflicht, die Grundrechte zu achten, auf alle Subjekte des

Rechtsverkehrs entspricht weiterhin der Axiologie der Verfassung: der Schutz der

Menschenwürde fordert, dass die Grundrechte in allen Rechtsverhältnissen geltend gemacht

werden können. Aus dem in Art. 5 Verf. verbürgten Staatszweck, die Freiheiten sowie

Menschen- und Bürgerrechte zu sichern, ergibt sich die Pflicht, die Verfassungsvorschriften

derart auszulegen, dass der möglichst weite Schutz der Grundrechte gewährleistet wird. Der

Gegenstand der Kontroverse kann somit nur die Art und Weise der Verwirklichung der

Grundrechte in den Verhältnissen zwischen den privaten Rechtssubjekten sein. Beizupflichten

ist dabei dem Ansatz der mittelbaren Drittwirkung, wonach das Gericht im Prozess der

Rechtsauslegung und Normfindung diejenige Interpretationsvariante wählen soll, die am

besten dem im entschiedenen Fall tangierten Grundrecht entspricht.1431

3.2. Die Auswirkung der Gewissensfreiheit im Zivilrecht

3.2.1. Die Gewissensfreiheit im Vertragsrecht

Neben der abwehrrechtlichen Funktion hat das Grundrecht der Gewissensfreiheit für das

Individuum auch eine schutzrechtliche Dimension gegenüber Beeinträchtigungen durch nicht-

staatliche Subjekte. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen verpflichtet, Schutznormen

zu schaffen, die gewährleisten, dass die Gewissensfreiheit in den gesellschaftlichen (privat-,

arbeits-, und wirtschaftsrechtlichen) Bereichen nicht leer läuft.1432

Soll die individuelle

Freiheit in Gefahr nicht geraten, ist der Grundrechtsschutz gegen die „sozialen Gewalten“

1431

P. Bachmat, Uwagi na temat horyzontalnego oddziaływania Europejskiej Konwencji Praw Człowieka, in:

PiP, Nr. 10, 2001, S. 81; zustimmend: S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm

konstytucyjnych dotyczących wolności i praw jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i

prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom 1. Idee i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw

jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 92. 1432

D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229f.

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373

etwa im Arbeitsrechtverhältnis unabweisbar.1433

„Auch wo sonst jemand einer überlegenen

oder einseitigen privaten Regelungsmacht, etwa dem Erziehungsrecht, eines anderen

ausgeliefert ist, verlangen Glaubens- und Gewissensfreiheit angemessene Beachtung.“1434

Die Berücksichtigung der Grundrechte im Privatrecht erfolgt durch grundrechtskonforme

Auslegung der privatrechtlichen Institutionen und nicht zuletzt dadurch, dass

wertausfüllungsbedürftige und wertausfüllungsfähige offene Rechtsbegriffe

grundrechtsorientiert und grundrechtsfreundlich interpretiert werden sollen.1435

Im polnischen

Recht ist vornähmlich auf die Generalklausel des Art. 5 Zivilgesetzbuch hinzuweisen, wonach

niemand von seinem Recht Gebrauch machen kann, der gegen die Grundsätze des

gesellschaftlichen Zusammenlebens verstößt. Durch diese Klausel findet der Schutz der

Menschenwürde und ihre Ausprägung in der Gewissensfreiheit den Eingang in das

Privatrecht. Zivilrechtliche Verträge, die darauf hinauslaufen, einer Partei die Freiheit ihrer

Entschlüsse in Gewissensfragen zu beschneiden, sind gemäß Art. 58 Abs. § 2 Zivilgesetzbuch

nichtig. Im Fall eines an sich rechtswirksamen Rechtsgeschäfts ist anzunehmen, dass ein

Verhalten einer Vertragspartei, das darauf bezweckt, den Vertragspartner zum Handeln gegen

sein Gewissen zu zwingen, gegen die Grundsätze des gesellschaftlichen Lebens verstößt.1436

Dem ist allerdings hinzufügen, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit in denjenigen

Fällen mittelbare Drittwirkung entfaltet, wo sich sein Kern mit dem Schutzbereich der

Menschenwürdegarantie deckt. Dies erklärt sich damit, dass die Menschenwürdegarantie

nicht nur den Staat verpflichtet, die Menschenwürde zu achten, d.h. selbst nicht zu verletzen,

sondern auch zu schützen, also die Verletzungen seitens anderer Subjekte abzuwenden. In den

Fällen der freiwillig übernommenen privatrechtlichen Verpflichtungen kommt der

1433

S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm konstytucyjnych dotyczących wolności i

praw jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom

1. Idee i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 180. 1434

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 75; siehe auch: H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in:

NvWZ, 1991, S. 1037. 1435

G. Quinn, Conscientious objection in labour relations (civil service and liberal professions), in: Council of

Europe, Freedom of conscience, Strasburg 1993, S. 120; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka

zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 229f; U.

Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. I, II GG), in: JuS, 1982, S. 164; H. H.

Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1038; M. Hilti, Gewissensfreiheit in der

Schweiz, Zürich 2008, S. 226. 1436

Vgl. F. W. Bosch, W. Habscheid, Vertragsrecht und Gewissensfreiheit, in: JZ, 1954, S. 215, in Bezug auf

das deutsche Recht, die vorschlagen, dass in den beschriebenen Situationen jeweils § 138 I und 242 Anwendung

finden sollen.

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374

Menschenwürdebestand der Gewissensfreiheit allerdings nicht in Frage; gerade die Achtung

der individuellen Autonomie und der Menschenwürde fordert, jedermann in seiner Fähigkeit,

Verpflichtungen einzugehen, ernst zu nehmen und ihn daher an freiwillig eingegangenen

Bindungen festzuhalten, auch an Bindungen, die der Staat nicht einseitig von sich seinen

Bürgern auferlegen dürfte.1437

Es ist nicht zu verkennen, dass die Vertragstreue einen

wichtigen Rechtswert darstellt. Darüber hinaus besteht eine Verbindung zwischen der

Vertragsfreiheit und der daraus resultierenden Vertragstreue einerseits und dem

verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht andererseits.1438

Die Verweigerung

aus Gewissensgründen kann daher im Vertragsrecht grundsätzlich nicht akzeptiert werden. Da

der Einzelne den Vertrag freiwillig geschlossen hat, haben die vertraglichen Verpflichtungen

im Vergleich zum gesetzten Recht stärkere rechtliche und moralische Geltungskraft. Auch die

soziale Erwartung der Pflichterfüllung ist in diesem Fall höher, als wenn dem Einzelnen eine

Rechtpflicht ohne seine Zustimmung auferlegt wird.1439

Es ist daher anzunehmen, dass die

verweigerte Rechtsnorm dem Einzelnen gegenüber weiter gilt, ihre Befolgung kann allerdings

wegen der Auswirkung des grundrechtlichen Schutzes im Privatrecht nicht erzwungen

werden. Für das Privatrecht hat dies zur Folge, dass ein Gewissenskonflikt den Schuldner von

der Leistungspflicht nicht befreit, schließt aber die Erzwingung der Leistung aus.1440

Die Pflicht zum Schadenersatz setzt aber das Verschulden einer Vertragspartei voraus. Nach

einer Ansicht ist das Verschulden nur dann zu bejahen, wenn der Schuldner beim

Vertragsabschluss erkannte oder bei genügender Sorgfalt hätte erkennen können, dass er den

Vertrag aus Gewissensgründen nicht würde einhalten können. Bei der Vorhersehbarkeit eines

Gewissenskonflikts treffen den Einzelnen im Zweifel alle Rechtsfolgen, welche das geltende

Recht an eine vom Vertragspartner zu vertretende verzögerte oder mangelhafte Erfüllung,

bzw. Nichterfüllung knüpft.1441

In den Fällen der auf Dauer angelegten Schuldverhältnisse

1437

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 53, Rn. 83; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz

Kommentar, München 1993, Rn. 146. 1438

W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of

conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State

Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 41; H. Bethge, Das Grundrecht der

Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band

VI, Heidelberg 1989, S. 444. 1439

I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,

Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S.108. 1440

A. Blomeyer, Gewissensprivilegien in Vertragsrecht, in: JZ, 1954, S. 312. 1441

F. W. Bosch, W. Habscheid, Vertragsrecht und Gewissensfreiheit, JZ, 1954, S. 215; Stein, Gewissensfreiheit

in der Demokratie, S. 56; R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der

Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner

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375

kann die Verweigerung aus Gewissensgründen einen wichtigen Kündigungsgrund

darstellen.1442

Bei der Vorhersehbarkeit einer Verweigerung aus Gewissensgründen trifft den

Vertragsbrüchigen somit die Schadensersatzpflicht. Da der Gläubiger den Schuldner zur

Hinnahme des Schadenersatzes zwingt, kann von der Verletzung des Gleichheitssatzes nicht

die Rede sein, insbesondere in den Fällen, wenn sich der Schuldner selbst durch den

gedankenlosen oder zumindest voreilten Abschluss des Vertrages in diese Situation gebracht

hat.1443

Nur in den extremen Ausnahmefällen wäre mit Grundsätzen des gesellschaftlichen

Zusammenlebens unvereinbar, jemanden gegen sein Gewissen an einer Vertragspflicht

festzuhalten und ihm einen wegen Nichterfüllung entstandenen Schaden aufzubürden. In

diesem Zusammenhang gibt Zippellius das Beispiel eines Naturwissenschaftlers an, der mit

Schrecken bemerkt, dass die Ergebnisse seiner Forschung unvorhersehbarer Weise zur

Herstellung der Vernichtungswaffe führen können. In diesem Fall verstößt gegen Treu und

Glauben, ihn vor der Alternative zu stellen, die Forschung dienstvertragsgemäß gegen sein

Gewissen fortzusetzen oder einen ihn ruinierenden Schadenersatz zu zahlen.1444

Nach einer anderen Ansicht ist die Vorhersehbarkeit einer Gewissensentscheidung als venire

contra factum proprium nicht anzusehen, weil niemand in seinem früheren Verhalten in

Widerspruch gerät, wenn er später eine sittliche Fehlentscheidung nicht bis zum Ende

verwirklichen will.1445

Nach dieser Ansicht wird der Schwerpunkt einseitig auf die

Gewissenslage des Grundrechtsträgers gelegt, während die sozialen Folgen seines Verhaltens,

insbesondere das freiwillige Eingehen in eine Verpflichtung und das daraus resultierende

Vertrauen Anderer außer Acht gelassen werden.

3.2.2. Die Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut

Das polnische Zivilrecht kennt die Kategorie der sog. persönlichen Rechtsgüter. Damit

werden die durch die Gesellschaft und das Recht anerkannten immateriellen Werte und

Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 82; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz

Kommentar, München 1993, Rn 142; M. Hilti, Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 228f. 1442

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 147; F. Filmer, Das

Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 237. 1443

R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 140. 1444

R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens-, Gewissens-, und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –

Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum

Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 82 1445

W. Habscheid, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot?, in: JZ, 1964, S. 247.

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376

hochgeschätzten Zustände gemeint. Dazu gehört insbesondere die körperliche und psychische

Integrität des Menschen, seine Individualität, Würde, gesellschaftlicher Status und Ruf, sowie

sein kreatives Potenzial.1446

Der Katalog der persönlichen Rechtsgüter befindet sich in Art. 23

Zivilgesetzbuch. Danach stehen die persönlichen Rechtsgüter des Menschen unter dem

zivilrechtlichen Schutz unabhängig davon, ob ihr Schutz auch durch andere Vorschriften

vorgesehen ist. Die Aufzählung der persönlichen Rechtsgüter in Art. 23 Zivilgesetzbuch ist

dabei nicht enumerativ. Der Gesetzgeber hat die folgenden persönlichen Rechtsgüter

ausdrücklich erwähnt: die Gesundheit, Freiheit, Ehre, Gewissensfreiheit, der Name oder

Pseudonym, das eigene Bildnis, das Briefgeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung,

sowie die schöpferische Tätigkeit auf den Gebieten der Wissenschaft, der Kunst, des

Erfindungs- und Rationalisierungswesens. In der früheren Lehre und Rechtsprechung wurden

die persönlichen Rechtsgüter subjektiv d.h. als individuelle Werte der psychischen und

gefühlsmäßigen Innenwelt verstanden. Heutzutage überwiegt dagegen der objektive Ansatz,

wonach für die Erfassung des Wesens eines persönlichen Rechtsgutes und seiner Verletzung

auf objektive Maßstäbe, d.h. auf Kriterien, welche sich auf die in der Gesellschaft

anerkannten Wertungen beziehen, zurückzugreifen ist.1447

Wer durch eine fremde Handlung in ein persönliches Rechtsgut bedroht wird, kann die

Unterlassung dieser Handlung verlangen, es sei denn dass sie nicht rechtswidrig ist.

Charakteristisch für den Schutz der persönlichen Rechtsgüter ist dabei die Vermutung der

Rechtswidrigkeit ihrer Verletzung. Der Beklagte hat somit die Pflicht, die Rechtsmäßigkeit

des Eingriffs zu beweisen. Zu den Umständen, welche die Rechtswidrigkeit des Eingriffes

ausschließen, gehören vornehmlich: Einwilligung des Betroffenen zum konkreten Handeln

des Verletzers, das Handeln innerhalb der Rechtsgebote, sowie der Rechtsmissbrauch des

Geschädigten. In diesem Fall muss er die reale Möglichkeit des bevorstehenden Eingriffs

beweisen. Das Urteil kann sich dabei nicht auf ein allgemeines Verbot beschränken, das

persönliche Rechtsgut zu verletzen, sondern das konkrete Handeln angeben, das zu

unterlassen ist. Wenn dagegen die Verletzung eines persönlichen Rechtsguts bereits erfolgt

ist, kann der Geschädigte verlangen, dass der Verletzer die zu ihrer Beseitigung erforderlichen

1446

Z. Radwański, Prawo cywilne. Część ogólna, Warszawa 2009, S. 57, A. Cisek, in: E. Gniewek, Kodeks

cywilny. Komentarz, Warszawa 2004, Art. 23, S. 56, Rn. 2. 1447

K. Pietrzykowski, Kodeks cywilny. Komentarz. Tom I, Warszawa 2008, S. 83.

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377

Maßnahmen ergreift. Der Berechtigte soll dabei die Art und Weise der Behebung des

Eingriffs angeben.1448

Wenn infolge der Verletzung eines persönlichen Rechtsgutes Vermögensschaden entstanden

ist, kann der Geschädigte Schadenersatz nach allgemeinen Grundsätzen verlangen. Die

anderen Vermögensansprüche wegen Verletzung eines persönlichen Rechtsgutes sind: ein

angemessener Geldbetrag als Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht, sowie – auf

Verlangen des Berechtigten – eine Geldleistung für ein sozialer Wohlzweck (Art. 448

Zivilgesetzbuch). Die Wiedergutmachung hat allerdings den fakultativen Charakter. Das

bedeutet, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, die Wiedergutmachung zuzuerkennen, auch

wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Zuerkennung der Wiedergutmachung

hängt vielmehr von den Umständen des konkreten Falles ab; es wird etwa der Ausmaß des

Eingriffs und das Verschulden des Schädigers sowie eventuell der Ausmaß, in dem der

Geschädigte zur Verletzung des persönlichen Rechtsgutes beigetragen hat, in Betracht

gezogen. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Handlung bei gleichzeitiger Verneinung

des Verschuldens des Verletzers reicht für die Zuerkennung der Wiedergutmachung nicht aus.

Darüber hinaus wird die Zuerkennung der Wiedergutmachung weder von dem Typ des

persönlichen Rechtsguts noch von den verlangten und gewährten Schutzmitteln abhängig

gemacht.1449

Die Zahlung eines angemessenen Geldbetrages für einen sozialen Wohlzweck

kann unabhängig von anderen zur Beseitigung der Folgen der Verletzung des persönlichen

Rechtsgutes erforderlichen Maßnahmen, etwa neben der Geltendmachung des Anspruchs auf

Wiedergutmachung, verlangt werden.

Was die Auslegung der Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut angeht, wird sie mit der

Religions- und Weltanschauungsfreiheit gleichgestellt, ohne dass das Recht auf ethische

Selbstbestimmung und auf Handeln gemäß anerkannten ethischen Werten erwähnt wird. Es

wird nämlich vertreten, dass obwohl unter den in Art. 23 Zivilgesetzbuch aufgezählten

persönlichen Rechtsgütern die Religionsfreiheit neben der Gewissensfreiheit überhaupt nicht

erscheint, steht außer Zweifel, dass die Glaubensfreiheit und deren Ausübung in diesem

Begriff umfasst ist.1450

Nach h. M. wird zwar aus Gewissensfreiheit der Schutz von Eingriffen

1448

J. Chaciński, Prawa podmiotowe. Ochrona dóbr osobistych, Lublin 2004, S. 135. 1449

E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 28. 1450

H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 511.

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378

„in die Welt der Begriffe, Anschauungen, Vorstellungen und Überzeugungen“1451

des

Einzelnen abgeleitet, der Schwerpinkt wird aber auf die Freiheit gelegt, eine Religion zu

bekennen oder nicht zu bekennen und die religiösen Sitten und Bräuche auszuüben oder nicht

auszuüben. Der Schutz der Gewissensfreiheit kann auch in Entgegenwirkung der

Diskriminierung wegen Nationalität, Rasse oder Anschauungen zum Ausdruck kommen.1452

Die Fokussierung auf die religiöse Facette bei der Auslegung der Gewissensfreiheit als

persönliches Rechtsgut hat zur Folge, dass sein zivilrechtlicher Schutz nur ausnahmsweise ins

Spiel kommt. Als geeignetes Schutzmittel in diesem Bereich dienen vielmehr die

strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen zum Schutz der

Religionsfreiheit.1453

Aus dem Gesagten ist sichtbar, dass obwohl die Gewissensfreiheit als

ein der persönlichen Rechtsgüter durch dem Gesetzgeber ausdrücklich erwähnt wurde und das

Konzept der persönlichen Rechtsgüter zum Schutz dieses Grundrechts in privatrechtlichen

Verhältnissen durchaus nützlich ist, kann wegen interpretorischen Reduzierung seines Gehalts

auf den Schutz des religiösen Glaubens nicht erwartet werden, dass dieses Schutzmittel zum

Schutz des Rechts auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung im Bereich des Ethischen

in absehbarer Zukunft zur Anwendung kommt.

3.2.3. Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht

Die Pflicht des Arbeitgebers, die Menschenwürde und andere persönliche Rechtsgüter des

Arbeitnehmers zu achten, wurde durch den Gesetzgeber zum Rang des Grundsatzes des

Arbeitsrechts erhoben. Im Fall der Verletzung der persönlichen Rechtsgüter kann der

Arbeitgeber unabhängig von der Haftung wegen der Verletzung der Rechte der Arbeitnehmer

auch aufgrund der oben dargestellten zivilrechtlichen Regelungen zur Verantwortung gezogen

werden.1454

Damit wird die Verstärkung des Schutzes der persönlichen Rechtsgüter im

Arbeitsverhältnis erreicht. Die zivilrechtlichen Bestimmungen finden allerdings Anwendung

nur dann, wenn der Arbeitsgesetzbuch keine entsprechende Regelung bereitstellt (Art. 300

Arbeitsgesetzbuch).1455

1451

J. Chaciński, Prawa podmiotowe. Ochrona dóbr osobistych, Lublin 2004, S. 122; siehe auch: M. Pazdan, in:

M. Sajan, System Prawa Prywatnego. Tom I. Prawo cywilne – część ogólna, Warszawa 2007, S. 1120; E.

Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 22; H. Szewczyk,

Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 511. 1452

E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 22; H.

Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 516. 1453

P. Księżak, in: M. Pyziak – Szafnicka, Kodeks cywilny. Komentarz.. Część ogólna, Art. 23, Warszawa 2009,

S. 258. 1454

T. Zieliński, G. Goździewicz, in: L. Florek, Kodeks pracy. Komentarz, Kraków 2009, S. 89. 1455

T. M. Romer, Prawo pracy. Komentarz, Warszawa 2010, 4. Auflage, S. 111.

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379

Im Arbeitsrecht werden die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien durch den

Grundsatz der vernünftigen Anpassung und Rücksichtnahme bestimmt. Danach werden die

Schranken der Gewissensfreiheit nicht lediglich gemäß dem Vertrag bestimmt; es ist vielmehr

das Grundrecht des Arbeitnehmers mit dem Interesse des Arbeitgebers an Funktionsfähigkeit

des Unternehmens abzuwägen.1456

Aus der Perspektive des Grundsatzes der Rücksichtnahme

ist die eventuelle Entlassung des seine arbeitsrechtlichen Pflichten aus Gewissensgründen

verweigernden Arbeitnehmers differenziert zu betrachten. Dabei sind folgende

Gesichtspunkte zu berücksichtigen1457

:

Zuerst ist zu erwägen, inwieweit beim Vertragsabschluss die Vertragsparteien wussten oder

hätten wissen können, dass dessen Erfüllung den Arbeitnehmer in Gewissenskonflikte bringen

kann. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:

1) Verpflichtet sich der Arbeitnehmer ausdrücklich, die im Arbeitsvertrag

niedergeschriebenen Tätigkeiten auszuüben, kann seine nachträgliche Verweigerung aus

Gewissensgründen als eine grobe Verletzung der grundsätzlichen Arbeitnehmerpflichten

betrachtet werden und die Entlassung ohne Einhaltung der Kündigungsfrist nach Art. 52,

Abs.1 Arbeitsgesetzbuch rechtfertigen. Dies setzt allerdings das Verschulden seitens des

Arbeitnehmers voraus, das lediglich im Fall der vom Arbeitgeber bewiesenen

Vorhersehbarkeit der Gewissenskonflikte des Arbeitnehmers zu bejahen ist. Wenn dagegen

das Verschulden des Arbeitnehmers nicht vorliegt, kann der Arbeitgeber auf die ordentliche

Kündigung zurückgreifen. Die Kündigung ist allerdings im Fall der Arbeitsverträge auf eine

bestimmte Zeit ausgeschlossen, wenn die Vertragsparteien die Möglichkeit der Kündigung

vertraglich nicht vorgesehen haben. Dem Arbeitgeber ist allerdings nicht zumutbar, negative

Folgen der Gewissensentscheidung seines Arbeitnehmers zu tragen. Deshalb kann das

Arbeitsverhältnis mit demjenigen, der die Verrichtung bestimmter Handlungen freiwillig

übernommen hat, und dann eine Gewissensentscheidung getroffen hat, welche ihm die

Erfüllung seiner Pflichten unmöglich macht, vom Arbeitgeber in Anlehnung an die Klausel

der Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens1458

aufgehoben werden.

1456

I. M. Sanchis, La Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad

religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 303. 1457

A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o zawodach lekarza i

lekarza dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk B, Lege artis. Problemy prawa medycznego,

Poznań 2008, S. 16, Fn. 8; W. Habscheid, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot?, in: JZ, 1964,

S. 247f; BAG, Urteil von 20.12.1984 – 2 AZR 463/83 – DuR 1985, S. 461ff. 1458

Die in Art. 5 Zivilgesetzbuch enthaltene Klausel hat den folgenden Inhalt: „Die Ausübung eines Rechts

entgegen seiner sozio-ökonomischen Zweckbestimmung oder den Grundsätzen des gesellschaftlichen

Zusammenlebens ist unzulässig. Ein solches Tun oder Unterlassen des Berechtigten wird nicht als

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380

2) Sind die verweigerten Tätigkeiten im Arbeitsvertrag nicht ausdrücklich festgelegt, d.h.

werden sie im Wege des Direktionsrechts des Arbeitgebers von dem Arbeitnehmer verlangt,

oder werden sie im Arbeitsvertrag nur implizite enthalten, soll das Anpassungsprinzip, das in

der Abwägung der Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers mit der Funktionsfähigkeit des

Unternehmens besteht, zum Zuge kommen Es sind dabei folgende Gesichtspunkte zu

berücksichtigen:

- inwieweit die Tätigkeiten des Arbeitnehmers qualitativ und quantitativ vom

Gewissenskonflikt berührt sind. Wenn die Arbeitsleistung lediglich am Rande von

Gewissensbedenken des Arbeitnehmers tangiert ist, kann die Kündigung nicht gerechtfertigt

werden.

- ob es möglich ist, dem Arbeitnehmer die für ihn gewissensneutralen Pflichten statt der

verweigerten anzuvertrauen oder ob der Arbeitgeber aus betrieblichen Erfordernissen darauf

bestehen muss, dass gerade derjenige Arbeitnehmer, der sich auf sein Gewissen beruft, diese

bestimmte Arbeit ausrichten muss

- ob der Arbeitgeber in der Zukunft mit zahlreichen weiteren Gewissenskonflikten des

Arbeitnehmers rechnen muss

Zum Schluss ist zu bemerken, dass im Fall der Beamten die Berufung auf Gewissensfreiheit

nicht möglich ist, wenn dies mit seinen Pflichten kollidieren würde. Die strikte Beachtung des

Rechts in Diensten wie: Polizei, Militär, Gerichtsbarkeit oder zivile Verwaltung ist

unentbehrlich.1459

Es liegt „auf der Hand, dass die Funktionstüchtigkeit des Staates ernstlich

bedroht wäre, könnte ein Beamter sich unter bloßer Berufung auf sein Gewissen einer

dienstlichen Weisung entziehen. Jeder Beamte muss es grundsätzlich hinnehmen, dass ihm

Verhaltensweisen angesonnen werden (...), die dem durch seine von ihm nach seinem freien

Willensentschluss gewählte Laufbahn geprägten Berufsbild wesensmäßig sind.“1460

4. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Strafrecht

Es ist eine Konstellation möglich, dass der Einzelne ohne die Anerkennung des

Verweigerungsrechts erhalten zu haben, eine an ihn gerichtete Rechtspflicht verletzt und sich

Rechtsausübung angesehen und genießt kenen Schutz“. (Die Übersetzung nach: Polnische Wirtschaftsgesetze.

Aktuelle Gesetzestexte in deutscher Übersetzung, Warszawa 2010.) 1459

A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos,

Madrid 1986 -87, S. 418f. 1460

BverwG 56, 227f.

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381

erst im Strafverfahren auf die Gewissensfreiheit beruft. In diesem Fall ist das Verfahren nicht

auf die Erteilung einer Befreiung von der Rechtspflicht, sondern auf die Befreiung von den

strafrechtlichen Sanktionen bzw. von ihrer Milderung gerichtet.1461

Der strafrechtliche Schutz

eines Rechtsgutes indiziert dabei, dass der Gesetzgeber ihm einen hohen Wert zuschreibt,

deshalb muss angenommen werden, dass das Strafrecht grundsätzlich unter

Gewissensvorbehalt nicht steht.1462

Die Gewissensentscheidung des Einzelnen kann somit

keinen Rechtsfertigungsgrund darstellen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Grundrecht

der Gewissensfreiheit bei der richterlichen Strafzumessung unberücksichtigt bleiben darf.

Wegen der objektivrechtlichen Dimension der Gewissensfreiheit ist unerlässlich, ihre

Auswirkungen im Prozess der Strafzumessung zu erwägen.

Die Berücksichtigungspflicht der Gewissensentscheidung im Prozess der Rechtsanwendung

ergibt sich aus dem dem Grundrecht der Gewissensfreiheit entnommenen Wohlwollensgebot.

Danach ist ein schonender Ausgleich zwischen dem Gewissen des Einzelnen mit

gegenläufigen Interessen anzustreben. Das Wohlwollensgebot ermöglicht nämlich die

Gewissensentscheidung bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und der

Ausübung vom richterlichen Ermessen zu berücksichtigen. Es findet vornehmlich in den

Fällen Anwendung, wo sich das Gewissen des Einzelnen gegen zwingende Rechtsvorschriften

nicht durchsetzen kann. „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewährt nicht nur subjektive

Rechte, sondern ist zugleich eine wertentscheidende Grundsatznorm, und zwar höchsten

verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art – auch bei der

Strafzumessung im Strafverfahren – Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung

verlangt.“1463

Diese Bemerkungen beziehen sich zwar auf das deutsche Rechtssystem, es

scheint aber nützlich, diesen Ansatz in die polnische Rechtsordnung zu rezipieren. Die

Übertragung der Lehre von dem Wohlwollensgebot als Interpretationsgrundsatz der

Grundrechte in die polnische Rechtspraxis würde nämlich die Verstärkung ihres Schutzes zur

Folge haben. Auf der strafrechtlichen Ebene können die objektivrechtlichen Auswirkungen

der Gewissensfreiheit durch Art. 53 des polnischen StGB, der die Regeln der richterlichen

Strafzumessung normiert, in die Rechtssprechungspraxis Eingang finden.

1461

M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 254. 1462

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 500f. 1463

BverfGE, 23, 127, 134.

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382

Unter den in Art. 53 Abs. 2 Strafgesetzbuch aufgezählten Kriterien der Strafzumessung

kommt die Motivation des Täters und seine „persönlichen Eigenschaften und Bedingungen“

als Anhaltspunkte für die Berücksichtigung der Gewissensnot des Täters in Frage. Die

Auslegung des Rechtsbegriffs „Motivation“ ist in der polnischen Lehre allerdings nicht

einheitlich. Nach einer Ansicht ist der Begriff der Motivation lediglich auf intellektuelle und

nicht auf emotionelle Sphäre des Täters zu beziehen. Die Motive beinhalten nach diesem

Ansatz die Erklärung, warum der Täter in eine bestimmte Art und Weise gehandelt hat und

die Artikulierung des Zweckes und Programms seines Verhaltens. Sie werden dabei von

emotionalen Beweggründen abgehoben, welche den Motivationsprozess initiieren und ihn

begleiten.1464

Da das Gewissen neben der rationalen auch die affektive, emotionale

Komponente hat, wobei die letztere in einigen Fällen sogar in Vordergrund treten kann,

müsste die Gewissensentscheidung nach diesem Ansatz als irrelevanter „Beweggrund“ und

nicht als Motiv eingestuft werden. Der zitierte Autor berücksichtigt aber die

Gewissensentscheidung bei der Auslegung eines anderen Faktores der Strafzumessung,

nämlich des Begriffes der „persönlichen Eigenschaften“ des Täters. Mit diesem

Strafzumessungskriterium wird die in eine bestimmte Art und Weise gebildete Persönlichkeit

des Einzelnen sowie der Zustand seiner intellektuellen Entfaltung und der psychischen

Gesundheit gemeint. Der Begriff „Persönlichkeit“ wird dabei nicht auf seine Bedeutung in der

Psychologie oder Psychiatrie verengt. „Dazu zählt auch das Wissen über die Wirklichkeit,

Lebenspläne, Interessen und Hobbys, Fertigkeiten, Leistungsfähigkeit des Handelns, das

Verhältnis zu anderen Menschen, Selbstachtung, Haltungen gegenüber den allgemein

anerkannten sozialen Werten, Gewissen, Willenskraft, Temperament (…).“1465

Obwohl die Subsumption des Gewissens des Täters unter „persönliche Eigenschaften“

vertretbar scheint, sind die Gewissensentscheidungen des Einzelnen aus sprachlichen

Gründen als Teil seiner Motivation anzusehen. Dies setzt allerdings die Einschließung der

emotionalen Aspekte in den Rechtsbegriff der Motivation voraus, was der alltagssprachlichen

Bedeutung dieses Wortes entspricht. Die Einbeziehung der emotionalen Komponente in den

Begriff der Motivation des Täters wird in der polnischen Lehre implizit vertreten. Einige

Autoren definieren nämlich den Begriff „Motivation“ zwar nicht, als Beispiele für Motive

1464

K. Buchała, Kommentierung des Art. 53, in: K. Buchała, A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz

do art. 1 / 116 Kodeksu karnego. Tom 1, Art. 53, Kraków 1998, S. 396, Rn. 26. 1465

Ebenda, S. 397, Rn. 30; W. Wróbel in: A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, Tom 1, Warszawa

2007, S. 697. Rn. 100.

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383

geben sie aber den Motiv der Rache,1466

Unrechtsgefühl, Provokation, wichtige persönliche

oder familiäre Bedürfnisse1467

an, was den Schluss erlaubt, dass auch affektive Aspekte im

Begriff der Motivation enthalten sind. Der Begriff: „persönliche Eigenschaften und

Bedingungen des Täters“ soll vielmehr als seine biologischen Eigenschaften wie Alter,

Geschlecht, Gesundheitszustand, Eigenschaften und Charakterzüge, welche die Beziehungen

des Täters zur Umgebung bestimmen, wie etwa Süchte, Konfliktsüchtigkeit, sowie seine

familiäre und berufliche Situation1468

verstanden werden.

Daraus ergibt sich, dass die Gewissensentscheidung unter dem Rechtsbegriff der Motivation

des Täters fällt. Ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung bedeutet allerdings nicht

notwendig die Strafmilderung. Der Einfluss der Gewissensentscheidung auf das Ausmaß der

Strafe hängt vielmehr von deren Inhalt ab. Die Motivation des Täters kann nämlich entweder

den positiven oder den tadelnswerten Charakter haben. Um den Grad der Schuld des Täters

festzustellen, wird dabei auf den dominierenden Charakter der Motivation und auf

Beschränkung seiner Entscheidungsfreiheit abgestellt.1469

1466

A. Marek, Prawo karne, Warszawa 2000, S. 346. 1467

T. Bojarski, A. Michalska-Warias, J. Piórkowska-Flieger, M. Szwarczyk, Kodeks karny, Komentarz,

Warszawa 2006, S. 117. 1468

A. Marek, Kodeks karny. Komentarz, Warszawa, Kraków 2007, 4. Auflage, S. 144. 1469

W. Wróbel, in: A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, Tom 1, Warszawa 2007, S. 694.

Paragraphnummer 91f.

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384

Kapitel IX

Schranken der Gewissensfreiheit

1. Allgemeines

Art. 53 Abs. 5 Verf. bestimmt, dass die Freiheit, die Religion auszuüben, nur auf dem

Gesetzeswege eingeschränkt werden kann, wenn die Einschränkung zum Schutz der des

Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und

Freiheiten Anderer notwendig ist. Obwohl die Voraussetzungen für die Einschränkung der

Religionsfreiheit weit formuliert sind, soll ihre Anwendung in Praxis keine Gefährdung der

Rechte des Einzelnen herbeiführen, weil die Verfassung zusätzlich vorschreibt, dass die

Einschränkungen notwendig, also verhältnismäßig sein soll und dass das Wesen der Rechte

und Freiheiten beachtet werden soll.1470

Die genannten Schranken beziehen sich allerdings nur auf die Freiheit der Religionsausübung.

Daraus könnte geschlossen werden, dass die Gewissensfreiheit schrankenlos gewährleistet ist.

Eine solche Annahme wäre allerdings mit dem Menschenbild der freiheitlich-demokratischen

Verfassung nicht vereinbar, welches nicht „das eines robinsonartig lebenden

Einzelgeschöpfes, sondern das eines in eine Gemeinschaft hineingeborenen animal

sociale“1471

ist. Die durch den Verfassungsgeber gewollte soziale Bezogenheit und

Eingebundenheit des einzelnen Menschen ergibt sich bereits aus dem Staatsmodell der

Verfassung, wonach die Republik Polen das gemeinsame Gut aller Bürger ist (Art. 1 Verf.).

Die soziale Eingebundenheit des Einzelnen kann auch aus dem Grundsatz der sozialen

Gerechtigkeit (Art. 2 Verf.), dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft, die unter anderen

auf dem Grundsatz der Solidarität beruht (Art. 20 Verf.) abgeleitet werden. Sie ist jedoch vor

allem der verfassungsrechtlich vorgesehenen Möglichkeit der Einschränkung der

Freiheitsrechte zwecks des Schutzes der Rechte und Freiheiten Anderer zu entnehmen. Diese

Möglichkeit ergibt sich schon aus dem Begriff der Freiheit, wonach sie nur mit der Freiheit

Anderer zusammen bestehen kann. Die Freiheit impliziert die Verantwortung. Daraus folgt,

1470

M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –

Historyczne, 2001, Heft 1, Warszawa 1998, S. 128. 1471

R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 150

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385

dass die absolute Individualisierung der Gewissensfreiheit nicht möglich ist, wenn auch ihr

Schutzgegenstand gerade im Schutz der persönlichen Freiheit liegt.1472

Es steht somit außer Zweifel, dass keine der von der Verfassung verbürgten Freiheitsrechte

einschließlich der Gewissensfreiheit ohne jegliche Schranken zugunsten der Anderen oder der

Allgemeinheit bestehen kann. Fraglich ist allerdings, ob Art. 53 Abs. 5 Verf. im Bezug auf die

Gewissensfreiheit Anwendung findet, oder ob es vielmehr notwendig ist, auf die allgemeine

Schrankenklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf. zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang weist

Jabloński mit Recht darauf hin, dass die Problematik der Schranken der Gewissens- und

Religionsfreiheit in Art. 53 Abs. 5 Verf. nur zum Teil geregelt ist. Bei der Bestimmung der

Schranken scheint gemäß diesem Autor die Bezugnahme auf Art. 30 und 31 Verf.

notwendig.1473

Es wird allerdings nicht erklärt, worin die Berufung auf Art. 30 und 31 Verf.

und ihr Verhältnis zu Art. 53 Abs. 5 Verf. bestehen soll, Um diese Frage zu explizieren, muss

insbesondere das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf.

zu der speziellen Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit und ihre Wechselwirkung

untersucht werden.

2. Das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel der Grundrechte

(Art. 31 Abs. 3 Verf.) zur speziellen Einschränkungsklausel der

Religionsfreiheit (Art. 53 Abs. 5 Verf.)

Wenn die Ansicht zu befürworten wäre, dass Art. 31 Abs. 3 Verf. eine selbständige

Grundlage für die Einschränkung der Grundrechte, darunter der Gewissensfreiheit darstellt,

erhebt sich die Frage, wie ist das Verhältnis dieser allgemeinen Einschränkungsklausel zu der

speziellen Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit nach Art. 53 Abs. 5 Verf. Darüber

hinaus ist zu erörtern, ob die spezielle Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit zur

Gewissensfreiheit Anwendung findet, obwohl sich die Erstreckung dieser Klausel auf die

Gewissensfreiheit unmittelbar aus dem Wortlaut nicht ergibt.

1472

B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,

Toruń 2005, S. 323. 1473

K. H. Jabłoński, Wolność sumienia i wyznania. Konstytucyjne prawo człowieka, in: Wiek XXI, Nr. 2/3,

2006, S. 48.

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386

In Bezug auf das Verhältnis der genannten Einschränkungsklauseln zueinander gibt es drei

Interpretationsmöglichkeiten:1474

a) Zunächst könnte angenommen werden, dass die Voraussetzungen der

Grundrechtseinschränkung des Art. 31 Abs. 3 Verf. eine selbständige

Einschränkungsgrundlage derjenigen Grundrechte darstellen, bei denen keine speziellen

Einschränkungsklauseln vorhanden sind. Darüber hinaus stellen sie zusätzliche

Einschränkungsvoraussetzungen außer dem Einschränkungsbereich der speziellen

Einschränkungsklauseln dar, falls sie bei einem Grundrecht vorgesehen wurden. Für die

Feststellung der Verfassungsmäßigkeit einer Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit

würde danach ausreichen, wenn die Voraussetzungen entweder des Art. 53 Abs. 5 oder des

Art. 31 Abs. 3 erfüllt wären. In diese Richtung argumentiert auch Łopatka: nach seiner

Ansicht findet die Einschränkungsklausel des Art. 31 Abs. 3 neben den in Art. 53 Verf.

angegebenen Gründen der Grundrechtseinschränkung in Bezug auf Gewissens-, und

Religionsfreiheit Anwendung. Dies bedeutet vor allem, dass die Gewissensfreiheit zum

Schutz der Umwelt eingeschränkt werden kann, obwohl diese Einschränkungsvoraussetzung

in Art. 53 Abs. 5 Verf. nicht erscheint.1475

Gemäß Banaszak ergibt sich die Einschließung der

übrigen in Art. 31 Abs. 3 Verf. aufgezählten Einschränkungsgründe in die Rechtsgrundlage

der Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit aus der systematischen

Auslegung.1476

Das Problem mit der Anwendung dieses Ansatzes besteht darin, dass die

zusätzlichen Einschränkungsvoraussetzungen der speziellen Einschränkungsklausel im

Ergebnis entbehrlich sind, weil der Gesetzgeber auch auf allgemeine Einschränkungsklausel

ohne weiteres zurückgreifen kann. Dadurch würde er über weite Eingriffsmöglichkeiten in die

Sphäre der Grundrechte verfügen, was zu ihrer Relativierung führen könnte.

b) Eine andere Alternative ist die Zuerkennung dem Art. 31 Abs. 3 Verf. der Funktion der

selbständigen Einschränkungsgrundlage nur bezüglich der Grundrechte, für die der

1474

K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,

S. 81 ff. 1475

A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2002, S. 125. 1476

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 275, Rn. 14.

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387

Verfassungsgeber keine speziellen Einschränkungsklauseln eingeführt hat. Die speziellen

Einschränkungsklauseln wären nach diesem Ansatz lex specialis im Verhältnis zur

allgemeinen Einschränkungsgrundlage des Art. 31 Abs. 3 Verf. Die Anwendung der

allgemeinen Einschränkungsklausel in Bezug auf Religionsausübungsfreiheit wäre danach

ausgeschlossen. Eine solche Auslegung berücksichtigt zwar im größeren Maße die Rechte des

Einzelnen, die gänzliche Ausschließung der Anwendung des Art. 31 Abs. 3 Verf. hinsichtlich

der Grundrechte mit speziellen Einschränkungsgrundlagen würde aber zur Folge haben, dass

die sich aus Art. 31 Abs. 3 ergebenden wesentlichen Garantien der Rechte des Einzelnen wie

das Erfordernis der Berücksichtigung von Prinzipien des demokratischen Staates und die

Unantastbarikeit des Wesensgehalts der Grundrechte nicht zum Zuge kämen. In Bezug auf die

Grundrechte, die mit einer speziellen Einschränkungsklausel vorgesehen wurden, wäre die

Einschränkungskompetenz des Staates somit zu weitreichend. Die Verneinung jeglicher

Auswirkungen der Bestimmungen des Art. 31 Abs. 3 Verf. als Gestaltungselemente des

Einschränkungsumfangs der mit einer speziellen Einschränkungsklausel versehenen

Grundrechte würde mit der systematischen Auslegung der Verfassung nicht vereinbar: Art. 31

Abs. 3 ist nämlich in dem ersten Teil (Allgemeine Grundsätze) des zweiten Kapitels der

Verfassung situiert, der einen „allgemeinen Teil“ für alle grundrechtlichen Bestimmungen

bildet. Es ist bemerkenswert, dass zu diesem Vorschriftenkomplex nicht nur diejenigen

Bestimmungen gehören, welche den Schutzbereich der einzelnen Grundrechte beschränken,

sondern auch solche, die ihren Schutzbereich erweitern (können) wie vor allem die

allgemeinen Gewährleistungen der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und allgemeine

Garantie der Freiheiten und Rechte für alle, die unter der polnischen Gewalt stehen. Der

„allgemeine Teil“ der grundrechtlichen Verbürgungen der polnischen Verfassung gestaltet

somit den Inhalt und Umfang der einzelnen Grundrechte. Dies ist von erheblicher Bedeutung

für die Gewissensfreiheit, deren Konkretisierung im großen Maße mittels der Klausel der

Menschenwürde vorgenommen wird. Die Anwendung der allgemeinen Vorschriften in Bezug

auf ein Grundrecht kann allerdings nicht in dem Sinne selektiv sein, dass lediglich die

inhaltskonkretisierenden bzw. die den grundrechtlichen Schutzbereich erweiternden

Vorschriften herangezogen werden, während die inhaltseinschränkenden Bestimmungen

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388

außer Acht gelassen werden. Die Verneinung der jeglichen Auswirkungen der allgemeinen

Einschränkungsklausel im Bereich der Religionsfreiheit trifft somit nicht zu.

c) Schließlich setzt die dritte mögliche Interpretationsmöglichkeit des Verhältnisses von

allgemeinen und speziellen Einschränkungsklauseln der Rechte und Freiheiten voraus, dass

Art. 31 Abs. 3 Verf. als selbständige Einschränkungsklausel in Bezug auf die Grundrechte

ohne speziellen Einschränkungsklauseln Anwendung findet. Zusätzlich bildet sie eine

absolute Grenze der Einschränkung für alle Grundrechte der Verfassung. Im Fall der

Grundrechte, für welche spezielle Ermächtigungen ihrer Einschränkung bestehen, muss der

Eingriff sowohl die Voraussetzungen der allgemeinen als auch der speziellen

Einschränkungsklauseln erfüllen. Die speziellen Einschränkungsklauseln dienen zur

Einengung des Spielraums des staatlichen Eingriffs im Verhältnis zu den

Einschränkungsvoraussetzungen der Grundrechte gemäß Art. 31 Abs. 3 Verf. Diese Lösung

entspricht am Besten den Anforderungen der systematischen Auslegung der Verfassung.

Gegen die Betrachtung des Art. 31 Abs. 3 Verf. als Höchstgrenze der Einschränkung aller

Grundrechte spricht allerdings der Inhalt einiger speziellen Einschränkungsklauseln (Art. 59

Abs. 3, Art. 61 Abs. 3 Verf.), die teilweise andere Einschränkungsvoraussetzungen vorsehen,

welche in der allgemeinen Einschränkungsklausel nicht vorkommen.

Zum Schluss ergibt sich, dass die Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 Verf. die Funktion eines

allgemeinen Grundsatzes erfüllt, wonach die verfassungsrechtlich zulässigen

Voraussetzungen der Einschränkung der Grundrechte bestimmt werden. Sie findet

Anwendung in Bezug auf alle in der Verfassung geregelten Rechte und Freiheiten des

Einzelnen. Die Vorschrift richtet sich an den Gesetzgeber, weil die Einschränkungen der

Rechte und Freiheiten nur in einem Gesetz beschlossen werden können. Wenn ein in der

Verfassung vorgesehenes Grundrecht mit keiner speziellen Einschränkungsklausel

vorgesehen ist, bedeutet dies nicht, dass dieses Grundrecht schrankenlos gewährleistet ist. Das

Fehlen einer Einschränkungsklausel soll vielmehr als Verweis zum Art. 31 Abs. 3 Verf.

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389

ausgelegt werden.1477

Der Ausschluss der Einschränkungen kann nur dann angenommen

werden, wenn in der Verfassung ein Grundrecht ausdrücklich als unantastbar verankert ist.

Was die Einschränkung der Gewissensfreiheit anbelangt, ist für ihre Einschränkung die

Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit entsprechend anzuwenden. Zusätzlich ist auf Art.

31 Abs. 3 Verf. ergänzend, insbesondere auf den dort verankerten

Verhältnismäßigkeitsprinzip, zurückzugreifen. Diese Vorgehensweise ist zwar wegen des

Wortlauts des Art. 53 Abs. 5 Verf. nicht unproblematisch, was bereits im Zusammenhang mit

der Schrankenproblematik der Gewissensfreiheit in Art. 9 EMRK dargelegt wurde1478

,

verhindert gerade die sprachliche Fassung der Schrankenklauseln die „dogmatisch saubere“

Lösung der Schrankenproblematik der Gewissensfreiheit.

3. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der

Einschränkung der Gewissensfreiheit

3.1. Die Rolle des Gesetzgebers und der Gerichtsbarkeit im Prozess der Güterabwägung

Die polnische Lehre entnimmt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus dem

Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Verf., der Formulierung des Art. 31 Abs. 3 Verf., wonach die

Einschränkungen der Freiheitsrechte im demokratischen Staat zum Schutz der dort genannten

Rechtsgüter „notwendig“ sein sollen, sowie aus den speziellen Einschränkungsklauseln der

jeweiligen Grundrechte (Art. 53 Abs. 5, Art. 51 Abs. 2 Verf.). Nach dem

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss der Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen geeignet

sein, den legitimen Eingriffszweck zu erreichen und dabei das mildeste Mittel zur

Zweckerreichung darstellen, d.h. notwendig sein. Die Notwendigkeit bezieht sich auf die

Einschränkung eines Grundrechts in der gegenständlichen, subjektiven, zeitlichen und

räumlichen Hinsicht. Weiterhin muss die Schwere des Eingriffs in das Individualrechtsgut im

angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten berechtigten Zweck stehen, was im Wege der

Güterabwägung festzustellen ist. Das Gericht soll dabei die miteinander kollidierenden

1477

L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w

praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 30;

siehe auch: das Urteil des Verfassungsgerichtshofs von 10. April 2002 (K 26/00). 1478

Siehe dazu: Kapitel IV, Punkt. 3.2.1.

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390

Rechtsgüter bezeichnen, ihren Rang bestimmen sowie feststellen, in welchem Grad sie

verwirklicht (verletzt) werden. Demnächst soll es erwägen, ob der Grad der Verwirklichung

eines Rechtsguts Aufopferung in einem bestimmten Grad anderer Güter rechtfertigt. 1479

Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Fällen, wo die

Gewissensfreiheit ins Spiel kommt, wegen der Natur dieses Grundrechts, d.h. wegen der

Unbestimmtheit seines Schutzbereichs, von erheblicher Bedeutung. Aus der Annahme, dass

aus Art. 53 Abs. 1 Verf. ein allgemeines Recht auf Gewissensfreiheit abgeleitet werden kann,

ergibt sich nämlich, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen den Grundrechtscharakter

hat. Die Abwägungskompetenz zwischen der Gewissensfreiheit und anderen schutzwürdigen

Rechtsgütern obliegt zuerst dem Gesetzgeber, der entscheidet, ob die Regelung der

Verweigerung aus Gewissensgründen in einem Fall nötig oder sachgerecht ist. An der zweiten

Stelle sind dafür die Gerichte zuständig.1480

Die Verweigerer erfüllen dabei die Rolle eines

Wegweisers: wenn am Anfang ein Verweigerungstyp illegal und antisolidarisch zu sein

scheint, wird mit der Zunahme der Zahl der Verweigerer der Druck auf den Gesetzgeber

ausgeübt, was zu seiner gesetzlichen Regulierung führen kann. Dieser Prozess hat sich in

Polen im Fall der Wehrdienstverweigerung und im Fall der Verweigerung im Bereich der

Medizin vollzogen.

Da die Verfassung unmittelbar anwendbar ist, braucht der Gesetzgeber jedoch nicht, einen

konkreten Typ der Verweigerung zu normieren, damit der Einzelne zum Genuss der

Gewissensfreiheit gelangen kann. Die Interessenabwägung zwischen den kollidierenden

Rechtsgütern erfolgt dann durch die Gerichte.1481

Die Zunahme der Rolle der Gerichte und

ihrer kreativen Auslegung hat wesentliche Bedeutung für die Subjektstellung der

Gesellschaft.1482

Die eventuelle gesetzliche Regelung der einzelnen Modalitäten der

Verweigerung aus Gewissensgründen könnte den Richtern in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit

zwar mehr Sicherheit geben, sie ist aber nur in sozial relativ verbreiteten Typen der

Verweigerung möglich. Außerdem kommt die Tätigkeit des Gesetzgebers immer später,

nachdem sich viele konkrete Verweigerungsfälle vollzogen haben. Deshalb bedeutet die

1479

K. Wojtyczek, Zasada proporcjonalności, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w

Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 682ff., Rn. 19ff. 1480

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 242. 1481

J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: G. Sancho,

Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 116. 1482

J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 152.

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391

Behandlung der Gewissensfreiheit die Annahme der Vermutung prima facie,1483

dass

derjenige, der sich auf ihre grundrechtliche Gewehrleistung beruft, rechtsmäßig handelt. Die

Verweigerung aus Gewissensgründen ist somit keine durch das Gesetz reglementierte

Ausnahme von der Rechtspflicht. Die Rechtspflichten sollen vielmehr als Beschränkungsfälle

der persönlichen Freiheit begriffen werden, welche ihrerseits als Regel aufzufassen ist. In

diesem Zusammenhang obliegt dem Richter, der den Konflikt zwischen der Rechtsordnung

und dem individuellen Gewissen zu lösen hat, zu prüfen, inwieweit die verweigerten

Rechtspflichten für den Schutz anderer Verfassungsgüter gerechtfertigt sind.1484

Da es keine

allgemeingültigen Kriterien gibt, die erlauben würden, den Konflikt zwischen dem Gewissen

und Recht zu lösen, müssen die kollidierenden Verfassungsgüter in konkreten Fällen

abgewogen werden.1485

Die Güterabwägung betrifft den Entscheidungsprozess in den Kollisionslagen der durch die

Verfassung geschützten Rechte und Interessen. Mangels der in der Verfassung bestimmten

Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter kann die Güterabwägung auf der

Prinzipienebene, d.h. als generell-abstrakte Gegenüberstellung der in einen Konflikt geratenen

Rechte und Gemeinschaftsgüter nicht stattfinden. Es ist vielmehr auf alle Umstände des

Einzelfalles abzustellen: „Die verfassungsrechtliche Antwort auf die kritische Situation,

welche durch die Forderung des Einzelnen entsteht, von der Erfüllung einer Rechtspflicht

dispensiert oder befreit zu werden, um das eigene Verhalten auf die dem religiösen Glauben

entstammenden ethischen Maßstäbe und Lebensentwurf auszurichten und mit ihnen in

Einklang zu bringen, kann lediglich als Resultat der Abwägung erfolgen, in welcher die

Einzelheiten jedes Sachverhalts gewürdigt werden.“1486

Die Rolle der Lehre in diesem

Zusammenhang besteht darin, allgemeine „Grundsätze der praktischen juristischen

Vernunft“1487

zu formulieren, welche bei der Interessenabwägung in konkreten Fällen

hilfreich sein können. Dabei wird weder von dem prinzipiellen Primat der Gewissensfreiheit

noch von anderen zu schützenden Rechtsgütern ausgegangen. Die einzelnen

1483

R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 77ff; F. Filmer, Das Gewissen als Argument

im Recht, Berlin 2000, S. 169. 1484

L. Prieto Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State

Relations, Conscientious objection in the EU countries, S. 95; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia

farmacéutica en España, Rom 2006, S. 38, 83. 1485

L. Prieto Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State

Relations, Conscientious objection in the EU countries, S. 92. 1486

Urteil des spanischen Verfassungstribunals, 154/2002 von 18. Juli 2002. 1487

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 22.

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392

Abwägungskriterien müssen „aus der spezifischen Sachnähe“1488

gewonnen werden. Sie

lassen sich günstigenfalls in einem längeren Entscheidungsprozess in Form der falltypischen

Entscheidungsmuster in der Weise festlegen, dass der Vorgang der Rechtsanwendung

rationaler und rechtssicherer abläuft.1489

Im folgenden seinen einige der herauskristallisierten

Kriterien der Abwägung zwischen der Gewissensfreiheit und anderen schutzwürdigen

Rechtsgüter dargestellt.

3.2. Einzelne Kriterien der Güterabwägung

3.2.1. Allgemeine Kriterien der Güterabwägung

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass bei der Einschränkung der Gewissensfreiheit das

Gewicht des infolge ihrer Betätigung bedrohten Rechtsgutes und der Grad seiner Bedrohung

d.h. die Wahrscheinlichkeit der Verletzung dieses Rechtsgutes entscheidend ist.1490

Dabei soll

erwogen werden, ob das Rechtsgut, das durch die verweigerte Rechtspflicht geschützt werden

soll, den Verfassungsrang besitzt, welche Bedeutung die verweigerte Pflicht für den Schutz

dieses Rechtsguts hat, sowie inwieweit die Gewissensfreiheit aufgeopfert werden müsste, falls

die verweigerte Rechtspflicht von dem Einzelnen erfüllt wäre.1491

Escobar Roca schlägt

dagegen vor, bei der Interessenabwägung zwischen der Gewissensfreiheit und anderen

Rechtsgütern folgende Faktoren zu berücksichtigen:1492

a) Der Grad des Gewissenszwangs in der bestimmten Sachlage und die Möglichkeit, die dem

Grundrechtsträger infolge der Verletzung seiner moralischen Überzeugungen drohenden oder

entstandenen negativen Folgen zu mildern.

b) Der Rang der Rechtsnorm, in der die verweigerte Rechtspflicht und/oder das geschützte

Rechtsgut die Rechtsgrundlage hat. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Verletzung einer

verfassungsrechtlichen Rechtspflicht schwerwiegendere Konsequenzen als die Nichterfüllung

einer gesetzlichen Pflicht hat.

1488

F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der

Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 612; siehe

auch: G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 223. 1489

R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 80. 1490

R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 155. 1491

I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State

Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 95. 1492

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 223f.

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393

c) Das Verhältnis zwischen der verweigerten Rechtspflicht und dem durch die Verfassung

geschützten Rechtsinteresse sowie die objektive Einbuße, die durch die Nichterfüllung der

verweigerten Rechtspflicht entstehen würde.

d) Die Art der sprachlichen Fassung der verweigerten Rechtspflicht, die u.U. relativ vage

formuliert werden kann.

Im Einzelnen lassen sich folgende Erwägungsmaßstäbe herauskristallisieren, welche dem

Richter bei der Interessenabwägung behilflich sein können:

3.2.2. Das Verhältnis der Gewissensfreiheit zu anderen Verfassungswerten und anderen

formalen Grundsätzen

Die Ausübung der Gewissensfreiheit muss mit Verwirklichung anderer Verfassungswerte in

Einklang gebracht werden. Dazu gehören insbesondere:

a) Die Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers1493

und die

allgemeine staatsbürgerliche Pflicht zur Rechtsbefolgung.1494

Zwischen der Gewissensfreiheit und dem im demokratischen Verfahren verabschiedeten

Recht gibt es ein unlösbarer Konflikt. Die bereitwillige Inanspruchnahme des

grundrechtlichen Schutzes fördert die Rechtsstaatlichkeit nicht. Dieser sosehr wichtige Wert

für die Demokratie ist unerlässlich, um das gesellschaftliche Klima des Vertrauens zum Recht

zu fördern. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verschafft nämlich den Bürgern die

Gewissheit, dass ihre Rechte gebührend geschützt werden. Gleichzeitig garantiert er die

Erfüllung der Rechtspflichten. Die Berufung auf Gewissensfreiheit soll somit als ultima ratio

betrachtet werden; ihre Inanspruchnahme soll erst nach Ausschöpfung aller anderen Optionen

erfolgen.1495

In diesem Zusammenhang sei der im Schrifttum unternommene Versuch erwähnt, die

Gewissensfreiheit mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, so weitgehend

einzuschränken, dass die potenzielle Gefahr der Untergrabung der Rechtsordnung beseitigt

1493

R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 89. 1494

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 284. 1495

K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 227.

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394

werden kann. Danach muss die Gewissensfreiheit des Einzelnen nicht nur im Fall aufgeopfert

werden, wenn ihre Ausübung „eine schwer zu wiedergutmachende Einbüße für ein Recht

eines Dritten nach sich zieht,“ sondern auch dann, wenn „die Allgemeingeltung des Rechts in

dem nicht zu tolerierenden Maße in Frage gestellt wird“1496

. Es ist zu untersuchen, „ob aus der

staatlichen Perspektive die absolute Beachtung einer Norm unerlässlich ist. Wenn sich diese

Allgemeingültigkeit als absolut notwendig erweist, ohne jegliche Ausnahmen zuzulassen,

weil sonst eine Vierteilung der Rechtsordnung mit dem Risiko ihrer Abreissung oder

Verletzung der Rechte Dritter eintreten würde, kann die Verweigerung aus Gewissensgründen

nicht anerkannt werden.“1497

Es sind zwar Situationen möglich, in denen absolute Befolgung

einer Rechtsnorm unabdingbar ist, um den Schutz eines gefährdeten Rechtsgutes zu sichern,

der allgemeine Hinweis auf Stabilität der Rechtsordnung wäre aber wegen des

Ausnahmecharakters der Grundrechtsschranken nicht akzeptabel. Es ist vielmehr auf konkrete

Einschränkungsvoraussetzungen anzuknüpfen,

b) Die Grundsätze der Menschenwürde und Freiheit

Bei der Interessenabwägung ist weiterhin darauf Rücksicht zu nehmen, dass die raison d‘être

des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes die maximale Sicherung der Freiheit und

Würde des Einzelnen ist. Die Verfassung baut weitgehend auf der Voraussetzung der

liberalen Philosophie vor allem auf dem Prinzip der individuellen Selbstbestimmung auf. Die

Grundsätze des Liberalismus haben daher einen hermeneutischen Wert bei der Konfliktlösung

zwischen der Gewissensfreiheit und anderen Rechtsgütern.1498

c) Der Gleichheit und der Grundsatz des Rechtsstaates

Die Befolgung der Rechtsordnung aus Gründen der Gleichheit der Bürger sowie der

Rechtssicherheit stellt einen Wert an sich dar, der bei der Güterabwägung neben den

materiellen Rechten und Gütern in Vordergrund tritt. „Wird dies entsprechend in der

gegebenenfalls erforderlichen Abwägung berücksichtigt, kommt es zur Durchbrechung der

Geltung der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung nur in wohlbegründeten Einzelfällen,

in denen ausreichende Gründe hierfür vorliegen.“1499

1496

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 256. 1497

Ebenda, S. 256. 1498

I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,

Conscientious objection in the EU countries, Madrid 1992, S. 95f. 1499

M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2009, S. 555.

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395

d) Grundsätze der Demokratie und Volkssouveränität

Die Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen bedeutet die Durchbrechung des

Prinzips, dass das im politischen Willensbildungsprozess gesetzte Recht von allen Bürgern

ausnahmslos zu befolgen ist. Aus der anderen Seite wenn anzunehmen ist, dass der

Gewissensfreiheit neben der persönlichkeitsschützenden Funktion auch „meinungsbildender

Charakter in der Demokratie“1500

zukommt, fällt dies im Rahmen der Interessenabwägung

zugunsten der Gewissensfreiheit ins Gewicht.1501

Die Rolle des Demokratieprinzips bei der

Behandlung der Einschränkung der Gewissensfreiheit ist somit zweideutig. Da die

Gewissensfreiheit als Grundrecht von dem demokratischen Gesetzgeber in die Rechtsordnung

absichtlich en bloc integriert wurde, muss angenommen werden, dass er bestimmte

Ausnahmen von Rechtsbefolgung vorgesehen hat. Die materielle Rolle der Gewissensfreiheit

in der Gestaltung der demokratischen Prozesse scheint somit dem formalen Aspekt des

Demokratieprinzips und dem Prinzip der Volkssouveränität gegenüber zu überwiegen. Dies

hat zur Folge, dass die demokratiefördernde Funktion der Gewissensfreiheit als Argument

gegen ihre Einschränkung in einem konkreten Fall sprechen kann.

e) Das Prinzip, von einer tradierten Praxis nicht ohne Grund abzuweichen.1502

Die Befolgung dieser in der Lehre aufgestellten Direktive hätte zur Folge, dass die

Gewissensfreiheit in Polen weiterhin mit Religionsfreiheit verbunden wäre: die Verweigerung

aus Gewissensgründen, insbesondere wenn ihr Ursprung in einer Weltanschauung liegt, wäre

i.d.R. nicht anerkannt. Die Säkularisierung der polnischen Gesellschaft und die damit

zusammenhängende Pluralisierung der Moralvorstellungen rechtfertigt die Änderung der

bisherigen Auslegungspraxis der Gewissensfreiheit, vor allem ihre Emanzipierung von der

Religionsfreiheit.

f) Der Grundsatz pacta sunt servanda.1503

Für die Abwägung zwischen den kollidierenden Interessen, insbesondere im Vertragsrecht,

kann nicht ohne Bedeutung sein, ob sich der Grundrechtsträger „freiwillig und

gewissermaßen sehenden Auges in die Lage begeben hat, die ihm Gewissensnot bereitet.“1504

1500

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz Zürich 2008, S. 244 1501

Ebenda, S. 244; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 152; D. Franke,

Gewissensfreiheit und Demokratie. Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114, 1989, S. 13f. 1502

R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 89; F. Filmer, Das Gewissen als Argument

im Recht, Berlin 2000, S. 285. 1503

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 285.

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396

3.2.3. Die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Einzelnen

Bei der Erwägung der Einschränkung der Gewissensfreiheit ist zu erörtern, inwieweit die

Betätigung der Gewissensentscheidung des Einzelnen im konkreten Fall für die Bewahrung

seiner Identität von Bedeutung ist und ob eine Zuwiderhandlung gegen das Gewissen die

Desintegrierung seiner Persönlichkeit zur Folge haben kann. In diesem Zusammenhang ist

aber nicht auf eine psychologische Analyse zurückzugreifen, weil eine solche Prognose ex

ante kaum realisierbar ist. Es ist vielmehr auf objektive Maßstäbe abzustellen und daraus

Rückschlüsse für die möglichen Konsequenzen der Handlung gegen das Gewissen für den

Betroffenen zu ziehen. Aus dieser objektiven Perspektive ist z.B. anzunehmen, dass die

Zahlung einer Geldsumme für ein gewissenswidriges Ziel die Persönlichkeit weniger tangiert,

als das persönliche Tun.1505

Darüber hinaus ist zwischen der absoluten und relativen Verletzung der Gewissensfreiheit zu

unterscheiden. Die absolute Verletzung der Gewissensfreiheit besteht in der Auferlegung dem

Einzelnen einer Verpflichtung unter Androhung einer Sanktion, gegen sein Gewissen zu

handeln. Im Fall der relativen Verletzung der Gewissensfreiheit stellt dagegen das mit dem

Gewissen des Einzelnen unvereinbare Tun oder Unterlassen zwar keine Rechtspflicht dar, es

wird aber zur Voraussetzung für die Einräumung einer Begünstigung gemacht. Wenn auch

der Einzelne die Freiheit hinsichtlich der Erfüllung dieser Voraussetzung behält, ist seine

Position im Vergleich zu denjenigen ungünstiger, die seine Überzeugungen nicht teilen.

Nichtsdestoweniger ist der Eingriff in den Gewissensbereich des Individuums im Fall der

relativen Verletzung weniger schwerwiegend als im Fall der absoluten

Grundrechtsbeeinträchtigung. Deshalb lässt sich die Beschränkung der individuellen Freiheit

hinsichtlich der relativen Eingriffe leichter rechtsfertigen.1506

3.2.4. Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts

Aus dem Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit, die Unversehrtheit der persönlichen

Integrität und Identität des Einzelnen zu schützen, ergibt sich das Postulat, dass sowohl der

1504

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 501. 1505

R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 23. 1506

R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,

S. 490.

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397

Staat als auch der Einzelne gehalten sein soll, den Gewissenskonflikt möglichst zu vermeiden.

Die Beziehung des Staates und der Grundrechtsträger zueinander basiert auf gegenseitigen

Loyalitätspflichten; danach kann vom Staat erwartet werden, dass er dem Einzelnen ein

„System von Toleranzen und partiellen Entpflichtungen“1507

bereitstellt, während vom

Individuum zu erwarten ist, dass es im Rahmen der von der Rechtsordnung angebotenen

Möglichkeiten, den Gewissenskonflikt zu vermeiden strebt. „Wer ihn etwa suchen sollte,

begibt sich damit in eine von der Verfassung nicht gebilligte und mithin auch ihren Schutz

nicht genießende Position.“1508

Wenn dagegen feststeht, dass der Konflikt für den Einzelnen

unvermeidbar ist, muss geprüft werden, ob es in den konkretem Fall Handlungsalternativen

gibt und ob sie für das Gemeinwesen tragbar sind. Falls der Gesetzgeber die

Standardalternative nicht bereitstellt, müssen die Lösungen fallbezogen erarbeitet werden.

3.2.5. Art der verweigerten Rechtspflichten

Bei der Interessenabwägung der kollidierenden Rechtsgüter ist die soziale Begründung der

verweigerten Rechtspflicht von fundamentaler Bedeutung. Anhand der durch ihre Erfüllung

begünstigten Subjekte ergibt sich die folgende Kategorisierung:1509

a) paternalistische bzw. perfektionistische Rechtspflichten

Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist anzuerkennen, solange der Interessenbereich der

Betroffenen nicht überschritten wird. Im Fall der sog. paternalistischen oder

perfektionistischen Rechtspflichten, d.h. derjenigen, die ausschließlich dem Interesse der

Verpflichteten dienen, soll der Vorrang der Gewissensfreiheit eingeräumt werden. Ein

Beispiel dafür bildet die Verweigerung der Bluttransfusion aus Gewissensgründen von einem

erkenntnisfähigen Erwachsenen ohne familiäre Verpflichtungen gegenüber minderjährigen

Kindern.1510

Diese Lösung erklärt sich mit dem die ganze Rechtsordnung durchdringenden

Prinzip der individuellen Autonomie: „Wenn Ideale der Selbstbestimmung und Pluralismus

nicht ausreichend sind, um jemandem das Handeln in Übereinstimmung mit seinen

1507

A. Arndt, Das Gewissen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung, in: NJW, 1966, S. 2004f. 1508

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 500. 1509

I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State

Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 96. 1510

J. D. McClean, Protection of freedom of conscience in fields other than that of military service, in: European

Consortium for Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 292, 300.

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398

moralischen Überzeugungen zu ermöglichen, und dadurch sich selbst zu gefährden, dann sind

sie wirklich nicht viel wert.“1511

b) Rechte und Freiheiten Anderer

Die Freiheit des Einzelnen in dem liberal-demokratischen Staat wird nur in möglichst seltenen

Fällen, d.h. wenn die wesentlichsten Interessen Anderer in Frage kommen, durch die

Rechtspflichten eingeschränkt. Wenn die verweigerte Rechtspflicht ein Reflex eines Rechts

der Anderen ist, soll die Gewissensfreiheit grundsätzlich zurücktreten: die Anderen müssen

die Kosten der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht tragen.1512

Wenn die

fundamentalen Interessen Anderer hinreichend bedroht oder verletzt sind, um den Eingriff in

den Bereich der individuellen Freiheit zu rechtfertigen, und wenn es keine andere Möglichkeit

der adäquaten Wiedergutmachung für erlittene Schäden vorhanden ist, kann die

Verweigerung des Einzelnen strafrechtlich geahndet werden. Die Sanktionierung erfolgt dabei

unabhängig von den Motiven des Täters,1513

obwohl im polnischen Recht die Motivation des

Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist (Art. 53 Abs. 2 StGB). Dagegen im Fall

der Verletzung (Bedrohung) der weniger wichtigen Interessen soll sich die Auferlegung einer

Sanktion für die Verweigerung aus Gewissensgründen auf die zivilrechtliche Haftungspflicht

beschränken. Darüber hinaus hat die Anerkennung des Verweigerungsrechts im Fall der

zwangsfreien Einwilligung des Berechtigten für den Eingriff in seine Rechte viel stärkere

Grundlagen als wenn er gegen seinen Willen erfolgt.1514

c) Allgemeine Gemeinwohlinteressen

Wenn durch die verweigerte Rechtspflicht das allgemeine Gemeinwohlinteresse geschützt

wird, sollen verschiedene Aspekte in Betracht gezogen werden, wie etwa die

Ersatzmöglichkeit des Verweigerers, eine vorherige freiwillige Pflichtübernahme etc. In

Bezug auf die Rechtspflichten, welche zum Schutz der öffentlichen Interessen auferlegt

werden, sind die Argumente gegen die Anerkennung des Verweigerungsrechts weniger

aussagekräftig als im Fall des unmittelbaren Eingriffs in die Rechtsinteressen der Einzelnen.

1511

J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 285. 1512

I. M. Sanchís, L‟objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State

Research, Consciencious objection in the EU countries, Madrid 1992, S. 96. 1513

J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 286. 1514

Ebenda, S. 286. Der zitierte Autor führt das Beispiel der Beihilfe zur Sterbehilfe oder zum Suizid an. Der

Täter, der glaubt – wenn auch irrend -, dass er moralisch verpflichtet ist, seinem Freund zum Freitod zu

verhelfen, soll nicht die ordentlichen Rechtsfolgen tragen. Sein Anspruch muss auch von denjenigen als sehr

stark begründet angesehen werden, die der Ansicht sind, dass die Strafsanktionen für die erwähnten Taten in der

Rechtsordnung vorgesehen sein sollen.

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399

Es kommt dabei nicht darauf an, dass die unmittelbare Identifizierung des konkreten Vorteils

des Einzelnen im Fall der öffentlichen Interessen nicht immer möglich ist, weshalb sie

weniger schutzbedürftig als bestimmte Interessen konkreter Individuen sein sollten. Relevant

ist vielmehr, dass der Schutz der abstrakten öffentlichen Interessen den größeren

Handlungsspielraum und Anpassungsmaßnahmen seitens des Staates zulässt. Dies bezieht

sich auf die Sicherung der gemeinsamen Rechtsgüter, zu deren Zugang vom Beitrag des

Einzelnen nicht abhängig gemacht wird und wo der Beitrag des Einzelnen zu ihrer

Verfügbarkeit äußerst gering ist.1515

3.2.6. Handlungs- und Unterlassungspflichten

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs in die Gewissensfreiheit

ist der Unterschied zwischen dem gewissensgetragenen Handeln und Unterlassen von

Bedeutung. Es ist zunächst grundsätzlich anzunehmen, dass die Verweigerung, eine

Handlungspflicht zu erfüllen, einen niedrigeren Grad der Gefährlichkeit für die Gesellschaft

aufweist als ein Verstoß gegen ein Handlungsverbot. Weiterhin ist dem Einzelnen

zumutbarer, die Einschränkung seines Grundrechts beim gewissenskonformen Tun

hinzunehmen als im Fall des gewissenskonformen Unterlassens. Zwischen Tun und

Unterlassen ergibt sich nämlich ein Unterschied: während das Tun in verschiedener Weise

verwirklicht werden kann, verfügt der Einzelne im Fall des Unterlassens über keine

Verhaltensalternativen. Bereits aus der subjektiven Perspektive ist die innere Dringlichkeit zu

einem gewissenskonformen Unterlassen intensiver als beim gewissensgemäßen Handeln.1516

Außerdem lässt sich der erhöhte Schutz des Unterlassens damit begründen, dass der Staat

besser in der Lage ist, sich auf einen Ausfall einer Leistung als auf ein aggressives Tun

einzustellen.1517

Das aktive Tun greift in der Regel einschneidender in die Rechtssphäre des

Einzelnen und in die öffentlichen Interessen als das bloße Unterlassen ein.1518

Es ist daher

vom allgemeinen Grundsatz auszugehen, dass die strafrechtlichen Normen, insbesondere die

Verbote, ausnahmslos zu behalten sind. Dies erklärt sich damit, dass die Existenz des Staates,

die Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen sowie das friedliche Zusammenleben und Einheit

1515

J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 287. 1516

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 163, 220. 1517

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 256. 1518

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 243; F. Filmer, Das Gewissen als Argument

im Recht, Berlin 2000, S. 220; M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des Rechts, Berlin 1989, S.

228.

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400

der Gesellschaft eine unabweisbare Voraussetzung für den Schutz der Gewissensfreiheit

darstellen.1519

3.2.7. Die Gewissensfreiheit der Funktionsträger

Bei der Bestimmung der Ausübungsfreiheit von den individuellen Gewissensentscheidungen

ist in Betracht zu ziehen, ob der Verweigerer ein Amt bekleidet oder eine Funktion ausübt. Es

besteht zwar kein Zweifel, dass die Amtsträger das Grundrecht der Gewissensfreiheit

genießen, seine Inanspruchnahme unterliegt aber wegen der ausgeübten Funktion

weiterreichenden Beschränkungen. In diesem Fall rechtfertigt sich die

Grundrechtseinschränkung sowohl mit der Freiwilligkeit der Dienstannahme als auch mit

speziellen Loyalitätspflichten des Funktionsträgers bei der Ausübung seines Amtes,

insbesondere im Prozess der Rechtsanwendung, was durch den Eid oder Versprechen bei der

Annahme eines Amtes oder einer Funktion zum Ausdruck gebracht wird.

Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass in den Fällen, in welchen keine Ersatzmöglichkeit des

Beitrages eines Funktionsträgers besteht, z.B. die Verweigerung des Präsidenten, ein Gesetz

zu unterzeichnen, kann die Freistellung von der Rechtspflicht wegen der Unersetzlichkeit

seiner Funktion nicht eingeräumt werden. Außer den klaren Fällen der Unersetzbarkeit der

Handlung eines Amtsträgers ist jedoch in der Lehre keine einheitliche Lösung für die

Behandlung der Ausübung der Gewissensfreiheit durch die Funktionsträger zu verzeichnen.

Diese Meinungsverschiedenheit sei am Beispiel der Richter gezeigt: Nach einer Ansicht

besteht die einzige Lösung für den Funktionsträger im Fall des Konflikts zwischen der von

ihm anzuwendenden Rechtsnorm und der im Gewissen anerkannten moralischen Norm in

Verzicht von der Ausübung seiner richterlichen Funktion.1520

Andere Autoren sind der

Auffassung, dass die einzelnen Verweigerungsfälle differenziert behandelt werden sollen.

Während es mit der besonderen Bindung des Richters an das Gesetz unvermeidbar wäre, dass

er eine generalisierte Verweigerung etwa gegen einen Strafentyp geltend macht. wäre

unverhältnismäßig, seine Verweigerung aus Gewissensgründen nicht anzuerkennen, wenn

feststeht, dass der Kern seiner moralischen Haltungen betroffen ist, die Verweigerung

sporadisch eintritt und die Funktionsfähigkeit der Gerichte durch die Betätigung des

1519

W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of

conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State

Research, Conscientious objection in the EC countries, S. 38. 1520

W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1986, S. 257.

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401

Grundrechts nicht bedroht ist. Dies könnte etwa im Fall der Verweigerung, eine

Genehmigung für die Abtreibung im Falle einer Minderjährigen auszustellen, bejaht

werden.1521

Die Anerkennung des Verweigerungsrechts der Richter könnte auch auf verfahrensrechtliche

Gründe gestützt werden: es ist nämlich notwendig, vorzubeugen, dass ein Richter, den ihn

quälenden Gewissenskonflikt auf eine andere Weise zu lösen versucht, die sich auf

Durchführung seiner rechtsprechenden Aufgaben negativ auswirken kann. Dies könnte etwa

durch den gewissensschonenden Gebrach des durch das Recht vorgesehenen freien Ermessens

oder durch Manipulation mit Auslegungsregeln geschehen. Da der Gewissenskonflikt des

Richters seine Unparteilichkeit und Objektivität beeinflusst, wird vorgeschlagen, im Fall der

Verweigerung aus Gewissensgründen die Verfahrensvorschriften zum Ausschluss des

Richters aus dem Verfahren wegen seines möglichen Interesses an dem Rechtsstreitergebnis

anzuwenden.1522

Für die Interessenabwägung in dem Bereich der besonderen Verhältnisse wurde im

spanischen Schrifttum1523

eine Aufteilung der Verweigerungsfälle vorgeschlagen, in welcher

die einzelnen Sachverhalte nach dem Grad der Verbindung der verweigerten Pflicht mit der

ausgeübten Funktion differenziert werden. Sie wird wegen ihrer möglichen Übertragbarkeit in

das polnische Recht dargestellt. Die einzelnen Verwigerungsfälle werden wie folgt geteilt:

a) Sachverhalte, in denen die Verbindung zwischen der öffentlichen Funktion und der

verweigerten Pflicht eng ist und die Beeinträchtigung der Interessen der Allgemeinheit bei der

Nichterfüllung dieser Pflicht gravierend ist. Sie sind als Fälle der aktiven Treuepflicht

gegenüber der Verfassung zu betrachten, in den das allgemeine Interesse überwiegen soll. Die

eventuelle Verweigerung ist mit einer Sanktion zu belegen, wobei das Grundrecht der

Gewissensfreiheit bei der Strafzumessung berücksichtigt werden soll. Diese Situation betrifft

vor allem die Träger der politischen Funktionen und Richter.

1521

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 266. 1522

C. Pérez del Valle, Prevaricación judicial y objeción de conciencia, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y

función pública, Madrid 2007, S. 310; G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio

fiscal, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 270. 1523

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 252f.

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402

b) Sachverhalte, in denen zwar eine enge Verbindung zwischen der ausgeübten Funktion und

der verweigerten Pflicht besteht, die Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen im Fall ihrer

Nichterfüllung ist aber nicht gewichtig. Hierher gehören die Fälle, wo sich die verweigerte

Pflicht nicht klar und ausdrücklich aus den das Rechtsverhältnis des Verweigerers regelnden

Normen ergibt. Das wichtigste Beispiel für diese Konstellation sind Arbeitsverhältnisse in der

Verwaltung, in welchen der Angestellte keine Funktion trägt. In dieser Situation ist geboten,

dem Betroffenen einen anderen Aufgabenbereich zuzuweisen und wenn dies nicht möglich

ist, sein Arbeitsverhältnis zu kündigen.

c) Sachverhalte, in denen die Konnexion zwischen der ausgeübten Funktion und der

verweigerten Rechtspflicht nur indirekt ist und dabei keine schwerwiegende Gefährdung der

öffentlichen Interessen vorliegt. In diesen Fällen überwiegt das Individualinteresse des

Gewissensträgers, deshalb soll seine Verweigerung nicht geahndet werden. Das Hauptbeispiel

bildet die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen durch das medizinische

Personal.

3.2.8. Erreichbarkeit des Zweckes der verweigerten Rechtspflicht

Der Staat kann bei der Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen großzügig

sein, wenn die Erreichung des durch das Gesetz zu verwirklichenden Zieles durch die

Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit nicht bedroht ist. Einer der Faktoren, welche bei der

Feststellung, ob die Allgemeingültigkeit der verweigerten Norm zu bewahren ist, in Frage

kommt, ist die Möglichkeit eines Ersatzverhaltens. Wenn die geforderte Handlung relativ

leicht zu ersetzen ist, nehmen die Gründe für die Beschränkung der Gewissensfreiheit ab. Del

Moral illustriert diese Ansicht mit dem Beispiel der Verweigerung eines Apothekers, dem

Patienten ein Mittel auszugeben, das Abtreibungswirkung haben kann. Er argumentiert, dass

die Anerkennung des Verweigerungsrechts in diesem Fall davon abhängen muss, ob ein

anderer Pharmazeut erreichbar ist, der bereit wäre, dieses Mittel zu verkaufen.1524

Ein anderes

Beispiel für die Anwendung dieses Ansatzes kann die Unterscheidung zwischen der

Verweigerung an der Schwangerschaftsunterbrechung teilzunehmen, die von einer

Krankenschwester und von einem Krankenhausdirektor geltend gemacht wird. Im zweiten

Fall ist durchaus vertretbar, die Freistellung von den gesetzlichen Pflichten nicht

1524

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 257.

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403

einzuräumen, wenn angenommen wird, dass das im Gesetz zum Ausdruck gebrachte Ziel

darin besteht, die Abtreibungsbehandlungen zugänglich zu machen.1525

Bei der Bestimmung der Erreichbarkeit eines gesetzlichen Zweckes stehen Qualitätsaspekte

mit den Quantitätsaspekten in enger Verbindung. Wenn sich z.B. jemand im Normalfall aus

Gewissensgründen weigert, sich der Pflichtimpfung zu unterziehen, kann diese Entscheidung

unter Umständen berücksichtigt werden, wenn dadurch die Gesundheit der Allgemeinheit

nicht bedroht wird. Anders wäre jedoch im Fall einer Epidemie zu entscheiden, wo jeder

Einzelne als potenzieller Krankheitsverbreiter eine akute Gefahr für die Gesundheit Anderer

darstellen kann. Die Einschränkung der Gewissensfreiheit ist auch in den Fällen zu bejahen,

wo die Mehrzahl der Verpflichteten Impfungen verweigert. Dieses Beispiel ist zwar nur

theoretisch, zeigt aber, dass bei der Schrankenziehung der Gewissensfreiheit keine allgemeine

Formel zur Verfügung steht und deshalb ist in jedem konkreten Fall unter Berücksichtigung

aller Umstände nach einer geeigneten Lösung zu suchen. Darüber hinaus ergibt sich aus dem

dargestellten Fall, dass eine vermehrte Inanspruchnahme des Grundrechts der

Gewissensfreiheit imstande ist, die Gefährdung des geschützten Rechtsgutes zu intensivieren

oder sogar die Vereitelung des gesetzlichen Zweckes herbeizuführen, was lediglich mittels

der Grundrechtseinschränkung abgewendet werden kann. Die Pflicht der Rechtsanwender, die

gesetzliche Zwecke zu erreichen, findet ihre Rechtsfertigung u. a. mit der demokratischen

Legitimation des Gesetzgebers, die soziale Wirklichkeit nach seinem souveränen Willen

effizient zu gestalten.1526

4. Der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit

Dem Gesetzgeber ist erlaubt, den Grundrechtsinhalt in dem durch die Verfassung

vorgegebenen Rahmen zu gestalten, zu konkretisieren und einzuschränken. Die

grundrechtseinschränkende Tätigkeit findet allerdings ihre Grenze in Art. 31 Abs. 3 Verf, der

bestimmt, dass bei der Einschränkung der Rechte und Freiheiten ihr Wesensgehalt nicht

angetastet werden darf. Die präzise Bestimmung des Wesensgehalts eines Grundrechts wurde

1525

J. D. McClean, Protection of freedom of conscience in fields other than that of military service, in: European

Consortium for Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 292, 298. 1526

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 257.

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404

allerdings weder in der Rechtssprechung noch in der Lehre vorgenommen. Die Anwendung

dieser Norm in Praxis hat daher einen intuitiven Charakter.1527

Es steht allerdings fest, dass

unter dem Wesensgehalt derjenige Teil der grundrechtlichen Gewehrleistung zu verstehen ist,

der absolut notwendig ist, damit der Schutz der Rechtsinteressen, die zu raison d’être des

betroffenen Grundrechts werden, faktisch, effektiv und konkret gesichert wird.1528

Es wird

somit vorausgesetzt, dass jedem Freiheitsrecht ein bestimmter Minimalgehalt innewohnt,

dessen Beeinträchtigung zur Folge hat, dass dieses Recht gänzlich beseitigt wird, d.h. seinen

praktischen Sinn verliert.1529

Der Verfassungsgerichtshof hat dies wie folgt präzisiert: „(...) im

Rahmen des Schutzbereichs jedes konkreten Rechts und Freiheit können bestimmte

Grundelemente (Kern) abgesondert werden, ohne die dieses Recht oder Freiheit überhaupt

nicht existieren kann; es lassen sich auch gewisse Zusatzelemente abzuheben, welche in

verschiedener Weise aufgefasst und modifiziert werden können, ohne dass die Identität dieses

Rechts oder Freiheit nicht zunichte geht.“1530

In einer anderen Entscheidung hat der

Verfassungsgerichtshof darauf hingewiesen, dass die Einschränkung der Rechte und

Freiheiten „keine Vernichtung der Grundelemente eines subjektiven Rechts herbeiführen darf,

indem die Aushöhlung seines wirklichen Gehalts verursacht wird und indem das Recht oder

die Freiheit ins Scheinrecht verwandelt wird.“1531

Was die Bestimmung des Wesensgehalts der Grundrechte angeht, lassen sich zwei

Grundauffassungen unterscheiden: Die erste Auffassung geht davon aus, dass das Wesen der

Grundrechte einen stabilen, unveränderlichen und von den Umständen unabhängigen Wert

darstellt. Nach dem zweiten Ansatz erfolgt die Ermittlung des Wesens der Grundrechte

anhand des konkreten Tatbestandes und der Rechtslage in der bestimmten Zeit und Ort; sein

Inhalt ist somit veränderlich. Da der Verfassungsgeber den Wesensgehalt der Grundrechte

nicht bestimmt, ist dem zweiten Ansatz beizupflichten. Dabei ist nicht möglich, den

Wesensgehalt eines Grundrechts in abstracto festzulegen. Die Beurteilung, ob in einem

konkreten Fall die Verletzung des Wesensgehalts vorliegt, obliegt vielmehr dem

1527

P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 100. 1528

Das Urteil des spanischen Verfassungstribunal STC 11 1981 vom 8. April 1981; G. Escobar Roca, La

objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 454. 1529

B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w Nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd

Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 57; D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 107;

A. Łabno, Ograniczenie wolności i praw człowieka na podstawie art. 31 Konstytucji III RP, in: B. Banaszak, A.

Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 708; P. Winczorek, Komentarz

do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, Warszawa 2000, S. 49; P. Tuleja, in: P.

Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 99. 1530

Das Urteil von 25.05.1999; Signatur: OTK ZU Nr. 4, poz. 78, S. 411. 1531

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 12.01.2000, P 11/98, OTK ZU 2000, Nr. 1, poz. 3.

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405

rechtsanwendenden Subjekt.1532

Bei der Ermittlung des Wesensgehalts der Freiheitsrechte

steht dabei dem Rechtsanwender kein operatives Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen

Hilfe seine Bestimmung möglich wäre. Darüber hinaus lässt der Wesensgehalt eines

Grundrechts keine Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Rechtsgütern zu. Dies führt

zum Ausschluss der Anwendbarkeit in diesem Bereich der Auslegungsregel der praktischen

Konkordanz.1533

Unter Berücksichtigung des oben Gesagten ist nun den Wesensgehalt des Grundrechts der

Gewissensfreiheit zu ermitteln. Der Anhaltspunkt dafür ist das durch die Gewissensfreiheit

geschützte Rechtsgut also die moralische Selbstbestimmung, Identität und Integrität des

Einzelnen. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Grundrecht seine praktische Bedeutung

verlieren würde, wenn es so weitgehend eingeschränkt wäre, dass die Zuwiderhandlung gegen

das Gewissen mit einer großen Gefahr für die persönliche Autonomie verbunden würde sowie

gravierende psychische Schäden dem Betroffenen herbeiführen könnte. Dies ist vor allem in

denjenigen Fällen zu bejahen, wenn das Verweigerungsrecht gegen positive Rechtspflichten,

deren Erfüllung das Gewissen des Einzelnen unmittelbar verletzen würde, nicht gewährt wäre.

Beizupflichten ist daher der Meinung, wonach der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit

„zumindest das Recht enthalten soll, diejenigen öffentlich-rechtliche Pflichten nicht zu

erfüllen, welche eine direkte Handlung des Einzelnen voraussetzen.“1534

Zum Wesensgehalt

der Gewissensfreiheit gehören somit die Verweigerungsfälle der Tötung und zwar sowohl im

Zusammenhang mit der Durchführung der Abtreibung (wenn keine direkte Gefahr für das

Leben der Schwangeren besteht), als auch in Verbindung mit dem Kriegsdienst in der

Kriegszeit. Weiterhin ist dem Wesensgehalt der Gewissensfreiheit die Verweigerung der

Bluttransfusion (im Fall eines Erwachsenen ohne familienrechtliche Verpflichtungen) sowie

die Verweigerung der Eidesleistung zuzuordnen. Im Gegenteil gehört nicht zum

Wesensgehalt der Gewissensfreiheit die Verweigerung der Erfüllung von privatrechtlichen

Pflichten, insbesondere denjenigen vom arbeitsrechtlichen Charakter, wenn sie freiwillig

eingegangen wurden. Ein Orientierungsmaßstab bei der Entscheidung, ob der Wesensgehalt

der Gewissensfreiheit in einem Fall berührt ist, bildet hier das Vorhandensein der

Ausweichmöglichkeit des Verweigerers. Dem Verweigerer, der in ein Rechtsverhältnis

1532

B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 333; Moncada Zapata,

Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte Constitucional Colombiana,

in: Derecho PUC, Nr. 53, Jahr 2000, S. 157. 1533

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 452. 1534

H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,

S. 14; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución española, Madrid 1993, S. 454.

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freiwillig eingegangen ist, steht die Möglichkeit offen, dieses Verhältnis aufzugeben.1535

Darüber hinaus bleiben außer dem Kernbereich der Gewissensfreiheit die sog. relativen

Pflichten, also die Erfordernisse, deren Erfüllung eine Voraussetzung für die Einräumung von

Vorrechten und Begünstigungen darstellen, sowie diejenigen Rechtspflichten, wie

Steuerzahlung und Wehrdienst in Friedenszeiten, bei deren Erfüllung die moralische

Selbstbestimmung des Einzelnen zwar beeinträchtigt, aber nicht zerstört wird.

Zum Schluss ist die von Hilti vertretene Konzeption des Wesensgehalts der Gewissensfreiheit

zu erwähnen. Danach ist der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit grundsätzlich mit ihrem

forum internum identisch. Dieser Ansatz wird damit begründet, dass der interne Bereich der

Gewissensfreiheit absolut geschützt wird. Gemäß dem zitierten Autor wäre der Kernbereich

der Gewissensfreiheit auch dann verletzt, wenn eine Einschränkung des Rechts auf

Bekenntnis des Gewissensinhalts einer Zensur gleichkommen würde. Die Ausdehnung des

Wesensgehalts der Gewissensfreiheit auf das Bekenntnis der Gewissensentscheidungen ist

dabei die Konsequenz der Betrachtung dieses Grundrechts als ein

Kommunikationsgrundrecht. Die übrigen Betätigungsformen der Gewissensfreiheit werden

dagegen von Hilti außerhalb des Kerngehalts des Grundrechts situiert.1536

Dem zitierten Autor

ist dahingehend beizupflichten, dass der Schutz des inneren Bereichs des Gewissens mit der

Persönlichkeit des Individuums so eng verbunden ist, dass er dem Kerngehalt der

Gewissensfreiheit zuzuordnen ist. Es ist aber der Behauptung nicht zu folgen, dass das Recht,

den Inhalt der Gewissensentscheidung zu äußern, dem Wesensgehalt der Gewissensfreiheit

gehört und deshalb einen uneingeschränkten Schutz genießen soll. Im Fall der Einschränkung

der Äußerungsfreiheit in den moralischen Fragen ist der vom Einzelnen erlittene Schaden für

seine Identität oder die Beeinträchtigung seiner Autonomie nicht so tiefgreifend, um der

absolute Schutz dieses Rechts zu begründen.

5. „Weltanschauungsneutrale“ Gesetze als Grenze der Gewissensfreiheit

Der Verfassungsgerichtshof und die Konventionsorgane der EMRK unternehmen den

Versuch, den Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit durch die Art der

1535

G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 250. 1536

M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 237.

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kollidierenden Rechtspflichten einzugrenzen. Diesem Ansatz steht der Gedanke im

Vordergrund, dass dem Einzelnen nicht erlaubt sein soll, sich auf die Glaubens- und

Gewissensfreiheit zu berufen, um von der Befolgung der allgemeinen und für alle geltenden

Gesetze loszukommen; niemand soll die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten

verweigern können, die keine religiösen oder weltanschaulichen Implikationen aufweisen.1537

Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat wiederholt betont, dass Art. 9 EMRK

vor allem die private Sphäre der persönlichen Überzeugungen schützt. Das Recht, sich in der

öffentlichen Sphäre so zu benehmen, wie es der Glaube oder das Gewissen fordert, wird

dagegen nicht in allen Fällen gewährt. Dabei bezieht sich die Kommission auf die

„Arrowsmith“ Entscheidung,1538

in der festgestellt wurde, dass der Begriff „practice“ in Art. 9

Abs. 1 EMRK nicht jede Handlung erfasst, die von der Religion oder Weltanschauung

beeinflusst oder motiviert ist.1539

Bei der Einschränkung des Schutzbereichs der Glaubens-

und Gewissensfreiheit bedienen sich die Konventionsorgane des Begriffes „generally

aplicable and neutral laws“, ohne zu präzisieren, wie dieser Begriff zu verstehen ist.1540

Das

Hauptbeispiel für eine weltanschauungsneutrale Rechtspflicht ist die Steuerpflicht; in der

Rechtsprechung der Kommission wird sie als eine neutrale Verpflichtung bezeichnet, die

jedermann trifft und keine Implikationen für das Gewissen des Einzelnen mit sich bringt.

Diese Qualifizierung findet in Art.1 des 1. ZP, wo die Steuerpflicht als eine allgemeingültige

Rechtspflicht ausdrücklich anerkannt worden ist, ihre Bestätigung.

Die Frage der Auswirkungen der weltanschauungsneutralen Gesetze auf Religionsfreiheit

hatte auch der polnische Verfassungsgerichtshof zu erörtern. Der Beschwerdeführer hat

argumentiert, dass Art. 134 der Verordnung des Wehrministers von 19.12.1996 über

Wehrdienst der Berufsoldaten1541

, wonach die Kündigung des Wehrdiensts während der

Periode des sog. Pflichtdienstes von Berufssoldaten nur unter Voraussetzung der vorherigen

Rückerstattung der Studienkosten in der Militärschule möglich ist, u. a. mit Art. 53 Verf.

unvereinbar ist. Für den Beschwerdeführer, der den Militärdienst wegen der angenommenen

1537

L. E. Pettiti, La Convention européenne des droits de L‟homme et des libertés fondamentaux, commentaire

article par article Paris 1995, Art. 9, S. 355. 1538

Arrowsmith v UK (1978) 3 EHRR 218. 1539

App. 10358/83, DR 37, 142, 147. 1540

Z.B. C.v. United Kingdom, App. 10358/83, D.R. 37, para. 142; Konttinen v. Finland, App. 24949/94, D.R.

87 – A. 1541

Dz. U. von 1997 Nr. 7 poz. 38; die Änderung von 1998, Nr. 153, poz. 1004.

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religiösen Grundsätze verlassen wollte, war diese Voraussetzung aus finanziellen Gründen

nicht erfüllbar. Der Verfassungsgerichtshof hat das Vorliegen des Sachzusammenhangs

zwischen der beanstandeten Vorschrift und der Religionsfreiheit mit dem Argument verneint,

dass die zitierte Verordnung die Problematik der Religionsfreiheit überhaupt nicht regelt. Bei

der Bestimmung der Rechtslage der Soldaten legt sie nämlich keine

weltanschauungsrelevanten Kriterien fest. Die Regelungen der Leistung des Kriegsdienstes

und seiner Verlassung wirkt zwar unmittelbar und beschränkend auf verschiedene

Freiheitsrechte der Betroffenen aus, der bestrittenen Vorschriften wohnt aber kein

spezifisches Element inne, das die Erörterung des Streits im Kontext der Religionsfreiheit

begründen würde.1542

In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, welche Gesetze als religiös und

weltanschaulich neutral bezeichnet werden können und ob dieses Kriterium überhaupt

geeignet ist, um den Schutzbereich der Gewissensfreiheit abzugrenzen. In erster Linie werden

aus diesem Bereich diejenigen Rechtsakte ausgeklammert, welche religiöse Angelegenheiten

und das mit einem Glauben oder Weltanschauung unmittelbar verbundene Verhalten

normieren. Zu der Kategorie der religions- und weltanschauungsneutralen Rechtsakte gehören

auch diejenigen Gesetze nicht, die durch ihren Zweck, Auslegung oder Anwendung eine

Religion oder Weltanschauung diskriminieren. Aus dieser negativen Ausgrenzung ergibt sich,

dass die religiös und weltanschaulich neutralen Gesetze diejenigen Rechtsakte sind, welche

beim Verfolgen eines legitimen, „weltlichen“ öffentlichen Interesses, das Gewissen oder den

Glauben des Einzelnen als Nebenfolge beeinträchtigen.1543

Die Übertragung dieser Ansicht auf das Recht auf Gewissensfreiheit hätte zur Folge, dass

dem Einzelnen, dessen Gewissensentscheidung mit dem Zweck des weltanschaulich neutralen

Gesetzes kollidiert, grundsätzlich keinen Anspruch auf Freistellung von allgemeinen

Rechtspflichten oder auf Bereitstellung von Alternativen zusteht. Wenn die weltanschaulich

neutralen Gesetze alle diejenigen Gesetze sind, die den Einzelnen Pflichten oder Verbote

1542

TK.16.02. 1999, SK 11/98. 1543

S. Stavros, Freedom of Religion and Claims for Exemption from Generally Applicable, Neutral Laws:

Lesson from Across the Pond?, in: European Human Rights Law Review, 1997, S. 610f.

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409

auferlegen, ohne sich gegen eine bestimmte Religion oder Weltanschauung als solche zu

richten, findet der Schutzbereich der Religions- und Gewissensfreiheit seine Grenzen an der

allgemeinen gesetzlichen Ordnung.1544

Die Anknüpfung bei der Bestimmung des

Schutzbereichs der Gewissensfreiheit an neutrale Rechtsakte nähert sich damit dem Ansatz

Herdegens von dem normativ bestimmten Verantwortungsbereich des Einzelnen. Danach

kann eine vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasste Gewissensentscheidung nur

dann vorliegen, wenn sie den vom positiven Recht bestimmten Verantwortungsbereich des

Gewissensträgers betrifft. Die Bestimmung des persönlichen Verantwortungsbereichs soll

gemäß dieser Auffassung in den kompetenzrechtlich abgesteckten Verantwortungsbereich

von Staatsorganen verortet sein, also nach objektiven Maßstäben erfolgen.1545

Dieser Lösung ist entgegenzuhalten, dass Grundrechte einen bestimmten Lebensbereich vor

den Eingriffen sowohl seitens der Exekutive als auch seitens der Legislative schützen sollen.

Dies ist besonders von Bedeutung, wenn in Betracht gezogen wird, dass in einem modernen

Staat das Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich der dem Einzelnen

zur freien Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Damit nehmen auch die

Möglichkeiten zu unterschiedlichen religiösen und gewissensgemäßen Lebensführungen ab.

Es soll dabei nicht darauf ankommen, ob diese Verengung des individuellen Freiraums von

dem Gesetzgeber absichtlich oder nicht gewollt ist; die Grundrechte müssen auch für nicht

zielgerichtete Eingriffe des Staates eine Abwehrmöglichkeit bieten. Darüber hinaus ist zu

berücksichtigen, dass die religiöse und moralische Homogenität der einzelnen Gesellschaften

infolge verschiedener Erscheinungen wie Ausländerzuzug, Auftreten neuer religiösen und

weltanschaulichen Gruppierungen oder größere Mobilität der Bevölkerung verloren geht. Die

genannten sozialen Veränderungen haben zur Folge, dass neue oder bisher unbekannte

Religionsausübungsformen sowie Gewissensentscheidungen auftreten (können), welche

besonders anfällig sind, mit den weltanschauungsneutralen Normen in einen Konflikt zu

geraten.1546

1544

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 85. 1545

M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des Rechts, Berlin 1989, S. 258. 1546

N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 85f.

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Gegen diesen Ansatz spricht auch die Tatsache, dass Regelungen, die keinen Bezug auf

Religion oder Weltanschauung nehmen und in diesem Sinne neutral sind, unter Umständen

die Ausübungsfreiheit einer Religion oder Weltanschauung wesentlich beschränken können.

In den demokratischen Staaten erfolgen die Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die

Diskriminierung häufig nicht als direkte Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des

Einzelnen, sondern gerade als Nebenfolge der religionsneutralen Gesetzgebung.1547

Die

Verneinung der Existenz eines Konflikts zwischen einem neutralen Gesetz und der

Gewissensfreiheit ist weder akzeptabel noch notwendig. Die eventuelle Einschränkung der

Gewissensfreiheit ist vielmehr ausschließlich aus der Perspektive der Schrankenklausel zu

behandeln.1548

Das Kriterium der weltanschauungsneutralen Gesetze ist somit für die

Abgrenzung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit ungeeignet. Der Schutzbereich des

Grundrechts würde viel zu eng eingegrenzt, infolgedessen würde die Gewissensfreiheit ihre

Funktion, einen bestimmten Lebensbereich vor staatlichen Eingriffen zu schützen, nicht mehr

wirksam erfüllen. Bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist vielmehr

an die Art und Weise der Grundrechtsausübung selber anzusetzen. Wenn die

Gewissensfreiheit einen spezifischen Lebensbereich schützen soll, gilt es, diesen in seinen

Charakteristika zu erfassen und nicht auf grundrechtsexterne Momente wie gewissensneutrale

Gesetze abzustellen.

6. Einzelne Einschränkungstatbestände des Grundrechts der

Gewissensfreiheit

6.1. Allgemeines

Art. 53 Abs. 5 i. V. m. Art. 31 Abs. 3 Verf. gestattet den Eingriff in das Recht auf Ausübung

einer Religion oder Weltanschauung unter den dort aufgezählten Voraussetzungen: Der

Eingriff muss von einem Gesetz vorgesehen sein, einen bestimmten Zweck verfolgen sowie

„notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ sein. Die ansehnliche Abstraktheit der

einzelnen Einschränkungsgründe hat zur Folge, dass sie nach dem Grundsatz exceptiones non

1547

R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,

S. 487. 1548

J. Torrón Martínez, El derecho internacional y las objeciones de conciencia, in: Instituto de Investigaciones

Jurídicas UNAM, Objeción de conciencia, México D.F. 1998, S. 135.

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411

sunt extendendae eng auszulegen sind. Zu den konkreten Voraussetzungen für die

Grundrechtseinschränkung können daher nur diejenigen Gründe werden, die sich deutlich aus

dem Wortlaut der Einschränkungsklausel ergeben, und welchen eine allgemeinübliche

Bedeutung zugeschriben wird.1549

6.2. Das geltende Recht

In der polnischen Lehre wurde die Ansicht geäußert, dass die Ausübung der Religions- und

Gewissensfreiheit auf die Verweigerung der Erfüllung der öffentlichen Pflichten nicht

ausgedehnt werden kann. Dies wird damit begründet, dass die in der Verfassung vorgesehene

Pflicht, das geltende Recht zu befolgen und die sich aus den Rechtsvorschriften ergebenden

Pflichten zu erfüllen, jedermann betrifft.1550

Diese Ansicht findet ihre Stütze in Art. 3 Abs. 2

des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, wonach die

Inanspruchnahme der grundrechtlichen Gewehrleistungen zur Nichterfüllung der gesetzlichen

Pflichten nicht führen darf. Gemäß dieser Bestimmung kann daher keine ausdrücklich nicht

anerkannte Modalität der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine gesetzliche Pflicht zu

erfüllen, durch Glaubens- und Gewissensfreiheit geschützt werden. In diesem Zusammenhang

erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit sich die betroffene Regelung mit dem Grundrecht

der Gewissensfreiheit vereinbaren lässt.

Um diese Frage zu beantworten, ist davon auszugehen, dass die höchstrangige Stellung der

Verfassung innerhalb der Rechtsordnung die Notwendigkeit begründet, das

unterverfassungsrechtliche Recht in Einklang mit der Verfassung auszulegen. Der

Rechtsanwender soll nämlich diejenige Interpretationsalternative der gesetzlichen

Bestimmungen wählen, welche mit den Verfassungsnormen im höchsten Grade harmonisiert.

Dabei kommt die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Norm zum Zuge. Sie hat zum

Ziel, das Gesetzeswerk innerhalb des Möglichen zu erhalten und die Entstehung der

Gesetzeslücken zu vermeiden. Diese Vorgehensweise ist Ausdruck der Achtung der

1549

A. Redelbach, Prawa naturalne – Prawa człowieka – Wymiar sprawiedliwości, Toruń 2000, S. 353. 1550

M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo prawne, Warszawa 1999, S. 284.

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Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers hinsichtlich des Inhalts des gesetzten

Rechts.

Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des unterverfassungsrechtlichen Rechts findet

allerdings Anwendung nur hinsichtlich der Rechtsakte, die nach dem Inkrafttreten der

Verfassung verabschiedet worden sind.1551

Dieses Argument greift allerdings in Bezug auf

das Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht: dieses Gesetz

wurde zwar im Jahre 1989 also vor Inkrafttreten der Verfassung von 1997 verabschiedet,

wurde aber seither, auch unter Geltung der „neuen“ Verfassung, mehrmals novelliert. Dies

legt den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber die fragliche Vorschrift auch nach Inkrafttreten

der Verfassung beibehalten wollte. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit ist daher auf

das Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit zu erstrecken.

Weiterhin ist die Harmonisierung einer gesetzlichen Vorschrift mit der Verfassung möglich,

solange sie nicht unwiderleglich verfassungswidrig ist. Erst im Fall der offensichtlichen

Unvereinbarkeit einer unterverfassungsrechtlichen Norm mit der Verfassung ist sie als

verfassungswidrig anzusehen. Die Grenze der Auslegung gemäß der Verfassung ist erreicht,

wenn der Interpret durch die Änderung des eindeutigen Inhalts die „Vervollständigung“ der

Norm sucht, um sie an die Verfassung anzupassen.

Die Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit macht den Schutzumfang der Gewissensfreiheit von den jeglichen Umfang

der gesetzlichen Pflichten abhängig und deshalb veränderlich. Infolge der Anwendung dieser

Vorschrift wäre der Schutz der durch das Gesetz nicht ausdrücklich anerkannten Modalitäten

der Verweigerung aus Gewissensgründen völlig ausgeschlossen. Da der Schutzbereich der

Gewissensfreiheit von der gesetzgeberischen Tätigkeit gänzlich abhängen würde, steht diese

Schranke der Gewissensfreiheit dem Gesetzesvorbehalt gleich. Gemäß Art. 53 Abs. 5 Verf.

steht jedoch die Religions- und Gewissensfreiheit unter keinem Gesetzesvorbehalt. Die

Einschränkungsklausel des Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und

Bekenntnisfreiheit lässt sich somit als zu weitreichend mit der verfassungsrechtlichen

Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit nicht vereinbaren. Aus diesem Grund ist Art. 3

1551

H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,

Santiago de Chile 2006, S. 135.

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413

Abs. 2 des Gesetzes über Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als

verfassungswidrig anzusehen.

6.3. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage der Grundrechtseinschränkung

Art. 31 Abs. 3 Verf. bestimmt, dass Einschränkungen der Rechte und Freiheiten nur in einem

Gesetz beschlossen werden dürfen. Das Gesetz muss dabei hinreichend bestimmt sein, d.h. es

muss dermaßen präzise formuliert sein, sodass der Bürger sein Verhalten danach ausrichten

kann. Das Erfordernis, dass die Einschränkung der Rechte und Freiheiten nur durch das

Gesetz eingeführt werden kann, ist buchstäblich d.h. als Verbot der Subdelegation der

Kompetenz auf ein anderes Organ und als Ausschließung der Möglichkeit der Einschränkung

der Freiheitsrechte im Wege der das Gesetz vollziehenden Verordnung auszulegen.1552

Hat

aber der nationale Gesetzgeber einige seiner Kompetenzen auf die EU übertragen, ist als ein

„Gesetz“ nach Art. 9, Abs. 2 EMRK auch eine Verordnung oder Richtlinie der EU

anzusehen.1553

Nach einer anderen Ansicht umfasst die gesetzliche Grundlage der Grundrechtseinschränkung

nicht nur die Situationen, wo das Gesetz eine einzige Quelle der Einschränkung eines

Grundrechts darstellt, sondern auch diejenigen Fälle, in welchen das Gesetz nur

grundsätzliche Elemente der Einschränkung vorsieht, für ihre Entfaltung und Ergänzung

verweist es dagegen auf eine untergesetzliche Rechtsnorm.1554

Dem ist insoweit zuzustimmen,

dass die Regelung der Grundrechtseinschränkung auf der untergesetzlichen Ebene lediglich

zweitrangige, d.h. technische und organisatorische Aspekte enthalten darf.1555

Die

Voraussetzung der Bestimmtheit des grundrechtseinschränkenden Gesetzes bezieht sich auch

auf die Rechtsnormen, die den Behörden Ermessen einräumen; in diesem Fall muss die

Reichweite und Grenzen des überlassenen Spielraums angegeben werden. Das Gesetz muss

die Vorhersehbarkeit der möglichen Grundlagen und Maßnahmen der Einschränkung der

1552

Das Urteil des Verfassungsgerichshofs von 19. Mai 1998, U 5/97. OTK, von 30.06.1998, Nr. 4 (19); D.

Górecki, Polskie prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 90. 1553

A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht

der Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München, 1995, S. 127. 1554

B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 176, Rn. 6; K.

Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999, S. 110. 1555

P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 98.

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Grundrechte und der Grundfreiheiten sichern.1556

Bei der Feststellung der Anforderungen der

Bestimmtheit kommt es auf Einzelfälle an.

6.4. Staatssicherheit

Der Begriff der Staatssicherheit bezieht sich auf Restriktionen, die zum Schutz der Existenz

des Staates, seiner territorialen Integrität, politischer Unabhängigkeit von einer fremden

Gewalt oder gegen Drohung der Gewaltanwendung dienen.1557

Nach einem weiteren

Verständnis der Staatssicherheit wird die Rechtseinschränkung auch im Fall der inneren

Gefahr bejaht. Es handelt sich dabei vor allem um Bekämpfung der Spionage- und

Diversionstätigkeit, die durch Aufklärungsdienst anderer Staaten vorgenommen wird.1558

Nach einem Ansatz wird die Bedeutung der ordnungsgemäßen Tätigkeit des Staatsapparates

stark hervorgehoben. Danach macht die Stabilität und Beständigkeit des Staates und seiner

institutionellen Organisation das Wesen der Staatssicherheit aus. Folglich sind unter der

Staatssicherheit diejenigen Bedingungen zu verstehen, die „den Frieden, Stabilität,

Unabhängigkeit und Souveränität des Staates sowie eine ruhige, freie Aktivität seiner

Repräsentanten, Funktionäre und Angestellten in der Ausübung ihrer Funktionen

garantieren.“1559

Die Bedrohung der Staatssicherheit kann danach auch potenzialen Charakter haben. Deshalb

können die Maßnahmen zur Gewährung der Staatssicherheit auch in Zeiten des Friedens, etwa

um das Wehrpotenzial des Staates zu sichern, gerechtfertigt werden. Die Bedrohung der

Staatssicherheit muss sich aber gleichzeitig auf alle konstitutiven Elemente des Staates

erstrecken. Es muss sich also nicht nur um etwa Sicherheit der Staatsgewalt, sondern auch des

Staatsgebiets und des Staatsvolkes handeln. Diese Voraussetzung dient der Vorbeugung des

1556

A. Redelbach, Sądy a ochrona praw człowieka, Toruń 1999, S. 321. 1557

S. Detrick, A Commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, The Hague 1999, S.

27. 1558

E. Ura, E. Ura, Prawo administracyjne, Warszawa 1999, S. 327. 1559

C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 121.

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415

Missbrauchs der Einschränkungsklausel.1560

Art. 31 Abs. 3 Verf., bestimmt zusätzlich, dass

die Einschränkungen der Grundrechte zum Schutz der Sicherheit des demokratischen Staates

notwendig sein müssen. Dem ist zu entnehmen, dass der Begriff der Staatssicherheit die

Freiheit von gewaltsamer Bedrohung des demokratischen Systems beinhaltet. Die

Handlungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unterliegen dem Schutz der

Gewissensfreiheit nicht. Dies erklärt sich damit, dass Grundrechte dem Einzelnen einen

rechtlichen Status zuweisen, der sich im Rahmen der Verfassungsordnung einfügt und zur

Disposition über diese Ordnung nicht befugt. „Der Gebrauch der vom Verfassungsstaat

gewährleisteten Grundrechte zum Zweck der Bekämpfung des Verfassungsstaates ist ein

Widerspruch in sich, den die Verfassung weder wollen kann, noch will.“1561

Die Einschließung der Einschränkungsklausel der Staatssicherheit in die

verfassungsrechtliche Verbürgung der Gewissens- und Religionsfreiheit wird gelegentlich als

Relikt des sozialistischen Systems, in welchem vom Vorrang des Staates über die Rechte des

Einzelnen ausgegangen wurde, kritisiert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass durch ihre

Verankerung in der Verfassung von den in Art. 9 Abs. 2 EMRK festgelegten demokratischen

Standards abgewichen wurde, wonach die Beschränkung der Glaubensfreiheit zum Schutz der

öffentlichen Sicherheit und nicht zum Schutz der Staatssicherheit eingeschränkt werden

kann.1562

6.5. Öffentliche Ordnung

Im Schrifttum werden zahlreiche Definitionsversuche der „öffentlichen Ordnung“

vorgenommen. Nach einer Ansicht bezieht sich dieser Begriff auf die Einschränkung der

Freiheitsrechte im Interesse der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Institutionen, die für das

1560

K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,

S. 186. 1561

H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl

Doehring, Berlin 1989, S. 498; Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ wird auch im polnischen Schrifttum

vertreten; siehe:Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, S. 98; J. Karp, Bezpieczeństwo państwa (Art. 26, 126), in:

W. Skrzydło, S. Grabowska, R. Grabowski, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz

encyklopedyczny, Warszawa 2009, S. 109. 1562

A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007,

Band 10, S. 344; J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 62; H. Misztal, P. Stanisz,

Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 197.

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416

Gemeinwesen erforderlich sind.1563

Nach einer anderen Meinung ist unter diesem Begriff der

faktische Zustand innerhalb eines Staates zu verstehen, „der durch Rechtsnormen aber auch

durch außerrechtliche Normen (z.B. sittliche Normen, „Grundsätze des gesellschaftlichen

Zusammenlebens“) geregelt ist und dessen Aufrechterhaltung das normale Zusammenleben

der Einzelnen im Rahmen der staatlichen Organisation ermöglicht.“1564

Es wird ebenfalls

vertreten, dass unter öffentlicher Ordnung eine Direktive derartiger Organisation des

öffentlichen Lebens zu verstehen ist, welche das minimale Niveau der Berücksichtigung der

öffentlichen Interessen, darunter auch der bestimmten wirtschaftlichen Interessen, sichert.1565

Die öffentliche Ordnung setzt die Organisierung der Gesellschaft auf der Basis der von ihr

geteilten Werte voraus.1566

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass lediglich diejenigen Werte die

öffentliche Ordnung zu konstituieren vermögen, die einen gewissen Grad an Beständigkeit

aufweisen.1567

Der Begriff der öffentlichen Ordnung bezieht sich auf das System der

öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und sozialen Verhältnisse, dessen Zweck darin besteht,

das Leben, die Gesundheit und das Eigentum der Bürger zu schützen, die Funktionsfähigkeit

der öffentlichen und privaten Institutionen, Unternehmen und Anstalten zu sichern, sowie

verschiedenartige gefährliche und ungelegene Beschwerlichkeiten für die Gesellschaft und für

die Einzelnen zu beseitigen.1568

In allen dargestellten Definitionsversuchen der öffentlichen Ordnung treten das harmonische

Zusammenleben der Einzelnen in der Gesellschaft und das ordnungsgemäße Funktionieren

des Staates und der Gesellschaft als ihre konstitutiven Merkmale in Vordergrund. Der Begriff

der öffentlichen Ordnung bezieht sich somit sowohl auf Interessen des Einzelnen, die nicht im

Begriff „Rechte und Freiheiten Anderer“ umfasst sind, also den Charakter des subjektiven

1563

S. Detrick, A Commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, The Hague 1999, S.

27. 1564

K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,

S. 188. 1565

Ebenda, S. 190, 200. 1566

M. Wyrzykowski, Granice władzy, in: Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 50. 1567

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 255. 1568

S. Bolesta, Pojęcie porządku publicznego w prawie administracyjnym, Studia Prawnicze, Nr. 1, 1983, S.

236.

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417

Rechts nicht innehaben, als auch auf die Interessen der Allgemeinheit (z.B. staatliches

Eigentum).1569

Nach einer Ansicht kann die Einschränkung der Verweigerung der Erfüllung von öffentlichen

Pflichten aus Glaubens- oder Gewissensgründen mit der Berufung auf den Schutz der

öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden.1570

Dem ist insoweit beizupflichten, dass die

Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit insbesondere von Funktionsträgern und Beamten zur

Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe und Behörden führen kann.

Der Rückgriff auf die öffentliche Ordnung darf sich allerdings nicht in die Einführung eines

allgemeinen Gesetzesvorbehalts umwandeln.

6.6. Gesundheit

Bei der Einschränkung der Gewissensfreiheit zum Schutz der Gesundheit ist vor allem an

solche Fälle zu denken, in denen Menschen gezwungen werden, schwere und ansteckende

Krankheiten behandeln zu lassen oder ihnen durch Impfungen vorzubeugen, obwohl sie aus

Glaubensgründen medizinische Eingriffe ablehnen.1571

Es kann sich ebenfalls um Sicherung

der Pflege für Kranke oder Verletzte handeln. Die Einschränkungsklausel der Gesundheit

deckt sich am häufigsten mit dem Einschränkungstatbestand des Schutzes der Rechte und

Freiheiten Anderer.

Fraglich ist allerdings, ob diese Einschränkungsgrundlage nur kollektive Gesundheit

beinhaltet oder ob sie ebenfalls auf den Schutz individueller Gesundheit auszudehnen ist, vor

allem in den Fällen, wo sich der Einzelne freiwillig den gesundheitsgefährdenden religiösen

Handlungen oder Riten unterwirft. Die polnische Verfassung enthält diesbezüglich keinen

Hinweis, weil dort lediglich von Gesundheit die Rede ist, ohne nähere Bestimmung, ob es

sich um öffentliche oder individuelle Gesundheit handelt.1572

In der Lehre wird gelegentlich

1569

K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,

S. 188. 1570

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 45 – 46. 1571

P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention of Human Rights, Boston

1990, S. 301. 1572

In Art. 9 Abs. 2 EMRK ist dagegen zwischen dem französischen und englischen Originaltext eine

redaktionelle Unstimmigkeit zu sehen: Während die französische Fassung „la santé ou de la morale publiques“

lautet, was den Schluss nahelegt, dass Einschränkungen der Religionsausübungsfreiheit nur auf die öffentliche

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vertreten, dass die Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit zwecks des

Gesundheitsschutzes auch hinsichtlich des Einzelnen vorgenommen werden kann, wenn er

unter Hinweis auf Grundsätze seines Glaubens eine medizinische Behandlung wie etwa

Impfungen, Bluttransfusion oder chirurgische Eingriffe ablehnt.1573

Diese Ansicht trifft im

Hinblick auf die Kinder und andere Schutzbedürftige zu, die ohne hinreichende Erkenntnis

handeln. Mag ein Minderjähriger den Glauben der Eltern und damit die Überzeugung von der

Verwerflichkeit der modernen medizinischen Maßnahmen teilen, fällt die Abwägung

zwischen der Gewissensfreiheit der Eltern und Kinder sowie dem Leben und Gesundheit des

Kindes zugunsten der letztgenannten Rechtsgüter aus. Dagegen kann derartige Rechtfertigung

im Verhältnis zu den Erwachsenen im Hinblick auf die Notwendigkeit in einer

demokratischen Gesellschaft Bedenken verursachen:1574

„Wenn Ideale der Autonomie und

Pluralismus nicht dazu genügen, den Einzelnen zu befähigen, seinen moralischen

Überzeugungen auf eigene Kosten zu folgen, dann ist deren Wert wirklich gering.“1575

Der

medizinische Eingriff ohne Zustimmung des Patienten könnte als Verstoß gegen

Menschenwürde qualifiziert werden. Außerdem gewährt die Verfassung dem Einzelnen das

Recht auf körperliche Unversehrtheit, von dem abzuleiten ist, dass das Verhältnis zwischen

dem Arzt und dem Patienten durch den Grundsatz der Einwilligung des Letzten zu einer

Behandlung gestaltet wird. Dem trägt das polnische Strafgesetzbuch Rechnung, indem in Art.

192 die Durchführung einer medizinischen Behandlung ohne Zustimmung des Patienten

pönalisiert wird.1576

Es kommt auch in Frage, dass die Verfassung das Recht auf Leben

schützt und keine Pflicht zum Leben auferlegt. Demzufolge ist anzunehmen, dass sich die

Einschränkung der Gewissensfreiheit zum Schutz der Gesundheit in der Regel auf die

Gesundheit zu erstrecken sind, kommt in der englischen Version die Bestimmung „public“ im bezug auf „health

or morals“ überhaupt nicht vor. Die Kommission hat allerdings in einem Fall, wo sich der Beschwerdeführer

weigerte, bei Motorradfahren einen Sturzhelm aufzusetzen, weil er religiös verpflichtet war, einen Turban zu

tragen, die Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit auf den Schutz der Gesundheit des betroffenen

Grundrechtsträgers ausgedehnt. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch dadurch erklären, dass die Konventionsorgane

nicht willig sind, anzunehmen, dass die Anwendung des allgemein geltenden und neutralen Rechts überhaupt zur

Verletzung der Religionsfreiheit führen kann. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass wenn auch die

Sicherheitsvorschriften ein zweckmäßiges Schutzmittel vor den Folgen des Leichtsinns und Sorglosigkeit der

Verkehrsteilnehmer darstellen, stößt deren Anwendung gegenüber denjenigen auf Bedenken, die diesen Schutz

wegen tiefer religiöser Überzeugungen ablehnen.

1573 A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.

1574 D. J. Harris, Law of the European Convention on Human Rights, London, Dublin, Edinburgh 1995, S. 370;

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 281; J.Torrón Martínez, El derecho

internacional y las objeciones de conciencia, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas UNAM, Objeción de

conciencia, México D.F. 1998, S. 130. 1575

C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention of Human Rights, New York 2001, S. 156. 1576

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.

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„öffentliche“ Gesundheit bezieht. Die Gesundheit des betroffenen Grundrechtsträgers ist

grundsätzlich damit nicht erfasst.1577

Die Vorkehrungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit umfassen Vorbeugungs-,

Heilungs- und Kontrollmaßnahmen, die wegen des (potentiellen) mit bestimmten Krankheiten

verbundenen Risikos für die Bevölkerung unternommen werden (sollen). In diesem Fall

weicht das Recht des Patienten, eine Behandlung zu verweigern, dem Allgemeininteresse

gegenüber.1578

Im Fall der Kollision staatlicher Schutzpflichten der Gesundheit mit der

Gewissensfreiheit kann allerdings der Grundsatz der Berücksichtigung der

gewissensrelevanten Überzeugungen durch die staatlichen Stellen zum Zuge kommen. Der

Einzelne kann z.B. unter Umständen die Befreiung von der Impfungspflicht beanspruchen,

wenn der mit der allgemeinen Impfung verfolgte Zweck auch dann erreicht werden kann,

wenn einige Personen keinen Impfschutz haben.1579

In diesem Zusammenhang wird auch

vertreten, dass wenn in einem Ernstfall, in dem von einer konkreten Person tatsächlich eine

unmittelbare Ansteckungsgefahr ausgeht, ist an eine gewissensneutrale Alternative der

Quarantäne zu denken, soweit diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig ist.1580

6.7. Moral

Jede Rechtsordnung basiert unausweichlich auf bestimmten moralischen Grundsätzen und

anthropologischen Anschauungen. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates ist

aus diesem Grund mit Neutralität in Fragen der Moral oder mit ethischer Indifferenz des

Staates nicht gleichzusetzen.1581

Auch die staatliche Rechtssetzungstätigkeit, insbesondere

1577

B. G. Tahzib – Lie Bahia, The advancement of women‟s equal enjoyment of the right to freedom of religion

or belief, in: M. Junneke, M. Naber, Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 57; G. Escobar

Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 355, 360; J. A. Souto Paz,

Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993, S. 139. 1578

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creenicas, Madrid 1999, S. 279. 1579

M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, Tübingen 1996, S. 329, Rn. 113. 1580

U. K. Preuß, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz

für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt, 1989, Art. 4, Abs. 1, 2,

S. 380, Rn. 46. 1581

G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de

conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 239; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin

2000, S. 100.

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wenn sie elementare Ziele verfolgt, beruht auf der impliziten Erwartung, dass sie von den

Bürgern als „gesollt“ innerlich akzeptiert wird.1582

Die Verbindung zwischen der Rechtsordnung und der Moral kommt vornähmlich auf der

Ebene der Grundrechtsschranken zur Erscheinung. Die Verfassung sieht nämlich die

Möglichkeit vor, die Ausübung eines Freiheitsrechts zum Schutz der elementaren sittlichen

Grundsätze einzuschränken. Dabei wird zwischen der „öffentlichen Moral“ (Art. 31 Abs. 3)

und der „Moral“ (Art. 45 Abs. 2, 53 Abs. 5) unterschieden. Diese terminologische

Unterscheidung legt den Schluss nahe, dass der Begriff „Moral“ einen weiteren Umfang als

Begriff der „öffentlichen Moral“ hat. In beiden Fällen bildet aber der Bestand der politischen

Gemeinschaft, die auf der Basis der von ihr anerkannten Grundwertvorstellungen konstituiert

ist, das Schutzgut und Ziel der Grundrechtseinschränkung.

Nach einer Ansicht bezieht sich der Begriff der öffentlichen Moral auf sittliche

Wertvorstellungen, welche zwischenmenschliche Beziehungen sowohl im öffentlichen

Bereich als auch im Privatleben regeln. Deshalb wenn die Einschränkungsgrundlage der

Moral herangezogen wird, sind auch moralische Normen zu berücksichtigen, die sich auf

individuelle Muster der Vollkommenheit beziehen. Als Beispiel für die Einschränkung der

Gewissensfreiheit zum Schutz der nach diesem Ansatz verstandenen Moral kann die Pflicht

betrachtet werden, sein eigenes Leben zu erhalten. Die Verweigerung eines Patienten, sich

einer lebensrettenden medizinischen Behandlung zu unterziehen, müsste vor dem Grundsatz

der Unverletzlichkeit des Lebens zurücktreten.1583

Da „das soziale Gewissen“ das Recht auf

Leben im Verhältnis zur Gewissenfreiheit höher stellt, ist ihm im Fall der Kollision mit der

Gewissensfreiheit Vorrang einzuräumen.1584

Eine solche Auslegung der Moral lässt sich allerdings mit den Grundsätzen der Freiheit und

Pluralismus nicht in Einklang bringen. Die Gewissensfreiheit darf wegen der

perfektionistischen sittlichen Prinzipien, die lediglich für das persönliche Leben des Einzelnen

1582

F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 96. 1583

J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999. S. 335. 1584

I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 166.

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Bedeutung haben, nicht eingeschränkt werden. Deswegen ist der Auslegung der „öffentlichen

Moral“ nicht beizupflichten, wonach auf die Grundsätze abgestellt wird, die von der Mehrheit

der Gesellschaft als Normen des individuellen und sozialen Verhaltens akzeptiert werden,

wenn auch sie nicht immer rechtlich erzwingbar sind.1585

Nach einer anderen Auffassung1586

ist der Begriff „Moral“ mit dem Gehalt der Grundrechte

gleichzusetzen. Danach wäre die Verweigerung aus Gewissensgründen nur dann

anzuerkennen, wenn sie in einem Grundrecht (logischerweise mit Ausschluss der Glaubens-

und Gewissensfreiheit) eine inhaltliche Stütze finden kann. Mit anderen Worten müsste die

Moral des Einzelnen mit dem Inhalt der Grundrechte übereinstimmen. Soll jedoch in der

Gesellschaft ein Dissens über die Interpretation eines Grundrechts entstehen, könnte er unter

Umständen gerade in der Verweigerung aus Gewissensgründen zum Ausdruck kommen.1587

Dieser Ansatz sei mit dem Beispiel eines Beamten des islamischen Glaubens illustriert, der

sich mit Verweis auf sein religiöses Gewissen weigert, die Aufenthalts- und

Arbeitsgenehmigungsanträge der Juden zu erledigen. Da seine Verweigerung gegen den

Gleichheitssatz verstößt, der nicht nur rechtlichen, sondern auch moralischen Charakter

aufweist, kann sie nicht anerkannt werden. Im Gegenteil wenn sich ein Beamter weigert,

einen Verein in den Vereinsregister mit der Begründung einzutragen, dass dieser Verein die

Liberalisierung der Vorschriften zur Abtreibung und Sterbehilfe mit legalen Mitteln

propagiert, was sich mit seinem Gewissen nicht zu vereinbaren lässt, könnte die Anerkennung

einer solchen Verweigerung u.U. in Frage kommen. Einerseits findet sie in der durch die

Verfassung verankerten Achtung und Schutz des menschlichen Lebens seine Grundlage,

andererseits ist zugunsten des Grundrechtsträgers zuzurechnen, dass die Anschauungen zum

Ausmaß des verfassungsrechtlichen Schutzes des menschlichen Lebens und die mit dieser

Problematik verbundenen Postulate in der Gesellschaft divergieren.

1585

C. Mik, Wolność radia i telewizji w świetle Konwencji Europejskiej i prawa polskiego, in: PiP, Nr. 10, 1993,

S. 37. 1586

J. Buxadé Villalba, La objeción de conciencia en la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y

la función pública, Madrid 2007, S. 181f. 1587

I. Elósegui, La objeción de conciencia en un estado democrático de derecho y una sociedad plural: el

principio de igualdad en el acceso a la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública,

Madrid 2007, S. 201.

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422

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Standpunkt des UN

Menschenrechtskomitees, dass Einschränkungen der Religionsausübungsfreiheit zwecks des

Schutzes der Moral lediglich mit denjenigen sittlichen Grundsätzen begründen werden

können, die nicht ausschließlich einer einzigen Tradition entnommen werden.1588

Daraus

ergibt sich etwa, dass die christliche, bzw. katholische Moral bei der Bestimmung des

Begriffs der öffentlichen Moral nur insoweit zu berücksichtigen ist, als diese Moralquellen in

der Gesellschaft eine reale Rolle spielen.1589

Darüber hinaus handelt es sich bei dem Begriff der Moral um einen sehr verschwommen

Einschränkungstatbestand der Grundrechte. Er umfasst „das gemeinsame ethische Element

des gesellschaftlichen Lebens“1590

d.h. den moralischen Mindeststandard bzw. den

moralischen gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft, der aus der sozialen Perspektive nicht

unveränderlich, sondern vielmehr vielseitig relativiert ist. Um den jeweiligen Inhalt der Moral

und damit den Umfang der Einschränkung eines Grundrechts zu bestimmen, sind folgende

Faktoren zu berücksichtigen: Zeitpunkt und Ort des zu entscheidenden Falles,

Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft, die Schutzbedürftigkeit einiger

Menschengruppen wie Jugend oder Gemütskranke, sowie den Grad der „öffentlichen“

Auswirkungen eines Sachverhalts.1591

Es fällt schwer, ein Beispiel für die Einschränkung der Ausübung der Gewissensfreiheit zum

Schutz der Moral anzugeben, wenn in Betracht wird, dass die Religionen und andere durch

Individuen anerkannte Moralquellen ihren Anhängern grundsätzlich „anspruchsvollere“

moralische Standards im Vergleich zur Rechtsordnung auferlegen.1592

Die meisten Fälle des

Zugriffs auf den Einschränkungstatbestand der öffentlichen Moral liegen bei der

Unmöglichkeit der plausiblen Darlegung der messbaren materialen Vorteile für die

Gesellschaft vor. Denkbar wäre z.B. der Fall der Ausbeutung der Sektenmitglieder durch die

Obrigkeiten einer Sekte.

1588

United Nation Human Rights Committee, General Comment No. 22 on Art. 18, para. 8. 1589

C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 118. 1590

Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 62/1982, FJ 3 B. 1591

R. Koering – Joulin, Public morals, in: M. Delmas – Marty, The European Convention for the Protection of

Human Rights, Boston, London 1991, S. 83 – 98; C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del

Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 117. 1592

A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.

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423

In der ausländischen Literatur wird argumentiert, dass die Einschränkungsgrundlage der

öffentlichen Moral in Bezug auf die Verweigerung aus Gewissensgründen der Bluttransfusion

angewendet werden kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Stellenwert des Lebens in

der säkularisierten Gesellschaft im Vergleich zu religiös geprägten Rechtsordnungen deutlich

zugenommen hat. Während der Verlust des irdischen Lebens aus der Perspektive des

jenseitigen Lebens lediglich relative Bedeutung hat, erwirbt das Leben als Folge der

Zurückweisung der religiösen Prämissen von Moral durch die modernen Rechtsordnungen

eine höchstrangige Position. Es handelt sich doch um das einzige Leben jetzt und hier, dessen

Verlust unersetzbar ist. Deshalb kann das menschliche Leben als das letzte sacrum der

säkularisierten Gesellschaft angesehen werden.1593

In diesem Zusammenhang ist allerdings

wie folgt zu differenzieren: „Im Absichtshorizont eines Selbstmörders steckt ein Gegenwert,

sich das Leben zu nehmen. In diesem Verhalten ist kein Wert ersichtlich, welcher seitens der

Gesellschaft Achtung und Schutz verdient, obwohl der Freitod per se nicht strafbar ist. Im

Fall eines Verweigerers, der eine medizinische Behandlung aus religiösen Gründen ablehnt,

gibt es Werte, die Respekt der Gesellschaft genießen sollen, obwohl sie mehrheitlich nicht

akzeptiert werden. Die Ablehnung einer medizinischen Behandlung bedeutet keinesfalls, dass

der Verweigerer bewusst den Tod sucht.“1594

Mit anderen Worten: in der Ablehnung der

Bluttransfusion aus Gewissensgründen ist die suizidale Absicht (intentio sese occidere,

intentio occessiva) nicht ersichtlich. Der Einzelne glaubt, sich im Bereich des moralischen

Unvermögens zu befinden, in dem ihm nicht möglich ist, sich vom Tode zu befreien.1595

6.8. Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer

Die Rechte und Freiheiten des Einzelnen können innerhalb einer Rechtsgemeinschaft nicht

grenzenlos gewährleistet werden. Sie sind vielmehr mit Rechten und Freiheiten Anderer in

Einklang zu bringen. Während mit den „Freiheiten“ grundsätzlich nur die Grundrechte der

EMRK und der nationalen Verfassungen gemeint werden, umfasst der Begriff „Rechte“ nicht

nur die sozialen Grundrechte der Europäischen Sozialcharta, sondern auch die Interessen, die

1593

R. Navarro Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario

de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 259f. 1594

R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,

S. 165; vgl: S. Mosquera Monelos, El derecho de a libertad de conciencia y religión en el ordenamiento jurídico

peruano, Lima 2005, S. 187. 1595

J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho,

1984, S. 17f.

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424

nach Ansicht des Gesetzgebers schutzwürdig sind.1596

Die Notwendigkeit der Einschränkung

eines Grundrechts, um dadurch Rechte und Freiheiten Anderer zu schützen, liegt im Fall der

sog. Kollision der Rechte vor. Darunter ist eine Situation zu verstehen, in welcher sich

verschiedene Rechtsubjekte zwecks des Schutzes ihrer Interessen auf verschiedene ihnen

zustehende Grundrechte berufen. Es geht hier um die Feststellung der Anwendungsbereiche

und Schranken der betroffenen Grundrechte.1597

Die Gewissensfreiheit des Einzelnen kann nicht nur zum Schutz anderer Grundrechte,

sondern auch durch dasselbe Recht der Anderen eingeschränkt werden. In diesem

Zusammenhang argumentiert das BverfG zu Recht, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit

nicht nur gegen Intoleranz der Mitmenschen schützt, sondern verpflichtet den Einzelnen,

ihnen die gleiche Duldsamkeit zu erweisen, „die er für seine eigene Überzeugung in Anspruch

nimmt.“1598

Ein Konflikt der Gewissensfreiheit eines Einzelnen mit der Gewissensfreiheit

eines anderen Individuums entsteht beispielsweise im Fall, wenn die Verweigerung eines

Patienten, sich der Bluttransfusion zu unterziehen, auf die Ablehnung des Arztes stößt, der ihn

eigene Gewissensentscheidung, sich unbedingt für die Rettung des menschlichen Lebens

einzusetzen, gegenüberstellt. Der Konflikt soll zugunsten des Patienten aus folgenden

Gründen gelöst werden:

a) Die Verweigerungsposition des Patienten scheint tiefgreifender im Vergleich zur

Gewissensüberzeugung des Arztes zu sein. Dies erklärt sich damit, dass die Konsequenzen

der Verweigerung des Patienten seine körperliche Unversehrtheit und gegebenenfalls sein

Leben betreffen.

b) Im Verhältnis zu Gewissensverboten genießen die Gewissensgebote wegen ihrer

Eingriffsfähigkeit in die durch das Recht geschützte Sphäre des Anderen in der Regel den

schwächeren Schutz.

1596

A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der

Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 62. 1597

B. Banaszak, Sądownictwo konstytucyjne a ochrona podstawowych praw obywatelskich, RFN, Austria,

Szwajcaria, Wrocław 1990, S. 43ff. 1598

BverGE 15, 137.

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425

c) Das Verhältnis zwischen dem Arzt und Patienten ist durch den Grundsatz der Zustimmung

des Letzteren für die medizinische Behandlung bestimmt, welche in dem Grundrecht der

körperlichen Unversehrtheit die verfassungsrechtliche Stütze hat.

7. Fazit

Wegen des gesellschaftorientierten Menschenbilds der Verfassung kann die Gewissensfreiheit

die uneingeschränkte Geltung nicht beanspruchen. Für ihre Beschränkung ist die

Schrankenklausel der Religionsausübungsfreiheit entsprechend anzuwenden, obwohl der

Wortlaut der betroffenen Verfassungsbestimmungen diesem Ansatz entgegenzustehen

scheint. Eine andere Lösung wäre die Rekurrierung für die Einschränkungsgrundlagen auf die

allgemeine Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf. Da diese Vorschrift weitere, in der

speziellen Einschränkungsklausel nicht vorgesehenen Einschränkungsgrundlage beinhaltet, ist

die erste Lösung für den Einzelnen günstiger und daher steht mit dem Postulat der

Grundrechtseffektivität im Einklang. Auf die allgemeine Einschränkungsklausel der

Grundrechte ist nur ergänzend zurückzugreifen. Dies betrifft die Anwendung des dort

verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzips. Mangels der in der Verfassung bestimmten

Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter ist bei der Güterabwägung auf alle Umstände

des Einzelfalles abzustellen. Die Rolle der Lehre in diesem Zusammenhang ist, allgemeine

Grundsätze der praktischen juristischen Vernunft aufzustellen, welche bei der

Interessenabwägung in konkreten Fällen hilfreich sein können. Dazu gehören insbesondere

die einzelnen Verfassungsgrundsätze (das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates, die

Klauseln der Freiheit, Gleichheit und Würde, der Grundsatz der Volkssouveränität), die durch

die Ausübung der Gewissensfreiheit betroffenen Rechte und Freiheiten Anderer und

Gemeinwohlinteressen, sowie der Charakter der Grundrechtsbetätigung (Handlung oder

Unterlassung, Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts). Darüber hinaus ist für die

Einschränkung der Abgrenzung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit das Kriterium der

sog. weltanschauungsneutralen Gesetze d.h. derjenigen, welche keinen zielgerichteten

Eingriff in die Gewissensfreiheit darstellen, ungeeignet. Dies wird damit begründet, dass in

einem modernen Staat das Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich

der dem Einzelnen zur freien Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Darüber

hinaus erfolgen die Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die Diskriminierung häufig

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nicht als direkte Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des Einzelnen, sondern gerade

als Nebenfolge der religionsneutralen Gesetzgebung, was vor allem die Minderheitsgruppen

betrifft.

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427

Zusammenfassung

Der Begriff der Gewissensfreiheit ist in der polnischen Verfassungstradition seit der

Märzverfassung von 1921 in dem Begriffspaar „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ bzw.

„Gewissens- und Religionsfreiheit“ verankert. Allerdings wird ihm sowohl in der polnischen

Lehre als auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur geringe Aufmerksamkeit

geschenkt. Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist daher, die normative Rolle der

Gewissensfreiheit im Grundrechtssystem der Verfassung zu untersuchen. Insbesondere wird

geprüft, ob das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung im Bereich der

ethischen Angelegenheiten einschließlich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen

durch die polnische Verfassung geschützt wird. Die Bestimmung des Schutzbereichs der

Gewissensfreiheit wird durch ihre enge Verflechtung mit der Religionsfreiheit bei

gleichzeitiger (in der Lehre vehement kritisierten) Fokussierung der Verfassungsregelung auf

den Schutz einzelner Modalitäten der Religionsausübung erschwert.

Gerade der Wortlaut der relevanten Verfassungsbestimmungen hat einige Autoren zu

behaupten veranlasst, dass die Freiheit areligiöser und antireligiöser Anschauungen und

Verhalten, darunter die mit keiner Religion verbundenen ethischen Positionen und ihre

Betätigung, aus dem grundrechtlichen Schutzbereich völlig ausgeschlossen ist. Als

Kontrapunkt zu dieser Meinung lässt sich aber die Auslegung der Gewissens- und

Religionsfreiheit als eine allgemeine Überzeugungsfreiheit gegenüberstellen. Danach umfasst

die Überzeugung nicht nur den religiösen und weltanschaulichen Glauben, sondern auch

ethische und sogar ästhetische Werte. Diese Ansicht bildet eine solide Grundlage dafür, das

Recht auf moralische Autonomie und Selbstverwirklichung in den grundrechtlichen

Schutzbereich einzubeziehen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei der Vorschlag, die

Vorschriften zur Religionsausübung auf den Schutz der Betätigung einer Weltanschauung und

einer Gewissensentscheidung analog anzuwenden.

Was die Auslegung des Begriffselements „Gewissensfreiheit“ angeht, lassen sich im

polnischen Schrifttum und Rechtsprechung zwei Interpretationstendenzen unterscheiden.

Nach einem Ansatz wird die Gewissensfreiheit mit dem forum internum sowohl der

Glaubens- als auch der Weltanschauungsfreiheit gleichgestellt. Die Bekenntnis- bzw.

Religionsfreiheit wird entsprechend mit der Ausübungsfreiheit des Glaubens und der

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428

Weltanschauung interpretiert. Sie wird dabei weit ausgelegt; sie umfasst nicht nur das Recht,

seine Überzeugung kundzutun, sondern auch das Recht, das gesamte Leben danach

auszurichten. Nach dem anderen Ansatz wird die Gewissensfreiheit als das Recht der

Nichtgläubigen, d.h. als Ergänzungsrecht im Verhältnis zur Religionsfreiheit angesehen, das

die Freiheit umfasst, eine bestimmte nichtreligiöse Weltanschauung anzunehmen und

auszuüben.

Viele Autoren unternehmen allerdings keinen Versuch, die einzelnen Betätigungsformen

unter die einzelnen Bestandteile des Begriffspaares „Gewissens- und Religionsfreiheit“

präzise zu subsumieren. Die Gewissensfreiheit als das von der Religionsfreiheit

verselbstständigte Recht, ethische Gewissensentscheidung zu treffen und gemäß dieser

Wahlentscheidung sein Verhalten zu gestalten, wird in der polnischen Rechtsprechung und

Schrifttum nur selten erwähnt (Schwierskott, Banaszak). Auch die Verweigerung aus

Gewissensgründen wird nur ansatzweise thematisiert, wobei die Meinungen zu ihrer

Schutzwürdigkeit auseinandergehen. Während die ältere Lehre den Schutz des allgemeinen

Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen verneint, lässt sich in der Rechtsprechung des

Verfassungsgerichtshofs Nachweise für seine Bejahung finden. Auch der neusten

Kommentierung der Verfassung von Banaszak kann entnommen werden, dass dieses Recht in

der polnischen Verfassung zumindest nicht ausgeschlossen ist.

Die Erwähnung der Gewissensfreiheit in der Verfassung, wenn auch lapidar, kann allerdings

als Synonym für Weltanschauung oder Religion nicht betrachtet werden. Bei der Auslegung

der Gewissensfreiheit wird daher von der These ausgegangen, dass der Begriff „Gewissens-

und Religionsfreiheit“ in der Verfassung von 1997 keine terminologische Einheit bildet. Er

besteht vielmehr aus zwei selbstständigen Formeln, bzw. zwei stilistischen Figuren. Daraus

ergibt sich, dass in der Formulierung „Gewissens- und Religionsfreiheit“ zwei getrennte

Freiheiten verborgen werden. Die Verbindung der beiden Elemente in einem Begriff verleiht

ihm keinen selbstständigen normativen Gehalt.

Die ausdrückliche Erwähnung beider Freiheiten und die Annahme ihrer Disjunktion und

eventuell ihrer Komplementarität begründet die Notwendigkeit ihrer autonomen Auslegung.

Die Interpretation sichert, dass das Recht seine Funktion der Regulierung des sozialen

Verhaltens erfüllt. Mittels der Auslegung wird das Rechtssystem dynamisiert. Dies betrifft

insbesondere die Grundrechte, welche aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit entbehren und

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429

deshalb bestimmungsbedürftig sind. Die Konsequenz des klauselartigen Charakters der

Verfassungsvorschriften ist das Bedürfnis einer solchen Auslegung, die im Wesentlichen in

Konkretisierung der den hohen Abstraktionsgrad aufweisenden Verfassungsnormen besteht.

Die offene Struktur der Verfassungsvorschriften, ihre synthetische Sprache und abstrakter

Charakter verleiht ihnen große Elastizität, was ihre Anwendung in unterschiedlichen

historischen Kontexten ermöglicht. Es soll dabei diejenige Auslegungsvariante gewählt

werden, welche die in der Verfassung für das Gemeinwesen konstituierte politische Ordnung

verstärkt. Es besteht daher ein Sachzusammenhang zwischen der Interpretation der einzelnen

Grundrechtsbestimmungen und den in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten

Staatsauffassung sowie mit den Verfassungswerten wie Menschenwürde, Freiheit,

Gerechtigkeit oder Gleichheit. Der Interpretationsprozess beinhaltet aber auch das subjektive

mit dem Vorverständnis des Interpreten verbundenes Element; die von dem Interpreten

angenommenen Werte beeinflussen sowohl die Wahl der konkreten Interpretationsdirektiven

wie auch ihre Anwendungsart. Die interpretatorische Entscheidung soll sich deshalb im

Rahmen des Vertretbaren und rational Begründbaren halten, ohne nach dem einzig richtigen

Auslegungsergebnis zu streben.

Der Ausgangspunkt und unüberschreitbare Grenze der Auslegung ist allerdings der Wortlaut.

Die autonome von der Religionsfreiheit unabhängige Bedeutung des Begriffs der

Gewissensfreiheit ergibt sich bereits aus dem Verbot der Auslegung per non est, wonach jeder

Bestandteil der Vorschrift eine normative Bedeutung hat und kein Fragment der Vorschrift als

gegenstandslos und entbehrlich betrachtet werden darf. Die Auslegung der Gewissensfreiheit

wird mit der Aufklärung des Gewissensbegriffs begonnen, wobei vom Alltagsverständnis

dieses Begriffes ausgegangen wird, das seinerseits mit den Erkenntnissen der Psychologie und

Philosophie ergänzt wird. Der Vorrang der allgemeinen Standardsprache erklärt sich vor

allem mit der Natur der Verfassung, die nicht an eine enge Gruppe der Spezialisten, sondern

an die ganze Rechtsgemeinschaft gerichtet ist. Die Ausführungen zum Gewissensphänomen

haben gezeigt, dass es sich um eine höchstpersönliche Instanz handelt, welche ein Ausdruck

seiner moralischen Autonomie ist und daher die Identität des Einzelnen mitbestimmt. Das

konstitutive Merkmal der Gewissensentscheidung ist ihre sittliche und unbedingte

Verbindlichkeit. Darüber hinaus enthält das Gewissen ein Mindestmaß an Rationalität und

Verantwortung den Anderen gegenüber.

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430

Aus dem Prinzip der Unparteilichkeit der öffentlichen Behörden in religiösen und

weltanschaulichen Angelegenheiten ergibt sich, dass die Begriffsbestimmung des Gewissens

und der Gewissensentscheidung neutral, d.h. ohne Übernahme einer durch eine

philosophische Strömung erarbeiteten Gewissenskonzeption zu erfolgen hat. Dies bedeutet

jedoch nicht, dass die Rechtswissenschaft den Erkenntnissen anderer Geisteswissenschaften

immun sein muss. Sowohl Ethik (kategorischer Imperativ) als auch Psychologie

(Verantwortungsbewusstsein für Andere, Hinwendung zum Du als Ausgangspunkt der

Bildung und Internalisierung ethischer Normen) bieten nützliche Hinweise für das

Verständnis und Charakterisierung einer grundrechtsschutzwürdigen Gewissensentscheidung.

Der Beitrag der erwähnten Geisteswissenschaften zum Verständnis des Gewissensphänomens

resultiert in der Voraussetzung der Universalisierbarkeit der Gewissensnorm des Einzelnen

für die Einbeziehung seiner Gewissensentscheidung in den grundrechtlichen Schutzbereich.

Aus der grammatischen Auslegung des Gewissensbegriffs ergibt sich, dass das Gewissen eine

von jeglicher Religion unabhängige ethische Kategorie bildet. Durch die Ernsthaftigkeit der

Gewissensentscheidung, den Drang nach ihrer Durchführung sowie ihre emotionale

Aufladung wird jedoch die Gewissensfreiheit in der Nähe der Religionsfreiheit angesiedelt;

die Übertretung der Gewissensimperative kann nämlich für den Einzelnen ähnliche

Identitätskrisen hervorrufen wie der Verstoß gegen religiöse Gebote. Deshalb ist das

Gewissen des Einzelnen ebenso schutzbedürftig und schützenswert wie sein religiöser

Glaube.

Aus der Auslegung nach Wortlaut ergibt sich zwar, dass die menschliche Freiheit mi Bereich

des Ethischen geschützt wird, ihr Gehalt und Umfang bleiben aber unbestimmt, deshalb ist

notwendig auf systematische und teleologische Auslegung zurückzugreifen. Die Verfassung

wird dabei als Basis der materiellen Wertordnung für das Gemeinwesen betrachtet. Die

Handhabung der Verfassung als ein Rechtsakt, in dem Grundwerte verbürgt werden, und die

Berücksichtigung der daraus resultierenden Vorgaben für ihre Auslegung und Anwendung, ist

die einzige Vorgehensweise, welche die Rechtsordnung in einem demokratischen Staat

substanziell zu legitimieren vermag.

Die Stellung des Abschnitts: „Die Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und des

Staatsbürgers“ in Verbindung mit der Präambel, aus der das Gebot der wirksamen

Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte hervorgeht, bildet ein interpretatorisches

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Prinzip der Bevorzugung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen. Nach diesem Prinzip ist

bei der Interpretation der Verfassung diejenige der möglichen Auslegungsrichtungen

anzunehmen, die möglichst weiten Schutzbereich der Grundrechte voraussetzt. Darüber

hinaus gebietet die systematische Auslegung, dass die Grundrechte nicht isoliert, sondern im

Lichte des Systems der Grundrechte, dessen Zweck der Schutz der Menschenwürde und

Freiheit des Einzelnen ist, betrachtet werden. Bezogen auf die Gewissensfreiheit rechtfertigt

der Grundsatz der Grundrechtseffektivität, dass die Freiheit der Gewissensbetätigung durch

den Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasst wird.

Wegen der tiefen und vielseitigen axiologischen Verwicklung der Verfassungsnormen nimmt

bei der Auslegung der Freiheitsrechte die teleologische Auslegung eine besondere Position

ein. Die Zwecke der Verfassung werden insbesondere in den Verfassungsgrundsätzen

niedergeschrieben, deshalb sind sie als interpretatorische Quelle und Bezugspunkt für

Gerichtsentscheidungen zu betrachten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die dynamische

Auslegungsmethode der Verfassungsinterpretation im größeren Maße geeignet ist als der

statische Ansatz. Für die Anwendung des dynamischen Ansatzes bei der Interpretation der

Verfassung spricht der offene Charakter ihrer Vorschriften. Da die Verfassung ein auf Dauer

angelegtes Dokument ist, wohnt ihr eine Qualität inne, die sich an den sozialen Wandel

anpassen lässt, ohne dass ihre Normen verletzt werden. Ihre Beständigkeit ist ohne gewisse

Anpassungsfähigkeit nicht denkbar, weil sich die soziale Wirklichkeit schneller als die

normative ändert. Für die Auslegung der Gewissensfreiheit bedeutet dies, dass die polnische

Verfassung das hinreichende Potenzial hat, sich der fortschreitenden Säkularisierung der

Gesellschaft anzupassen d.h. die Betätigung ethischer Positionen weltlicher Provenienz in

ihren Schutz zu nehmen.

Eine solide Grundlage für die weite Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit bildet

insbesondere der Grundsatz der Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des

Individuums. Als Wesensmerkmal des Menschenwürdebegriffs in seiner ethischen Dimension

wird die Fähigkeit des Menschen angesehen, freie Entscheidungen zu treffen und für seine

Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Dies entspricht dem Zweck der

Gewissensfreiheit, der darin besteht, den Freiraum für reale moralische Selbstbestimmung

und Selbstverwirklichung zu sichern. Daraus ist sichtbar, dass das Gewissen des Menschen

den Wesensgehalt der Menschenwürdegarantie ausmacht. Gerade durch sein Gewissen erfährt

der Einzelne, dass er mit Menschenwürde ausgestattet ist.

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Darüber hinaus stellt die Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 1 Verf. ein beträchtliches

Argument für die Annahme des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen dar.

Danach tritt das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen als eine Freiheit prima facie

in Erscheinung, die im Prozess der Güterabwägung wegen kollidierender Rechtsinteressen

eingeschränkt werden kann. Zugunsten des Einzelnen, welcher gemäß seinem

Gewissensgebot handelt, besteht somit eine Vermutung der Legalität, dass er innerhalb des

Schutzbereichs des Grundrechts handelt.

Aus dem Gleichheitssatz ergibt sich vor allem das Verbot, die Grundrechtsträger nach

Ursprung ihrer Gewissensentscheidungen zu differenzieren. Dies betrifft die in der polnischen

Rechtspraxis zu verzeichnende Benachteiligung der Grundrechtsträger, welche ihre

Gewissensentscheidung auf der Basis einer Weltanschauung gebildet haben. Die

Zugehörigkeit zu einer Konfession kann nur ein Indiz (aber nicht eine Voraussetzung) für

Anerkennung oder Zurückweisung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen

darstellen. Jeder Automatismus in dieser Hinsicht führt zur Verletzung des Gleichheitssatzes.

Die Einbeziehung des Verfassungsgrundsatzes der Befolgung des die Republik Polen

bindenden Völkerrechts bringt für die Auslegung der Gewissensfreiheit keine eindeutigen

Resultate: in der Rechtsprechung der Konventionsorgane der EMRK wird das Recht auf

Verweigerung aus Gewissensgründen nur in einem sehr engen Abschnitt anerkannt. Auch in

der Lehre ist die Bejahung des Schutzes des forum externum der Gewissensfreiheit wegen des

unbestimmten Charakters des Schutzgegenstandes wie auch wegen des Wortlauts der auf den

Schutz der Religion zugeschnittenen Grundrechtsschranken umstritten. Allerdings lassen sich

gewichtige Gründe anführen, die den weiten Schutz dieses Grundrechts vornämlich mittels

der weiten Auslegung der Begriffe „belief“ und „practice“ sowie durch entsprechende

Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs. 2 EMRK auf die Gewissensfreiheit

annehmen lassen.

Die rechtsvergleichende Untersuchung der Gewissensfreiheit zeigt zunächst, dass der

Wortlaut ihrer Formulierung in verschiedenen Verfassungen kein entscheidendes Kriterium

für ihre Auslegung ist; bei der Rekonstruierung des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit

kommt vielmehr die wesentliche Rolle der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Lehre

zu. Die Regelungen der Gewissensfreiheit als das separate, von Glaubensfreiheit völlig

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losgelöste Grundrecht in einigen lateinamerikanischen Verfassungen aus der 90er Jahren des

20. Jahrhunderts bezeugen zwar die allmähliche Tendenz zur Emanzipierung der

Gewissensfreiheit aus ihren religiösen Zusammenhängen, ihre Verselbstständigung setzt sich

aber nur ansatzweise durch, was die zahlreichen Beispiele für eine restriktive Auslegung

dieses Grundrechts zeigen. Die Gewissensfreiheit kann daher als das Grundrecht in statu

nascendi bezeichnet werden, dessen Verselbständigung von der Glaubensfreiheit noch nicht

eindeutig erfolgt ist und dessen Schutzbereich sich noch nicht herauskristallisiert hat.

Weiterhin findet die weite Auslegung der Gewissensfreiheit in den einzelnen

Grundrechtstheorien ihre Bestätigung. Gemäß der demokratisch-funktionalen

Grundrechtstheorie ist die Gewissensfreiheit ein Kommunikationsgrundrecht. Im

Vordergrund tritt die Forderung der Offenheit auf zwischenmenschliche Beziehungen und

Diskursbereitschaft des Grundrechtsträgers. Seine Gewissensposition muss daher rational

mitteilbar sein. Aus diesem kommunikativen und gesellschaftsorientierten

Gewissensverständnis ergibt sich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit besonders

geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der demokratischen Ordnung zu

leisten. Durch die Möglichkeit, gewissensgemäße Positionen zu äußern, zu verbreiten und in

Übereinstimmung mit ihnen zu leben, werden sie auch für die rechtliche und politische

Diskussion zugänglich. Der Verweigerer aus Gewissensgründen beteiligt sich an dem

demokratischen Prozess, indem er die ethischen Dissense in der Gesellschaft offenlegt und

den öffentlichen Diskurs stiftet. Die Gewissensfreiheit hat das Potenzial, dem

Mehrheitswillen und damit dem demokratischen Gemeinwesen vitale Impulse für seine

Weiterentwicklung zu geben. Sie ergänzt den institutionalisierten Prozess demokratischer

Willensbildung durch den freien öffentlichen Diskurs über ethische Grundlagen der Politik

und thematisiert moralische Fragen, die in der politischen Domain zu kurz gekommen sind.

Die aus den Gewissensentscheidungen der Einzelnen hervorgehenden Impulse für die

Weiterentwicklung des Gemeinwesens erlauben der Rechtsordnung, sich ständig der

verändernden Umwelt anzupassen. Dadurch leistet die Gewissensfreiheit einen Beitrag zur

Stabilität des Systems im Ganzen. Aus der demokratisch-funktionalen Perspektive erscheint

die Gewissensfreiheit als das Recht zur Mitverantwortung, welches zum Zweck hat, blinde

Befolgung des Rechts ohne Rücksicht auf seinen Inhalt vorzubeugen. Der demokratische

Verfassungsstaat gewinnt seine Legitimation, indem die Gewissensfreiheit von der Mehrheit

als Grenze des Rechtszwangs anerkannt wird.

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434

Problematisch bei der demokratisch-funktionalen Theorie ist allerdings, dass der Schwerpunkt

nicht auf das gewissensgemäße Handeln, sondern auf dessen Wirkungen im Bereich der

politischen Willensbildung gelegt wird. Das Streben des Einzelnen nach moralischer

Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des eigenen Handelns wird durch das Streben

nach gesellschaftlicher Mitverantwortung und Mitbestimmung ersetzt. Der Schutz des

Einzelnen von Gewissenskonflikten sowie die Bewahrung seiner Identität wird dagegen in

den Hintergrund gestellt. Der grundrechtliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit und ihre

abwehrrechtliche Funktion sind nach diesem Ansatz daher weitgehend verkannt. Das

Anliegen, die Unversehrtheit des Gewissens des Einzelnen möglichst weit zu sichern,

entspricht der Staatsauffassung des liberal-demokratischen Rechtsstaates. Danach ist der Staat

des Menschen willen da, um seine Menschenwürde, Freiheit und Eigentum zu schützen. Das

Gewissen als das innerste Zentrum der Persönlichkeit und seine Freiheit ist dem Staat

vorgegeben, deshalb muss sie vom Staat geachtet und geschützt werden. Die institutionelle

Grundrechtstheorie fordert dagegen, dass wenn der Konflikt für den Einzelnen unvermeidbar

ist, muss geprüft werden, ob es in den konkretem Fall Handlungsalternativen gibt und ob sie

für das Gemeinwesen tragbar sind. Falls der Gesetzgeber die Standardalternative nicht

bereitstellt, müssen die Lösungen fallbezogen erarbeitet werden. Nach der Werttheorie wird

die Verfassung als ein integrierendes Instrument der Gesellschaft angesehen. Soll das

Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Bewahrung der erreichten Wertekompromisse und

Stärkung der sozialen Integration beitragen, muss allen Gewissensentscheidungen unabhängig

von ihrer geistigen Quelle gleichwertiger Schutz eingeräumt werden.

Nach der Bestätigung mit Hilfe der Auslegungsmethoden, dass die Gewissensfreiheit in der

polnischen Verfassung garantiert wird, wird ihr Schutzbereich näher bestimmt. Zuerst wird

konstatiert, dass der grundrechtliche Schutz nur den natürlichen Personen zustehen kann. Dies

erklärt sich damit, dass das Gewissen Attribut des Einzelnen und nicht der Gruppen ist. Den

juristischen Personen sollte eigentlich das Recht eingeräumt werden, die Interessen seiner

Mitglieder auf ihrem Gesuch zu verteidigen. Diese Hilfsfunktion der juristischen Personen

würde wesentlich den Schutz der Rechte der Minderheiten verstärken.

Das forum internum der Gewissensfreiheit umfasst das Recht, moralische Überzeugungen zu

bilden und zu haben. Zum Schutzgegenstand wird die innerliche Auseinandersetzung mit sich

selbst (die innere Kommunikation) sowie die Hilfsmittel, welche diese Auseinandersetzungen

wiedergeben. Geschützt wird auch das Recht auf Geheimhaltung der Gewissensinhalte, es sei

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denn dass die Offenbarung der Gewissensentscheidung zur Ausübung anderer Rechte

notwendig ist. Den Kern des verfassungsrechtlichen Schutzes des forum internum bildet

allerdings die Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen und von unzulässiger Beeinflussung,

insbesondere des Gewissensbildungsprozesses, obwohl die Abgrenzung zwischen erlaubten

und sogar unabdingbaren Maßnahmen des Staates und der verbotenen Indoktrinierung

schwierig sein mag. Das entscheidende Kriterium in den Zweifelsfällen ist der Zweck der

betroffenen Handlung oder Maßnahme, die Gewissensinhalte des Einzelnen zu gestalten.

Die Erstreckung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das forum externum wird mit

dem Wesen der Gewissensentscheidung gerechtfertigt, welche nach ihrer Verwirklichung in

der Außenwelt drängt. Die Ausdehnung des grundrechtlichen Schutzes auf die

Betätigungsfreiheit ist allerdings nur unter Voraussetzung möglich, dass alle Ausübungsrechte

bereits im Begriff der Gewissens- und Religionsfreiheit enthalten sind, während den

Verbürgungen der einzelnen Ausübungsmodalitäten lediglich eine deklaratorische bzw.

klarstellende Funktion zugeschrieben wird. Die Bejahung einer solchen Auslegung wird mit

dem Wesen der menschlichen Freiheit bestätigt, die keinesfalls auf den innerlichen Bereich

reduziert werden kann. Da die Verfassung unmittelbar anwendbares Recht ist, braucht der

Gesetzgeber einen konkreten Typ der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht zu regeln,

damit sich der Einzelne auf den Grundrechtsschutz berufen kann. Wegen der Singularität der

Anwendungsfälle der Gewissensfreiheit soll in der Mehrzahl der Fälle bei der Handhabung

dieses Grundrechts die entscheidende Rolle der Rechtsprechung zukommen. Dem Richter

obliegt, die gesetzlich nicht geregelten Tatbestände der Gewissensfreiheit zu identifizieren,

die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Grundrechts festzustellen sowie die

notwendige Abwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern vorzunehmen.

Die Gewissensfreiheit ist allerdings mit allgemeiner Handlungsfreiheit nicht gleichzusetzen.

Sie stellt vielmehr die Freiheit des Einzelnen im ethischen Bereich dar, also die Freiheit zur

moralischen Autonomie und Selbstverwirklichung. Sie ist die Grundfreiheit jedes Einzelnen

als Person in der Suche nach dem Guten, die Freiheit, ein eigenes moralisches Urteil als

persönlicher Gewissensakt zu haben, sowie das Recht, sein Verhalten an sein Moralurteil

anzupassen und sein Leben danach zu richten. Eine solche Auffassung der Gewissensfreiheit

lässt ihr Schutzbereich auf Abwehr der vom Staat herbeigeführten Zwangslagen nicht

reduzieren, obwohl gerade in diesen Situationen das Grundrecht am häufigsten in Anspruch

genommen wird.

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Der wichtigste Anwendungsbereich der Gewissensfreiheit in der polnischen

Sozialwirklichkeit ist die Verweigerung an Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen, sowie

die Verweigerung, sich unter Berufung auf Gewissensgründe einer medizinischen

Behandlung, vor allem der Bluttransfusion zu unterziehen. Die Schutzgarantie im Fall der

Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen erstreckt sich nicht nur auf die mit ihrer

Durchführung unmittelbar zusammenhängenden Handlungen, sondern umfasst auch die

vorbereitenden Tätigkeiten, insbesondere die Anfertigung der Dokumentation. Der Schutz der

Gewissensfreiheit kann allerdings auf nachträgliche Handlungen nicht erstreckt werden. Die

Bedrohung des Lebens und Gesundheit der Schwangeren stellt dabei eine unüberschreitbare

Schranke des Verweigerungsrechts dar. Die Ausdehnung der Schranken der Gewissensfreiheit

auf den Fall der hypothetischen Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Patientin

würde allerdings den grundrechtlichen Schutz zu weitgehend verkürzen, insbesondere wenn

in Betracht gezogen wird, dass dem Recht der Patientin, eine Abtreibung zu bekommen, i.d.R.

die Pflichten der Gesundheitsanstalten und nicht der konkreten Ärzte oder anderer Mitglieder

des medizinischen Personals entsprechen. Für den wirksamen Schutz der Patientin sollten

allerdings Sicherungsmaßnahmen geschaffen werden, damit sie ihre Rechte wegen des

Ablaufs der gesetzlich vorgesehenen Fristen für die legale Abtreibung infolge der

Versäumnisse seitens des medizinischen Personals nicht verliert. In dieser Richtung soll der

gesetzliche Einschränkungsgrund der „anderen Dringlichkeitsfälle“ interpretiert werden. Dies

setzt die Schaffung eines minimales Verfahrens der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit

voraus, welches die Abgabe der Verweigerungserklärungen, ihren Widerruf regelt und die

Funktionsfähigkeit der Gesundheitsanstalten sichert. Wenn die Funktionsfähigkeit des

Gesundheitswesens es verlangt, soll der Verweigerer ausnahmsweise auf den anderen

Arbeitsplatz ohne Einbüße in seinem Rechtsstatus verlegt werden können.

Das Recht, eine medizinische Leistung aus Gewissensgründen zu verweigern, wird nach h. M.

aus der allgemeinen Freiheitsklausel und dem Recht auf Privatleben abgeleitet, obwohl seine

Inanspruchnahme vornämlich die Verweigerung der Bluttransfusion von Zeugen Jehovas

betrifft, also aus religiösen Gründen erfolgt. Die Bestimmung der Hierarchie der

kollidierenden Rechtsgüter (des Lebens und Gesundheit der Patienten einerseits und sein

Selbstbestimmungsrecht andererseits) soll dem Betroffenen überlassen werden. Weder der

Verfassungsgeber noch der Arzt ist zuständig, eine solche Wertung vorzunehmen. Einzige

Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit in diesem Bereich betrifft Minderjährige

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sowie Personen mit familiären Verpflichtungen. Die Problematik des sog. Lebenstestaments

ist zwar im polnischen Recht nicht geregelt, solche Erklärung wird aber sowohl in der

Rechtsprechung als auch in der Lehre für eine zulässige Ausübung des

Selbstbestimmungsrechts des Patienten gehalten.

Historisch war die Verweigerung aus Gewissensgründen die wichtigste Ausübungsmodalität

der Gewissensfreiheit. Nach der Einführung in Polen der Berufsarmee hat jedoch dieser

Verweigerungstyp die praktische Bedeutung verloren. Wegen der weiten Formulierung der

Anerkennungsgrundlagen in der Verfassung (religiöse und moralische Gründe) ist

anzunehmen, dass durch dieses Recht nicht nur die Grundrechtsträger geschützt werden,

welche den Krieg prinzipiell und absolut verweigern, sondern auch diejenigen, welche dies

aus situationsbezogenen moralischen Gründen tun.

Die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen ist wegen des

Betrachtungshorizonts des Einzelnen d.h. seiner persönlichen Zurechnung der Verantwortung,

sowie wegen des Vorliegens der kumulativen Ursächlichkeit zwischen seinem Geldbeitrag

und der Möglichkeit der Finanzierung der staatlichen Aufgaben durch den Schutzbereich des

Grundrechts der Gewissensfreiheit umfasst. Der Verfassungsgrundsatz der repräsentativen

Demokratie in Verbindung mit dem Grundsatz der Budgethoheit des Parlaments, sowie dem

verfassungsrechtlichen Auftrag, die Streitkräfte zu unterhalten, machen allerdings die

eventuelle Abwägung der kollidierenden Interessen auf der Schrankenebene nicht realisierbar.

Die Gewissensfreiheit muss daher vor den genannten Verfassungsgrundsätzen zurücktreten.

Die Annahme der Anwendbarkeit der Gewissensfreiheit im Privatrecht beruht auf der

Bejahung der Drittwirkung der Grundrechte der polnischen Verfassung, welche ihrerseits mit

dem Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfassung und der Freiheitsklausel,

wonach sich die Pflicht der Achtung der Freiheiten des Einzelnen an alle Rechtssubjekte ohne

Rücksicht auf ihren privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Status richtet, gerechtfertigt

wird. Die Berücksichtigung der Grundrechte im Privatrecht kann durch eine

grundrechtsorientierte Auslegung der privatrechtlichen Institutionen, insbesondere der

wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen offenen Rechtsbegriffe erfolgen. Im

polnischen Recht erfüllt diese Funktion vor allem Art. 5 Zivilgesetzbuch, wonach niemand

von seinem Recht Gebrauch machen kann, der gegen die Grundsätze des gesellschaftlichen

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Zusammenlebens verstößt. Weiterhin gehört die Gewissensfreiheit zum Katalog der

zivilrechtlich und arbeitsrechtlich geschützten persönlichen Rechtsgüter, deren Verletzung

den Anspruch des Geschädigten auf Unterlassung, bzw. auf Schadenersatz und

Wiedergutmachung auslöst. Allerdings wegen der im Kontext der Interpretation der

persönlichen Rechtsgüter herrschenden Gleichstellung des Gewissensbegriffs mit der

Glaubensfreiheit, insbesondere mit dem Verbot, religiöse Gefühle zu verletzen, ist nicht zu

erwarten, dass diese Rechtsfigur zum Schutz der Gewissensfreiheit im Bereich des Ethischen

in der Zukunft benutzt wird, obwohl sie zu diesem Zweck durchaus geeignet ist.

Die Berücksichtigung der Gewissensfreiheit im Strafrecht erfolgt durch die Einbeziehung der

Gewissensentscheidungen des Täters im Prozeß der Strafzumessung. Dies geschieht durch

ihre Subsumierung in den Rechtsbegriff „Motivation“, der zu Kriterien der Strafzumessung

nach dem polnischen Strafgesetzbuch gehört. Dies führt allerdings nicht zwangsläufig zur

Strafmilderung; Der Einfluß der Gewissensentscheidung auf das Ausmaß der Strafe hängt

vielmehr von deren Inhalt ab.

Wenn der Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit bejaht wird, stellt sich unweigerlich die

Problematik ihrer Schranken. Da die Gewissensfreiheit die unbegrenzte Geltung nicht

beanspruchen kann, ist für ihre Beschränkung die Schrankenklausel der

Religionsausübungsfreiheit entsprechend anzuwenden. Mag der Wortlaut der betroffenen

Verfassungsbestimmungen diesem Ansatz entgegenstehen, verhindert gerade die sprachliche

Fassung der Schrankenklausel die „dogmatisch saubere“ Lösung der Schrankenproblematik.

Darüber hinaus ist auf die allgemeine Einschränkungsklausel der Grundrechte, insbesondere

auf das dort verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip ergänzend zu rekurrieren. Mangels der in

der Verfassung bestimmten Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter ist bei der

Güterabwägung auf alle Umstände des Einzelfalles abzustellen. Die Rolle der Lehre in diesem

Zusammenhang ist, allgemeine Grundsätze der praktischen juristischen Vernunft aufzustellen,

welche bei der Interessenabwägung in konkreten Fällen hilfreich sein können. Dazu gehören

insbesondere die einzelnen Verfassungsgrundsätze (das Prinzip des demokratischen

Rechtsstaates, die Klauseln der Freiheit, Gleichheit und Würde, der Grundsatz der

Volkssouveränität), die durch die Ausübung der Gewissensfreiheit betroffenen Rechte und

Freiheiten Anderer und Gemeinwohlinteressen, sowie der Charakter der

Grundrechtsbetätigung (Handlung oder Unterlassung, Ausweichmöglichkeiten eines

Gewissenskonflikts). Darüber hinaus ist für die Einschränkung der Abgrenzung des

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Schutzbereiches der Gewissensfreiheit das Kriterium der sog. weltanschauungsneutralen

Gesetze d.h. derjenigen, welche keinen zielgerichteten Eingriff in die Gewissensfreiheit

darstellen, ungeeignet. Dies wird damit begründet, dass in einem modernen Staat das

Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich der dem Einzelnen zur freien

Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Darüber hinaus erfolgen die

Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die Diskriminierung häufig nicht als direkte

Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des Einzelnen, sondern gerade als Nebenfolge

der religionsneutralen Gesetzgebung, was vor allem die Minderheitsgruppen betrifft.

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