Das neue Stadion der Corinthians in São Paulo

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Fachthemen DOI: 10.1002/stab.201310059 444 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 82 (2013), Heft 6 Der Neubau des Stadions in São Paulo wird im kommenden Jahr besondere Aufmerk- samkeit auf sich ziehen, da das Stadion nicht nur als Austragungsort diverser WM-Spiele dient, sondern da hier am 12. Juni 2014 auch das Eröffnungsspiel der 20. Fußballwelt- meisterschaft in Brasilien stattfindet. Mehr als 100 Jahre mussten die Corinthians, einer der erfolgreichsten Fußballklubs Brasiliens, auf die Realisierung eines eigenen Stadions warten. Nachfolgend wird über den Entwurf und das Tragwerk des Stadions sowie über die Montage der schlanken Dachkonstruktion berichtet. The new stadium of the Corinthians in São Paulo. Special attention will be attracted by the new soccer stadium in São Paulo as it serves not only as a venue for several World Cup Games but also as location for the opening game of the 20 th World Cup in Brazil on June, 12th 2014. The Corinthians, one of the most successful soccer clubs in Brazil, had to wait for more than 100 years until they received their own stadium. Subsequently, the design, the structural system of the stadium and the erection procedure of the slender roof structure will be explained. 1 Einführung Für das Planungsbüro Werner Sobek Stuttgart begann das Projekt im Feb- ruar 2011, als die Architekten CDCA (Coutinho, Diegues, Cordeiro Arqui- tetos) aus Rio de Janeiro bezüglich einer Zusammenarbeit bei der Pla- nung eines Fußballstadions in São Paulo anfragten. Anfänglich war we- der die Finanzierung des Stadions noch die Aufnahme in den WM-Ka- lender gesichert. Trotz dieser unsiche- ren Ausgangssituation begannen alle Beteiligten unverzüglich mit der Pla- nung, bis sich schließlich alles zum Guten wendete: Das Stadion wurde nicht nur in den WM-Kalender aufge- nommen, sondern sogar als Austra- gungsort für das Eröffnungsspiel aus- gewählt. 2 Projekt Die neue Arena (Bild 1) liegt im Stadt- teil Itaquera und befindet sich ca. 15 km östlich vom Stadtkern von São Paulo entfernt. Die Arena de São Paulo wird nach der WM als Heimsta- dion des größten der drei örtlichen Fußballclubs, dem SC Corinthians Paulista, dienen. Die Stadionkapazi- tät umfasst für die WM-Eröffnung 65800 Sitzplätze. Nach der WM wer- den die temporären Tribünen rückge- baut, so dass das Stadion dann eine Kapazität von 48000 Sitzplätzen ha- ben wird. 3 Tragwerk 3.1 Allgemeines Der Stadionneubau lässt sich in zwei Bereiche unterteilen, den Stahl- und den Massivbau. Zum Stahlbau zählt das Dach- tragwerk, das die Tribünen im Osten und Westen vollständig und im Nor- den und Süden anteilig überdacht. Im Osten und Westen kragen die Dach- flächen aus (Bild 2), während die Dach- bereiche im Norden und im Süden unterspannt sind (Bild 3). Diese Unter- spannung ermöglicht eine freie Spann- weite von ca. 171 m. An den Enden binden die weit spannenden Dachbe- reiche wieder in die Träger im Osten und Westen ein. Die Gesamtabmessun- gen des Daches betragen ca. 200 m × 245 m, die Öffnung über dem Spielfeld ca. 150 m × 85 m. Mit diesem Trag- werkskonzept gelang es, den architek- tonischen Wunsch nach einer mög- lichst geringen Höhe des Daches und nach einer konstanten Ansichtshöhe Das neue Stadion der Corinthians in São Paulo Herrn Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Werner Sobek zur Vollendung seines 60. Lebensjahres gewidmet Stephen Hagenmayer Andreas Hoier Kerstin Puller Bild 1. WM-Stadion São Paulo (Bild: CDC Arquitetos) Fig. 1. World Cup Stadium São Paulo

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Fachthemen

DOI: 10.1002/stab.201310059

444 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 82 (2013), Heft 6

Der Neubau des Stadions in São Paulo wird im kommenden Jahr besondere Aufmerk-samkeit auf sich ziehen, da das Stadion nicht nur als Austragungsort diverser WM-Spiele dient, sondern da hier am 12. Juni 2014 auch das Eröffnungsspiel der 20. Fußballwelt-meisterschaft in Brasilien stattfindet. Mehr als 100 Jahre mussten die Corinthians, einer der erfolgreichsten Fußballklubs Brasiliens, auf die Realisierung eines eigenen Stadions warten. Nachfolgend wird über den Entwurf und das Tragwerk des Stadions sowie über die Montage der schlanken Dachkonstruktion berichtet.

The new stadium of the Corinthians in São Paulo. Special attention will be attracted by the new soccer stadium in São Paulo as it serves not only as a venue for several World Cup Games but also as location for the opening game of the 20th World Cup in Brazil on June, 12th 2014. The Corinthians, one of the most successful soccer clubs in Brazil, had to wait for more than 100 years until they received their own stadium. Subsequently, the design, the structural system of the stadium and the erection procedure of the slender roof structure will be explained.

1 Einführung

Für das Planungsbüro Werner Sobek Stuttgart begann das Projekt im Feb-ruar 2011, als die Architekten CDCA (Coutinho, Diegues, Cordeiro Arqui-tetos) aus Rio de Janeiro bezüglich einer Zusammenarbeit bei der Pla-nung eines Fußballstadions in São Paulo anfragten. Anfänglich war we-der die Finanzierung des Stadions noch die Aufnahme in den WM-Ka-lender gesichert. Trotz dieser unsiche-ren Ausgangssituation begannen alle Beteiligten unverzüglich mit der Pla-nung, bis sich schließlich alles zum Guten wendete: Das Stadion wurde nicht nur in den WM-Kalender aufge-nommen, sondern sogar als Austra-gungsort für das Eröffnungsspiel aus-gewählt.

2 Projekt

Die neue Arena (Bild 1) liegt im Stadt-teil Itaquera und befindet sich ca. 15 km östlich vom Stadtkern von São Paulo entfernt. Die Arena de São Paulo wird nach der WM als Heimsta-

dion des größten der drei örtlichen Fußballclubs, dem SC Corinthians Paulista, dienen. Die Stadionkapazi-tät umfasst für die WM-Eröffnung 65800 Sitzplätze. Nach der WM wer-den die temporären Tribünen rückge-baut, so dass das Stadion dann eine Kapazität von 48000 Sitzplätzen ha-ben wird.

3 Tragwerk3.1 Allgemeines

Der Stadionneubau lässt sich in zwei Bereiche unterteilen, den Stahl- und den Massivbau.

Zum Stahlbau zählt das Dach-tragwerk, das die Tribünen im Osten und Westen vollständig und im Nor-den und Süden anteilig überdacht. Im Osten und Westen kragen die Dach-flächen aus (Bild 2), während die Dach-bereiche im Norden und im Süden unterspannt sind (Bild 3). Diese Unter-spannung ermöglicht eine freie Spann-weite von ca. 171 m. An den Enden binden die weit spannenden Dachbe-reiche wieder in die Träger im Osten und Westen ein. Die Gesamtabmessun-gen des Daches betragen ca. 200 m × 245 m, die Öffnung über dem Spielfeld ca. 150 m × 85 m. Mit diesem Trag-werkskonzept gelang es, den architek-tonischen Wunsch nach einer mög-lichst geringen Höhe des Daches und nach einer konstanten Ansichtshöhe

Das neue Stadion der Corinthians in São PauloHerrn Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Werner Sobek zur Vollendung seines 60. Lebensjahres gewidmet

Stephen HagenmayerAndreas HoierKerstin Puller

Bild 1. WM-Stadion São Paulo (Bild: CDC Arquitetos)Fig. 1. World Cup Stadium São Paulo

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rang ist in das Gelände eingebettet. Im Norden und Süden befinden sich die annähernd baugleichen, 1-rangi-gen Tribünenbauten, die oberseitig mit dem bestehenden Gelände abschlie-ßen.

3.2 Dachkonstruktion 3.2.1 Horizontaler Lastabtrag

Da das gesamte Dach ein in sich ge-schlossenes Tragwerk von ca. 245 m × 240 m bildet und keine Fugen auf-weist, musste ausgeschlossen werden, dass durch Temperaturbeanspruchung große Zwangskräfte hervorgerufen werden. Dieses konnte durch eine sta-tisch bestimmte Lagerung des Dach-tragwerks erreicht werden.

Im Bereich der westlichen Tribü-nenüberdachung befinden sich hori-zontale Auflager in Ost-West-Richtung (so genannte A-Frames) und in Nord-Süd-Richtung (so genannte V-Braces), da hier ein Anschluss an die Ausstei-fungswände des Massivbaus (H-Quer-schnitte s. Bilder 4, 6 und 7) möglich war. Die A-Frames bestehen aus einer vertikalen Stütze und einer biegesteif angeschlossenen diagonalen Strebe

sich entweder über Rolltreppen oder über zwei an der Fassade entlang lau-fende Rampen den Weg nach oben bahnen.

Die Osttribüne umfasst nur drei oberirdische Geschosse und bietet da-mit dem Oberrang Platz, der Unter-

der Dachaußenkante von 3,5 m mit möglichst geringem Materialeinsatz zu erfüllen.

Den oberseitigen Dachabschluss bildet ein Cladding der Firma Fire-stone, das auf durch Nebenträger un-terstützte Trapezbleche aufgebracht wird. Bei dieser Art der Verkleidung wird eine thermoplastische Membran gleichmäßig auf der Unterkonstruk-tion befestigt, so dass eine nahezu fu-genlose, sehr homogene Dachfläche entsteht. Die Unterseite der Tribünen-überdachung wird mit einer textilen Membran verkleidet.

Zum Massivbau zählen insge-samt vier Tribünen, die entsprechend den vier Himmelsrichtungen benannt sind. Die Westtribüne umfasst drei Parkgeschosse im Untergrund und ins-gesamt neun Obergeschosse. In den aufgehenden Geschossen befinden sich Verkaufsräume, Lounges, Kioske, die Presseboxen und diverse Restau-rants. Die Westtribüne ist insgesamt 238 m lang und – gemessen von der Spielfeldebene aus – 57 m hoch; ihre maximale Tiefe beträgt 85 m (Bild 4). An der Rückseite der Westtribüne be-findet sich eine Glasfassade mit den Abmessungen 220 m × 25 m, die auch den Gebäudeabschluss darstellt. Hier befindet sich der Haupteingang des Stadions. Die Besucher gelangen über eine großzügige Freitreppe in das Ge-bäude, wo sie zunächst ein 25 m ho-hes Atrium erwartet, das sich zwischen den beiden inneren der vier Kerne be-findet (Bild 5). Die Besucher können

Bild 4. Draufsicht Stadioneinteilung Massivbau (Bild: WSS) (Maße in m)Fig. 4. Top view stadium arrangement concrete structure

Bild 2. Stadion Längsschnitt Ost-West-Richtung (Bild: WSS)Fig. 2. Longitudinal section stadium east west direction

Bild 3. Stadion Querschnitt Nord-Süd-Richtung (Bild: WSS)Fig. 3. Longitudinal section stadium east west direction

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(Bild 8). Durch eine gelenkige Lage-rung der A-Frames in den zwei Fuß-punkten ist eine Schiefstellung in Nord-Süd-Richtung möglich, die den Aufbau von großen Zwangskräften aus thermischer Ausdehnung des Daches minimiert. Auf den beiden inneren H-Wänden des Massivbaus sind an die A-Frames die V-Braces angeschlossen, welche die Horizontallasten in Nord-Süd-Richtung in den Massivbau abtra-gen.

Die östliche Überdachung ist nur in Nord-Süd-Richtung durch ausstei-fende Diagonalen in X-Form (X-Brace, Bild 6) im mittleren Stützenfeld mit dem Massivbau verbunden. Alle Hori-zontallasten in Ost-West-Richtung wer-den über den unterspannten Dachteil zu den Auflagern im Westen transfe-riert. Horizontale Verbände in der Un-tergurt- und Obergurtebene sowie ver-tikale Verbände zwischen den beiden Gurtebenen steifen das Dachtragwerk aus und bilden eine steife Scheibe, die eine Weiterleitung der Horizontallas-ten ermöglicht (Bild 9).

Bild 5. Südliches Kernpaar der Westtribüne (Foto: CNO)Fig. 5. Couple of cores on south side of grand stand west

Bild 6. Schematische Darstellung der Lagerung des Dach-tragwerks für Horizontallasten (rot: Aussteifungselemente in Nord-Süd-Richtung, blau: Aussteifungs elemente in Ost-West-Richtung) (Bild: WSS)Fig. 6. Schematic drawing of the lateral support conditions of the roof structure (red: supports in north-south direction, blue: supports in east-west direction)

Bild 7. Horizontale Auflager im westlichen Dachbereich (A-Frames und V-Braces) (Bild: WSS)Fig. 7. Horizontal supports in the west part of the roof (A-Frames and V-Braces)

Bild 8. Detail A: Finite-Element-Modell und Explosionszeichnung des A-Frame-Kopfpunktes ohne V-Brace (Bild: WSS)Fig. 8. Detail A: finite-element model and exploded drawing of the A-frame top node without V-Brace

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Bild 12). Die hintere Reihe der Pendel-stützen (Achse B) des Daches leitet in diesem Bereich ihre Kräfte nicht – wie sonst üblich – direkt in den Massiv-bau ein, sondern schließt an das Le-vel 11 an. Die Lasten der in Bild 11

Hier erstreckt sich im Massivbau das 25 m hohe, stützenfreie Atrium (52,5 × 18 m², Bild 11). Den Dachabschluss des Atriums bildet ein aus Fachwerk-trägern zusammengeschlossener Trä-gerrost (das so genannte Level 11, s.

Durch die gewählte statisch be-stimmte Lagerung treten im Osten durch temperaturbedingte Ausdeh-nung horizontale Stützenkopfverschie-bungen von bis zu 80 mm auf, die von den Pendelstützen mit Doppelgelen-ken zwangsfrei aufgenommen werden.

3.2.2 Vertikaler Lastabtrag

Die in einem Achsraster von 7,5 m an-geordneten auskragenden Fachwerk-träger überdachen die Tribünen im Osten und Westen und ermöglichen eine stützenfreie Überdachung des Zuschauerbereichs (Bild 10). Die La-gerung der Träger erfolgt durch zwei Pendelstützen, die in einem Abstand von 15 m angeordnet sind und die als Kräftepaar das entstehende Kragmo-ment aufnehmen. Da insbesondere in der spielfeldabgewandten Pendelstütze große Zugkräfte auftreten, die über eine Kugelkalotte schwer übertragbar wären, wurde ein Doppelgelenk aus einfachen Augstabverbindungen ent-wickelt. Von der vorderen Stützen-achse kragt die Überdachung weitere 58 m aus. Um die Abtragung des aus dieser Auskragung resultierenden Bie-gemomentes zu ermöglichen, vergrö-ßert sich die Bauhöhe des Fachwerk-trägers von 3 m an der Fachwerkspitze auf bis zu 10 m im Stützbereich.

Eine Sondersituation ergibt sich im mittleren Bereich der Westtribüne:

Bild 9. Horizontale Verbände im Obergurt (links) und im Untergurt (rechts) (Bild: WSS)Fig. 9. Horizontal bracings in the top chord (left) and the bottom chord (right)

Bild 10. Auskragender Fachwerkträger auf zwei Pendelstützen, Vierendeelsystem im vorderen auskragenden Bereich (Bild: WSS)Fig. 10. Cantilevering truss supported by two pendulum columns, Vierendeel system at the tip of the truss

Bild 11. Lasttransfer der hinteren Pendelstützen im Atriumbereich (Bild: WSS)Fig. 11. Load transfer for backside pendulum columns at the atrium

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träger und Diagonalen vom ebenen, geschweißten Stoß der Hauptträger-profile tragstrukturell zu entkoppeln und Steifen im Hauptträgerhohlprofil zu vermeiden, wurden die Profile des Sekundärtragwerks an Anschlussble-che angebunden, die den durchlaufen-den Hauptträger umgreifen.

Eine in die Massivbaustruktur des Westens integrierte Verbundstütze (Bild 13) reduziert die freie Spann-weite der nördlichen/südlichen Dach-bereiche zwischen den Tribünenüber-dachungen auf 170 m. Um diese Dis-tanz zu überspannen, sind die Nord-/Süddachbereiche mit einem Zugband bestehend aus fünf Stahllamellen un-terspannt. Die in einem Abstand von 14 m angeordneten Luftstützen erhö-hen dabei die statische Höhe auf bis zu 15 m. Der 3 m hohe Obergurt be-steht in Längsrichtung aus drei Haupt-trägern und zwei Randträgern, die die Außenkanten des Dachbereichs bil-den. Die Haupt- und Nebenträger wer-den durch sekundäre Fachwerkträger quer zur Unterspannungsrichtung zu einem steifen Raumfachwerk zusam-mengeschlossen. An den Enden der Unterspannung mündet dieser Dach-bereich in die östlichen bzw. westli-chen Tribünenüberdachungen.

Bei Konstruktionen mit solch gro-ßen Spannweiten und dem Entwurf geschuldeten geringen Torsionssteifig-keiten besteht die Gefahr, dass sie durch Windbelastung in Schwingung versetzt werden. Fallen die durch den Wind hervorgerufenen Schwingungs-frequenzen in den Bereich der Eigen-frequenzen des Tragwerks, kann es zu Resonanzerscheinungen kommen. Schon früh wurde deshalb der Wind-gutachter in den Entwurfsprozess ein-bezogen und in Windkanaluntersu-chungen die Windbeanspruchung auf das Tragwerk bestimmt. Die Steifig-keiten der Dachkonstruktion wurden

steifende horizontale Aussteifungsele-mente verzichten zu können, erfolgte die Anbindung der Vierendeelträger an den nördlichen bzw. südlichen Dachteil über Federauflager.

Um die Knotenausbildung der Dachstruktur zu vereinfachen und eine gleichmäßige Unteransicht zu er-zeugen, wurden die Unter- und Ober-gurte der auskragenden Fachwerkträ-ger mit Hohlprofilen gleicher Außen-abmessungen ausgeführt und lediglich die Wanddicke der Profile variiert. An den Knotenpunkten sind die Haupt-trägerprofile miteinander verschweißt, wobei bei der Festlegung der Diago-nalenneigung auf eine ausreichend große Überlappung mit dem Pfosten bzw. einen ausreichend großen Ver-satz geachtet werden musste.

Über Schraubverbindungen an-geschlossene Nebenträger und Diago-nalen verbinden die Hauptträger un-tereinander und stellen eine Weiterlei-tung der auftretenden Horizontalkräfte sicher. Um die Verbindung der Neben-

rot dargestellten Pendelstützen treffen in Level 11 auf jeweils einen Fachwerk-träger, der über die kurze Seite an die Pendelstütze in Achse C angreift und rückwärtig an einen Fachwerkträger in Längsrichtung anschließt, der wie-derum an vier Stützen nach unten ver-ankert ist (Bild 12).

Wunsch des Architekten war es, die vorderste Spitze der Tribünen-überdachung mit einer transparenten Eindeckung zu versehen und die Trag-struktur dieses Bereichs weitestgehend zu entmaterialisieren. Eine Vielzahl von Entwurfsstudien wurde durchge-führt, um eine optisch möglichst ru-hige und unauffällige Tragstruktur für die 15 m Auskragung zu entwickeln. Unter perspektivischer Betrachtung rufen insbesondere die Diagonalen eines Fachwerkträgers bei Hinterein-anderreihung ein unruhiges Erschei-nungsbild hervor. Um diese visuelle Überlagerung zu vermeiden, wurde dieser Bereich als Vierendeelsystem ausgeführt. Um gleichzeitig auf aus-

Bild 12. Rückhängung der Pendelstützen (rot markiert) in die Ebene 11 (blau markiert) (Bild: WSS)Fig. 12. Connection of pendulum columns (marked in red) in level 11 (marked in blue)

Bild 13. Schnitt Dachtragwerk (Bild: WSS) (Maße in m)Fig. 13. Section of the roof structure

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den Ermüdungslasten ermittelt und die erwartete Lebensdauer berechnet. Zusätzlich wurden konstruktive Maß-nahmen (z. B. Vermeidung von Kehl-nähten) ergriffen, um eine mögliche Ermüdungsbeanspruchung zu mini-mieren.

4 Montage

Die Montage der Dachkonstruktion musste an die zeitlich unterschiedli-che Fertigstellung der Tribünenbau-werke angepasst werden. So wurde der einfach gehaltene dreigeschossige Tribünenbau im Osten zuerst erstellt, das relativ komplexe und zwölfge-schossige Westgebäude erst Monate später und abschließend die einfa-chen Tribünenstufen im Norden und Süden des Stadions. Dieser Bauablauf ermöglichte das verzahnte Arbeiten der unterschiedlichen Gewerke: So konnte in Teilen schon damit begon-nen werden, die Dachhaut im Osten des Daches zu montieren, während im Westen erst der Stahlbau des Da-ches aufgestellt wurde und im Norden und Süden der Massivbau der Tribü-nenkonstruktion (Bild 14).

Alle Einzelteile des Stahldaches wurden in den zwei Werkshallen der beauftragten Stahlbaufirmen gefertigt und zu transportierbaren Segmenten zusammengefügt. Die einzelnen Haupt-träger wurden auf der Baustelle auf der Seite liegend unter größter Sorg-falt zusammengeschweißt und nach Fertigstellung in ein temporäres Trag-gerüst aufgerichtet (Bild 15).

Um die Kranarbeitszeiten zu mi-nimieren, wurde immer ein Träger-

keitsbereichs der Kerbfalltafeln für Hohlprofile der DIN EN 1993-10: 2010 lagen, erfolgte die Nachweisfüh-rung über das Strukturspannungskon-zept. Hierzu wurde eine Vielzahl der geschweißten Hohlprofilknoten mit der Methode der Finiten Elemente modelliert, die maximale Spannungs-schwingbreite unter den einwirken-

so entwickelt, dass bei den durchge-führten Winduntersuchungen sowohl ein Galloping als auch ein Flattern ausgeschlossen werden konnten. Le-diglich die durch Wirbelablösungen erzeugten Schwingungen mussten in einem Ermüdungsnachweis berück-sichtigt werden. Da die Querschnitts-abmessungen außerhalb des Gültig-

Bild 14. Montagereihenfolge, 1–6 (Bild: WSS)Fig. 14. Construction steps, 1–6

Bild 15. Zusammensetzen der Einzelelemente (Bild: WSS)Fig. 15. Assembly of the truss elements

Bild 16. Einheben des ersten Trägerpaars (Bild: CNO)Fig. 16. Lifting of the first truss pair

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gen in der Mitte abgebaut und für die nächsten außen verwendet werden (Bild 18).

Für den Teil des Daches oberhalb der Westtribüne wurde das Einheben der Trägerpaare nach dem gleichen Vorgehen vollzogen. Bevor die einzel-nen Segmente eingehoben werden konnten, musste das Transfergeschoss in Level 11 errichtet werden (Monta-geschritt 2). Hierbei handelt es sich um einen Trägerrost aus Stahlfach-werkträgern, der zum einen auf den Stahlbetonstützen der Tribünenober-ränge und den Verbundstützen hinter der Hauptfassade aufgelagert ist und zum anderen zwischen den beiden mittleren Aussteifungskernen spannt. Als Decke wurden Fertigteilelemente aus Stahlbeton auf den Trägerrost ge-legt. Zusammen mit dem Eigenge-wicht der Stahlstruktur wirken die Stahlbetonfertigteile als Gegengewicht zu den auftretenden Zugkräften der hinteren Stützenreihe des Dachtrag-werks (Bild 19). Anders als im Osten wurden die Trägerpaare im Westen von den beiden mittleren Stahlbetonkernen ausgehend eingehoben, da sich dort die horizontalen Hauptauflager des Daches befinden (Montageschritt 3).

Im nächsten Bauabschnitt wur-den die westlichen Eckbereiche (Mon-tageschritte 4 und 5) und segment-weise die ca. 170 m weitspannenden Dachteile im Norden und Süden ins-talliert (Bild 20). Dazu wurden Stahl-fachwerktürme als temporäre Unter-stützung aufgestellt, auf die die bis zu 40 m langen und 24 m breiten Dach-segmente aufgelagert wurden. Im Wes-ten beginnend wurden die fünf einzel-nen Dachsegmente nach Osten hin auf die temporären Türme eingehoben und miteinander durch geschraubte Stirnplattenstöße verbunden (Monta-geschritt 6).

Die alle 14 m angeordneten Luft-stützen der Unterspannung wurden schrittweise eingebaut, ausgerichtet und fixiert. Das letzte Segment (Mon-tageschritt 6.5) des weitspannenden Daches ist der östliche Eckbereich. Die vorderen Druckstützen wurden wieder überhöht und mit einer leichten Schief-stellung eingebaut. Das Dachsegment wurde samt Zugstützen eingehoben und mit dem unterspannten Dachteil verbunden. Nach Ausrichten der Luft-stützen und Überprüfen aller Verbin-dungen wurde das Zugelement der Unterspannung installiert. Es besteht

genau definiertes Maß überhöht und leicht geneigt eingebaut. Dies führt zu einer Überhöhung der gesamten Dach-konstruktion, die sich nach finaler Lastaufbringung bis zur Solllage wie-der abbaut (Bild 17). Die Vierendeel-struktur (d. h. die vorderen 15 m der Dachkonstruktion) kann am An-schlusspunkt des Fachwerkträgers nachjustiert werden, so dass eine Hö-hendifferenz an vorderster Dachkante von ± 150 mm nachgestellt werden kann.

Die hintere Pendelstütze, die maß-geblich auf Zug beansprucht wird, wurde bereits im temporären Tragge-rüst an das Trägerpaar installiert und mit eingehoben. Als erstes Element wurde das mittlere Trägerpaar im Os-ten (Montageschritt 1) eingebaut, da dieses zusammen mit der permanen-ten Aussteifung (X-Brace) das hori-zontale Auflager in Längsrichtung des Spielfelds bildet. Nach Zusammen-schluss der ersten drei Trägerpaare konnten die temporären Abstützun-

paar gleichzeitig eingehoben (Bild 16). Dazu mussten jeweils zwei Hauptträ-ger exakt nebeneinander aufgerichtet und die in jedem Knotenpunkt angrei-fenden Kopplungsträger sowie die Elemente der aussteifenden Verbände montiert werden.

Bevor die Trägerpaare eingeho-ben und installiert werden konnten, mussten die Stahleinbauteile im Mas-sivbau entlang der vorderen Druck-stützenreihe exakt aufgemessen wer-den. Um die exakte Lage und Neigung der unteren Stahlgelenke zu gewähr-leisteten, wurden auf die Stahleinbau-teile gefräste Futterbleche geschweißt. Danach konnten die vorderen Pendel-stützen installiert, ausgerichtet und durch temporäre Stahlstreben gehal-ten fixiert werden.

Um an der Vorderkante der weit auskragenden Träger nach Installa-tion sämtlicher Bauteile, Dachhaut und technischer Ausstattung die ge-wünschte Solllage zu erreichen, wur-den die vorderen Druckstützen um ein

Bild 17. Schematische Darstellung der Überhöhungsgeometrie (rot gestrichelt) (Bild: WSS)Fig. 17. Schematic drawing of the precambering geometry (marked in red)

Bild 18. Installation Ostdach (Bild: CNO)Fig. 18. Erection of the east roof part

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aus einem fünfteiligen Stahllamellen-paket, das mittels Bolzen mit den Luft-stützen verbunden ist. Nach Fertigstel-lung des Tragwerks wurden die tempo-rären Türme schrittweise in einer zu- vor genau untersuchten Reihenfolge abgelassen, um den lokalen Schnitt-größenzuwachs durch Umlagerung der Kräfte in der Dachstruktur so gering wie möglich zu halten.

Die Segmente des unterspannten Dachbereichs wurden mit einer Über-höhung von bis zu 400 mm (in Feld-mitte) eingebaut, damit sich das Dach nach Ablassen der Türme und der Kraftumlagerung in die Unterspan-nung in der Sollgeometrie befindet (Bild 21).

5 Schlussbemerkungen

Mit dem Tragwerksentwurf ist es ge-lungen, u. a. eine freie Spannweite der Dachstruktur von 170 m zu erzielen und zugleich den architektonischen Wunsch nach einer wahrnehmbaren

Bild 20. Längsschnitt Dachtragwerk mit temporären Unterstützungstürmen (Bild: WSS)Fig. 20. Longitudinal section with temporary tower supports

Bild 21. Schematische Darstellung der Überhöhungsgeometrie (rot gestrichelt) (Bild: WSS)Fig. 21. Schematic drawing of the precambering geometry (marked in red)

Bild 19. Transfergeschoss Level 11 (Bild: WSS)Fig. 19. Transfer level 11

konstanten Dachansichtshöhe von nur 3,5 m zu erfüllen. Wie eine dünne Scheibe mit konstanter Dicke scheint das Dach über den massiven Tribünen-strukturen zu schweben und gibt dem Stadion insgesamt eine prägnante Er-scheinung, die sich von vielen Stadien der heutigen Zeit unterscheidet.

Durch eine sehr enge Zusammen-arbeit und das große Engagement aller Beteiligten konnte die Planung (Mas-sivbau und Stahlbau) nach nur knapp zwei Jahren abgeschlossen werden. Da parallel zum Abschluss der Planung die Fertigung der ersten Dachelemente begann, konnte bereits im Spätsom-mer 2012 das erste Dachsegment ein-gehoben werden. Die Autoren bedan-ken sich beim gesamten Planungsteam und blicken mit Spannung auf die Einweihung des Stadions.

Projektdaten:Planungsbeginn: Februar 2011Fertigstellung: voraussichtlich Ende 2013

Kapazität: 48000 Plätze; Ausbauzu-stand WM: 65800 Plätze Überdachte Grundfläche: 32000 m²Stahlkonstruktion Dachtragwerk: ca. 5100 t

Am Bau Beteiligte:Bauherr:Sport Club Corinithians Paulista, São PauloArchitekt:Coutinho, Diegues, Cordeiro (CDC) Arquitetos, Rio de JaneiroTragwerksplaner:Werner Sobek StuttgartStephen Hagenmayer mit Andreas Hoier, Kerstin Puller und Jörg Span-genbergRadu Berger, Andrea Ender, Andreas Lehr, Alexandra Toncar, Stefan Tscher-sich, Oliver Reymann, Jens Walter, Bernhard WalendyGeneralunternehmer:Construtora Noberto Odebrecht S.A. (CNO), São PauloStahlbau:Brafer, Araucaria; Alufer, ItuMassivbau:EGT engenharia, TérreoPeer Review:Prof. Dr.-Ing. Nelson Szilard Galgoul, Rio de JaneiroWindkanaluntersuchungen:Wacker Ingenieure, Birkenfeld

Autoren dieses Beitrages:Dipl.-Ing. Stephen Hagenmayer, [email protected],Dipl.-Ing. Andreas Hoier, [email protected],Dr.-Ing. Kerstin Puller, [email protected],Werner Sobek Stuttgart,Albstraße 14,70597 Stuttgart