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32 Das Schema der gewerblichen und industriellen Betriebsformen Eine geschichtlich-klassifikatorische Skizze Von Prof. Dr. Alexander Bilimovic Inhalt: I. Einführung — II. Das Schema der Betriebsformen — III. Die Formen der Fabrik — IV. Schiusa I. Einführung Sowohl die ältere historische Schule mit Wilhelm Röscher wie die jüngere mit Gustav Schmoller und einer langen Reihe mehr oder weniger berühmter Forscher beschäftigten sich mit der geschichtlichen Entwicklung und den charak- teristischen Eigenschaften verschiedener Formen der gewerblichen und indu- striellen Betriebe 1 . Später hat das Interesse an diesen Fragen nachgelassen. Man betrachtete sie als genügend geklärt, und andere Probleme nahmen die Aufmerksamkeit der nationalökonomischen Forscher in Anspruch. Wir haben jedoch bisher sogar für die früheren gewerblichen und indu- striellen Betriebsformen keine vollständige, streng ausgearbeitete Klassifika- tion. Einige von diesen Formen sind nach den bestehenden Klassifikationen schwer definierbar, obgleich nicht nur die theoretische Systematik der Wirt- schaftsgebilde, sondern auch die praktische Wirtschafts- und Sozialpolitik ihre Definitionen braucht. So gibt es eigentlich keine zureichende Definition der Fabrik, die sie von den verwandten Betriebsformen unterscheidet, obgleich eine solche Definition für die Arbeiterschutz- und Steuergesetzgebung notwendig ist 2 . Auch viele 1 Ausführliche bibliographische Hinweise in der letzten wie in den früheren Auflagen des «Handwörterbuchs der Staatswissenschaften» und im «Modernen Kapitalismus» von Werner Sombart. 2 Wenn Karl Bücher die Fabrik als diejenige Art des gewerblichen Betriebes definiert, «bei welcher ein Unternehmer regelmässig eine grössere Zahl von Arbeitern ausserhalb ihrer Wohnung in eigener Betriebsstätte beschäftigt» (siehe «Gewerbe» im Hwb. d. Stw. 4. Aufl. IV. Bd., Jena 1927, S. 989), so fehlen in dieser Definition einige geschichtlich und technisch- wirtschaftlich wichtige Merkmale, welche die Fabrik von der Manufaktur trennen. Bücher be- streitet dabei die Meinung «mancher neueren Systematiker», welche «diejenigen konzentrierten Grossbetriebe als Manufakturen bezeichnen, in denen bloss Handarbeit verwendet werde, oder gar schon diejenigen, in denen wesentliche Teile des Produktionsprozesses durch Handarbeit ausgeführt werden», und «die Fabrik erst mit der reichlicheren Verwendung von Maschinen beginnen lassen». K. Bücher meint vielmehr: «Die Maschine hat die Ausbreitung des Fabrik- systems gewaltig gefördert, aber sie hat dieses System nicht geschaffen» (op. cit., S. 992). Diese kritischen Bemerkungen erklären sich nur dadurch, dass Bücher eigentlich keinen Unterschied zwischen der Manufaktur und der Fabrik anerkennt, obgleich er an anderem Ort selbst sagt, dass «die technischen Umstände die Gründung von Fabriken veranlassen» (S. 989). Als solche Umstände waren aber für die Fabrik als eine besondere Betriebsform, für ihre Entstehung und

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Das Schema der gewerblichen und industriellen Betriebsformen

Eine geschichtlich-klassifikatorische Skizze

Von Prof. Dr. Alexander Bilimovic

Inhalt: I. Einführung — II. Das Schema der Betriebsformen — III. Die Formen der Fabrik — IV. Schiusa

I. Einführung

Sowohl die ältere historische Schule mit Wilhelm Röscher wie die jüngere mit Gustav Schmoller und einer langen Reihe mehr oder weniger berühmter Forscher beschäftigten sich mit der geschichtlichen Entwicklung und den charak­teristischen Eigenschaften verschiedener Formen der gewerblichen und indu­striellen Betriebe1. Später hat das Interesse an diesen Fragen nachgelassen. Man betrachtete sie als genügend geklärt, und andere Probleme nahmen die Aufmerksamkeit der nationalökonomischen Forscher in Anspruch.

Wir haben jedoch bisher sogar für die früheren gewerblichen und indu­striellen Betriebsformen keine vollständige, streng ausgearbeitete Klassifika­tion. Einige von diesen Formen sind nach den bestehenden Klassifikationen schwer definierbar, obgleich nicht nur die theoretische Systematik der Wirt­schaftsgebilde, sondern auch die praktische Wirtschafts- und Sozialpolitik ihre Definitionen braucht.

So gibt es eigentlich keine zureichende Definition der Fabrik, die sie von den verwandten Betriebsformen unterscheidet, obgleich eine solche Definition für die Arbeiterschutz- und Steuergesetzgebung notwendig ist2. Auch viele

1 Ausführliche bibliographische Hinweise in der letzten wie in den früheren Auflagen des «Handwörterbuchs der Staatswissenschaften» und im «Modernen Kapitalismus» von Werner Sombart.

2 Wenn Karl Bücher die Fabrik als diejenige Art des gewerblichen Betriebes definiert, «bei welcher ein Unternehmer regelmässig eine grössere Zahl von Arbeitern ausserhalb ihrer Wohnung in eigener Betriebsstätte beschäftigt» (siehe «Gewerbe» im Hwb. d. Stw. 4. Aufl. IV. Bd., Jena 1927, S. 989), so fehlen in dieser Definition einige geschichtlich und technisch-wirtschaftlich wichtige Merkmale, welche die Fabrik von der Manufaktur trennen. Bücher be­streitet dabei die Meinung «mancher neueren Systematiker», welche «diejenigen konzentrierten Grossbetriebe als Manufakturen bezeichnen, in denen bloss Handarbeit verwendet werde, oder gar schon diejenigen, in denen wesentliche Teile des Produktionsprozesses durch Handarbeit ausgeführt werden», und «die Fabrik erst mit der reichlicheren Verwendung von Maschinen beginnen lassen». K. Bücher meint vielmehr: «Die Maschine hat die Ausbreitung des Fabrik­systems gewaltig gefördert, aber sie hat dieses System nicht geschaffen» (op. cit., S. 992). Diese kritischen Bemerkungen erklären sich nur dadurch, dass Bücher eigentlich keinen Unterschied zwischen der Manufaktur und der Fabrik anerkennt, obgleich er an anderem Ort selbst sagt, dass «die technischen Umstände die Gründung von Fabriken veranlassen» (S. 989). Als solche Umstände waren aber für die Fabrik als eine besondere Betriebsform, für ihre Entstehung und

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Definitionen des Handwerks sind ungenügend1. Sogar das Lieblingsobjekt der unzähligen Forscher historischer Richtung — die Hausindustrie bzw. das Ver­lagssystem — wurde meistens als Betrieb eines Verlegers, nicht aber als Betrieb eines Heimarbeiters, d. h. eines Hausindustriellen, aufgcfasst und charakteri­siert; deshalb hat diese Betriebsform nicht immer den richtigen Platz im System der gewerblichen Betriebsformen gefunden2.

Alle diese Unklarheiten in den Definitionen von einzelnen Betriebsformen sind noch nicht von besonders grosser Bedeutung. Wichtiger ist der Mangel an einer allgemeinen, auf bestimmten «principiis divisionis» aufgebauten Klassi­fikation von Betriebsformen, einer Klassifikation, in der alle wichtigen Betriebs­formen ihren richtigen Platz finden könnten und nicht nur die älteren klassi-

Entwicklung eben die höhere Technik, insbesondere die Verwendung von Maschinen und kom­plizierten chemischen Prozessen sowie die damit verbundenen grösseren Anlagekapitalien ent­scheidend.

1 So zählt K. Bücher zum Handwerk nur das «Preiswerk», d. h. «dasjenige gewerbliche Betriebssystem, bei welchem der Produzent als Eigentümer sämtlicher Betriebsmittel Tausch­werte für nicht seinem Haushalt angehörende Konsumenten erzeugt» (S. 981), nicht aber das «Lohnwerk», d. h. «die gewerbliche Berufsarbeit, bei welcher der Rohstoff dem Kunden, das Werkzeug dem Arbeiter gehört» (S. 974). Die beiden stellen aber nur zwei Arten des Hand­werks dar, und ein und derselbe Handwerker führt sehr oft sowohl das Preis- wie auch das Lohnwerk aus : z. B . ein Schneider, der aus eigenem sowie aus dem Kunden gehörendem Stoff Anzüge verfertigt.

2 Für Werner Sombart ist die Hausindustrie (Verlagssystem) «diejenige Betriebsform der kapitalistischen Unternehmung, bei welcher die Arbeiter in ihren eigenen Wohnungen oder Werkstätten beschäftigt werden». Er unterstreicht dabei, dass die Hausindustrie «eine Form der kapitalistischen Prorfufcionsunteraehmung» ist, «sofern die Produktionsleitung in den Hän­den eines kapitalistischen Unternehmers ruht », weil dieser Unternehmer, auch Verleger genannt, «Richtung und Ausmass der Produktion» bestimmt und «die in ihren Wohnungen oder Werk­stätten beschäftigten Arbeiter mit Aufträgen» versieht und weil darin der «Unterschied gegen­über der reinen Handelsunternehmung» liegt. Aber Sombart selbst bemerkt, dass in der Haus­industrie der kapitalistische Unternehmer zu seiner Stellung nicht dank dem Besitz der Pro­duktionsmittel kommt, sondern dank «der Kenntnis und Beherrschung des Warenmarktes (also seinen kaufmännischen Qualitäten) sowie dem Besitze des zur Beschaffung der Rohstoffe und zum Vertriebe der Fabrikate notwendigen Kapitals» (s. «Hausindustrie» im Hb . d. Stw., 4. Aufl., V. Band, Jena 1923, S. 179). Also ist die Hausindustrie vom Standpunkt des Verlegers kein gewerblicher, sondern ein kaufmännischer Betrieb.

Nach Bücher ist die Hausindustrie «das Arbeitsverhältnis des Verlagssystems» und das Verlagssystem: «diejenige Art des gewerblichen Betriebs, bei welcher ein Unternehmer regel­mässig eine grössere Zahl von Arbeitern ausserhalb seiner eigenen Betriebsstätte in ihren Woh­nungen beschäftigt» (op. cit., S. 986). Deshalb ist für Bücher das Verlagssystem ein System von dezentralisierten Betriehen, und zwar Grossbetrieben. Das ist ganz richtig, wenn man dieses System vom Standpunkt des Verlegers betrachtet ; vom Standpunkt des Heimarbeiters, der dem Verleger seine Erzeugnisse abgibt, ist die Hausindustrie ein System von Kleinbetrieben, die sich jedoch vom selbständigen Handwerk durch diese spezifischen Absatzbedingungen unterscheiden«

Aber auch Bücher anerkennt, dass «der Verlag kapitalistische Gestaltung des Ver­triebes» und nicht des Produktionsprozesses darstellt. «Der Verlag ist wesentlich Handelsunter­nehmung», während «die Fabrik wesentlich Produktionsunternehmung » ist. War die Ent­stehung der Fabrik durch die technischen Umstände veranlasst, so ha t den Verlag «die Er­weiterung des Absatzgebietes» geschaffen (S. 989). Das Verlagssystem als Betrieb des Verlegers ist also auch nach Bücher ein kaufmännischer und nicht ein gewerblicher Betrieb.

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sehen Formen, sondern auch die neueren und neuesten, welche die moderne Wirt­schaftsentwicklung mit sich bringt.

Gerade hier liegt jetzt der Schwerpunkt der Klassifikation der gewerblichen und industriellen Betriebsformen, weil eben in der letzten Zeit auf dem Gebiete der Industrie ein intensiver Reorganisationsprozess stattfand und weitergeht. Dieser Prozess hat die neuen Formen der industriellen Betriebe, welche die Strukturänderung nicht nur der einzelnen Betriebe, sondern auch der ganzen Volkswirtschaft mit sich bringen, geschaffen und schafft sie weiter.

Die nationalökonomischen Theoretiker und Systematiker haben die Morpho­logie der modernen Unternehmungsverfcoiufe sorgfältig untersucht und klassi­fiziert. Sie haben aber bisher, abgesehen von der Lehre über die Rationali­sierung, sehr wenig für die Morphologie der einzelnen Betriebe in ihren neuen Formen getan. Ein allgemeines streng wissenschaftliches System der zahl­reichen neuen und neuesten industriellen Betriebsformen gibt es noch nicht. Über die Natur vieler dieser Formen herrscht vielmehr grosse Unklarheit.

II . Das Schema der Betriebsformen

In dieser Skizze versuchen wir, ein Schema aufzustellen, das alle wichtigen gewerblichen und industriellen Betriebsformen1 nach bestimmten Merkmalen klassifiziert und für jede Form ihren Platz im System der Betriebe zeigt.

Das Schema (siehe Schaubild I auf Seite 35 und Schaubild II auf Seite 44) ist auf zwei Gruppen von Merkmalen aufgebaut:

I. technisch-wirtschaftliche und II. sozial-wirtschaftliche. Die Merkmale der ersten Gruppe sind an keine bestimmte Wirtschafts-

und Rechtsordnung direkt gebunden und können bei jeder Ordnung bestehen. Die Merkmale der zweiten Gruppe sind immer an eine bestimmte soziale und rechtliche Ordnung gebunden.

In jeder dieser zwei Gruppen unterscheiden wir je zwei Merkmale, und zwar : in der I. Gruppe: 1. Betriebsgrösse und

2. Niveau der Technik; in der II. Gruppe: 1. Absatzweise und

2. Selbständigkeit des Arbeiters oder seine Abhängigkeit vom Unternehmer-Kapitalisten.

Das Schema kombiniert diese vier Merkmale. Dabei können die Betriebe nach ihrer Grösse (Merkmal 1.1.) in a) kleine

und b) mittlere oder grosse eingeteilt werden. Wir vereinigen die Mittel- und Grossbetriebe und trennen sie auf dem Schaubild nicht voneinander. Denn

1 Unter Gewerbe und Industrie verstehen -wir denjenigen Teil der Produktion, welcher in der Formänderung von Stoffen besteht, also nicht die Urproduktion oder Rohstoffgewinnung, nicht den Handel und Transport und nicht die persönlichen Dienstleistungen. Dabei verstehen wir unter Gewerbe die Kleinbetriebe und unter Industrie die Mittel- und Grossbetriebe (vgl. K. Bücher, op. cit., S. 967).

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Schaubild I: Schema der gewerblichen und industriellen Betriebsformen

, Sozial-wirtschaftliche Merkmale

I. Technisch-wirtschaftliche Merkmale"

I. Teohnlsoh-wlrtschaftliche> Merkmale

II. Sozial-r wirtschaftliche Merkmale

II. 1. Absatzwelse

Arbelt für sich selbst

Arbelt für kleine

lokale Kunden

Arbelt für den Markt oder für grosso Besteller

Handwerk arbeitend

genossenschaftliche

Der Arbeiter Ist selbständig sowohl In der Produktion

wie Im Absatz des Produktes

Haus-

Der Arbeiter Ist selbständig

In der Produktion

und ab­hangig Im

Absatz

kapitalistische Manufaktur

Der Arbeiter Ist abhängig sowohl in der Produktion wie Im Absatz des Produktes

II. 2. Selbständigkeit des Arbeiters oder seine Abhängigkeit vom Unternehmer-Kapitalisten

II. Sozial-wirtschaftliche^ Merkmale

I. Technisch-''wirtschaftliche Merkmale

Handarbelt elementare Technik, Anfange der

Arbeltstellung

Handarbelt, entwickelte Arbeltstellung, Anfange

der Maschinen

,J. Technisch-wirtschaftliche Merkmale

II. Sozial-wirtschaftliche Merkmale^

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zwischen den Klein- und Mittelbetrieben kann eine ziemlich klare Trennungs­linie gezogen werden: der Kleinbetrieb hört auf und geht in den Mittelbetrieb dort über, wo das Bedürfnis nach den Arbeitskräften die Arbeitskräfte des Be­sitzers mit seinen Familienmitgliedern bzw. auch noch Lehrlingen und Gesellen überschreitet. Demgegenüber ist es sehr schwer, die Grenze zwischem dem Mittel-und Grossbetrieb zu ziehen. Klar ist der Unterschied zwischen den extremen Typen: z. B. zwischen einer Fabrik mit 25 und einer mit 25 000 Arbeitern. Ganz unklar aber ist er bei den Nachbartypen: wo muss z. B. eine Fabrik mit 50 bis 100 Arbeitern eingereiht werden ? Dasselbe gilt auch für die Bestimmung der Betriebsgrö8se nach der Grösse des investierten Kapitals oder des erzielten jährlichen Ertrages. Diese Grenze muss also rein konventionell bestimmt werden.

Das Merkmal I. 1. ist wichtig, da von der Grösse des Betriebes sein tech­nisches Niveau abhängt: z. B. die Verwendung von grösseren, ausgiebigeren, aber teueren Maschinen sowie von besseren, aber wiederum teueren Spezialisten. Auch die ganze soziale Struktur des Betriebes ist von seiner Grösse abhängig. Das Merkmal 1.1. ist auch noch in dem Sinne interessant, dass die geschicht­liche Entwicklung der gewerblich-industriellen Produktion von den Klein- zu den Grossbetrieben gegangen ist, eine Entwicklungstendenz, die den Namen Konzentrationsgesetz der Produktion erhalten hat. Wie viele andere soziologische und wirtschaftliche Gesetzmässigkeiten wurde aber auch dieses Gesetz stark übertrieben. Denn mit der Entstehung und Ausbreitung von Grossbetrieben verschwinden die Mittel- und sogar die Kleinbetriebe nicht, sondern wachsen nach ihrer absoluten Zahl und nach der absoluten Zahl der in ihnen beschäftigten Personen. Die Konzentration ist nur relativ und drückt sich darin aus, dass die Grossbetriebe bisher relativ schneller als Klein- und Mittelbetriebe gewachsen sind.

Wir haben schon gesagt, dass mit der Grösse der Betriebe ihr technisches Niveau, d. h. das Merkmal I. 2., verbunden ist. Deshalb entwickelten sich Be-triebsgrösse und Produktionstechnik zeitlich parallel. Den bisherigen Fortschritt dieser Technik teilen wir in unserem Schema in folgende Stufen ein:

a) Handarbeit, elementare Technik und Anfänge der Arbeitsteilung, später in einigen Fällen auch schon die Verwendung von kleineren Maschinen und Appa­raten;

b) noch immer überwiegende Handarbeit, aber entwickelte Arbeitsteilung und Anfänge der (später sogar stärkeren) Verwendung von Maschinen;

c) ausser der weit entwickelten Arbeitsteilung stärkere Verwendung von ver­besserten und stark vergrösserten Maschinen sowie von komplizierten chemischen Prozessen. Auf der Stufe c) nimmt die Arbeitsteilung selbst die Form der ge­teilten Maschinenarbeit mit spezialisierten Maschinen und Arbeitern. Der ganze technische Prozess ist je weiter desto mehr durch seine wissenschaftliche Ratio­nalisierung, wissenschaftliche Organisation und Leitung (scientific management) charakterisiert.

Die angeführte Einteilung des Merkmals I. 2. entspricht der geschicht­lichen Stufenfolge, welche die Produktionstechnik bisher durchgemacht hat

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und weiter durchmacht. Dabei überwiegt in der neueren Zeit die Chemisierung der Produktion die Mechanisierung. Auf diesem Gebiete eröffnen sich in neuester Zeit die Möglichkeiten eines ganz neuen revolutionierenden technischen Fort­schrittes (eine neue «industrial revolution» !).

Das erste sozial-wirtschaftliche Merkmal (IL 1.) in unserem Schema ist vor allem ökonomischer Natur, nämlich: die Absatzweise des Produktes. Sie ent­spricht teilweise Büchers Länge des Weges, den das Produkt vom Produzenten zum Konsumenten durchläuft. Wir unterscheiden dabei folgende Stufen:

a) Arbeit für sich selbst; das Produkt wird in der eigenen Wirtschaft des Produzenten verbraucht, und die Länge seines Weges vom Produzenten zum Konsumenten ist gleich null;

b) Arbeit für kleine und gewohnlich lokale Kunden; c) Arbeit für den Markt oder für grosse Besteller. Da mit der Entwicklung der Transportmittel die Arbeit für den Markt

den Absatz auf dem immer entfernteren Markt darstellt und der grosse Besteller auch sehr entfernt sein kann, so entspricht die angeführte Klassifikation der Absatzweise der Erweiterung des Raumes, an den die einzelnen Betriebe durch den Tauschverkehr untereinander gebunden sind. Auch die Arbeit für einen grossen entfernten Besteller bedeutet sogar beim Ausfall der Handelsvermittler — z. B. die Arbeit eines Ausrüstungsbetriebes nach der direkten Bestellung eines ausländischen Staates — keine Verkürzung1, sondern im Gegenteil eine sogar buchstäbliche Verlängerung des Weges, den das Produkt dabei zurücklegt.

Schliesslich ist das zweite sozial-wirtschaftliche Merkmal (IL 2.), das par excellence sozial ist, die Selbständigkeit des Arbeiters oder seine Abhängigkeit vom Unternehmer-Kapitalisten. In dieser Hinsicht unterscheiden wir folgende Fälle:

a) Der Arbeiter ist sowohl in der Produktion wie im Absatz seiner Erzeug­nisse selbständig.

Er ist überhaupt von keinem anderweitigen Unternehmer abhängig. Die Produktionsmittel gehören in solchen Betrieben dem Arbeiter, und nicht nur der Produktionsprozess, sondern auch die Realisierung des Produktes befindet sich in seinen eigenen Händen. Deshalb sind alle solche Betriebe nach ihrer sozialen Struktur nicht-kapitalistisch und, chronologisch gesehen, meistens vor­kapitalistisch. Doch gehören einige von ihnen schon der Epoche des Spät­kapitalismus und sogar seiner neuesten Phase an.

Weiter gehen die Betriebe, in denen der Arbeiter mehr oder weniger ständig vom Unternehmer-Kapitalisten abhängig ist. In solchen Betrieben befindet sich das Kapital in den Händen des Unternehmer-Kapitalisten, der mit Hilfe dieses Kapitals die Produktionsmittel anschafft und die Produktion oder wenigstens den Absatz der Erzeugnisse organisiert. Deswegen sind solche Betriebe kapita­listisch, und ihre Entstehung bedeutete in der Wirtschaftsgeschichte den An­fang der Epoche des Kapitalismus. Wir unterstreichen dabei den ständigen

1 Trotz der Einwendungen von W. Sombart in seiner Kritik des K. Bücherschen Stufen­schemas.

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Charakter der Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer-Kapitalisten, weil die vorübergehende Abhängigkeit auch in nicht-kapitalistischen Betrieben statt­finden kann, wie z. B. die Abhängigkeit der Lehrlinge und Gesellen in einem Handwerksbetriebe. Ihre vergängliche Abhängigkeit vom Meister während der Lehrzeit verwandelt diesen Betrieb nicht in einen kapitalistischen Betrieb, da sie normalerweise nach Ablauf der Lehrzeit zum selbständigen Meister aufsteigen. Der Betrieb ist nur dann kapitalistisch, wenn er so gross geworden ist, dass die überwiegende Mehrheit seines Personals nie selbständig werden kann und ihr ganzes Leben lang in einer abhängigen Lage zu bleiben gezwungen ist.

Man kann zwei Arten der ständigen Abhängigkeit des Arbeiters vom Unter­nehmer-Kapitalisten unterscheiden, denen zwei weitere Fälle des Merkmales IL 2. entsprechen, und zwar:

b) Der Arbeiter ist selbständig in der Produktion, aber im Absatz des Pro­duktes vom Unternehmer-Kapitalisten abhängig. Der Arbeiter hat seine Selb­ständigkeit im Produktionsprozess bewahrt, im Absatz der Erzeugnisse aber verloren. Das ist die geschichtlich ursprüngliche Form des Kapitalismus, die Phase des kaufmännischen Kapitalismus, in welcher das Kapital die Form eines kaufmännischen Kapitals hat. Erst später entwickelt sich der Produktions-kapitalismus. Es ist interessant, dass in Zeiten wirtschaftlicher Zerstörungen und wirtschaftlichen Rückschrittes das Produktionskapital wieder fast voll­ständig verschwindet und das degenerierte Kapital in der gröbsten Form eines kaufmännischen Kapitals hervortritt: niemand kann und will die normale Pro­duktion führen, jeder zieht ihr die Tauschgeschäfte vor, sogar die händlerischen und oft schwarzhändlerischen Spekulationsgeschäfte.

c) Der Arbeiter ist sowohl im Absatz wie in der Produktion vom Unterneh­mer-Kapitalisten abhängig. Hier nimmt der kapitalistische Unternehmer die industrielle Produktion in seine Hände und führt sie mit Hilfe der Lohnarbeiter aus. Das Kapital und der Kapitalismus nehmen die Form des industriellen Kapitals und industriellen Kapitalismus an.

Das auf den vier erwähnten Merkmalen mit ihren Unterteilungen auf­gebaute Schema stellt in einem System alle wichtigsten gewerblichen und in­dustriellen Betriebsformen dar. Zu gleicher Zeit zeigt das Schema die Linie ihrer geschichtlichen Entwicklung. Diese aus der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte gut bekannte Linie beginnt mit der Hausproduktion (nach Bücher: Hauswerk), wo der Produzent «im Hause für das Haus», d. h. für den Eigenbedarf, für sich selbst, seine Familie und seine Verwandten, ohne Tausch produziert.

Die weitere Etappe stellt das Handwerk dar, entweder in der Form des Lohnwerks, wo der Handwerker aus dem Stoff des Kunden als « Stör», d. h. als Tag- oder Stücklöhner im Hause des Kunden, oder als «Heimwerker» in seiner Wohnung bzw. seiner Werkstätte gegen Stücklohn produziert, oder in der Form des Preiswerks, wo der Handwerker die Erzeugnisse aus eigenem Stoff für einen bestimmten Preis anfertigt. Der Handwerker arbeitete anfänglich nur für den bestimmten Kunden, später aber für den Markt, d. h. für unbestimmte Käufer. Alle diese Betriebsformen sind noch nicht kapitalistisch, weil der Arbeiter in ihnen sowohl in der Produktion wie im Absatz selbständig und unabhängig ist.

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Aber die Arbeit für den Markt war für das Handwerk verhängnisvoll. Der einzelne kleine Handwerker war zu schwach und unerfahren, um sich auf dem Markte zu orientieren und seine Selbständigkeit im Absatz seines Produktes zu bewahren. Deshalb dringt zwischen den Handwerker und den Markt der kaufmännische Kapitalist als «Verleger» ein. Der Handwerker bleibt noch selb­ständig in der Produktion, er führt sie in seiner Wohnung oder seiner eigenen Werkstätte durch, ist aber im Absatz schon vom fremden Unternehmer-Kapi­talisten abhängig. Auf diese Weise ist die erste Form des kapitalistischen ge­werblichen Betriebs entstanden, die in der deutschen Literatur den Namen «Hausindustrie» oder« Verlagssystem» erhalten hat (englisch : «domestic system» im Gegensatz zum «factory system», auch «sweating system», manchmal auch «household system»; französisch: «travail à domicile»). Zwischen dem Hand­werk, das für den Markt arbeitet, aber noch selbständig ist, und der Hausindu­strie liegt also die Grenze, welche die nicht-kapitalistischen Betriebe von den kapitalistischen trennt (eine doppelte Linie auf dem Schaubild I).

Die weitere Entwicklung der kapitalistischen Betriebe ging von der Haus­industrie zur Manufaktur. Es ist sehr charakteristisch, dass in der englischen Sprache schon der Verleger «manufacturer» genannt wurde. Als dieser «manu­facturer» zwar noch keine radikale Änderung der Produktionstechnik durch­führte, so dass die Handarbeit noch weiter die überwiegende Produktionsweise blieb, aber nicht nur den Absatz der Erzeugnisse, sondern auch die Produktion in seine Hände nahm und früher zu Hause arbeitende Handwerker in seine eigene Werkstätte zusammenzog, ist diejenige kapitalistische Manufaktur ent­standen, welche Adam Smith vor Augen hatte, als er von Gewerbe und Industrie sprach, und ebenso sogar noch Marx, als er die technische Arbeitsteilung («Arbeitszerlegung» nach Büchers Terminologie) Manu/afourarbeitsteilung nannte. Schliesslich hat die Änderung der Technik, vor allem der Ersatz der Hand­arbeit durch Maschinen mit der parallelgehenden Vergrösserung des Betriebes einen weiteren kapitalistischen Betrieb gebracht, und zwar in der Form der kapitalistischen Fabrik.

Dabei war die Manufaktur in den meisten Fällen nur eine Übergangsform vom Handwerk zur Fabrik. Aber in einigen Produktionszweigen, die bis zu unserer Zeit nicht ganz von der Maschine erobert worden sind, bleibt die Manu­faktur, wie es Sombart gezeigt hat, ein ebenso hochstehender Betrieb wie die modernste Fabrik (z. B. solche kunstgewerbliche Betriebe wie die Porzellan­manufakturen von Sèvres, Kopenhagen oder Meissen). Ausserdem können ei­nige Gewerbezweige auf den ältesten Betriebsformen verharren, während andere im Gegenteil einige Betriebsformen überspringen und die spät entstehenden Zweige sogar sofort die neuesten Betriebsformen annehmen können.

Unser Schema erlaubt zugleich, die Definitionen der einzelnen Betriebs­formen aufzustellen. So ist die Hausproduktion (Hauswerk) ein Kleinbetrieb (1.1.) mit elementarer Technik (I. 2.), in dem der Arbeiter für seinen Eigen­bedarf (IL 1.) selbständig (IL 2.) produziert. Hier haben wir eigentlich noch keinen gewerblichen Betrieb im echten Sinne des Wortes, da er die berufsmässige Organisation und die TauscÄwertproduktion voraussetzt.

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Einen echten gewerblichen Betrieb stellt das Handwerk dar. Nach unseren vier Merkmalen lässt es sich folgendermassen definieren: Das Handwerk ist der gewerbliche Kleinbetrieb (1.1.) mit Handarbeit, elementarer Technik, An­fängen der Arbeitsteilung, später schon in einigen Fällen mit der Verwendung von kleineren Maschinen und Apparaten (I. 2.), der für den kleineren lokalen Kunden arbeitet (IL 1.), wobei der Arbeiter sowohl in der Produktion wie im Absatz des Produktes selbständig ist (IL 2.). Diese Definition umfasst sowohl das Lohn- wie das Preiswerk. Das später entstandene für den Markt (ursprünglich für Jahrmärkte und Messen) arbeitende Handwerk ist nach allen übrigen Merk­malen dem für den Kunden arbeitenden Handwerk gleich, ausser dem Merkmal IL 1., d. h. der Absatzweise.

Auch die Hausindustrie lässt sich ganz gut nach vier Merkmalen definieren und findet in unserem Schema ihren genauen Platz. Sie kann aber im System der gewerblichen Betriebe nur als Betrieb des einzelnen Hausindustriellen in Betracht kommen, da sie als Verlag, d. h. als Betrieb des Verlegers, keinen gewerblichen, sondern einen kaufmännischen Betrieb darstellt. Als Betrieb des einzelnen Hausindustriellen fallt die Hausindustrie nach allen übrigen Merk­malen mit dem für den Markt arbeitenden Handwerk zusammen, ausser dem Merkmal IL 2., da der einzelne Hausindustrielle seine Erzeugnisse den Kon­sumenten oder anderen Käufern auf dem Markte nicht selbständig, sondern durch Vermittlung eines Verlegers abgibt. Nach dem Merkmale IL 2. ist also hier der Arbeiter nur in der Produktion selbständig, im Absätze aber vom Unternehmer-Kapitalisten abhängig. Wie das Handwerk, so bleibt in vielen Fällen auch die Hausindustrie trotz der bestehenden Manufakturen und Fabriken bestehen, und in einigen Fällen, wo keine komplizierte Maschinentechnik not­wendig war, hat man sogar eine Rückbildung von der Manufaktur und sogar der Fabrik zur Hausindustrie beobachtet.

Die kapitalistische Manufaktur lässt sich nach vier Merkmalen als ein mittlerer, in einigen Fällen sogar grosser industrieller Betrieb (I. 1.) definieren, mit noch überwiegender Handarbeit, aber entwickelter Arbeitsteilung und An­fängen der (im Laufe der Zeit stärkeren) Verwendung von Maschinen (I. 2.), der für den Markt oder für den grösseren Besteller arbeitet (IL 1.), wobei der Arbeiter in der Produktion und im Absatz vom Unternehmer-Kapitalisten abhängig ist (IL 2.).

Schliesslich findet die Fabrik, welche sich bisher schwer definieren Hess, in unserem Schema bequem ihren Platz und kann von allen anderen Betriebs­formen abgegrenzt werden.

Die kapitalistische Fabrik ist nach diesen Merkmalen: L I . : ein mittlerer oder grosser industrieller Betrieb, I. 2. : mit stärkerer Verwendung von Maschi­nen oder komplizierten chemischen Prozessen, IL 1.: der für den Markt oder für den grösseren Besteller arbeitet, IL 2. : wobei der Arbeiter sowohl in der Pro­duktion wie im Absatz des Produktes vom Unternehmer-Kapitalisten abhängig ist. Die untere quantitative Grenze nach dem Merkmal L I . soll dabei kon­ventionell festgestellt werden.

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III . Die Formen der Fabrik

Die klassische privat-kapitalistische Fabrik ist aber schon kein letztes Glied in der Kette der industriellen Betriebsformen mehr. Die neue Zeit hat eine ganze Reihe von neuen Formen der Fabrik gebracht, und zwischen den schon ent­standenen und noch weiter entstehenden Neubildungen besteht eine erbitterte sozial-politische Rivalität. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für die Manu­faktur, soweit sie jetzt noch mit den für sie charakteristischen Eigenschaften im Wirtschaftsleben eine Rolle spielt.

Was die Klassifikation der Fabriken anbetrifft, so muss man vor allem mit Bücher sagen:«An einer wissenschaftlich brauchbaren Einteilung der Fabriken fehlt es noch» (op. cit., S. 992). Er selbst teilt die Fabriken nach dem ein, was sie produzieren. Das entspricht aber nicht dem Sinn und der Aufgabe unseres Schemas. Darum machen wir eine andere Einteilung der Fabriken, die sie nach ihrer wirtschaftlichen und sozialen Struktur klassifiziert.

Da sich in neuester Zeit in vielen Staaten eine starke Tendenz zur Natio­nalisierung einiger Wirtschaftszweige zeigt, d. h. zu ihrer Übergabe in die Hände des Staates, der Städte oder anderer öffentlich-rechtlicher Korporationen, so kann es scheinen, es wäre am zweckmässigsten, die Fabriken vor allem nach dem Subjekt des Unternehmers in private und nationalisierte einzuteilen. Zweifellos ist der Unterschied zwischen den privaten und den nationalisierten Fabriken ein tiefgreifender und bedeutungsvoller. Aber gerade unsere Zeit hat gezeigt, dass noch wichtiger der Unterschied in der Struktur und Verfassung der Staaten ist, in welchen sich die Fabriken befinden. Und zwar der Unterschied zwischen den autoritären und demokratischen Staaten, deren Einfluss sich auf die ganze Volkswirtschaft und insbesondere auf den ökonomischen und sozialen Charakter ihrer Fabriken erstreckt, so dass die letzteren selbst sich in autoritäre und demo­kratische einteilen lassen.

Darum (1) beginnen wir unsere Klassifikation der Fabriken mit ihrer Ein­teilung in autoritäre und demokratische; dann (2) teilen wir die beiden in private und nationalisierte, und schliesslich (3) teilen wir alle Fabriken in sozial nicht-reformierte und durch die Massnahmen der Sozialpolitik sozial-reformierte ein.

Betrachten wir diese drei Einteilungen ein wenig ausführlicher: Ad (1): Das ganze Leben jeder Fabrik ist von der politischen Verfassung

des Staates abhängig, in welchem sie entsteht und arbeitet. In dieser Hinsicht ist besonders wichtig der Unterschied zwischen dem freien demokratischen Staat mit den persönlichen, politischen sowie beruflichen Freiheiten und den realen Garantien dieser Freiheiten auf der einen Seite und dem autoritären Staat ohne diese Freiheit auf der anderen Seite. Um Missverständnissen und dem Miss­brauch des Wortes «Demokratie» vorzubeugen, muss bemerkt werden, dass der Staat, in dem keine wirkliche, nicht also nur auf dem Papier stehende Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlungen, der politischen Parteien (also kein Ein-Parteien-System), der Wahl, Ausübung und des Wechsels des Berufes, der Gewerkschaften und ihrer Tätigkeit verwirklicht und garantiert ist, kein demo­kratischer Staat ist.

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Für die Betriebe und ihre Struktur sind die oben erwähnten demokratischen Freiheiten unter anderem als conditio sine qua non der Milderung der Abhängig­keit des Arbeiters vom Unternehmer-Kapitalisten von Bedeutung. Und nicht nur vom privaten, sondern auch vom staatlichen oder anderen öffentlich-rechtlichen Unternehmer. Bei dem staatlichen Unternehmer sind diese Freiheiten noch bedeutender, weil nur dann der Arbeiter vor seiner Ausbeutung durch den Staat geschützt werden kann. Wie es uns die Praxis der autoritären Staaten zeigt, verlieren auch die sozialen Reformen ohne bürgerliche Freiheiten stark an Wert und können sogar ganz illusorisch sein.

Die Struktur des Staates beeinflusst die Fabriken noch darum, weil die neuen autoritären Staaten im Unterschied zu den alten (absolutistischen Mo­narchien) eine Tendenz zeigen, die totalitäre bürokratische Regulierung der Wirtschaft durchzuführen und, sofern sie die privat-kapitalistischen Fabriken weiter bestehen lassen, ihre Unternehmer in ihrer Tätigkeit durch staatliche Organe vollständig zu binden.

Ad (2) : Sowohl die autoritäre wie die demokratische Fabrik kann privat oder nationalisiert sein. Im ersten Fall gehört sie dem privaten Unternehmer, d. h. einer physischen Person oder einer privat-rechtlichen Gesellschaft, oder einem nicht-monopolistischen oder monopolistischen vertikalen und horizon­talen Unternehmerverband. Im zweiten Fall gehört die Fabrik dem Staat (Verstaatlichung), der Stadt (Munizipalisierung) usw. Möglich sind auch gemischte Formen, z. B. die Aktiengesellschaften, deren Aktien teilweise dem Staat und teilweise privaten Kapitalisten gehören. Doch kommt eine solche gemischte Form, die in letzter Zeit verbreitet ist, öfter im Bank- und Transportwesen und seltener in der Industrie vor.

Ad (3) : Schon das Ende des 19. Jahrhunderts und noch mehr das 20. Jahr­hundert hat die Abhängigkeit des Fabrikarbeiters vom Unternehmer-Kapita­listen gemildert. Dies wird durch Einführung von mehr oder weniger weit­gehenden sozialen Reformen erreicht: Arbeiterschutz, Normierung der Arbeits­zeit und des Arbeitslohns, Sozialversicherung und sanitär-hygienische Mass­nahmen, Kollektivverträge, Beteiligung der Arbeiter an dem Gewinn und der Verwaltung der Unternehmung (Betriebsräte), Unterstützung des Arbeiters als Konsumenten durch Förderung der Arbeiterkonsumgenossenschaften sowie durch Normierung der Preise, Rationierung des Verbrauchs, Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidern, Wohnung, Befriedigung der Kulturbedürfnisse, Re­organisation und Demokratisierung des Schulwesens, Entwicklung des Sports, Exkursionen, bezahlter Urlaub, ausgleichende progressive Besteuerung des Ein­kommens und Vermögens usw. Wo diese soziale Reformen nicht durchgeführt sind, haben wir eine sozial-nicht-reformierte kapitalistische Fabrik; wo sie in genügendem Ausmass durchgeführt sind, haben wir eine soziol-reformierte Fabrik.

Durch Gruppierung nach den drei dargelegten Einteilungen erhalten wir alle wichtigen Typen von Fabriken. Einige von ihnen gehören schon der ent­fernteren oder neuern Geschichte an, die anderen stellen verschiedene Arten von jetzt bestehenden Betriebsformen dar. Wir unterscheiden also folgende

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Fabriken, von denen vier autoritär und die anderen vier demokratisch sind (siehe Schaubild II auf Seite 44):

A. Autoritäre Fabriken: A.l.a. Autoritäre nicht-reformierte, privat-kapitalistische Fabrik. Das war

die klassische Form in früheren absolutistischen Staaten während der Epoche des Frühkapitalismus.

A. 1. b. Autoritäre sozial-reformierte privat-kapitalistische Fabrik. Diesem Typus entsprachen Fabriken im national-sozialistischen Deutschland.

A. 2. a. Autoritäre nationalisierte nicht-reformierte Fabrik. In dieser Fabrik tritt der öffentlich-rechtliche Unternehmer-Kapitalist an die Stelle des priva­ten Unternehmers, der Arbeiter aber bleibt von diesem neuen Unternehmer ebenso abhängig, wie er in einer Privatfabrik vom privaten Unternehmer ab­hängig war. Die Lage des Arbeiters kann sich sogar verschlechtern. Denn ist sein Unternehmer der Staat selbst, mit der ganzen diesem zur Verfügung ste­henden Macht, und dabei ein autoritärer Staat ohne irgendwelche Garantien der bürgerlichen Freiheiten, so kann die Abhängigkeit des Arbeiters von einem solchen Unternehmer noch stärker sein. Kann der Arbeiter den Schutz vor dem privaten Unternehmer beim Staat finden, so ist er nicht imstande, bei ihm Schutz vor dem Staat selbst als seinem Ausbeuter und Zueigner des von ihm geschaffenen «Mehrwertes» zu finden, wenn dieser Staat nicht demokra­tisch, sondern autoritär ist. Ein solches Betriebssystem hat man deshalb mit Recht Staatskapitalismus genannt.

A. 2. b. Autoritäre nationalisierte sozial-reformierte Fabrik. Eine solche Fabrik entsteht, wenn im Staatskapitalismus die sozialen Reformen durch­geführt werden. Ihr entsprechendes Betriebssystem kann autoritärer Sozialismus genannt werden. Auch bei diesem System verliert, trotz aller weit und breit deklarierten und sogar angeblich durchgeführten sozialen Reformen1, die Ab­hängigkeit des Arbeiters vom staatlichen Unternehmer wegen des autoritären Charakters des Staates durchaus nicht ihre Schärfe und ist in vieler Hinsicht viel stärker als bei dem System der sozial-reformierten privat-kapitalistischen Fabriken.

Eine Mischung des autoritären Staatskapitalismus und des autoritären Sozialismus, entweder mit Vorherrschen des ersteren oder des zweiten, stellen z. B. die Fabriken der UdSSR, dar. In allen Fällen ist für sie die Unterjochung des Arbeiters unter den Staat als Unternehmer und speziell unter die herr­schende kommunistische Partei und ihre Funktionäre charakteristisch.

Die frühere national-sozialistische private und die jetzige sowjetische na­tionalisierte Fabrik sind zwei verwandte Betriebstypen der wirtschaftlichen Autokratie. Der gemeinsame autoritäre Charakter bringt sie einander viel näher, als dass die private Natur der ersteren und die öffentliche der zweiten sie voneinander trennt.

1 Die wirkliche Durchführung der Reformen und ihr Ausmass sind in einem total autori­tären Staat wegen des Mangels an Freiheit des Wortes, der Presse und des Nachrichtendienstes der ausländischen Journalisten nicht kontrollierbar.

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Schaubild II: Die Formen der Fabrik

Kapitalistische und sozialistische Fabrik

demokratische

wirtschaftliche Autokratie wirtschaftliche Demokratie

JB. Demokratische Fabriken: B. 1. a. Demokratische nicht-reformierte privat-kapitalistische Fabrik. Dies

war die typische Fabrik des früh-kapitalistischen ökonomischen Liberalismus in England, den Vereinigten Staaten und anderen demokratischen Staaten. Jetzt existiert sie nicht mehr, an ihre Stelle ist nach den durchgeführten sozialen Reformen der Typus B. 1. 6. getreten.

B. 1. b. Demokratische privat-kapitalistische sozial-reformierte Fabrik. Sie ist jetzt typisch für die privaten Fabriken in allen demokratischen Staaten des Westens. Die sozialen Reformen sowie der Einfluss der Gewerkschaften und der politischen Vertretung der Arbeiter im Parlament und in der Regie­rung mildern in diesen Fabriken die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unter­nehmer-Kapitalisten, so dass man bei Überwiegen dieser Betriebsform vom sozial-reformierten oder sozialen Kapitalismus sprechen kann.

B. 2. a. Demokratische nationalisierte nicht-reformierte Fabrik. Eine solche Fabrik ist der Ausdruck des demokratischen Staatskapitalismus und entspricht in demokratischen Staaten dem autokratischen Staatskapitalismus eines auto­kratischen Staates, soweit in den demokratischen Staaten noch keine bedeutenden sozialen Reformen durchgeführt worden sind. Diese Form hatten früher ver­schiedene Staatsfabriken, die noch nicht sozial-reformiert wurden, weil die sozialpolitischen Massnahmen noch nicht bekannt waren. Jetzt gibt es in den demokratischen Staaten gewöhnlich keine solchen nicht-reformierten Staats­fabriken.

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B. 2. 6. Demokratische nationalisierte sozial-reformierte Fabrik. Dies ist die letzte Form der demokratischen Fabrik. Zu diesem Typus gehören die natio­nalisierten industriellen Betriebe in verschiedenen fortgeschrittenen demokra­tischen Staaten des Westens, bei welchen man von demokratischem Sozialismus sprechen kann. Die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ist in solchen Fabriken maximal gemildert.

Wichtig ist dabei folgende Feststellung: Die demokratische nationalisierte sozial-reformierte Fabrik des demokratischen Sozialismus steht der demokra­tischen sozial-reformierten privat-kapitalistischen Fabrik des sozialen Kapi­talismus viel näher als der autoritären nationalisierten und sogar sozial-refor­mierten Fabrik des autoritären Sozialismus. Diese zwei Arten der demokrati­schen Fabrik gehören dem Betriebssystem der wirtschaftlichen Demokratie an und stellen den Gegensatz zur staatskapitalistischen und sogar zur autoritär­sozialistischen wirtschaftlichen Autokratie dar.

Gleichzeitig ist es nur bei der Betriebsform B. 2. b. möglich, von « Soziali­sierung»1 und echtem «Sozialismus» zu sprechen, der, wie aus unserer Analyse ersichtlich ist, drei Bedingungen voraussetzt: 1. Demokratie, 2. soziale Refor­men und 3. Nationalisierung.

In diese terminologische Frage mehr Klarheit hineinzubringen, ist um so wichtiger, weil der Begriff des Sozialismus in verschiedenem und häufig zu wei­tem Sinne verstanden wird. Man spricht von Sozialismus schon bei einem oder zweien von den drei oben erwähnten Merkmalen. Man kann deshalb nach die­sen Merkmalen folgende Skala der weiteren und engeren Begriffe des Sozialis­mus aufstellen:

1. bloss die mehr oder weniger breiten, mehr oder weniger wirklichen so­zialen Reformen — z. B. National-Sozialismus, der kein Sozialismus war;

2. bloss die Nationalisierung — noch kein Sozialismus, sondern Staats­kapitalismus ;

3. soziale Reformen und Nationalisierung — z. B. der autoritäre Sozialis­mus der UdSSR., der keinen echten Sozialismus darstellt;

4. Demokratie und soziale Reformen — z. B. der christliche Sozialismus, der auch kein echter Sozialismus ist;

1 Der Begriff der «Sozialisierung» ist bisher unklar geblieben, obgleich er nach dem ersten Weltkriege insbesondere in Deutschland sehr lebhaft diskutiert wurde (pro: Ballod, Rathenau, Wisset, Moellendorf, Neurath, Bauer u .a . ; contra: Amonn, L. Mises, Cohn, Schumpeter u.a.) und später in Verbindung mit der Frage über Planwirtschaft (pro: Schmalenbach, Sombart, Landauer, Kumpman, Klein, Keiser, Steuermann, Fried, Leichter, Heimann, Adler, Jouvenel, Noyelle, Pirou, MacMülan, Paterson u .a . ; contra: Röpke, A. Weber, Diehl, L. Mises, Pohle, Halm, Gottl-Ottilienfeld, Gerhardt, Leener u . a.). Auch die Sowjettheoretiker verstehen nicht das Wesen der «Sozialisierung», sonst könnten sie nicht von Sozialisierung in der UdSSR, sprechen. Denn Sozialisierung bedeutet nicht die Übergabe der Unternehmungen an den Staat , sondern an die Gesellschaft. Das ist aber nur in einem echt demokratischen Staate möglich, wo Staat organisierte Gesellschaft darstellt, und nicht im autoritären Sowjetstaat, wo die Gesellschaft, d .h . das Volk, vom Staate vollständig unterdrückt ist.

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5. Demokratie, soziale Reformen und Nationalisierung — der demokra­tische Sozialismus oder Sozialismus im echten Sinne dieses Wortes1.

1 Was den Unterschied zwischen dem Sozialismus und dem Kommunismus anbetrifft, so sieht man diesen Unterschied oft darin, dass beim Sozialismus nur Produktionsmittel und andere Erwerbsgüter sozialisiert werden, beim Kommunismus aber auch die Konsumgüter. Aber auch beim Sozialismus sind die Konsumgüter sozialisiert, solange sie sich noch in den Produktions- und Handelsunternehmungen befinden, und nach ihrem Übergang zum Konsu­menten sind sie auch beim Kommunismus Eigentum des Konsumenten. Der oben erwähnte Unterschied zwischen dem Sozialismus und dem Kommunismus kann deshalb nur fur die dauer­haften VerbrauchsgüteT von Bedeutung sein (z. B. Möbel, Bilder, Radioapparate, Uhren und andere Kostbarkeiten, eventuell auch kleines Wohnhaus, wenn diese Güter beim Kommunismus kein Eigentum der einzelnen Personen sein können und nur zur Nutzung gegeben werden, dann die Verbrauchsfonds in der Form von Geldcrsparnissen, Obligationen der Staatsanleihen usw., welche beim Kommunismus überhaupt unmöglich sein würden).

Die andere Abgrenzung des Kommunismus vom Sozialismus, die in der UdSSR, auch offiziell anerkannt ist (s. Lenin, Staat und Revolution, und Stalin, Probleme des Leninismus), sieht den Unterschied in der verschiedenen Entlöhnung des Arbeiters und dem verschiedenen Schlüssel, nach dem die Konsumgüter verteilt werden. Beim Sozialismus gilt die Regel: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit; beim Kommunismus : jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Im ersten Fall variiert die Entlöhnung nach der Menge und Qualität der Arbeit, sie kann also sehr ungleich sein. Im zweiten Fall ist sie entweder gleich oder variiert nach den anerkannten Bedürfnissen der Person bzw. der Familie, unabhängig von der Menge und Qualität der ausgeführten Arbeit. (Auf dem VIII. Sowjetkongress der UdSSR, im November 1936, auf dem die neue Stalinsche «demokratische» Verfassung der UdSSR, an­genommen wurde, wurde anerkannt, dass «die ökonomische Grundlage der Sowjetunion sozia­listisches Wirtschaftssystem und sozialistisches Eigentum an den Produktionsmitteln bilden. In der UdSSR, wird das Prinzip des Sozialismus verwirklicht: «Von jedem — nach seinen Fähig­keiten, jedem — nach seiner Arbeit». Und weiter: «Die UdSSR, ist in eine neue Entwicklungs­phase eingetreten, in die Phase der Vollendung des Aufbaues der sozialistischen Gesellschaft und des allmählichen Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft, wo leitender Grundsatz des gesellschaftlichen Lebens das kommunistische Prinzip sein soll: «Von jedem — nach seinen Fähigkeiten, jedem—nach seinen Bedürfnissen. » (Vgl. Geschichte der Allunion-Kommunistischen Partei [der Bolschewiken], Moskau, 1946 — Russisch S. 330 und 331.) Dies stellt einen prinzi­piellen und tiefgehenden Unterschied des Kommunismus vom Sozialismus dar. Bei Verteilung nach den Bedürfnissen würde die Verbindung zwischen der ausgeführten Arbeit und der Ent­löhnung zerrissen, was eine andere Organisation der Arbeit in den Betrieben erforderte. Die Ver­bindung zwischen Arbeit und Entlöhnung könnte nur durch Bestimmung der Bedingungen bewahrt werden, unter welchen die Forderung «jeder nach seinen Fähigkeiten» als erfüllt anerkannt würde. Bei der Verteilung der Konsumgüter nach den Bedürfnissen musate ausserdem, jedenfalls theoretisch, das Einkommen mit dem Konsum übereinstimmen, würden folglich die individuellen Ersparnisse, die Abtretungen dieser Ersparnisse oder der Konsumgüter an andere Personen gegen Entschädigung oder der Austausch dieser Güter und alle daraus herrührenden Tauschgeschäfte unmöglich. Ein solcher Unterschied müsste auf die ganze Organisation der Betriebe einwirken. Deswegen würde eine besondere Form der kommunistischen gewerblichen und industriellen Betriebe notwendig. Diese Form ist bisher nicht einmal theoretisch geklärt.

Noch wichtiger und aktueller ist aber der Unterschied zwischen dem Sozialismus sowie den sozialistischen Parteien (z. B. der sozialdemokratischen Partei der Menschewiki) und dem Kommunismus sowie der kommunistischen Partei (der Bolschewiki), der in der Machtorgani­sation liegt: Sozialismus muss demokratisch sein (System der politischen freien Konkurrenz), Kommunismus ist höchst autokratisch (System des strengsten politischen Monopols). Im Sozialismus müssen alle drei oben erwähnten .Bedingungen (Demokratie -f- soziale Reformen -f- Nationalisierung) erfüllt werden, im Kommunismus ist nur eine (Nationalisierung) oder sind nur zwei Bedingungen (soziale Reformen -j- Nationalisierung) erfüllt. In der letzten

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Aber sogar in den demokratischen sozialisierten Fabriken bleibt doch, wenn auch in gemilderter Form, die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unterneh­mer-Kapitalisten. Denn die Arbeiter einer solchen Fabrik sind keine Unterneh­mer dieser Fabrik. Sie gehört dem Staat als einer Ganzheit und den Arbeitern dieser Fabrik nur zu einem minimalen Teile und in einer fast unendlich entfernten Weise, und zwar als Bürgern des Staates. Man kann sogar nicht sagen, dass sie der Arbeiterklasse gehört, weil diese Klasse nur einen Teil der Bevölkerung des Staates ausmacht; ausser ihr sind noch die Bauern, die Staatsbeamten und verschiedene andere Gruppen Staatsbürger.

Es kann darum paradox klingen, ist aber ganz richtig, dass eine demo­kratische sozialisierte und sozial-reformierte Fabrik doch kapitalistisch bleibt, weil der Arbeiter sogar in dieser Fabrik vom Unternehmer-Kapitalisten ab­hängig ist. Der Sozialismus stellt also noch keine echte Synthese in dem Sinne dar, dass die Arbeiter bei ihm wieder Eigentümer der Produktionsmittel werden. In der Tat ist der Sozialismus nur eine andere Art derselben Antithese gegenüber der nicht-kapitalistischen Wirtschaft, welche auch Kapitalismus ist. Das ist aber nur einer von vielen Punkten, in denen der Kapitalismus und der Sozialis­mus miteinander verwandt sind.

Die neuere wirtschaftliche Entwicklung bringt aber Fabriken und andere Betriebe, in denen die Abhängigkeit der Arbeiter vom anderweitigen Unterneh­mer vollständig verschurindet. Und nämlich deshalb, weil die Arbeiter in diesen Betrieben selbst Unternehmer sind. Hier sind also die Arbeiter wieder Eigentümer der Produktionsmittel, was sie im Handwerk waren und was sie sowohl in den kapitalistischen als auch in den sozialistischen Betrieben zu sein aufhörten. Solche neue nicht-kapitalistische Betriebe sind die genossenschaftlichen Betriebe, die, bei grösserer Entwicklung und Verbreitung, im erwähnten Sinne eine wirk­liche Synthese darstellen. Freilich müssen sie dabei echte genossenschaftliche Betriebe sein und nicht nur wegen verschiedener Begünstigungen die Maske einer Genossenschaft aufsetzen. Um echte genossenschaftliche Betriebe zu sein, müssen sie ihre Haupterwerbszeige, die sie genossenschaftlich organisieren, nicht durch Lohnarbeiter, sondern ausschliesslich durch vollberechtigte Mit­glieder ausführen. So müssen z. B. in einer genossenschaftlichen Konfektions­fabrik alle Schneider Mitglieder und nicht Lohnarbeiter sein; der Buchhalter oder der Chauffeur kann dabei auch kein Genossenschaftsmitglied sein, und das stört den echten genossenschaftlichen Charakter dieses Betriebes nicht, weil er die Konfektionsarbeiter, nicht aber die Buchhalter genossenschaftlich organi­sieren will.

Man kann also neben den anderen Arten der Fabrik von einer genossen­schaftlichen Fabrik und mutatis mutandis von einer genossenschaftlichen Manu­faktur sprechen. Diese können dabei entweder für den Markt bzw. für den grös­seren Besteller oder für die kleinen Kunden oder für sich selbst, d. h. für eigene

Zeit stellt sich der Kommunismus bei seiner Expansionsbewegung sehr gern als eine « echte » Demokratie vor, um desto leichter die Demokraten in seine Netze zu fangen und dann den Demokratismus in den eroberten Staaten auszurotten.

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Mitglieder, arbeiten. Auch die Hausindustrie kann genossenschaftlich organi­siert werden, wenn eine Anzahl von heimarbeitenden Handwerkern eine Ge­nossenschaft gründen und den Absatz ihrer Erzeugnisse durch einen solchen genossenschaftlichen Verleger, d. h. durch die Mitglieder der Genossenschaft, durchfuhren.

Diese genossenschaftlichen Fabriken und Manufakturen finden in unserem Schema ihren Platz und lassen sich nach unseren vier Merkmalen definieren.

So ist z. B. eine für den Markt arbeitende genossenschaftliche Fabrik: L I . — ein industrieller Mittel- oder Grossbetrieb; I. 2. — mit Verwendung von Maschinen oder komplizierten chemischen Prozessen; IL 1. — der für den Markt oder für den grösseren Besteller arbeitet; IL 2. — wobei der Arbeiter sowohl in der Produktion wie im Absatz des Produktes selbständig, d. h. von keinem anderweitigen Unternehmer-Kapitalisten abhängig ist.

Eine für ihre eigenen Mitglieder arbeitende genossenschaftliche Fabrik ist — ein Betrieb, der nach allen übrigen Merkmalen dem vorigen Betrieb ähnlich ist, ausser dem Merkmal IL 1., wo anstatt der Arbeit für den Markt die Arbeit für sich selbst stehen muss.

Es ist auffallend, dass die genossenschaftlichen Betriebe auf unserem Schau­bild die Entwicklung der Betriebsformen in einer ganz anderen Richtung zeigen als die Richtung, in der ihre Entwicklung von der Hausproduktion zur privat­kapitalistischen und auch zur sozialisierten Fabrik geht. Demgegenüber zeigen die genossenschaftlichen Betriebe die Entwicklung in der Richtung von kapi­talistischen zu nicht-kapitalistischen Betrieben. Mit der Entwicklung der ge­nossenschaftlichen Betriebe geht man also vom traditionellen historischen Weg auf einen prinzipiell verschiedenen Weg über, der zu neuen nicht-kapitalisti­schen Betrieben führt.

IV. Schluss

Die Analyse der industriellen Betriebsformen führt uns zu einigen Schlüssen, die auch für die praktische Bewertung dieser Formen von Bedeutung sind. Nehmen wir als Ausgangspunkt die klassische noch nicht reformierte privat­kapitalistische Fabrik. Für eine solche Fabrik ist strenge Abhängigkeit des Arbei­ters vom Unternehmer typisch. Wird diese Fabrik nationalisiert ohne sozial­politische Reformierung der Lage des Arbeiters oder werden auch die sozialen Reformen eingeführt, aber ohne diejenigen Freiheiten und Garantien dieser Freiheiten, die ein demokratischer Staat seinen Bürgern gewährt, so kann die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer-Kapitalisten nicht nur weder beseitigt noch gemildert, sondern noch verstärkt werden. Die autoritären Staaten unserer Zeit haben drastische Beispiele einer trotz der sozialen Reformen und der Nationalisierung verstärkten Abhängigkeit gegeben.

Im Gegensatz dazu ist in den echten demokratischen Staaten trotz privat­kapitalistischen Betrieben die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer-Kapitalisten dank den starken Gewerkschaften, einflussreichen Vertretungen der Arbeiterklasse im Parlament und in der Regierung, dank den durchgeführten sozialen Reformen und Garantien der bürgerlichen Freiheiten wirklich gemildert

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und die Lage der Arbeiterklasse wirklich verbessert worden. Die Milderung der Abhängigkeit und die Verbesserung der Lage sind in diesen Staaten so weit gegangen, dass der Arbeiter bei dem sozial-reformierten demokratischen Privat­kapitalismus viel unabhängiger ist als bei dem Staatskapitalismus und dem autoritären Sozialismus. Seine wirtschaftliche Lage und sein «standard of living» sind viel besser und höher als in den nationalisierten autoritären Betrieben. Wäre das Umgekehrte richtig, wie es z. B. die Sowjetregierung behauptet, so ist es unverständlich, warum sie ihre Arbeiter nicht in die demokratischen Staa­ten schickt, um zu sehen, wie schlecht die Arbeiter in diesen Staaten leben. Im Gegensatz zum autoritären kann der demokratische Sozialismus, der die Nationalisierung der industriellen Betriebe mit sozialen Reformen und demo­kratischen Freiheiten verbindet, zweifellos die Abhängigkeit der Arbeiter vom Unternehmer mildern. Die Lage der Arbeiter hängt aber auch in diesem Fall davon ab, ob und wieweit die nationalisierten Betriebe ihre volkswirtschaft­lichen Funktionen besser erfüllen als die privaten Betriebe.

In dieser Hinsicht existiert für jede Volkswirtschaft auf jeder Stufe ihrer geschichtlichen Entwicklung für jeden Erwerbszweig eine optimale Dosis der Nationalisierung und staatlichen Regulierung und eine Grenze, die ohne Schaden fur die ganze Volkswirtschaft und folglich für die Arbeiterklasse nicht über­schritten werden darf. Bewegt man sich vom Pol der ausschliesslichen privaten und unbegrenzt freien Unternehmungen in der Richtung ihrer Nationalisierung und Regulierung, so nähert man sich damit dem optimalen Punkt und bessert dadurch die allgemeine wirtschaftliche Lage. Ist aber der optimale Punkt er­reicht und bewegt man sich von diesem Punkt weiter in der Richtung zur totalen Nationalisierung und vollständigen Reglementierung der Wirtschaft, so ver­schlechtert man die erreichte allgemeine wirtschaftliche Lage. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist also, in jedem konkreten Fall die optimalen Betriebs­formen zu finden und diese Formen zu fördern.

Dabei müssen die Änderungen in der Psychologie des wirtschaftenden Men­schen berücksichtigt werden. Wenn früher die Arbeiter im Unternehmer-Kapita­listen den natürlichen Leiter des Unternehmens sahen und nur im Fall grober Verletzung der Rationalität gegenüber seiner Leitung eine aktive kritische Stel­lung nahmen, so sind jetzt die Fabrikarbeiter so reif geworden, dass sie alle Fehler in der Betriebsleitung bemerken und unaufhaltsam danach streben, an dieser Leitung selbst teilzunehmen.

Auf der anderen Seite: Früher waren die Menschen von Kindheit an für die Rolle eines Besitzers und Leiters des Unternehmens erzogen. Die Eltern häuften für ihre Kinder das notwendige Kapital an, oder die begabten und energischen Menschen strebten danach, sich selbst durch intensive Arbeit den Weg zur Stellung eines Unternehmers zu bahnen. Jetzt ist es anders. In unserer Zeit ist die Lage eines privaten Grossunternehmers weder für Eltern noch für Kinder besonders anziehend. Dafür sind viele Gründe vorhanden: Etwas Ver­lockendes hat die Lage des Unternehmers nicht, der bei der Leitung seines Unternehmens mit Händen und Füssen durch den Staat gebunden ist, mit Mühe und unregelmässig seinen Profit macht, wegen dieses Profites als Ausbeuter

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verschrien wird, den täglichen Angriffen der Zeitungen, politischen Parteien und Arbeiterorganisationen ausgesetzt ist und in vielen Staaten in der Gefahr nicht nur der Konjunkturschwankungen, sondern auch der politischen und sozialen Umwälzungen lebt, die ihn mit dem Verlust seines Eigentums bedro­hen. Viel anziehender ist jetzt die Laufbahn des Direktors eines nationalisierten Grossbetriebes, des Mitglieds eines Ausschusses für Planung der Volkswirtschaft oder des Sachverständigen, der über das Schicksal dieser Wirtschaft entscheidet. Jeder dieser Machtposten bringt die Vorteile des früheren Grossunternehmers ohne das Risiko und die Unannehmlichkeiten, denen der private Grossunter­nehmer ausgesetzt ist. Deshalb wählen gerade die begabtesten und energischsten Menschen diese letztere Laufbahn. Der privat-kapitalistische Grossbetrieb ver­liert also an Kräften nicht nur wegen der Schläge von aussen, sondern auch wegen der psychologischen Veränderungen von innen: Der Unternehmer will nicht mehr ein privater Grossunternehmer sein. Er zieht die Lage eines Staatsbeamten vor und verwendet für seine Erfolge auf diesem Gebiet viel mehr Energie als für die Anhäufung privaten Kapitals und Gründung eines eigenen Unternehmens. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war der Sozialist Robert Owen als Mitbesitzer und Leiter auf seine für seine Zeit musterhafte Fabrik in New Lanark besonders stolz ; in der Mitte des 20. Jahrhunderts hingegen ist mehr die Lage eines pri­vaten Grossunternehmers nicht anziehend.

Aus dieser Änderung der Psychologie der führenden Persönlichkeiten wächst dasjenige System der «Managers» (Direktoren) der nationalisierten Gross­betriebe, in dem James Burhham in seinem Buch «Managerial Revolution» den Nachfolger des dahin gegangenen Privatkapitalismus erblickt und das Léon Blum in seinem Vorwort zur französischen Auflage dieses Buches als Staats­kapitalismus und keinen echten Sozialismus bezeichnet1.

Wir haben aber gesehen, dass der echte Sozialismus nur in einem freien demokratischen Staate möglich ist. Wo eine unbegrenzte autoritäre Willkür herrscht, dort kann keine wirkliche Unabhängigkeit des Arbeiters von den all­mächtigen, die ganze Wirtschaft verwaltenden Staatsorganen gewährt werden. Der Sozialismus verwandelt sich unerbittlich in einen brutalen Staatskapitalis­mus mit vollständiger Versklavung desselben Arbeiters, wegen dessen Befreiung vom Unternehmer der Privatkapitalismus gestürzt und der Sozialismus ein­geführt wurde. Das ist die Rache für die Verletzung der Logik der Dinge in sozialen Verhältnissen. Die Wiederherstellung dieser Logik fordert in solchen Fällen die politische Umwälzung, welche an die Stelle des autoritären Absolu­tismus die freie demokratische Staatseinrichtung stellt.

Die Logik der Dinge setzt aber noch einen tief eingewurzelten soziologi­schen Zusammenhang voraus, der durch jahrhundertelange, unzählige Male wiederholte Erfahrung bestätigt ist. Diese Erfahrung zeigt nämlich folgendes: Im Staate, wo das Privateigentum existiert, können die bürgerlichen Freiheiten

1 S. Léon Blum, Die Revolution der Direktoren und die sozialistische Revolution (aus der Wochenschrift «France», London-Paris), in «Neue Auslese», 2. Jahrgang, 7. Heft, München, Juli 1947, SS. 5—14.

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vorhanden und nicht vorhanden sein; dort aber, wo dieses Eigentum vollständig abgeschafft ist, verschwinden auch die persönliche Freiheit, und die politische Unabhängigkeit der Staatsbürger. Kein Mensch kann dort frei und unabhängig sein, wo jedes Stück Brot, jedes Paar Stiefel, jedes Zimmer in der Wohnung aus den Händen des Staates empfangen wird. Die versprochene und erwartete Demokratie verwandelt sich dann unvermeidlich in die Autokratie einer kleinen Anzahl von Personen und schliesslich einer einzigen Person, die nach dem Muster eines altasiatischen Gewaltherrschers das versklavte Volk absoluti­stisch und militaristisch regiert. In diesem Fall fordert also die Logik der Dinge die Zusammenziehung der totalen Nationalisierung bis zur bestimmten opti­malen Grenze, wobei die wichtigsten Gross- und Schlüsselbetriebe nationalisiert bleiben können, die übrigen Betriebe aber in privates oder genossenschaftliches Eigentum übergehen sollen.

Besonders wünschenswert ist vom sozial-politischen Standpunkt aus, als Ergänzung zu den privaten und nationalisierten gewerblichen und industriellen Betrieben, die Entwicklung der freien genossenschaftlichen Betriebe. Weileben, wie wir gesehen haben, diese Betriebe den Arbeiter vom anderweitigen Unternehmer-Kapitalisten vollständig befreien können. Gewiss müssen dafür die Genossen­schaften frei und nicht vom Staate abhängige bürokratische Organisationen sein, wie sie es z. B. in Sowjet-Russland sind. N. Basily schreibt darüber: «The advent of the Bolsheviks destroyed all forms of independent co-operation. What are called co-operatives in Soviet-Russia to-day, have nothing to do with the idea of free co-operation. The co-operatives are now mere bureaucratic institutions, dependent on the State.» (Russia under Soviet Rule, London 1938, S. 24). Es stellt sich ausserdem die Frage, wieweit gerade die industriellen genossenschaftlichen Grossbetriebe fähig sind, sich zu entwickeln und auszu­breiten, den neuen technischen und wirtschaftlichen Bedingungen zu entspre­chen, den Mangel an Kapitalien und an Erfahrung der Arbeiter, grosse industrielle Betriebe selbständig zu fuhren, zu überwinden, ohne zu nur genossenschaftlich maskierten kapitalistischen Betrieben herabzusinken. Schliesslich ist auch in den Reihen der Genossenschaftler dieselbe Tendenz zu beobachten, die wir oben für die Unternehmerkreise konstatiert haben : nämlich die Neigung einiger und oft der tüchtigeren Arbeiter, der verantwortungsvollen, kaufmännischem Risiko ausgesetzten und mit grossen Opfern verbundenen Arbeit in eigener Genossenschaft den von Verantwortung und Risiko freien Dienst in einem frem­den privaten oder staatlichen Betriebe vorzuziehen. Andererseits wächst aber mit der fortschreitenden Genossenschaftsbewegung die Zahl der Menschen, welche die Selbständigkeit eines Genossenschaftlers viel höher schätzen als alle Vorteile der Arbeit in einem fremden Betrieb. Man kann jedenfalls schon jetzt viele Beispiele anführen, in welchen die echten, ganz modern eingerichteten genossenschaftlichen Fabriken und andere industrielle Betriebe sogar mit grösserem Erfolg arbeiten als die analogen privaten und nationalisierten Unter­nehmungen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Entwicklung der gewerblichen und industriellen Betriebsformen, wie unser Schema zeigt, von primitiven vor-

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kapitalistischen Formen zu den klassischen privat-kapitalistischen Betrieben (Manufaktur und Fabrik) ging. Das war die Grundbewegung. Von dort geht die weitere industrielle Entwicklung in vielen Richtungen, von denen die wichtigsten folgende sind:

1. die Richtung der demokratischen sozial-reformierten privat-kapitalisti­schen Betriebe (demokratischer sozialer Kapitalismus);

2. die Richtung der autoritären nationalisierten nicht-reformierten und sozial-reformierten Betriebe (autoritärer Staatskapitalismus und autoritärer Sozialismus) ;

3. die Richtung der demokratischen nationalisierten und sozial-reformierten Betriebe (demokratischer Sozialismus);

4. die entgegengesetzte Richtung der freien demokratischen technisch und sozial-politisch fortgeschrittenen genossenschaftlichen Betriebe (Kooperativis­mus).

Die relative Stärke dieser vier Entwicklungstendenzen bestimmt schon jetzt die gewerbliche und industrielle Struktur der Volkswirtschaften und wird sie in der nächsten Zukunft noch stärker beeinflussen.